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Full text of "Die grosse politik der europäischen kabinette, 1871-1914. Sammlung der diplomatischen akten des Auswärtigen amtes, im auftrage des Auswärtigen amtes"

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THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 
RIVERSIDE 


Die 

Diplomatischen  Akten 
des  Auswärtigen  Amtes 

1871-1914 


Herausgegeben 
im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 


Die 

Große  Politik  der 

Europäischen  Kabinette 

1871-1914 

Sammlung  der  Diplomatischen 
Akten  des  Auswärtigen  Amtes 

Im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 
herausgegeben  von 

Johannes  Lepsius 

Albrecht  Mendelssohn  Bartholdy 

Friedrich  Thimme 


1 


DEUTSCHE  VERLAGSGESELLSCHAFT  FÜR  POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.  B.  H.  IN  BERLIN  W  8 


10.  Band: 

Das  türkische  Problem 

1895 


1 


DEUTSCHE  VERLAGSGESELLSCHAFT  FÜR  POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.  B.  H.  IN  BERLIN  W  8 


2.  Auflage 

Alle  Rechte,  besonders  das  der  Obersetzung,  vor- 
behalten/Für Rußland  auf  Grund  der  deutsch- 
russischen  Übereinkunft  /  Amerikanisches  Co- 
pyright 1923  by  Deutsche  Verlagsgesellschaft 
für  Politik  und  Geschichte  m.  b.  H.  in  Berlin 
W  8,  Unter  den  Linden  17/13  /  Amerikanische 
Schutzzollformel:  A\ade  in  Germany  /  Gesetzt 
in  der  Buchdruckerei  Oscar  Brandstetter  in 
Leipzig  /  Gedruckt  in  der  Buchdruckerei 
F.  E.  Haag  in  Melle  i.  H. 


Inhaltsübersicht  des  zehnten  Bandes 

KAPITEL  LX 
Salisburys  Aufteilungsplan.   Cowes  1895 1 

KAPITEL  LXI 
Salisbury  und  die  Armenische  Frage  Juli  bis  Dezember  18Q5 

A.  Vom  Antritt  des  neuen  Kabinetts  Salisbury  bis  zur  Annahme  des 
Armenischen  Reformpianes  Juli  bis  Oktober  1895 37 

B.  Das  Fiasko  des  „Armenischen  Dreibundes" 89 

Anhang:  Die  Episode  von  Zeitun 129 

KAPITEL  LXII 
Versuche  einer  Neugruppierung  der  Mächte.  Graf  Goluchowskis  Fiasko 
2.  Hälfte  1895 

A.  Goluchowskis  Balkanpolitik  137 

B.  Österreichs  Vorstoß  in   der  Orientfrage  und  Englands  Zurück- 
weichen.   Flottendemonstration  und  Stationärfrage 167 

C.  Versuche  einer  Aktivierung  der  Entente  ä  trois 199 

Anhang:  Ein  Russisch- Englisches  Kondominium  in  Konstantinopel?    247 

Ein  Namenverzeichnis  für  die  Bände  VII— XII  erscheint  am  Schlüsse  des 
XII.  Bandes;    ein  ausführliches  Namen-  und  Sachverzeichnis  zum  Schlüsse 

des  gesamten  Werkes 


Kapitel  LX 

Salisburys  Aufteilungsplan 
Cowes  1895 


1    Die  Große  Politik.    10.  Bd. 


Nr.  2369 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 

Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  130  Rom,  den  15.  Juli  1895 

Geheim 

Am  12.  d.  Mts.  erhielt  ich  von  Baron  Blanc  das  nachstehende 
Billett:  „Cher  Ambassadeur!  Avant  votre  depart  j'espere  que  nous 
causerons  encore.  J'aurai  ä  vous  remettre  un  petit  memoire  tout-ä-fait 
objectif.  Mille  amities  cordiales.  (gez.)  A.  Blanc."  Als  ich  gestern  dem 
Minister  des  Äußern  vor  Antritt  meines  Urlaubs  meinen  Abschieds- 
besuch machte,  übergab  mir  derselbe  das  anliegende  sekrete  Aide- 
memoire*  mit  dem  Bemerken,  daß  dasselbe  seine  innerste  Ansicht  (ma 
pensee  intime  et  sincere)  über  die  italienische  auswärtige  Lage  ent- 
halte. Der  Minister  fügte  hinzu,  daß  er  beabsichtige,  dieses  Memoire 
den  italienischen  Botschaften  in  Berlin,  Wien  und  London  zur  In- 
formation und  als  Direktive  mitzuteilen. 

Nach  Durchsicht  der  beigeschlossenen  Piece  sagte  ich  Baron  Blanc, 
ich  könne  ihm  nicht  raten,  derselben  die  Form  eines  Erlasses  an  die 
italienischen  Vertreter  bei  den  verbündeten  und  befreundeten  Höfen 
zu  geben.  Ich  könne  ihm  auch  nicht  versprechen,  dieses  Memoire 
meiner  hohen  Regierung  vorzulegen.  Ich  betrachte  sein  Memoire  zu- 
nächst nur  als  Schriftstück,  dessen  Lektüre  mir  während  meines  Ur- 
laubs die  Möglichkeit  bieten  werde,  mich  in  seinen  Anschauungen  und 
Gedankengängen  noch  besser  als  bisher  zurechtzufinden. 

Als  ich  Baron  Blanc  darauf  aufmerksam  machte,  daß  sein  Aide- 
memoire  bei  vielen  und  nicht  immer  begründeten  Klagen  kein  prak- 
tisches Petitum  enthalte,  erwiderte  derselbe,  daß  seine  tatsächlichen 
Wünsche  sich  in  zwei  Worten  zusammenfassen  ließen:  Zeila  und 
Harrar**.  Im  Anschluß  hieran  verbreitete  sich  Baron  Blanc  in  längerer 
Auseinandersetzung  über  das,  was  nach  seiner  Meinung  an  dem  einen 
wie   an    dem    anderen   Punkte  geschehen   müßte,   um    die   italienische 

*  Siehe  die  Anlasfe. 

♦*  Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LIV. 


Position  zu  c-lciclitcrn.  Um  Unklarheiten  und  Übertreibungen  vor- 
zubeugen, ersuclite  icii  den  Minister  des  Äußern  um  tuniiclist  präzise 
Formulierung  seines  diesbezüglichen  Standpunkts  und  notierte  unter 
seinem  Diktat  nachstehendes:  ,,Pour  la  paix  en  Afrique  et  pour  des 
rapports  satisfaisants  envers  les  deux  puissances,  la  France  et  la  Russie, 
qui  ne  reconuaissent  pas  le  protectorat  Italien,  il  est  imprudent  de  ne 
pas  songer  ä  une  Solution  de  la  question  de  l'Ethiopie.  Cette  Solution 
n'existe  pas  dans  des  guerres  indefinies  du  Tigre  en  direction  du 
Sud  et  dans  une  extension  indefinie  et  coüteuse  de  Tadministration 
italienne  jusqu'au  Schoa.  La  vraie  Solution  est  celle  dont  nous  avons 
dcja  pose  les  bases  avec  l'Angleterre  dans  les  negociations  avec  le 
Ministere  Rosebery  pour  Zeila  et  pour  le  Harrar,  oii  notre  influenae 
etant  une  fois  assuree  de  fait  il  ne  serait  meme  plus  necessaire  de 
faire  une  expcdition  militaire  au  Harrar  pour  que  la  rebellion  dans  le 
Schoa  isole  se  dissolve  elle-meme.  La  France  sauf  ä  signer  ou  non 
la  dclimitation  convenue  en  1891*  nous  declare  que  hors  de  ces 
limites  ä  determiner  eile  n'entend  point  exercer  d'action  politique 
au  delä.  La  Russie  declare  de  son  cote  qu'elle  n'a  en  Abyssinie  d'autres 
interets  que  des  interets  ecclesiastiques,  auxquels  nous  sommes  in- 
differents  entre  Popes  et  Lazaristes.  L'Angleterre  pourrait  donc  sans 
aucun  risque  de  conflit  international  nous  laisser  la  porte  meridionale 
de  notre  protectorat,  qui  est  Zeila,  ce  qui  assurerait  la  paix  dans 
l'Abyssinie  et  mettrait  fin  ä  une  Situation  ä  laquelle  nous  ne  voudrions 
pas  voir  prendre  un  caractere  international.  Pour  Zeila  ä  defaut  de 
cession  —  ou  bien  de  Condominium,  qui  serait  agreable  en  nous 
liant  ä  l'Angleterre  —  nous  nous  sommes  reduits  dernierement  ä 
nous  contenter  de  la  presence  ä  Zeila  d'un  Commissaire  civil  avec 
drapeau  Italien.  Devant  la  coalition  bien  connue  des  Abyssins  et  des 
Derviches  et  devant  le  droit  de  l'Angleterre  affirme  dans  la  declaration 
du  5  mai  1894  de  proteger  sa  ligne  de  confins  avec  le  Harrar,  il  serait 
naturel  que  les  deux  puissances  solidaires  puissent  l'une  et  l'autre 
diriger  de  Zeila  l'action  tutelaire  qui  serait  opportune  pour  la  tran- 
quillite  du  Harrar." 

Das  Blancsche  Aide-memoire  trägt  den  Stempel  der  Eigenart  dieses 
eigenartigen  Politikers.  Soweit  mir  ein  Urteil  über  dasselbe  gestattet 
ist,  scheint  es  mir  aus  Wahrem  und  Falschem  gemischt.  Richtig  ist, 
daß  sich  Italien  am  Roten  Meer  in  schwieriger  Lage  befindet.  Wenn 
den  Italienern  in  Äthiopien  etwas  Unangenehmes  passierte,  würde  hier 
die  Regierung  —  und  unter  Umständen  noch  mehr  als  die  Regierung  — 
kopfüber  gehen.  Richtig  ist  auch,  daß  Frankreich  und  Rußland  be- 
strebt sind,  Italien  in  Afrika  Schwierigkeiten  zu  bereiten,  um  dasselbe 


♦  Gemeint  ist  das  Abkommen  zwischen  Großbritannien  und  Italien  vom  24.  März 
und  15.  April  1S91  über  die  Abgrenzung  der  beiderseitigen  Einflußsphären  im  öst- 
lichen Sudan. 


auf  diese  Weise  einzuschüchtern  oder  lahmzulegen.  Daß  wenigstens 
die  Franzosen  hier  im  letzten  Ende  den  Umsturz  des  Bestehenden,  die 
Auflösung  des  italienischen  Einheitsstaates  und  die  Föderativrepublik 
anstreben,  ist  auch  zweifellos.  Falsch  ist  außer  manchem  andern,  daß 
Baron  Blanc  dem  wesentlich  defensiv  angelegten  Dreibund  einen 
aktiveren,  wenn  nicht  offensiveren  Charakter  geben  will.  Die  bloße 
Tatsache,  daß  Italien  zurzeit  militärisch  nichts  weniger  als  aktions- 
fähig ist,  beweist  das  Irrige  und  Gefährliche  dieser  Auffassung.  Richtig 
ist  endlich  —  und  dies  bleibt  freilich  die  Hauptsache  — ,  daß,  wenn 
England  wirklich  die  Aufrechterhaltung  des  Status  quo  in  Italien  wie 
im  Mittelmeer  will,  es  den  italienischen  Interessen  in  Äthiopien  mehr 
Rechnung  tragen  und  sich  für  dieselben  mehr  einsetzen  muß,  als  dies 
unter  dem  Kabinett  Rosebery  der  Fall  war.  Was  das  Wiener  Kabinett 
betrifft,  so  dürfte  es  wünschenswert  sein,  daß  dasselbe  namentlich 
in  der  Form  hier  den  Anschein  vermiede,  als  ob  es  die  italienischen 
Afrika-  und  Mittelmeerinteressen  völlig  als  quantitc  ncgligeable  be- 
trachtete. An  unserem  Wohlwollen  für  Italien  zweifelt  Baron  Blanc 
im  Grunde  nicht.  Ich  habe  jede  Gelegenheit  benutzt,  um  nicht  nur 
Baron  Blanc,  sondern  auch  Herrn  Crispi  und  Seiner  Majestät  dem  König 
Humbert  Besonnenheit  und  Maßhalten  in  Nordostafrika  als  Vor- 
bedingung alles  weiteren  anzuempfehlen. 

Ich  darf  mir  vorbehalten,  über  die  mannigfachen  und  komplizierten 
Fragen,  welche  die  Blancsche  Aufzeichnung  berührt,  während  meiner 
Anwesenheit  in  Berlin  (in  der  zweiten  Hälfte  August)  auch  mündlich 
ehrerbietigen  Vortrag  zu  halten. 

B.  von  Bülow 


Anlage 
Aide  Memoire. 

Unsignierter  Abdruck,  von  dem  italienischen  Minister  des  Äußeren  Baron  Blanc 
am  14.  Juli   dem   Botschafter  Bernhard  von  Bülow   übergeben 

La  Russie  vient  de  declarer  finalement  qu'elle  considere  Menelik 
comme  souverain  independant  et  qu'elle  a  le  droit,  ne  reconnaissant 
pas  le  protectorat  Italien,  d'avoir  avec  Menelik  tels  rapports  qu'il 
lui  convient. 

Ainsi  se  realise  le  projet,  annonce  depuis  longtemps  ä  Paris, 
de  trouver  en  Abyssinie,  faute  de  mieux,  un  terrain  d'action  de  l'alliance 
franco-russe;  et  cette  action,  se  traduisant  dans  un  appui  moral  et 
materiel  contre  Tltalie  ä  ceux  que  I'alliance  franco-russe  considere, 
non  comme  en  rebellion,  mais  comme  en  guerre  reguliere  avec  Tltalie, 
ä  ceux  qui  annoncent  ä  Paris  et  ä  Petersbourg  la  continuation  prochaine 
des  hostilites  contre  nous,  constitue  une  provocation  non  dissimulee 
contre  la  triple  alliance. 

5 


C'est  en  effet  comme  alliee  des  puissances  centrales 
—  le  gouvernement  frangais  nous  l'a  plusieurs  fois  repete  —  que 
ritalic  a  cte  declaree  par  la  France  d'abord,  et  par  la  Russie  maintenant, 
hors  la  loi  europeenne  en  ce  qui  concerne  les  regles  etablies  pour 
l'Afriquc  par  les  actes  de  Berlin  et  de  Bruxelles.  Et  pour  obtenir 
de  la  France  et  de  la  Russie  les  benefices  des  Conventions  inter- 
nationales, ritalie,  ä  ce  qui  lui  a  ete  declare  formellement  par  la 
France,  doit  sortir  de  la  triple  alliance. 

On  n'a  pu  l'y  forcer  par  la  guerre  economique  et  par  la  propagande 
radicale;  on  espere  y  arriver  par  Tisolement  diplomatique,  en  vertu 
des  dcclarations  repetees  des  puissances  centrales,  qu'elles  se  des- 
interessent  des  questions  nous  concernant  dans  la  Mediterranee  et 
en  Afrique;  et  les  hostilites  prochaines  en  Abyssinie  restent  l'attente 
des  adversaires  de  l'alliance  au  dehors  et  au  dedans,  l'espoir  de  ceux 
qui  veulent  une  revolution  en  Italic. 

Le  groupe  franco-russe,  d'ailleurs,  se  montre  sur  tous  les  points 
decide  ä  une  communaute  d'action  qui  lui  donne  une  force  que  notre 
groupe  ä  nous  ne  trouve  pas  dans  des  accords  consideres  comme 
prives,  en  temps  de  paix,  de  toute  application  pratique.  Le  groupe 
franco-russe  ressemble  ä  une  armee  qui  manoeuvre  en  face  d'une 
armee  qui  ne  manoeuvre  pas;  et  tandis  qu'il  agit  seit  contra  nos 
interets  exterieurs,  soit  ä  l'interieur  meme  par  des  moyens  que  nos 
allies  semblent  ignorer,  et  qui  se  relient  ä  un  programme  de  federalisme 
ouvertement  avoue  par  le  Vatican  comme  par  les  sectes  republicaines, 
la  dissolution  de  fait  de  la  triple  alliance  a  pu  etre  annoncee  dans  des 
cercles  officiels  ä  Paris,  ä  Petersbourg,  ä  Constantinople  et  ä  Madrid, 
Sans  qu'aucun  fait  reliant  les  allies  dans  un  interret  palpable  soit  venu 
repondre  aux  faits  sur  lesquels  chaque  jour  se  consolide  la  solidarite 
franco-russe. 

La  question  de  savoir  s'il  existe  entre  la  France  et  la  Russie  des 
engagements  ecrits  semblables  ä  ceux  qui  dorment  dans  les  armoires 
de  la  triple  alliance,  parait,  en  presence  de  cette  Situation  de  fait, 
d'une  importance  pratiquement  secondaire. 

Pour  rendre  vivante  l'alliance  dont  I'Italie  fait  partie,  pour  lui 
assurer  une  adhesion  durable  de  la  conscience  italienne,  pour  la 
consolider  ä  travers  tout  changement  de  personnes  au  pouvoir,  nous 
avons  cherche  ä  la  fonder  sur  des  interets  reels  dans  la  paix,  sur  des 
situations  de  fait  oü  l'interet  Italien  se  sentit  effectivement  lie  aux 
interets  de  l'alliance. 

En  presence  de  ce  que  les  adversaires  de  l'alliance  en  Italic 
qualifient  d'indifference  des  deux  empires  envers  nos  interets,  de 
sacrifice  meme  de  nos  interets  aux  combinaisons  que  les  deux  empires 
ont  faites,  ä  notre  detriment  parfois,  avec  la  France  en  Afrique  et  avec 
la    Russie    en    Orient,    nous    n'avons    pas   voulu    prendre   occasion    et 

6 


pretexte  de  ces  memes  combinaisons  de  nos  allies,  pour  cvolucr  ä 
notre  tour,  vers  la  France,  qui  nous  a  souvent  invites  ä  une  action 
commune  en  Egypte,  et  qui  nous  a  declare  que  Tripoli  payerait  en 
cas  de  complication  une  attitude  de  notre  part  semblable  ä  celle  de 
1866;  ni  vers  la  Russie,  qui  nous  reproche  d'avoir  oublie  nos  ancienncs 
solidarites  anti-autrichiennes  en  Orient;  nous  avons  repudie  l'idce 
de  chercher  une  garantie  contre  les  obligations  du  casus  foederis 
dans  une  mediation  russe;  nous  avons  defini  ouvertement  et  loyale-.ncnt, 
envers  la  France  et  la  Russie,  nos  intcrets  et  nos  droits,  dans  la 
question  de  notre  colonie  comme  dans  les  autres  questions,  en  vue 
d'une  politique  de  paix  et  de  respect  reciproque;  et,  pour  assurer  en 
tout  cette  paix  sans  pretendre  engager  malgre  eux  nos  allies  dans 
nos  interets  les  plus  legitimes,  nous  avons  cherche,  meme  dans  la 
Periode  defavorable  marquee  par  le  dernier  cabinet  britannique,  ä 
preparer  autant  quMl  dependait  de  nous  un  retour  ä  la  vraie  base  de 
notre  politique  nationale,  c'est-ä-dire  ä  l'entente  entre  la  triple  alliance 
et  l'Angleterre. 

Nous  n'avons  point  fait  ä  Londres  un  appel,  auquel  notre  dignite 
se  refusait,  pour  une  confiance  que  les  faits  seuls  pourraient  retablir; 
nous  n'avons  attendu  du  cabinet  Rosebery  ni  Cooperation,  ni  reci- 
procite;  nous  n'avons  demande  ä  l'Angleterre  ni  engagements,  ni 
eclaircissements  sur  sa  politique,  tandis  que  nous  engagions  et  mettions 
hors  de  doute  la  notre. 

Nous  avons  ä  nos  risques  et  perils  attire  sur  nous  les  forces  des 
derviches,  et  rendu  plus  süre  contre  toute  attaque  Toccupation  anglaise 
de  l'Egypte,  comme  l'a  reconnu  le  rapport  Cromer;  nous  avons  confirme 
le  droit  d'influence  de  l'Angleterre  sur  le  Nil;  nous  avons  tenu  tete 
ä  une  coalition  d'abyssins  et  de  derviches,  encourages  et  assistes  par 
le  groupe  franco-russe,  sans  nous  plaindre  de  l'encouragement  de 
fait  que  trouvait  cette  coalition  dans  la  circonstance  que  la  porte  de 
notre  protectorat  dans  le  sud,  le  port  de  Zeyla,  nous  restait  ferme; 
nous  avons  fait,  seuls,  dans  les  incidents  hispano-marocains,  une 
politique  qui  etait  precisement  la  politique  traditionnelle  de  l'Angleterre, 
meme  quand  le  dernier  cabinet  anglais  y  faisait  une  politique  ä  la 
frangaise,  meme  quand  il  poussait  ainsi  vers  la  France  l'Espagne, 
que  nous  tächions  au  contraire  de  relier  ä  notre  groupe  et  ä  nous; 
nous  avons  au  debut  des  affaires  d'Armenie  donne  ä  l'Angleterre 
l'appui  qu'elle  nous  demandait  ä  Constantinople,  sans  nous  plaindre 
qu'en  suite  eile  nous  quittät  pour  une  combinaison  sterile  avec  la 
Russie  et  la  France;  nous  avons  dans  les  affaires  de  l'Extreme  Orient, 
echange  des  le  debut  avec  l'Angleterre  des  dispositions  ä  une  action 
eventuelle  commune,  qui  ne  se  sont  point  dementies  de  notre  part, 
meme  quand  l'Allemagne  a  juge  bon  de  se  joindre  aux  demarches 
franco-russes;  le  cabinet  actuel  a  enfin,  par  sa  rectitude  invariable 
de  conduite  envers  les  allies  et  envers  l'Angleterre,  attire  sur  l'Italie 


seule  les  attaques  et  les  difficultes  que  le  groupe  franco-russe  dirige 
naturellement  sur  eile,  Tltalie  ctant  le  cöte  de  la  triple  alliance  que 
les  allies  ont  neglige  de  fortifier. 

Teile  est  la  Situation  ä  ravenement  du  cabinet  Salisbury,  qui 
coincide  avec  la  presence  au  pouvoir  en  Italie  d'hommes  qui  ont 
persiste  malgre  tout  ä  fonder  notre  politique  sur  la  triple  alliance 
et  sur  les  solidarites  italo-anglaises. 

En  ce  qui  concerne  le  cabinet  de  Vienne,  bien  qu'il  ne  se  soit 
pas  prete  ä  notre  entente  avec  l'Angleterre  dans  la  question  armenienne, 
en  alleguant  que  cette  question  n'interessait  pas  TAutriche-Hongrie, 
nous  n'avons  pas  hesite,  lorsque  s'est  manifeste  la  liaison  naturelle 
des  affaires  d'Armenie  avec  celle  de  Macedoine,  ä  repondre  ä  l'appel 
que  l'Autriche-Hongrie  nous  a  adresse  pour  une  demarche  ä  Sofia, 
dans  laquclle  semble  se  reconstituer,  ce  qui  serait  d'un  bon  augure, 
le  groupe  des  quatre  puissances. 

Bien  que  TAutriche-Hongrie  ait  cru  süffisant  le  renouvellement 
pur  et  simple  d'accord  avec  l'Espagne,  qui  n'avaient  servi  qu'ä  faire 
abonder  l'Espagne  en  gages  envers  la  France  contre  toute  solidarite 
reelle  avec  nous,  et  qui  pourraient  constituer  sous  nos  successeurs 
le  point  de  depart  d'un  pacte  occidental  supprimant  les  Pyrenees 
comme  sous  Louis  XIV,  et  supprimant  les  Alpes  comme  aux  temps 
de  la  Republique  Cisalpine,  nous  avons  travaille  pour  la  triple  alliance 
malgre  les  allies  memes  en  quelque  sorte,  en  insistant  pour  que 
l'entente  italo-espagnole  proposee  ne  füt  plus  illusoire  ni  mensongere, 
et  qu'un  pacte  derisoire  ne  vint  pas  mettre  une  equivoque  dans  les 
relations  des  maisons  souveraines,  un  sceau  de  plus  au  sacrifice  de 
nos  interets  mediterraneens  et  africains. 

Notre  fermete  est  invariable,  mais  nous  sommes  dans  un  moment 
historique  qui  doit  decider  si  l'Italie,  en  fondant  ses  interets  pacifiques 
sur  la  triple  alliance  et  sur  l'Angleterre,  a  ete  le  jouet  d'une  utopie. 

Notre  diplomatie  n'a  point  pour  Instruction  de  frapper  ä  des 
portes  qui  ne  s'ouvrent  pas  toutes  grandes  devant  eile.  De  meme 
qu'elle  a  fait  son  devoir,  nos  forces  feront  le  leur  devant  les  attaques 
prochaines  promises  par  les  abyssins  ä  Petersbourg  et  ä  Paris, 

Le  casus  foederis,  que  nous  n'avons  jamais  pris  l'initiative 
de  poser,  ayant  ete  formellement  pose  par  la  France  et  la  Russie  contre 
l'Italie,  la  triple  alliance  est  mise  en  demeure,  non  par  nous,  mais 
par  nos  adversaires  communs. 

II  s'agit,  pour  les  puissances  alliees  et  pour  l'Angleterre  amie, 
d'assurer  ou  d'abandonner  la  consolidation  de  l'alliance,  par  la  garantie 
effective  et  pacifique  des  droits  et  de  la  securite  d'un  allie. 

C'est  un  de  ces  moments  decisifs,  qui,  en  diplomatie  comme  en 
guerre,  sont  parfois  fugitifs. 

8 


Nr.  2370 

Der  Sfellverfretende  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr 
von  Rotenhan  an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfcldt 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 
Nr.  832  Berlin,  den  18.  Juli  1895 

Eu^.  beehre  ich  mich,  beifolgend  den  Bericht  Nr.  130*  des  Kaiser- 
lichen Botschafters  in  Rom  vom  15.  Juli  nebst  Anlage  abschriftlich 
zu  übersenden. 

Unzweifelhaft  hat  der  Kaiserliche  Botschafter  recht,  wenn  er  sagt, 
daß  Baron  Blanc  den  defensiven  Charakter  des  Dreibundes  verkennt 
und  diesen  zu  einer  Erwerbsgenossenschaft  im  Interesse  Italiens  um- 
zustempeln  versucht.  — 

Andrerseits  aber  ist  die  Haltung,  welche  das  vorige  englische 
Kabinett  sowohl  wie  auch  die  nach  den  rein  finanziellen  Gesichts- 
punkten Lord  Cromers  geleitete  ägyptische  Regierung  gegenüber  den 
italienisch-abessynischen  Schwierigkeiten  beobachtet  hat,  dazu  angetan, 
Italien  in  die  Arme  Frankreichs  und  Rußlands  zu  treiben.  An  dieser 
Stelle  wird  Lord  Salisbury  einzusetzen  haben,  wenn  er  ein  Abschwenken 
Italiens  verhindern  will. 

Sollte  Lord  Salisbury**  an  der  altenglischen  Auffassung  festhalten, 
daß  andre  Staaten,  indem  sie  sich  an  Englands  Seite  stellen,  damit 
lediglich  ihrem  eignen  Interesse  dienen  und  folglich  keinen  Anspruch 
auf  englische  Gegenleistung  haben,  so  würde  Italien  wohl  nicht  die 
einzige  Macht  sein,  welche  aus  dieser  Wahrnehmung  bittere,  aber 
heilsame  Lehren  zöge. 

Holstein 

Nr.  2371 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Vortragenden 
Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Telegramm.  Entzifferung 
Ganz  vertraulich  London,  den  30.  Juli  1893 

Ich  habe  heute  Lord  Salisbury  das  Memoire  von  Blanc***  lesen 
lassen  und  ihm  Inhalt  erläutert.  Unter  Voraussetzung  voller  Diskretion 
(d.h.,  daß  seine  Äußerungen  weder  amtlich  verwertet  noch  in 
irgendeinem  Schriftstück  bekannt  würden)  bemerkte  er  dazu:  Zeila 
könne  er,  wie  ich  wisse,  nicht  geben;  er  sehe  aber  wohl  ein,  daß  den 
an  sich  unmotivierten  Forderungen  Italiens  gegenüber  etwas  geschehen 

*  Siehe  Nr.  2369. 

**  Nach  dem  Rücktritt  des  Kabinetts  Rosebery  war  am  26.  Juni  d:e  konservative 
Partei    mit   Lord   Salisbury  als    Premier   und   Außenminister   zur   Regierung  ge- 
kommen. 
***  Siehe  Nr.  2369,  Anlage. 


müsse.  Die  Zulassung  eines  Agenten  in  Zeila  habe  er  in  Rom  bereits 
zugesagt  und  nur  die  Fiaggcnfrage  vorbehalten.  Er  wolle  sich  darüber 
noch  informieren,  denke  aber,  da  ich  dies  für  notwendig  halte,  auch 
darin  den  italienischen  Wünschen  entsprechen  zu  können.  Er  sei  aber, 
und  dies  bitte  er  streng  vertraulich  zu  behandeln,  geneigt,  den 
Italicnern  in  einem  anderen  und  für  sie  wichtigeren  Punkt  entgegen- 
zukommen, und  zwar  in  bezug  auf  die  Zukunft  von  Albanien  und 
Tripolis.  Er  habe  dabei  im  Auge,  was  er  „une  division  des  reclama- 
tions"  in  bezug  auf  die  Türkei  nannte,  d.h.,  soviel  ich  aus  seinen  nicht 
ganz  klaren  Erläuterungen  entnehmen  konnte,  die  Teilnahme  Italiens 
an  etwaigen  Reklamationen  in  Konstantinopel.  Außerdem  würden  die 
beiden  Provinzen  für  den  Fall  der  Teilung  im  Orient*  Italien  zu- 
gesichert werden. 

Bitte  überlegen  Sie,  ob  und  was  damit  zu  machen  ist.  Eventuell 
müßte  meines  Erachtens  das  Eisen  geschmiedet  werden,  solange  es 
heiß  ist. 

In  bezug  auf  Armenien  ist  Lord  Salisbury  etwas  beruhigter,  nach- 
dem der  Sultan  einen  hier  mißliebigen  Wali  abgesetzt,  eine  Amnestie 
gegeben  und  eine  Art  Konstitution  in  Aussicht  gestellt  hat.  Er  bleibt 
aber  dabei,  daß  das  Türkische  Reich  verfault  sei  und  der  Verfall  nebst 
obligater  Teilung  in  absehbarer  Zeit  kommen  müsse.  Sehr  bezeich- 
nend war  seine  Äußerung,  daß  man  hier  sehr  unrecht  gehabt  habe, 
die  Vorschläge  des  Kaisers  Nikolaus  an  den  damaligen  englischen 
Vertreter  Seymour  vor  dem  Krimkrieg  abzulehnen**.  Er,  Lord  Salis- 
bury,  würde  sie  jedenfalls  akzeptiert  haben. 

Ich  mußte  zusagen,  über  heutiges  Gespräch  nicht  amtlich  zu  be- 
richten.   Brief  folgt  morgen. 

Hatzfeldt 

Nr.  2372 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Vortragenden 
Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Privatbrief.  Ausfertigung 

London,  den  3L  Juli  1895 
Als  ich  gestern  Lord  Salisbury  sah,  welchen  ich  gut  aufgelegt  und 
gesprächig  fand,  leitete  ich  die  beabsichtigte  Mitteilung  des  Blancschen 

*  Zum  ersten  .Wal  taucht  der  Gedanke  einer  Teilung  der  Türkei,  der  also  nicht 
erst  im  Zusammenhang  mit  der  Frage  einer  Schadloshaltung  Italiens  für  Zeila  bei 
Salisbury  entstanden  ist,  bei  der  Erörterung  der  armenischen  Frage  zwischen  dem 
englischen  Premier  und  dem  deutschen  Botschafter  am  9.  Juli  auf.  Vgl.  Kap.  LXI,  A, 
Nr.  2396. 

**  Über  die  Unterredungen  des  Kaisers  Nikolaus  I.  mit  Sir  George  Hamilton  Sey- 
mour im  Januar  und  Februar  1853  siehe  Felix  Bamberg,  Geschichte  der  Orien- 
talischen Angelegenheit,  Berlin  1892,  S.  38ff.  und  neuerdings  F.  J.  C.  Hearnshaw 
in:  Cambridge  History  of  British  Foreign  Policy  1783-1919  (1923)  Vol.  II,  p.  340  ff. 

10 


memoire's*  mit  der  Bemerkung  ein,  daß  ich  diesmal  speziell  gekommen 
sei,  um  im  Vertrauen  auf  seine  altbewährte  Verschwiegenheit  eine 
Indiskretion  zu  begehen,  die  ich  im  Interesse  der  Sache  für  geboten 
hielte.  Jedenfalls  werde  es  ihn  interessieren,  das  von  Baron  Blanc 
als  geheim  bezeichnete  Schriftstück  zu  lesen  und  daraus  zu  ersehen, 
welche  Zwecke  Italien  verfolge,  welche  Stimmung  innerhalb  der  jetzigen, 
dem  Dreibund  und  auch  England  besonders  günstig  gesinnten  ita- 
lienischen Regierung  herrsche,  und  welche  Schlüsse  daraus  in  bezug 
auf  die  weitere  Entwickelung  der  italienischen  Politik  gezogen  werden 
könnten. 

Lord  Salisbury,  welcher  das  memoire  mit  größter  Aufmerksam- 
keit durchlas,  unterbrach  sich  nur  einmal  darin,  um  lächelnd  zu  bemerken: 

„C'est  une  femme  legitime  qui  demande  ä  etre  payee."  Als  er 
mit  seiner  Lektüre  fertig  war,  dankte  er  mir  für  meine  vertrauliche 
Mitteilung,  indem  er  hinzufügte,  daß  er  meine  „Indiskretion'*  durch 
eine  gleiche  Indiskretion  in  bezug  auf  seine  Anschauungen  und  Ab- 
sichten in  der  Sache  beantworten  wolle.  Zunächst  entwickelte  er  ziem- 
lich ausführlich  den  Gedanken,  daß  das  italienische  Unternehmen  in 
dem  fraglichen  Teile  Afrikas  ein  verfehltes  sei,  welches  niemals,  auch 
nicht  mit  englischer  Hülfe,  zu  einem  ersprießlichen  Ergebnis  führen 
könne.  Es  sei  aber  durch  die  Verhältnisse  ausgeschlossen,  daß  diese 
Hülfe,  bei  aller  Bereitwilligkeit,  Italien  gefällig  zu  sein,  sich  so  weit 
erstrecken  könne,  als  dies  italienischerseits  verlangt  worden  sei.  Eng- 
land könne  auf  den  Besitz  von  Zeila  nicht  verzichten,  weil  es  den- 
selben zur  Sicherung  seiner  eigenen  Interessen  im  Roten  Meer  selbst 
notwendig  brauche,    pp. 

Lord  Salisbury  fuhr  dann  fort,  indem  er  mich  bat,  dies  als  streng 
vertraulich  zu  betrachten,  daß  er  in  einem  andren  Punkt,  welcher 
nach  seiner  Ansicht  für  Italien  viel  wichtiger  sei,  als  das  sterile  Unter- 
nehmen in  Afrika,  damit  umgehe,  den  Italienern  Entgegenkommen 
zu  zeigen.  Es  handle  sich  dabei  um  Albanien  und  Tripolis,  zwei  Pro- 
vinzen, deren  Besitz  von  den  Italienern  längst  gewünscht  werde  und 
auch  wirklich  wertvoll  für  sie  sein  würde.  Sein  Gedanke  sei  dabei, 
die  Italiener  durch  eine  wirklich  vorteilhafte  Zusicherung  zu  binden 
und  gleichzeitig  herbeizuführen,  was  er  als  „une  division  des  recla- 
mations  ä  Constantinople"  bezeichnen  wolle.  Ich  stellte  verschiedene 
Fragen,  um  Klarheit  darüber  zu  erlangen,  was  er  sich  darunter  denkt, 
muß  aber  gestehen,  daß  mir  dies  nur  unvollkommen  gelungen  ist. 
Man  kann  sich  zweierlei  darunter  denken:  1.  daß  Italien,  falls  Eng- 
land den  in  der  armenischen  Frage  eingeschlagenen  Weg  der  Rekla- 
mationen gegen  die  Mängel  der  türkischen  Verwaltung  in  gewissen 
Teilen  des  Türkischen  Reichs  fortsetzt,  dieselbe  Rolle  in  bezug  auf 
andre  Teile  der  Türkei  gleichzeitig  übernimmt.    2.  daß   England,  um 


*  Siehe  Anlage  zu  Nr.  2369. 

11 


seine  Aktion  in  Konstantinopel,  die  jetzt  durch  die  russische  und  fran- 
zösische Reserve  gehemmt  wird,  zu  verstärken,  sich  dabei  der  aktiven 
italienischen  Mitwirkung  versichern  will.  Ich  möchte  annehmen,  daß 
Lord  Salisbury  beides  im  Auge  hat  und  namentlich  auch  den  Zweck 
verfolgt,  Italien,  indem  er  demselben  zwei  am  Mittelmeer  gelegene 
türkische  Provinzen  zuweist  und  ihm  eine  aktive  Rolle  in  Konstan- 
tinopel überträgt,  für  die  Zukunft  noch  fester  an  das  englische  In- 
teresse im  Mittelmeer  zu  knüpfen. 

Grade  in  dieser  Hinsicht  war  es  von  hervorragendem  Interesse, 
vielleicht  auch  nicht  ohne  Absicht,  daß  Lord  Salisbury  mir  im  Verlauf 
des  Gesprächs  die  Theorie  entwickelte,  daß  die  Türkei,  auch  wenn 
die  armenische  Frage  vorläufig  zur  Ruhe  käme,  doch  im  großen  und 
ganzen  zu  verfault  sei  (trop  pourric),  um  noch  lange  bestehen  zu 
können.  Als  ich  dem  gegenüber  lediglich  die  Bemerkung  machte: 
wenn  das  wirklich  wahr  wäre  und  die  Türkei  zusammenfällt,  was 
dann,  und  wie  glauben  Sie,  daß  sich  eine  gütliche  Teilung  unter 
die  Interessenten  bewerkstelligen  läßt?  erwiderte  mir  der  Minister, 
daß  dies  sicher  keine  leichte  Aufgabe  sein  würde,  daß  die  Schwierig- 
keit aber  heute  nicht  bestände,  wenn  man  in  England  nicht  den  Fehler 
begangen  hätte,  das  Anerbieten  des  Kaisers  Nikolaus  an  den  eng- 
lischen Vertreter*  vor  dem  Krimkriege  (Ägypten  an  England,  Salo- 
niki an  Österreich  usw.)  abzulehnen,  ein  Fehler,  den  er,  Salisbury, 
gewiß  nicht  begangen  hätte.  Als  ich  meinerseits  auf  eine  andre  ge- 
schichtliche Reminiszenz  hinwies,  nämlich  die  Unterhandlungen  zwi- 
schen Napoleon  I.  und  dem  Kaiser  Alexander,  welche  hauptsächlich 
daran  gescheitert  seien,  daß  der  Kaiser  Napoleon  äußerstenfalls  wohl 
Konstantinopel,  unter  keinen  Umständen  aber  gleichzeitig  auch  die 
Dardanellen  einräumen  wollte,  wurde  Lord  Salisbury  nachdenklich  und 
bemerkte  schließlich,  daß  die  Sache  allerdings  große  Schwierigkeiten 
bieten  würde,  da  kaum  zu  bezweifeln  sei,  daß  Rußland,  wenn  es  in 
den  Besitz  der  Dardanellen  gelangte,  jederzeit  in  der  Lage  sein  würde, 
im  Verein  mit  Frankreich  die  englischen  Interessen  im  Mittelmeer 
auf  das   ernstlichste  zu  gefährden. 

Aus  der  vorstehenden  Darstellung  ergibt  sich  meines  Erachtens 
zunächst,  daß  Lord  Salisbury  den  Wert  einer  Verständigung  mit  Italien 
erkennt  und  durchaus  nicht  abgeneigt  ist,  dafür  gewisse  Konzessionen 
zu  machen,  wenn  er  es  dadurch  gleichzeitig  an  die  englische  PoHtik 
binden  und  sich  seiner  Kooperation  im  Orient  versichern  kann.  Es  ist, 
wie  ich  glaube,  sehr  der  Mühe  wert,  uns  ernstlich  zu  überlegen,  ob  wir 
diese  Verständigung,  die  gleichzeitig  eine  Stärkung  des  Dreibundes 
bedeuten  würde,  fördern  und  zu  möglichst  raschem  Abschluß  bringen 
wollen.  Mir  gegenüber  hat  Salisbury,  wie  Sie  bemerken  werden,  das 
gleiche  Vertrauen  und  die  gleiche  Offenheit  v/ie  früher  gezeigt. 


*  Siehe  Fußnote  **  zu  Nr.  2371  (S.  10). 
12 


In  zweiter  Linie  geht  aus  den  Äußerungen  des  Ministers  anzweifel- 
haft hervor,  daß  seine  Anschauungen  in  bezug  auf  die  Erhaltung  der 
Türkei  eine  wesentliche  Wandlung  erlitten  haben,  und  daß  er  heute 
von  der  Überzeugung  durchdrungen  ist,  daß  England,  um  nicht  zu 
kurz  zu  kommen,  mit  der  Möglichkeit  des  Zerfalls  rechnen  und  den 
Fall  der  Teilung  ins  Auge  fassen  muß.  Die  Voraussetzungen,  mit 
welchen  wir  unsrerseits  in  bezug  auf  die  Entwickelung  der  europäischen 
Politik  zu  rechnen  haben,  werden  dadurch  ebenfalls  ganz  andre,  viel- 
leicht vorteilhaftere,  da  sich  die  Möglichkeit  ergeben  kann,  nach  welcher 
Fürst  Bismarck  lange  gesucht  hat,  daß  eine  friedliche  Verständigung 
zwischen  Österreich  und  Rußland  (Teilung  der  Interessensphären)  sich 
ermöglichen  läßt,  während  der  Hauptgrund  für  die  russische  Ver- 
stimmung gegen  uns  fortfallen  und  die  französische  Freundschaft  für 
Rußland  viel  weniger  wertvoll  werden  würde.  Ich  beschränke  mich, 
um  nicht  zu  lang  zu  werden,  auf  diese  Andeutungen,  um  so  mehr,  als 
Ihnen  das  alles  zum  mindesten  ebenso  gut  bekannt  ist  als  mir, 

SchließHch  bemerke  ich  nur  noch,  daß  Salisbury  nach  meinem  Ge- 
fühl nichts  dagegen  hat,  wenn  wir  uns  unter  der  Hand  bemühen  wollen, 
seinen  Gedanken  in  Rom  zu  fördern.  Was  er  um  jeden  Preis  vermeiden 
will,  ist,  daß  seine  Äußerungen  bekannt  werden,  namentlich,  daß  sie 
in   irgendeinem   amtlichen   Schriftstück  veröffentlicht  werden   könnten. 

Leben  Sie  herzlich  wohl  für  heute.  Künftigen  Sonntag,  4.  August, 
fahre  ich  nach  Cowes*  und  nehme  Kanzlisten  und  Chiffre  mit.  Salis- 
bury wird  wohl  jedenfalls  während  des  Aufenthalts  einmal  hinkommen. 
Erscheint  es  irgendwie  nützlich,  so  kann  ich  ganz  gut  von  Cowes  ein- 
mal herkommen,  um  mit  ihm  zu  sprechen. 

P.  Hatzfeldt 


Nr.  2373 

Der  Unferstaafssekretär  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.  Konzept 
Nr.  244  Berlin,  den  1.  August  1895 

Antwort  auf  Privattelegramm  von  vorgestern**,  betreffend  Lord 
Salisburys  auswärtiges  Programm.  Ton  und  Tendenz  des  letzteren 
gefallen  hier  nicht  sehr.  Es  fehlt  das  Gefühl  der  Gegenseitigkeit, 
der  Gedanke,  daß  England  selber  auch  mal  Konzessionen  zu  machen 
haben   könnte   an   solche  Staaten,   deren   Unterstützung  es   nötig  hat. 


*  Vom  4.  bis   16.  August  war  Kaiser  Wilhelm  zu  Besuch  in  England. 
**  Siehe  Nr.  2371. 

13 


Warum  Lord  Salisbury  in  Zeila  keine  Konzession  machen  kann, 
ist  unersichtlich.  Es  wäre  sogar  nützlich  für  England,  Italien  dort 
festzunageln  in  Erwartung  eines  russisch -französischen  Vordringens. 
Jede  englische  Konzession  in  Zeila  würde  eine  sicherere  Gewähr  für 
das  wirkliche  Vorhandensein  eines  englischen  Solidaritätsgefühls  bieten 
als  der  von  Lord  Salisbury  entwickelte  albanesische  Plan,  welcher  so- 
wohl für  den  Dreibund  wie  für  England  politische  Bedenken  hat. 

Zunächst  legt  die  Art,  wie  Lord  Salisbury  die  Auflösung  und  Auf- 
teilung der  Türkei  bespricht,  uns  —  nicht  zum  erstenmal  —  den  Ver- 
dacht nahe,  daß  der  englische  Staatsmann  diesen  Prozeß  beschleunigen 
möchte  in  der  Hoffnung,  England  werde  den  daraus  entstehenden 
kontinentalen  Kämpfen  vielleicht  ganz  fern  bleiben  oder  doch  ähnlich 
wie  in  den  ersten  Napoleonischen  Kriegen  die  Lage  und  die  Ver- 
hältnisse beherrschen,  d.  h.  die  Bedingungen  der  Mitwirkung  vor- 
schreiben,  nicht  empfangen. 

Ist  aber  Lord  Salisbury  sicher,  daß  nicht  schon  die  bloße  Be- 
sorgnis, Albanien  in  italienischen  Besitz  gelangen  zu  sehen,  Österreich 
vom  Dreibund  ab-  und  auf  die  feindliche  Seite  drängen  würde?  Trotz 
dieser  Gefahr  wird  Lord  Salisbury  von  seinem  Plan  wahrscheinlich 
ungern  abgehen,  denn  schon  beim  Berliner  Kongreß  zeigte  er  sich 
bestrebt,  aus  Handelsrücksichten  Österreich  den  Weg  nach  Saloniki 
zu  verlegen.  Dieser  Gesichtspunkt  ist  vielleicht  auch  jetzt  das  treibende 
Motiv  des  englischen  Ministers,  denn  es  wäre  sonst  nicht  schwierig, 
andere  Objekte  für  die  Befriedigung  der  italienischen  Begehrlichkeit 
ausfindig  zu  machen.  Die  neue  Verteilung  der  Mittelmeerküstenländer 
ist  ohne  einen  Krieg,  an  dem  Frankreich  teilnimmt,  kaum  denkbar. 
Ist  aber  Frankreich  geschlagen,  so  wird  z.  B.  Tunis  für  Italien  ver- 
fügbar, welches  letztere  dann,  da  es  doch  nicht  überall  und  alles 
nehmen  kann,  seine  Ansprüche  auf  die  Balkanhalbinsel  fallen  lassen 
müßte. 

Es  ist  schwer  zu  glauben,  daß  ein  denkender  Politiker  wie  Lord 
Salisbury  nicht  die  Wirkung  erwogen  haben  sollte,  welche  schon  die 
bloße  Besorgnis  vor  der  italienischen  Annexion  Albaniens  auf  die  Be- 
ziehungen Österreichs,  wie  zum  Dreibund,  so  auch  zu  England  haben 
müßte.  Sollte  Lord  Salisbury  etwa  die  Lücke,  welche  das  Ausscheiden 
Österreichs  reißen  würde,  dadurch  stopfen  wollen,  daß  er  sich  bestrebt, 
Frankreich  —  gleichfalls  durch  Konzessionen  auf  Kosten  der  Türkei, 
Chinas  oder  sonstiger  Dritter  —  heranzuziehen?  Wenn  dies  nicht 
Lord  Salisburys  Plan  ist,  dann  wird  er  gut  tun,  sich  erst  über  die  Hal- 
tung Österreichs  zu  vergewissern,  bevor  er  die  albanesische  Frage 
weiter  zur  Sprache  bringt.  Sonst  könnte  es  ihm  passieren,  daß  Öster- 
reich verloren   geht,   ohne  daß   Frankreich  gewonnen   wird. 

Es  bleibt  dahingestellt,  ob  nicht  schon  die  einfache  Anfrage  in 
Wien  beunruhigen  wird.  Ungefährlicher  wäre  es  jedenfalls,  wenn 
Lord  Salisbury  den  Italienern  entweder  eine  sofortige  Befriedigung 
14 


mit  Zeila  oder  eine  Erweiterung  ihrer  nordafrikanischen   Hoffnungen 
gewährte. 

Für  Deutschland  ist  Vorsicht  und  Zurückhaltung  geboten,  solange 
die  Ziele  und  auch  die  Mittel  der  englischen  PoUtik  noch  im  Nebel 
bleiben. 

Rotenhan 


Nr.  2374 

Der  Unterstaatssekretär  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  245  Berlin,  den  2.  August  1895 

Ew.  pp.  heute  eingegangenes  Schreiben  *,  betreffend  die  Pläne  Lord 
Salisburys  im  Mittelmeer,  ist  geeignet,  die  Besorgnis  zu  vermehren, 
welche  bereits  in  meinem  Telegramm   Nr.  244**  Ausdruck  fand. 

Ew.  pp.  stelle  ich  anheim,  dem  englischen  Minister  als  Ihre  eigne 
Ansicht  oder  als  die  der  Kaiserlichen  Regierung  zu  verstehen  zu  geben, 
daß,  falls  sein  Vorschlag  wegen  Albaniens  das  zwischen  Österreich 
und  Italien  bestehende  Bündnis  sprengen,  bzw.  die  Erneuerung  des- 
selben verhindern  sollte,  es  unmöglich  ist,  heute  schon  zu  sagen,  ob 
alsdann  Deutschland  durch  die  Macht  der  Verhältnisse  zu  der  öster- 
reichischen oder  zu  der  italienischen  Gruppe  geschoben  werden  würde. 

Wenn  dem  englischen  Minister  die  als  Folge  seines  Plans  sich 
ergebende  Gefahr  einer  Sprengung  des  heutigen  Dreibundes  bisher 
wirklich  entgangen  sein  sollte,  wird  es  Ew.  pp.  nicht  schwer 
werden,  ihn  zu  überzeugen,  daß  er  bei  dem  Plane  einer  Neuordnung 
der  Verhältnisse  des  westlichen  Teiles  der  Balkanhalbinsel  nicht  ohne 
Berücksichtigung  der  Ansichten  und  Interessen  des  Wiener  Kabinetts  zu 
Werke  gehen  kann. 

Gegen  die  Absicht  Lord  Salisburys,  die  italienische  Interessen- 
sphäre aus  dem  Roten  in  das  Mittelmeer  zu  verlegen,  haben  wir  an 
sich  nichts,  denn  es  ergibt  sich  daraus,  daß  England  gewillt  ist,  seinen 
ägyptischen  Besitz  nach  allen  Seiten  zu  sichern  und  abzurunden.  Nur 
in  dem  Falle,  wo  Lord  Salisbury  die  Entschädigung  Italiens  in  einer 
Weise  durchführen  wollte,  welche  die  alte  Rivalität  zwischen  Italien  und 
Österreich  wieder  wachruft,  wäre  Deutschland  gezwungen,  angesichts 
einer  neuen  Lage  seine  Existenz  durch  neue  schwerwiegende  Ent- 
schließungen zu  wahren. 

Rotenhan 


*  Siehe  Nr.  2372. 
**  Siehe  Nr.  2373. 


15 


Nr.  2375 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Mr.  215  London,  den  3.  Aug-ust  1895 

Geheim 

Antwort  auf  Telegramm   Nr.  244*. 

In  ausfülirlichcr,  streng  vertraulicher  Unterhaltung  habe  ich  Lord 
Salisbury  noch  vor  Eingang  des  Telegramms  Nr.  245**  meine  Be- 
denken wegen  Albaniens  entwickelt,  indem  ich  dieselben  als  Ergebnis 
persönlichen  Nachdenkens  seit  letztem  Gespräch  bezeichnete,  gleich- 
zeitig aber  nicht  verheimlichte,  daß  ich  seitdem  privaten  Gedanken- 
austausch mit  Euerer  Durchlaucht  darüber  gehabt.  Ich  hob  dabei  her- 
vor, daß  eine  klare  und  erschöpfende  Aussprache  zwischen  Lord  Salis- 
bury und  mir  jetzt  um  so  mehr  angezeigt  erscheine,  als  sein  politisches 
Programm  sich  seit  seinem  letzten  Ministerium  offenbar  in  einem 
wesentlichen  Punkt  verändert  habe.  Während  er  früher  die  Erhaltung 
der  Türkei  als  eines  der  wesentlichsten  englischen  Interessen  in  den 
Vordergrund  stellte,  gehe  er  jetzt  von  der  Voraussetzung  des  Zerfalls 
und  der  damit  verbundenen  Teilung  des  Türkischen  Reichs  aus,  die  ihm, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  willkommen,  doch  nicht  mehr  ganz  so  un- 
erwünscht zu  sein  scheine.  Wenn  er  daraus  die  praktische  Konsequenz 
ziehe,  den  Italienern  für  den  Fall  der  Teilung  eine  Provinz  in  Aussicht 
zu  stellen,  welche  Österreich  denselben  schwerlich  würde  überlassen 
wollen,  so  könne  dies  letztere  nach  meiner  Ansicht  eine  Rückwirkung 
auf  den  Dreibund  ausüben,  die  wir  nicht  unberücksichtigt  lassen  dürften. 
Jede  durch  die  englische  Politik  herbeigeführte  Schwächung  oder  gar 
Auflösung  der  Tripelallianz  würde  uns  nach  meiner  persönlichen  Auf- 
fassung dazu  führen  müssen,  auch  nur  unser  eigenes  Interesse  zu  Rate 
zu  ziehen,  indem  wir  uns  dann  auf  Beobachtung  der  Ereignisse  be- 
schränkten und  uns  dabei  vorbehielten,  falls  es  zu  einer  europäischen 
Krisis  wegen  Orient  oder  Mittelmeer  komme,  mit  unserem  ganzen 
Gewicht  auf  die  Seite  zu  treten,  deren  Politik  unsere  Sicherheit  und 
unser  Interesse  am  besten  verbürge. 

Lord  Salisbury  erwiderte  mir  zunächst  mit  großer  Lebhaftigkeit, 
er  könne  mir  auf  das  bestimmteste  versichern,  daß  meine  Vor- 
aussetzung, als  ob  in  seinem  politischen  Programm  seit  seinem  letzten 
Ministerium  eine  Wandlung  eingetreten  sei,  vollständig  unbe- 
gründet sei.  Er  lege  ganz  denselben  Wert  auf  die  Erhaltung  der 
Türkei  wie  damals,  wünsche  weder  Zerfall  noch  auch  Teilung  derselben 
und  werde  gewiß  nicht  das  geringste  tun,  um  dies  zu  fördern  oder  zu 

•  Siehe  Nr.  2373. 
•*  Siehe  Nr.  2374. 

16 


beschleunigen.  Aber  er  könne  nicht  die  Augen  schließen  und  sich  der 
Erkenntnis  entziehen,  daß  jene  EventuaHtät,  wie  unerwünscht  sie  auch 
sei,  durch  die  Macht  der  Verhältnisse  immer  näher  gerückt  werde, 
und  daß  es  daher  dringend  ratsam  sei,  mit  dieser  Möglichkeit  und  den 
unausbleiblichen  Folgen  einer  solchen  im  voraus  zu  rechnen.  Trotz- 
dem habe  er  noch  mit  niemand  außer  mir,  von  dessen  Diskretion  er 
überzeugt  sei,  über  diesen  Punkt  ein  Wort  gesprochen,  und  werde 
dies  auch  nicht  tun,  um  keine  vorzeitige  Beunruhigung  an  irgendeinem 
Punkt  hervorzurufen.  In  dieser  Hinsicht  teile  er  vollständig  und 
unbedingt  meine  Auffassung,  daß  vor  allem  jede  Beunruhigung 
Österreichs  vermieden  werden  müsse.  Wenn  daher,  wie  ich  glaubte, 
angenommen  werden  müsse,  daß  eine  eventuelle  Zusicherung  an  Italien 
bezüglich  Albaniens  in  Wien  ein  Stein  des  Anstoßes  sein  würde,  so 
verstehe  sich  von  selbst,  daß  dieser  Gedanke  sofort  aufgegeben  werden  müsse. 

Als  ich  hier  die  Bemerkung  fallen  ließ,  daß  sich  vielleicht  nach 
einer  anderen  Richtung  etwas  finden  ließe,  was  auch  Italien  selbst 
erwünschter  als  Albanien  sein  würde,  sagte  Lord  Salisbury  lebhaft: 
„Sie  meinen  wohl  Marokko?  Auch  dagegen  würde  ich  nichts  haben." 
Auf  meine  Bemerkung,  daß  meines  Wissens  England  dort  selbst  Ab- 
sichten habe,  erwiderte  er,  daß  die  an  sich  bescheidenen  eventuellen 
Wünsche  Englands  dort  einer  reichlichen  Befriedigung  Italiens  durch 
marokkanisches  Territorium  nicht  im  Wege  stehen  würden.  Ich  wies 
diese  Insinuation,  die  noch  von  Nutzen  werden  kann,  nicht  zurück, 
bemerkte  aber  gleichzeitig,  daß  es  noch  einen  anderen  Punkt  an  der 
Küste  Nordafrikas  gäbe,  den  Italien  für  wertvoll  halten  würde,  näm- 
lich Tunis.  Der  Minister  wies  auch  dies  nicht  zurück  und  warf  nur 
die  Frage  auf,  wie  man  sich  eventuell  die  Ausführung  denken  könne. 
Ich  erwiderte,  der  Fall  scheine  mir  nicht  ganz  ausgeschlossen,  daß 
Frankreich  sich  der  hier  beabsichtigten  Teilung  im  Orient  überhaupt 
widersetzen  und  infolge  eines  erfolglosen  Widerstandes  dagegen  den 
Besitz  von  Tunis  würde  aufgeben  müssen.  Eine  Zusicherung  an  Italien 
für  diesen  Fall  würde  vielleicht  in  Rom  schon  als  wertvoll  begrüßt 
werden.  Auch  hiergegen  erhob  der  Minister  keine  prinzipiellen  Be- 
denken, und  ich  halte  daher  nicht  für  unmöglich,  daß  er  sich  eventuell 
zu  einer  solchen  geheimen  Zusicherung  verstehen  würde. 

Ich  kam  dabei  nochmals  auf  die  jetzigen  italienischen  Wünsche 
bezüglich  Marrars*  usw.  zurück  und  stellte  die  ganz  vertrauliche 
Frage,  ob  Lord  Salisbury,  wenn  er  wirklich  jede  Abtretung  an  der 
Küste  des  Roten  Meeres  als  ausgeschlossen  betrachte,  nicht  in  jenem 
Teil  Afrikas  im  Innern  den  Italienern  noch  irgendeine  Konzession 
machen  könne.  Er  erwiderte  mir  zuerst,  daß  die  Italiener  dort  schon 
jetzt  ein  so  ausgedehntes  Territorium  als  ihnen  gehörig  beanspruchten, 
daß   kaum   etwas   übrig  bleibe,   was   noch   als  ihr  Eigentum   hier  an- 


*  Siehe  Bd.  VIII,  Nr.  1991,  Fußnote. 

2    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  17 


erkannt  werden  könnte.  Als  ich  aber  in  dieser  Richtung  insistierte, 
sagte  er  bereitwillig  zu,  sich  alsbald  näher  informieren  zu  wollen,  ob 
und  welches  Entgegenkommen  dort  von  selten  Englands  noch  möglich 
sein  würde.  Gleichzeitig  ersuchte  er  mich,  dies  auch  meinerseits  in 
Erwägung  zu  ziehen,  und  knüpfte  daran  die  bedeutungsvolle  Be- 
merkung: „Aus  den  ihnen  bekannten  Gründen  scheint  es  mir  nötig, 
für  gewisse  Eventualitäten  sich  über  eine  Art  von  Verteilungsplan  im 
Orient  und  namentlich  am  Mittelmeer  zu  verständigen.  Meine  Gedanken 
darüber  habe  ich  ihnen  vertrauensvoll  mitgeteilt,  und  Sie  sehen,  daß 
ich  auch  zu  Modifikationen  darin  gern  bereit  bin.  Es  wäre  aber 
sehr  nützlich,  daß  Sie  sich  Ihrerseits  einen  Plan  bildeten, 
wie  Sie  ihn  für  geeignet  und  durchführbar  halten  würden, 
und  daß  wir  denselben  dann  ebenfalls  streng  vertrau- 
lich  besprechen  könnten." 

Aus  dieser  Unterredung  und  der  ganzen  Haltung  Lord  Salisburys 
habe  ich  den  bestimmten  Eindruck  gehabt,  daß  er  vor  allem,  soviel 
dies  von  ihm  abhängt,  die  Erhaltung  und  Kräftigung  des  Dreibundes 
wünscht  (mehr  noch,  als  sich  der  italienischen  Hilfe,  die  er  nicht  über- 
mäßig hoch  schätzt,  für  England  zu  versichern),  selbstverständlich, 
weil  er  darin  auch  die  beste  Bürgschaft  für  das  englische  Interesse  er- 
blickt, und  daß  er  sich  aus  diesem  Grunde  mit  uns  über  einen  Plan 
verständigen  möchte,  durch  welchen  Italien  möglichst  befriedigt  und 
bei  der  Stange  gehalten  würde,  ohne  daß  Österreich  darin  Grund  zur 
Unzufriedenheit  und  zum  Abfall  erblicken  könnte.  Er  hat  deshalb 
dem  Grafen  Deym  vor  seiner  Abreise  nach  Wien  nur  gesagt,  daß  die 
Verhältnisse  in  der  Türkei  zwar  immer  schlechter  würden,  daß  er 
aber  nach  wie  vor  wünsche,  den  Verfall  derselben  nach  Möglichkeit 
hinzuhalten.    Mir  gegenüber  betonte  er  noch  gestern,  daß  Österreich 

eventuell  auch  seine  Befriedigung  finden *  die  in  der  Richtung 

nach  Saloniki  liegen  würde.  Meinerseits  habe  ich  Lord  Salisbury  keinen 
Zweifel  darüber  gelassen,  daß  wir  Vorsicht  für  geboten  halten  und, 
falls  hier  eine  unseren  Interessen  schädliche  Politik  eingeschlagen 
würde,  nicht  anstehen  würden,  nur  unser  eigenes  Interesse  zu  Rate 
zu  ziehen.  Über  die  Ziele  und  die  Mittel  der  englischen  Politik  würden 
wir  uns  aber  jetzt,  auch  abgesehen  von  den  letzten  Eröffnungen  des 
Ministers,  leicht  aufklären  können,  w^enn  ich  in  der  Lage  wäre,  auf 
seinen  Vorschlag  einzugehen  und  ihm,  angeblich  rein  persön- 
lich, einen  mir  richtig  erscheinenden  Plan  für  die  eventuelle  Regelung 
der  Dinge  im  Orient  und  im  Mittelmeer  zu  bezeichnen,  über  welchen 
er  sich  dann  auszusprechen  hätte.  Von  seiner  Diskretion  hat  er  uns 
mehrfach  Beweise  gegeben. 

Lord  Salisbury  wird  übermorgen,  Montag,  nach  Osborne  kommen 
und  Mittwoch  nach  London  zurückkehren.  H  atzfei  dt 

•  Gruppe  fehlt,  vcrmuüich:  könnte. 
18 


Nr.  2376 

Der  Untersfaatssekref är  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Alt-Aussee 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  19  Berlin,  den  3.  August  1895 

Verschiedene  Anzeichen  haben  hier  den  Verdacht  erw^eckt,  daß 
Graf  Goluchowski  es  mit  Freude  begrüßen  w^ürde,  wenn  England  durch 
Räumung  Ägyptens  das  Haupthindernis  einer  Annäherung  an  Frank- 
reich beseitigte.  Gleichzeitig  aber  soll  der  Graf  sich  mit  der  Hoff- 
nung schmeicheln,  daß  England  selbst  nach  der  Räumung  seine 
maritime  Position  im  Mittelmeer  aufrechthalten,  ja  vielleicht  noch  ver- 
stärken werde,  Rußlands  wegen. 

Die  Räumung  Ägyptens  würde  von  verhältnismäßig  geringer  Be- 
deutung sein,  wenn  eine  Aufrechthaltung  der  englischen  Machtstellung 
im  Mittelmeer  unabhängig  von  der  Behauptung  Ägyptens  heute  noch 
denkbar  wäre.  Tatsächlich  gibt  es  jedoch  im  englischen  Volke  hin- 
sichtlich Ägyptens  nur  zwei  Gruppen:  die  stärkere,  welche  Ägypten 
und  das  Mittelmeer  halten,  die  schwächere,  welche  aus  beiden  heraus 
möchte.  Ein  englischer  Staatsmann,  welcher  nach  dem  Verzicht  auf 
Ägypten  und  Suezkanal  dem  Staate  noch  finanzielle  Opfer  und  erhöhtes 
Risiko  politischer  Verwickelungen  lediglich  des  Mittelmeers  wegen  zu- 
muten wollte,  würde  sich  damit  zwischen  zwei  Stühle  setzen  und  es 
keiner  Gruppe  recht  machen. 

Das  vollständige  Verschwinden  des  englischen  Machtfaktors  aus 
dem  Mittelmeer  würde  aber  voraussichtlich  den  Anschluß  Italiens  an 
die  russisch-französische  Gemeinschaft  herbeiführen. 

Rotenhan 

Nr.  2377 

Der  Vortragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein  an  den  Rat 
im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandten  von  Kiderlen,  z.  Z.  in  Helgoland 

Telegramm.   Eigenhändiges   Konzept 

Nr.  24  Berlin,  den  3.  August  1895 

[abgegangen  am  4.  August] 

Brief  eben  erhalten.  Graf  Hatzfeldt  hat  noch  nicht  Zeit  gehabt, 
über  die  neuesten,  merkwürdigen  Anregungen  des  Lord  Salisbury  amt- 
lich zu  berichten.  Das  Telegramm*  und  der  Privatbrief**,  welche 
beide  Sie  dort  haben,  ist  alles,  was  wir  bis  jetzt  besitzen. 

Alle  jetzigen  Vorschläge  des  englischen  Ministers  haben  meines 
Erachtens   lediglich   den    Zweck,   die   unbehagliche   Lage,   in   der   sich 

*  Siehe  Nr.  2371. 
**  Siehe  Nr.  2372. 

7*  19 


England  zurzeit  wegen  Ägyptens  den  Franzosen  und  Russen  gegen- 
über befindet,  dadurch  zu  erleichtern,  daß  man  in  Kleinasien  und  am 
Balkan  Komplikationen  schafft,  bei  denen  alle  Kontinentalmächte,  selbst 
wir,  eher  hineingezogen  werden  würden  als  England.  Nur  durch  ein 
akutes,  schwerwiegendes  englisches  Interesse  ist  es  zu  erklären,  daß 
Lord  Salisbury,  der  sonst  immer  auf  Österreich  die  größte  Rücksicht 
nimmt  und  Italien  nicht  mag,  jetzt  den  Italienern  Albanien  zuwenden 
möchte,  womit  er  gleichzeitig  Österreich  einen  schweren  Schlag  ver- 
setzen, voraussichtlich  auch  den  Dreibund  sprengen  würde. 

Deutschland  seinerseits  hat  aber  das  größte  Interesse  daran,  daß 
der  Zusammenbruch  der  Türkei  erst  eintritt,  nachdem  vorgesorgt  ist, 
daß  unsre  beiden  Freunde,  Österreich  und  Italien,  sich  bei  der  curee 
nicht  in  die  Haare  geraten.  Diese  Verständigung  herbeizuführen,  ist 
nicht  unsre,  sondern  Englands  Aufgabe,  denn  nicht  wir  wollen  der 
Türkei  den  Garaus  machen,  sondern  Lord  Salisbury  möchte  es.  Solange 
die  österreichische  und  italienische  Erbschaftsquote  nicht  genau  zwischen 
diesen  beiden,  unter  englischer  Assistenz,  vereinbart  ist,  müssen  wir  — 
eventuell  zusammen  mit  Rußland,  Frankreich  und  Österreich  —  alle  stürmischen 
anglo-italienischen   „Reformvorschläge"   in   Konstantinopel  bekämpfen. 

Ich  glaube,  daß  Lord  Salisbury  sein  Balkanbrandprojekt  —  denn 
darauf  kommen  seine  Vorschläge  hinaus  —  für  jetzt  nicht  weiter  ver- 
folgen wird,  wenn  er  beim  Kaiser  auf  festen  Widerstand  stößt 
und  merkt,  daß  Seine  Majestät  ihn  durchschaut. 

Ich  habe  an  Hatzfeldt  —  wohl  überflüssigerweise  —  telegraphiert, 
den  Kaiser  ja  rechtzeitig,  d.  h.  ehe  derselbe  Lord  Salisbury  sieht, 
zu  informieren.  Aber  Sie  können  das  auch  schon  vorläufig  tun  mit  dem 
jetzt  an  Sie  abgegangenen  Material. 

Der  Kaiser  wird,  denke  ich,  schnell  klar  sehen.  Ein  besonders  deut- 
liches Anzeichen  für  Salisbur}'s  Hintergedanken  ist  mir,  daß  er  den 
Italienern  sogar  Zeila  nicht  geben  will;  er  will  sie  lieber  gegen  die 
Balkanhalbinsel  hetzen,  damit  sie  dort  alles  auf  den  Kopf  stellen. 
Das  werden  sie  auch,  wenn  sie  sich  selbst  überlassen  sind  und  Aus- 
sicht auf  Albanien  haben. 

Holstein 

Nr.  2378 

Der  Unterstaatssekrelär  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandten  von  Kiderlen 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  25  Berlin,  den  4.  August  1895 

Graf  Hatzfeldt  meldet*,  daß  er  Lord  Salisbury  eindringlich  auf 
Gefahren  seines  neuesten  Programms  aufmerksam  gemacht  und  ihn 
♦  Siehe  Nr.  2375. 

20 


schließlich    ganz    entgegenkommend    gefunden    hat.     Namentlich    ver< 
wahrte  sich  der  Lord  gegen  den  Gedanken,  je  etwas  tun  zu  wollen 
was  Österreich  und  Italien  wieder  trennen  könnte. 

Aber  —  aufpassen  müssen  wir  doch,  tun  es  ja  auch. 

Rotenhan 


Nr.  2379 

Der  Unterstaatssekrefär  im  Auswärtigen  Amt 
Freiherr  von  Rotenhan  an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe, 

z.  Z.  in  Alt- Aussee 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  24  Berlin,  den  5.  August  1895 

Da  der  erste  Vortrag  des  Grafen  Hatzfeldt  bei  Sr.  Majestät  statt- 
findet, bevor  Ew.  Durchlaucht  Zeit  gehabt  haben,  sich  über  die  Freitags- 
unterredung des  Botschafters  mit  Lord  Salisbury  zu  äußern,  ist  gestern 
etwa  folgendes  als  Privatansicht  an  Graf  Hatzfeldt  telegraphiert  wor- 
den, mit  dem  Hinzufügen,  daß  Ew.  sich  noch  nicht  zur  Sache  geäußert: 

„Weder  Deutschland  noch  Sie  persönlich  dürfen  Vorschläge  wegen 
Landverteilung  im  Mittelmeer  machen.  Wir  wollen  dort  nichts  haben, 
also  mögen  diejenigen,  welche  dort  etwas  haben  wollen,  —  England, 
Italien,  Österreich  —  sich  verständigen.  Höchstens  könnten  wir  hinter- 
her, nachdem  jene  drei  einig  geworden  sind,  auf  Befragen  er- 
klären, daß  deutsche  Interessen  dabei  nicht  direkt  berührt  werden. 
Vorher  an  uns  gelangende  Anfragen  lehnen  wir  ab  zu  beantw^orten. 

Für  England  und  Österreich,  welche  wünschen,  unsre  Brücken 
nach  Rußland  hin  möglichst  bald  abgebrochen  zu  sehen,  wäre  es 
eine  schwere  Versuchung,  wenn  sie  ganz  vertraulich  durchsickern  lassen 
könnten,  daß  Deutschland  Vorschläge  wegen  Aufteilung  von  Türkei 
und  Marokko  gemacht  habe.  Von  dem  Augenblick  an,  wo  das  bekannt 
wird,  haben  wir  nicht  mehr  freie  Hand.  Die  wollen  wir  aber  haben, 
schon  um  im  psychologischen  Moment  etwas  für  uns  zu  verlangen, 
wenn  auch  nicht  im  Mittelmeer.  Politische  Frondienste  sind  zu  ver- 
meiden." 

Ew.  Durchlaucht  bitte  ich  um  telegraphisch '^  Willensäußerung,  ob 
und  wie  weit  das  Vorstehende  Hochdero  Genehmigung  hat. 

Rot  enhan 


21 


Nr.  2380 

Der  Rat  im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandter  von  Kiderlen, 

z.  Z.  in  Cowes,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Ivjr.  49  Cowes,  den  5.  August  1895 

Geheim. 

Die  Pläne  Lord  Salisburys  im  Sinne  der  beiden  unterwegs  er- 
haltenen Telegramme*  mit  Seiner  Majestät  besprochen,  der  sie  als 
„echt  englisch"  bezeichnete  und  sagte,  er  lasse  sich  auf  nichts  ein. 

Kiderlen 

Nr.  2381 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt,  z.  Z.  in  Cowes, 
an  den  Vortragenden  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Telegramm,  Entzifferung 

Cowes,  den  5.  August  1895 
Antwort  auf  Ihr  gestern  abend  eingegangenes  Telegramm**. 
Verstehe  vollkommen  Ihre  Meinung  und  werde  selbstverständlich 
danach  verfahren,  möchte  aber,  bevor  definitiv  für  die  ganze  weitere 
Entwickelung  der  Dinge  maßgebende  Entschlüsse  gefaßt  werden,  Sie 
privatim  auf  folgendes  aufmerksam  machen:  Wenn  Lord  Salisbury, 
nachdem  er  sich  so  weit  avanciert,  jetzt  findet,  daß  wir  jeder  Ver- 
ständigung mit  ihm  aus  dem  Wege  gehen  und  auch  Verständigung 
zwischen  ihm  und  Italien  resp,  Österreich  in  keiner  Weise  fördern 
wollen,  nachdem  ich  Konzessionen  an  Italien  und  Berücksichtigung 
der  Interessen  Österreichs  bis  jetzt  dringend  befürwortet,  ist  der  Fall 
durchaus  nicht  ausgeschlossen  —  ich  halte  ihn  sogar  für  wahrschein- 
lich — ,  daß  überhaupt  nichts  mit  Italien  und  Österreich  zustande 
kommt  und  ersteres  höchstens  den  Agenten  in  Zeila***  mit  oder 
ohne  Flagge  bekommt.  Ich  hoffe  mich  zu  irren,  fürchte  aber  nein, 
schon  deshalb,  weil  Lord  Salisbury  Indiskretion  in  Wien  und  nament- 
lich Rom  viel  zu  sehr  fürchten  wird,  um  dort  offen  mit  Vorschlägen 
über  Zukunft  im  Orient  herauszurücken. 

Für  Italien  allein  wird  Lord  Salisbury  nach  meiner  Überzeugung 
wenig  tun.  Er  sieht  darin  vor  allem  das  Mittel,  den  Dreibund  zu  halten 
und  eventuell  auf  seine  Seite  zu  bringen.  Dafür  würde  er  den  Italienern 
jetzt  eventuell  Tripolis,  Tunis  und  größten  Teil  von  Marokko  zu- 
sichern, mehr  als  sie  sonst  jemals  träumen  könnten. 

•  Siehe  Nr.  2377  und  2378. 

♦*  Vgl.  Nr.  2377. 

**♦  Siehe  Bd.  VIII,  Fußnote  zu  Nr.  2014. 

22 


Darüber  darf  ich  Sie  und  mich  nicht  täuschen,  daß  ich,  wenn  wir 
uns  ganz  zurückziehen,  das  heißt,  wenn  ich  weder  Rat  noch  Ansicht 
mehr  geben  kann,  keinen  nennenswerten  Einfluß  auf  die  weiteren 
Entschlüsse  Lord  Salisburys  in  der  Sache  werde  ausüben  können; 
selbstverständlich  lag  auch  mir  sehr  fern,  zum  Abbrechen  der  Brücken 
mit  Rußland  zu  raten,  so  wenig  ich  von  dort  für  uns  jetzt  erwarte. 
Der  „Plan"  Lord  Sahsburys  hatte  aber  offenbar  zur  Voraussetzung 
die  reichlichste  Befriedigung  Rußlands  im  Orient,  Konstantinopel 
avec  tout  ce  qui  s'ensuit*.  Der  Geprellte  war  offenbar  nur  Frank- 
reich, wenn  sich  nicht  auch  für  letzteres  ein  Trost  irgendwo  finden 
ließ.  Ob  Rußland  an  der  eventuellen  Enttäuschung  Frankreichs  viel 
Interesse  nehmen  würde,  wenn  es  selbst  Konstantinopel  usw.  be- 
kommt, ist  aber  doch  zum  mindesten  fraglich,  und  unserem  Inter- 
esse würde  es,  wie  mir  scheint,  kaum  widersprechen,  wenn  Rußland 
mit  Rücksicht  auf  seine  Befriedigung  im  Orient  keinen  Orund  mehr 
sähe,  die  französische  Freundschaft  auf  unsere  Kosten  zu  pflegen. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  Lord  Salisbury  uns  im  Fall  unserer  Be- 
teiligung an  der  Verständigung  auch  entsprechenden  Teil  an  den  frei- 
werdenden Territorien  bereitwillig  zugestehen  w^ürde.  Ob  er  uns  aber 
dafür  englischen  Besitz  abtreten,  und  ob  irgendein  englischer  Minister 
der  öffentlichen  Meinung  gegenüber  stark  genug  wäre,  Sansibar  ein- 
zuräumen, ist  eine  andere  Frage.  Ich  halte  dies  nur  in  zwei  Fällen 
für  denkbar:  entweder  bei  einem  Abkommen  durch  welches  auch  Eng- 
land bedeutende  und  dem  Publikum  erkennbare  Vorteile  erreicht, 
oder  im  Falle  eines  Kriegs,  und  wenn  England  dann  unsere  Hilfe  um 
jeden  Preis  haben  muß. 

Hatzfeldt 


Nr.  2382 

Der  Vortragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Alt-Aussee 

Telegramm.   Eigenhändiges   Konzept 

Nr.  27  Berlin,  den  5.  August  18Q5 

Unterstaatssekretär  abwesend,  ich  gebe  daher  nur  meine  Privat- 
ansicht über  das  bedeutungsvolle  Telegramm  des  Grafen  Hatzfeldt**. 
Wenn  Lord  Salisbury,  wie  Graf  Hatzfeldt  überzeugt  ist,  wirklich 
die  Absicht  hat,  auch  Rußland,  etwa  durch  das  Meerengengebiet,  zu 

*  In  der  Tat  hatte  Lord  Salisbury  schon  am  9.  Juli  1895  in   einer  Unterredung 
mit  Graf  Hatzfeldt  auf  eine  Teilung  der  Türkei  angespielt,  bei  welcher  die   an 
der   russischen   Grenze   liegenden   türkischen    Provinzen   nicht  autonom,   sondern 
russisch  werden  würden.    Vgl.  Kap.  LXI,  A,  Nr.  2396. 
**  Siehe  Nr.  2381. 

23 


befriedigen  und  so  Frankreich  für  Rußland  entbehrlich  zu  machen, 
so  ändert  das  allerdings  die  Sachlage.  Unter  diesen  Umständen  schließe 
ich  mich  der  Ansicht  des  Kaiserlichen  Botschafters  vollständig  an  und 
halte  für  nützlich  und  wünschenswert,  daß  er  die  Angelegenheit  mit 
Lord  Salisbury  weiter  bespricht  und  mit  diesem,  zunächst  „persönlich", 
später  je  nach  Sachlage  auch  amtlich,  Ansichten  austauscht.  Telegra- 
phischc  Entscheidung  Eurer  Durchlaucht  erbeten,  des  Kaisers  wegen. 

Holstein 


Nr.  2383 

Der  Vorfragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein  an  den  Rat 
im  Kaiserlichen  Gefolge  Gesandten  von  Kiderlen,  z.  Z.  in  Cowes 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  26  Berlin,  den  5.  August  1895 

Privat  [abgegangen  am  6.  August] 

Erhielt  soeben  von  Graf  Hatzfeldt  langes  Telegramm*,  welches 
Sachlage  vollständig  ändert,  da  hiernach  Salisbury  versuchen  v^ill,  auch 
Rußland  durch  wesentliche  Konzessionen  zu  befriedigen  und  Frankreich 
zu  isolieren. 

Gleichviel,  ob  dieser  Gedanke  schon  früher  vorhanden  war  oder 
neu  entstanden  ist,  er  verdient  Ermutigung. 

Holstein 

Nr.  2384 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Alt- Aussee, 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Alt-Aussee,  den  6.  August  1895 
Antwort  auf  Telegramme  Nr.  24**,  25***,  26,  27 f. 
Ich  bin  damit  einverstanden,  daß  Graf  Hatzfeldt  die  in  Rede 
stehenden  Fragen  weiter,  zunächst  „persönlich",  mit  Lord  Salisbury 
bespreche,  halte  jedoch  für  nützHch,  daß  Graf  Hatzfeldt  nach  Möglichkeit 
vermeidet,  diejenige  Initiative  bei  Aufstellung  des  eventuellen  Ver- 
tcilungsplans  zu  ergreifen,  die  der  englische  Minister  ihm  anscheinend 
zuschieben  will.  Fürst  Hohenlohe 

•  Siehe  Nr.  2381. 
**  Siehe  Nr.  2379. 

»*•  Nr.  25  und  26  betrafen  das  Telegramm  des  Grafen  Hatzfeldt  vom  5.  August 

Nr.  2381. 

t  Siehe  Nr.  2382. 

24 


Nr.  2385 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt,  z.  Z.  in  Cowes, 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Nr.  2  Cowes,  den  7.  August  1895 

Geheim 

Telegramm  Nr.  253  erhalten. 

Vorgestern  abend  vor  dem  Diner  bei  der  Königin,  welchem  auch 
Lord  Salisbury  beiwohnen  sollte,  hatte  ich  Seine  Majestät  gebeten,  sich 
bei  eventueller  Unterhaltung  mit  dem  Premierminister,  falls  derselbe 
die  türkische  Frage  und  seinen  Verteilungsplan  berühren  sollte,  auf 
allgemeine  Erwägungen  darüber  zu  beschränken,  daß  die  Verteilung 
der  Türkei  eine  für  die  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  nicht 
unbedenkliche  Frage  sei,  über  welche,  wenn  es  einmal  dahin  kommen 
sollte,  die  zunächst  beteiligten  Mächte  sich  zu  verständigen  hätten, 
und  daß  die  Lage  der  Dinge  in  der  Türkei  anscheinend  kaum  schlecht 
genug  sei,  um  den  baldigen  Eintritt  dieser  Frage  erwarten  zu  lassen. 
In  der  Unterhaltung,  die  nach  dem  Diner  zwischen  Seiner  Majestät 
und  dem  Premierminister  stattfand,  hat  der  letztere  die  Frage  insoweit 
berührt,  daß  er  die  zunehmende  Verschlechterung  der  Verhältnisse 
in  der  Türkei  und  die  hiernach  näherrückende  Gefahr  einer  Auf- 
lösung hervorhob,  und  Seine  Majestät  haben  dem  gegenüber  die  auf 
eigene  Beobachtungen  gestützte  Ansicht  entwickelt,  daß  die  dortigen 
Verhältnisse  sich  eher  gebessert  hätten,  daß  die  Gesetzgebung  an  sich 
eine  befriedigende  sei,  und  daß  es  vor  allen  Dingen  darauf  ankomme, 
den  Sultan  durch  freundschaftliche  Vorstellungen  zur  Absetzung  schlech- 
ter Beamten  und  zur  Ernennung  geeigneter  und  zuverlässiger  Persön- 
lichkeiten zu  bestimmen. 

Gestern  nachmittag  wollte  der  Kaiser  auf  Wunsch  Ihrer  Majestät 
der  Königin  den  Premierminister  zu  einer  zweiten  Unterredung  an 
Bord  der  Hohenzollern  empfangen.  Dies  ist  durch  den  zufälligen  Um- 
stand vereitelt  worden,  daß  Lord  Salisbury  zu  der  Stunde,  welche 
Seine  Majestät  bestimmt  hatten,  gleichzeitig  zur  Audienz  bei  Ihrer 
Majestät  der  Königin  befohlen  worden  war,  und  es  nachher  zu  einem 
Besuch  desselben  an  Bord  der  Hohenzollern  zu  spät  wurde.  Der 
Premierminister  ist  heute  früh  durch  unaufschiebbare  Geschäfte  nach 
London  zurückberufen  worden*. 


*  Nach  Freiherrn  von  Eckardstein  (Lebenserinnerungen  und  politische  Denk- 
würdigkeiten Bd.  I,  S.  211  ff.;  II,  S.  284;  III,  S.  12ff.)  hätte  am  8.  August  an  Bord 
der  „Hohenzollern"  eine  zweite  Unterredung  zwischen  dem  Kaiser  und  Lord 
Salisbury  stattgefunden,  die  schließlich  sehr  erregte  Formen  angenommen  und  eine 
tiefgehende,  dauernde  Verstimmung  zwischen  beiden  Persönlichkeiten  zurück- 
gelassen hätte.  Die  ganze  Eckardsteinsche  Erzählung  mit  ihrem  dramatischen  Auf- 
putz ist  aber  in  das  Reich  der  Fabel  zu  verweisen;  denn  mit  vollster  Sicherheit 

25 


Im    Lauf   des   gestrigen    Nachmittags    hat   der   Kaiser   einen    aus- 
führhchen  Vortrag  von   mir   über  die   Sache   entgegengenommen   und 

ergibt  sich  aus  den  Akten  (vgl.  namentlich  den  Brief  Lord  Salisburys  an  Graf 
Hatzfc'ldt  vom  8.  August,  Nr.  2380),  daß  eine  solche  Unterredung  an  Bord  der 
„Hohcnzollcrn"  gar  nicht  stattgefunden  hat.  Damit  fallen  auch  die  Schluß- 
folgerungen, die  Freiherr  von  Eckardstein  aus  dem  angeblichen  Verhalten  des 
Kaisers  gegen  den  englischen  Staatsmann  zieht,  in  sich  zusammen.  Daß  nicht  das 
Verhalten  Kaiser  Wilhelms  II.  ein  ungehöriges  war,  sondern  dasjenige  Lord  Salis- 
burys, geht  klar  und  deutlich  aus  dem  Entschuldigungsbrief  des  englischen 
Premiers  vom  8.  August  (siehe  Nr.  2386)  hervor,  nach  dem  dieser  die  felepho- 
nische  Aufforderung  des  Kaisers,  zur  Fortsetzung  des  Gesprächs  zu  ihm  zu 
kommen,  völlig  ignoriert  hat,  derart,  daß  der  Kaiser  2—3  Stunden  vergeblich 
wartete.  Ohnehin  hatte  der  Kaiser  Grund,  sich  durch  einen  Begrüßungsartikel 
verletzt  zu  fühlen,  den  der  ministerielle  „Standard"  bei  der  Ankunft  des  Kaisers 
in  England  gebracht  hatte,  und  in  dem  u.  a.  die  Hoffnung  ausgesprochen  war,  daß 
Wilhelm  11.  bei  der  englischen  Königin  eine  Lektion  politischer  Weisheit  nehmen 
möge.  Nach  diesem  Artikel  die  persönliche  Brüskierung  durch  Lord  Salisbury: 
das  mußte  allerdings  eine  Mißstimmung  bei  Kaiser  Wilhelm  II.  erzeugen.  So  ist 
es  immerhin  verständlich,  wenn  Holstein  am  20.  März  1901  an  Eckardstein  (siehe 
dessen  Lebenserinnerungen  Bd.  II,  S.  282)  schrieb:  „Namentlich  gelang  es  ihm 
—  Lord  Salisbury  —  durch  sein  flegelhaftes  Auftreten  im  Herbst  18Q5,  den  besten 
Freund,  den  England  in  Deutschland  hat,  den  Kaiser,  in  eine  Stimmung  zu 
bringen,   welche  dann  das  ihrige  zur  Ablassung  des  Krügertelegramms  beitrug." 

In  ähnlichem  Sinne,  wenn  auch  weniger  schroff,  hat  sich  Holstein  am 
31.  Oktober  1901  zu  dem  früheren  Berliner  Korrespondenten  der  „Times",  Valen- 
tine Chirol,  ausgelassen:  „Lord  Salisbury  habe  unmittelbar  nach  der  Ankunft  Seiner 
Majestät  in  England  ihm  jenes  Teilungsprojekt  vorgetragen,  jedoch  eine  Ab- 
lehnung erfahren,  welche  durch  ihre  Lebhaftigkeit  ihn  wohl  verletzt  haben  möge, 
denn  der  Minister  sei  der  nächsten  Aufforderung  des  Kaisers  zu  einer  erneuten 
Besprechung  ausgewichen  und  statt  dessen  nach  London  abgereist.  Dieser  dem 
Kaiser  erteilte  Korb  sei  dann  noch  Gegenstand  längerer  diplomatischer  Korre- 
spondenz zwischen  Berlin  und  London  gewesen  und  habe  eine  Stimmung  er- 
zeugt, welche  auf  die  Haltung  des  Kaisers  zur  Zeit  des  Jameson-Einfalles  wohl 
nicht  ohne  Einfluß  gewesen  sei"  (Aufzeichnung  Holsteins  vom  31.  Oktober  1901). 

Ob  wirklich  die  Stimmung  des  Kaisers  gegen  Lord  Salisbury  von  Anfang  an 
so  erregt  gewesen  ist,  muß  nach  dem  Befund  der  Akten  doch  bezweifelt  werden. 
Zu  einem  Wiener  Bericht  vom  18.  August  (siehe  Nr.  2391)  hat  Wilhelm  II.  jeden- 
falls noch  eine  Schlußbemerkung  niedergeschrieben,  in  der  er  im  Hinblick  darauf, 
daß  der  Teilungsgedanke  aus  Lord  Salisburys  Haupt,  zumal  nach  dessen  öffent- 
licher Stellungnahme  in  der  Oberhausrede  vom  15.  August,  doch  nicht  mehr  zu 
verdrängen  sein  werde,  ganz  sachlich  zu  dem  Gedanken  der  Teilung  Stellung 
nimmt  und  ihm  gute  Seiten  abzugewinnen  sucht.  Ganz  ähnlich  äußerte  sich  Wil- 
helm II.  zu  einem  Konstantinopeler  Bericht  vom  22.  August  (Nr.  2416).  Die  von 
Holstein  behauptete  lange  andauernde  Verstimmung  des  Kaisers  könnte  also  erst 
nachträglich  durch  die  sich  an  Lord  Salisburys  Entschuldigungsschreiben  vom 
8.  August  knüpfende  „längere  Korrespondenz",  von  der  indessen  bei  den  Akten 
nichts  vorhanden  ist  (auch  das  Salisburysche  Schreiben  vom  8.  ist  als  ein  Privat- 
brief erst  am  19.  August  zu  den  Akten  des  Auswärtigen  Amts  genommen  worden), 
hervorgerufen  sein. 

Eine  eigene  Aufzeichnung  des  Kaisers  über  die  Unterredung  mit  Lord  Salis- 
bury vom  5.  August  liegt,  wie  auf  Grund  der  genauesten  Nachforschungen  in 
den  Akten  konstatiert  werden  muß,  nicht  vor;  es  findet  sich  nicht  die  leiseste  An- 
spielung darauf.  Ob  Sir  Valentine  Chirol,  der  in  der  „Times"  vom  11.  und  13.  Sep- 
tember 1920  unter  dem  Titel  „Ex-Kaiser  and  England.  New  Chapter  of  Diplomacy" 

26 


sich  mit  der  Auffassung,  zu  welcher  der  Herr  Reichskanzler  nach  Tele- 
gramm Nr.  257*  seine  Zustimmung  ausgesprochen  hat,  vollkommen  ein- 
verstanden erklärt.  Nach  meiner  Rückkehr  nach  London  werde  ich  daher 
die  Angelegenheit  in  diesem  Sinne  bei  dem  Premierminister  weiter 
verfolgen. 

Hatzfeldt 

Nr.  2386 

Der  englische  Premierminister  Marquess  of  Salisbury  an  den 
Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Eigenhändig 

Particuliere.  Jeudi  Aoüt  8.  [1895] 

La  Reine  me  mande  que  S.  M.  L'Empereur  mardi  apres  midi  a 
attendu  deux  ou  trois  heures  pour  me  voir.  C'est  la  premiere  fois 
que  j'ai  compris  cette  circonstance  et  jen  suis  desole. 

Je  n'avais  pas  la  moindre  idee  que  S. M.  voulait  causer  avec  moi, 
et  quand  ä  trois  heures  trois  quarts  j'ai  re^u  un  telephone  qu'il  voulait 
bien  me  recevoir  ä  4  heures  j'ai  imagine  que  c'etait  une  politesse 
gracieuse  de  sa  part  —  et  quand  je  suis  sorti  de  l'audience  pres  la 
Reine  j'ai  cru  l'invitation  annulee  par  la  grande  longueur  de  mon 
audience. 

Je  n'ai  qu'ä  repeter  mon  tres  grand  regret  pour  le  desagrement 
que  j'ai  involontairement  cause  ä  Sa  Majeste. 

Croyez  moi  toujours  le  votre.  Salisbury 


über  seine  Unterredung  mit  Holstein  vom  31.  Oktober  1001  berichtet,  wirklich, 
wie  ihm  Eckardstein  (a.  a.  O.  III,  13)  unterstellt,  eine  eigne  Aufzeichnung  des 
Kaisers  eingesehen  haben  will,  ist  nicht  ganz  klar;  Chirol  sagt  eigentlich  nur,  Fürst 
Bülow  habe  angeordnet  „that  I  should  be  allowed  to  peruse  what  purported  to 
be  a  copy  of  the  Emperor's  own  record  of  the  Cowes  conversation".  In  einer 
Holsteinschen  Aufzeichnung  über  die  Unterredung  mit  Valentine  Chirol  heißt 
es  darüber  im  Anschluß  an  die  von  Chirol  vorgetragene  englische  Version,  daß 
der  Vorschlag  der  Teilung  der  Türkei  nicht  von  englischer,  sondern  von  deut- 
scher Seite  ausgegangen  sei,  und  daß  Lord  Salisbury  sich  der  weiteren  Er- 
örterung des  heikelen  Gegenstandes  nur  durch  schleunige  Abreise  habe  ent- 
ziehen können,  „Ich  hatte  die  Akten  schon  bereit  gelegt  und  las  Teile  von  Graf 
Hatzfeldts  Meldung  (siehe  Nr.  2372),  sowie  eine  nach  Helgoland  an  Herrn  von 
Kiderlen  gerichtete  Warnung  (siehe  Nr.  2377)  vor.  Chirol  bemerkte  darauf:  ,Das 
ist  eine  ernste  Sache.  Man  war  doch  bisher  gewohnt  anzunehmen,  daß  dem 
Worte  eines  Premierministers  Glauben  zu  schenken  sei.  Jedenfalls  bin  ich 
orientiert'." 

Was  Chirol  „a  copy  of  the  Emperor's  own  record  of  the  conversation"  nennt, 
wäre  also  in  Wahrheit  nur  ein  Teil  der  Hatzfeldtschen  Berichterstattung,  Aus  dieser 
aber  (vgl.  namentlich  Nr.  2371)  geht  mit  voller  Gewißheit  hervor,  daß  der  Ge- 
danke einer  Aufteilung  der  Türkei  von  Lord  Salisbury  und  nicht  von  deutscher 
Seite  ausgegangen  ist, 
•  Vgl.  Nr.  2384. 

27 


Nr.  2387 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

London,  den  14.  August  1895 

Lord  Salisbury  sagte  mir  gestern,  daß  Italien  den  früher  so  dringend 
verlangten  Agenten  in  Zeila*  mit  Befugnis  zur  Flaggenführung  nicht 
mehr  haben  wolle.  —  Warum,  wußte  er  anscheinend  nicht,  meinte 
aber,  die  Erklärung  werde  wohl  sein,  daß  die  italienische  Regierung 
jetzt  mehr  haben  wolle.  Lord  Salisbury  hatte  wegen  anderweitigen 
geschäftlichen  rendez-vous  wenig  Zeit  übrig,  ich  hatte  aber  außer- 
dem den  Eindruck,  daß  er  in  bezug  auf  Mittelmeerfrage  und  eventuelle 
künftige  Verteilung  von  türkischen  Territorien  etwas  zurückhaltender 
war,  und  ich  enthielt  mich  daher  ebenfalls  jeder  Initiative.  Haben  die 
Italiener  von  seiner  Anregung  mir  gegenüber  etwas  erfahren  und  hier 
vielleicht  durchblicken  lassen,  daß  sie  davon  wissen?  Er  wiederholte 
mehrmals  mit  einem  gewissen  Nachdruck,  daß  er  mit  niemandem  auf  der 
Welt  außer  mit  mir  darüber  gesprochen  habe.  Im  übrigen  blieb  er 
dabei,  daß  nach  allen  seinen  Nachrichten  die  Dinge  in  der  Türkei 
schlecht  ständen,  komme  es  aber  einmal  zum  Zusammenbruch,  so  sei 
der  Krieg  beinahe  unvermeidlich.  Nutzanwendung:  ich  möchte  doch 
für  rechtzeitige  befriedigende  Konzessionen  des  Sultans  in  der  armeni- 
schen Frage  sorgen  **. 

Sehr  frappiert  hat  mich  gestern  in  meinen  Unterhaltungen  mit 
Baron  de  Courcel  und  Lord  Salisbury,  daß  beide  besonders  von 
Marokko  präokkupiert  schienen.  Baron  de  Courcel  ließ  die  Bemerkung 
fallen,  daß  Frankreich  hier  wohl  eventuell  Marokko  bekommen  könnte, 
allerdings  ohne  das  wichtige  Tanger,  welches  England  sich  reserviere. 
Lord  Salisbury  zeigte  die  frühere  Besorgnis  vor  französischen  Be- 
strebungen in  Marokko,  meinte  aber  dazu,  daß  Frankreich  sich  für 
Einräumung  von   Marokko   zu   vielen   Dingen   verstehen   würde. 

Sie  sind  hoffentlich  damit  einverstanden,  daß  ich  vorläufig  kein 
Empressement  zeige,  auf  Besprechung  der  Teilungsprojekte  mit  Lord 
Salisbury  zurückzukommen.  Wir  werden  aber  die  Augen  offen  halten 
müssen. 

Die  gestrigen  Äußerungen  Lord  Sallsburys  haben  mich  in  der 
Ihnen  bekannten  Überzeugung  bestärkt,  daß  er  es  als  eine  unvermeid- 
liche Voraussetzung  jeder  friedlichen  Teilung  im  Orient  betrachtet, 
den  Russen  Konstantinopel,  wahrscheinlich  mit  Einschluß  der  Dar- 
danellen, einzuräumen.  Er  wiederholte  aber  dabei  nochmals,  daß  er, 
wie  früher,  die  Erhaltung  der  Türkei  bei  weitem  vorziehen  würde. 

Hatzfeldt 


Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LXIV,  A,  Nr.  2015  f. 
'  Vgl.  Kap.  LXI,   A,   Nr.  2412. 


28 


Nr.  2388 

Der  Vortragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein  an  den 
Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.   Eigenhändiges   Konzept 

Privat  Berlin,  den  14,  August  1895 

Die  Äußerungen  von  Salisbury  über  Teilung*  sind  ganz  geheim 
behandelt  worden.  Ich  werde  morgen  noch  Rotenhan  fragen.  Wahr- 
scheinlich ärgert  sich  Lord  Salisbury,  weil  der  Kaiser  sich  zur  Teilungs- 
idee nicht  bekehren  ließ.  Frankreich  in  Marokko,  also  mit  vermehrter 
Kontrolle  der  Straße  von  Gibraltar,  und  Rußland  in  den  Dardanellen, 
also  gegenüber  Port  Said  —  dies  als  englisches  Programm  ist  nur  er- 
klärlich, wenn  man  bei  Lord  Salisbury  den  Glauben  voraussetzt,  es 
werde  gleich  bei  der  Durchführung  zum  allgemeinen  Kriege  der  kon- 
tinentalen Mächte  kommen,  wo  dann  England  seine  gewöhnliche  Rolle 
spielen  würde.  In  der  Tat  würde  z.  B.  bei  der  Teilung  Marokkos  Italien 
sofort  versuchen,  den  Dreibund  hineinzuziehen. 

Angesichts  einer  solchen  englischen  Politik  dürfen  wir  tVeniger 
als  je   die   Brücken   nach   Rußland   hin   abbrechen. 

Lobanow  und  Salisbury  entwickeln  gewisse  Ähnlichkeiten:  Hoch- 
mut, Rücksichtslosigkeit,  Ablehnung  der  Gleichberechtigung  Mit- 
beteiligter. 

Ich  werde  Sonnabend  vormittag  dem  Reichskanzler  Vortrag  halten. 
Bitte  vorher  um  Ihre  Ansicht. 

Holstein 


Nr.  2389 

Der  Unterstaatssekretär  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  264  Berlin,  den  15.  August  1895 

Über  den  Inhalt  von  Ew.  letzten  Unterredungen  mit  Lord  Salis- 
bury ist  keinerlei  Mitteilung  gemacht  worden**,  außer  dem  Reichs- 
kanzler und  Herrn  von  Kiderlen  unter  Hinweis  auf  streng  vertrau- 
lichen Charakter. 

Der  Umstand,  daß  Lord  Salisbury  sich  der  zweiten  Unterredung 
mit  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  entzog,  läßt  vermuten,  daß  die  erste 
Unterredung,  wo  Seine  Majestät  Interesse  für  den  Fortbestand  des 
Türkischen  Reichs  zeigte,  den  englischen  Minister  verdrossen  hat.  Den 

*  Vgl.  Nr.  2372  und  2375. 
**  Vgl.  Nr.  2372  und  2375. 

29 


Gedanken,  eine  Ableitung  für  Ägypten  zu  schaffen,  scheint  Lord  Salis- 
bury  ab^r  nicht  aufgegeben  zu  haben,  nach  dem  zu  urteilen,  was 
Ew.  über  seine  und  des  französischen  Botschafters  Äußerungen  hin- 
sichtlich Marokkos  berichten. 

Ob  eine  Teilung  Marokkos  In  der  Art,  daß  England  und  Frank- 
reich die  Hauptgewinner  sind,  ohne  vorherigen  europäisclien  Kongreß 
durchführbar  sein  würde,  hängt  vom  guten  Willen  Europas  ab.  An 
diesem  möchte  ich,  selbst  von  dem  fernen  deutschen  Standpunkte 
aus,  zweifeln,  weil  nicht  bloß  marokkanisches  Gebiet,  sondern  auch 
das  europäische  Gleichgewicht  und  für  uns  speziell  der  Bestand  des 
Dreibundes  in  Frage  kommt. 

Vielleicht  kommt  die  Angelegenheit  aber  gar  nicht  so  weit,  wenn 
es  nämlich  England  und  Frankreich  nicht  gelingt,  sich  über  denjenigen 
Gebietsteil,  welcher  die  Durchfahrt  von  Süden  beherrscht,  zu  ver- 
ständigen. Die  Äußerung  des  französischen  Botschafters  im  vorletzten 
Absatz  von  Ew.  Telegramm  Nr.  223*  zeigt,  daß  Baron  Courcel  die  Aus- 
gleichung der  englisch-französischen  Interessengegensätze  noch  keines- 
wegs für  sicher  hält 

Rotenhan 


Nr.  2390 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.   Entzifferung 

Geheim  London,  den  16.  August  1895 

Für  Baron  von  Holstein. 

Antwort  auf  Privattelegramm  **.  War  gestern  abwesend,  daher 
Verzögerung. 

Nach  meiner  Überzeugung  ist  die  Situation  folgende: 

Lord  Salisbury  sieht,  wie  schon  früher  Lord  Rosebery,  schwierige 
Zeiten  für  England  kommen  und  sucht  sich  dagegen  beizeiten  zu 
decken.  Während  sein  Vorgänger  unmögliche  Arrangements  mit  Öster- 
reich, respektive  Deutschland,  anstrebte***,  sucht  Lord  Salisbury  nach 
einem  Verteilungsplan  im  Orient,  durch  welchen  die  Krisis  beschworen, 
jeder  mehr  oder  weniger  befriedigt,  namentlich  aber  England  das 
Seinige  ohne  Schwertstreich  erhalten,  vielleicht  noch  mehr  zugewandt 
werden  könnte.    Über  die  Details  des  Planes,  dessen  Schwierigkeiten 

*  Der  betreffende  Absatz  in  dem  Bericht  des  Grafen  Hatzfeldt  Nr.  223  vom 
13.  August  über  ein  Gespräch  mit  dem  französischen  Botschafter  lautet:  „Schließ- 
lich ließ  Baron  Courcel  deutlich  durchblicken,  daß  Frankreich  und  Deutschland 
sich  auch  in  Afrika,  wo  England  niemandem  etwas  gönne,  über  manches  ver- 
ständigen könnten." 
**  Siehe  Nr.  2388. 
***  Siehe  Bd.  IX,  Kap.  LV,  Nr.  2147  ff. 

30 


er  nicht  verkennt,  ist  er  sich  noch  keineswegs  klar.  Der  Zweck 
seiner  geheimen  Besprechungen  darüber  mit  mir  war,  zunächst  sich 
zu  versichern,  ob  und  welcher  Verteilung  wir  zustimmen  würden,  dann 
aber,  wenn  wir  einig  würden,  durch  uns  Italien  und  Österreich,  wahr- 
scheinlich auch  Rußland,  dafür  zu  gewinnen.  Dann  war  England  schön 
heraus,  ohne  für  die  Hülfe  einer  andern  Macht  hohen  Preis  zu  zahlen, 
Frankreich  wäre  von  Rußland  getrennt  und  würde  schwerlich  ohne  das- 
selbe einen  großen  Krieg  riskieren,  eventuell  würde  man  noch  einen 
Bissen  für  dasselbe  suchen,  Syrien  oder  sonst  etwas.  Das  ist  die  Auf- 
fassung Lord  SaUsburys.  Einen  Krieg  der  Kontinentalmächte  wünscht 
er  nicht,  und  seine  Berechnung  geht  nicht  so  weit,  davon  bin  ich 
überzeugt.  Die  frühere  Rolle  würde  England  in  diesem  Falle  nicht 
spielen  können,  weil  es  durch  etwaige  Niederwerfung  Italiens  und 
Österreichs  hülflos  an  Rußland  und  Frankreich  ausgeliefert  würde  und 
alle  Bedingungen  der  beiden  annehmen  müßte.  Jeder  Friedensschluß 
zwischen  den  streitenden  Mächten  könnte  England,  weil  es  keinem 
geholfen,  ebenfalls  teuer  zu  stehen  kommen.  Alles  das  weiß  Lord  Salis- 
bury  sicher  ganz  genau. 

Auf  der  anderen  Seite  haben  wir  mit  Rußland  zu  rechnen,  dessen 
jetzige  Regierung  uns  ebensowenig  gönnt,  uns  mit  gleicher,  wenn  nicht 
größerer  Rücksichtslosigkeit  behandelt,  auch  wo  wir  ihm  helfen  wollen. 
Wir  haben  von  dort  manches  zu  fürchten,  aber  nichts  zu  hoffen,  so- 
lange es  nicht  durch  ein  bindendes  Abkommen  verbürgt 
ist.  Die  französische  Freundschaft,  in  welcher  die  wahre  Gefahr  für  uns 
liegt,  wird  Rußland  meines  Erachtens  nie  aufgeben,  solange  wir  ihm 
nicht  entweder  den  Weg  nach  Konstantinopel  ebnen,  indem  wir  Öster- 
reich einfach  fallen  lassen  oder  letzteres  zu  einer  Verständigung  darüber 
mit  den  Russen  bestimmen,  was  dem  Fürsten  von  Bismarck  nicht  ge- 
lungen ist. 

Unter  solchen  Umständen  bin  ich  der  Überzeugung,  daß  unser 
Interesse  uns  vorschreibt,  die  Brücken  nach  keiner  Seite  abzubrechen 
und  die  Möglichkeit  der  Verständigung  nach  beiden  Seiten  offen 
zu  halten.  Zeigt  England  sich  einem  Plan  geneigt,  welcher  für  unsere 
Alliierten  und  auch  für  Rußland  annehmbar  erscheint,  daher  die 
dauernde  Erhaltung  des  Friedens  hoffen  läßt,  so  haben  wir  meines 
Erachtens  keinen  Grund,  dies  von  vornherein  abzuweisen.  Werden  uns 
in  St,  Petersburg  Vorschläge  gemacht,  oder  zeigt  sich  dort  überhaupt 
Aussicht  für  eine  wirkUche  und  bindende  Verständigung,  durch  welche 
die  Erhaltung  des  Friedens,  namentlich  aber  unsere  eigene  Sicherheit, 
also  vor  allem  russische  Neutralität  bei  einem  Konflikte  mit  Frankreich, 
gewährleistet  wird,  so  werden  wir  das  ebensowenig  zurückweisen 
dürfen. 

Bis  zum  Eintritt  eines  der  beiden  angeführten  Fälle  ist  es  nach 
meiner  festen  Überzeugung  unsere  Aufgabe,  die  Beziehungen  mit  un- 
sern  Bundesgenossen  zu  pflegen,  gleichzeitig  aber  uns  volle  Ak- 

31 


tionsfreiheit  vorzubehalten.  Alle  kontinentalen  Mächte  mit  Einschluß 
Rußlands  werden  sich  zweimal  bedenken,  einen  europäischen  Krieg  zu 
provozieren,  ohne  unserer  Haltung  sicher  zu  sein.  Kommt  es  durch  die 
Macht  der  Verhältnisse  dennoch  dazu,  so  werden  sich  alle  um  uns  be- 
werben müssen,  und  wir  werden  das  entscheidende  Wort  zu  sprechen 
haben,  wenn  wir  den  richtigen  Augenblick  ruhig  abzuwarten  verstehen. 
Der  einzige  schwache  Punkt  dieser  Politik  ist,  daß  Lord  Salis- 
bur>'  Mittel  findet,  irgendeinen  Ausglcichungsplan  ohne  uns  in  Wien,  Rom 
und  Petersburg  zur  Annahme  zu  bringen,  oder  daß  Österreich  sich  direkt 
mit  Rußland  über  den  Orient  verständigt.  Beides  halte  ich  für  möglich, 
sehe  aber  kein  Mittel,  uns  dagegen  zu  decken,  wenn  wir  nicht  vorher 
zu  einer  Verständigung  mit  Lord  Salisbury  oder  mit  Fürst  Lobanow 
gelangen  können. 

Hatzfeldt 


Nr.  2391 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  207  Wien,  den  18.  August  1895 

Die  Rede  Lord  Salisburys  im  Oberhause*  hat  in  der  hiesigen  Presse 
im  allgemeinen  eine  Kritik  erfahren,  die  in  Anbetracht  der  Überraschung 
über  das  Faktum  der  außerordentlich  energischen  Sprache  des  Lords 
eine  maßvolle  genannt  werden  kann.  Das  Organ  der  Regierung,  „Das 
Fremdenblatt",  spricht  nur  von  der  sehr  ernsten  Verwarnung  an  die 
Türkei  und  stimmt  darin  mit  der  mir  gestern  abend  vom  Grafen 
Goluchowski   gemachten   Äußerung   überein. 

Der  Minister  behauptet,  auf  die  Rede  „vorbereitet"  gewesen  zu 
sein.  Lord  Salisbury  habe  dem  österreichischen  Vertreter  in  London 
mitgeteilt,  daß  die  Haltung  der  Pforte  in  der  armenischen  Frage  ihn 


*  Am  15.  August  hatte  Lord  Salisbury  im  Oberhause  eine  sensationelle  Rede  über 
die  Türkei  und  die  armenische  Frage  gehalten,  in  der  er  ernste  Zweifel  über  den 
dauernden  Bestand  des  türkischen  Reiches  aussprach.  Es  hieß  darin  u.a.:  „Die 
Unabhängigkeit  der  Türkei  ist  zwar  in  das  europäische  Staatsrecht  eingeschrieben 
und  durch  die  Verträge  von  Paris  und  Bariin  gewährleistet,  ist  aber  doch  eine 
ganz  besondere  Unabhängigkeit:  sie  ist  eine  Unabhängigkeit,  die  auf  Grund  der 
Übereinkunft  anderer  Mächte  bestellt,  sie  nicht  anzutasten  und  sie  aufrecht- 
zuerhalten. Wie  lange  der  heutige  Zustand  der  Dinge  andauern  wird,  das  er- 
scheint mir,  ich  gestehe  es,  heute  mehr  zweifelhaft  als  vor  20  Jahren.  Wenn 
von  Geschlecht  zu  Geschlecht  Jammergeschrei  aus  verschiedenen  Teilen  des  Tür- 
kischen Reiches  erschallt,  so  kann  nach  meiner  Oberzeugung  der  Sultan  sich  nicht 
über  die  Wahrscheinlichkeit  täuschen,  daß  Europa  früher  oder  später  der  Hilfe- 
rufe, die  von  selten  der  Pforte  zu  ihm  dringen,  überdrüssig  werde,  und  daß  die 
dem   Türkischen   Reiche   verliehene  künstliche  Stärke   versagen  werde." 

32 


zwänge,  einen  starken  Druck  auf  den  Sultan  mittelst  öffentlicher  Kund- 
gebung auszuüben. 

Anscheinend  war  Graf  Goluchowski  durch  diese  Vorbereitung  auch 
über  die  Äußerungen  Lord  Salisburys  beruhigt,  welche  den  Bestand 
der  Türkei  als   einen   prekären   darstellen,  pp. 

Gegenüber  dieser  Haltung  des  Ministers  möchte  ich  mir  gehorsamst 
erlauben,  auf  den  hier  beigefügten  Artikel  der  „Presse"  vom  heutigen 
Tage  aufmerksam  zu  machen,  eines  Blattes,  das  bisweilen  zu  offiziösen 
Kundgebungen  benutzt  wird.  Will  ich  auch  annehmen,  daß  die  Äuße- 
rungen des  „Fremdenblattes*'  bezüglich  der  Rede  Lord  Salisburys 
den  entsprechenden  Ausdruck  für  die  Auffassung  der  hiesigen  Re- 
gierung wiedergeben,  so  kann  ich  nicht  leugnen,  daß  der  Artikel  der 
„Presse"  über  die  Äußerungen  Salisburys,  welche  den  Zusammenbruch 
der  Türkei  in  erkennbare  Nähe  schieben,  den  Anschauungen  der 
hiesigen  Regierung  entsprechen  dürfte.  Es  fällt  mir  auch  dabei  auf, 
daß  die  „Presse"  das  einzige  Journal  ist,  welches  den  Gedanken  aus- 
spricht, „daß  England  die  armenische  Frage  nur  deshalb  ^  forcieren  und 
ausbeuten  will,  damit  man  in  Konstantinopel,  Petersburg  und  Paris 
die  ägyptische  Frage  vergesse 2".  P.  Eulenburg 

Randbemerkungen   Kaiser  Wilhelms  IL: 

^  Richtig 

*  oder  in  England  angenehmer  Weise  regle.  Daher  ist  der  Gedanke  an  einen 
Zerfall  der  Türkei  aus  Salisburys  Haupt  nicht  mehr  zu  verdrängen.  Dem 
folgt  der  Theilungsgedanke  nach  dem  Gesetze  der  Logik.  Will  England  das 
Land  der  Pharaonen  von  Rus so- Frankreich  ungefährdet  behalten,  ist  ein  ge- 
eigneter Schritt  die  Auflassung  des  Bosporus  und  der  Dardanellen  an  das 
erstere.  Damit  muß  alle  Welt  insbesondere  Oesterreich  rechnen.  Zu  verhindern 
ist  es  nicht  mehr.  Wohl  aber  könnte  Oesterreich  unmittelbar  und  der  Dreibund 
mittelbar  einen  Vortheil  daraus  ziehn,  wenn  statt  der  [die]  Knochen  Pommerscher 
Grenadiere  und  Magyarischer  Honvedes  für  Stamboul's  Erhaltung  einzusetzen, 
die  Reiche  das  Letztere  an  Rußland  gegen  Compensation  (Salonik,  Zurück- 
ziehung der  Über-Masse  der  Truppen  an  unsrer  Ostgrenze  etc.)  anböten;  oder 
Geneigtheit  dazu  erkennen  lassen.  Damit  wird  vermieden,  daß  der  Brite  dem 
Russen  allein  die  Dardanellen  schenkt!  Zögyeny*  ist  von  mir  in  dem  Sinne 
beschieden  mit  Einverständniß  des  Reichskanzlers,  neulich  bei  der  Tafel  am 
18;  und  hat  sich  völlig  einverstanden  erklärt. 

Nr.  2392 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 
Nr.  560  London,  den  3L  August  1895 

Geheim 

Als  ich  mich  bei  Lord  Salisbury  mit  Rücksicht  auf  bevorstehenden 
Urlaubsantritt  verabschiedete,  kamen   wir  in  zwangloser  vertraulicher 


*  L.  V.  SzögycHy^Marich,  Österreich-ungarischer  Botschafter  in  Berlin. 

-3    Die  Gro6e  Politik.    10.  Bd.  33 


Unterhaltung  und  im  Anschluü  an  armenische  Frage  nochmals  auf  die 
Eventualitäten  der  Zukunft.  Der  Minister  äußerte  sich  diesmal  ganz 
anders  als  in  vorhergehenden  Unterhaltungen.  Ganz  offen  ging  er 
von  der  Voraussetzung  aus,  daß  die  Russen  vom  Schwarzen  AVeer  aus 
den  Zutritt  zum  Mittelmeer  erlangen  würden,  und  bezeichnete  dies 
als  nach  seiner  Auffassung  ganz  annehmbar  für  England.  Auch  Ägypten, 
welches  sich  dann  vielleicht  schwer  würde  halten  lassen,  sei  von  keiner 
solchen  Wichtigkeit,  daß  man  hier  nicht  darauf  verzichten  könnte. 
Als  ich  hier  die  Bemerkung  fallen  ließ:  „Wohl  für  eine  andere  Kompen- 
sation im  Mittelmeer?",  sagte  Lord  Salisbury:  „Non,  mes  convoitises 
sont  ailleurs,  plutöt  du  cöte  de  TEuphrate.'' 

Er  fügte  dann  hinzu:  „Bien  entendu  ces  opinions  sont  toutes  per- 
sonnelles  et  je  ne  vous  dis  pas  qu'aucun  de  mes  collegues  les  partage. 
Je  ne  vous  garantis  pas  non  plus  que  je  ne  changerai  pas  mois-meme 
ma  maniere  de  voir  ä  ce  sujet.'' 

Als  von  der  Möglichkeit  einer  Krisis  im  Orient  die  Rede  war, 
sagte  der  Minister  noch  zum  Schluß :  „Si  cela  arrive,  je  crois  que  ce 
sera  l'Allemagne  qui  ouvrira  aux  Russes  le  chemin  de  Constantinople.'* 

Ich  erwiderte:  „Dans  de  certains  cas  vous  feriez  peut-etre  de 
meme  si  vous  etiez  ä  la  tete  du  Gouvernement  allemand.  Je  n'exprime 
qu'une  opinion  personnelle,  mais  je  crois  que,  dans  notre  Situation 
mcnacee  de  deux  cötes,  notre  devoir  est  avant  tout  d'assurer  notre 
securite,  si  eile  ne  nous  est  pas  garantie  d'une  autre  maniere  i." 

Kurz  nach  dieser  Unterhaltung  traf  ich  mit  dem  französischen 
Botschafter  zusammen,  welcher  sofort  von  der  hiesigen  politischen 
Situation  anfing,  die  er  als  außerordentlich  dunkel  und  kompliziert  be- 
zeichnete. Es  sei  unendlich  schwer,  sich  ein  Bild  zu  machen,  was  Lord 
Salisbury  eigentlich  wolle.  Er  fügte  dann  hinzu:  „C'est  du  reste  un 
hommc  qui  aime  ä  envisager  les  problemes  de  I'avenir  et  ä  les 
discuter.*' 

Bei  einem  zweiten  gelegentlichen  Zusammentreffen  kam  Baron 
de  Courcel  auf  diesen  Punkt  zurück.  Er  ließ  diesmal  deutlich  durch- 
blicken, daß  es  sich  um  Probleme  im  Mittelmeer  handele,  und 
ließ  dabei  das  Wort  „partage"  fallen.  Im  Laufe  der  Unterhaltung  er- 
wähnte der  Botschafter  mehrmals,  nicht  ohne  Absicht,  die  intimen  Be- 
ziehungen, die  zwischen  Frankreich  und  Rußland  augenblicklich 
beständen. 

Der  Unterstaatssekretär  Sir  Th.  Sanderson,  welchem  ich  ebenfalls 
einen  Abschiedsbesuch  machte,  suchte  mich  im  Laufe  der  Unterhaltung 
zu  überzeugen,  daß  hier  in  bezug  auf  die  auswärtige  Politik  nichts 
verändert  sei,  und  daß  die  Neigung  Lord  Saiisburys  nach  wie  vor  dahin 
gehe,  mit  dem  Dreibund  in  Übereinstimmung  zu  bleiben.  Er  leugnete 
dabei  nicht,  daß  es  während  des  Ministeriums  Rosebery  eine  Zeit  ge- 
geben habe,  wo  man  hier  wegen  unseres  „unfreundlichen"  Auftretens 
in  der  Kongofrage  sehr  gereizt  gegen  Deutschland  gewesen  sei.   Auch 

34 


darüber  sei  man  verstimmt  gewesen,  daß  wir  seinerzeit  abgelehnt, 
mit  England  zusammen  auf  die  Lösung  der  chinesisch-japanischen 
Schwierigkeiten  einzuwirken,  uns  aber  dann  auf  die  erste  Aufforderung 
der  Russen  dabei  beteiligt  hätten.  JVlanche  Abweichungen  von  der 
sonstigen  deutschfreundlichen  Politik  der  englischen  Regierung,  wie 
z.B.  die  Annäherung  an  Rußland  und  auch  eine  etwas  mehr 
franzosenfreundliche  Politik  in  Marokko,  seien  lediglich  die 
Folge  dieser  Gereiztheit   gewesen. 

Selbstverständlich  wies  ich  die  Behauptung,  daß  wir  in  der  Kongo- 
frage unfreundlich  gewesen,  als  unbegründet  zurück,  indem  ich  daran 
festhielt,  daß  unser  Verhalten  durch  die  vorhergehende  Rücksichts- 
losigkeit Englands  in  der  Frage  hervorgerufen  und  berechtigt  ge- 
wesen sei. 

Die  im  vorstehenden  geschilderten  Unterhaltungen  haben  mich  in 
der  Überzeugung  bestärkt,  daß  die  auswärtige  Politik  Lord  Saüsburys 
noch  nicht  endgültig  feststeht,  und  daß  er  nach  einer  Kombination 
sucht,  die  für  den  Fall  einer  Krisis  im  Orient  die  Sicherheit  und  viel- 
leicht den  Vorteil  Englands  garantiert,  ohne  daß  letzteres  dafür  das 
Schwert  zu  ziehen  oder  unerwünschte  Opfer  aus  der  eigenen  Tasche 
zu  bringen  braucht.  Seine  Unterhaltungen  mit  mir  vor  meiner  Reise 
nach  Cowes  gestatten  kaum  einen  Zweifel,  daß  er  uns  zunächst  für 
eine  solche  Kombination  zu  gewinnen  hoffte.  Die  Äußerungen  des 
Baron  de  Courcel  gegen  mich  lassen  zum  mindesten  vermuten,  daß  der 
Premierminister  seitdem  auch  nach  dieser  Richtung  einen  Fühler  aus- 
gestreckt hat. 

Ob  auch  in  St.  Petersburg,  habe  ich  bis  jetzt  nicht  ermitteln 
können,  bezweifle  aber  kaum,  daß  die  Eindrücke  des  Baron  de  Courcel 
ihren  Weg  über  Paris  nach  St.  Petersburg  gefunden  haben. 

Hatzfeldt 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Sehr  gut 

Nr.  2393 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  253  London,  den  25.  Oktober  1895 

Telegramm  Nr.  290*  erhalten. 

In  meiner  heutigen  ersten  ausführlichen  und  ganz  vertraulichen 
Unterhaltung  mit  Lord  Salisbury  äußerte  derselbe  sich  zunächst  über 

*  Durch  Telegramm  Nr.  290  war  dem  Grafen  Hatzfeldt  Kenntnis  von  einem  Diktat 
Kaiser  Wilhelms  vom  25.  Oktober  1S95  über  seine  Unterredung  mit  dem  eng- 
lischen  Militärattache  Oberst  Swaine  vom  gleichen  Tage  (siehe  Bd.  XI,  Kap.  LXIII, 
Nr.  2579)   gegeben  worden. 


die  von  der  heutigen  „Times"  gebrachte  Nachricht  über  ein  geheimes 
russisch-chinesisches  Abkommen  dahin,  daß  ihm  noch  keine  Be- 
stätigung dafür  zugegangen  sei,  daß  es  ihm  aber,  wie  er  mir  schon 
früher  gesagt,  durchaus  nicht  unlieb  wäre,  wenn  Rußland  sich  in  China 
weiter  engagiere.  Es  würde  dadurch  vom  Orient  abgelenkt  werden 
und  wäre  dann  mit  den  ihm  übrigbleibenden  Streitkräften  nicht  mehr 
stark  genug,  um  gleichzeitig  an  ein  Vorgehen  vom  Schwarzen  Meer 
aus  zu  denken.  Nur  in  dem  Fall,  wenn  Rußland  sich  ausschließ- 
liche Rechte  für  seine  Schiffe  in  Port  Arthur  ausbedingt  hätte, 
würde  England  dagegen  Einwendungen  erheben  müssen. 

Über  die  Erledigung  der  armenischen  Frage  zeigte  sich  der  Mi- 
nister besonders  deshalb  erfreut,  weil  damit  die  Sorge  vor  einem  Zu- 
sammenbruch des  Türkischen  Reichs  und  die  Notwendigkeit  vorläufig 
wegfalle,  sich  über  das  fernere  Schicksal  der  Bestandteile  desselben 
den  Kopf  zu  zerbrechen.  Lord  Salisbury  betonte  dabei,  daß  er  in  erster 
Linie  die  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  wünsche.  Sollte  es 
dennoch  infolge  irgendeines  russischen  Vorgehens  im  Orient  zu  einer 
Krisis  kommen,  so  werde  er  sich  sofort  und  vor  allem  nach  Berlin 
wenden,  um  sich  mit  uns  über  eine  gemeinschaftliche  Haltung  zu  ver- 
ständigen. Der  Minister  fügte  hinzu,  daß  man  in  Wien  wegen  des 
Orients  sehr  besorgt  sei  und  namentlich  befürchtet  habe,  daß  er,  Lord 
Salisbury,  den  Russen  die  Dardanellen  überlassen  wolle.  Er  habe  daher 
dem  Grafen  Goluchowski  sagen  lassen,  daß  er  niemals  eine  solche  Ab- 
sicht ausgesprochen  habe,  und  könne  nur  versichern,  daß  er  in  allem, 
was  die  orientalische  Frage  betreffe,  stets  auf  die  österreichischen 
Interessen  in  erster  Linie  Bedacht  nehmen  werde. 

Ohne  mich  nach  irgendeiner  Richtung  zu  engagieren,  habe  ich 
den  Minister  freundschaftlich,  aber  bestimmt  darauf  hingewiesen,  daß 
die  bisherige  unsichere  Politik  Englands,  die  vielleicht  zum  Teil  noch 
den  Mißgriffen  seines  Vorgängers  zuzuschreiben  sei,  fast  überall  in 
Europa  Mißtrauen  hervorgebracht  habe,  und  daß  niemand  mehr  an 
bestimmte  Ziele  der  englischen  Politik  und  an  eine  konsequente  Durch- 
führung derselben  glauben  wolle. 

Als  der  Minister  mir,  wie  angeführt,  mit  Nachdruck  sagte,  daß 
er  sich  im  Fall  einer  drohenden  Krisis  sofort  und  zunächst  mit  uns 
verständigen  w^olle,  habe  ich  erwidert,  daß  ich  ihn  stets  bereitwillig 
anhören  würde,  wenn  es  dann  nicht  zu  spät  sei. 

Der  neue  englische  Botschafter*  soll  hier  genau  über  alles  in- 
formiert werden,  damit  er  eventuell  auch  in  der  Lage  ist,  sich  Seiner 
Majestät  gegenüber  über  alle  von  allerhöchstdemselben  berührten 
Fragen  auszusprechen. 

Das  Telegramm  Nr.  290  ist  mir  erst  nach  meiner  Unterredung 
mit  Lord  Salisbury  zugegangen.  H  atzfei  dt 

*  Sir  F.  Lascelles. 
36 


Kapitel  LXI 

Salisbury  und  die  Armenische  Frage 
Juli  bis  Dezember  1895 

A.  Vom  Antritt  des  neuen  Kabinetts  Salisbury  bis  zur 

Annahme  des  Armenischen  Reformplanes 

Juli  bis  Oktober  1895 


Nr.  2394 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  liohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  476  London,  den  6.  Juli  1895 

In  einer  längeren  politischen  Rede,  die  Lord  Rosebery*  gestern 
in  der  Albert  Hall  gehalten  hat,  hat  er  auch  die  armenische  Frage  be- 
rührt, in  der  offenbaren  Absicht,  seinem  Nachfolger  dadurch  Schwie- 
rigkeiten zu  bereiten.  Nachdem  er  hervorgehoben  hatte,  daß  das  liberale 
Kabinett  im  Einverständnis  mit  Rußland  und  Frankreich  den  Zweck 
verfolgt  habe,  den  Armeniern  durch  einen  scharfen  Druck  in  Konstanti- 
nopel zum  mindesten  Sicherheit  gegen  „unerträgliche  Bedrückung, 
unerträgliche  Grausamkeit  und  unerträgliche  Barbareien"  zu  verschaffen, 
fügte  er  hinzu,  er  hoffe,  daß  die  jetzige  Regierung  auf  dem  von  ihren 
Vorgängern  vorgezeichneten  Wege  nicht  schwanken  würde,  da  sie 
sonst  mit  der  ganzen  christlichen  Bevölkerung  des  Vereinigten  König- 
reichs Abrechnung  zu   halten   haben   würde. 

Die  Berechnung  der  Liberalen  geht,  wie  ich  es  erwartet  hatte, 
dahin,  Lord  Salisbury  vor  die  Alternative  zu  stellen,  entweder  gegen 
seinen  Wunsch  den  Sultan  noch  weiter  zu  demütigen  und  zu  schädigen 
oder,  wenn  er  dies  nicht  tut,  sich  mit  der  von  den  Liberalen  zugunsten 
der  Armenier  künstlich  erregten  öffentlichen  Meinung  in  Widerspruch 
zu  setzen. 

Aus  vertraulichen  Äußerungen  Lord  Salisburys  gegen  mich  habe 
ich  den  Eindruck  gehabt,  daß  er  dies  vollständig  durchschaut,  und  daß 
er  versuchen  wird,  die  ihm  in  den  Weg  gelegten  Schwierigkeiten  zu 
umgehen,  indem  er  den  Anschein  aufrechthält,  daß  England  sich  für 
das  Los  der  Armenier  interessiert  und  in  dieser  Hinsicht  keinen  Rückzug 
antritt,  ohne  sich  jedoch,  soweit  er  es  vermeiden  kann,  zu  einem 
schärferen  Auftreten  in  Konstantinopel  drängen  zu  lassen.  Seine  größte 
Hoffnung  beruht  aber  darauf,  daß  der  Sultan  ihm  seine  Aufgabe  er- 
leichtern wird,  indem  er  von  selbst  Maßregeln  zur  Herstellung  einer 
besseren  Verwaltung  ergreift  und  zu  diesem  Zweck  vor  allem  an- 
rüchige Beamte  aus  den  betreffenden  Provinzen  abberuft  und  durch 
bessere  ersetzt.  Mit  offenbarer  Genugtuung  teilte  mir  der  Minister 
deshalb  gestern  mit,   daß   nach   einer  ihm   eben  zugegangenen   Nach- 


*  Das  liberale  Kabinett  Lord  Rosebery  hatte  Ende  Juni  1895  einem  konservativen 
Kabinett  Lord  Salisbury  Platz  gemaclit. 


39 


rieht  der  Sultan  bereits  einen  der  bedeni<lichsten  Walis  —  der  Name 
war  ilini  entfallen   —  aus  Armenien  entfernt  habe. 

Wenn  der  Sultan  die  hiesige  Situation,  wie  sie  sich  aus  dem  letzten 
Kabinettswechsel  ergibt,  richtig  erkennt,  wird  er  nicht  zögern  dürfen, 
den  Wünschen  Lord  Salisburys  in  bezug  auf  die  fraglichen  Maßregeln 
möglichst  entgegenzukommen  und  ihm  dadurch  die  Wege  für  die, 
wie  ich  nicht  zweifele,  von  ihm  selbst  gewünschte,  mildere  Behandlung 
der  armenischen  Frage  zu  ebnen. 

P.  Hatzfeldt 

Nr.  2395 
Der  Stellvertretende  Staatssekretär  des  AuswärtigenAmtes  Freiherr  von 
Rotenhan  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  vonSaurma 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 
Nr.  41  Berlin,  den  7.  Juli  1SQ5 

In  der  ersten  Unterredung,  welche  Lord  Salisbury  mit  dem  Grafen 
Hatzfeldt  gehabt  hat,  bemerkte  ersterer,  daß  es  in  hohem  Maße  wün- 
schenswert sein  würde,  wenn  der  Sultan  aus  eigenem  Antriebe,  ehe 
die  neue  englische  Regierung  die  Verhandlungen  wegen  Armeniens 
wieder  aufnähme,  in  der  armenischen  Angelegenheit  etwas  tue,  z.  B. 
die  Ersetzung  schlechter  Gouverneure  durch  gute,  denn  England  könne 
nicht  ganz  zurück. 

Ew.  pp.  stelle  ich  die  ganz  vertrauliche  Verwertung  des  Vor- 
stehenden ausschließlich  nach  türkischer  Seite  anheim. 

Rotenhan 

Nr.  2396 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  483  London,  den  10.  Juli  1895 

Ganz  vertraulich 

Als  ich  gestern  mit  Lord  Salisbury  die  Nachrichten  aus  Mazedonien 
respektive  Sofia*  besprach,  brach  er  wiederholt  davon  ab,  um  auf  die 
armenische  Frage  zurückzukommen,  die  ihm  bei  weitem  mehr  Sorge 
zu  bereiten  schien.    Er  bemerkte  darüber: 

„Wenn  der  Sultan  uns  doch  nur  einen  annehmbaren  Gouverneur 
„vorschlagen  wollte,  dann  könnten  wir  uns  beruhigen,  ohne  ihm  Zu- 
„mutungen  zu  stellen,  die  seine  souveränen  Rechte  oder  seine  Würde 


*  Seit  Juni  1895  war  an  der  bulgarischen  Grenze  ein  Aufstand  ausgebrochen,  in 
dessen  Folge  es  zu  Zusammenstößen  zwischen  türkischen  und  bulgarischen  Soldaten 
und  zu  Auseinandersetzungen  zwischen  der  Pforte  und  Bulgarien  kam,  in  die  auch 
die  Vertreter  der  Großmächte  eingriffen. 

40 


„beeinträchtigen  würden.  Aber  ohne  eine  solche  Genugtuung  können 
„wir  nicht  zurück  i.  Dazu  ist,  glauben  Sie  mir,  die  öffentliche  Meinung 
„hier  zu  stark  engagiert  (le  courant  est  trop  fort).  Und  es  könnte 
„doch  immerhin  ein  Augenblick  kommen,  wo  Rußland  und  England 
„einmal  wieder  in  der  Sache  übereinstimmen 2,  und  das  würde  dann 
„das  Ende  der  türkischen  Herrschaft  bedeuten." 

Als  ich  hier  einwarf,  daß  ich  mir  die  fragliche  Übereinstimmung 
nicht  recht  denken  könne,  da  Rußland  kein  autonomes  Armenien  an 
seiner  Grenze  zu  wünschen  scheine,  erwiderte  der  Minister:  „Gewiß 
„nicht,  aber  die  Veränderungen,  die  dann  kommen  würden,  würden 
„vielleicht  ganz  andere  und  zugunsten  Rußlands,  also  letzterem  er- 
„wünscht  sein*". 

Ich  bin,  obwohl  unsere  Unterhaltung  eine  ganz  vertrauliche  und 
ungezwungene  war,  auf  diesen  Gedankengang  vorläufig  nicht  näher 
eingegangen,  habe  aber  keine  Zweifel,  daß  der  Minister  bei  seiner 
Äußerung  eine  Art  Teilung  der  Türkei**  im  Auge  hatte,  bei  welcher 
die  an  der  russischen  Grenze  liegenden  türkischen  Provinzen  nicht 
autonom,  sondern  russisch  werden  würden. 

Als  wir  schließlich  nochmals  auf  den  von  der  Pforte  zu  ernennen- 
den Gouverneur  zurückkamen,  bemerkte  Lord  Salisbury:  „Wenn  der 
Sultan  nur  Reouf  Pascha,  den  früheren  Kriegsminister,  vorschlagen 
wollte.  Schakir  Pascha  kann  uns  nicht  passen,  11  est  entierement 
anglophobe." 

Es  ist  mir  keinen  Augenblick  zweifelhaft,  daß  der  Minister  die  Auf- 
rollung der  orientalischen  Frage  mit  eventueller  Teilung  der  Türkei 
durchaus  nicht  wünscht.  P.  Hatzfeldt 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Es  kann  ja   Saurma   auf  der  von   Radolin  vorgezeichneten   Basis  fußend  dem 

Sultan  freundschaftlichst  so  etwas  suppeditiren. 
Randbemerkungen  des  Kaisers: 

1  Das  ist  Rosebery's  That 

2  ? 

Nr.  2397 

Der   Stellvertretende   Staatssekretär   des   Auswärtigen   Amtes 
Freiherr  von  Rotenhan  an  den  Botschafter  in  London  Grafen 

von  Hatzfeldt 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  228  Berlin,  den  13.  Juli  1895 

Unter   Bezugnahme  auf  Bericht  Nr.  483***. 
Auf   Grund    Euerer    pp.    Berichterstattung   habe    ich    bereits    am 

*  Vgl.  Nr.  2371. 

**  Siehe  Kapitel  LX:  Salisburys  Aufteilungsplan  Cowes. 

***  Siehe  Nr.  2396. 

41 


7.  d.  Mts.  dem  Kaiserlichen  Botschafter  in  Konstantinopel  telegraphisch 
anheimgestellt,  dort  an  maßgebender  Stelle  darauf  hinzuweisen,  wie 
vorteilhaft  es  sein  würde,  wenn  der  Sultan  aus  eigener  Initiative  in 
der  armenischen  Angelegenheit  etwas  tue,  z.  B,  wenn  er  schlechte 
Gouverneure  durch  gute  ersetzen  würde*. 

Falls  Ew.  pp.  es  für  angezeigt  halten,  stelle  ich  anheim,  von  sich 
aus  Rustem  Pascha  auf  Reouf  Pascha  als  geeigneten  Gouverneur  auf- 
merksam zu  machen. 

Rotenhan 

Nr.  2398 

Der   Stellverfrefende   Staatssekretär   des   Auswärtigen  Amtes 
Freiherr  von  Rotenhan  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 
Freiherrn  von  Saurma** 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  42  BerUn,  den  14.  Juli  1895 

Graf  Hatzfeldt  meldet,  daß  Lord  Salisbury  dem  Drängen  der 
öffentlichen  Meinung  Englands  nicht  mehr  lange  werde  widerstehen 
können  und  voraussichtlich  binnen  kurzem  genötigt  sein  würde,  in 
der  armenischen  Frage  voranzugehen,  wenn  nicht  die  Pforte  der 
englischen  Regierung  umgehend  und  freiwillig  mindestens  in  der 
Gouverneurfrage   einige   Konzessionen   mache***. 

Bitte  dies  vertraulich  und  unauffällig  direkt  an  den  Sultan  ge- 
langen zu  lassen. 

Rotenhan 

Nr.  2399 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  83  Therapia,  den  14.  Juli  1895 

Vertraulich 

Der  englische  Botschafter  hat  gestern  die  türkischen  Minister 
aufgesucht,  um  bei  denselben  die  armenische  Frage  zu  urgieren  und 
ihnen  zu  sagen,  er  sei  von  Lord  Salisbury  angewiesen,  bei  der  Pforte 
darauf  zu  bestehen,  daß  der  im  Memorandum  der  drei  Mächtef  ins 
Auge  gefaßte  Oberkommissar  für  die  armenischen  Provinzen  nunmehr 

♦  Vgl.  Nr.  2395. 

♦*  Ein  inhaltlich  gleiches  Telegramm  ging  an  den  Botschafter  in  Wien  (Nr,  119). 

***  Vgl.  Nr.  2395,  2397. 

t  Vgl.  Bd.  IX,  Nr.  2205. 

42 


baldigst  entsendet  und  mit  ausgedehnten  Vollmachten  versehen  werde, 
so  zwar,  daß  er  nicht  in  jedem  einzelnen  Falle  gezwungen  sei,  bei  der 
Zentralstelle  in   Konstantinopel   zuvor   anzufragen. 

Eine  bestimmte  befriedigende  Antwort  ist  Sir  Philip  Currie  nicht 
gegeben  worden. 

Die  aus  einigen  Ministern  bestehende  Kommission,  welche  vor 
kurzem  zusammengetreten  war,  um  diejenigen  Reformvorschläge  aus 
dem  Memorandum  der  drei  Mächte  zu  bezeichnen,  welche  mit  der 
türkischen  Gesetzgebung  vereinbar  und  für  die  Pforte  annehmbar 
seien*,  hat  ihre  Aufgabe  vollendet  und  auch  die  Instruktionen  für 
den  Oberkommissar  entworfen.  Nach  Prüfung  dieser  Vorschläge  durch 
den  Ministerrat  sind  dieselben  dem  Sultan  zur  Genehmigung  unter- 
breitet worden,  Seine  Majestät  hat  aber  die  Sache,  mit  einigen  Be- 
merkungen versehen,  an  den  Ministerrat  zu  erneuter  Beratung  zurück- 
verwiesen. 

Wie  die  Vertreter  von  England,  Frankreich  und  Rußland  vertrau- 
lich wissen  wollen,  stehen  die  Zugeständnisse,  welche  die  Pforte  zu 
machen  geneigt  ist,  weit  hinter  den  Reformvorschlägen  der  drei  Mächte 
zurück.  Selbst  in  betreff  der  Ernennung  des  für  Armenien  bestimmten 
Marschalls  Schakir  Pascha  hat  eine  Verständigung  nicht  erzielt  werden 
können.  Während  die  Ernennung  Schakir  Paschas  zum  Mufettisch 
(Inspektor)  einiger  Lokalitäten  Kleinasiens  bereits  vor  einiger  Zeit 
amtlich  veröffentlicht  worden  ist,  erklären  die  drei  Botschafter,  ohne 
die  Wahl  materiell  weiter  zu  bemängeln,  von  dieser  Ernennung  keine 
Notiz  nehmen  zu  können,  weil  sie  dieserhalb  zuvor  nicht  befragt 
worden  seien. 

Der  für  die  Türkei  in  einem  unverhofft  günstigen  Augenblick  ein- 
getretene Ministerwechsel  in  England  hat  der  Pforte  die  Gelegenheit 
geboten,  durch  rechtzeitige  geringfügige  Zugeständnisse  —  wie  z.  B. 
die  Ersetzung  der  Gouverneure  in  den  armenischen  Provinzen  durch 
vertrauenerweckende  Persönlichkeiten  —  dem  neuen  Ministerium  die 
Mittel  zur  Beschwichtigung  der  öffentlichen  Meinung  in  England  an 
die  Hand  zu  geben.  Die  Pfortenminister  verschlossen  sich  nicht  der 
Erkenntnis  der  Richtigkeit  der  Ratschläge,  die  ihnen  von  befreundeter 
Seite  nach  dieser  Richtung  hin  gegeben  worden  sind**.  Aber  die 
an  maßgebender  Stelle  feststehende,  wie  ich  glaube,  auf  vertraulichen 
Andeutungen  der  Vertretungen  von  Rußland  und  Frankreich  beruhende 
Überzeugung,  daß  diese  beiden  Mächte  sich  an  koerzitiven  Maßregeln 
zugunsten  der  Armenier  nicht  nur  nicht  beteiligen,  sondern  England 
von  solchen  geradezu  abhalten  würden,  steht  den  guten  Absichten  der 
Pforte  hindernd  im  Wege.  Es  ist  für  letztere  außerordentlich  schwer, 
freiere  Hand  für  die  Wahl  von  Personen  beim  Sultan  zu  erlangen,  und 


*  Vgl.  Bd.  IX,  Nr.  2205,  S.  230. 
**  Vgl.  Nr.  2395. 


43 


es  ist  fraglich,  ob  es  den  vereinten  Bemühungen  des  Großwesirs  und 
des  Ministers  des  Äußeren  gelingen  wird,  eine  irgendwie  nennenswerte 
Änderung  dieser  Zustände  herbeizuführen. 

Saurma 

Nr.  2400 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das 
Auswärtige  Amt 

relegramm.  Entzifferung 

London,  den  23.  Juli  1895 

Privat  für  Baron  von  Holstein. 

Der  österreichische  Botschafter*,  welcher  meine  Ihnen  bekannte 
Auffassung  bezüglich  voraussichtlicher  Haltung  Lord  Salisburys  in  der 
armenischen  Frage  auf  Grund  seiner  Unterhaltungen  mit  demselben 
vollständig  teilt,  ist  ernstlich  besorgt,  daß  es,  wenn  der  Sultan  nicht 
bald  einlenkt,  zu  der  für  Österreich  bedrohlichen  Aufrollung  der 
orientalischen  Frage  kommen  wird,  und  hat  sich  in  diesem  Sinne  in 
Wien  ausgesprochen.  Bis  jetzt  ist  ihm  aber  die  Auffassung  des  Grafen 
Goluchowski  in  dieser  Frage  vollständig  unbekannt,  und  er  Deabsichtigt, 
in  nächster  Zeit  nach  Wien  zu  reisen,  um  sich  Aufklärung,  respektive 
Instruktionen  zu  holen.  Die  größte  Gefahr,  speziell  für  Österreich, 
liegt  meines  Erachtens  darin,  daß  Lord  Salisbury,  wenn  er  glaubt, 
Aktion  nicht  länger  vertagen  zu  können,  sich  zunächst  in  Petersburg 
zu  versichern  sucht,  wie  weit  man  dort  mit  ihm  gehen,  und  namentlich 
wie  man  sich  zu  eventuellem  einseitigem,  energischem  Vor- 
gehen Englands  in  Konstantinopel  stellen  würde. 

Hatzfeldt 

Nr.  2401 

Der   Stellvertretende   Staatssekretär   des   Auswärtigen   Amtes 

Freiherr  von  Rotenhan  an  den  Botschafter  in  Konstantinopel 

Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  45  Berlin,  den  25.  Juli  1895 

Nach  unseren  letzten  Informationen  ist  energische  Aktion  der  eng- 
lischen Regierung  mit  Rücksicht  auf  englische  öffentliche  Meinung 
unvermeidlich,  wenn  Türkei  nicht  bald  Entgegenkommen  zeigt. 

Bitte  den  bisherigen  Weisungen  entsprechend  dem  Sultan  und 
der  Pforte  Nachgiebigkeit  gegen  England  als  im  eigensten  Interesse 
der  Türkei  liegend  dringend  anzuempfehlen.  Rotenhan 

*  Graf  Deym. 

44 


Nr.  2402 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm,  Entzifferung 

Nr.  59  Therapia,  den  26.  Juli  1895 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  45*. 

Ich  werde  noch  heute  Schritte  beim  Sultan  erneuern,  um  ihm 
Nachgiebigkeit  gegen  England  als  im  Interesse  der  Türkei  selbst  liegend 
dringend  anzuempfehlen.  Saurma 

Nr.  2403 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  210  London,  den  29.  Juli  1895 

Telegramm  Nr.  238**  erhalten. 

Lord  Salisbury,  welchen  ich  durch  vertraulichen  Privatbrief  von 
dem  Inhalt  des  Telegramms  in  Kenntnis  gesetzt  habe,  dankt  mir  an- 
gelegentlich für  meine  Mitteilung  und  bittet  mich.  Euerer  Durchlaucht 
seinen  aufrichtigen  Dank  für  die  freundschaftliche  und  wertvolle  Inter- 
vention in  Konstantinopel  zu  übermitteln. 

Hatzfeldt 

Nr.  2404 

Der   Stellvertretende   Staatssekretär   des   Auswärtigen   Amtes 
Freiherr  von  Rotenhan  an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe, 

z.  Z.  in  Alt- Aussee 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  18  Berlin,  den  3.  August  1895 

Der  Kaiserliche  Botschafter  in  Konstantinopel  telegraphiert***: 
„Antwort  der  Pforte  ist  den  drei  Mächten  heute  übergeben  f. 
Russischer  und  französischer  Vertreter  scheinen  dieselbe  als 


*  Siehe  Nr.  2401.    Durch  Telegramm  Nr.  60  vom  26.  Juli,  das  noch  am  gleichen 

Tage    mittels   Telegramm    (Nr.  238)    nach    London   weitergegeben    wurde,    zeigte 

Saurma  die  erfolgte   Ausführung  des   Auftrags  an.    Das   Ergebnis   war,   daß  der 

Sultan   dem    Botschafter   sagen   ließ,   dieser  würde   „nach   dem    Ministerrat   vom 

nächsten    Sonntag    (28.  Juli)    den   Erfolg   unserer  freundschaftlichen   Intervention 

sehen". 

**  Vgl.  Nr.  2402,  Fußnote. 

***  Telegramm  Nr.  67  vom  2.  August. 

t  Siehe  den  Text  der  türkischen  Antwort  vom  1.  August,  die  in  unmittelbarem 

Zusammenhang  mit  der  nachdrücklichen  deutschen  Intervention  erfolgte,  in:  Das 

Staatsarchiv  Bd.  58,  S.  120  ff. 

45 


annehmbar  zu  betrachten,  wenngleich  sie  erklären,  daß  die  Zu- 
geständnisse hätten  weitergehend  und  klarer  ausgedrückt  sein 
sollen. 

Über  Auffassung  englischen  Vertreters  weiß  ich  noch  nichts 
Bestimmteres,  doch  glaube  ich  aus  früheren  Äußerungen  desselben 
annehmen  zu  können,  daß  auch  seine  Regierung,  wünschend,  die 
armenische  Frage  beendet  zu  sehen,  der  Pforte  bezüglich  der 
Aufnahme  der  Antwort  keine  besonderen  Schwierigkeiten  machen 
wird. 

Demnächst  näherer  Bericht  über  die  Angelegenheit.'* 
Deutschland  hat  dem  Sultan  zur  Nachgiebigkeit  in  der  armenischen 
Frage  geraten  aus  Rücksicht  für  Lord  Salisbury,  welcher  klagte,  daß 
er  durch  seinen  Vorgänger  in  gewissem  Maße  engagiert- sei.  Indessen 
hat  Lord  Salisbury  wohl  auch  noch  einen  andren  Beweggrund,  wenn  er 
die  Frage  türkischer  Reformen  auf  der  Tagesordnung  zu  erhalten  sucht. 
England  sieht  sich  —  mit  höchstens  Italien  als  einzigem  Ge- 
fährten —  in  Ägypten  durch  Rußland  und  Frankreich  bedroht.  Es 
wäre  nur  erlaubter  Egoismus,  wenn  England  sich  bemühte,  die  Auf- 
merksamkeit auf  kleinasiatische  und  Balkanfragen  abzulenken,  dadurch 
daß  es  die  Frage  der  Reformen  für  Armenien  oder  für  andre  Teile  des 
Türkischen  Reichs  nicht  zur  Ruhe  kommen  ließe. 

Wir  glauben,  daß  Europa  zwischen  „Reformen*'  und  ,, Türkei" 
zu  wählen  haben  wird;  diese  beiden  Begriffe  werden  sich  nicht  lange 
vereinigen  lassen.  Da  Deutschland  und  Österreich  kein  ersichtliches 
Interesse  an  dem  beschleunigten  Zusammenbruch  der  Türkei  haben, 
so  erscheint  es  fraglich,  ob  diese  beiden  Mächte  den  englischen  Premier- 
minister bei  einem  etwa  fortgesetzten  systematischen  Rütteln  an  inneren 
türkischen  Zuständen  fernerhin  unterstützen  sollen. 

Ew.  Durchlaucht  werden  vielleicht  angezeigt  finden,  diese  Frage 
mit  dem  Grafen  Goluchowski  zu  erörtern,  und  ihm  dabei  bemerklich 
machen,  daß  unsre  vorstehend  skizzierte  Anschauung  uns  hauptsächlich 
durch  das  freundschaftliche  Interesse  für  Österreich  eingegeben  ist. 

R  o  t  e  n  h  a  n 

Nr.  2405 

Aufzeichnung  des   Reichskanzlers  Fürsten  von  Hohenlohe,   z.  Z. 

in  Alt-Aussee 

Eigenhändig 

Alt-Aussee,  den  4.  August  1895 
Graf  Goluchowski  besuchte   mich   heute  mittag  auf  seinem  Weg 
von  Wien  nach   Ischl  und  blieb  mehrere  Stunden. 

Da  ich  unsere  Unterredung  mit  der  mir  zugegangnen   und  dem 

46 


Minister  noch  unbekannten  Nachricht  von  der  im  Telegramm  Nr.  18* 
erwähnten  Antwort  der  Pforte  in  der  armenischen  Frage  beginnen 
konnte,  so  schloß  sich  daran  in  unauffälliger  Weise  die  Besprechung 
der  Frage  der  türkischen  Reformen:  Graf  Goluchowski,  den  ich  auf 
die  Möglichkeit  hinwies,  daß  Lord  Saüsbury  diese  Fragen  auf  der 
Tagesordnung  zu  erhalten  geneigt  sein  könne,  um  die  Aufmerksamkeit 
von  Ägypten  ab-  und  auf  die  kleinasiatischen  und  Balkanfragen  hin- 
zulenken, stimmte  mir  vollständig  bei.  Er  erkennt  die  Gefahren  voll- 
kommen an,  welche  derartige  Anregungen  für  den  Bestand  der  Türkei 
haben  würden.  Bei  dieser  Gelegenheit  konnte  ich  auch  das  Gespräch 
auf  die  Räumung  Ägyptens  durch  die  Engländer  leiten  und  habe  kon- 
statiert, daß  das  Gerücht,  Graf  Goluchowski  werde  es  mit  Freude  be- 
grüßen, wenn  England  Ägypten  aufgebe,  nicht  begründet  ist.  Ich  hatte 
den  Eindruck,  daß  seine  Zustimmung  zu  meiner  Äußerung,  das  Ver- 
schwinden Englands  aus  dem  Mittelmeer  werde  den  Anschluß  Italiens 
an  die  russisch-französische  Gemeinschaft  herbeiführen,  eine  durchaus 
rückhaltlose  und  aufrichtige  war.  pp. 

C.  Hohenlohe 


Nr.  2406 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  68  Therapia,  den  6.  August  1895 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  67**. 

Heute  sah  ich  meinen  englischen  Kollegen  und  konstatierte,  daß 
derselbe  die  Antwort  der  Pforte  auf  das  Memorandum  der  drei  Mächte 
für  ungenügend  ansieht.  Dieselbe  enthalte  eigentlich  nur  die  Erklärung, 
daß  dasjenige,  was  die  Mächte  verlangen,  entweder  bereits  gesetzlich 
hier  vorgesehen  oder  für  die  Pforte  unannehmbar  sei.  Sir  Ph.  Currie 
hat  seinen  russischen  und  französischen  Kollegen  für  diese  seine  Auf- 
fassung zu  gewinnen  vermocht,  so  daß  alle  drei  Botschafter  —  jeder 
für  sich  —  nunmehr  der  Pforte  ihre  Meinung  dahin  eröffnet  haben, 
daß  die  türkische  Antwort  ihren  Erwartungen  nicht  entspreche. 

Die  Antwort  wurde  von  den  Botschaftern  ad  referendum  genommen 
und  den  [drei]***  Regierungen  übersandt. 

Wie  ich  aus  vertraulichen  Äußerungen  des  Ministers  der  Aus- 
wärtigen Angelegenheiten  entnehme,  scheint  der  Text  der  türkischen 


*  Siehe  Nr.  2404. 
♦*  Vgl.  Nr.  2404. 

***  Zusatz  von  der  Hand  Mumms  von  Schwarzenstein  an  Stelle  einer  unverständ- 
lichen Zifferngruppe. 

47 


Antwort  nicht  klar  genug  dasjenige  als  bindende  Zusage  der  Pforte 
auszudrücken,  was  von  ihr  als  solche  hatte  bezeichnet  werden  sollen. 

Es  dürften  zur  Richtigstellung  der  bezüglichen  Ausdrücke  seitens 
der  Pforte  nachträglich  noch  besondere  Aufklärungen  an  die  drei  Bot- 
schaften  ergehen. 

S  a  u  r  m  a 

Nr.  2407 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  102  Therapia,  den  10.  August  1895 

Vertraulich 

Bei  Gelegenheit  des  gestrigen  Selamliks  ließ  mich  Seine  Majestät 
der  Sultan  bitten,  zu  ihm  zu  einer  Unterredung  zu  kommen. 

Ich  begab  mich  infolgedessen  sogleich  nach  Beendigung  des  Gebets 
nach  dem  kaiserlichen   Kiosk. 

Die  Unterhaltung  währte  über  fünf  Viertelstunden  und  bewegte 
sich  fast  ausschließlich  auf  dem  Gebiete  gleichgültiger  Gegenstände,  pp. 

Nach  beendeter  Audienz,  und  als  ich  mich  bereits  anschickte, 
das  Palais  zu  verlassen,  sandte  mir  der  Sultan  seinen  Oberzeremonien- 
meister Munir  Pascha  nach,  um  mich  zu  ersuchen,  noch  einen  Augen- 
blick zu  verweilen.  Es  handle  sich  um  eine  Bitte,  welche  der  Sultan 
noch  an  mich  richten  wolle. 

Auf  mein  Ersuchen  um  nähere  Erklärung  übermittelte  mir  Munir 
Pascha  die  Bitte  des  Sultans,  ich  möchte  bei  der  Regierung  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  der  Fürsprecher  dafür  sein,  daß  ihm  seitens 
derselben  einige  Unterstützung  gewährt  werde  i  gegenüber  dem  An- 
drängen der  Mächte  von  England,  Frankreich  und  Rußland,  welche 
von  den  von  der  Pforte  in  den  armenischen  Angelegenheiten  jüngst 
gemachten  Zugeständnissen  nicht  befriedigt  schienen. 

Ich  bat  Munir  Pascha,  dem  Sultan  mitzuteilen,  daß  ich  nicht  daran 
zweifle,  meine  hohe  Regierung,  welche  ein  warmes  Interesse  an  der 
Wohlfahrt  der  Türkei  nehme,  werde  derselben  nach  wie  vor  mit  wohl- 
erwogenen und  wohlgemeinten  Ratschlägen  in  allen  schwierigen  Lagen 
beistehen. 

Als  Munir  Pascha  die  Wünsche  des  Sultans  dahin  zu  präzisieren 
versuchte,  daß  sein  Souverän  bei  aller  Anerkennung  des  Wertes 
unserer  Ratschläge  eine  direkte  mildernde  Einwirkung  der  Kaiser- 
lichen Regierung  auf  die  drei  Mächte  erbitte  2,  wurde  ich  kühler  und 
gab  ihm  zu  verstehen,  daß  ich  nicht  in  der  Lage  sei,  auf  ein  derartig 
formuliertes  Ansinnen  näher  einzugehen,  daß  ich  dagegen  glaube,  die 

48 


Pforte  sei  jedenfalls  selbst  am  besten  imstande,  durch  einsichtsvolles 
Verhalten  und  kluges  Entgegenkommen  sich  mit  den  drei  Mächten  in 
erwünschter  Weise  auseinanderzusetzen  3, 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Aha!  das  fehlte  noch 

2  fällt  mir  nicht  ein. 

3  richtig. 

Nr.  2408 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  105  Therapia,  den  10.  August  1895 

Vertraulich 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  die  Antwort  der  Pforte  auf 
das  Memorandum  der  drei  Mächte*,  betreffend  die  Reformen  in  den 
kleinasiatischen  Provinzen,  anliegend  in  Abschrift  gehorsamst  zu  über- 
reichen,  pp. 

Aus  vertraulichen  Äußerungen  der  beteiligten  Vertretungen  ent- 
nehme ich,  daß  sie  glauben,  auf  die  Annahme  von  drei  Punkten  be- 
stehen zu  müssen:  nämlich  Einsetzung  einer  ständigen  in  Konstanti- 
nopel tagenden  Kommission,  zur  Hälfte  aus  muselmanischen,  zur  Hälfte 
aus  christlichen  Beamten  bestehend,  zur  Beaufsichtigung  der  Durch- 
führung der  Reformen,  mit  dem  Rechte  für  die  fremden  Vertretungen, 
die  zu  ihrer  Kenntnis  gelangenden  Klagen  aus  den  Provinzen  vor  diese 
Kommission  zu  bringen,  Wahl  der  Gemeindevorsteher  (Mudir)  durch 
die  Gemeinderäte,  und  nicht  staatliche  Ernennung  derselben,  endlich 
Zulassung  von  Christen   als  Offiziere  der  Gendarmerie. 

Es  läßt  sich  noch  nicht  übersehen,  welchen  Grad  des  Druckes 
es  bedürfen  wird,  um  die  Pforte  zur  Annahme  dieser  drei  Punkte 
zu  bringen.  Die  Zugeständnisse,  die  der  Sultan  bisher  in  dieser  Frage 
gemacht  hat,  namentlich  auch  die  bereits  erfolgte  Ersetzung  der 
schlechten  Gouverneure  durch  bessere,  die  endliche  Inkraftsetzung 
der  angekündigt  gewesenen  Amnestie  und  die  Einholung  der  Ge- 
nehmigung der  Mächte  zur  Ernennung  Schakir  Paschas  zum  Ober- 
kommissar, sind  nicht  zum  geringsten  Teile  auf  die  zwar  freundschaft- 
lichen, aber  eindringlichen  Vorstellungen  der  Kaiserlichen  Regierung 
zurückzuführen,  und  es  wird  nicht  leicht  sein,  weitergehende  Kon- 
zessionen von  ihm  zu  erlangen.  Es  ist  erstaunlich,  welch  irrtümliche 
Begriffe  der  Sultan  bezüglich  des  ihm  durch  sein  eigenes  Interesse 
vorgeschriebenen  Verhaltens  den  europäischen  Mächten  gegenüber  be- 


*  Vgl.  Nr.  2404,  Fußnote  f. 

4    Die  Große  Politik.  Bd.  10.  49 


sitzt.  Anstatt  schnell  und  ausg^iebig  die  an  ihn  gestellten  Forderungen 
zu  befriedigen,  läßt  er  sich  jedes  Zugeständnis  einzeln  durch  scharfe 
Worte  und  Drohungen  abringen,  was  die  Wirkung  desselben  natürlich 
an  und  für  sich  in  hohem  Grade  abschwächt.  Hat  er  in  bezug  auf 
irgendeinen  Punkt  Nachgiebigkeit  gezeigt,  so  glaubt  er,  damit  sich 
von  den  übrigen  Verpflichtungen  befreit  und  alles  getan  zu  haben,  was 
veruünfiigerweise  von   ihm   verlangt  werden   konnte. 

Saurma 


Nr.  2409 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  108  Therapia,  den  15.  August  18Q5 

Vertraulich 

Bereits  mehrfach  hatte  ich  die  Ehre  darauf  hinzuweisen,  wie  un- 
klar und  unbestimmt  die  Pforte  sich  in  dem  den  drei  Mächten  über- 
gebenen  Antwortschreiben  bezüglich  der  armenischen  Reformen  aus- 
gedrückt hatte. 

Nunmehr  haben  die  drei  hiesigen  Botschafter,  in  der  Absicht, 
diese  Unklarheit  und  die  damit  verbundene  Möglichkeit  einer  willkür- 
hchen  Interpretation  der  Pforte  zu  beseitigen,  der  letzteren  ein  Schrift- 
stück zugestellt,  in  welchem  die  von  ihr  gebrauchten  unbestimmten 
Ausdrücke  als:  „il  pourra  se  faire",  ,,il  serait  desirable  de  faire"  usw. 
durch  bestimmte  und  positive,  als:  „il  sera  ordonne",  „11  sera  cree"  usw. 
ersetzt  werden. 

Gleichzeitig  wird  die  Pforte  in  diesem  Schreiben  ersucht,  sich 
nunmehr  endgültig  darüber  zu  erklären,  ob  diese  letztere  Redaktion 
sich  mit  demjenigen  decke,  was  das  Antwortschreiben  der  Pforte  be- 
züglich der  armenischen   Zugeständnisse  habe  ausdrücken  wollen. 

Der  türkische  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten*  ist 
diesem  Schritte  der  Botschafter  gegenüber  in  nicht  geringe  Verlegen- 
heit geraten.  Er  behauptet,  die  Botschafter  versuchten  damit  der  Pforte 
größere  Zugeständnisse  aufzuerlegen  als  diejenigen,  welche  von  ihr 
wirklich  gemacht  worden  seien  und  gemacht  werden  konnten.  Über 
diese  türkischerseits  angebotenen  Reformen  hinauszugehen,  hieße,  sich 
in  Widerspruch  mit  den  Grundsätzen  und  Anschauungen  des  Islams 
setzen. 

Zufällig  sprach  ich  gestern  mit  meinem  englischen  Kollegen  dar- 
über, welchem  Turkhan  Pascha  gleichfalls  diese  Auffassung  münd- 
lich zu  erkennen   gegeben  hatte.    Sir  Philip  Currie  hielt  dieselbe  für 

*  Turkkhan  Pascha. 
50 


eine  der  gewöhnlichen  Ausflüchte  türkischer  Minister  und  betonte, 
daß  in  dem  ganzen  Memorandum  der  drei  Mächte  ja  kaum  etwas 
mehr  verlangt  werde  als  dasjenige,  was  die  türkische  Gesetzgebung 
selbst  bereits  enthalte.  Es  werde  seiner  Ansicht  nach  lediglich  auf  den 
Grad  des  Druckes  der  Mächte  ankommen,  wie  weit  der  Sultan  den 
Forderungen  derselben  nachgeben  werde.  Bei  Anwendung  dieser 
Druckmittel  würde  im  Interesse  einer  gehörigen  Wirkung  derselben 
natürlich  der  Umstand  der  bekannten  Besorgnis  des  Sultans  für  seine 
persönliche  Sicherheit  ^  entsprechend  zu  verwerten  sein. 

Die  englische  Regierung,  bemerkte  der  Botschafter  weiter,  könne 
sich  nicht  mit  halben  Zugeständnissen  der  Pforte  begnügen.  Sie  sei 
in  der  armenischen  Sache  zu  weit  engagiert  und  müsse  der  öffentlichen 
Meinung  Englands  wegen  wirkliche  Reformen  für  die  Besserung  des 
Schicksals  der  Armenier  —  gleichviel  ob  letztere  dieses  Interesse  ver- 
dienten oder  nicht  —  erreichen.  Auf  die  Durchführung  gewisser  For- 
derungen werde  Lord  Salisbury,  von  der  öffentlichen  Meinung  in  Eng- 
land gedrängt,  nicht  verzichten  können,  und  zwar  vor  allem  nicht  auf 
die  Forderung,  betreffend  die  Ernennung  der  Gouverneure, 
welche,  lediglich  in  die  Hände  des  Sultans  gelegt,  stets  nur  unzu- 
verlässige Elemente  ergeben  würde,  sowie  zweitens  nicht  auf  die 
Forderung  einer  europäischen  Kontrolle  der  versprochenen  Re- 
formen, ohne  welche  diese  letzteren  sicher  nie  zur  dauernden  Aus- 
führung gelangen  würden. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  U  sera  suicide. 


Nr.  2410 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  109  Therapia,  den  17.  August  1895 

Gestern  traf  hier,  aus  Armenien  kommend,  der  erste  der  Dele- 
gierten ein,  weiche  die  Regierungen  von  England,  Frankreich  und 
Rußland  der  zur  Untersuchung  der  armenischen  Gewalttaten  einge- 
setzten türkischen  Kommission  zur  Assistenz  beigegeben  hatten. 

Derselbe,  der  französische  Delegierte  Herr  Vilbert,  brachte  das 
Konzept  des  von  den  erwähnten  drei  Delegierten  verfaßten  Kollektiv- 
berichts*,   betreffend    das    Ergebnis    der   von    ihnen    bewirkten    Fest- 

*  Die  Berichte  der  Delegierten  siehe:  Englisches  Blaubuch,  Turkey,  Nr.  1.  Part  I. 
Events  at  Sassoon,  und  Part  II.  Commission  of  inquiry  at  Moush:  Proces-verbaux 
and  separate  Depositions  1893. 

4«  51 


Stellungen  mit.  Mein  französischer  Kollege,  welcher  den  Bericht  un- 
mittelbar vorher  gelesen   hatte,  teilte  mir  hierüber  folgendes  mit: 

Der  Bericht  sei  äußerst  mäßig  gehalten  und  enthalte  absolut 
nur  Tatsachen,  welche  als  hundertfach  erwiesen  anzusehen  seien.  Sultan 
und  Regierung  seien  darin  vollständig  aus  dem  Spiel  gelassen  worden, 
obschon  es  bekannt  sei,  daß  die  Parole:  „Strenge  Unterdrückung  des 
Aufstandes",  welche  zu  den  bedauerlichen  gegen  die  Armenier  be- 
gangenen Gewaltakten  führte,  unmittelbar  aus  dem  Palais  gegeben 
worden  war. 

Trotz  aller  Mäßigung  und  strenger  Objektivität  lege  der  Bericht 
in  unanfechtbarer  Weise  die  Tatsachen  klar,  einmal,  daß  grausame 
Metzeleien  gegen  die  um  Sassun,  Musch  und  an  anderen  Orten  an- 
sässigen Armenier  wirklich  begangen  wurden,  daß  ferner  die  Urheber- 
schaft dieser  Greuel  den  dortigen  türkischen  Behörden  zur  Last  zu 
legen  und  endlich,  daß  die  ausführenden  Organe  die  regulären  türki- 
schen Truppen  selbst  gewesen  seien. 

Über  die  Art  der  Tätigkeit  der  türkischen  Kommission  und  die- 
jenige der  beteiligten  Delegierten  der  Mächte  berichtet  Herr  Vilbert 
mündlich  folgendes:  Es  sei  wahrhaft  unerhört,  mit  welcher  Dreistigkeit 
die  türkischen  Beamten  versucht  hätten,  die  Zeugenaussagen  der  ver- 
nommenen Personen  zu  verschleiern  und  hinfällig  zu  machen.  In 
Fällen,  wo  den  europäischen  Delegierten  augenscheinlich  wahre  Tat- 
sachen von  augenscheinlich  glaubwürdigen  Personen  vorgelegt  worden, 
hätten  tags  darauf  die  türkischen  Beamten  Dutzende  von  gewaltsam 
zusammengetriebenen  Menschen  vorgeführt,  welche  das  Gegenteil  von 
jenen  Aussagen  bezeugten. 

Auf  diese  Weise  sei  es  während  der  ganzen  Dauer  der  Unter- 
suchung hergegangen.  Das  Resultat  der  türkischen  Enquete  sei  denn 
auch  diesen  Prozeduren  entsprechend  ausgefallen.  Der  türkische  Be- 
richt bestreite  die  Tatsache,  daß  Metzeleien  durch  türkische  Truppen 
verübt  worden  seien.  Wenn  Ausschreitungen  hie  und  da  begangen 
worden,  so  müßten  dieselben  größtenteils  auf  Rechnung  der  Armenier 
selbst  gdsetzt  werden,  welche  durch  Unbotmäßigkeit  und  Gewaltakte 
Veranlassung  zur  Züchtigung  gegeben  hätten.  Bezüglich  der  nicht 
zu  bestreitenden  Tatsache,  daß  an  verschiedenen  Orten  noch  die  augen- 
scheinlichen Spuren  begangener  Metzeleien  von  Armeniern  vorgefunden 
worden  seien,  bemerke  der  Bericht  —  es  ist  kaum  glaublich  — ,  daß 
diese  Bluttaten  von  Armeniern  selbst  gegen  Armenier  verübt  worden 
seien,  nur  um  den  Verdacht  begangener  Greuel  auf  die  Türken  zu 
lenken. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  dieser  Bericht  vor  seiner  Veröffentlichung 
eine  wesentliche  Modifizierung  erfahren  wird,  so  daß  der  Wahrheit 
damit  nicht  in  allzu  brutaler  Weise  ins  Gesicht  geschlagen  wird. 

Inzwischen  haben  die  europäischen  Delegierten  das  Ansinnen  der 
türkischen  Kommission  rundweg  zurückgewiesen,  den  türkischen  Be- 

52 


rieht  zu  unterschreiben,  haben  vielmehr  den  obenerwähnten  Bericht 
für  sich  —  und  da  sie  einig  in  ihren  bezüglichen  Auffassungen  &ind, 
in  Koliektivform  —  verfaßt  und  werden  denselben  nach  erfolgter  Aus- 
arbeitung ihren  hiesigen   Botschaftern   übergeben. 

Bis  jetzt  besteht  nur  das  französische  Konzept  davon  und  be- 
findet sich  noch  in  der  Hand  des  französischen  Botschafters,  Herrn 
Cambon,  welchem  ich  vorstehende  Mitteilungen  verdanke.  Binnen 
kurzem  dürften  auch  der  englische  und  russische  Botschafter  Kenntnis 
des  bezüglichen  Schriftstücks  durch  ihren   Delegierten   erhalten. 

iWeitere  Berichterstattung  behalte  ich  mir  gehorsamst  vor. 

Saurma 


Nr.  2411 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  110  Therapia,  den  17.  August  1895 

Vertraulich 

Am  Schluß  des  Monats  Juni  d.  Js.  hatte  ich  die  Ehre,  Euerer 
Durchlaucht  eine  Unterredung  mit  meinem  russischen  Kollegen  ge- 
horsamst mitzuteilen,  in  welcher  mir  derselbe  vertraulich  erzählte, 
die  englische  Regierung  habe  sich  vergeblich  an  das  russische  Kabinett 
mit  dem  Verlangen  um  Beteiligung  an  Koerzitivschritten  gegen  die 
Türkei  gewandt,  welche  nach  englischer  Auffassung  erforderlich  seien, 
um  den  Sultan  zur  Nachgiebigkeit  in  der  armenischen  Angelegenheit 
zu  bewegen. 

Gestern  wurde  mir  eine  ähnliche  Mitteilung  durch  meinen  öster- 
reichisch-ungarischen Kollegen  zuteil.  Derselbe  hatte  gerade  von  Graf 
Goluchowski  eine  Depesche  folgenden   Inhalts   erhalten. 

Nach  Meldungen  Fürst  Liechtensteins  aus  St.  Petersburg  habe  Fürst 
Lobanow  neueren  Sondierungen  Englands  gegenüber,  betreffend  die 
Vereinbarung  von  etwaigen  gegen  die  Pforte  anzuwendenden  Druck- 
mitteln, geantwortet,  „qu'il  repugnerait  au  Gouvernement  Imperial 
d'employer  lui-meme  ou  de  voir  employees  par  d'autres  des  mesures 
coercitives  contre  la  Porte  dans  les  affaires  pendantes  de  l'Armenie". 

Hiernach  scheint  die  von  Rußland  beobachtete  Zurückhaltung  sich 
im  Laufe  der  Zeit  noch  gesteigert  zu  haben,  indem  Herr  von  Nelidow 
mir  gegenüber  im  Juni  d.  Js.  nur  bemerkte,  daß  die  russische  Re-' 
gierung  es  ablehne,  selbst  an  Zwangsmaßregeln  gegen  die  Türkei 
teilzunehmen,  während  sie  gegenwärtig  auch  ein  Einschreiten  durch 
andere  mit  Mißvergnügen  ansehen  würde. 

Daß  übrigens  in  der  Sache  selbst  zwischen  Rußland  und  Eng- 
land im  allgemeinen  eine  übereinstimmende  Haltung  in  der  schweben- 

53 


den  Angelegenheit  besteht,  dürfte  aus  einer  anderweitigen,  an  Baron 
Calice  aus  Wien  soeben  gelangten  Mitteilung  hervorgehen,  wonach 
die  russische  Regierung  in  London  vertraulich  angefragt  habe,  auf 
welche  Reformen  es  der  englischen  Regierung  besonders  ankomme, 
und  sodann,  als  englischerseits  die  „europäische  Kontrolle"  der  Re- 
formen betont  worden  sei,  geantwortet  habe,  daß  Rußland  bereit  sei, 
England  bei  der  Herbeiführung  dieses  Zugeständnisses  entsprechend 
zu  unterstützen. 

Immerhin  scheint  zwischen  diesen  beiden  Mitteilungen  ein  ge- 
wisser Widerspruch  zu  bestehen.  Herr  von  Calice  erkannte  dies  eben- 
falls, vermochte  aber   eine   Erklärung  dafür  nicht  zu  geben. 

S  a  u  r  m  a 

Nr.  2412 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Seh  warzenstein 

Nr.  49  Berlin,  den  19.  August  1895 

Antwort  auf  Bericht  Nr.  102*. 

Der  Herr  Reichskanzler  wünscht,  daß  Ew.  pp.  die  an  Munir  Bey 
für  den  Sultan  erteilte  Antwort  noch  dahin  ergänzen,  daß  unsere  Unter- 
stützung nicht  zu  trennen  ist  von  der  Berücksichtigung  unserer  wohl- 
gemeinten  und  uneigennützigen    Ratschläge. 

Diese  Berücksichtigung  haben  wir  aber  seit  den  Eröffnungen, 
welche  Fürst  Radolin  in  diesseitigem  Auftrage  bei  seiner  Abschieds- 
audienz dem  Sultan  machte**,  bis  heute  nur  in  so  ungenügendem 
Maße  gefunden,  daß  wir  die  moralische  Verantwortung  für  die  Ver- 
tretung des  von  der  türkischen  Regierung  fortgesetzt  behaupteten 
Standpunktes  nicht  übernehmen   können. 

Marschall 

Nr.  2413 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  115  Therapia,  den  19.  August  1895 

Aus  vertraulichen  Andeutungen,  die  mir  heute  Herr  von  Nelidow 
machte,  entnehme  ich,  daß  gegenwärtig  Besprechungen  zwischen  den 
Kabinetten  von  London,   Paris  und  St.  Petersburg  stattfinden,  um  zu 

*  Siehe  Nr.  2407. 

♦*  Siehe  Bd.  IX,  Nr.  2202. 

54 


einem  Einverständnis  bezüglich  der  Einrichtung  einer  aus  türkischen 
und  europäischen  Mitgliedern  zusammengesetzten,  in  Konstantinopel 
tagenden  Kommission  zu  gelangen,  deren  Aufgabe  wäre,  die  von  der 
Pforte  in  Aussicht  gestellten  Reformen  zu  überwachen  und  zu  prüfen, 
ob  die  von  ihr  gemachten  Zugeständnisse  tatsächlich  für  die  Besserung 
der  Zustände  in  Armenien  ausreichen. 

Diese  Art  der  Zusammensetzung  der  Kontrollkommission  würde 
tatsächlich  die  Pforte  ungleich  empfindlicher  treffen  als  die  Kommission, 
welche  das  ursprüngliche  Memorandum  der  Mächte  vorschlug. 

Dort  bestand  die  Kommission  auch  aus  Moslems  und  Christen, 
aber  alle  waren  türkische  Untertanen  und  vom  Sultan  ernannt.  Die 
Bütschaftsdragomans  fungierten  nur  als  vermittelnde  Organe.  Hier 
hingegen  handelt  es  sich  um  christliche  Mitglieder,  welche  von  den 
Mächten  bestellt,  von  ihnen  in  die  Kommission  berufen  werden  und 
Sitz  und  Stimme  in  derselben  haben. 

Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  sich  die  drei  Mächte  über  diese  An- 
gelegenheit einigen  werden,  indessen  kommt  zuletzt  immer  wieder  die 
Frage  zur  Sprache:  welches  sind  die  anzuwendenden  Druckmittel  für 
den  Fall,  daß  die  Pforte  sich  ablehnend  gegenüber  einem  solchen  Be- 
schluß der  drei  Mächte  verhält?  Und  hier  liegt  meiner  Ansicht  nach 
der  Widerspruch,  in  welchen  sich  die  russische  Regierung  dadurch 
gesetzt  hat,  daß  sie  auf  der  einen  Seite  sich  zum  Mitkämpfer  Englands 
für  die  europäische  Kontrolle  macht,  auf  der  anderen  Seite  aber  von 
scharfen  Zwangsmitteln  nichts  wissen  will.  Wenn  aber  je  die  Durch- 
setzung einer  Forderung  der  Mächte  wirkliche  Zwangsmittel  erheischt, 
so  ist  es  die  Forderung  einer  Kontrolle  über  innere  türkische  An- 
gelegenheiten, an  welcher  Europäer  direkt  teilnehmen. 

Die  hiesigen  Botschafter  haben,  wie  sie  mir  offen  eingestanden, 
schließlich  den  Mut  verloren,  durch  Zuspruch  oder  Warnung  weiterhin 
auf  die  Pforte  einzuwirken,  um  dieselbe  zur  Einsicht  zu  bringen.  Hat 
dieselbe  doch  in  ihrer  Beantwortung  des  jüngsten  Schreibens  der  drei 
Botschafter  (vgl.  gehorsamsten  Bericht  Nr.  108  vom  15.  d.  Mts.*)  die 
von  ihr  bereits  früher  gemachten  Zugeständnisse,  statt  zu  erweitern, 
durch  spitzfindige  Verklausuüerungen   fast  noch   mehr  herabgedrückt. 

Übrigens  glaube  ich  annehmen  zu  dürfen,  daß  Euere  Durchlaucht 
bezüglich  der  fraglichen  Angelegenheit  besser  informiert  ist,  als  ich 
es  zu  tun  vermag,  indem  es  sich  gegenwärtig  eventuell  um  die  Schaffung 
eines  neuen  politischen  Zustandes  für  die  Türkei  bzw.  um  eine  ihr 
aufzuerlegende  weitere  politische  Beschränkung  handeln  würde,  wofür 
doch  wohl  die  Vereinbarung  auch  mit  den  übrigen  Großmächten  er- 
forderlich sein  dürfte. 

Sollten  sich  also  die  von  mir  gemeldeten  vertraulichen  Nachrichten 
bestätigen,  so  dürften   die  drei  mit  der  Sache  befaßten  Mächte  sich 


*  Siehe  Nr.  2409. 

5S 


bereits  an  die  Kaiserliche  Regierung  sowie  an  die  Kabinette  von  Wien 
und  Rom  dieserlialb  gewandt  haben. 

Anderenfalls  würde  meines  Erachtens  erwartet  werden  können, 
daß  sie  dies  tun  werden,  sobald  sie  unter  sich  zu  einem  Einverständnis 
über  ihren   Plan  gelangt  sein   werden. 

Überhaupt  wäre  vielleicht  jetzt  mehr  denn  je  der  Anlaß  für  die 
Kabinette  von  London,  Paris  und  Petersburg  gegeben,  sich  des  Er- 
fahrungssatzes  zu  erinnern,  daß  von  einer  orientalischen  Regierung 
volle  Nachgiebigkeit  meist  erst  dann  mit  Sicherheit  erwartet  werden 
kann,  wenn  ihr  alle  Mächte  geschlossen  gegenüberstehen,  und  die 
von  ihnen  gestellten  Forderungen  kollektiv  und  in  identischer  Form 
erhoben  werden. 

Saurma 

Nr.  2414 

Aufzeichnung  des  Vortragenden   Rats  im  Auswärtigen  Amt 
Mumm  von  Schwarzenstein 

Eigenhändig 

[Berlin,  den  23.  August  1895] 

Die  Anfrage  Tewfik  Paschas*  wegen  des  durch  Baron  Saurma 
übergebenen  Memorandums,  in  welchem  wir  uns  über  ungenügende 
Befolgung  unserer  Ratschläge  beschweren,  bezieht  sich  offenbar  auf 
die  unserem  Botschafter  durch  Telegramm  Nr.  49**  erteilte  Weisung. 

Die  Pforte  hat  in  der  letzten  Zeit  fortgesetzt  wegen  bulgarischer 
Dinge  (oft  recht  unnötigerweise)  unsere  Intervention  nachgesucht  und 
sich  neuerdings  (nach  Bericht  Nr.  102***)  auch  an  uns  gew^andt,  um 
ihr  gegen  die  armenischen  Forderungen  der  drei  Mächte,  England, 
Frankreich   und   Rußland,   beizustehen. 

Wir  haben  in  Bulgarien  wiederholt  den  Wünschen  der  Pforte  ent- 
sprechend Vorstellungen  gemacht;  wenn  sie  aber  jetzt  auch  noch  unsere 
Unterstützung  bezüglich  Armeniens  wünscht,  so  dürfte  Tewfik  Pascha 
darauf  aufmerksam  zu  machen  sein,  daß  wir  trotz  aller  Sympathie 
unseres  Kaisers  für  den  Sultan  und  der  Kaiserlichen  Regierung  für 
die  Pforte  doch  schwer  da  helfen  können,  wo  man  unsere  Ratschläge 
so  gering  schätzt. 

Insbesondere  hatte  Fürst  Radolin  im  Auftrage  Seiner  Majestät 
den  Sultan  bei  seiner  Abschiedsaudienz  auf  die  in  den  Provinzen  der 
Türkei  (insbesondere  in  Kleinasien)  herrschende  Günstlings-  und  Miß- 
wirtschaft aufmerksam  gemacht  und  ihm  die  Ersetzung  der  am  meisten 
kompromittierten  Beamten  durch  integere  Leute  angeraten  f.  Wir  haben 

*  Türkischer   Botschafter  in    Berlin. 

**  Siehe  Nr.  2412.    Vgl.  auch  das  folgende  Schriftstück. 

***  Siehe  Nr.  2407. 

t  Vgl.  Nr.  2202. 

56 


nicht  gehört,  daß  diesem  doch  gewiß  uneigennützigen  Rat  Folge  ge- 
leistet worden  wäre. 

Andererseits  haben  wir,  während  wir  im  Interesse  der  Türkei  in 
England  fortgesetzt  zur  Mäßigung  rieten,  dem  Sultan  dringend  emp- 
fohlen, England  durch  freiwillige  Gewährung  von  Reformen  in 
Armenien  entgegenzukommen  und  so  der  von  der  öffentlichen  Meinung 
Englands  dringend  geforderten  Pression  zuvorzukommen.  Es  hätte 
dies  um  so  mehr  im  eigensten  Interesse  der  Türkei  gelegen,  als  diese 
schließlich  doch  gezwungen  sein  wird,  nachzugeben;  dann  aber  wird 
man  in  England  diese  Nachgiebigkeit  nicht  mehr  als  freiwillige  Kon- 
zession dankbar  begrüßen,  sondern  man  wird  der  englischen  Aktion 
bzw.  derjenigen  der  drei  Großmächte  allein  das  Verdienst  des  türki- 
schen Nachgebens  zuschreiben.  Unsere  Ratschläge  zur  Nachgiebigkeit 
in  der  armenischen  Frage  hat  aber  die  Pforte  völlig  ignoriert  imd  damit 
bereits  erreicht,  daß  Lord  Salisbury,  der  anfangs  durchaus  der  Türkei 
wohlgesinnt  war,  sich  nunmehr  öffentlich  in  der  bekannten  scharfen 
Weise  gegen  die  Türkei  ausgesprochen  hat*.  Die  verhältnismäßig 
geringen  Konzessionen,  welche  nach  dem  Worte  „bis  dat  qui  cito 
dat"  bei  der  Regierungsübernahme  Lord  Salisburys  vermutlich  genügt 
hätten,  um  denselben  zufriedenzustellen,  werden  jetzt  schwerlich  mehr 
als  ausreichend  erachtet  werden,  und  so  wird  die  Nichtbefolgung 
unserer  Ratschläge  voraussichtlich  die  Türkei  zu  größeren  Opfern 
nötigen,  .als  wenn  sie  gleich  anfangs  unsere  Empfehlungen  befolgt 
hätte,  pp. 

V.  Mumm 


Nr.  2415 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  116  Therapia,  den  22.  August  1895 

Vertraulich 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  im  Anschluß  an  meinen 
Bericht  Nr.  102  vom  10.  ds.  Mts.**  gehorsamst  zu  melden,  daß  ich, 
der  hohen  Weisung  Euerer  Durchlaucht  gemäß,  Munir  Pascha  folgende, 
für  Seine  Majestät  den  Sultan  bestimmte  Mitteilung  habe  machen 
lassen: 

„Le  Gouvernement  d'AUemagne  est  toujours  dispose  ä  preter  son 


*  Am  15.  August  hatte  Marquis  of  Salisbury  sich  in  dem  Oberhause  scharf  über 
die  armenische  Frage  und  die  vom  Sultan  in  ihr  beobachtete   Taktik  der  Ver- 
schleppungen   und   Entschuldigungen   ausgelassen,    die   schließlich   ein   Eingreifen 
Europas  herbeiführen  und  die  Unabhängigkeit  der  Türkei  gefährden  müsse. 
**  Siehe  Nr.  2407. 

57 


concours  amical  au  Gouvernement  Ottoman,  mais  pour  que  ce  concours 
puisse  s'exercer  d'une  maniere  efficace,  il  faut  que  le  Gouvernement 
Ottoman  tienne  compte  des  conseils  dcsinteresses  de  rAllemagiie. 
Or,  depuis  le  dernier  entretien  du  Prince  de  Radolin  avec  Sa  Majeste 
le  Sultan  jusqu'ä  ce  jour,  il  a  ete  si  peu  tenu  compte  des  conseils  de 
l'Allemagne  que  le  Gouvernement  Imperial  ne  saurait  assumer  la 
responsabilite  morale  de  se  charger  de  la  defense  du  point  de  vue 
auqucl  la  Sublime   Porte  s'est  placee  dans   la  question  armenienne." 

Diese  Mitteilung  soll,  wie  ich  aus  der  Umgebung  des  Sultans 
höre,  denselben  in  eine  hochgradige  Aufregung  versetzt  haben.  Er 
mag  eben  daraus  erkannt  haben,  daß  seine  Hoffnung  auf  die  Unter- 
stützung durch  Deutschland  in  der  gegenwärtigen  Krisis  eine  nichtige 
war. 

Gestern  abend  bat  A\unir  Pascha  im  Auftrage  des  Sultans  den 
ersten  Dragoman  der  Kaiserlichen  Botschaft  um  eine  Unterredung  in 
Jildis-Kiosk.  In  dieser  Unterredung  gab  der  Oberzeremonienmeister 
namens  des  Sultans  folgende  Erklärungen  ab:  Die  letzten  Ratschläge 
des  Fürsten  Radolin  seien  für  ihn,  den  Sultan,  unannehmbar  gewesen. 
Dieselben  liefen  darauf  hinaus,  ihm  eine  Regentschaft  zur  Seite  zu 
stellen,  und  das  könne  er  sich  auf  keinen  Fall  gefallen  lassen.  Er 
habe  dies  dem  Fürsten  gesagt,  der  darüber  nach  Berlin  berichtet  haben 
werde. 

Er  frage  nun,  welche  Ratschläge  Deutschland  seitdem  gegeben 
habe? 

Herr  Testa*,  in  der  Sache  bereits  gehörig  orientiert,  antwortete, 
daß  seit  der  Abreise  des  Fürsten  Radolin  der  Kaiserliche  Botschafter 
dem  Sultan  direkt  sowie  der  Pforte  wiederholt  und  dringend  emp- 
fohlen habe,  den  Ministerwechsel  in  London  zu  benutzen,  um  schleunigst 
eine  Verständigung  mit  England  herbeizuführen;  zu  diesem  Zwecke 
erscheine  es  angezeigt,  ohne  Verzug  die  Gouverneure,  über  welche 
zahlreiche  Klagen  geführt  worden  seien,  durch  tüchtige  unbescholtene 
Personen  zu  ersetzen  und  Maßregeln  zur  Besserung  der  Verwaltung 
des  Landes  zu  treffen,  welche  geeignet  seien,  dem  der  Türkei  wohl- 
gesinnten Lord  Salisbury  die  A\ittel  an  die  Hand  zu  geben,  um  die 
öffentliche  Meinung  in  England  zu  beruhigen**.  Dies  sei  bisher  leider 
nicht  geschehen  und  habe  die  Frage  dadurch,  daß  die  Verständigung 
mit  England  bis  jetzt  verzögert  worden,  eine  ernstere  Wendung  er- 
halten. 

Der  Sultan  hat  hierauf  durch  Vermittelung  des  Kammerherrn 
Zeki  Bey  antworten  lassen,  daß  unmittelbar,  nachdem  ihm  die  Kaiser- 
liche Botschaft  von  der  Ersetzung  der  Gouverneure  gesprochen  habe, 
er   sofort    der    Pforte    die    erforderlichen    Befehle    dieserhalb    oegeben 


Deutscher  Botschaftsdolmetscher. 
■  Vgl.  Nr.  2395,  2398. 


58 


habe.   Einige  Gouverneure  seien  schon  abgesetzt,  und  auf  seinen  Befehl 
werde  die  Pforte  noch  andere  Veränderungen  vornehmen. 

Es  ergebe  sich  hieraus,  daß  er  den  Ratschlägen  Deutschlands 
stets  ein  williges  Gehör  geliehen  habe,  und  er  rechne  auch  für  die  Zu- 
kunft auf  den  wohlwollenden  Rat  der  Kaiserlichen  Regierung. 

Hiermit  hatte  die  Unterhaltung,  die  durch  Vermittelung  Munir 
Paschas  bzw.  Zeki  Beys  durch  mehrere  dazwischenliegende  Zimmer 
geführt  wurde,  ihr  Ende  erreicht. 

Es  erhellt  hieraus  von  neuem,  wie  wenig  Seine  Majestät  der  Sultan 
die  Lage  der  Verhältnisse  übersieht,  sowie  andererseits,  wie  unzugäng- 
lich er  für  jedwede  Ratschläge  ist,  welche  er  im  Grunde  stets  für  Fallen 
hält,  die  man  ihm  stellen  will,  um  zu  seiner  Beseitigung  zu  gelangen. 

Was  diesen  Punkt  anlangt,  ist  er  eben  ein  Kranker,  bei  welchem 
mit  Argumenten  nichts  auszurichten  ist. 

S  a  u  r  m  a 


Nr.  2416 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 

Nr.  117  Iherapia,  den  22.  August  1895 

Ganz  vertraulich 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Regierung  des  Reichs  gegenwärtig 
von  Seiner  Majestät  dem  Sultan  gehandhabt  wird,  beginnt  die  Un- 
zufriedenheit der  hiesigen  Bevölkerung  in  immer  sichtbarerer  Weise 
herauszufordern  und  den  Wunsch  seiner  Ersetzung  ^  durch  einen 
anderen  Herrscher  immer  dringender  hervortreten  zu  lassen. 

Freilich  ist  man  sich  über  die  Mittel,  diesen  Zweck  zu  erreichen, 
nirgends  klar. 

Der  Sultan  hat  es  verstanden,  durch  geschickte  Manipulationen 
diejenigen  hervorragenden  Personen  im  Reiche,  welche  bei  etwaigen 
gegen  ihn  gerichteten  Komplotten  in  Frage  kommen  könnten,  von- 
einander zu  trennen  und  gegenseitigen  Argwohn  und  Mißtrauen  unter 
sie  zu  säen,  so  daß  heute  der  Bruder  dem  Bruder  nicht  mehr  traut. 

Es  fehlt  infolgedessen  die  nötige  Anzahl  gleich  entschlossener 
Männer,  welche  —  einer  des  anderen  sicher  —  bereit  wären,  den  An- 
griff gegen  Abdul  Hamid  praktisch  einzuleiten. 

Auf  diese  Weise  erfreut  sich  letzterer  ungeachtet  der  allgemeinen 
im  Volke  gegen  ihn  herrschenden  Aufgebrachtheit  zurzeit  noch  einer 
verhältnismäßigen  Sicherheit. 

Lange  jedoch  dürfte   dieser  Zustand  kaum  mehr  andauern.    An- 

5Q 


gesehene  Personen  in  hohen  Stellungen  scheuen  sich  nicht,  Fremden 
gegenüber  —  denen  sie  vertrauen  dürfen  —  offen  auszusprechen,  daß 
ihr  Souverän  das  Land  demoralisiere  und  ruiniere  2,  und  die  Rettung 
der  Türkei  nur  im  Wege  seiner  Beseitigung  zu  erhoffen  sei. 

In  folgender  Weise  äußerte  sich  unter  anderen  ein  gewisser  Zia 
Bey,  Mitglied  des  Ausschusses  der  hiesigen  Präfektur  und  hoch- 
angesehener Ulema.  Ausgestattet  mit  seltenen  Geistesgaben  und 
hervorragendem  Scharfsinn,  verfügt  er  über  außerordentliche  Kennt- 
nisse von  Land  und  Leuten.  Seinen  Namen  bitte  ich  infolge  seiner 
dienstlichen  Stellung  geheim  zu  halten,  zumal  er  in  Hofkreisen  im  Ver- 
dacht steht,  ein  Anhänger  des  Thronfolgers  Reschad  Effendi  zu  sein. 

„Das  türkische  Volk,''  so  erklärte  Zia  Bey  einem  meiner  Be- 
kannten gegenüber,  „sei  durch  das  herrschende  Regierungsprinzip 
gänzlich  entartet  und  energielos  geworden  und  trotz  der  allgemeinen 
Unzufriedenheit  zu  einer  Erhebung  und  Abschüttelung  des  Jochs  un- 
fähig. Die  Lage  sei  unerträglich  und  dränge  nach  einer  endlichen 
Lösung.  Die  einzige  Rettung  erblicke  man  in  einem  Eingreifen  der 
europäischen  Mächte.  So  würde  es  hier  beispielsweise  mit  Freuden 
begrüßt  werden,  wenn  die  englische  Flotte  die  Dardanellendurchfahrt 
erzwänge,  unbeweglich  vor  Dolmabagdsche  gelegt  und  die  Absetzung 
des  Sultans  gefordert  würde." 

Bezüglich  des  Großwesirs  Said  Pascha  und  des  auswärtigen  Mi- 
nisters Turkhan  Pascha  äußerte  sich  Zia  Bey  mit  den  Worten: 

„Der  Großwesir,  an  sich  ein  ehrlicher  und  persönlich  achtbarer 
Mann,  sei  gegenwärtig  nur  auf  Wahrung  seiner  jetzigen  Stellung 
bedacht,  er  wage  gegen  die  Befehle  des  Sultans  weder  Einspruch  zu 
erheben,  noch  besitze   er  irgendwelchen   Einfluß  auf  denselben. 

Turkhan  Pascha,  der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten, 
sei  zwar  wegen  seiner  gewinnenden  europäischen  Formen  eine  fesselnde 
Persönlichkeit,  ein  fertiger  Salonmensch,  seiner  Stellung  dagegen  durch- 
aus nicht  gewachsen.    Er  kenne  hier  weder  Land  noch  Leute." 

Das  Urteil  über  Said  mag  im  allgemeinen  zutreffend  sein.  Der 
Großwesir  hat  sich  eben  überzeugt,  daß  dem  Sultan  mit  patriotischen 
und  energischen  Ratschlägen  nicht  gedient  ist.  Die  Forderung  Said 
Paschas,  Truppen  nach  Ostrumelien  zu  senden,  um  der  Türkei  diese 
Provinz  zu  retten,  kostete  ihm  vor  zehn  Jahren  sein  Amt.  Er  ist  jetzt 
alt  und  will  am  Abend  seines  Lebens  seine  Stellung  auf  diese  Weise 
nicht  wieder  aufs  Spiel  setzen.  Daher  versucht  er  gegenwärtig  nicht, 
dem  Willen  seines  Souveräns  entgegen  zu  sein  und  wartet  seine  Zeit 
ab,  um  vielleicht  später  dem  Lande  ersprießlichere  Dienste  leisten  zu 
können. 

Turkhan  Pascha  ist  etwas  zu  hart  beurteilt.  Als  unerfahrener  neuer 
Minister  befindet  er  sich  zwischen  dem  alten  routinierten  Said,  dem 
er   in   der   amtlichen   Praxis   nicht   entfernt  gewachsen   ist,   und   dem 

60 


Sultan,  der  ihn  bei  dem  bloßen  Versuch  eines  selbständigen  Auftretens 
auf  der  Stelle  seines  Amtes  entsetzen  würde.  Turkhan  ist  daher  durch 
den  Zwang  dieser  Verhältnisse  zum  Schweigen  verurteilt. 

Saurma 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  ! 

2  Das  ist  richtig 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Sehr  intressant  und  richtig  ist  das  hier  skizzirte  Bild  den  Verhältnissen  ent- 
sprechend und  deckt  sich  mit  meinen  Beobachtungen  völlig.  Danach  hat  Lord 
Salisbury  mit  seiner  Idee,  der  jetzigen  Regierung  ein  Ende  zu  machen,  nicht 
unrecht. 

Nr.  2417 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler   Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  118  Therapia,  den  22.  August  18Q5 

Vertraulich 

Die  Meldungen  Rustem  Paschas  über  seine  Unterredungen  mit 
Lord  Salisbury  bezüglich  der  armenischen  Frage  lauten  für  die  Türkei 
nicht  günstig;  der  englische  Premierminister  verlangt  nicht  nur  Ein- 
führung von  Reformen,  sondern  auch  Bürgschaften  für  die  tatsächliche 
Durchführung  derselben.  Die  Einzelheiten  der  einzuführenden  Re- 
formen will  er  einer  Verständigung  der  hiesigen  Vertreter  der  drei 
Mächte  mit  der  Pforte  überlassen,  aber  als  Bürgschaft  besteht  er  auf 
der  Einsetzung  einer  dauernden  Kontrollkommission,  an  welcher  sich 
auch  Delegierte  der  drei  Mächte  zu  beteiligen  haben  werden.  Dieser 
letztere  Punkt  berührt  den  Sultan  und  die  Pforte  am  unangenehmsten, 
weil  türkischerseits  darin  der  Anfang  einer  Stellung  miter  europäische 
Kuratel  erblickt  wird.  Die  Pforte  hat  daher  den  Botschafter  in  London 
angewiesen,  alles  aufzubieten,  um  Lord  Salisbury  zu  bewegen,  die 
Forderung  der  Beteiligung  der  fremden  Delegierten  an  der  Kontroll- 
kommission fallen  zu  lassen.  Nach  den  Berichten  Rustem  Paschas 
scheint  es  indessen,  daß  die  englische  Regierung  entschlossen  ist,  es 
zum  Äußersten  kommen  zu  lassen,  ehe  sie  auf  diese  Bürgschaft  ver- 
zichtet, pp.  Saurma 

Nr.  2418 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 

Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  122  Therapia,  den  28.  August  1895 

Die  Zurückweisung,  welche  Seine  Majestät  der  Sultan  bei  allen 
Kabinetten  der  Großmächte  erfahren  hat,  an  welche  er  sich  wandte, 

61 


um  ihre  Vermittelung  im  Sinne  einer  Beschwichtig-ung  Englands  zu 
erlangen,  scheint  einen  tiefen  Eindruck  auf  Abdul  Hamid  gemacht 
zu  haben,  so  daß  es  aussieht,  als  wolle  er  sich  schließlich  den  von  Eng- 
land, Frankreich  und  Rußland  an  ihn  gestellten  Forderungen  doch  noch 
fügen,  pp. 

Noch  einen  letzten  Versuch  machte  der  Sultan  bei  dem  französi- 
schen und  russischen  Botschafter  durch  einen  Appell  an  das  Vertrauen 
ihrer  Regierungen  zu  den  von  ihm  persönlich  gegebenen  Versprechun- 
gen, worauf  die  Vertreter  in  höflicher  Form  zu  verstehen  gaben,  daß 
diese  Versprechungen  bereits  bei  Gelegenheit  des  Berliner  Kongresses 
gegeben  und  durch  diesen  sogar  vertragsmäßig  sanktioniert  worden 
seien,  die  Erfüllung  derselben  aber  bis  jetzt  —  also  seit  18  Jiilircn  — 
auf  sich  warten  gelassen  habe. 

S  a  u  r  m  a 

Nr.  2419 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

London,  den  30.  August  1895 

Antwort  auf  Telegramm  vom  29.  d.  Mts.*. 

Ich  habe  nicht  den  Eindruck,  daß  hier  schon  jetzt  extreme  Maß- 
regeln beabsichtigt  werden.  Noch  in  letzter  Unterhaltung  sprach  Lord 
Salisbury  davon,  daß  die  Sache  sich  anscheinend  noch  hinziehen  werde. 

Mein  sonst  gut  unterrichteter  französischer  Kollege,  welcher  sorg- 
fältig beobachtet,  glaubt  zwar  an  die  Möglichkeit  scharfer  Maßregeln, 
weil  Lord  Salisbury  einen  Erfolg  in  der  Sache  vor  Wiederzusammentritt 
der  Kammer  im  Februar  kommenden  Jahres  haben  müsse,  nimmt  aber 
ebenfalls  nicht  an,   daß  der  Fall  schon  bald  eintreten  werde. 

Mir  hat  Lord  Salisbury  eben  in  vertraulicher  Unterhaltung  selbst 
gesagt,  daß  er  Verständigung  in  Konstantinopel  noch  keineswegs  für 
ausgeschlossen  halte.  Dies  werde  auch  in  St.  Petersburg  angenommen, 
wo  man  über  Konstantinopel  am  besten  unterrichtet  sei.  Lord  Salis- 
bury fügte  hinzu,  ich  könne  ruhig  mehrwöchentlichen  Urlaub  antreten, 
in  dieser  Zeit  werde  wohl  nichts  Besonderes  vorfallen. 

Er  selbst  geht  übermorgen  auf  mehrere  Wochen  zu  seiner  Familie 
nach  Dieppe. 

Ich  kann  für  uns  keinen  Grund  sehen,  uns  ohne  weiteres  in  die 
armenische  Sache  hineinziehen  zu  lassen,  an  welcher  nicht  beteiligt  zu 
sein,  mir  ein  Vorteil  zu  sein  scheint.  Noch  weniger  Grund  haben  wir, 


*  Durch  Telegramm  Nr.  275  vom  29.  August  war  dem  Grafen  Hatzfeldt  ein  Tele- 
gramm des  Botschafters  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg  (Nr.  193  vom  29.  August) 
mitgeteilt  worden,  in  dem  dieser  meldete,  Graf  Goluchowski  habe  aus  England 
Nachrichten  von  bevorstehenden  „extremen  Maßregeln"  der  englischen  Regie- 
rung gegen  die  Türkei.   Siehe  das  folgende  Schriftstück. 


62 


wie  mir  scheint,  England  in  diesem  Falle  eine  unerbetene  Gefälligkeit 
aufzudrängen.  Nach  meinem  Gefühl  würde  es  sich  aus  diesen  Gründen 
empfehlen,  auf  die  österreichische  Anregung  zu  antworten,  daß  wir 
fortgesetzt  bereit  sind,  auch  unsererseits  in  Konstantinopel  dringend 
zur  Nachgiebigkeit  zu  raten,  daß  wir  es  aber  nicht  für  angezeigt  halten 
können,  an  einer  Kollektivaktion  teilzunehmen,  solange  nicht  ausgemacht 
ist,  daß  nicht  doch  schließlich  eine  Verständigung  zwischen  der  Pforte 
und  den  drei  beteiligten  Mächten  noch  zustande  kommt,  und  sich  auch 
nicht  übersehen  läßt,  ob  unsere  Einmischung  den  letzteren  in  diesem 
Stadium  der  Frage  erwünscht  sein  würde. 

Ich  beabsichtige,  wenn  ich  keine  andere  Weisung  erhalte,  über- 
morgen Urlaub  anzutreten. 

Hatzfeldt 


Nr.  2420 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Werki 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  55  Berlin,  den  30.  August  1895 

Botschafter  Wien  telegraphierte*  gestern; 

„Graf  Goluchowski  hat  Nachrichten  aus  England,  welche  ihn  be- 
fürchten lassen,  daß  die  dortige  Regierung  wegen  des  Mißerfolgs  in 
Armenien  zu  extremen   Maßregeln  getrieben   werden  könnte. 

Einer  Anregung  des  Freiherrn  von  Calice  folgend  hält  er  es  im 
Interesse  Österreichs  gelegen,  die  auf  einen  toten  Punkt  geratene  Aktion 
der  drei  Mächte  wieder  flott  zu  machen.  Die  Erweisung  eines  Dienstes 
an  das  zumeist  beteiligte  England,  welches  hierdurch  vielleicht  von 
weitgehenden,  dem  Dreibund  nicht  gleichgültigen  Entschlüssen  ab- 
gehalten werden  könnte,  zieht  der  Graf  hierbei  in  Betracht.  Das  Mittel 
zur  Erreichung  dieses  Zwecks  scheint  ihm  zu  sein,  daß  einem  von 
den  direkt  interessierten  Mächten  ausgehenden  Vorschlag  auf  Ein- 
setzung einer  europäischen  Kommission  auf  Grund  Artikel  61  des 
Berliner  Vertrags  von  den  übrigen  Mächten  zugestimmt  würde. 

Österreichischer  Botschafter  in  Berlin  wird  dieser  Tage  den  Ge- 
danken übermitteln.    Bericht  unterwegs.'' 

Österreichisch-ungarischer  Geschäftsträger**  hat  heute  bezügliche 
Demarche  gemacht.  Graf  Goluchowski  nimmt,  wie  mir  Baron  Call 
sagt,  an,  daß  die  Aktion  Englands,  Frankreichs  und  Rußlands  in  der 
armenischen  Frage  gescheitert  sei,  und,  wenn  nicht  ein  Ausweg  ge- 
funden, die   Gefahr  vorliege,   daß    England   zu   einer   Aktion   schreite, 


*  Vgl.  Nr.  2419,  Fußnote  *. 

**  G.  Freiherr  von  Call  zu  Rosenburg  und  Kulmbach. 


63 


die  möglicherweise  die  ganze  orientalische  Frage  aufrollen  werde. 
Der  Minister  glaubt,  daß  die  bisher  intervenierenden  drei  Mächte  dem- 
nächst sich  an  die  übrigen  Signatarmächte  mit  dem  Ansinnen  wenden 
würden,  eine  gemeinschaftliche  Kommission  auf  Grund  des  Artikels  61 
des  Berliner  Vertrags  einzusetzen.    Dieser  Artikel  lautet: 

„La  Sublime  Porte  s'engage  ä  realiser,  sans  plus  de  retard,  les 
amcliorations  et  les  reformes  qu'exigent  les  besoins  locaux  dans  les 
provinces  habitees  par  les  Armeniens  et  ä  garantir  leur  securitc  contre 
les  Circassiens  et  les  Kurdes.  Elle  donnera  connaissance  periodique- 
ment  des  mesures  prises  ä  cet  effet  aux  Puissances  qui  en  surveilleront 
Tapplication." 

Graf  Goluchowski  wünscht  eine  Verständigung  unter  den  Drei- 
bundmächten in  dem  Sinne,  daß  diesem  Ansinnen  eventuell  stattgegeben 
werde.  — 

Ich  habe  Baron  Call  erwidert,  daß  ich  die  Befehle  Seiner  Majestät 
und  Ew.  Durchlaucht  einholen  werde.  Als  persönliche  Ansicht  habe  ich 
dargelegt,  daß  entsprechend  unserer  traditionellen  Politik  im  Orient 
und  bei  dem  Mangel  eines  direkten  Interesses  in  der  armenischen  Frage 
wir  unsere  Zurückhaltung  bezüglich  der  letztren  nicht  aufzugeben  ver- 
möchten, und  damit  jede  Initiative  unsererseits,  sei  es  allein  oder  ge- 
meinsam mit  Österreich-Ungarn  und  Italien,  ausgeschlossen  sei;  wenn 
aber  sämtliche  übrigen  Signatarmächte  darüber  einig  seien,  daß  Anlaß 
zur  Anwendung  des  Artikels  61  des  Berliner  Vertrags  vorliege,  und 
wenn  insbesondere  Frankreich,  Rußland  und  England  aus  ihrer  Initiative 
ein  gemeinsames  Ansinnen  in  dieser  Richtung  an  die  übrigen  Kabinette 
stellten,  wir  uns  voraussichtlich  einer  Teilnahme  an  den  Beratungen 
nicht  entziehen  würden  unter  dem  Vorbehalt,  dabei  die  reservierte  Stel- 
lung einzunehmen,  welche  der  Mangel  direkten  Interesses  uns  vor- 
schreibe. 

Abschrift  des  von  Baron  Call  verlesenen  Erlasses  des  Grafen 
Goluchowski  samt  Beilagen  gehen  heute  abend  ab.  Erbitte  seinerzeit 
um   telegraphische  Weisung. 

Marschall 

Nr.  2421 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Werki,  an  den 
Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  14  Werki,  den  1.  September  1895 

Bin  damit  einverstanden,  daß  Euere  Exzellenz  die  als  persönliche 
Ansicht  gegebene  Antwort  an  die  österreichische  Regierung*  nach 
Einholung  des  Befehls  Seiner  Majestät  dem  österreichischen  Geschäfts- 

*  Vgl.  Nr.  2420. 
64 


träger  amtlich  wiederholen  und  den  Grafen  Eulenburg  entsprechend 
instruieren.  Ich  stelle  anheim,  dem  österreichischen  Geschäftsträger 
Kenntnis  vom  Inhalt  des  Telegramms  des  Grafen  Hatzfeldt  *  (wieder- 
gegeben im  Telegramm  an  mich  Nr.  56)  zu  geben,  aus  welchem 
hervorgeht,  daß  die  Befürchtungen  des  Grafen  Goluchowski  derzeit 
noch  zu  weit  gehen. 

C.  Hohen  lohe 

Nr.  2422 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  125  Therapia,  den  3.  September  1895 

Meine  Kollegen  von  Frankreich  und  England  teilten  mir  gestern 
mit,  daß  der  Sultan  vor  einigen  Tagen  den  Minister  der  Auswärtigen 
Angelegenheiten  zu  ihnen  sowie  Herrn  von  Nelidow  gesandt  hatte, 
um  ihnen  zu  eröffnen,  daß  er  sich  entschlossen  habe,  die  Aufsichts- 
kommission —  so  wie  dieselbe  durch  das  ursprüngliche  Memorandum 
der  drei  Mächte  vorgeschlagen  war  —  anzunehmen. 

Wenn  er  sich  anfangs  gesträubt  habe,  die  Dolmetscher  der  Bot- 
schaften der  Großmächte  zu  den  Verhandlungen  mit  der  Kommission 
zuzulassen,  so  sei  er  jetzt  gewillt,  diesen  Widerstand  aufzugeben  und 
sich  den  Wünschen  der  Mächte  in  dieser  Beziehung  zu  fügen,  pp. 

Die  Botschafter  haben  jene  Erklärung  des  Sultans  ihren  Regierun- 
gen mitgeteilt. 

Es  wird  sich  also  fragen,  ob  letztere  sich  jetzt  damit  begnügen 
werden.  Jedenfalls  äußerte  sich  Sir  Philip  Currie  mir  gegenüber  dahin, 
daß  der  Sultan  mit  seinen  nachträglichen  Zugeständnissen  vielleicht 
schon  zu  spät  käme.  pp. 

Saurma 

Nr.  2423 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  132  Therapia,  den  18.  September  1895 

Noch  ist  eine  definitive  Rückäußerung  der  drei  Aktionsmächte 
auf  die  jüngsten  Anerbietungen  der  Pforte  in  der  armenischen  An- 
gelegenheit nicht  erfolgt. 

Dagegen  hat  die  türkische  Botschaft  in  London  der  Pforte  gestern 

*  Siehe  Nr.  2419. 

5    Die  Große  Politik.   Bd.  10.  65 


Meldung  von  einer  Erklärung  gemacht,  welche  Lord  Salisbury  von 
Dieppe  aus  an  das  Foreign  Olfice  mit  der  Bestimmung  gericiitet  habe, 
dieselbe  der  türkischen  Vertretung  gegenüber  als  den  Ausdruck  des 
von  der  englischen  Regierung  in  der  armenischen  Sache  gegenwärtig 
eingenommenen  Standpunktes   mitzuteilen. 

Diese  vom  Foreign  Office  an  Rüstern  Pascha  in  Form  eines  Aide- 
memoire  übergebene  Äußerung  des  englischen  Premiers  laute  wie 
folgt: 

„Lord  Salisbury  desire  arriver  ä  une  conclusion  de  l'affaire 

armenienne,  mais  il  faut  que  le  Sultan  donne  des  garanties  pour 

la  securite  de  la  vie  et  des   bicns  des  populations  dans  les  six 

provinces  en  question. 

Pour  atteindre  ce  but  deux  methodes  se  presentent* 

1^,  adopter  les   reformes  proposees  par  les  trois  Puissances 

dans  le  memorandum, 

2°,    laisser   Tadministration    musulmane    actuelle    et    instituer 

dans  les  provinces  en  question  une  commission  internationale  qui 

aurait  ä  signaler  aux  Ambassades  les  abus  qui  s'y  commettent."  — 

Als  Erwiderung  hierauf  hat  Turkhan  Pascha  Rüstern  angewiesen 
zu  erklären,  daß  die  Pforte  unter  keinen  Umständen  die  von  Lord 
Salisbury  ins  Auge  gefaßte  internationale  Kommission  annehmen  könne. 

Die  dem  türkischen  Botschafter  gegebene  Instruktion  versucht 
dabei  den  Nachweis,  daß  die  Pforte  durch  die  schließlich  zugestandenen 
sechs  Punkte  allen  denjenigen  Forderungen  gerecht  geworden  sei, 
welche  von  den  drei  Mächten  in  ihrem  ersten  Memorandum  aufgestellt 
worden. 

Betrachtet  man  den  Verlauf  der  schwebenden  Frage  etwas  näher, 
so  dürfte  man  fast  zu  dem  Glauben  geführt  werden,  daß  die  von  Lord 
Salisbury  aufgesteUte  Alternative  —  Annahme  des  ursprünglichen 
Memorandums  der  drei  Mächte  oder  internationale  Kommission  in 
den  armenischen  Provinzen  —  darauf  berechnet  ist,  die  Pforte 
zur  bedingungslosen  Annahme  der  ersteren  „Methode"  zu  bewegen. 
Es  ist  klar,  daß  der  Sultan  sich  eher  zu  allem  anderen  bereit  finden 
lassen  wird  als  zur  Einsetzung  dieses  sein  Ansehen  in  Kleinasien  ver- 
nichtenden fremden  Tribunals. 

Saurma 

Nr.  2424 

Der  Botschafter   in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  75  Therapia,  den  30.  September  18Q5 

Heute  vormittag  haben  Armenier  vor  der  Pforte  und  anderen  öffent- 
lichen Gebäuden  in  Stambul  demonstriert,  wobei  es  zu  blutigen  Zu- 

«6 


sammenstößen  mit  der  Polizei  kam.  In  diesem  Augenblick  ist  Stambul 
in  großer  Erregung.  Zahlreiche  MoIIahs  in  den  Straßen  versammelt. 
Militär  wurde  nicht  bemerkt.  Augenzeugen  waren  die  bei  mir  weilenden 
Gäste  Prinz  Holstein*  und  Graf  Saurma. 

Saurma 

Nr.  2425 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  136  Therapia,  den  4.  Oktober  1895 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  in  der  Anlage  den  Wortlaut 
der  Erklärung**  gehorsamst  vorzulegen,  welche  die  Dragomans  der 
Botschaften  namens  der  letzteren  gestern  der  Pforte  gemacht  haben, 
um  der  barbarischen  Metzelei  Einhalt  zu  tun,  welche  von  der  musel- 
manischen Bevölkerung  Stambuls  gegen  die  Armenier  daselbst  in  den 
letzten   Tagen  verübt   wurde***. 

In  der  bezüglichen  Botschafterkonferenz  vermochte  ich  dieser  Er- 
klärung eine  Fassung  zu  verschaffen,  deren  Inhalt  sich  mit  meinen  früher 
erhaltenen  Weisungen  deckte  und  mich  daher  in  die  Lage  setzte,  ohne 
besondere  Instruktionseinholung  an  dem  fraglichen  Schritt  teilzunehmen. 

Es  erschien  in  der  Tat  hohe  Zeit,  die  Pforte  energisch  auf  die 
Gefahren  aufmerksam  zu  machen  i,  welche  sich  aus  der  ungehinderten 
Beteiligung  der  fanatischen  Volksmasse  an  der  gewaltsamen  Unter- 
drückung der  armenischen  Demonstration  für  die  allgemeine  Sicherheit 
der  Fremden  in   Konstantinopel  ergeben  konnten. 

Die  Verfolgung  und  Massakrierung  der  ursprünglich  an  der  un- 
sinnigen Demonstration  beteiligten  Armenier  war  nach  und  nach  in 
eine  systematische  Hetze  gegen  letztere  überhaupt  übergegangen.  Die- 
selben wurden  in  ihren  eigenen  Behausungen  von  den  Türken  überfallen 
und  niedergemacht.  Die  Blutgier  des  Pöbels  war  auf  diese  Weise 
geweckt  worden  und  konnte  jeden  Augenblick  in  außerarmenischen 
Kreisen  ihre  Befriedigung  suchen. 

Der  gedachte  Schritt  der  Botschafter,  welcher  von  Sir  Philip  Currie 
angeregt  worden  war,  scheint  denn  auch  seine  Wirkung  nicht  verfehlt 
zu  haben.  Die  türkische  Regierung  kam  endlich  zur  Besinnung  und 
erkannte  das  Unheil,  welches  durch  ihr  apathisches  laisser  faire  ent- 
stehen konnte. 

Der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  gab  den  Dragomans 
die    bündigsten    Erklärungen,    daß    den    Warnungen    der    Botschafter 

*  Prinz  Albert  zu  Schleswig-Holstein. 

**  Der  Wortlaut  der  Erklärung  ist  abgedruckt  in:  Das  Staatsarchiv  Bd.  58,  Nr.  10  982, 

Beilage  III. 

***  Vgl.  Nr.  2424. 

5«  67 


werde  Rechnung  getragen  und  sofort  alle  Maßregeln  getroffen  werden, 
um  Ruhe,  Ordnung  und  allgemeine  Sicherheit  zu  gewährleisten.  In 
der  Tat  wurden  noch  an  demselben  Tage  Truppen  nach  Stambul  be- 
ordert, welche  weitere  Ausschreitungen  verhinderten. 

Die  Abgelegenheit  Stambuls  von  den  europäischen  Teilen  der  Stadt, 
sowie  die  Verschwiegenheit  der  türkischen  Behörden  lassen  einstweilen 
noch  kein  genügendes  Licht  auf  die  Einzelheiten  der  beklagenswerten 
Ereignisse  fallen.  Indessen  erhellt  schon  jetzt  mit  genügender  Sicherheit 

1.  daß  die  Zahl  der  Opfer  an  Menschen  beträchtlich  höher  ist,  als 
ursprünglich   angenommen   wurde; 

2.  daß  die  türkischen  Behörden  selbst  die  Verantwortung  für  die 
blutigen  Ausschreitungen  der  muselmanischen  Bevölkerung  Stambuls 
tragen,  indem  dieselben,  von  der  beabsichtigten  armenischen  Demon- 
stration unterrichtet,  statt  sie  durch  Truppen  auf  die  einfachste  Weise 
zu  verhindern,  sie  Zustandekommen  ließen  und  die  von  der  Polizei  im 
geheimen  mit  Waffen,  insbesondere  dicken  Knütteln  versehene  Volks- 
menge dazu  anregten,  über  den  Zug  herzufallen  und  ihn  zu  zersprengen. 

S  a  u  r  m  a 

Randbemerkung   Kaiser  Wilhelms   II.: 

1  Also  das  ist  schon  geschehn  wozu  Goluchowski  gerathen* 


Nr.  2426 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  138  Therapia,  den  4.  Oktober  1895 

Vertraulich 

Mein  russischer  Kollege  klagte  in  einer  mit  mir  vorgestern  ge- 
pflogenen vertraulichen  Unterredung  über  die  Langsamkeit,  mit  welcher 
die  Interv'entionsregierungen  die  Fortführung  der  armenischen  An- 
gelegenheit gegenwärtig  betrieben. 

Lord  Salisbury  habe,  nachdem  die  russische  Regierung  die  zuletzt 
von  der  Pforte  zugestandenen  sechs  Punkte  als  eine  ausreichende 
Basis  einer  Verständigung  bezeichnet,  nach  längerem  Zögern  den  Vor- 
schlag gemacht,  die  drei  Botschafter  in  Konstantinopel  möchten  sich 
über  die  Fassung  einer  der  Pforte  zu  erteilenden  Antwort  einigen, 
welche  die  gemachten  Zugeständnisse  akzeptiere,  denselben  aber  noch 
einige  Punkte  —  u.  a.  die  Beigabe  eines  europäischen  Beirats  für 
den  Generalkommissar  Schakir  Pascha  —  hinzugefügt  zu  wissen 
wünschte.  Er,  Nelidow,  und  Herr  Cambon  hätten  sich  mit  Sir  Philip 
Currie   dieserhalb   verständigt    und   vorige   Woche    Tag    und   Stunde 

•  Vgl.  Nr.  2420. 
68 


festgesetzt,  diese  der  Pforte  zu  gebende  Antwort  in  obigem  Sinne  zu 
formulieren,  als  bei  dieser  Zusammenkunft  iiir  englisclier  Kollege  plötz- 
lich —  ohne  sich  klar  und  deutlich  auszusprechen  —  erklärte,  „die 
Sachlage  habe  sich  für  ihn  infolge  eines  erhaltenen  ,wenn  auch  nicht 
geradezu  amtlichen*  Telegramms  geändert,  und  er  sei  infolgedessen  nicht 
mehr  in  der  Lage,  ohne  weiteres  seinen  früheren  Instruktionen  gemäß 
bei  dem  obenerwähnten  gemeinsamen  Antwortsentwurf  mitzuwirken"!. 

Weder  er  noch  Herr  Canibon  wüßten,  worum  es  sich  eigentlich 
hierbei  handele,  bedauerten  aber  den  dadurch  herbeigeführten  Auf- 
schub um  so  mehr,  als  ihrer  Meinung  nach  die  endliche  Herbeiführung 
eines  Abschlusses  der  armenischen  Angelegenheit  äußerst  erwünscht 
erscheine  2. 

Vorgänge  wie  diejenigen,  welche  sich  jüngst  in  Stambul  abspielten, 
würden  vielleicht  vermieden  worden  sein,  wenn  die  Armenier  endlich 
sichtbare  Resultate  von  der  zu  ihren  Gunsten  eingetretenen  Intervention 
der  Mächte  erblickt  hätten.  Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  [■? 

2  Aber  vielleicht  nicht  für  England? 

Nr.  2427 

Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  Fürsten  von  Hohenlohe 

Eigenhändig 

Berlin,  den  6.  Oktober  18Q5 
Der  türkische  Botschafter  kam  heute  zu  mir,  um  mir  zu  sagen, 
seme  Regierung  habe  einen  die  armenische  Frage  betreffenden  Vor- 
schlag an  die  drei  beteiligten  Mächte  gerichtet,  der  sich  wenig  von 
dem  englischen  Vorschlag*  unterscheide,  und  von  dem  er  hoffe,  daß 
er  von  den  Mächten  angenommen  werde.  Er  bittet  im  Auftrag  seines 
Souveräns,  diesen  Vorschlag  bei  der  englischen  Regierung  zu  befür- 
worten. Ich  habe  ihm  gesagt,  sobald  ich  Kenntnis  von  dem  Wortlaut 
des  Vorschlags  erhielte,  würde  ich  die  Befehle  Seiner  Majestät  einholen. 

C.  Hohenlohe 

Nr.  2428 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  141  Therapia,  den  6.  Oktober  1895 

Den  Botschaftern  von  England  und  Frankreich  sind  angeblich 
sichere  Nachrichten  zugegangen,  daß  demnächst  eine  neue  und  stärkere 

♦  Vgl.  Nr.  2426. 

69 


Demonstration  von  den  hiesigen  Armeniern  werde  in  Szene  gesetzt 
werden  als  diejenige,  welche  am  30.  v.  Mts.  in  Stambul  stattfand.  Die 
genannten  Botschafter,  mitcrstützt  von  Herrn  von  Nelidow,  baten 
uns  andere  Botschafter,  gemeinsam  mit  ihnen  die  hiesige  Regierung 
nochmals  und  in  noch  eindringlicherer  Form  auf  die  Gefahren  auf- 
merksam zu  machen,  welche  mit  Sicherheit  zu  erwarten  seien,  wenn 
die  Pforte  nicht  schleunigst  energische  Vorkehrungen  treffe,  um  die 
Wiederkehr  von  Ereignissen  wie  die  jüngst  stattgehabten  zu  verhüten. 

Es  wurde  eine  Verbalnote  vereinbart,  welche  heute  durch  den 
Dragoman  der  österreichisch-ungarischen  Botschaft  (Baron  Calice  ist 
Doyen  des  diplomatischen  Korps)  im  Beisein  der  übrigen  Dragomans 
dem  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten*  übergeben  werden  soll. 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  die  Note  abschriftlich  ge- 
horsamst zu  überreichen**. 

Da  es  sich  hierbei  nicht  um  Teilnahme  an  Schritten,  betreffend  die 
armenische  Frage  als  solche,  sondern  lediglich  um  Maßnahmen  handelt, 
welche  die  öffentliche  Ruhe  und  die  Sicherheit  der  in  Konstantinopel 
vorhandenen  Kolonien  betreffen,  so  hielt  ich  es  für  angezeigt,  mich 
analog  dem  Verhalten  des  österreichisch-ungarischen  und  italienischen 
Vertreters  von  dem  englischen  Schritt  nicht  auszuschließen  i,  obgleich 
ich  augenblicklich  die  Lage  der  Dinge  nicht  so  ernst  ansehe,  wie  dies 
von   meinen   Kollegen   geschieht. 

Die  hiesige  Regierung  hat  durch  den  Großwesir  die  bündigsten 
Versicherungen  gegeben,  daß  sie  für  die  Aufrechterhaltung  der  Ord- 
nung in  Konstantinopel  Bürgschaft  leiste,  und  es  liegt  zurzeit  keine 
Veranlassung  vor,  anzunehmen,  daß  sie  ihrem  Versprechen  nicht  nach- 
kommen wolle  oder  könne. 

Wohl  werden  hier  und  da  anderweitige  armenische  Putsche  von 
dem  armenischen  Revolutionskomitee  angestiftet  werden.  Es  liegt  dies 
aber  in  seinem  Programm.  Die  türkische  Regierung  dürfte  aber  sehr 
wohl  imstande  sein,  Herr  derselben  durch  die  Truppen  zu  werden, 
welche  jetzt  Stambul  okkupieren,  ohne  die  Bevölkerung,  wie  dies 
jüngst  geschah,  an  der  Bekämpfung  der  fraglichen  Demonstrationen 
teilnehmen  zu  lassen. 

Die  große  Masse  der  hiesigen  einheimischen  Armenier  steht  der 
Bewegung  fern. 

Nur  ein  Teil  derselben,  welcher  von  dem  Revolutionskomitee 
terrorisiert  wird  und  Waffen  und  Geld  dafür  erhält,  beteiligt  sich  an 
den  Demonstrationen. 

Auf  diese  Weise  ist  aber  leider  eine  allgemeine  Panik  entstanden, 
welche  von  dem  Komitee  in  geschickter  Weise  ausgenutzt  wird,  um 
die  Aufregung  wachzuhalten   und  neue   Exzesse  heraufzubeschwören. 


*  Said  Pascha  im  neuen  Kabinett  Kiamil  (seit  4.  Oktober). 
**  Siehe  den  Text  in:  Das  Staatsarchiv  Bd.  58,  Nr.  10  985. 

70 


So  haben  sich  Hunderte  von  armenischen  Familien  in  die  armeni- 
schen Kirchen  geflüchtet  und  können  trotz  aller  gütlicher  Zureden 
der  Behörden  nicht  bewogen  werden,  dieselben  zu  verlassen.  Ebenso 
sind  die  armenischen  Kaufläden  unter  dem  Druck  der  Drohungen  der 
Agitatoren  geschlossen. 

Die  Lage  der  Dinge  ist  zurzeit  eine  gespannte.  Es  ist  aber  zu 
hoffen,  daß  infolge  der  der  Pforte  von  uns  gemachten  ernsten  Vor- 
stellungen die  Regierung  jetzt  in  einer  Weise  vorgehen  wird,  um  den 
religiösen  Fanatismus  der  Moslems  gehörig  niederzuhalten. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Ja 

Nr.  2429 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 

an  Kaiser  Wilhelm  H.,  z.  Z.  in  Hubertusstock 

Telegramm.  Entzifferung 

Berlin,  den  9.  Oktober  1895 
Euerer  Majestät  Geschäftsträger  in  Wien  telegraphiert  von  heute: 
„Ich  fand  den  Grafen  Goluchowski  soeben  sehr  verstimmt  über 
die  heute  aus  Trapezunt  eingegangenen  Nachrichten*,  die  er  sehr 
ernst  beurteilt.  Er  erklärte  mir,  er  sei  bisher  an  der  armenischen 
Frage  nicht  beteiligt  gewesen,  nunmehr  finge  dieselbe  aber  an,  eine 
Wendung  zu  nehmen,  die  alle  Großmächte  gleichmäßig  angehen  i, 
teils  wegen  der  Gefährdung  ihrer  Angehörigen,  teils  wegen  der  Ver- 
wickelungen, die  daraus  hervorgehen  könnten.  Der  Minister  hat  bei 
den  Großmächten  anfragen  lassen,  was  sie  zu  tun  beabsichtigen,  und 
wünscht  gemeinsame  und  energische  Vorstellungen  bei  der  Pforte 
mit  dem  Hinweis,  daß  man  die  Türkei  verantwortlich  machen  werde 
für  fernere  Metzeleien  2.  Der  Graf  befürchtet  die  Möglichkeit  poli- 
tischer Verwickelungen,  falls  es  nicht  gelingen  sollte,  weiteren  Unruhen 
vorzubeugen  3, 

Freiherr  von  Calice  ist  angewiesen  worden,  sich  mit  seinen  Kollegen 
über  die  nötigen  Schritte  zu  einigen."  Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
Ma 
falls  die  Dardanellen  damit  in  Anregung  kommen 

2  wird  dem  Sultan  wenig  imponiren,  der  so  schon  vor  Angst  nicht  weiß  was  er 
soll 

3  ist  der  muselmännische   Fanatismus  erst  mal  im  Gang  kann   man  das  nicht 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Aber  der  Urgrund  zu  all  dem  Unheil  ist  lediglich  in  England  mit  der  ver- 
wünschten Campagne  Westminsters,  Argylls  und  Gladstones  zu  gunsten  der 
Armenier  zu  suchen.    Deren  Blut  liegt  auf  Englands  Haupt 


*  Am  8.  Oktober  hatten  neue  Armeniermassakers  in  Trapezunt  stattgefunden. 

71 


Nr.  2430 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 

an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  von  Pourtales 

Mr.  55  Berlin,  den  10.  Oktober  1895 

Ew.  pp.  Meldungen  über  die  Unruhen  in  Trapezunt  habe  ich  er- 
halten. 

Ich  ersuche  Ew.  pp.,  der  türkischen  Regierung  zu  verstehen  zu 
geben,  daß  wir  nicht  umhin  können,  die  Pforte  für  diese  und  etwaige 
weitere  Vorgänge  ähnlicher  Art  verantwortlich  zu  machen,  wenn  die- 
selbe sich  nicht  endlich  entschließt,  energische  Maßregeln  zu  treffen, 
um  der  Wiederkehr  solcher  Ausschreitungen  vorzubeugen. 

Ew.  pp.  wollen  dabei  dem  Sultan  und  der  Pforte  keinen  Zweifel 
darüber  lassen,  daß  uns  jede  Möglichkeit  einer  Unterstützung  der 
Türkei  genommen  werden  würde,  wenn  dieselbe  sich  der  Erfüllung 
ihrer  staatlichen  und  vertragsmäßigen  Verpflichtungen  entzieht. 

Marschall 


Nr.  2431 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  238  Wien,  den  10.  Oktober  1895 

Meine  Eindrücke  über  die  Haltung,  welche  die  österreichisch- 
ungarische Regierung  nunmehr  gegenüber  den  armenischen  Wirren 
einzunehmen  beabsichtigt,  lassen  sich  mit  Bestimmtheit  dahin  zu- 
sammenfassen, daß  Graf  Goluchowski  zur  prophylaktischen  Offensive 
überzugehen  im  Begriff  ist.  Der  Minister  des  Äußern  will  auf  diplo- 
matischem Wege  einerseits  zu  verhindern  suchen,  daß  die  Angelegen- 
heit durch  Angriffe  auf  Europäer  oder  andere  weitere  Bluttaten  einen 
unberechenbaren  Umfang  annimmt,  andererseits  aber  England, 
Frankreich  und  Rußland  gegenüber  nicht  in  die  Hinter- 
hand kommen.  Daß  er  hierbei  auf  unsere  Unterstützung  rechnet, 
ist  ebenso  gewiß,  als  daß  eine  ausweichende  Antwort  aus  Berlin 
in  diesem  Augenblick  ihn  besonders  reizen  und  ärgern  würde.  Er 
setzte  in  ziemlicher  Erregtheit  auseinander,  daß  trotz  aller  Unbeteiligt- 
heit in  orientalibus  eine  Macht  wie  Deutschland  doch  nicht  passiv 
bleiben  könne  angesichts  von  Ereignissen,  durch  die  eine  Bedrohung 
der  Reichsangehörigen  jeden  Augenblick  zu  gewärtigen  wäre;  eine 
intime  Verständigung  mit  der  Kaiserlichen  Regierung  erscheine  ihm 
daher  besonders  notwendig. 

72 


Indem  ich  hervorhob,  daß  wir  uns  wohl  an  den  von  ihm  geplanten 
Schritten  beteiligen  würden,  vorausgesetzt,  daß  alle  anderen  Groß- 
mächte sich  auch  anschließen,  suchte  ich  den  Grafen  in  dem  Wunsche 
zu  bestärken,  sich  namentlich  mit  dem  am  meisten  interessierten 
Staatsmanne,  mit  Lord  Salisbury,  ins  Einvernehmen  zu  setzen,  über 
dessen  ihm  bisher  gezeigte  Zurückhaltung  der  Nachfolger  des  Grafen 
Kälnoky  sich,  wie  gemeldet,  heftig  beklagte. 

C.  M.  Lichnowsky 


Nr.  2432 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Geschäftsträger  in  Wien  Prinzen  von  Lichnowsky 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  von  Pourtales 

Nr.  765  Berlin,  den  12.  Oktober  1895 

Bericht  Nr.  238  vom  10.  d.  Mts.*  erhalten.  Falls  Graf  Goluchowski 
Ew.  pp,  gegenüber  wiederum  auf  die  armenischen  Wirren  zu  sprechen 
kommt,  wollen  Ew.  pp.  darauf  hinweisen,  daß  die  Pforte  deutscher- 
seits bereits  in  ernster  Weise  ermahnt  worden  ist,  energische  Maß- 
regeln zu  treffen,  um  der  weiteren  Ausbreitung  von  Unruhen,  durch 
welche  die  Sicherheit  der  Europäer  gefährdet  wird,  vorzubeugen**. 

Denjenigen  gemeinsamen  Schritten,  welche  die  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel zur  Erreichung  dieses  Zweckes  getan  hätten,  hätte  sich 
daher  auch  der  Kaiserliche  Botschafter  angeschlossen. 

Ich  bitte  aber,  dem  österreichischen  Minister  keinen  Zweifel  dar- 
über zu  lassen,  daß  wir  nicht  gesonnen  sind,  uns  über  diese  Grenze 
hinaus  in  eine  Aktion  für  die  armenische  Frage  zu  engagieren. 

Marschall 


Nr.  2433 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  146  Therapia,  den  12.  Oktober  1895 

Als  mich  gestern  der  Auswärtige  Minister  in  Therapia  besuchte, 
benutzte  ich  diese  Gelegenheit,  um  mich  des  hohen  Auftrages  Euerer 
Durchlaucht***  zu  entledigen  und  ihm  in  sehr  ernster  Weise  zu  erklären, 

*  Siehe  Nr.  2431. 
♦*  Vgl.  Nr.  2430. 
***  Vgl.  Nr.  2430. 

73 


daß  die  Kaiserliche  Regierung  sich  außerstande  sehen  würde,  in  Zukunft 
der  Pforte  ihre  Unterstützung  zu  leihen,  wenn  dieselbe  Vorgänge 
duldete,  wie  sie  jüngst  in  Trapezunt  stattgefunden  hätten.  Gleich- 
zeitig bat  ich,  diese  Eröffnung  zur  Kenntnis  Seiner  Majestät  des 
Sultans  zu  bringen. 

Said  Pascha  sprach  sein  Bedauern  über  jene  Vorkommnisse  aus, 
bemerkte  jedoch  zu  deren  teilweiser  Entschuldigung,  daß  die  Armenier 
in  Trapezunt  genau  in  derselben  Weise  die  Exzesse  provoziert  hätten, 
wie  dies  in  Konstantinopel  der  Fall  gewesen  wäre.  Überhaupt  sei 
die  Bewegung  von  Trapezunt  aus  der  von  Konstantinopel  hervor- 
gegangen. Die  dortigen  Armenier  hätten  mit  Rücksicht  auf  die  Be- 
wegung in  der  Hauptstadt  geglaubt,  daß  ein  neues  Blutvergießen  in 
der  Provinz  die  armenische  Sache  nur  fördern  würde.  Es  seien  daher, 
um  die  Erregung  des  muselmanischen  Volkes  hervorzurufen,  von  den 
Armeniern  in  Trapezunt  Mordattentate  sowohl  gegen  den  Gouverneur 
der  Provinz  als  den  Kommandanten  der  Truppen  gemacht  worden. 
Beide   seien   durch   Schüsse   verwundet. 

Übrigens  sei  nach  den  bisherigen  amtlichen  Nachrichten  die  Zahl 
der  Opfer  nicht  so  groß,  als  es  ursprünglich  hieß.  Auf  armenischer 
Seite  seien  etwa  25  und  auf  muselmanischer  10  Menschen  gefallen*. 

Ungeachtet  dessen  erkenne  er  an,  daß  eine  Wiederholung  der- 
artiger Exzesse  nicht  mehr  vorkommen  dürfe,  und  er  werde  dafür 
Sorge  tragen,  daß  sofort  mehr  als  1000  Mann  Militär  nach  Trapezunt 
befördert  werden,  um  die  dortigen  mit  der  Aufrechterhaltung  der 
Ordnung  betrauten  Truppen  wirksam  zu  unterstützen.  Nötigenfalls 
werde  der  Belagerungszustand  daselbst  erklärt  werden,  um  etwaigen 
weiteren  Ausschreitungen  energisch  vorzubeugen. 

Saurma 


Nr.  2434 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  87  Therapia,  den  18.  Oktober  1895 

Wie  der  Großwesir  mitteilt,  hat  der  Sultan  die  zwischen  den  drei 
Botschaftern  und  der  Pforte  vereinbarten  Reformen  bezüglich  Armeniens 
mittelst  Iradee  gestern,  Donnerstag,  genehmigt**. 

Saurma 


*  Fußnote  Saurmas:  Daß  diese  offiziellen  Angaben  hinter    der  Wahrheit  zurück- 
bleiben, ist  selbstverständlich.    (Vgl.  Nr.  2444,  Anlage.) 
**  Vgl.  Nr.  2438  nebst  Fußnote  *. 

74 


Nr.  2435 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr,  88  Therapia,  den  19.  Oktober  1895 

Die  Unzufriedenheit  unter  der  hiesigen  mohammedanisclien  Be- 
völkerung mit  der  vom  Sultan  geübten  Regierung  ist  heute  ungleich 
größer,  als  sie  es  zur  Zeit  vor  der  Absetzung  Abdul  Asis  war,  und 
durchdringt  diesmal  gleichmäßig  alle  Schichten  des  Volkes,  Militär, 
Geistlichkeit,  Beamte  bis  hinab  zum  Arbeiter  und  Lastträger. 

Mein  ganz  vertraulicher  Bericht  Nr.  117  vom  22.  August  d.  Js.* 
gibt  bereits   ein   annäherndes   Bild  dieses  Zustandes. 

Jedermann  will  die  Beseitigung  Abdul  Hamids.  Nur  weiß  niemand 
„wie?".  Die  nächste  Gefahr  dürfte  Seiner  Majestät  von  seiner  nächsten 
Umgebung  im  Palais  drohen  i. 

Vorstehende  Beurteilung  der  Lage  ist  auch  diejenige  meiner 
Kollegen. 

In  betreff  der  Vorgänge  von  Trapezunt,  so  hat  die  Pforte  in  der 
Folge  der  Warnungen  der  Kaiserlichen  Regierung  sofort  die  erforder- 
lichen Maßnahmen  getroffen  und  die  Ordnung  durch  entsprechendes 
Truppenaufgebot  daselbst  wiederhergestellt,  pp. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  IL: 
1  Und  von  England 

Nr.  2436 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  392  SL  Petersburg,  den  19.  Oktober  1895 

Fürst  Lobanow  brachte  während  meines  ersten  Besuches  bei  ihm 
die  Sprache  auf  die  armenischen  Unruhen  und  die  letzten  Vorgänge 
in  Konstantinopel  und  meinte  ganz  unumwunden,  daß  dieselben  auf 
englische  Intrigen  zurückzuführen  seiend.  Seiner  Ansicht  nach  seien 
diese  Ereignisse  deshalb  bedenklich,  weil  sie  ihm  als  der  Anfang  des 
Endes  des  Türkischen  Reiches  erscheinen.  Er  halte  es  für  seine  Auf- 
gabe und  für  die  Aufgabe  aller  konservativen  Mächte,  alles  zu  tun, 
um  nach  Möglichkeit  die  Beschleunigung  des  Endes  des  Türkischen 
Reichs  zu  hindern,  das  die  Engländer  provozieren  zu  wollen  scheinen. 


*  Siehe  Nr.  2416. 

75 


Er  sei  von  Anfang  an  dagegen  gewesen,  die  Durchführung  großer  Re- 
formen so  direkt  in  die  Hand  zu  nehmen.  Dies  müsse  der  Sultan 
allein  tun.  Die  Mächte  hätten  nur  zu  verlangen,  daß  die  christlichen 
Völker  der  Türkei  gerecht  und  gut  regiert  und  behandelt  würden. 
Wie  dies  zu  machen  sei,  wäre  Sache  der  dortigen  Regierung,  und  sie 
allein  treffe  die  Verantwortung.  Die  autonomen  Bestrebungen  der 
einzelnen  christlichen  Völkerschaften  direkt  zu  unterstützen  und  wo- 
möglich durchzudrücken,  sei  synonym  mit  der  Dekomposition  des  Türki- 
schen Reichs,  da  die  muselmanischen  Elemente  im  ganzen  schwächer 
sind  als  die  christlichen,  namentlich  wenn  diese  eine  große  Selbständig- 
keit erlangen.  Schließlich,  sagte  er,  sei  es  besser,  die  Türkei  zu  er- 
halten, als  den  unvermeidlichen  Kampf  über  die  Erbschaften  derselben 
auflodern  zu  sehen. 

Radolin 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Ja 

Nr.  2437 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  München,  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  40  München,  den  21.  Oktober  1895 

Ich  habe  gestern  abend  nachstehendes  Telegramm  von  Seiner 
Majestät  erhalten: 

„In  seinem  Telegramm  Nr.  88  aus  Stambul*  schildert  Freiherr 
von  Saurma  die  Unzufriedenheit  des  türkischen  Volkes  mit  Abdul  Hamid 
und  die  für  dessen  Person  daraus  erwachsende  Gefahr.  Die  Schilderung 
ist  vollkommen  richtig,  die  Situation  aber  weder  neu  noch  überraschend; 
sie  ist  nur  in  ein  akutes  Stadium  getreten.  Die  schon  seit  langer  Zeit 
aus  allen  Teilen  des  Orients  als  im  Wachsen  begriffen  gemeldete 
moslemitische  Bewegung  ist  es,  welche  sich  hier  zum  erstenmal  in 
blutiger  Weise  fühlbar  gemacht  hat.  Der  Mahdi  war  seinerzeit  ein 
Symptom  derselben.  Die  stete  Repression  der  Mohammedaner  in 
Afrika  durch  die  Christen  an  allen  Orten  und  der  Kampf  gegen  die 
Sklaverei  hat  den  Haß  des  Mohammedaners  gegen  den  Christen  nur 
noch  mehr  geschürt.  Der  Mohammedaner  braucht  nach  seinen  religiösen 
Sitten  die  Sklaverei,  sie  ist  gewissermaßen  integrierender  Teil  seines 
Familienlebens.  Die  Steigerung  der  Schwierigkeiten,  Sklaven  zu  er- 
halten, oder  gar  die  Unmöglichkeit,  welche  zu  erwerben,  muß  der 
Mohammedanismus  als  einen  Akt  der  Feindseligkeit  gegen  seine 
fundamentale  Institution  (den  Koran)  ansehen,  er  wird  daher  über  kurz 

♦  Siehe  Nr.  2435. 
76 


oder  lang  um  denselben  kämpfen.  Gepredigt  ist  schon  lange  aus  Mekka 
worden.  Eine  allgemeine  Erhebung  gegen  die  Christen  und  die  Aus- 
brüche des  Fanatismus  am  selbigen  Ort,  die  einzelnen  Konsuln  das 
Leben  gekostet,  waren  symptomatische  Erscheinungen  für  die  Gärung 
in  den  moslemitischen  Gemütern.  Politisch  ist  diese  fürchterliche  Gefahr 
von  England  sehr  geschickt  ausgenutzt  worden.  Der  Sultan,  bekannt- 
lich in  stetiger  Angst  vor  dem  der  Verheißung  nach  aus  Afrika  zu 
erwartenden  mohammedanischen  Messias,  ist  durch  Aufwerfen  der 
armenischen  Frage  in  tödliche  Verlegenheit  gesetzt  worden.  Vor  den 
Augen  seiner  strenggläubigen  Untertanen  ist  er  durch  Genehmigung 
der  armenischen  Reformpläne*  herabgesunken,  weil  sich  der  Giaur 
Einfluß  auf  die  Regierung  gesichert  hat,  es  droht  daher  dem  Padischah 
unstreitig  Gefahr  für  seine  Person  und  für  Konstantinopel.  England 
hat  Angst  vor  Rußland  im  Orient  (Indien,  China),  vor  Frankreich  ebenso 
(Siam,  Ägypten),  und  drittens  vor  seinen  mohammedanischen  Unter- 
tanen. Es  kalkuliert  daher  folgendermaßen:  Rußland  durch  Entgegen- 
kommen nach  Stambul  hineinzulocken.  Frankreich  durch  eventuell 
größere  Konzessionen  in  Ägypten  zu  besänftigen.  Die  moslemitische 
Bewegung  gegen  den  Sultan  anzufachen,  daß  derselbe  gezwungen  ist, 
Rußland  (den  Christen)  um  Schutz  und  Hülfe  gegen  seine  eigenen 
Untertanen  anzurufen,  dadurch  Rußland  mit  der  moslemitischen  Be- 
wegung in  Gegnerschaft  zu  setzen,  und  wenn  dasselbe  dann  in  offenen 
Kampf  mit  dem  durch  die  Besetzung  Konstantinopels  durch  Christen 
empörten  Alohammedanismus  getreten  ist,  dann  offiziell  seinen  (Eng- 
lands) mohammedanischen  Untertanen  zuliebe  als  Schützer  des  be- 
drängten Moslems  aufzutreten  und  zum  Beweis  und  Pfand  davon 
die  Dardanellen  zu  besetzen.  Auf  die  Manier  würde  England  seine 
beiden  Gegner  loswerden  und  sie  miteinander  auch  noch  brouillieren, 
ohne  dabei  die  Dardanellen  preiszugeben,  um  deren  Besitz  zu  fechten 
Rußland  nicht  mit  voller  Kraft  eintreten  könnte,  da  es  eben,  wie  vorher 
bemerkt,  in  einen  Kampf  auf  Tod  und  Leben  mit  der  mohammedani- 
schen Welt  verwickelt  sein  würde.  Nach  reiflicher  Überlegung  scheint 
mir  dies  der  ungefähre  Gang  der  geheimsten  Gedanken  Englands  zu 
sein.  Ich  bin  darin  bestärkt  worden  durch  eine  mir  auffällige  Be- 
merkung, welche  die  Kaiserin  Friedrich,  die  sonst  nie  auswärtige 
Politik  mit  mir  bespricht,  mir  beim  Diner  in  Straßburg**  machte.  Sie 
sagte:  ,Die  Christenmassakers  in  der  Türkei  sind  ganz  grauenerregend. 
Es  ist  die  Pflicht  aller  christlichen  Staaten,  sich  dies  nicht  von  den 
Türken  gefallen  zu  lassen,  das  Blut  der  massakrierten  Christenbrüder 
darf  nicht  ungerächt  bleiben.  Die  Regierung  des  Sultans  sei  unfähig 
und  unerhört,  mit  dem  müßte  kurzer  Prozeß  gemacht  werden.   Außer- 


*  Vgl.   Bd.  IX,  Kap.  LVI  sowie  Nr.  2438. 

**  Am  18.  Oktober  hatte  der  Kaiser  in  Gegenwart  der  Kaiserin  Friedrich  in  Wörth 

ein  Denkmal  Kaiser  Friedrichs  III.  enthüllt. 

77 


dem  sei  aber  sein  Leben  in  Gefahr,  da  die  Unzufriedenheit  in  der  Türkei 
dieselbe  als  im  Zustande  der  Gärung  befindlich  erkennen  lasse.  Man 
müsse  auf  eine  allgemeine  Erhebung  der  Moslems  gegen  den  Sultan 
vorbereitet  sein.  Es  wäre  nicht  unmöglich,  und  ob  nicht  vielleicht  die 
Russen  dann  nach  Konstantinopel  einrücken  dürften?' 

Aus  alledem  geht  hervor,  daß  die  Lage  am  Alittelmeer  in  Gärung 
ist,  und  Englands  Schritte  auf  das  schärfste  überwacht  werden  müssen. 
Ich  bitte,  demgemäß  Instruktion  an  die  Botschafter  von  London,  Stambul, 
St.  Petersburg  und  Paris  zu  erlassen. 

Wilhelm  LR." 

Ich  habe  folgendes  geantwortet: 

„Euerer  Majestät  danke  icli  alleruntertänigst  für  die  wichtige  Aller- 
höchste Mitteilung  von  gestern.  In  den  Äußerungen  Ihrer  Majestät 
der  Kaiserin  Friedrich  scheint  in  der  Tat  der  Schlüssel  zu  den  Plänen 
Lord  Salisburys  gegeben.  Ich  glaube  aber,  daß  Rußland  zu  klug  ist, 
um  auf  die  englische  Leimrute  zu  gehen.  Wenn  es  den  Sultan,  ohne 
Konstantinopel  zu  besetzen,  unter  sein  Protektorat  nimmt  und  dessen 
Selbständigkeit  schützt,  so  würde  es  den  Kampf  mit  der  mohammedani- 
schen Welt  vermeiden  und  den  englischen  Plan  durchkreuzen. 

Ich  werde  die  befohlenen  Instruktionen  an  die  Botschafter  von 
London,  Stambul,  St.  Petersburg  und  Paris  absenden  und  sie  zur 
schärfsten  Überwachung  der  Schritte  Englands  anweisen.*' 

Hohenlohe 

Nr.  2438 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  154  Therapia,  den  22.  Oktober  18Q5 

Die  Vereinbarungen,  welche  zwischen  der  Pforte  und  den  Ver- 
tretern von  England,  Frankreich  und  Rußland  in  betreff  der  in  den 
armenischen  Provinzen  Kleinasiens  einzuführenden  Reformen  getroffen 
worden  waren,  sind  vom  Sultan  am  17.  d.  Mts.  genehmigt  worden. 

Das  Schriftstück,  welches  das  Ergebnis  der  langwierigen  Verhand- 
lungen enthält  und  alle  in  der  Frage  gewährten  Reformen  zusammen- 
faßt, ist  den  drei  Botschaftern  am  20.  d.  Mts.  im  türkischen  Text  amt- 
lich mitgeteilt  worden*. 

Eine  offizielle  Übersetzung  desselben  wird  von  der  Pforte  an- 
gefertigt, und  werde  ich  nicht  ermangeln,  den  Wortlaut  Euerer  Durch- 
laucht gehorsamst  vorzulegen. 

Inzwischen   hat   die    türkische   Regierung  die   im   Ausschnitt   hier 

•  Siehe  den  Text  in:   Das  Staatsarchiv  Bd.  58,  S.  166 ff. 
78 


beigefügte  amtliche  Bekanntmachung*  veröffentlichen  lassen,  welche 
eine  Übersicht  der  einzuführenden  Reformen  enthält.  Diese  Bekannt- 
machung —  durch  welche  auch  einem  ausgesprochenen  Wunsche  der 
drei  Botschafter  entsprochen  wird  —  bezweckt,  die  öffentliche  Mei- 
nung in  der  Türkei  über  die  Bedeutung  der  Reformen  aufzuklären 
und  namentlich  die  in  der  muselmanischen  Bevölkerung  vielfach  ver- 
tretene falsche  Ansicht  richtigzustellen,  als  handele  es  sich  bei  den 
Reformen  um  Vorteile,  die  den  Armeniern  zum  Nachteil  der  Moslems 
gewährt  werden  sollen.  Aus  Rücksicht  auf  die  türkische  Empfindlich- 
keit ist  in  der  Bekanntmachung  die  Einsetzung  einer  Kommission  zur 
Überwachung  der  Reformen,  bei  welcher  die  Botschaften  die  aus  den 
Provinzen  eingehenden  Beschwerden  anbringen  können,  nicht  erwähnt 
worden.  Aber  abgesehen  von  dieser  Überwachungskommission,  die 
eine  praktisch  ziemlich  bedeutungslose  Neuerung  ist,  bewegen  sich 
alle  übrigen  Reformen  innerhalb  des  Rahmens  desjenigen,  was  theo- 
retisch bereits  früher  gewährt  worden  war.  Es  bleibt  mithin  abzu- 
warten, ob  die  jetzigen  Verheißungen  nicht  dasselbe  Schicksal  haben 
werden  wie  die  früheren. 

Saurma 

Nr.  2439 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  156  Therapia,  den  23.  Oktober  1895 

Vertraulich 

Seine  Majestät  der  Sultan  hat  mich  durch  den  Großwesir  bitten 
lassen,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser,  unserem  allergnädigsten  Herrn, 
seinen  lebhaften  Dank  für  den  Beistand  zu  übermitteln,  welcher  ihm 
seitens  Seiner  Majestät  in  den  jüngsten  politischen  Komplikationen 
zuteil  geworden  sei^. 

Ich  bezog  diese  Kundgebung  auf  die  energischen,  aber  freund- 
schaftlichen Ratschläge,  welche  ich  beauftragt  war,  an  den  Sultan  ge- 
langen zu  lassen,  um  ihn  in  der  armenischen  Frage  zur  Nachgiebigkeit 
zu  bestimmen,  so  wie  die  nötigen  Maßregeln  zu  treffen,  um  die  im 
Innern  des  Reiches  ausgebrochenen  Unruhen  in  ordnungsmäßiger  Welse 
zu  dämpfen. 

Dessenungeachtet  suchte  ich  zu  erforschen,  welche  Hülfsleistung 
es  hauptsächlich  sei,  die  diesen  lebhaften  Dank  des  Sultans  hervor- 
gerufen habe  und  fand  zu  meiner  nicht  geringen  Verwunderung,  daß 
ihm  hinterbracht  worden  sei,  es  habe  unter  den  Mächten  vor  einiger 
Zeit  die  Absicht  bestanden,   seine   Entthronung  herbeizuführen^,   und 


*  Hier  nicht  abgedruckt. 

79 


es  sei   nur  der   Intervention   Seiner  Majestät   des   Deutschen   Kaisers 
zu  verdanken,  daß  diese  Absicht  nicht  zur  Ausführung  gekommen. 

Ich  glaube  am  besten  daran  zu  tun,  mich  einer  Äußerung  in  der 
Sache  zu  enthalten  und  dieselbe  auf  sich  beruhen  zu  lassen^,  um  so 
mehr,  als  mir  direkte  Andeutungen  darüber  nicht  gemacht  worden 
sind,  und  die  Erfindung  die  Mauern  des  Jildis-Palais  nicht  verlassen 
haben  dürfte. 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Ich  bin  mir  nicht  bewußt 
2    ! 

*  ja 

Nr.  2440 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  157  Therapia,  den  23.  Oktober  1895 

Der  hiesige  englische  Botschafter  Sir  Philip  Currie  begibt  sich 
morgen  auf  einen  dreiwöchentlichen  Urlaub  nach  London,  um  Lord 
Salisbury  zu  sehen,  mit  welchem  er  seit  seinem  letzten  Amtsantritt 
noch  nicht  zusammengetroffen  war.  Es  hat  den  Anschein,  als  ob  er 
sich  bei  seinem  Chef  für  den  Posten  von  Paris  in  Erinnerung  bringen 
möchte,  welcher  demnächst  durch  den  Rücktritt  des  70jährigen  Lord 
Dufferin  vakant  werden  dürfte.  Sir  Philip  ist  ungern  in  Konstanti- 
nopel, dessen  rege  und  von  aufregenden  Wechseifällen  häufig  be- 
gleitete Politik  ihm  nicht  zusagt.  Der  Augenblick  scheint  ihm  für 
eine  freundliche  Berücksichtigung  seiner  Wünsche  insofern  vielleicht 
günstig,  als  er  durch  die  Beendigung  der  armenischen  Frage  mit 
einem  in  England  sehr  anerkannten  politischen  Erfolge  zu  Hause  er- 
scheint. 

Er  drückte  mir  vor  seiner  Abreise  seinen  besonderen  Dank  für 
die  Unterstützung  aus,  welche  ich  im  Auftrage  meiner  Regierung 
im  Interesse  einer  zufriedenstellenden  Beendigung  der  armenischen 
Angelegenheit  und  der  damit  im  Zusammenhang  stehenden  jüngsten 
ernsten  Komplikationen  gewährt  habe.  Er  erwähnte  dabei,  daß,  wie 
die  Erfahrung  wiederum  lehre,  ein  gesondertes  Vorgehen  einzelner 
Mächte  im  Orient  doch  stets  nur  ein  partielles  oder  wenigstens  ver- 
hältnismäßig langsames  Ergebnis  habe,  und  daß  der  volle  durch- 
schlagende Erfolg  erst  mit  d^m  Augenblick  eintrete,  wo  eine  Meinungs- 
übereinstimmung aller  Mächte  zur  unumstößlichen  Gewißheit  ge- 
worden sei. 

Saurma 

80 


Nr.  2441 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 
für  den  Vortragenden  Rat  von  Holstein 

Telegramm.  Entzifferung 

London,  den  24.  Oktober  18Q5 
Gestern  abend  Lord  Salisbury  kurz  gesprochen,  welcher  aus 
eigenem  Antrieb  wiederholt  versicherte,  daß  seine  Politik  unverändert 
sei,  und  dabei  die  Bemerkung  fallen  ließ,  daß  jetzt,  nachdem  die  un- 
erfreuliche armenische  Angelegenheit  einen  befriedigenden  Abschluß 
gefunden,  von  Teilungsplänen  keine  Rede  mehr  sei. 

Er  versicherte,  als  ich  darauf  anspielte,  daß  er  wohl  durch  Sir 
E.  Malet  von  unseren  Auffassungen  fortlaufend  unterrichtet  sei,  seit 
Wochen  keinen  nennenswerten  Bericht  von  demselben  erhalten  zu 
haben. 

Ausführlichen  Privatbrief  für  Sie  durch  gestrigen  Feldjäger  ab- 
geschickt. 

Hatzfeldt     ^ 

Nr.  2442 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt* 

Telegramm.   Entzifferung 
Nr.  253  London,  den  25.  Oktober  1895 

Telegramm  Nr.  290**  erhalten. 

In  meiner  heutigen  ersten  ausführlichen  und  ganz  vertraulichen 
Unterhaltung  mit  Lord  Salisbury  äußerte  derselbe  sich  zunächst  über 
die  von  der  heutigen  „Times"  gebrachte  Nachricht  über  ein  geheimes 
russisch-chinesisches  Abkommen  dahin,  daß  ihm  noch  keine  Bestätigung 
dafür  zugegangen  sei,  daß  es  ihm  aber,  wie  er  mir  schon  früher  gesagt, 


*  Bereits  abgedruckt  in  Kap.  LX,  Nr.  2393;  hier  des  Zusammenhangs  wegen 
wiederholt. 

**  Telegramm  Nr.  290  vom  25.  Oktober  hatte  dem  Botschafter  Grafen  Hatzfeldt 
von  einer  Unterredung  Wilhelms  II.  mit  Oberst  Swaine  vom  gleichen  Tage 
Kenntnis  gegeben,  die  auch  die  armenische  Frage  gestreift  hatte.  Der  Kaiser 
sagte  u.  a. :  „Gerade  der  englischen  Presse  und  der  von  ihr  beherrschten  öffent- 
lichen Meinung  verdanken  wir  den  ganzen  unnützen  Skandal  der  armenischen 
Frage.  Die  sei  vor  allem  den  Russen  sehr  unangenehm.  Hinc  illae  iacrimae!  Der 
Oberst  stimmte  zu  und  sprach  sich  sehr  herbe  über  Argyll,  Westminster  und 
Mr.  Gladstone  aus,  die  das  ganze  Unheil  heraufbeschworen  hätten.  Er  habe 
noch  neulich  mit  dem  Lord  Salisbury  gesprochen  und  auch  neuerdings  von  ihm 
einen  Brief  erhalten  und  aus  alledem,  was  er  gehört,  ginge  eben  hervor,  in 
welch  heikle  Lage  der  Premier  durch  diese  unglückselige  Erbschaft  geraten  sei. 
Er  wisse  noch  nicht  recht,  was  er  tun  solle,  fühle  sich  noch  nicht  ganz  fest 
im  Sattel  und  mache  daher  auch  Annäherungsversuche  bei  allen  Nationen  die 
Reihe  herum,  um  herauszufinden,  wie  dieselben  über  die  Türkei  dächten.  Mit 
Deutschland  sei   er  ja  glücklicherweise  auf  gutem   Fuße   und,  wie  er  ihm  noch 

6    Die  Große  Politik.    Bd.  10.  81 


durchaus  nicht  unheb  wäre,  wenn  Rußland  sich  in  China  weiter  en- 
gagiere. Es  würde  dadurch  vom  Orient  abgelenkt  werden  und  wäre 
dann  mit  den  ihm  übrig  bleibenden  Streitkräften  nicht  mehr  stark  genug, 
um  gleichzeitig  an  ein  Vorgehen  vom  Schwarzen  Meer  aus  zu  denken. 
Nur  in  dem  Fall,  wenn  Rußland  sich  ausschließliche  Rechte  für 
seine  Schiffe  in  Port  Arthur  ausbedingt  hätte,  würde  England  da- 
gegen  Einwendungen   erheben   müssen. 

Über  die  Erledigung  der  armenischen  Frage  zeigte  sich  der  Minister 
besonders  deshalb  erfreut,  weil  damit  die  Sorge  vor  einem  Zusammen- 
bruch des  Türkischen  Reichs  und  die  Notwendigkeit  vorläufig  wegfalle, 
sich  über  das  fernere  Schicksal  der  Bestandteile  desselben  den  Kopf 
zu  zerbrechen.  Lord  Salisbury  betonte  dabei,  daß  er  in  erster  Linie 
die  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  wünsche.  Sollte  es  dennoch 
infolge  irgendeines  russischen  Vorgehens  im  Orient  zu  einer  Krisis 
kommen,  so  werde  er  sich  sofort  und  vor  allem  nach  Berlin  wenden, 
um  sich  mit  uns  über  eine  gemeinschaftliche  Haltung  zu  verständigen. 
Der  Minister  fügte  hinzu,  daß  man  in  Wien  wegen  des  Orients  sehr 
^besorgt  sei  und  namentlich  befürchtet  habe,  daß  er,  Lord  Salisbury, 
den  Russen  die  Dardanellen  überlassen  wolle.  Er  habe  daher  dem 
Grafen  Ooluchowski  sagen  lassen,  daß  er  niemals  eine  solche  Absicht 
ausgesprochen  habe,  und  könne  nur  versichern,  daß  er  in  allem,  was 
die  orientalische  Frage  betreffe,  stets  auf  die  österreichischen  Interessen 
in  erster  Linie  Bedacht  nehmen  werde. 

Ohne  mich  nach  irgendeiner  Richtung  zu  engagieren,  habe  ich  den 
Minister  freundschaftlich,  aber  bestimmt  darauf  hingewiesen,  daß  die 
bisherige  unsichere  PoHtik  Englands,  die  vielleicht  zum  Teil  noch  den 
Mißgriffen  seines  Vorgängers  zuzuschreiben  sei,  fast  überall  in  Europa 
Mißtrauen  hervorgebracht  habe,  und  daß  niemand  mehr  an  bestimmte 

zuletzt  geschrieben  habe,  an  dem  Punkt,  wo  er  im  Jahre  1892  gewesen  sei; 
einige  kleine  Fragen  in  Afrika  sekundärer  Natur  an  und  für  sich  müßten  in  ver- 
söhnlichem Geiste  mit  gegenseitiger  Liebenswürdigkeit  und  Breite  behandelt 
werden.  Ich  erwiderte  ihm,  diese  Mitteilung  sei  mir  sehr  interessant.  Was  die 
armenische  Frage  beträfe,  so  sei  Englands  Politik  völlig  unverständlich,  und  das 
Herumtasten  bei  den  verschiedenen  Nationen  habe  dahin  geführt,  daß  alle  ohne 
Ausnahme  von  einem  handfesten  Mißtrauen  gegen  England  erfüllt  seien.  In 
dieser  Frage  stünden  sämtliche  Kontinentalmächte  einheitlich  und  geschlossen 
zusammen,  in  der  Absicht,  den  status  quo  und  durch  schnelle  Ededigung  der 
sogenannten  armenischen  Frage  die  Ordnung  in  der  Türkei  aufrecht  zu  erhalten. 
Das  einzige  Land,  das  aber  die  Türkei  nicht  so  hoch  kommen  lasse,  sei  Eng- 
land. Die  eigentümlichen  Artikel,  die  letzthin  in  England  erschienen  seien,  die 
Thronrede  in  Verbindung  mit  der  scharf  aggressiven  Rede  des  Premiers  gegen 
die  Türkei  hätten  bei  den  Kontinentalmächten  den  Verdacht  erweckt,  England 
wolle  seine  Mittelmeerpolitik  ändern.  Dieser  Verdacht  sei  bestärkt  worden  durch 
das  wochenlange  Spazierenfahren  der  Mittelmeerflotte  vor  den  Dardanellen,  und 
es  würden  überall  Stimmen  laut,  welche  der  Ansicht  Ausdruck  verliehen,  Eng- 
land wolle  Konstantinopel  an  Rußland  geben,  Frankreich  durch  Konzessionen  in 
Ägypten  gewinnen  und   selbst  die   Dardanellen  nehmen." 

Siehe  den  Abdruck  des  ganzen  Schriftstücks  in   Bd.  XI,  Nr.  2579. 

82 


Ziele  der  englischen   Politik   und  an   eine  konsequente   Durchführung 
derselben  glauben  wolle. 

Als  der  Minister  mir,  wie  angeführt,  mit  Nachdruck  sagte,  daß 
er  sich  im  Fall  einer  drohenden  Krisis  sofort  und  zunächst  mit  uns 
verständigen  wolle,  habe  ich  erwidert,  daß  ich  ihn  stets  bereitwillig 
anhören  würde,  wenn  es  dann  nicht  zu  spät  sei. 

Der  neue  englische  Botschafter*  soll  hier  genau  über  alles  informiert 
werden,  damit  er  eventuell  auch  in  der  Lage  ist,  sich  Seiner  Majestät 
gegenüber  über  alle  von  allerhöchstdenselben  berührten  Fragen  aus- 
zusprechen. 

Das  Telegramm  Nr.  290  ist  mir  erst  nach  meiner  Unterredung  mit 
Lord  Salisbury  zugegangen. 

Hatzfeldt 

Nr.  2443 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  404  St.  Petersburg,  den  24.  Oktober  1895 

Fürst  Lobanow  teilte  mir  gestern  mit,  daß  er  ein  Telegramm  des 
russischen  Botschafters  in  Konstantinopel  erhalten  habe,  wonach  die 
Sofias  und  der  fanatische  Teil  der  Bevölkerung  in  bedrohlicher  Er- 
regung gegen  den  Sultan  sind.  Diese  Ausbrüche  des  Fanatismus 
deutete  mir  Fürst  Lobanow  als  die  Folgen  der  unüberlegten  und 
übertriebenen  englischen  Forderungen  an^.  Sollte  der  Sultan  den 
eigenen  Untertanen  zum  Opfer  fallen,  meinte  Fürst  Lobanow,  so  würden 
die  Verhältnisse  nicht  um  ein  Haar  besser,  und  nur  neue  Wirren 
hervorgerufen  werden.  Eine  Garantie  für  die  Sicherheit  der  Person 
des  Sultans  und  ein  Schutz  gegen  die  Geistlichkeit  soll  indes  darin 
liegen,  daß  der  Scheich  ül  Islam  ein  Mann  der  eigenen  Wahl  Abdul 
Hamids  ist,  der  ein  Interesse  daran  hat,  seinen  Wohltäter  und  Herrn 
vor  dem  Fanatismus  der  übrigen  Geistlichen  zu  schützen. 

Es  hat  sich  kürzlich  das  Gerücht  in  Petersburg  verbreitet,  daß 
Sir  Philip  Currie  sich  auch  nicht  sicher  fühlt  und  ein  Attentat  gegen 
ihn  befürchtet  wird.  Bei  dem  leidenschaftlichen  Auftreten  Sir  Philip 
Curries  imd  bei  seinen  unvorsichtigen  Äußerungen,  deren  ich  mich 
von  Konstanitnopel  her  sehr  wohl  erinnere,  sollte  es  mich  nicht  wun- 
dern, wenn  die  Leidenschaft  der  Muselmänner  sich  auch  gegen  ihn 
wendet.  Wie  er  mir  wenige  Tage  nach  seiner  Ankunft  in  Konstanti- 
nopel —  wo  er  mich  noch  kaum  kannte  —  in  brutalster  Weise  sagte, 
er  begriffe  nicht,  daß  nicht  einige  der  handfesten  Generäle  der  kaiser- 
lichen Umgebung  diesem  „schwächlichen  elenden  Manne**  einen  Dolch 


*  Sir  F.  Lascelles. 

6*  83 


in  den  Leib  jagen  2,  so  wird  er  wohl  mit  gleicher  Unvorsichtigkeit 
auch  anderweitig  ähnliche  Äußerungen  gebraucht  haben,  welche  die 
einen  vielleicht  gegen  ihn  selbst  ausnutzen  könnten,  und  welche  bei  den 
andern  den  Gedanken  zur  Reife  zu  bringen  vermögen,  den  er  ihnen  gibt. 

Während  des  tragischen  Endes  von  Abdul  Asis*  war  ich  in 
Konstantinopel,  und  ich  kann  nicht  leugnen,  daß  eine  große  Ähn- 
lichkeit in  den  Verhältnissen  von  damals  und  jetzt  zu  sein  scheint 3. 
Der  damalige  englische  Botschafter  Sir  Henry  Elliot  galt  allgemein 
als  der  Urheber  der  jungtürkischen  Bewegung  und  der  Förderer  der 
Umsturzpartei.  Ihm  wurde  indirekt  die  Katastrophe  zugeschrieben. 
Sein  Verhalten  glich  dem  des  jetzigen  englischen  Botschafters  in  mehr 
als  einer  Hinsicht.  Weder  der  Sturz  von  Abdul  Asis  noch  die  er- 
zielten Reformen  der  parlamentarisch  liberalen  Regierung,  die  Eng- 
land in  der  Türkei  eingeführt  hatte,  haben  sich  damals  als  segensreich 
erwiesen,  ebenso  scheint  mir  nach  meiner  Erfahrung  das  Spiel  von 
Sir  Philip  Currie,  die  muselmanischen  Leidenschaften  zu  wecken,  ein 
nicht  minder  zweck-  und  gewissenloses.  Jedenfalls  ist  es  schwer  zu  be- 
greifen, wie  er  deduzieren  will,  daß  sein  einziges  Bestreben  auf  die 
Wohlfahrt  der  Türkei  gerichtet  ist.  Die  in  England  hervorgerufene 
unzweifelhafte  Schwächung  der  Türkei  kommt  zum  Schluß  hauptsäch- 
lich Rußland  zugut,  das  aber  durchaus  den  Wunsch  nicht  hat,  diese 
Frucht  zu  ernten,  bevor  sie  ihm  reif  in  den  Schoß  fällt.  Wenn  infolge 
der  heraufbeschworenen  revolutionären  Geister  der  Sultan  Abdul  Hamid 
fällt,  so  verliert  die  Türkei  in  ihm  einen  der  klügsten  und  wohlmeinend- 
sten, aber  auch  unglücklichsten  Souveräne,  den  das  Reich  gehabt.  Wenn 
er  nicht  mehr  sein  wird,  wird  die  Einsicht  kommen,  was  man  trotz 
aller  seiner  Fehler  an  ihm  verloren. 

Ich  finde  diese  Ansicht  bei  Leuten,  die  Konstantinopel  genau 
kennen,  allgemein  vertreten,  und  auch  Fürst  Lobanow  spricht  sich  in 
ähnlicher  Weise  aus 3.  Radolin 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
'  Ja 
2   ! 

»  richtig 

Nr.  2444 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  162  Therapia,  den  26.  Oktober  1SQ5 

Es  ist  mehrfach  hier  der  Verdacht  ausgesprochen  worden,  daß 
die   Behörden   bei   den   jüngsten   Reibungen  zwischen   Armeniern   und 

*  Sultan  Abdul  Asis  war  kurz  nach  seiner  gewaltsamen  Entthronung  am  4.  Juni 
1S76  ermordet  worden. 

84 


Moslems  ihre  Hand  in  einer  Weise  im  Spiel  gehabt  haben,  daß  letztere 
zu  den  bedauerlichen  Gewaltakten  geradezu  ermutigt  worden  sind. 

Daß  dies  seitens  der  oberen  leitenden  Kreise  nicht  stattgefunden, 
dürfte  fast  keinem  Zweifel  unterliegen ;  dagegen  möchte  ich  fast  glauben, 
daß  dieser  Vorwurf  hie  und  da  auf  untergeordnete  Organe  in  den 
Provinzen  bezogen  werden  kann. 

Der  anliegend  in  Abschrift  gehorsamst  beigefügte  Bericht  des 
kaiserlich  und  königlich  österreichisch-ungarischen  Generalkonsuls  in 
Trapezunt  über  die  am  8.  d.  Mts.  daselbst  vorgefallenen  Metzeleien 
scheint  das  oben  Gesagte  zu  bestätigen. 

Saurma 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Das  übersteigt  doch   alles   Dagewesene,   das  ist  ja  eine   wahre   Bartholomäus- 
nacht! 

Da  muß  der  Pforte  doch  in  andrem  Tone  gesprochen  werden!  Denn  es 
sind  doch  Christen!  und  schließlich  geht  es  auch  gegen  die  andren  weißen 
Christen. 


Anlage* 

Der  Österreich-ungarische  Generalkonsul  in  Trapezunt  Zagorski  an  den 
Österreich-ungarischen  Botschafter  in  Konsfantinopel  Freiherrn 

von  Calice 

Abschrift.  Auszug 

[Trapezunt,  den  10.  Oktober  1895] 
Unter  dem  erschütternden  Eindrucke  der  blutigen  Ereignisse,  deren 
Schauplatz  unsere  Stadt  am  8.  d.  Mts.  gewesen  ist,  erlaube  ich  mir, 
im  Nachtrage  zu  meiner  desfallsigen  telegraphischen  Meldung  nur  jene 
Tatsachen  zur  Kenntnis  Euerer  Exzellenz  ergebenst  zu  bringen,  die 
mir  aus  eigener  Anschauung  bekannt  sind  oder  von  ganz  verläßlichen 
Augenzeugen  verbürgt  wurden. 

Hiernach  brach  der  Tumult,  eigentlich  der  Überfall  auf  die  armeni- 
schen Kaufleute  präzis  um  11  Uhr  vormittag  =  51/2  Uhr  ä  la  turque 
an  mehreren  Punkten  der  Stadt  gleichzeitig  aus,  so  daß  in  dem  Momente, 
als  der  Generalgouverneur  Kadri  Bey  (in  ganz  ungewohnter  Weise  und 
Zeit)  am  Platze  (Meydan)  erschien,  auch  schon  von  drei  verschiedenen 
Seiten  Nisams**,  Saptiehs***  und  der  bewaffnete  Pöbel  die  von  dessen 

*  Diese  Anlage  ist  aufgenommen  worden  im  Hinblick  auf  die  in  der  Rand- 
bemerkung zum  Bericht  Nr.  162  zum  Ausdruck  gelangte  Entrüstung  des  Kaisers. 
Ähnliche  Äußerungen  des  Kaisers  siehe  noch  in  Nr.  242Q,  2447,  2457.  Auf  die  Auf- 
nahme der  weiteren  in  den  Akten  befindlichen  zahlreichen  Massakersberichte  ist 
verzichtet  worden,  da  hier  nur  die  eigentlich  politischen  Vorgänge  interessieren. 
**  Reguläres  Militär. 
***  Gendarmen. 

85 


Anführern  bezeichneten  Armenier  niederzuschießen,  deren  Waren- 
magazine zu  erbrechen  und  zu  plündern  begannen.  Aus  allen  türkischen 
Gasthöfen,  Kaffeehäusern  und  Läden  traten  plötzlich  bewaffnete  Musel- 
manen auf  die  Straße  und  töteten  die  Armenier,  denen  sie  begegneten, 
während  am  Meeresufer  die  türkischen  Barkenführer  ihre  armenischen 
Genossen  überfielen  und  schonungslos  mit  Schußwaffen  und  Messern 
niederstreckten.  Dieser  Kampf  fand  sogar  in  den  Barken  am  Wasser 
statt!  Eine  Abteilung  Nisams  und  200  Saptiehs  beteiligten  sich  an 
der  Aktion  und  schössen  teils  auf  die  Passanten,  teils  in  die  Fenster 
der  von  Armeniern  bewohnten  Häuser. 

Dieses  Gemetzel  vollzog  sich  durchwegs  ohne  irgendeinen  un- 
mittelbaren Anlaß  seitens  der  Armenier,  sondern  vorbereitet  und 
programmäßig,  so  daß  die  nachbarlichen  Magazine  der  Griechen, 
Katholiken  und  Türken  ebenso  unbehelligt  blieben,  wie  deren  an- 
wesende Eigentümer;  dagegen  wurden  alle  Armenier,  denen  es  nicht 
gelang,  aus  den  abgeschlossenen  Gassen  zu  entkommen  oder  sich  zu 
verbergen,  rücksichtslos  erschossen  oder  niedergestochen;  Frauen  und 
Kinder  wurden  verschont.  Nach  Verlauf  von  zwei  Stunden  wurde  auf 
ein  gegebenes  Signal  das  Feuer  eingestellt;  und  während  ein  Teil  des 
Pöbels  mit  der  Plünderung  der  Magazine  beschäftigt  war,  zerstreute 
sich  die  Menge  ebenso  schnell  als  sie  vorher  die  Gassen  angefüllt  hatte. 

Bereits  um  4  Uhr  nachmittag  verkündete  der  öffentliche  Ausrufer 
In  den  Straßen  im  Namen  des  Wali,  daß  jede  Gefahr  beseitigt  ist  und 
jedermann  getrost  seinen  Geschäften  nachgehen  könne!!? 

Der  christlichen  Bevölkerung  bemächtigte  sich  aber  eine  derartige 
Angst  und  Panik,  daß  sie  sich  aus  ihren  Wohnungen  flüchtete  und 
Schutz  in  den  Konsulaten,  Kirchen  und  sonstigen  vom  Schauplatze  ent- 
fernten Gebäuden  suchte. 

Nachdem  das  mot  d'ordre  „Vernichtung  der  armenischen  Kauf- 
leute" gelautet  hatte,  so  enthielt  sich  der  Pöbel  von  sonstigen  Exzessen 
und  drang  nicht  in   die  Privatwohnungen   ein. 

Die  Zahl  der  Opfer  läßt  sich  vor  der  Hand  nicht  feststellen, 
nachdem  sehr  viele  Leichen  ins  Meer  versenkt  wurden;  jedoch  es  wird 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  die  Zahl  der  meistens  von  den  Nisams 
erschossenen  Armenier  auf  zirka  500  bis  600  angegeben. 

Obwohl  seitens  derselben  fast  gar  kein  Widerstand  geleistet  worden 
sein  soll,  behauptet  man,  daß  auch  einige  Muselmanen  hierbei  ihr  Leben 
eingebüßt  haben  oder  verwundet  wurden,  was  vermutlich  infolge  der 
in  den  engen  Gassen  stattgefundenen  Füsilladen  eingetreten  sein 
mochte. 

In  der  zwei  Kilometer  von  hier  entfernten  Ortschaft  Dermendere 
wurden  zur  selben  Stunde  alle  armenischen  Kaufleute  (14  an  der  Zahl) 
von  ihren  eigenen  Hamals  getötet  und  beraubt. 

Der   durch   diesen   Gewaltstreich   verursachte   materielle  Schaden 

86 


dürfte  sich  mindestens  auf  2  Millionen  Gulden  bewerten  lassen,  wovon 
mit  Vs  ^"^h  ausländisclie  Handelsfirmen  getroffen  sein  dürften. 

Abgesehen  von  den  Ermordungen  durch  Schußwaffen,  Axt-  und 
Handscharhiebe  wurden  hierbei  keine  Grausamkeiten  verübt;  es  wäre 
denn,  daß  ein  Friseurgehilfe  entzweigeschnitten  und  ein  junger  Kauf- 
mann vom  Kopfe  bis  tief  in  den  Brustkorb  gespalten  vorgefunden 
wurden. 

Daß  diese  summarische  Exekution  der  Armenier  vom  General- 
gouverneur Kadri  Bey  vorbereitet  und  angeordnet  wurde,  unterliegt 
keinem  Zweifel,  worüber  Euerer  Exzellenz  umständlich  zu  berichten 
ich  mir  ergebenst  vorbehalte. 

(gez.)  Zagorski 


87 


B.  Das  Fiasko  des  Armenischen  Dreibundes 


Nr.  2445 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  9Q  Therapia,  den  29.  Oktober  1895 

Herr  von  Nelidow  betonte  mir  in  letzter  Zeit  wiederholt,  daß  nun- 
mehr die  enge  Verbindung  der  drei  Mächte  in  der  armenischen  An- 
gelegenheit beendigt  sei.  Seine  Genugtuung  darüber  war  unverkenn- 
bar. Ich  mache  die  Wahrnehmung,  daß  Rußland  die  gegenwärtige 
hochgradige  Unpopularität  Englands  in  der  Türkei  geschickt  benutzt, 
um  die  Pforte  dahin  zu  führen,  Anlehnung  an  Rußland  zu  suchen  i. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Sehr  erfreulich 


Nr.  2446 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  408  St.  Petersburg,  den  29.  Oktober  1895 

Bei  meinem  gestrigen  Besuch  im  Auswärtigen  Ministerium  er- 
wähnte Fürst  Lobanow  wiederum  die  Vorgänge  in  Konstantinopel 
und  gab  seinem  Bedauern  erneuten  Ausdruck,  daß  die  Mächte  sich 
hatten  bewegen  lassen,  wegen  der  armenischen  Klagen  die  allerdings 
notwendigen  Reformen  in  der  Türkei  selbst  viel  zu  viel  in  die  Hand 
zu  nehmen  und  zu  beeinflussen.  Diese  Reformen  hätte  der  Sultan 
allein  in  der  ihm  geeignet  scheinenden  Weise  ausführen  sollen.  *Es 
sei  immer  eine  undankbare  Sache,  sich  in  fremde  Angelegenheiten  als 
Ratgeber  einzumischen  i  und  dadurch  eine  gewisse  Verantwortung  zu 
übernehmen.  Der  Fürst  wiederholte,  was  er  mir  schon  unlängst  ge- 
sagt, daß  er  die  Befürchtung  habe,  diese  erzwungenen  Reformen  oder 
vielmehr  das  fremde  Eingreifen  in  die  Souveränitätsrechte  des  Sultans 
sei  für  die   türkische   Herrschaft  nahezu  ein  Todesstoß   und  bedeute 

91 


den  Anfang  ihres  Endes.  England  habe,  wie  ihm  scheine,  mehr  Schaden 
angerichtet,  als  es  in  seinem  eigenen  Interesse  liegen  könne,  indem 
es  die  Türkei  über  Gebühr  geschwächt  habe.  Fast  komisch  klinge  es, 
wenn  die  Engländer  jetzt  gar  behaupten,  nur  aus  Interesse  für  die 
Türkei  Dinge  zu  tun,  die  ihr  die  Lebensadern  unterbinden.  So  sei  ihm, 
dem  Fürst  Lobanow,  unangenehm  aufgefallen,  daß  Lord  Dufferin,  als 
er  ihn  kürzlich  in  Paris  gesehen,  wo  er,  nebenbei  gesagt,  merkwürdig 
wenig  Erfolg  habe  und  reüssiere,  die  Meinung  aussprach,  England 
müßte  die  Dardanellen  besitzen  und  sich  dort  festsetzen. 

Auch  begriffe  er,  Fürst  Lobanow,  nicht,  was  Lord  Salisbury  für 
ein  Motiv  haben  könne,  den  Sultan  in  einer  so  rücksichtslosen  Weise 
anzugreifen,  wie  er  es  unlängst  getan*.  Das  heiße  doch  etwas  zu  weit 
den  Anschauungen  der  Oladstonianer  und  Unionisten,  soweit  sie  seine 
Wähler  sind,  Rechnung  tragen.  Lord  Salisbury  scheine  ganz  zu  ver- 
gessen, daß  er  einst  Turkophile  gewesen. 

In  den  Kreisen  des  Auswärtigen  Ministeriums  finde  ich  die  An- 
sicht vertreten,  daß  England  nicht  recht  zu  wissen  scheine,  was  es 
wolle;  es  schütte  förmlich  das  Kind  mit  dem  Bade  aus,  wenn  es  für 
die  Armenier  die  Türken  opfere,  welche  letzteren  traditionell  von  Eng- 
land geschützt  zu  werden  pflegten. 

Wenn  Rußland  und  Frankreich  sich  mit  England  in  der  armeni- 
schen Frage  vereinigt  hätten,  so  sei  es  nur  deshalb  geschehen,  weil 
beide  fürchteten,  daß,  wenn  England  allein  vorginge,  es  in  seinem 
Ungestüm  folgenschwere  Schritte  gegen  die  Pforte  unternehmen  könnte, 
wie  z.  B.  ein  Ultimatum  mit  nachfolgender  Flottendemonstration  und 
Waffengewalt  (welches  letztere  die  Russen  nicht  billigen  würden). 
Beide  Mächte  hätten  sich  daher  den  Engländern  angeschlossen,  um 
diesen  einen  Dämpfer  aufzusetzen  und  ein  Recht  zu  haben,  mäßigend 
in  die  Entschließungen  einzugreifen.  Die  englische  Politik  in  der  Türkei 
könne  in   Rußland  niemals  gebilligt  werden. 

Diese  Auffassung  findet  ihre  Bestätigung  darin,  daß  —  wie  ich 
seinerzeit  zu  berichten  die  Ehre  hatte  —  die  russische  Regierung  vom 
Frühjahr  d.  Js.  an  unter  der  Hand  dem  Sultan  alle  möglichen  be- 
ruhigenden Winke  hat  geben  lassen,  die  armenischen  Reformen  nicht 
zu  ernst  zu  nehmen  (und  dann  schon  lieber  die  Reformen  —  wenn 
solche  eingeführt  werden  sollten  —  aufs  ganze  Reich  auszudehnen), 
während  sie  äußerlich  und  offiziell  mit  den  Engländern  Hand  in  Hand 
gii;g2. 

Eine  in  den  orientalischen  Dingen  gut  bewanderte  Persönlichkeit 
des  Auswärtigen  Ministeriums,  der  frühere  erste  Dragoman  der  russi- 
schen Botschaft  in  Konstantinopel,  Herr  Iwanow,  den  ich  von  dort 
aus  gut  kenne,  sagte  mir,   er  begreife  nicht,  was  die  Absichten  der 


*  Anspielung  auf  Lord  Salisburys  Oberhausrede  vom  15.  August.    Vgl.  Nr.  2391, 
Fußnote  *. 

92 


Engländer  wären,  und  was  sie  für  einen  Vorteil  haben  könnten,  den 
Untergang  des  Türkischen  Reiches  förmlich  heraufzubeschwören.  Ihm 
wolle  scheinen,  als  ob  England  durch  diese  Politik  die  Aufmerksamkeit 
Rußlands  und  Frankreichs  von  Ägypten  ablenken  wolle  3,  um  sich  dessen 
Besitz  und  vielleicht  noch  einen  neuen  Landerwerb  in  der  allgemeinen 
Verwirrung  zu  sichern*.  Sonst  könne  niemand  begreifen,  welche  Hinter- 
gedanken es  haben  könne.  Auch  fürchtet  Herr  Iwanow,  daß  es  ein 
Fehlgriff  des  Sultans  war,  den  sonst  sehr  klugen  und  einsichtigen,  aber 
als  Anglophilen  bekannten  ^  Kiamil  Pascha  in  einem  Moment  zum  Groß- 
wesir* zu  wählen,  wo  es  dem  Sultan  darauf  ankommen  mußte,  den 
englischen  Wünschen  und  Forderungen  energisch  Widerstand  zu  leisten. 
(Ich  kann  die  Ansicht  des  Herrn  Iwanow  darin  nicht  teilen,  denn 
Kiamil  Pascha  ist  mir  als  einer  der  besten  Großwesire  der  letzten  Zeit 
bekannt,  der  dem  Dreibund  freundlich  war^  und  niemals  in  dem  Rufe 
stand,  absolut  im   englischen  Fahrwasser  zu  sein.) 

Fürst  Lobanow  sagt  mir,  daß  Rußland  für  die  Erhaltung  der 
Türkei,  schon  des  Weltfriedens  wegen,  nach  Kräften  eintreten  müsse. 

Der  türkische  Botschafter**,  der  mich  öfter  besucht,  wiederholt 
mir  jedesmal,  wie  außerordentlich  wohlmeinend  die  russische  Regiemng 
sich  dem  Sultan  gegenüber  verhält,  und  wie  sehr  ihr  die  Interessen 
des  Sultans  am  Herzen  zu  liegen  scheinen. 

In  allen  Kreisen  St.  Petersburgs  tritt  eine  überaus  starke  Ver- 
stimmung gegen  England  offen  zutage.  Alles,  was  England  tut,  erfüllt 
die  Russen  mit  Mißtrauen  und  jede  gemeinsame  Aktion  mit  England 
sieht  das  hiesige  Publikum  von  vornherein  als  zum  Nachteile  Rußlands 
geschlossen  an.  Zur  Erläuterung  beehre  ich  mich  einen  Artikel  aus 
dem  „Grashdanin"  vom  19.  d.  Mts.  in  der  Anlage  gehorsamst  bei- 
zufügen. 

Es  wird  hier  unumwunden  behauptet,  Rußland  sei  durch  England 
in  der  Türkei  hintergangen  und  ebenso  im  Pamir-Vertrag. 

Mit  dem  größten  Argwohn  beobachtet  man  hier  die  Haltung  Eng- 
lands in  Ostasien  und  möchte  gern  ein  Eisenbahnabkommen  mit  China 
ausführen,  bevor  die  Engländer  in  irgendeiner  Weise  versuchen 
könnten,  dazwischenzutreten  und  den  Plan  möglicherweise  zu  ver- 
eiteln. Bemerkenswert  ist,  daß  neben  der  Animosität  gegen  England 
ein  gewisses  Gefühl  der  Angst  vor  demselben  unverkennbar  ist.  Mit 
großer  Spannung  und  Besorgnis  wird  auch  jedes  Anzeichen  verfolgt 
und  beobachtet,  welches  an  eine  Annäherung  Englands  an  Deutsch- 
land oder  umgekehrt  ausgelegt  werden  könnte.  Wie  ich  höre,  bemüht 
sich  die  Königin  von  England  durch  Privatkorrespondenz  mit  dem 
Kaiser  und  wohl  auch  der  Kaiserin  eine  Annäherung  beider  Regierungen 


*  Am   4.  Oktober  war  Said    Pascha   vom  Sultan   entlassen   und   an   seiner  Stelle 
Kiamil   Pascha  wieder  zum   Qroßwesir  ernannt  worden. 
**  Hüssni-Pascha. 

93 


zustande  zu  bringen.  Die  Gereiztheit  gegen  England  ist  aber  in  allen 
Kreisen  so  groß,  daß  es  selbst  dem  Kaiser  nicht  gelingen  würde,  die 
Stimmung  durchgreifend  zu  ändern 6. 

Radolin 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Stimmt 

2  auch  nicht  hübsch! 
»  ? 

*  möglich 
^  richtig 
6  gut 

Nr.  2447 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  103  Therapia,  den  1.  November  1895 

Die  von   mir  in  Telegramm  Nr.  100  gemeldeten  Nachricliten  von 

Metzeleien  in  Erzerum  haben  sich  heute  bestätigt. 

Die  Provokation  soll  wiederum  von  Armeniern  ausgegangen  sein. 

Dieses  Massaker  ist  um  so  bedeutungsvoller,  als  es  unter  den  Augen 

des  mit  der  Wiederherstellung  der  Ruhe  betrauten  Generalkommissars 

Schakir  Pascha  i  stattgefunden  hat 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  So  was  ist  ja  ganz  unerhört 

Nr.  2448 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 

Nr.  168  Therapia,  den  1.  November  1895 

Ganz  vertraulich 

Durch  den  nunmehr  definitiv  erfolgten  Abschluß  des  armenischen 
Übereinkommens*  zwischen  der  Pforte  einerseits  und  Frankreich,  Ruß- 
land und  England  andererseits,  ist  die  unnatürliche  Verbindung  zwi- 
schen letzteren  beiden  Mächten  wieder  gelöst  —  eine  Verbindung, 
welche  von  Rußland  doch  wohl  lediglich  aus  dem  Grunde  eingegangen 
worden  war,  um  England  nicht  allein  bei  der  Arbeit  zu  lassen,  aus 
welcher  unter  Umständen  eine  für  das  Zarenreich  unbequeme  autonome 
armenische  Nachbarprovinz  hätte  hervorgehen  können. 


*  Vgl.  Nr.  2434  und  Nr.  3438. 
94 


Von  jetzt  an  dürfte  die  traditionelle  Politik  der  beiden  Mächte 
wieder  aufgenommen  werden.  Von  Rußland,  gerichtet  auf  Schwächung 
und  Zersetzung  der  Türkei,  um  einst,  wenn  der  Augenblick  günstig, 
mit  größtmöglichster  Aussicht  auf  Erfolg  die  Türkei  zu  überfallen. 
Von  England,  dahin  zielend,  die  Türkei  möglichst  zu  stärken,  um  sie 
in  die  Lage  zu  setzen,  sich  gegen  diesen  russischen  Überfall  möglichst 
gut  zu  wehren.    Die  Symptome  dafür  sind  bereits  wahrnehmbar. 

England  arbeitet  mit  aller  Macht,  um  durch  den  ihm  günstig  ge- 
sinnten Großwesir  Kiamil  Pascha  beim  Sultan  den  bösen  Eindruck 
zu  verwischen,  welchen  sein  schroffes  Auftreten  in  den  armenischen 
Verwickelungen  hier  hervorgebracht  hat.  Daher  wohl  auch  die  plötz- 
liche Mäßigung  Lord  Salisburys  gegenüber  den  fortgesetzten  Massen- 
morden der  Armenier,  welche  den  ursprünglichen  Massakers  von 
Sassun  an  Grausamkeit  und  Wildheit  keineswegs  nachstehen. 

Rußland  seinerseits  gibt  sich  die  größte  Mühe,  dem  Sultan  be- 
greiflich zu  machen,  daß  es  nur  dieser  Macht  zu  danken  gewesen,  wenn 
England  verhindert  wurde,  die  Dardanellen  zu  forcieren  oder  sonst 
welche  direkten  Gewaltmaßregeln  gegen  die  Türkei  zu  ergreifen.  Auf 
diese  Weise  hofft  Rußland,  das  Mißtrauen  des  Sultans  gegen  sich 
einzuschläfern  und  gegen  England  zu  wecken. 

Jedenfalls  kommt  es  Rußland  jetzt  hauptsächlich  darauf  an,  Zeit 
zu  gewinnen.  Der  jetzige  Augenblick  paßt  ihm  —  vielleicht  Ostasiens 
wegen  —  für  ein  schärferes  Auftreten  in  der  Orientpolitik  noch  nicht. 
Dies  zeigt  die  Eile,  das  armenische  Übereinkommen  ungeachtet  der 
lückenhaften  Zugeständnisse  der  Türkei  nur  schnell  Zustandekommen 
zu  sehen. 

Aus  demselben  Grunde  wird  auch  die  russische  Regierung,  wie 
sich  bald  zeigen  dürfte,  an  der  Durchführung  der  armenischen  Re- 
formen sich  zunächst  ziemlich  lau  beteiligen,  wie  sie  auch  jetzt  die 
kleinasiatischen  Metzeleien  auffallend  gleichmütig  hinnimmt. 

S  a  u  r  m  a 

Nr.  2449 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  665  London,  den  2.  November  1895 

Ich  hatte  gestern  Gelegenheit,  als  ich  auf  Lord  Salisbury  wartete, 
im  Wartezimmer  desselben  einige  Worte  mit  dem  mir  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  wohlbekannten  Sir  Philip  Currie  zu  wechseln,  welcher  vor- 
gestern aus  Konstantinopel  hier  eingetroffen  ist.  Derselbe  bemühte 
sich,  mich  davon  zu  überzeugen,  daß  er,  weit  entfernt  davon,  die  Stel- 
lung des  Sultans  erschüttern  zu  wollen,  sein  möglichstes  getan  habe, 

95 


um  ihn  zu  schonen,  soweit  die  Umstände  dies  irgendwie  zuließen.  Bei 
der  Erregtheit  der  öffentlichen  Meinung  in  England  sei  es  für  Lord 
Rosebery,  wie  auch  für  seinen  konservativen  Nachfolger  ganz  unmög- 
lich gewesen,  die  armenische  Frage  fallen  zu  lassen,  und  sein,  Sir 
Philip  Curries,  ganzes  Bestreben  habe  sich  darauf  richten  müssen,  den 
Sultan  von  der  Notwendigkeit  zu  überzeugen,  gewisse  Reformen  schnell 
und  aus  eigener  Initiative  zu  bewilligen  i.  Hier  würde  man  sich  in  diesem 
Fall  mit  sehr  wenig  begnügt  haben,  und  es  sei  tief  zu  beklagen,  daß 
der  Sultan  in  seiner  Verblendung  so  lange  damit  gezögert  habe. 

Als  ich  mir  die  Bemerkung  erlaubte,  daß  man  ein  baufälliges  Haus, 
wie  man  hier  die  Türkei  betrachte,  nicht  dadurch  stütze,  daß  man 
die  Wände  erschüttere,  erwiderte  mir  der  Botschafter,  daß  er  dies 
sehr  wohl  wisse,  und  daß  er  nicht  ohne  Sorgen  in  bezug  auf  die  weitere 
Entwickelung  der  Dinge  in  der  Türkei  sei.  Vorläufig  müsse  man  aber, 
da  die  Sache  sich  einmal  nicht  umgehen  ließ,  im  englischen  Interesse 
damit  zufrieden  sein,  daß  dieselbe  durch  die  Konzessionen  des  Sultans 
zu  einem  Abschluß  gekommen  sei,  und  zwar  um  so  mehr,  als  England 
auf  die  weitere  Mitwirkung  der  beiden  anderen  Mächte  nicht  habe 
rechnen  können,  ja  nicht  einmal  sicher  gewesen  sei,  daß  es,  falls 
weitere  Maßregeln  sich  als  notwendig  herausgestellt  hätten,  nicht  bei 
ihnen  auf  Widerspruch  gestoßen  wäre. 

Aus  der  Sprache  des  Botschafters,  welcher  das  englische  Vorgehen 
und  das  seinige  in  Konstantinopel  lediglich  zu  entschuldigen  suchte, 
bin  ich  versucht,  den  Schluß  zu  ziehen,  daß  er  durch  Lord  Salisbury, 
mit  welchem  er  bereits  eine  längere  Unterredung  gehabt  hatte,  dar- 
über aufgeklärt  worden  ist,  daß  das  Interesse  desselben  an  den 
Armeniern  erschöpft  ist,  und  daß  er  keine  weitere  Erschütterung  des 
türkischen  Reichs  wünscht. 

P.  Hatzfeldt 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1   !  In  der  Türkei  ohne  Post  und  Eisenbahn! 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Also  wozu  der  Lärm? 

Was  steht  zu  Dienst  ihr  Herren? 


Nr.  2450 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  107  Therapia,  den  5.  November  1895 

In    Diarbekir   haben    sich    die    berichteten    Unruhen    zu    einer   all- 
gemeinen Metzelei  aller  Christen   ohne   Unterschied  gestaltet. 

Gleichzeitig  werden  von  zahlreichen  anderen  Punkten  Kleinasiens 

96 


neue  Massakers  gemeldet,  gegen  welche  die  Behörden  entweder  nicht 
einschreiten  können  oder  wollen. 

Die  Zustände  daselbst  sind  in  Anarchie  ausgeartet. 

Angesichts  dieser  Lage  sind  die  Botschafter  übereingekommen, 
heute  in  Person  gleichmäßig  mündliche  Vorstellung  bei  der  Pforte 
folgenden  Inhalts*  zu  machen: 

„Die  Vertreter  der  Großmächte  sind  beunruhigt  über  die  Lage 
in  den  Provinzen,  woselbst  eine  völlige  Anarchie  herrscht,  welche 
nichts  mehr  mit  der  armenischen  Sache  gemein  hat  und  die  Christen 
jeder   Nationalität  gleichmäßig   bedroht. 

In  Diarbekir  haben  sidi  die  Metzeleien  und  Plünderungen  unter- 
schiedslos auch  auf  nichtarmenische  Christen  erstreckt,  ohne  daß  von 
diesen  ein  Anlaß  dazu  gegeben  worden. 

In  Mossul,  in  Bagdad  und  in  Syrien,  wo  die  Armenier  fehlen, 
nimmt  die  Gärung  in  bedrohlichem  Maße  zu.  Die  Pforte  muß  durch 
die  Ereignisse,  welche  sich  im  Jahre  1860  in  Syrien  zutrugen,  belehrt 
worden  sein,  daß  eine  derartige  Anarchie  nicht  ungestraft  andauern 
kann. 

Die  Vertreter  der  Großmächte  sind  genötigt,  ihren  Regierungen 
darüber  zu  berichten,  welche  bezüglich  der  zu  ergreifenden  Maßnahmen 
sich  untereinander  verständigen  dürften,  wenn  nicht  von  der  Pforte 
sofort  die  zur  Beseitigung  der  beregten  Mißstände  erforderlichen  Maß- 
regeln ergriffen  würden. 

Sie  ersuchen  den  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten,  ihnen 
mitzuteilen,  welche  Mittel  die  Pforte  anzuwenden  gedenke,  um  der 
gegenwärtigen  übermächtigen  Unordnung  ein  Ziel  zu  setzen. '^ 

Saurma 


Nr.  2451 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  114  Therapia,  den  8.  November  1895 

Bei  der  gegen  den  Sultan  gegenwärtig  bestehenden  hochgradigen 
Erregung  der  hiesigen  Bevölkerung  muß  man  jeden  Augenblick  auf 
den  Ausbruch  einer  zur  Beseitigung  Abdul  Hamids  abzielenden  Re- 
volution gefaßt  sein.  Durch  unglückliche  Vorkommnisse  bei  etwaigen 
Straßenunruhen  könnte  dabei  allerdings  auch  mit  Rücksicht  auf  den 
den  Moslems  augenblicklich  innewohnenden  religiösen  Fanatismus  eine 
direkte  Gefahr  für  die  hiesigen  Christen  im  allgemeinen  sich  ergeben. 

Saurma 

*  Den  französischen  Text  der  identischen  Note  siehe  Staatsarchiv  Bd.  58,  Nr.  11  009. 
7    Die  Große  Politik.    10.  Bd  Q7 


Nr.  2452 

Kaiser  Wilhelm  II.,  z.  Z.  in  Piesdorf,  an  Kaiser  Nikolaus  II, 

von  Rußland 

Telegramm  en  dair.  Abschrift 

Piesdorf,  den  8,  November  1895 
Just  received  news  by  cypher  from  Stamboul  that  new  Ministry* 
is  so  little  approved  of  by  Mahometan  popuIation  that  cxcitement  is 
on  the  increase.  Troops  with  exception  of  Yildiz  Guards  not  to  be 
relied  upon  any  more.  It  ends  with  the  words  „Catastrophe  is  ap- 
proaching". 

I  should  be  glad  to  know  your  intention  about  further  development 
of  affairs  before  an  accident  happens. 
Best  love  to  dear  Alix. 

(signed)  Willy 

Nr.  2453 
Kaiser  Nikolaus  II.  von  Rußland  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Telegramm.  Ausfertigung 

Zarskoe  Selo  Palais,  den  9.  November  1S95 
Thanks  for  news.  I  think  that  ,, Katastrophe"  means  dethronement 
of  Sultan  which  powers  should  not  mix  into  as  that  is  thcir  own 
internal  question.  But  if  the  lives  of  Christians  are  threatened  then 
all  the  ambassadors  at  Stamboul  ought  to  take  measures^  to  prevent 
further  bloodshed.  I  have  sent  such  instructions  to  my  lepresentative, 
my  opinion  is  that  now  England  should  be  moderate  and  careful  in 
her  Claims.    Best  love  from  Alix.  Nicky 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  They  have  allready  without  avail. 

Nr.  2454 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Konzept   von  der   Hand   des   Vortragenden   Rats   Mumm   von   Schwarzenstein 

Nr.  1315  Berlin,  den  10.  November  1895 

Zu  Ew.  pp.  gefälligen  Information. 

Der   Kaiserliche    Botschafter    in    Konstantinopel   hatte    unter   dem 
S.d.  Mts.  telegraphisch  darauf  hingewiesen**,  daß  bei  der  gegenwärtigen 

*  Das   erst   am   4.  Oktober  benifene   Ministerium   Kiamil   Pascha   war   schon   am 
6.  November  durch  ein  Kabinett  Rifaat  Pascha  ersetzt  worden  mit  Tewfik  Pascha, 
dem  bisherigen   Botschafter  in  Berlin,  als  A\inister  des  Äußeren. 
**  Siehe  Nr.  2451. 

9S 


gespannten  Lage  in  der  Türkei  jeden  Augenblick  Ereignisse  dort  ein- 
treten könnten,  welche  sofortige  Entschließungen  der  dortigen  fremden 
Vertreter  in  betreff  gemeinsamer  zum  Schutz  der  fremden  Untertanen 
zu  vereinbarender  Maßregeln    erheischten. 

Demgemäß  habe  ich  den  Freiherrn  von  Saurma  ermächtigt,  sich 
eventuell  auch  ohne  vorherige  Anfrage  beim  Auswärtigen  Amt  an  allen 
denjenigen  gemeinsamen  Schritten  zu  beteiligen,  welche  sämtliche  Bot- 
schafter als  durch  die  Lage  der  Verhältnisse  geboten  erachteten. 

Marschall 


Nr.  2455» 

Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  Fürsten  von  Hohenlohe** 

Unsignierte  Reinschrift 

Berlin,  den  12.  November  1895 

Seine  Majestät  hat  in  seinem  Telegramm  vom  8.  d.  Mts.***  den 
Zaren  gefragt:  „Ich  möchte  gern  Deine  Absichten  kennen  über  die 
weitere  Entwickelung  der  türkischen  Angelegenheiten,  bevor  ein  Un- 
glück geschieht." 

Nach  22  Stunden  erfolgte  die  russische  Antwort f,  wo  es  heißt: 
„Wenn  das  Leben  von  Christen  bedroht  ist,  dann  sollten  alle  Bot- 
schafter in  Konstantinopel  Maßregeln  ergreifen,  um  weiteres  Blut- 
vergießen zu  verhindern.  Ich  habe  meinem  Vertreter  entsprechende 
Instruktionen  zugehen  lassen.  Meine  Ansicht  ist,  daß  England  jetzt 
maßvoll  und  vorsichtig  in  seinen  Ansprüchen  sein  sollte." 

Der  Wortlaut  der  beiden  Telegramme  zeigt,  daß  der  Zar  den 
von  unserm  allergnädigsten  Herrn  gewünschten  Meinungsaustausch 
ä  deux  ablehnt  und  statt  dessen  für  die  weitere  Behandlung  der  Sache 
auf  die  Vertreter  sämtlicher  Großmächte  verweist.  Schließlich  wird 
durch  Vermittelung  unseres  allergnädigsten  Herrn  noch  ein  Rat  an 
England  erteilt.  Diese  Art  der  Erwiderung  läßt  weder  Freundschaft 
noch  Zutrauen  erkennen.  Gleichwohl  mögen  diese  Empfindungen  beim 
Zaren  vorhanden  sein,  und  im  Telegramm  nur  die  Gefühle  des  Fürsten 
Lobanow   Ausdruck   gefunden   haben   pp.ft- 

Diese  verschiedenen  Symptome,  Äußerungen  Seiner  Majestät  des 
Zaren  und  seiner  vornehmsten  Umgebung,  werden  hier  erwähnt,  weil 


*  Des  Zusammenhangs  wegen  hier,  vor  Nr.  2456  f.,  eingereiht. 

**  Vgl.  den  Erlaß  des  Staatssekretärs  Freiherrn  von  Marschall  an  den  Botschafter 

Bernhard   von    Bülovv   vom   15.  November   (Bd.  IX,   Kap.  LVIII,   Nr.  2328),   in   den 

wesentliche   Teile  der   Hohenloheschen    Aufzeichnung   fast  wörtlich   übernommen 

sind. 

***  Siehe  Nr.  2452. 

t  Siehe  Nr.  2453. 

tt  Das  ausgelassene  Stück  der  Aufzeichnung  betrifft  eine  höfische  Rangfrage. 

7.  99 


sie  erkennen  lassen,  daß  unsere  Beziehungen  zu  Rußland  dermalen 
keine  gesicherten  sind,  und  wir  daher  nicht  recht  tun  würden,  solange 
Rußland  in  dieser  für  uns  unsicheren  Stellung  verharrt,  irgendwelche 
andere  freundschaftliche  Beziehungen  um  Rußlands  willen  aufs  Spiel 
zu  setzen. 

Ebenso  wie  in  Deutschland  gibt  es  auch  in  Österreich  starke 
politische  Gruppen,  welche  ein  Zusammengehen  mit  Rußland  wün- 
schen. Der  Unterschied  zwischen  den  deutschen  und  den  österreichi- 
schen Anhängern  eines  russischen  Bündnisses  ist  aber  ein  sehr  wesent- 
licher. Für  die  Deutschen  bildet  die  russisch-französische  Verbindung 
ein  Hindernis,  wenigstens  für  das  Zusammengehen  in  europäischen 
und  Mittelmeerfragen.  Für  die  Österreicher  im  Gegenteil  macht  die 
schon  vorhandene  Verbindung  zwischen  Rußland  und  Frankreich  den 
Anschluß  an  diese  Gruppe  noch  wünschenswerter  als  den  Anschluß 
an  Rußland  allein.  Alle  diejenigen  Österreicher,  welche  die  nach  dem 
Jahre  1866  nötig  gewordene  Verlegung  des  österreichischen  Schwer- 
punkts mehr  nach  Osten  als  ein  Unglück  ansehen,  hoffen  von  dem 
Anschluß  an  die  franko-russische  Gruppe  eine  Revision  des  Nikols- 
burger  Friedens,  Rückverlegung  des  österreichischen  Schwerpunkts 
nach  Deutschland  hinein  und  Wiedererlangung  der  österreichischen 
Oberherrschaft  über  Süddeutschland  bis  zum  Main  und  bis  zum  Rhein, 
in  Anlehnung  an  das  Programm  Josephs  II.,  welches  zum  Bayerischen 
Erbfolgekrieg  führte.  Dafür  würde  man  den  Franzosen  gern  Kon- 
zessionen auf  dem  linken  Rheinufer  und  den  Russen  solche  auf  der 
Balkonhalbinsel  machen. 

Bisher  haben  die  Anhänger  dieses  Programms  keinen  irgendwie 
maßgebenden  Einfluß  auf  die  österreichische  Politik  seit  1879  gehabt, 
weil  die  allgemeine  Stimmung  in  Österreich  dahin  ging,  daß  man  sich 
im  Dreibund  sicher  fühlte,  und  das  Sichere,  was  man  besaß,  nicht  für 
unsichere  Gewinne  riskieren  wollte.  Angenommen  aber,  es  verbreitete 
sich  in  Österreich  die  Meinung,  daß  der  Dreibund  außerstande  oder 
nicht  willens  sei,  im  kritischen  Moment  für  die  Großmachtstellung 
Österreichs  einzutreten,  so  würde  ein  mächtiges  Anwachsen  der  An- 
hänger der  russisch-französischen  Allianz  die  sofortige  Folge  jener 
Schwankung  der  Gemüter  sein.  Es  kann  in  der  Tat  kaum  drei  Inter- 
essentengruppen in  der  Welt  geben,  bei  denen  die  Vorbedingungen 
einer  leichten  Verständigung  in  so  hohem  Grade  vorhanden  sind, 
wie  bei  den  Russen,  Franzosen  und  den  nichtmag}'arischen  und  nicht- 
polnischen Österreichern,  welche  ersteren  alle  drei  sich  durch  die  Ent- 
stehung des  Deutschen  Reiches  verkleinert  und  eingeengt  fühlen.  Diese 
Gruppierung  wird  unvermeidlich  in  dem  Augenblick,  wo  der  Dreibund- 
vertrag für  Österreich  bedeutungslos  wird,  d.  h.  in  dem  Augenblick, 
wo  die  Österreicher  die  Gewißheit  erhalten,  daß  wir  sie  bei  den  Ge- 
fahren, welche  eine  Balkankrisis  für  Österreich  nach  sich  ziehen  kann, 
selbst  dann  ohne  Unterstützung  lassen  würden,  wenn  es  sich  um  den 

100 


Fortbestand  der  Monarchie  handeln  sollte.  In  der  Tat  war  auch  die 
Unterstützung  bei  Gefahren,  welche  dem  Bestände  der  Monarchie 
als  Rückschläge  einer  Balkankrisis  drohen  könnten,  der  haupt- 
sächlichste, wenn  nicht  der  einzige  Beweggrund,  welcher  Österreich 
zum  Abschluß  des  Dreibundes  veranlaßt  haben  kann.  Denn  von  keiner 
anderen  Seite  ist  das  heutige  Österreich  bedroht.  Von  Deutschland 
befürchtet  man  keine  Gelüste  auf  tschechische  Länder,  zwischen  Frank- 
reich und  Österreich  bestehen  keine  Differenzpunktc,  seit  das  Deutsche 
Reich  und  das  Königreich  Italien  entstanden  sind,  und  Rußland  hat 
genug  polnische  Untertanen,  um  Galizien  neidlos  in  österreichischem 
Besitze  zu  lassen.  Wenn  man  also  in  Österreich  die  Gewißheit  er- 
langt, daß  der  Dreibund  keinerlei  Sicherheit  gegen  Balkangefahren 
gewährt,  so  hört  der  Dreibund  damit  auf,  für  Österreich  eine  raison 
d'etre  zu  haben. 

Wir  dürfen  also  die  Anhänger  des  Dreibundes  in  Österreich,  d.  h. 
denjenigen  Teil  der  österreichischen  Volksstämme,  welcher  nicht  Ge- 
sinnungen grundsätzlicher  Feindschaft  gegen  Deutschland  hegt,  nicht 
hoffnungslos  machen.  Ebensowenig  aber  dürfen  wir  uns  jetzt  schon 
für  irgendeine  mit  der  Balkanfrage  zusammenhängende  bestimmte  Ak- 
tionspolitik festlegen.  Alle  hierauf  abzielenden  Besprechun- 
gen zwischen  Berlin  und  Wien  würden  heute  noch  ver- 
früht sein. 


Nr.  2456 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  118  Pera,  den  10.  November  18Q5 

Die  Gespanntheit  der  Lage  dauert  fort. 

Aus  der  Umgebung  des  Sultans  werden  Ausbrüche  wilden  Zorns 
desselben  gemeldet.  Man  hält  ihn  für  unzurechnungsfähig  und  zittert 
vor  seinen  Blutbefehlen.  Niemand  hält  sein  Leben  einen  Tag  für  sicher. 
Übereinstimmend  wird  von  den  verschiedensten  Seiten  versichert, 
daß  die  armenischen  Gemetzel  zum  größten  Teil  auf  geheime  Befehle 
von  Jildis-Kiosk  zurückzuführen  sind.  Trotzdem  der  Unwillen  der 
Bevölkerung  gegen  Abdul  Hamid  immer  offener  und  unverhohlener 
zutage  tritt,  so  kommt  es  vorläufig  nicht  zum  Ausbruch  der  Re- 
volution, da  die  Männer  fehlen,  welche  sich  an  die  Spitze  derselben  zu 
stellen  bereit  wären. 

Saurma 

101 


Nr.  2457 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 

Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  17Q  Pera,  den  11.  November  1895 

Die  traurigen  Niedermetzelungen  der  Armenier  in  Kleinasien 
können  noch  keineswegs  als  beendet  angesehen  werden. 

Namentlich  an  denjenigen  Punkten,  wo  Kurden  ihre  Blutarbeit 
taten,  darf  die  Einstellung  der  Massakers  nur  als  provisorisch  angesehen 
werden,  und  es  steht  zu  erwarten,  daß,  wenn  dieselben  ihren  Raub 
erst  werden  gehörig  in  Sicherheit  gebracht  haben,  sie  von  neuem  über 
ihre   wehrlosen   Opfer   herfallen   werden. 

Welches  die  Haltung  der  neu  ausgehobenen  Truppen  sein  wird, 
wenn  sie  am  Orte  der  Greuel  erscheinen  werden,  bleibt  abzuwarten. 
In  der  armenischen  Bevölkerung  besteht  jedenfalls  in  betreff  der 
Truppen  kaum  eine  geringere  Angst  als  in  betreff  der  Kurden  selbst. 

Zum  Glück  für  die  Armenier  herrscht  gerade  zwischen  Türken  und 
Kurden  ein  tiefgehender  Nationalhaß,  so  daß  die  Möglichkeit  vorliegt, 
daß  letztere  von  den  Truppen  des  Sultans  werden  verjagt  werden. 

Die  Nachrichten,  welche  nach  und  nach  von  Augenzeugen  von  den 
Stätten  der  Massakers  hier  einlaufen,  sind  übrigens  einfach  haar- 
sträubend. 

Die  Umgebung  von  Erserum  ist  nur  Wüste  und  rauchender 
Schutt.  Teilweise  brennen  die  Dörfer  noch  heute.  In  Erserum  wurden 
die  Leichen,  die  nicht  schnell  genug  beerdigt  werden  konnten,  einfach 
den  Hunden  zum   Fraß  vorgeworfen. 

Ich  behalte  mir  vor,  von  meinen  Kollegen  eine  Übersicht  der  bisher 
stattgefundenen  Metzeleien  an  den  verschiedenen  mit  ihren  Konsulaten 
besetzten  Orten  zu  erbitten,  um  sie  Euerer  Durchlaucht  gehorsamst 
vorzulegen. 

Nur  möchte  ich  bis  zum  Abschluß  der  Metzeleien  damit  warten, 
was  allerdings  den  Bericht  leider  noch  einige  Zeit  hinausschieben  dürfte. 

Die  letzte  Metzelei  in  Diarbekir  soll  an  Umfang  alles  übertreffen, 
was  in  dieser  Richtung  bisher  dagewesen  ist.  Nach  Aussage  des  fran- 
zösischen Botschafters  —  Frankreich  allein  hat  daselbst  eine  kon- 
sularische Vertretung  —  ist  die  Zahl  der  Opfer  schwer  festzustellen, 
weil  die  Getöteten  massenweise  in  die  Gluten  des  brennenden  Basars 
geworfen  worden  sind. 

Jammervoll  soll  es  anzusehen  sein,  wie  die  Armenier  völlig  wider- 
standslos sich  gleich  Schafen  in  den  Ecken  und  Winkeln  der  Straßen 
abtun  lassen.  Saurma 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

Und   da   muß   man   nun   als   Christ   und  Europäer  ruhig  zusehn  und  auch  dem 
Sultan  noch  gut  Worte  geben!    Pfui!  über  uns  alle! 

102  M 


Nr.  2458 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  185  Pera,  den  13.  November  1895 

Vertraulich 

In  betreff  der  Beantwortung  der  Frage,  ob  der  Sultan  selbst  — 
nachdem  er  durch  seine  Haltung  bzw.  durch  direkte  scharfe  Befehle, 
die  aufständischen  Armenier  niederzuschmettern,  die  Blutgier  der 
Mohammedaner  gegen  die  verhaßten  Armenier  entfesselt  hat  —  im- 
stande sein  dürfte,  dem  weiteren  Blutbade  Einhalt  zu  tun,  bestehen 
hier  verschiedene  Meinungen, 

Die  einen  sagen,  es  sei  zu  spät,  andere  meinen,  daß,  wenn  der 
Sultan  offen  und  unzweideutig  seinen  Willen  kundgebe,  daß 
die  Armenier  fortan  zu  schonen  seien,  dem  Befehle  Folge  geleistet 
werden  würde.    Der  Befehl  des  Kalifen  besitze  diese  Kraft. 

Speziell  General  von  der  Goltz,  der  in  Fragen  dieser  Art  gut 
orientiert  ist,  glaubt  letzteres.  Nur  müsse  das  bezügliche  Wort  in  einer 
Weise  gesprochen  werden,  daß  jeder  Hintergedanke  dabei  ausge- 
schlossen erscheint,  so  daß  die  ausführenden  Organe  in  der  Provinz, 
welche  den  persönlichen  Haß  des  Sultans  gegen  die  Armenier  kennen, 
nicht  etwa  glauben,  daß  ihm  im  Grunde  doch  ein  Gefallen  mit  der 
Fortsetzung  der  Gewalttätigkeiten  gegen  dieselben  geschieht. 

Ich  bin  im  allgemeinen  derselben  Ansicht,  jedenfalls  insoweit  es 
sich  um  die  bedauerliche  Teilnahme  der  Truppen  und  der  Saptiehs 
an  den  Metzeleien  handelt.  Diese  würden  einem  bezüglichen  direkten 
Befehle  sich  nicht  zu  widersetzen  wagen.  Damit  wäre  aber  schon  viel 
gewonnen.  Vereinzelte  an  den  Armeniern  begangene  Morde  und 
Räubereien  werden  selbstverständlich  auch  in  diesem  Fall  noch  einige 
Zeit  andauern.  Die  aufgewühlten  Wogen  des  Nationalhasses,  des 
Fanatismus,  der  Blut-  und  Raubgier  können  sich  eben  nur  nach  und 
nach  beruhigen. 

Ich  glaube,  es  besteht  bei  Abdul  Hamid  gegenwärtig  die  be- 
stimmte Absicht,  das  ungeheure  Blutbad,  für  welches  ihn  die  Mächte 
doch  endlich  zur  ernsten  Verantwortung  ziehen  könnten,  nunmehr  zu 
beendigen. 

Die  großen  Truppenaushebungen  scheinen  darauf  hinzuweisen. 
Neuerdings  sind  wiederum  neue  umfangreiche  Redifeinziehungen  von 
ihm  angeordnet  worden. 

Ich  fürchte  nur,  daß  auch  damit  wieder  über  das  Ziel  hinaus- 
geschossen werden  wird. 

Eine  so  große  Masse  von  Truppen  unter  Waffen  will  bezahlt  und 
ernährt  sein.    Für  diesen  wichtigen  Punkt  ist  aber  keinerlei  Vorsorge 

103 


getroffen.  Geld  ist  nicht  vorhanden.  An  rechtzeitige  Beschaffung  von 
Lebensmitteln,  deren  Herbeibringung  zur  Winterszeit  bei  der  Wege- 
losigkeit  Kleinasiens  enorm  schwer  ist,  wird  nicht  gedacht.  Was 
Wunder,  wenn  die  ausgehungerten  und  mißvergnügten  Truppen  sich 
die  nötige  Nahrung  im  Wege  der  Plünderung  selbst  zu  verschaffen 
suchen  werden  i. 

Die  beabsichtigten  Ruhestifter  werden  also  unter  diesen  Um- 
ständen  vielleicht  gerade   die   Ruhestörer  werden. 

Kurz,  wohin  der  Blick  sich  auch  wendet,  Hoffnung  verheißende 
lichte  Stellen  vermögen  in  dem  trüben  Gewölk  kaum  irgendwo  wahr- 
genommen zu  werden. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Und  dann  kommt  die  Reihe  an  die  Europäer  bzw.  die  Mächte 


Nr.  2459 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  186  Pera,  den  13.  November  1S95 

Vertraulich 

Gestern  erschien  der  Patriarch  der  katholischen  Armenier  Peter 
Azarian  bei  mir  —  das  gleiche  wird  er  voraussichtlich  bei  den  übrigen 
Botschaftern  getan  haben  — ,  um  mir  die  verzweifelte  Lage  zu  schil- 
dern, in  welcher  sich  die  Armenier  in  diesem  Augenblick  befänden. 

Er  versicherte,  die  Vertreter  der  fremden  Mächte  hätten  überhaupt 
keine  annähernde  Vorstellung  von  den  Greueln,  welche  die  Türken 
gegenwärtig  an  ihnen  verübten. 

Die  fürchterliche  Hetze  finde  nicht  so  sehr  in  den  Städten,  sondern 
vielmehr  im  Innern  des  Landes  in  den  Dörfern  und  Ortschaften  statt, 
wo  sie  unbemerkt  und  in  aller  Stille  ausgeführt  werden  könnte.  Die 
Nachricht  davon  gelange  nur  durch  heimliche  Flüchtlinge  hierher. 

Zuerst  würden  die  Männer  niedergemacht,  die  Frauen  und  die 
Kinder  aus  den  Häusern  gejagt,  letztere  sodann  in  Brand  gesteckt, 
nachdem  alles  Wertvolle  daraus  geraubt  und  auf  Wagen  fortgeschafft 
worden  sei. 

Ein  Aufhören  der  Vernichtung  von  Menschen,  Hab  und  Gut  der 
Armenier  sei  noch  nicht  abzusehen.  Überall  breche  das  Morden,  Sengen 
und  Brennen  von  neuem  wieder  aus. 

Binnen  kurzem  müsse  das  armenische  Volk  total  vernichtet  sein, 
was  anscheinend  überhaupt  der  Wunsch  der  Türken  sei.   In  die  Hände 

104 


Rußlands  wollten  sich  die  Armenier  nicht  werfen,  da  sie  sicher  seien, 
dann  ihrer  Nationalität  binnen  kurzem  beraubt  zu  sein.  Der  letzte 
Rest  der  Übriggebliebenen  werde  jedoch  endlich  dazu  gezwungen 
werden. 

Der  Patriarch,  der  ein  guter  Kenner  der  hiesigen  Verhältnisse  ist, 
versicherte  mit  Bestimmtheit,  daß,  wenn  sich  die  Mächte  zu  einer  wirk- 
lich ernsten  und  dem  Sultan  sichtbaren  Drohung  vereinigen  könnten, 
die  Greuel  an  demselben  Tage  ihr  Ende  erreicht  haben  würden i, 
denn  einem  verständlichen  und  energischen  Haltruf  des  Sultans  würden 
sich  die  Mohammedaner  fügen. 

Der  Patriarch  flehte  mich  an,  seinen  Hilfruf  an  die  Kaiserliche 
Regierung  gelangen  zu  lassen  und  retten  zu  helfen,  was  noch  zu  retten 
sei.  pp. 

Gegen  die  englische  Politik  sprach  sich  der  Patriarch  mit  großer 
Bitterkeit  aus.  England  habe  seine  Hülfe  „jusqu'au  bouf'  zugesagt  2 
und  lasse  die  Armenier,  welche,  auf  dieses  Wort  rechnend,  mit  Stand- 
haftigkeit  und  Opfermut  ausgeharrt  hätten,  jetzt  schmählich  im  Stich  3. 

Bezüglich  der  anderen  beiden  Mächte,  welche  die  Reformen  für 
die  Armenier  in  die  Hand  genommen,  bemerkte  der  Patriarch: 

„En  fait  de  ,reformes'  demandees  ä  la  Porte  pour  les  Armeniens, 
ces  Puissances  se  contentent  de  compter  et  d'enregistrer  soigneusement 
le  nombre  des  victimes." 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Das  dürfte  schon  richtig  sein.    Dann  ist  der  Sultan  aber  verloren,  und  desshalb 
wird  er  stets  ein  Auge  zudrücken 

2  wie  immer 

3  nichts  neues 


Nr.  2460 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  187  Pera,  den  14.  November  1895 

Vertraulich 

Ungeachtet  der  immer  mehr  unter  der  hiesigen  Bevölkerung  sich 
ausbreitenden  Unzufriedenheit  mit  der  Regierungsweise  des  Sultans 
und  der  Offenheit,  mit  welcher  überall  von  der  Notwendigkeit  seiner 
Absetzung  gesprochen  wird,  ist  der  Augenblick  noch  keineswegs  ab- 
zusehen, wann  von  den  bloßen  Worten  hier  zur  Tat  geschritten  werden 
wird. 

Vorläufig  wird  die  Art  und  Weise,  wie  man  am  besten  zu  diesem 

105 


erhofften  Resultat  kommen  könne,  nur  diskutiert,  ohne  daß  sich  jemand 
fände,  welcher  den  Mut  hätte,  sich  offen  an  die  Spitze  der  Bewegung 
zu  stellen  und  die  Revolution  zu  proklamieren. 

Diese  Zaghaftigkeit  gibt  dem  Sultan  Mut  und  flößt  ihm  Vertrauen 
in  das  von  ihm  bis  jetzt  geübte  System  ein. 

Er  zentralisiert  deshalb  immer  mehr  die  gesamte  Regierungs- 
gewalt in  seiner  Hand,  beseitigt  jede  hervorragende,  mit  Fähigkeiten 
und  eigener  Willenskraft  ausgestattete  ehrenhafte  Person  und  duldet 
nur  Kreaturen,  die,  unbekümmert  um  das  Wohl  des  Vaterlandes, 
seinen  Befehlen  blindlings  gehorchen. 

Die  Bildung  des  neuen  Kabinetts  unter  dem  Großvvesirat  Rifaat 
Paschas*  liefert  den  Beweis,  daß  er  festen  Willens  ist,  in  dieser  von 
ihm  betretenen  Bahn  unbeirrt  fortzuschreiten. 

Daß  er  sich  damit  auf  dem  Thron  dauernd  nicht  wird  befestigen 
können,  liegt  auf  der  Hand.  Der  Augenblick  des  Ausbruchs  der  Er- 
hebung gegen  ihn   wird  nur  hinausgeschoben. 

Wäre  er  nicht  bezüglich  der  Lage  der  Verhältnisse  völlig  ver- 
blendet, so  würde  er  erkennen,  daß  es  für  ihn  nur  ein  Heil  gäbe: 

Auf  der  einen  Seite,  die  Unzufriedenheit  des  Volks  dadurch  zu 
beseitigen  und  das  Vertrauen  zu  ihm  dadurch  wieder  entstehen  zu 
lassen,  daß  er  dem  Großwesir  und  der  Pforte  die  frühere  Autorität 
und  Verantwortlichkeit  zurückgäbe  und  dabei  Männer  an  die  Spitze 
der  Regierung  stellte,  die  allgemeine  Achtung  genießen.  Auf  der 
anderen  Seite,  daß  er  durch  Nachgiebigkeit  gegenüber  den  Forde- 
rungen der  Mächte  die  Gefahren  beseitigte,  welche  ihm  aus  deren 
Überzeugung  entstehen  könnten,  daß  seine  Regierungsweise  eine 
direkte  und  dauernde  Gefahr  für  die  Ordnung  und  Ruhe  in  dem  Türki- 
schen Reiche  darstelle. 

Im  Palais  hält  sich  übrigens  die  Überzeugung  aufrecht,  daß  Abdul 
Hamid  wirklich  geistesleidend  sei,  und  daß  alle  seine  bedauerhchen 
Entschließungen  sowohl  in  den  armenischen  Verwickelungen  als  auch 
in  betreff  der  sonstigen  Ausübung  seiner  souveränen  Gewalt  direkte 
Ausflüsse  seiner  zeitweisen   Unzurechnungsfähigkeit  sind^. 

Bei  Abdul  Asis  lagen  die  äußeren  Verhältnisse  ähnlich  (freilich 
ohne  daß  die  Beschuldigung  gerechtfertigt  war).  Es  bestand  aber  dort 
Einigkeit  unter  den  zu  einer  regelmäßigen  Absetzung  erforderlichen 
Faktoren  —  Großwesir,  Scheich-ül-Islam  und  Kriegsminister  — ,  wäh- 
rend diese  Personen  hier  gerade  blind  ergebene  Werkzeuge  des 
Sultans  sind. 

S  a  u  r  m  a 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Da  können  wir  ja   noch   manches  erleben!  - 

kann  denn  der  Cheich-ul-Islam  ihn  nicht  desswegen  absetzen 

♦  Siehe  Nr.  2452,  Fußnote. 
106 


Nr.  2461 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  275  London,  den  19.  November  1895 

Vorläufige  Antwort  auf  Telegramm   Nr.  314*. 

Ich  habe  vorläufig  keinen  Anhaltspunkt  dafür,  daß  der  Artikel 
der  „Morning  Post",  welche  bisher  nicht  als  Organ  der  Regierung 
betrachtet  worden  ist,  von  letzterer  inspiriert  worden  ist.  Dagegen 
habe  ich  in  den  letzten  Tagen  den  Eindruck,  daß  Lord  Salisbury  jetzt 
dem  Sultan  gegenüber  eine  etwas  größere  Mäßigung  für  angezeigt 
hält.  Auffallend  war  mir  in  dieser  Richtung  schon  die  durch  mein 
Telegramm  Nr.  273**  gemeldete  Äußerung  des  Premierministers  gegen 
Graf  Deym,  daß  er  dem  österreichischen  Vorschlag  zustimme,  sich 
aber  der  Erwartung  hingebe,  daß  dem  Sultan  die  Wiederherstellung 
der  Ordnung  gelingen  werde.  Von  türkischen  Konzessionen  sehe  ich 
noch  kein  Symptom  und  nehme  an,  daß  die  augenblickliche  größere 
Reserve  Englands  durch  den  Wunsch  herbeigeführt  ist,  den  von  Lord 
Salisbury  in  seiner  Rede***  betonten  Akkord  der  Mächte  nicht  zu 
stören.  Meines  Erachtens  aus  demselben  Grunde  und  um  Österreich 
vorgehen  zu  lassen,  hat  Lord  Salisbury  vor  einigen  Tagen,  wie  durch 
Telegramm  Nr.  270  gemeldet,  die  Frage  des  österreichischen  Bot- 
schafters, ob  er  Vorschläge  zu  machen  habe,  ablehnend  beantwortet 
und  Österreich  die  Initiative  zugeschoben. 

Ich  sehe  Lord  Salisbury  voraussichtlich  morgen  und  werde  dann 
weiter  berichten. 

Hatzfeldt 


Nr.  2462 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  193  Pera,  den  19.  November  1895 

Durch  den  Doyen  der  Botschafter,  Baron  Calice,  ließen  wir  Seiner 
Majestät  dem  Sultan  auf  sein   Ersuchen  um  Angabe  derjenigen  Ver- 


*  Durch  Telegramm  Nr.  314  vom  18.  November  1895  war  um  Mitteilung  darüber 
ersucht  worden,  wodurch  die  in  einem  gleichzeitigen  Artikel  der  „Morning  Post" 
signalisierte  Schwenkung  der  englischen  Politik  gegenüber  der  Türkei  herbei- 
geführt sei,  ob  etwa  durch  türkische  Konzessionen  an  England  oder  durch  Be- 
sorgnis vor  einer  russischen  Besetzung  Armeniens. 
**  Siehe  Nr.  2516. 
***  Vom  9.  November.    Vgl.  Nr.  2492,  S.  149,  Fußnote  ***. 

107 


haltungslinie,  welche  er  einzuschlagen  habe,  um  Europa  wieder  Ver- 
trauen einzuflößen,  mitteilen,  daß  es  zunächst  vor  allem  darauf  an- 
komme, sowohl  in  den  von  Anarchie  ergriffenen  Provinzen  Kieinasiens 
Ordnung  und  Ruhe  wiederherzustellen  als  auch  diejenigen  Maßregeln 
zu  ergreifen,  welche  geeignet  seien,  die  eventuell  bedrohte  Sicherheit 
in   Konstantinopel  selbst   aufrechtzuerhalten. 

In   ersterer  Beziehung  gaben   wir  Seiner  Majestät  anheim 

1.  den  Gouverneuren  und  militärischen  Organen  strenge  und  nicht 
mißzuverstehende  Befehle  zu  erteilen,  um  dem  weiteren  Blutvergießen 
Einhalt  zu  tun ; 

2.  die  sofortige  Absetzung  derjenigen  Walis  und  sonstigen  Be- 
amten zu  bewirken,  welche  sich  offenkundigen  bösen  Willens  oder 
auch  nur  strafwürdiger  Nachlässigkeit  bei  den  vorgekommenen  Greueln 
schuldig  gemacht,  und  deren  Ersetzung  durch  vertrauenswürdige  Ele- 
mente anzuordnen; 

3.  diejenigen  Soldaten,  welche  an  Mord  und  Plünderung  teil- 
genommen haben,  zu  bestrafen; 

4.  einen  Hat^  zu  veröffentlichen,  mittelst  dessen  der  feste  Wille 
des  Sultans  verkündet  wird,  Friede,  Ordnung  und  Ruhe  überall  wieder 
hergestellt  zu  sehen. 

In  letzterer  Beziehung 

1,  die  Stadt  in  militärische  Bezirke  einzuteilen,  deren  Kommandan- 
ten für  die  Sicherheit  der  fremden  Untertanen  bei  etwaigen  Emeuten 
verantwortlich  gemacht  werden; 

2.  keine  Schwierigkeit  gegen  die  den  Mächten  ohnehin  vertrags- 
mäßig zustehende  Durchfahrt  von  zweiten  Stationären  zu  erheben, 
welche  den  Zweck  haben,  bei  etwaigen  für  die  fremden  Kolonien  ent- 
stehenden Gefahren  denselben  entsprechend  zu  Hülfe  zu  kommen. 

Bereits  heut  —  als  dem  jener  Mitteilung  folgenden  Tage  —  er- 
schien der  auswärtige  Minister  bei  mir,  um  mir  anzuzeigen,  daß 
Seine  Majestät  der  Sultan  für  die  ihm  von  uns  zuteil  gewordenen  Rat- 
schläge danke. 

Er  habe  dieselben  in  vollem  Maße  gewürdigt  und  bereits  ent- 
sprechende ßefehle  erlassen,  um  das,  was  ihm  geraten  worden,  sofort 
auszuführen. 

Nur  bezüglich  des  empfohlenen  Hats^  glaube  er,  daß  sich  dieser 
Punkt  dadurch  erledige,  daß  von  heut  ab  alle  die  von  ihm  zu  erlassen- 
den strengen  Befehle  nicht  wie  bisher  im  Namen  der  Pforte,  sondern 
in  feierlicher  Weise  im  Namen  des  Sultans  selbst  gegeben  und  zu- 
gleich durch  die  Organe  der  Presse  zur  öffentlichen  ^  Kenntnis  ge- 
bracht werden  würden.  Dieses  Verfahren  komme  an  sich  der  Ver- 
öffentlichung eines  Hats  gleich. 

Was  die  Verdoppelung  der  Stationäre  anlange,  so  werde  er  sich 
nicht  minder  den  Wünschen  der  Regierungen  fügen,  gebe  aber  zu 
bedenken,  ob  das   Erscheinen  derselben  nicht  hier  eine  unnütze  Auf- 

108 


regung  hervorrufen  könne,  indem  das  Einlaufen  einer  Anzahl  be- 
waffneter Schiffe  geeignet  sei,  an  das  Bevorstehen  einer  Gefahr  glauben 
zu  lassen.  Außerdem  sei  es  nicht  ausgeschlossen  zu  befürchten,  daß 
die  hier  befindlichen  Führer  des  armenischen  Aktionskomitees  in  der 
Annahme,  durch  Europa  gedeckt  zu  sein,  eine  neue,  in  ihren  Folgen 
stets  gefährliche  Demonstration  in  Szene  setzen  möchten. 

Er,  der  Sultan,  bitte  mich,  bei  den  übrigen  Botschaftern  meinen 
Einfluß  in  diesem  Sinne  geltend  zu  machen. 

Ich  lehnte  eine  derartige  Intervention  ab,  gab  dem  Minister  viel- 
mehr anheim,  sich  mit  meinen  Kollegen  direkt  darüber  zu  verständigen. 
Ich  selbst  hielte  das  Eintreffen  von  einigen  kleinen  Fahrzeugen,  die 
ja  nicht  zusammen  einträfen  und  auch  hier  nicht  zusammen  ankerten, 
für  nicht  Aufsehen  erregend,  dagegen  nützlich  zur  Beruhigung  der  durch 
die  in  Stambul  stattgehabten  Metzeleien  in  Besorgnis  geratenen  fremden 
Kolonien. 

Im  übrigen  hätte  ich  persönlich  noch  keinerlei  Mitteilung  meiner 
hohen  Regierung,  ob  dieselbe  überhaupt  beabsichtige,  ein  zweites  Fahr- 
zeug hierher  zu  entsenden. 

Tewfik  Pascha  wird  den  übrigen  Botschaftern  heute  dieselbe  Mit- 
teilung machen,  welche  er  mir  soeben  überbrachte. 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II,: 

i  Ist  das  wichtigste  er  wird  sich  aber  wohl  hüten  den  zu  geben 
2  aha!    Da  steckt  der  Hase!  das  ist  aber  die  Hauptsache 

8  und   im  geheimen   wird   der  Giaur  ausgelacht,   und  der   Bevölkerung  klar  ge- 
macht, es  ist  kein  Hat  also  ungültig 

Nr.  2463 

Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  /.  in  Rumpenheim,  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Telegramm.  Entzifferung 

Rumpenheim,  den  21.  November  1895 

Eine  poHtische  Konversation,  welche  die  Kaiserin  Friedrich  soeben 
mit  mir  führte,  dürfte  Euerer  Durchlaucht  von  einigem  Interesse  sein. 

Ihre  Majestät:  Ich  bin  außerordentlich  besorgt  über  die  Wen- 
dung, welche  die  Angelegenheit  in  der  Türkei  nimmt.  Du  mußt  einen 
Kongreß  nach  Berlin  berufen. 

Ich:  Ich  befürchte,  daß  bei  dem  Kongreß  nicht  viel  Gescheites 
herauskommen  wird,  außerdem  hat  Deutschland  das  geringste  Inter- 
esse am  Orient,  zudem  schützt  der  Kongreß  die  Christen  in  keiner 
Weise  und  hindert  die  Türken  nicht,  ihnen  die  Hälse  abzuschneiden. 

Ihre  Majestät:  Ja  aber  die  Mächte  müssen  zusammenhalten,  even- 
tuell zusammen  einschreiten  und  den  Sultan  mit  Gewalt  zwingen. 

109 


Ich:  Wie? 

Ihre  Majestät:  Man  müsse  sich  zusammen  verabreden  imd  dann 
einrücken  oder  durch   die  Dardanellen  gemeinschaftlich  einfahren. 

Ich:  Die  Greueltaten*  geschehen  im  Innern  Kleinasiens,  Hunderte 
von  Kilometern  von  der  Küste  entfernt.  Landungskorps  demonstrieren- 
der Geschwader  sind  daher  nutzlos,  einrücken  mit  Truppen  kann  nur 
eine  Macht,  das  ist  Rußland,  gemeinschaftliches  Einrücken  durch  die 
Dardanellen  ist  von  den  Großmächten  in  Erwägung  gezogen  worden, 
jedoch  von  Frankreich  und  Rußland  gemeinsam  abgelehnt  worden 
und  unterbleibt  daher. 

Ihre  Majestät:  Das  ist  recht  schade.  Diese  Franzosen  sind  infame 
Leute,  wo  sie  den  Russen  zu  was  Niederträchtigem  verhelfen  können, 
tun  sie  es  mit  Vergnügen  und  werden  in  allem  mit  ihnen  zusammen- 
stehen. Aber  was  um  des  Himmels  willen  soll  denn  werden,  wenn  die 
Angelegenheiten  zu  kriegerischen  Verwickelungen  führen?  Es  stehen 
so  viele  Interessen  auf  dem  Spiel,  bei  uns  z.  B.  ist  Ägypten  in  höchster 
Gefahr,  Die  Mächte  könnten  sich  ja  einigen,  einer  anderen  Macht, 
z.  B.  Rußland,  das  Mandat  zum  Einrücken  und  zum  Pazifizieren  der 
Türkei  zu  übertragen.   Ginge  das  nicht? 

Ich:  Ausführbar  wäre  dieser  Gedanke  an  und  für  sich;  aber  wenn 
die  Russen  einmal  eingerückt  sind,  wer  will  ihnen  eine  Grenze  ihres 
Vordringens  setzen,  und  wann  gehen  sie  wieder  raus? 

Ihre  Majestät:  Das  ist  richtig,  aber  immerhin  das  kleinere  Übel. 
Schließlich,  warum  sollen  sie  nicht  auch  was  dafür  bekommen? 

Ich:  Wie  die  Verhältnisse  einmal  liegen,  ist  jedes  Einrücken  oder 
jede  Flottendemonstration  mit  dem  Keim  eines  Dilemmas  behaftet. 
Eine  bloße  Demonstration  wirkt  auf  den  Sultan  nicht  mehr,  der  die 
Armenier  haßt  und  sie  weiter  exterminieren  lassen  wird.  Er  rechnet 
dabei  auf  Zwiespalt  unter  den  Mächten.  Ein  Einrücken  bringt  die 
Gefahr  mit  sich,  daß  der  Kalif  in  den  Augen  seiner  mohammedanischen 
Untertanen  mit  Hülfe  der  verhaßten  Christen  ihnen  verhaßte  Reformen 
aufzwingen  will,  das  kann  zu  Revolutionen  in  Konstantinopel  und 
Attentaten  auf  sein  Leben  führen.  Aus  Angst  hiervor  wird  er  gleich- 
falls die  Massakers  der  Christen  nicht  beendigen  lassen. 

Ihre  Majestät:  Der  Zustand  ist  unhaltbar  und  ganz  entsetzlich, 
so  wie  die  Türkei  jetzt  ist,  kann  sie  nicht  mehr  zusammenhalten,  es 
muß   zu   einem   allgemeinen   Zusammenbruch   kommen. 

Ich:  Es  ist  schade,  daß  Mr.  Gladstone  diese  Frage  überhaupt 
angeschnitten  hat  und  mit  der  öffentlichen  Meinung  auch  Lord  Salis- 
bury  engagierte. 

Ihre  Majestät:  Das  ist  ganz  richtig;  aber  es  gibt  Dinge,  in  denen 
die  öffentliche  Meinung  in   England  nun  mal  maßgebend  ist. 

♦  Siehe  Kap.  LXI,  A. 
110 


Ich :  Sollte  Lord  Salisbury  nicht  vielleicht  an  eine  Lösung  der  Orient- 
frage durch  Teilung  denken?* 

Ihre  Majestät  (mit  Wärme):  Selbstverständlich,  das  ist  ja  auch 
die  einzige  Rettung  aus  diesem  impasse,  die  Türkei  muß  aufgeteilt 
werden. 

Ich:  Wie  v^^äre  das  wohl  zu  machen? 

Ihre  Majestät:  Rußland  muß  die  Dardanellen  und  Konstanti- 
nopel bekommen,  der  Sultan  muß  seine  sämtlichen  Besitzungen  auf 
europäischem  Boden  aufgeben  und  räumen,  sein  verkommenes  Regime 
darf  europäischen  Boden  nicht  länger  beflecken,  Kleinasien  ist  groß 
genug,  und  Bagdad  muß  wie  in  alter  Zeit  Hauptstadt  der  Kaufen 
werden. 

Ich:  Was  werden  denn  die  Österreicher  dazu  sagen,  und  was 
sollen  die  bekommen? 

Ihre  Majestät:  Die  Österreicher  wären  Esel,  wenn  sie  sich  dem 
widersetzen  wollten,  denn  mit  der  elementaren  Gewalt  eines  Lava- 
stromes rückt  Rußland  an  Konstantinopel  heran,  es  ist  ihnen  gar 
nicht  zu  verwehren,  die  Meerengen  zu  nehmen,  es  ist  auch  ihr 
gutes  Recht,  da  sie  einen  outlet  für  ihren  Handel  haben  müssen, 
Österreich  muß  sich  dagegen  kompensieren,  Albanien,  Montenegro, 
Serbien  und  so  viel  von  Mazedonien  besetzen,  um  freien  Zutritt  zu 
Saloniki  zu  haben.  Saloniki  muß  großer  österreichischer  Stapelplatz 
und  Kriegshafen  werden,  das  ist  ihm  schon  von  jeher  bestimmt. 

Ich:  Die  Griechen  wollen  aber  auch  was  haben.  Was  sollen 
denn  die  kriegen? 

Ihre  Majestät:  Die  sämtlichen  Inseln,  Kreta  und  diejenigen  Dörfer 
Mazedoniens,  die  am   Rhodopegebirge  liegen. 

Ich:  Und  was  bekommt  Frankreich? 

Ihre  Majestät:  Frankreich  kann  Syrien  nehmen,  da  hat  es  schon 
großen  Einfluß,  England  hat  dann  Ruhe  in  Ägypten.  Rußland  muß 
im  Mittelländischen  Meer  befriedigt  werden  und  möglichst  scharf  in 
Ostasien  interessiert  und  engagiert  werden,  dann  wird  es  Europa  in 
Frieden  lassen. 

Der  Standpunkt  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  wird  wohl  ziemlich 
dem  Ihrer  Majestät  der  Königin  und  Lord  Salisburys  entsprechen,  ist 
im  allgemeinen  klar  politisch  durchdacht  und  völlig  stichhaltig.  Sie 
trug  mir  ihre  Ansichten  in  sehr  lebhafter  eindringlicher  Weise  vor, 
anscheinend  besorgt  durch  die  Lage  der  Dinge,  Entschieden  betont 
ist  die  Ansicht,  daß  der  Türke  in  Europa  nichts  mehr  zu  suchen  habe. 

Dies  Gespräch  ist  streng  vertraulich  an  Graf  Hatzfeldt  mitzuteilen, 
damit  derselbe,  in  geeigneter  Weise  es  verwendend,  Lord  Salisbury 
sondiert.  Nach  seiner  Antwort  ist  beides  nach  Rom,  Konstantinopel, 
Wien   und  Petersburg  streng  vertraulich  mitzuteilen, 

Wilhelm  LR. 

*  Vgl.  Kap.  LX. 

111 


Nr.  2464 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  Kaiser  Wilhelm  II., 

z.  Z.  in  Göhrde 

Ausfertigung 

Berlin,  den  22.  November  1895 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  sage  ich  meinen 
ehrfurchtsvollen  Dank  für  die  huldreiche  Mitteilung  der  Unterredung 
mit  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich,  welche  die  Bedeutung 
einer  höchst  wertvollen  Aufklärung  über  die  Ziele  und  Mittel  der 
gegenwärtigen   englischen   Mittelmeerpolitik    hat. 

England  ist  hochgradig  nervös,  weil  es  durch  die  franko-russische 
Gruppe  Ägypten  ernstlich  bedroht  sieht,  dasselbe  behalten  möchte, 
aber  wenn  irgend  möglich,  ohne  selber  dabei  in  einen  Krieg  zu 
kommen  1.  Die  verschiedenen  englischen  Projekte:  die  inzwischen  bereits 
negativ  erledigte  gemeinsame  Flottendemonstration,  sowie  auch  das  an 
Rußland  zu  erteilende  europäische  Mandat,  endlich  die  Aufteilung  der 
Türkei  —  haben  alle  und  jedes  nur  den  Zweck,  diejenige  zeitliche, 
beziehungsweise  örtliche  Begrenzung  der  russischen  Ausbreitung,  auf 
welche  Euere  Majestät  bereits  die  Kaiserin  als  auf  eine  unvermeid- 
liche Notwendigkeit  hingewiesen  haben,  durch  andere  Mächte  be- 
sorgen zu  lassen  2,  zur  Entlastung  von  England. 

Das  wirksamste  Ableitungsmittel,  englisch  gedacht,  würde  aber 
ohne  alle  Frage  ein  zweiter  Berliner  Kongreß  bieten.  Der  erste  be- 
schnitt Rußlands  Ansprüche,  verhinderte  den  russisch-englischen  Krieg 
und  lenkte  dafür  Rußlands  dauernden  Haß  auf  Deutschland  2  —  drei 
für  England  glückliche  Ergebnisse.  Daß  Lord  Sahsbury,  welcher  wie 
ich  den  Kongreß  mitmachte  und  die  Wirkungen  desselben  in  guter  Er- 
innerung haben  wird,  eine  Wiederholung  desselben  dringend  wünscht, 
ist  ebenso  begreiflich  wie  auch  andererseits,  daß  ich  vom  deutschen 
Standpunkte  aus,  falls  die  Frage  ernstlich  an  uns  heranträte,  Euerer 
Majestät  dringend  davon  abraten  würde 3,  gleichviel  ob  Berlin  oder 
eine  andere  Residenz  zum  Versammlungsort  ausersehen  wäre.  Denn 
ein  Kongreß,  indem  er  schweigende  Zurückhaltung  unmöglich  macht, 
kennt  weder  Vorhut  noch  Reserve,  sondern  stellt  alle  Beteiligten,  gleich- 
viel wie  groß  oder  klein  der  eigene  Anteil,  in  zwei  einfachen  Reihen 
gegenüber.  Deutschland  käme  durch  die  bloße  Tatsache  seiner  Teil- 
nahme an  einem  Kongreß  über  die  Meerengenfragen  aus  seiner  jetzigen 
Reservestellung  in  die  erste  Linie  i. 

Wenn  England,  wie  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  gesagt  hat,  in 
Ägypten  durchaus  Ruhe  haben  will,  hat  es  dafür  das  einfache  Mittel, 
denjenigen  beiden  Mächten,  deren  Interessen  an  Mittelmeer-  und  Orient- 
fragen leicht  mit  den  englischen  in  die  gleiche  Bahn  gebracht  werden 
können,  nämlich  Österreich   und  Italien,   die   Überzeugung  zu  geben, 

112 


dali  sie  im  Augenblick  der  Entsciicidung  von  England  nicht  allein  ge- 
lassen werden  1. 

Wie  Euere  Majestät  aus  dem  ehrfurchtsvoll  beigefügten  Tele- 
gramm des  Botschafters  von  Bülow  von  gestern  abend*  huldreichst 
ersehen  wollen,  ist  während  der  letzten  Tage,  das  heißt,  nachdem 
das  Wiener  sowohl  wie  das  römische  Kabinett  eine  gewisse  Taten- 
lust hatten  erkennen  lassen,  in  der  englischen  Politik  im  Gegenteil 
ein  gewisses  Zurückweichen  ^   bemerkbar  geworden. 

Aus  dieser  Erscheinung  ist  keineswegs  zu  schließen,  daß  die  eng- 
hsche  Regierung  die  englischen  Interessen  im  Mittelmeer  anders  be- 
urteilt als  vor  vierzehn  Tagen,  sondern  nur,  daß  Lord  Salisbury  den 
Kabinetten  von  Rom  und  Wien  gern  Gelegenheit  geben  möchte, 
sich  in  die  vorderste  Reihe  zu  stellen  2.  Die  gegenwärtige  Gesamtlage 
läßt  sich  dahin  zusammenfassen:  England  ist  entschlossen,  nicht  nur 
Ägypten  zu  behalten,  sondern  auch  nach  unseren  neuesten  Nachrichten 
durch  Anlegung  einer  strategischen  Bahn  von  Port  Said  nach  dem 
Persischen  Meerbusen  die  zwischen  diesen  beiden  Endpunkten  ge- 
legenen weiten  Gebiete  in  seine  Interessensphäre  allmählich  hinein- 
zuziehen. Die  englischen  Ansprüche,  in  dieser  Ausdehnung  gedacht, 
lassen  sich  nach  menschlicher  Berechnung  mit  dem  franko-russischen 
Machtgefühl  und  den  hieraus  sich  ergebenden  Konsequenzen  nicht 
versöhnen.  England  sieht  den  Konflikt  herannahen,  und  seine  ganzen 
Bestrebungen  sind  darauf  gerichtet,  ihn  hinauszuschieben,  in  der  Hoff- 
nung, daß  interea  aliquid  fit,  das  heißt,  daß  inzwischen  bei  iigendeinem 
Anlaß  die  Kontinentalmächte  aufeinanderplatzen*. 

Umgekehrt  müssen  diejenigen  Mächte,  welche  ihre  Zukunft  durch 
die  franko-russische  Gruppe  bedroht  sehen,  sich  die  Aufgabe  stellen, 
akute  Konflikte  mit  jener  Gruppe  möglichst  so  lange  zu  vermeiden  2, 
bis  England  an  die  äußerste  Grenze  seiner  philosophischen  CHildsam- 
keit  zurückgedrängt  ist  und  die  Notwendigkeit  sieht,  wirklich  niitzu- 
fechten.  Ob  die  Erwerbung  der  Dardanellen  mit  dem  Marmarameer 
als  russischem  Ausfallhafen  nach  Port  Said  hin  dem  Kabinett  Salisbury 
noch  als  eine  politisch  annehmbare  Möglichkeit  erscheint  oder  nicht, 
läßt  sich  heute  nicht  mit  Bestimmtheit  voraussehen.  Im  Interesse  der 
Dreibundmächte  liegt  es  aber  jedenfalls,  daß  Österreich-Ungarn  und 
Italien  zur  Dardanellenfrage  nicht  früher  als  England  feste  Stellung 
nehmen!.  Die  Kräfte  der  beiden  erstgenannten  würden  schwerlich 
gegenüber  denen  der  franko-russischen  Gruppe  ausreichen,  Deutsch- 
land würde  also  vor  die  unangenehme  Alternative  gestellt,  entweder 
seinen  beiden  Freunden  mit  bewaffneter  Hand  Beistand  zu  leisten 
oder  die  Perspektive  ins  Auge  zu  fassen,  daß  nach  der  Besiegung  von 
Österreich  und  Italien  die  siegreiche  franko-russische  Gruppe  dem  als- 
dann isolierten  Deutschland  ihre  Aufmerksamkeit  zuwende. 

*  Siehe  Nr.  2550. 

8    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  113 


Für  die  deutsche  Diplomatie  liegt  in  den  durch  Euere  Majestät 
erlangten  englischen  Aufklärungen  die  verstärkte  Mahnung,  dahin  zu 
arbeiten,  daß  diese  Alternative  uns  erspart  werde  2,  und  daß  unsere 
Dreibundfreunde  die  Politik  der  freien  Hand  in  Balkan-  und  Meer- 
engenfragen so  lange  sich  wahren,  wie  England  sich  nicht  vertrags- 
mäßig oder  tatsächlich  festgelegt  hat^.  Kommen  wird  der  Augenblick 
sicher,  wo  England  ein  weiteres  Überwuchern  der  franko-russischen 
Macht  unvereinbar  mit  seinen  eigenen  Existenzbedingungen  findet, 
und  ich  glaube  der  Allerhöchsten  Billigung  sicher  zu  sein,  wenn  ich 
sage,  daß  die  deutsche  Politik  ihre  Aufgabe  darin  sehen  muß,  daß  in 
Erwartung  dieses  Augenblicks  die  Kabinette  von  Wien  und  Rom  weder 
die  Geduld  noch   auch   das   Zutrauen  zum   Dreibund  verlieren  1. 

Die  neueren  Äußerungen  des  Baron  Blanc  gestatten  den  Rück- 
schluß, daß  dieser  italienische  Minister,  ungeachtet  seiner  natürlichen 
Lebhaftigkeit,  allmählich  zur  richtigen  Würdigung  der  Lage  und  ihrer 
Anforderungen  —  Geduld  und  ruhige  Nerven  —  gebracht  worden  ist^. 

Fürst  v.  Hohenlohe 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  11.: 
i  Richtig 

2  ja 

3  einverstanden 
*  ja 

daß  irgend  ein  Dummer  sich  finden  wird 
^  dasselbe  muß  bei  Goluchovvski  auch  Stattfinden. 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Der   Berliner  Congreß   war  ein  folgenschwerer  Fehler  ich  werde  nie  in   einen 

zweiten  willigen  W. 
Bemerkung  des  Kaisers  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

23/XI  95  Vollkommen  einverstanden 

Nr.  2465 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  267  Wien,  den  21.  November  1895 

Mein  englischer  Kollege*  lud  mich  und  den  türkischen  Bot- 
schafter** heute  zum  Frühstück,  das  zu  Ehren  Sir  Philip  Curries*** 
stattfand.  Graf  Nigra  kam  später,  um  Sir  Philip  zu  begrüßen,  mit 
dem  er  seit  seiner  amtlichen  Tätigkeit  in  London  bekannt  ist. 

Der  Botschafter  traf  gestern  abend  ein  und  reist  heute  mit  dem 
Orientexpreßzug  weiter.  *■ 


*  Sir  E.  Monson. 

**  Galib  Bey. 

***  Sir  Ph.  Currie  befand  sich  auf  der  Rückreise  von  London  nach  Konstantinopel. 

Vgl.  Nr.  2440. 

114 


Er  sprach  sich  ziemlich  offen  zu  mir  aus  und  schien  unter  dem 
Eindruci<  einer  im  allgemeinen  gebesserten  Lage  zu  stehen.  Wenn  er 
auch  kein  freundliches  Wort  für  den  Sultan  fand,  so  war  seine  Sprache 
doch  wesentlich  verschieden  von  derjenigen,  die  er  früher  in  Konstanti- 
nopel führte.  Den  armenischen  Patriarchen  nahm  er  sehr  entschieden 
gegen  die  Anschuldigungen  in  Schutz,  welche  bezüglich  seiner  Haltung 
erhoben  sind. 

Sehr  bemerkenswert  erschien   mir  seine  Äußerung: 

„Ich  gehe  nach  Konstantinopel  mit  so  bestimmten  Aufträgen, 
mich  ruhig  zu  verhalten  und  jede  Schärfe  zu  vermeiden,  daß  ich  die 
Hoffnung  hege,  es  bleibt  das  gute  Einvernehmen  der  Mächte  und  der 
Frieden  erhalten.  Meine  Aufgabe  ist  durchaus  angenehm,  und  — 
fügte  er  mit  einem  Lächeln  und  akzentuiert  hinzu:  sehr  anders  als 
diejenige,  welche  ich  früher  hatte  i.'' 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  die  Entente,  welche  zwischen  den 
Botschaftern  in  Konstantinopel  herrsche  und  sich  als  hervorragend 
wirksam  erwiesen  habe,  ihm  seine  Aufgabe  erleichtern  werde,  erwiderte  Sir 
Philip,  daß  er  besonders  seine  guten  persönlichen  Beziehungen  zu  Herrn  von 
Nelidow  hervorheben  könne,  mit  dem  es  sich  sehr  angenehm  arbeite. 

„Allerdings,"  fügte  er  hinzu,  ,,ist  es  nötig,  aufzupassen  und  sich 
die  Einmütigkeit  nicht  durch  Intrigen  stören  zu  lassen. '^  Ich  erwähnte, 
daß  ich  in  dieser  Hinsicht  verschiedene  Symptome  bemerkt  habe,  und 
sagte  daran  anschließend,  wie  mir  das  Faktum  sehr  eigentümlich  er- 
schiene, daß  Rußland  seine  Ablehnung  des  letzten  österreichischen 
Vorschlages  fast  früher  an  seine  Botschafter  habe  gelangen  lassen, 
als  die  Nachricht  nach  Wien  übermittelt  wurde. 

Sir  Philip  Currie  erwiderte,  daß  ihm  dieses  allerdings  auch  auf- 
gefallen sei  und  ihn  mit  Mißtrauen  erfülle. 

Die  Kriegsbereitschaft  der  russischen  Schiffe  und  Truppen  am 
Schwarzen  Meer  schien  ihn  nicht  besonders  nachdenklich  zu  machen. 
„Wahrscheinlich,"  sagte  er,  „geschah  es,  um  erklären  zu  können:  wir 
sind  fertig."  P.  Eulenburg 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Also  „beide  Maschinen   Volldampf  achteraus" 

Nr.  2466 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  194  Pera,  den  20.  November  18Q5 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  in  der  Anlage  Abschrift  des 
Zirkularschreibens  vom  18.  d.  Mts.*  gehorsamst  vorzulegen,  welches 
*  Hier  nicht  abgedruckt. 

8*  115 


Baron  Calice  an  seine  Kollegen  richtete  in  betreff  der  von  den  Bot- 
schaftern an  Tewfik  Pascha  gemachten  Eröffnung  hinsichtlich  der  dem 
Sultan  anzuempfehlenden  Haltung. 

Aus  demselben  geht  hervor,  daß  Seine  Majestät  der  Sultan  Infolge 
unserer  jüngsten  Demarche*  plötzlich  weich  und  nachgiebig  geworden 
ist.  Möchte  diese  Stimmung  nur  möglichst  lange  vorhalten! 

Ich  glaubte  im  Sinne  Euerer  Durchlaucht  zu  handeln,  wenn  ich 
nach  diesem  erreichten  Erfolge  meine  Person  nicht  länger  mehr  in 
den  Vordergrund  stellte,  die  weitere  Behandlung  der  Angelegenheit 
vielmehr  den  vereinigten  Botschaftern  überließ. 

Auf  diese  Weise  glaubte  ich  am  besten  etwaigen  Mißverständ- 
nissen vorzubeugen,  dahingehend,  als  ob  die  Kaiserliche  Regierung 
in  einem  besonders  vertraulichen  Freundschaftsverhältnis  zu  Seiner 
Majestät  dem  Sultan,  bzw.  der  Pforte  stünde.  Von  dieser  Anschauung 
ausgehend  bat  ich  den  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten,  in 
Fällen,  wo  es  sich  um  generelle  Unterhandlungen  zwischen  der  Pforte 
und  den  Vertretern  der  Mächte  handele,  sich  mit  unserem  Doyen** 
in  Verbindung  zu  setzen,  anstatt  mich  ferner  zur  Mittelsperson  zu 
wählen. 

Mit  Rücksicht  auf  die  unter  den  Mächten  bezüglich  der  schweben- 
den Fragen  bestehende  Einigkeit  sei  jener  Modus  meiner  Ansicht  nach 
der  angezeigtere. 

S  a  u  r  m  a 


Nr.  2467 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien***  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von   Schwarzenstein 

Nr.  909  Berlin,  den  23.  November  1895 

Ew.  pp.  beehre  ich  mich  unter  Bezugnahme  auf  meinen  Erlaß 
Nr.  896  vom  19.  d.  Mts.  f  zu  Ihrer  gefälligen  Information  beifolgend 
Abschrift  eines  von  dem  englischen  Geschäftsträger  heute  hier  über- 
reichten Memorandums  zu  übersenden,  aus  welchem  sich  ergibt,  daß 
die  englische  Regierung  unsere  Mitwirkung  in  Konstantinopel  behufs 
Wiederherstellung  der  Ruhe  mit  Dank  anerkennt. 

Marschall 


*  Vgl.  Nr.  2462. 

**  Der  Österreich-ungarische  Botschafter  Freiherr  von  Calice. 

***  Entsprechende  Mitteilung  erfolgte  nach  London,  Rom  und  Konstantinopel. 

t  \gl.  Nr.  2510,  Fußnote  ♦*. 

116 


Anlage 

Der  englische  öeschäftsfräger  in  Berlin  Martin  Qosselin  an  den 
Siaafssekrelär  des  Aus^\ärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Note.  Unsignierte  Ausfertigung 

British  Embassy  Berlin,  November  23.  1895 
Her  Majesty's  Government  have  heard  with  much  satisfaction  of 
the  language  used  by  the  Imperial  Ambassador  at  Constantinople 
to  His  Majesty  The  Sultan.  It  appears  that  this  language  has  produced 
an  excellent  effect,  and  Lord  Salisbury  begs  me  to  express  to  Your 
Excellency  the  best  acknowledgements  of  Her  Majesty's  Government 
for  the  friendly  support  of  Germany. 

His  Lordship  is  also  glad  to  hear  from  Count  Hatzfeldt  that  Baron 
von  Saurma  has  also  joined  Mr.  Herbert  in  endeavouring  to  obtain 
clemency  for  the  insurgents  at  Zeitoun*.  A  very  serious  effect  would 
be  produced  on  public  opinion  if  the  Turkish  troops  were  permitted 
to  commit  barbarities  there. 


Nr.  2468 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  25.  November  1895 
Der  österreichisch-ungarische  Botschafter  gab  mir  heute  \  ertrau- 
liche Kenntnis  von  einem  Bericht,  welchen  Graf  Deym  an  den  Grafen 
Goluchovvski  über  eine  Unterredung  mit  Lord  Salisbury  erstattet  hat. 
Danach  hat  letzterer  sich  dahin  geäußert,  daß  Baron  Calice  der  beste 
Kenner  der  Verhältnisse  in  Konstantinopel  sei,  und  England  gern  alle 
Vorschläge,  die  von  ihm  gemacht  würden,  annehme.  Bezüglich  der 
allgemeinen  Situation  äußerte  der  Premier  Besorgnisse,  daß  es  dem 
Sultan  nicht  gelingen  werde,  Ordnung  und  Ruhe  wieder  herzustellen. 
Um  dieses  Resultat  zu  erreichen,  gäbe  es  ein  Mittel,  aber  er  zweifle, 
ob  die  Mächte  sich  dazu  entschließen  würden.  Auf  Drängen  des  Bot- 
schafters bezeichnete  Lord  Salisbury  als  dieses  Mittel  die  „deposition 
du  Sultan".  Bei  der  herrschenden  Mißstimmung  werde  sich  die- 
selbe in  sehr  einfacher  Weise  vollziehen.  An  ein  „demembrement" 
der  Türkei  denke  er  nicht,  denn  dies  würde  das  Signal  zu  einem 
europäischen  Kriege  geben. 

Marschall 


Vgl.  Kap.  LXI,  Anhang. 

117 


Nr.  2469 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  145  Pera,  den  25.  November  1895 

Als  eine  weitere  heilsame  Folge  der  letzten  Warnung  der  Kaiser- 
lichen Regierung  stellt  sich  der  von  Seiner  Majestät  dem  Sultan  ge- 
faßte Beschluß  dar,  in  einer  demnächst  zu  erlassenden  Proklamation 
die  in  den  sechs  kleinasiatischen  Provinzen  einzuführenden  Reformen 
zur  öffentlichen   Kenntnis   des   Landes   zu  bringen. 

Sodann  hat  Seine  Majestät  beschlossen,  eine  Kommission  nach 
Mazedonien  zu  entsenden,  um  die  Wünsche  der  dortigen  Bevölkerung 
kennen  zu  lernen  und  die  entsprechenden  Refofmen  möglichst  bald  auch 
für  diese  Provinz  vorzubereiten. 

Saurma 

Nr.  2470 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  226  Pera,  den  11.  Dezember  1895 

In  der  gestern  unter  uns  Vertretern  der  Großmächte  stattgehabten 
Besprechung*  verlangte  Sir  Philip  Currie  in  sehr  erregten  Worten, 
die  hiesigen  Botschafter  hätten  vor  der  Welt  die  Pflicht,  irgend  etwas 
Ernstliches  zu  unternehmen,  um  den  grauenhaften  Blutbädern  in  Klein- 
asien, welche  ihren  ungehinderten  Fortgang  nähmen,  Einhalt  zu  tun. 
„In  England  beginne  die  Presse  in  sehr  unangenehmer  Weise  Kritik i 
an  der  eigenen  Regierung  wegen  ihrer  Unfähigkeit  zu  üben,  die  Greuel 
in  Kleinasien  wirksam  zu  bekämpfen.  Ebenso  abfällig  würde  über 
die  hiesigen  fremden  Botschafter  geurteilt,  welche  trotz  ihrer  zahl- 
reichen „Konferenzen"  nichts  zur  Verbesserung  der  Lage  der  Dinge 
zustande  brächten."  Es  müßten  endlich  unsererseits  ^  direkte  und 
sichtbare  Schritte  getan  werden,  um  in  die  entsetzlichen  Unmenschlich- 
keiten zum  Zweck  deren  Beendigung  einzugreifen. 

Es  wurde  ihm  entgegnet,  daß  die  Auffassung,  welche  die  eng- 
lische Presse  bezüglich  des  Charakters  der.  hiesigen  Botschafter- 
zusammenkünfte hege,  eine  irrtümliche  sei.  Unsere  Besprechungen 
hätten  keineswegs  einen  beschließenden,  vielmehr  einen  lediglich  kon- 
sultativen und  privaten  Charakter,  insofern  wir  die  Lage  der  hiesigen 

*  Vgl.  den  Bericht  Sir  Ph.  Curries  in:   Das  Staatsarchiv  Bd.  53,  Nr.  11042. 
118 


Verhältnisse  gemeinsam  besprächen  und  durch  möglichst  überein- 
stimmende Beurteilung  derselben  unseren  Regierungen  die  von  ihnen 
eventuell   unter  sich   zu  vereinbarenden  Maßnahmen   erleichterten. 

Die  Ergreifung  irgendwelcher  positiver  Schritte  stehe  nicht  uns, 
sondern   einzig  und   allein   unseren   Regierungen  zu. 

Auf  diese  Weise  konnte  auf  den  Antrag  des  englischen  [Botschafters 
nicht  eingegangen  werden,  Spezialkommissäre  —  etwa  die  Militär- 
attaches oder  Dragomans  der  Botschaften  —  nach  dem  Schauplatz 
der  Greuel  zu  entsenden,  um  an  Ort  und  Stelle  geeignete  Feststellungen 
bezüglich  des  von  der  Pforte  geflissentlich  verschleierten  wahren  Sach- 
verhalts zu  machen. 

Als  darauf  Sir  Philip  empfahl,  der  gedachte  Vorschlag  möge  von 
uns  gemeinschaftlich  unseren  Regierungen  unterbreitet  werden,  be- 
merkte Herr  von  Nelidow  —  wohl  nicht  mit  Unrecht  — ,  daß  eine 
jetzt  nach  Kleinasien  zu  entsendende  Kommission  kaum  ihre  Aufgabe 
zu  erledigen  imstande  sein  dürfte.  Schon  ein  Reisen  in  den  fast  wege- 
losen Gegenden  jetzt  zur  Winterszeit  sei  kaum  möglich.  Ebenso  schwer 
würde  sogar  das  einfache  Unterkommen  der  Kommissare  in  den  ver- 
heerten Orten  sein. 

Schließlich  kamen  wir  dahin  überein,  an  der  Hand  des  uns  von 
den  Konsuln  in  Kleinasien  bezüglich  der  neuesten  Metzeleien  ge- 
lieferten Materials  bei  der  Pforte  erneute  Vorstellungen  zu  erheben 
und  zu  verlangen,  daß  die  Regierungen*  durch  energische  Maßregeln 
auf  Wiederherstellung  der  Ordnung  in  den  armenischen  Provinzen 
hinarbeiten  möge 3.   —  Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Das  ist  der  Regierung  ganz  gesund 

2  !  naiv! 

3  Das  wird  nun  ebensowenig  Eindruck  machen  wie  zuvor! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Das  Verlangen  nach  energischen  Schritten  ist  ganz  gerechtfertigt,  da  die  Rolle 
die  wir  als  Europa  den  Moslems  gegenüber  spielen  mehr  als  jämmerlich  ist. 
Aber  daß  England  es  von  andren  als  von  sich  selbst  erwartet  ist  geradezu 
hochkomisch.  Wenn  man  bedenkt,  daß  der  ganze  Schwindel  von  England  an- 
gezettelt wurde! 

Nr.  2471 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  227  Pera,  den  11.  Dezember  1895 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  in  der  Anlage  einen  Bericht 

des  Gerenten  des  Kaiserlichen  Vizekonsulats  in  Amasia**  vom  27.v.Mts. 

*"Sic! 

**  Kaufmann  Emanuel  Sollbergcr. 

119 


zur  hochgeneigten   Kennhiisnahme   abschriftlich   gehorsamst   zu  über- 
reichen. 

Der  Bericht  schildert  die  Ereignisse,  welche  sich  im  vorigen  Monat 
in  Amasia,  Mersifun,  Siwas,  Josgad  und  Sileh  abspielten,  in  zu- 
treffender Weise,  wie  ich  mich  durch  Vergleich  mit  den  bezüglichen 
Berichten  der  französischen  Konsuln  überzeugt  habe. 

Die  in  dem  Sollbergerschen  Bericht  enthaltene  Schätzung  der 
bisher  getöteten  Armenier  auf  60 — 80000*  stimmt  mit  anderweitigen 
Angaben  überein. 

Nicht  minder  richtig  hervorgehoben  ist  die  türkischerseits  fort 
und  fort  aufgetischte  Unwahrheit,  daß  die  Armenier  stets  der  provo- 
zierende Teil  gewesen  sind.  Es  trifft  dies  wohl  an  einzelnen  Orten 
zu,  bildet  aber  nicht  im  entferntesten  die  Regel.  Es  hat  bisher  nirgends 
ein  wirklicher  Kampf  zwischen  Armeniern  und  Türken  stattgefunden, 
vielmehr  stets  eme  einfache  Abschlachtung  von  Hunderten  der  ersteren, 
ohne  daß  kaum  ein  oder  ein  paar  Türken  das  Leben  dabei  verloren. 
Daß  sich  das  Militär  an  den  Metzeleien  und  Plünderungen  beteiligt, 
ist  nichts  Neues. 

In  Siwas  waren  von  dem  dortigen  Gouverneur  zum  Schutz  von 
fremden  Konsulaten,  Kirchen,  Hospitälern  und  Schulen  militärische 
Schutzmannschaften  gestellt  worden.  Diese  Soldaten  beklagten  sich 
offen  über  diese  ihre  Verwendung,  indem  „ihnen  dadurch  die  Zeit 
und  Gelegenheit  genommen  werde,  an  der  Plünderung  der  Stadt  teil- 
zunehmen und  sie  auf  diese  Weise  ihren  Kameraden  gegenüber  in 
ungerechten  Nachteil  kämen". 

Überhaupt  tritt  die  Erscheinung  immer  deutlicher  auf,  daß  es 
die  Lust  an  Raub  und  Plünderung  ist,  welche  das  Motiv  für  die  immer 
wiederkehrenden   Exzesse  bildet. 

Auch  den  besten  Willen  bei  der  Regierung  vorausgesetzt,  dürfte 
es  derselben  jetzt,  nach  voller  Entfesselung  der  wilden,  in  den  armeni- 
schen Provinzen  hausenden  Elemente  schwer  fallen,  dieselben  wieder 
in  Banden  zu  schlagen. 

Die  Zeit  dafür  ist  versäumt. 

Von  einer  Bestrafung  der  Schuldigen  kann  unter  den  gegen- 
wärtigen Verhältnissen  nicht  die  Rede  sein.  Die  Straflosigkeit  reizt 
aber  selbstverständlich  zu  neuen  Untaten. 

Saurma 


*  Bei  dieser  Stelle  des  Sollbergerschen  Berichts  findet  sich  die  Randbemerkung 
des  Kaisers:  „empörend!!  und  das  sieht  England  ruhig  mit  an?  nachdem  es  die 
ganze  Geschichte  eingerührt  hat";  am  Schluß:   „entsetzlich!" 


120 


Nr.  2472 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Ausfertigung 

Berlin,  den  15.  Dezember  1895 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  gestatte  ich  mir 
alleruntertänigst  einen  Bericht  von  AUerhöchstdero  Botschafter  in 
Konstantinopel  vom  11.  d.  Mts.*  zu  unterbreiten,  aus  welchem  sich 
ergibt,  daß  der  englische  Botschafter  unter  Hinweis  auf  die  erregte 
öffentliche  Meinung  Englands  sich  bemüht  hat,  seine  Kollegen  zu 
aktiven  Schritten  in  den  armenischen  Angelegenheiten  anzuspornen. 

Andererseits  stimmen  alle  aus  London  hierher  gelangten  Nach- 
richten darin  überein,  daß  die  englische  Regierung  bisher  durchaus 
nicht  die  Absicht  durchblicken  läßt,  in  dem  Falle,  wo  ihr  fortgesetztes 
Rütteln  zum  Zusammenbruch  der  Türkei  wirklich  führen  sollte,  selber 
mit  bewaffneter  Hand  für  die  Verteidigung  etwa  bedrohter  englischer 
Interessen  einzutreten  i.  Vielmehr  geht  augenscheinlich  Englands  Be- 
streben dahin,  bei  diesem  Anlasse  einen  Krieg  der  Kontinentalmächte 
untereinander  anzuregen,  bei  welchem  Englands  Betätigung  in  dessen 
Belieben  gestellt  wäre  2.  Angesichts  dieser  Sachlage  darf  ich  die  Aller- 
höchste Genehmigung  erhoffen,  wenn  ich  entsprechend  den  bisherigen 
Grundsätzen  der  deutschen  Politik  Euerer  Majestät  Botschafter  in  Kon- 
stantinopel dahin  instruiere,  daß  er  sich  gegenüber  den  englischen  An- 
trägen, welche  alle  den  Zweck  verfolgen,  an  dem  morschen  türkischen 
Staatsbau  zu  rütteln,  ablehnend  verhalte 3. 

Abschrift  des  Telegrammentwurfs**  füge  ich  alleruntertänigst  bei. 

Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Gewiß  nicht!    Sie  will  daß  wir  über  die  Pflaumen  welche  sie  vom  Türkischen 
Baum  auf  uns  andre  herabschüttelt  uns  in  die  Haare  kommen  sollen! 

2  richtig 
B  ja 

Nr.  2473 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg*** 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 
Nr.  19Q  Berlin,  den  16.  Dezember  1895 

Sir  Philip  Currie  hat  nach  Meldung  des  Kaiserlichen  Botschafters 
in  den  letzten  Tagen  wieder  versucht,  die  Vertreter  der  übrigen  Mächte 

*  Siehe  Nr.  2470. 

**  Identisch  mit  Nr.  2474. 

***  Ein  gleiches  Telegramm  (Nr.  161)  erging  an  den  Botschafter  in  Rom. 

121 


unter  Hinweis  auf  die  gereizte  öffentliche  Meinung  Englands  dahin 
zu  bringen,  daß  sie  ihren  Regierungen  zum  Einschreiten  in  der  armeni- 
schen Frage  raten  möchten.  Nachdem  Freiherr  von  Saurma  im  Sinne 
seiner  Instruktionen  diese  Zumutung  abgelehnt  hatte,  sind  heute  hier 
vom  englischen  Botschafter  zwei  telegraphisch  übermittelte  Schrift- 
sätze übergeben  worden,  wo  die  armenischen  Greuel  in  den  grellsten 
Farben  gemalt,  und  die  nach  englischer  Ansicht  daraus  für  die  Mächte 
hervorgehenden    Konsequenzen   an    die    Hand   gegeben   werden. 

Wenn  Euer  pp.,  wie  ich  annehme,  demnächst  Gelegenheit  haben, 
diese  Angelegenheit  an  maßgebender  Stelle  zu  besprechen,  bitte  ich, 
von  neuem  hervorzuheben,  daß  weder  Deutschland  noch  Österreich 
noch  Italien  ihr  Gewissen  durch  die  armenischen  Angelegenheiten 
belastet  zu  fühlen  brauchen,  daß  vielmehr  die  Verantwortung  hierfür 
nächst  oder  neben  der  Türkei  lediglich  auf  England  ruht,  welches  ein 
Interesse  daran  hatte,  durch  einen  türkischen  Konflikt,  bei  dem  wo- 
möglich sämtliche  Kontinentalmächte  in  Mitleidenschaft  gezogen 
würden,  die  ägyptische  Frage  zeitweilig  von  der  Tagesordnung  ab- 
setzen zu  lassen. 

Ew.  pp.  werden  auch  wiederum  mit  Nutzen  hervorheben  können, 
daß  das  sicherste  Mittel,  England  von  der  Beteiligung  an  Orient- 
konflikten zu  entbinden,  darin  besteht,  daß  andere  Mächte,  z.  B.  Öster- 
reich und  Italien,  die  Orientfrage  im  ganzen  oder  in  einzelnen  Teilen 
zu  ihrer  eigenen  Sache  machen,  ohne  abzuwarten,  daß  England  sich 
vertragsmäßig  oder  tätlich   fest   engagiert   hat. 

Marschall 


Nr.  2474 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  93  Berlin,  den  17.  Dezember  1895 

Antwort  auf  Bericht  226*. 

Einverstanden  damit,  daß  Ew.  sich  ablehnend  gegen  die  Anträge 
des  englischen  Botschafters  verhielten.  Deutschland  hat  die  armeni- 
schen Greuel  nicht  verschuldet,  hat  daher  auch  keinen  Grund  zur 
Erregung.  England  ist  stark  genug,  um,  falls  es  eine  Sühne  für  seine 
politischen  Mißgriffe  nötig  hält,  selber  vorzugehen.  Überdies  wird 
es  ihm  leicht  sein,  dann  Mitinteressenten  unter  den  anderen  Mittel- 
meermächten zu  finden.  In  der  Hinsicht  werden  wir  ihm  keinen 
Zwang  antun.    Nur  das  beabsichtigen  wir  zu  verhindern,  daß  die  uns 

*  Siehe  Nr.  2470. 
122 


näherstehenden  Mächte  Österreich  und  Italien  für  England,  aber 
ohne  England  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holen,  weil  in  letzterem 
Falle  die  Kraftverhältnisse  so  sind,  daß  wir  dann  leicht  gezwungen 
werden  könnten,  unsrer  Freunde  wegen  einzugreifen,  obschon  uns  die 
Meerengenfrage   direkt   nichts    angeht. 

Die  vorstehende  Instruktion   hat  Seiner  Majestät  vorgelegen. 

Marschall 


Nr.  2475 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  272  Wien,  den  17.  Dezember  1895 

Der  englische  Botschafter  hat  gestern  in  dienstlichem  Auftrage 
die  Aufmerksamkeit  der  hiesigen  Regierung  auf  die  Notstände  in 
Armenien  gelenkt  und  die  Frage  gestellt,  welche  Vorschläge  i  etwa 
Graf  Goluchowski  zur  Hebung  derselben  machen  könnte?  Der  Mi- 
nister hat  sehr  energisch  geantwortet,  daß  er  sich  unter  keinen  Um- 
ständen in  diese  Frage  mischen  werde  2.  Auch  hat  er  Sir  Edmund 
Monson  auf  die  Gefahr  aufmerksam  gemacht,  welche  in  einer  erneuten 
Anregung  dieser  Frage  läge. 

Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  ! 

2  Gut 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Gut 

gebranntes  Kind  scheut  das  Feuer! 


Nr.  2476 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  216  Rom,  den  17.  Dezember  1895 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  161*. 

Als  [ich]  .Baron  Blanc  heute  in  einer  laufenden  Angelegenheil 
aufsuchte,  zeigte  mir  derselbe  vertraulich  einen  Brief,  welchen  er 
gestern  in  der  armenischen  Frage  von  meinem  englischen  Kollegen** 
erhalten   hatte.    Der   englische   [Botschafter]   schrieb   in  diesem   Brief, 


*  Siehe  Nr.  2473,  Fußnote  *♦*. 
**  Sir  Francis  Cläre   Ford. 


123 


daß  er  von  Lord  Salisbury  angewiesen  i  worden  sei,  die  Haupt- 
puni<tc  aus  der  jüngsten  Berichterstattung  des  englischen  Vizekonsuls 
in  Musch  über  die  Lage  der  Dinge  in  Armenien  zur  Kenntnis  der 
italienischen  Regierung  zu  bringen.  Das  sich  hieran  anschließende 
Resümee  schilderte  die  armenischen  Zustände  als  völlig  anarchische, 
beschuldigte  die  Türken  aller  möglichen  Greuel  und  stellte  schließlich 
Bankerott  und  Zerfall  in  nahe  Aussicht 2, 

Ich  benutzte  diesen  Anlaß,  um  in  Anknüpfung  an  frühere  Ge- 
spräche zwischen  uns  von  neuem  hervorzuheben,  daß  Italien  sein 
Gewissen  durch  die  armenischen  Angelegenheiten  ebensowenig  belastet 
zu  fühlen  brauche  wie  Deutschland  und  Österreich-Ungarn.  Ich  ließ 
hierbei  wiederum  einfließen,  wie  das  sicherste  Mittel,  die  Engländer 
von  der  Beteiligung  an  Orientkonflikten  zu  entbinden,  darin  bestehen 
würde,  daß  Italien  ohne  vorheriges  vertragsmäßiges  oder  tatsächliches, 
aber  festes  englisches  Engagement  die  Orientfrage  im  ganzen  oder  in 
einzelnen  Teilen  zu  seiner  eigenen  Sache  machet. 

Baron  Blanc  stimmte  meinen  Ausführungen  mit  der  Bemerkung 
bei,  daß  er  sich  auch  in  der  armenischen  Frage  weder  von  England 
vorschieben  noch  für  England  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  holen 
wolle.  Der  Minister  fügte  hinzu,  daß  er  auf  den  Brief  meines  eng- 
lischen Kollegen  nur  mit  einer  Empfangsbestätigung  antworten  werde. 

B  ü  1  o  w 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  Abschrift: 

1  Donnerwetter  das  ist  ja  die  reine  Conspiration! 

2  also  wie  in  Wien 
'  richtig 


Nr.  2477 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  282  Wien,  den  17.  Dezember  1895 

Ganz  vertraulich 

Graf  Goluchowski  las  mir  gestern  abend  einen  Bericht  des  Grafen 
Deym  vor.  Derselbe  behandelt  eine  Unterredung  des  Botschafters 
mit  Lord  Salisbury  über  die  Lage  im  Orient.  Graf  Deym  berichtet, 
daß  aus  den  Äußerungen  Lord  Salisburys  hervorzugehen  scheine,  daß 
er  jedes  eigenmächtige  Handeln  vermeiden  wolle  und  sich  eng  an  die 
gemeinschaftlichen  Schritte  der  Mächte  anzulehnen  beabsichtige  1.  Er 
sieht  in  der  Erledigung  der  Stationärfrage*  ein  Symptom  der  Beruhigung 

*  Vgl.  Kap.  LXII,  B. 

124 


und  läßt  durch  den  Botschafter  dem  Grafen  Goluchowski  zu  dessen 
Erfolg  gratulieren  2. 

Zum  Schluß  des  Berichtes  spricht  Graf  Deym  die  Befürchtung 
aus,  daß  die  von  den  englischen  Blättern  aller  Parteien  erneut  auf- 
genommenen Klagen  über  die  armenischen  Zustände  Lord  Salisbury 
trotz  seiner  besten  Dispositionen  für  die  Durchführung  der  gemein- 
schaftlichen Aktion  in  ein  anderes  Fahrwasser  drängen  könnten. 

In  gewisser  Weise  hat  diese  Besorgnis  eine  Begründung  da- 
durch erfahren,  daß  mein  englischer  Kollege  gestern  den  Grafen 
Goluchowski  im  dienstlichen  Auftrage  aufsuchte,  um  ihn  auf  die  Un- 
haltbarkeit^  der  armenischen  Zustände  aufmerksam  zu  machen  und 
anzufragen,  was  Graf  Goluchowski  vorschlüge*,  um  Abhülfe  zu 
schaffen? 

Der  Minister  sagte  mir  ziemlich  erregt,  daß  er  Sir  Edmund 
Monson  sehr  energisch  erklärt  habe,  er  werde  unter  keinen  Um- 
ständen seine  Hand  dazu  bieten,  sich  in  ein  ganz  aussichtsloses  Unter- 
nehmen einzulassen.  Er  bedauere  von  Herzen  das  Elend  der  unglück- 
lichen verhungernden  Weiber  und  Kinder,  aber  wolle  vor  allen  Dingen 
vermieden  wissen,  daß  aus  der  englischen  erregten  öffentlichen  Mei- 
nung die  alte  armenische  Frage  zu  neuem  Leben  erwache.  Das  könne 
die  mühevoll  erreichte  Entente  der  Mächte  über  den  Haufen  werfen 
und  noch  schwierigere  Situationen  schaffen,  als  bisher  zu  überwinden 
gewesen  seien  5. 

Von  dem  accord  ä  trois  ist  in  den  letzten  Tagen  keine  Rede  ge- 
wesen. Den  hohen  Weisungen  folgend,  habe  ich  das  Thema  nicht 
berührt.  Ich  vermute,  daß  Graf  Goluchowski  nach  Ankunft  des  Grafen 
Deym  darauf  zurückkommen   wird.  P.  Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

*  Was  das  heißt  wissen  wir 

2  mit  Speck  fängt  man  Mäuse 

3  das  stimmt 

*  wirklich  naiv! 
5  gut 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

England,  Russland  und  Frankreich  hatten  ja  im  Sommer  so  schön  angefangen! 


Nr.  2478 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  224  Rom,  den  20.  Dezember  18Q5 

Baron  Blanc  erzählte  mir,  daß  mein  englischer  Kollege  Sir  Cläre 
Ford  ihm  gegenüber  nochmals  schriftlich  auf  die  armenische  An- 
gelegenheit zurückgekommen  sei.    In  dringlicher  Form  und  unter  aus- 

125 


drücklicher  Bezugnahme  auf  eine  spezielle  Weisung  Lord  Salisburvs* 
habe  Sir  Cläre  den  Wunsch  ausgedrückt,  daß  der  italienische  Bot- 
schafter in  Konstantinopel  angewiesen  werden  möge,  sich  c\entuellen 
neuen  Schritten  des  englischen  Botschafters  in  der  armenischen  Frage 
anzuschließen. 

Er  habe,  fuhr  Baron  Blanc  fort,  auf  die  zweite  englische  Demarche 
erwidert,  daß  ihm  kein  Grund  vorzuliegen  scheine,  dem  italienischen 
Botschafter  in  Konstantinopel  neue  Instruktionen  zukommen  zu  lassen, 
da  derselbe  ohnehin  angewiesen  sei,  sich  an  allen  Vorstellungen  zu 
beteiligen,  über  welche  alle  übrigen  Botschafter  einig  wären  2. 

Als  ich  Baron  Blanc  sagte,  ich  könne  es  nur  durchaus  billigen, 
daß  er  sich  gerade  in  der  armenischen  Frage  nicht  von  Großbritannien 
vorschieben  lasse,  meinte  derselbe,  er  denke  weniger  als  je  daran, 
für  England  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen.  England  wolle 
die  armenische  Angelegenheit  aufbauschen,  damit  sich  Italien  in  der- 
selben engagiere,  hinterher  aber  letzteres  im  Stiche  lassen.  Er  werde 
sich  jedoch  nicht  fangen  lassen. 

Baron  Blanc  äußerte  schließlich,  daß  die  italienische  Levante- 
division* nach  dem  Hafen  von  Tarent  zurückkehren  solle  3.  Nur  zwei 
Schiffe  —  „Piemonte"  und  „Partenope"  —  würden  zunächst  noch  in 
den  türkischen  Gewässern  bleiben.  Die  Zurückberufung  der  Levante- 
division werde  nach  außen  mit  marinetechnischen  Gründen  motiviert 
werden,  solle  aber  auch  den  Engländern  zeigen,  daß  Italien  denselben 
nicht  ohne  tatsächliche  Gegenleistungen  oder  vertragsmäßige  Ver- 
pfHchtungen  zu  Gebote  stehe*. 

B  ü  1  o  w 


Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Hatzfeldt  sofort  mittheilen 
Randbemerkungen  des  Kaisers: 
^  Ist  dodi  ganz  unerhört 

dann  hat  Salisbury  Hatzfeld  behumpst! 
'  gut 

8    gut 

wäre  sie  doch  gleich  da  geblieben 
*  sehr  gut 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Büiow  Blanc  von  mir  danken  und  zu  seiner  korrekten  Haltung  beglückwünschen 
Da  war  meine  Konversation  mit  Swaine**  ja  sehr  apropos! 
Wenn  das  so  weiter  geht  werden  die  Continentalmächte  nächstens  Schritte 
berathen  müssen  zur  Wahrung  ihrer  gemeinsamen  Interessen  gegen  England. 


•  Vgl.  Kap.  LXII,  B,  Nr.  2509,  2512. 
**  Vgl  Bd.  XI,  Kap.  LXIII,  Nr.  2579. 


126 


Nr.  2479 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichsl^anzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  233  Pera,  den  16.  Dezember  1895 

Die  Einigkeit,  welche  bisher  unter  den  liiesigen  Vertretern  der 
Großmächte  in  betreff  ihrer  Haltung  dem  Sultan  gegenüber  —  wenig- 
stens äußerlich  —   bestand,  beginnt  immer  fraglicher  zu  werden. 

Sir  Philip  Currie  dringt  immer  mehr  darauf,  daß  der  Sultan 
öffentlich  entlarvt  und  auf  diese  Weise  den  Mächten  die  Möglichkeit 
gegeben  werde,  ihn  zu  fassen,  um  ihn  an  weiterer  Anstiftung  von 
Unheil  zu  verhindern. 

„Der  Frevler,  welcher  bereits  gegen  hunderttausend  Menschen 
abgeschlachtet  habe  und  noch  nicht  gesättigt  sei,  müsse  aus  allgemeinen 
Menschlichkeitsrücksichten  endlich  unschädlich  gemacht  werden." 

Herr  von  Nelidow  dagegen  weist  alle  Zumutungen  zurück,  welche 
darauf  abzielen,  gegen  den  Sultan  direkt  vorzugehen  und  ihm  irgend- 
welchen Zwang  in  der  Ausübung  der  Regierung  aufzuerlegen. 

Beide  Kollegen  suchten  mich,  ein  jeder  für  seinen  Standpunkt 
privatim  zu  gewinnen. 

Nelidow  vertraute  mir  an,  daß  seine  Instruktionen  ihm  positiv 
vorschrieben,  den  Sultan  zu  stützen,  auf  alle  Fälle  aber  jede  Teilnahme 
an  Schritten  abzulehnen,  welche  von  seinen  Kollegen  im  Sinne  eines 
unfreundlichen  Vorgehens  gegen  denselben  vereinbart  werden  könnten, 

Sir  Philip  Currie  wies  auf  den  wachsenden  Unmut  der  öffentlichen 
Meinung  in  England  und  auf  die  daraus  sich  ergebende  Wahrschein- 
lichkeit hin,  daß  seine  Regierung  sehr  bald  dazu  gedrängt  werden 
dürfte,  in  irgendeiner  Weise  energisch  gegen  den  Sultan  —  den  An- 
stifter so  grenzenlosen  menschlichen  Elends  —  vorzugehen.  Auch 
die  übrigen  Mächte  könnten  doch  nicht  Rußland  zu  Gefallen  dulden, 
daß  die  gesamte  Türkei  durch  die  Schuld  Abdul  Hamids  der  vollen 
Anarchie  anheimfiele. 

Eingedenk  der  mir  erteilten  Weisung  hielt  ich  mich  beiden  Bot- 
schaftern gegenüber  gleich  vorsichtig  zurück  und  bemerkte  nur,  wie 
wünschenswert  es  mir  scheine,  unter  uns  einig  zu  bleiben,  um  durch 
möglichst  gleichmäßige  und  objektive  Berichterstattung  an  unsere  Re- 
gierungen der  Gefahr  vorzubeugen,  bei  denselben  eine  divergierende 
Beurteilung  der  hiesigen  Verhältnisse  entstehen  zu  lassen. 

Nach  der  Haltung  des  hiesigen  französischen  Botschafters  zu 
schließen,  scheint  dessen  Regierung  —  wenn  auch  im  großen  und 
ganzen  russische  Heeresfolge  leistend  —  nicht  so  milde  gegen  den 
Sultan  und  sein  Tun  gestimmt,  wie  dies  in  St.  Petersburg  der  Fall  ist, 
und  würde  eventuell  kaum  Partei  für  Abdul  Hamid  ergreifen  wollen, 

127 


falls  man  englischerseits  eines  Tages  ungeduldig  werden  und  sich  zu 
direkteren  Unternehmungen  gegen  diesen  bewogen  fühlen  sollte. 

Der  Sultan,  als  feiner  Beobachter,  hat  längst  die  entstandene 
Wandlung  in  der  Politik  der  ihm  bisher  geschlossen  gegenüber  ge- 
standenen Mächte  erfaßt  und  beginnt  augenscheinlich,  auf  einen  Rück- 
halt an  Rußland  in  etwaigen  für  ihn  eintretenden  schlimmen  Lagen  zu 
zählen. 

Daß  damit  der  Wiederherstellung  der  Ordnung  in  Kleinasicn 
wenig  gedient  wird,  ist  klar.  Vielleicht  hat  eben  auch  Rußland  ein 
gesondertes  politisches  Interesse  daran,  die  Zustände  daselbst  immer 
mehr  in  Fäulnis  übergehen  zu  sehen. 

In  mancher  Beziehung  mögen  die  europäischen  Mächte  Ursache 
haben,  eine  solche  Politik  zu  beklagen,  indessen  liegen  für  dieselben 
die  aus  den  kleinasiatischen  Zuständen  sich  ergebenden  Gefahren 
immerhin  sehr  viel  ferner  als  diejenigen,  welche  aus  einem  etwaigen 
Ausbruch  von  Unordnungen  in  den  europäischen  Provinzen  der  Türkei 
—  also  Mazedonien  —  eventuell  entstehen  könnten. 

Diesen  rechtzeitig  vorzubeugen,  dürfte  wohl  gegenwärtig  ein 
Hauptinteresse  der  „konservativen"  Mächte  sein. 

Gewisse  verdächtige  Anzeichen  deuten  bereits  darauf  hin,  daß 
man  sowohl  in  Bulgarien,  als  in  Griechenland,  ja  vielleicht  sogar  in 
Serbien  sich  für  eine  im  nächsten  Frühjahr  in  Szene  zu  setzende  Aktion 
vorzubereiten  beginnt. 

Der  Vorwand  dafür  würde  schnell  gefunden  sein:  „Versprochene 
und   nicht   ausgeführte    Reformen   seitens   der  türkischen    Regierung." 

Ein  gemeinsames  Einwirken  der  Mächte  —  einerseits  auf  die 
Balkanstaaten  im  Sinne  einer  Dämpfung  ihrer  Aspirationen,  anderer- 
seits auf  den  Sultan,  zum  Zweck  einer  schnellen  Gewährung  und  Ein- 
führung von  Reformen  in  Mazedonien  —  würde  die  Ruhe  im  Balkan 
und  damit  den  status  quo  in  der  Türkei,  der  ja  doch,  so  mangelhaft 
derselbe  auch  sein  mag,  gewünscht  werden  muß,  bis  auf  weiteres 
aufrecht  erhalten  können. 

Für  eine  derartige  gemeinsame  Einwirkung  der  Mächte  dürfte 
sogar  auch  Rußland  zu  haben  sein  —  wenigstens  soweit  den  Bestim- 
mungen des  Artikel  23  des  Berliner  Vertrages  damit  Rechnung  ge- 
tragen wird. 

Vorstehende  Bemerkungen  habe  ich  geglaubt,  Euerer  Durchlaucht 
vorlegen  zu  sollen,  da  ich,  nach  Äußerungen  meines  österreichisch- 
ungarischen Kollegen  zu  schließen,  es  für  nicht  unmöglich  halte, 
daß  dessen  Regierung  bei  den  übrigen  Kabinetten  Umfrage  halten 
könne,  ob  die  Ergreifung  derartiger  Sicherheitsvorkehrungen  zur  Be- 
gegnung etwaiger  neuer  Wirren  im  Orient  nicht  angezeigt  erscheinen 
möchte. 

Saurma 

128 


Anhang 
Die  Episode  von  Zeitun 


•9    Die  Große  Politik.    10.  Bd. 


Nr.  2480 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  234  Pera,  den  17.  Dezember  1895 

Vertraulich 

Nach  Äußerungen  des  hiesigen  englischen  Botschafters  befindet 
sich  das  Kabinett  Salisbury  der  englischen  öffentlichen  Meinung  gegen- 
über in  einer  sich  immer  mehr  verschlimmernden  Verlegenheit.  Das- 
selbe erkennt,  daß  baldigst  etwas  Durchgreifendes  im  Interesse  des 
Schutzes  der  Armenier  in  Kleinasien  geschehen  müsse,  wenn  die  Re- 
gierung dem  eigenen  Lande  gegenüber  ihre  Stellung  behaupten  wolle. 

Dessenungeachtet  wird  Sir  Philip  Currie  von  London  aus  stets 
darauf  hingewiesen,  daß  die  englische  Regierung  nur  in  Gemeinschaft 
mit  den  übrigen  Regierungen  eventuell  aktiv  hier  vorgehen  würde. 
Auf  Rußland  wird  hierbei  jetzt  nicht  mehr  gezählt.  Dagegen  hofft  man 
auf  eventuelle  Unterstützung  von  Österreich  und  Italien.  Letzteres 
würde,  nach  der  von  Herrn  Pansa  gezeigten  Haltung  zu  urteilen,  bei 
allem  dabei  sein  ^  in  der  Hoffnung,  daß  irgendein  materieller  Vor- 
teil aus  dieser  seiner  Beteiligung  für  dasselbe  entstehen  könnte. 

Österreich  würde  schwerer  zu  irgendwelchen  Unternehmungen 
gewonnen  werden  können.  Baron  Calice  faßt  die  Lage  der  hiesigen 
Verhältnisse  sehr  viel  kühler  auf  und  hält  sich  mehr  zurück  wie  sein 
italienischer  Kollege,  welcher  jung  und  tatenlustig  ist. 

Wie  die  Dinge  übrigens  hier  jetzt  stehen,  so  dürfte  sich  zunächst 
kaum  eine  direkte  Veranlassung  zu  gewaltsamem  Eingreifen  für  Eng- 
land mehr  bieten. 

Das  Schlimmste,  was  den  Armeniern  geschehen  konnte,  ist  ge- 
schehen, ohne  daß  von  England  mit  den  Waffen  gegen  die  Türkei 
eingeschritten  wurde.  Nennenswerte  Greuel  dürften  von  jetzt  ab, 
außer  vielleicht  in  Zeitun  —  wo  es  sich  aber  um  wirkliche  Rebellen 
handelt*  — ,  kaum  mehr  zu  erwarten  sein.    Der  Winter  verbietet  von 


*  Die  Armenier  von  Zeitun,  einer  Bergstadt  im  Taurus,  hatten  sich,  um  dem 
drohenden  Massaker  vorzubeugen,  mit  den  Waffen  gegen  die  türkische  Regie- 
rung erhoben.  Am  30.  Oktober  1895  hatten  sie  den  türkischen  Gouverneur  und 
die  Besatzung  der  türkischen  Kaserne  gefangen  genommen.  Einer  türkischen 
Armee  von  50  000   Mann,   die  gegen  Zeitun  aufgeboten  wurde,   gelang   es  nicht, 

9-  131 


selbst  die  Raubzüge  der  kurdischen  Horden.  Im  eigensten  Interesse 
wird  der  Sultan  selbst  die  letzten  Flammen  der  wilden  Exzesse  in 
Kleinasien  zu  ersticken  suchen. 

Auf  diese  Weise  kann  also  angenommen  werden,  daß  England 
kaum  mehr  in  die  Lage  kommen  wird,  die  Regierungen  von  Öster« 
reich-Ungarn  und  Italien  in  irgendwelche  Unternehmungen  hinein- 
zuziehen, welche  im  Grunde  doch  wohl  nur  englischen  Interessen 
dienen  würden  i. 

Übrigens  möchte  ich  eine  von  Sir  Philip  Currie  mir  jüngst  ver- 
traulich gemachte  Bemerkung  nicht  unerwähnt  lassen.  Derselbe  er- 
klärte nämlich,  als  er  mir  die  gegenwärtige  peinliche  Lage  seiner  Re- 
gierung schilderte,  daß  jetzt  in  England  auf  alles  gern  würde  ein- 
gegangen werden,  was  zur  Rettung  der  Armenier  in  Kleinasien  dienen 
könnte  —  selbst  um  den  Preis,  daß  Rußland  die  von  den  Greueln 
heimgesuchten  armenischen  Provinzen  militärisch  okkupieren  wollte 2. 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ja 

2  olle  Kamellen 

Nr.  2481 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  Q4  Berlin,  den  18.  Dezember  1895 

Lassen  Sie  unverzüglich  den  Sultan  wissen,  daß  weder  die  deutsche 
noch  sonst  eine  befreundete  Regierung  für  ihn  mit  Aussicht  auf  Erfolg 
der  öffentlichen  Meinung  Europas  wird  entgegentreten  können,  falls 
diese  den  Sultan  verantwortlich  macht  für  das  Scheitern  der  Versuche, 
die  Episode  von  Zeitun  zu  einem  menschenwürdigen  Abschluß  zu 
bringen. 

Marschall 


die  von  den  Armeniern  verteidigte  Stadt  zu  erobern.  Als  der  Kommandeur  der 
Truppen  Remzi  Pascha  weitere  50  000  Mann  Verstärkung  verlangte,  wurde  er 
durch  Edhem  Pascha  ersetzt.  Zugleich  nahm  der  Sultan  auf  den  Rat  des  deut- 
schen Botschafters  das  Angebot  der  Mächte  an,  durch  die  Konsuln  von  Aleppo 
eine  gütliche  Vereinbarung  zwischen  den  Aufständischen  und  der  türkischen  Re- 
gierung herbeizuführen.  Am  30.  Januar  1896  trafen  die  Konsuln  in  Zeitun  ein  und 
schlössen  am  10.  Februar  einen  Vertrag  ab,  in  dem  den  Zeituniaten  nicht  nur 
völlige  Amnestie,  sondern  auch  Steuererlaß  für  einige  Jahre,  christliche  Gen- 
darmerie und  ein  christlicher  Gouverneur  von  der  Pforte  unter  Garantie  der 
Mächte  zugestanden  wurde.  In  diesem  einzigen  Falle  eines  bewaffneten  Auf- 
standes sind  die  Mächte  den  Armeniern  zu  Hilfe  gekommen;  der  Masse  des  arme- 
nischen Volkes,  die  wehrlos  abgeschlachtet  wurde,  ist  wirkliche  Hilfe  und  Sühne 
von  Seiten  der  Mächte  versagt  geblieben. ' 

132 


Nr.  2482 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  236  Pera,  den  19.  Dezember  1895 

pp.  Unangenehm  sind  die  süßen  Worte  zu  iiören,  vvelclie  der 
Sultan  1  durch  Vermittelung  Tevvfik  Paschas  an  die  Botschafter  ge- 
langen läßt,  und  welche  von  Ausdrücken  väterlicher  Milde  und  Nach- 
sicht für  seine  verblendeten  Untertanen  in  Zeitun  überfließen,  in  dem 
Augenblick,  wo  er  augenscheinlich  entschlossen  ist,  die  große  Blut- 
arbeit beginnen  zu  lassen. 

Der  mir  zugegangenen  hohen  Weisung  gemäß,  werde  ich  sofort 
die  entsprechenden  Warnungen  an  den  Sultan  gelangen  lassen. 

Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Ein  ekelhafter  Mensch! 

Nr.  2483 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 

an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Berlin,  den  24.  Dezember  1895 
Zu  dem  hierneben  ehrfurchtsvollst  vorgelegten  Telegramm  Nr.  177* 
aus  Konstantinopel  verfehle  ich  nicht  alleruntertänigst  zu  melden,  daß 
Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  Botschafter  bereits  er- 
mächtigt ist,  nach  Maßgabe  seines  in  dem  Telegramm  enthaltenen 
Antrags  zusammen  mit  den  anderen  Botschaftern  im  Interesse  der 
Menschlichkeit  zu  wirken. 

Marschall 

Nr.  2484 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  177  Pera,  den  23.  Dezember  1895 

Zeitun  ist  der  Zufluchtsort  für  Tausende  von  armenischen  Flücht- 
lingen aus  der  Umgegend  geworden. 


Siehe  die  folgende  Nummer. 

133 


Neue  Kapitulationsverhandlungen  sind  türkischerseits  versucht 
worden,  aber  fruchtlos  geblieben,  weil  die  Zeituner  den  türkischen 
Versprechungen  mißtrauen. 

Die  hiesigen  armenischen  Patriarchen*  glauben,  daß  eine  gütliche 
Vereinbarung  zwischen  beiden  Parteien  zustande  kommen  dürfte,  wenn 
seitens  Delegierter  der  hiesigen  fremden  Vertreter  vermittelt  würde. 

In  einer  heutigen  Botschafterbesprechung  kamen  wir  dahin  über- 
ein, Instruktionen  bei  unseren  Regierungen  einzuholen,  betreffend  die 
eventuelle  Ermächtigung,  unsere  guten  Dienste  der  Pforte  in  der 
gedachten   Richtung  freundschaftlich   anzubieten. 

Vielleicht  könnte  auf  diese  Weise  der  großen  Gefahr  vorgebeugt 
werden,  daß  die  als  Sieger  die  Stadt  später  erstürmenden  Truppen 
große  Greuel  in  der  darin  befindlichen  dichten  armenischen  Bevölkerung 
anrichteten. 

Basis  der  Kapitulation  würde  sein:  Schonung  der  Unschuldigen, 
sowie  der  Weiber  und  Kinder  —  dagegen  Bestrafung  der  Anstifter 
der  Rebellion  und  derjenigen  Armenier,  welche  sich  gemeiner  Ver- 
brechen  schuldig  gemacht   habend. 

Als  Delegierte  für  die  gedachte  Vermittlung  dürften  sich  die 
Konsuln  von  Aleppo  empfehlen. 

Saurma 


Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Ich  fürchte  daß  das  alles  leere  Phrase  ist!    Sobald  unsre  Delegirten  fort  sind 
schlagen  sie  alles  todt! 

Schliißbemerkung  des  Kaisers: 
Ich  verspreche  mir  von  diesem  Schritt  ebensowenig  wie  von  den  endlosen  zum 
Gelächter    Europas    gewordenen     Besprechungen    der     sechs    Botschafter     der 
6    „Impuissances"    wie   die    Türken    uns   nennen!     Kanonenkugeln   nach    Jildis 
hinein  ist  das  Einzisre  was  zieht. 


Nr.  2485 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  2  Pera,  den  3.  Januar  1896 

Die  Pforte  hat  unsere  angebotene  Mediation**  zwischen  ihr  und 
den  Aufständischen  von  Zeitun  angenommen,  nachdem  ihre  Versuche, 
selbst  mit  den  Armeniern  zu  unterhandeln,  gescheitert  sind. 

Die  Konsuln  von  Aleppo  wur-den  daher  gemäß  unserer  früheren 


*  Der  gregorianische   und  der  katholische  armenische   Patriarch. 

**  In  einer  Konferenz  der  Botschafter  vom  28.  Dezember  war  beschlossen  worden, 

der  Pforte  die  Vermittlung  in  Zeitun  durch  die  Konsuln  von  Aleppo  anzubieten. 

134 


Vereinbarung  von  uns  beauftragt,  das  Nähere  unter  sich  wegen  Zu- 
standebringens  einer  Einigung  zwischen  den  Zeitunesen  und  den  türki- 
schen Truppen  hinsichtlich  einer  beiderseitig  annehmbaren  Kapitulation 
zu  beraten. 

Saurma 


Nr.  2486 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  25  Pera,  den  13.  Februar  1896 

Die  Mediation  zwischen  den  Aufständischen  in  Zeitun  und  der 
Pforte  ist  nunmehr  zu  beiderseitiger  Zufriedenheit  beendigt. 

Meine  Kollegen  gaben  mir  in  herzlicher  Weise  ihren  Dank  für 
die  von  mir  übernommene  Vermittelung  zu  erkennen,  welche  für  ge- 
wisse, zwischen  uns  Botschaftern  und  dem  Minister  des  Äußern  in 
der  Sache  zu  treffende  Vereinbarungen  wünschenswert  angesehen 
worden  war. 

Saurma 


Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II. 
Decoration  vorschlafen 


Nr.  2487 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  105  Pera,  den  18.  April  1SQ6 

Die  Angelegenheit  von  Zeitun,  welche  den  Gegenstand  einer 
längeren  Reihe  von  Berichten  von  mir  gebildet  hatte,  dürfte  gegen- 
wärtig als  abgeschlossen  anzusehen  sein,  wenigstens  insoweit,  als  die 
Kaiserliche  Regierung  Interesse  dafür  gezeigt  hat. 

Die  30000  Armenier,  welche  menschlicher  Berechnung  nach  dem 
Tode  geweiht  waren,  sind  durch  die  freundschaftliche  Intervention 
der  deutschen  und  der  englischen  Regierung,  denen  sich  später  auch 
die  Regierungen  der  übrigen  Großmächte  angeschlossen  haben,  ge- 
rettet worden,  pp. 

Saurma 


13= 


Kapitel  LXII 

Versuche  einer  Neugruppierung  der  Mächte 
Graf  Ooluchowskis  Fiasko  2.  Hälfte  1895 

A.  Ooluchowskis  Balkanpolitik 


Nr.  2488 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg,  z.  Z.  in  Ischl,  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  199  Ischl,  den  8.  August  1895 

Vertraulich 

Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph  hatte  die  Gnade,  mir 
während  meiner  Anwesenheit  in  Ischl  eine  Audienz  zu  gewähren,  bei 
welcher  höchstderselbe  seine  Ansicht  über  verschiedene  politische 
Fragen  äußerte. 

Die  in  Bulgarien  nach  der  Ermordung  Stambulows*  eingetretene 
Lage  beschäftigte  Seine  Majestät  in  erster  Linie,  und  der  Kaiser  ver- 
urteilte auf  das  schärfste  das  Auftreten  des  Prinzen  Ferdinand,  dessen 
Eitelkeit  und  Hochmut  schlimme  Früchte  getragen  hätten.  War  nun 
auch  Seine  Majestät  besorgt,  daß  eine  Revolution  in  Bulgarien  aus- 
brechen würde,  so  schien  der  Kaiser  doch  dieser  ernsten  Eventualität 
mit  der  Ruhe  eines  Mannes  entgegenzusehen,  der  seine  Entschlüsse 
gefaßt  hat.  Seine  Majestät  sagten  mir  in  sehr  bestimmtem  Tone: 
„Ich  werde  niemals  dulden,  daß  Rußland  allein  seine  Hand  auf  Bulgarien 
hälti.*'  —  Diese  Äußerung  stimmt  mit  den  Ansichten  überein,  von 
denen  ich  zu  berichten  früher  die  Ehre  hatte.  Es  betrifft  den  Punkt, 
wo  sich  die  Auffassung  Seiner  Majestät  und  des  Orafen  Kalnoky 
nicht  deckten.  Letzterer  suchte  die  Verständigung  mit  Rußland  auch 
auf  Kosten  Bulgariens,  während  der  Kaiser  am  Schluß  seines  viel- 
geprüften Lebens  ängstlich  darauf  bedacht  ist,  dasjenige  zu  sichern, 
was  ihm  als  Äquivalent  für  die  verlorenen  italienischen  Länder  und 
die  Vorherrschaft  in  Deutschland  zugefallen  ist.  Hierzu  gehört,  daß 
er  seine  Hand  neben  Rußland  im  Balkan  halten  kann. 

Ich  glaube  darum  nicht  zu  irren,  wenn  ich  die  Ansicht  äußere, 
daß  der  Kaiser  sich  auch  einer  Auslieferung  der  Dardanellen  oder 
Konstantinopels  an  Rußland  entschieden  widersetzen  2  —  wenigstens 
dem  nur  unter  Gewinnung  eines  vollwertigen  Kompensationsobjekts 
zustimmen  würde.  Seine  mir  vor  längerer  Zeit  gemachte  Äußerung: 
„Ich  gebe  niemals  zu,  daß  Rußland  Konstantinopel  nimmt-^,"  deckt 
sich  mit  seiner  jetzigen  Haltung  gegenüber  Bulgarien. 

*  Stambulow  starb  infolge  eines  Attentates  am  18.  Juli  1895. 

139 


In  Graf  Goluchovvski  *  hat  Seine  Majestät  einen  Minister  ge- 
wonnen, der  in  diesen  Fragen  aus  eigener  Überzeugung  neben  ihm 
steht.  Die  Ereignisse  in  Bulgarien,  die  schwer  zu  durchschauende 
Politik  Rußlands  und  die  damit  erzeugte  Unsicherheit  haben  den 
latenten  Russenhaß  des  polnischen  Grafen  wieder  zu  deutlicherem 
Ausdruck  gebracht.  Er  hat  darum  in  einer  Unterhaltung  mit  seinem 
alten  Pariser  Freunde  Kapnist**  die  Stellung  Österreichs  zu  Bul- 
garien in  einer  viel  unzweideutigeren  Weise  präzisiert,  als  es  jemals 
sein  Vorgänger  getan  haben  würde.  Er  erzählte  mir,  daß  er  das  vor- 
sichtige Sondieren  des  russischen  Botschafters  mit  den  Worten  unter- 
brochen habe:  „Wir  wollen  als  alte  Freunde  ehrlich  sprechen  und 
uns  klar  darüber  werden,  wie  wir  miteinander  stehen.  Mein  Standpunkt 
ist,  über  den  Frieden  trotz  aller  Schwierigkeiten  sorgsam  zu  wachen. 
Kommt  es  aber  zu  irgendeiner  Änderung  in  Bulgarien,  so  verlangt 
Österreich  die  Aufrechterhaltung  seines  Einflusses  daselbst  neben  Ruß- 
land," Graf  Kapnist  hat  diese  Äußerung  dem  Fürsten  Lobanow  mit- 
geteilt und  von  ihm  den  Auftrag  erhalten,  dem  Grafen  zu  antworten, 
daß  auch  Rußland  alles  tun  werde,  den  Frieden  im  Balkan  zu  erhalten, 
im  übrigen  nichts  dagegen  einzuwenden  habe,  daß  Österreich  in  Bul- 
garien mitrede. 

Die  bestimmte  Sprache  des  Grafen  und  der  Erfolg  desselben  — 
der  allerdings  durch  die  Entfesselung  der  panslavvistischen  Agitation 
in  Bulgarien  mit  ihren  Folgen  stark  in  Frage  gestellt  werden  kann 
und  auch  wegen  der  ziemlich  allgemein  gehaltenen  Antv/ort  Lobanows 
immerhin  noch  zweifelhaft  erscheint  —  wird  das  Vertrauen  seines 
Monarchen  zu  ihm  bedeutend  erhöht  haben. 

Der  Unterschied  in  der  Auffassung  und  Behandlungsweise  der 
Balkanfragen  zwischen  Grafen  Goluchowski  und  seinem  Vorgänger 
tritt  schon  jetzt  deutlich  zutage. 

Wie  weit  freilich  die  russenfreundlichen  Tendenzen  des  Wiener 
Hochadels,  bei  dem  Graf  Goluchowski  viele  Attachen  hat,  und  dessen 
Gunst  er  sicherlich  nicht  missen  will,  die  antirussischen  Tendenzen 
des  Grafen  modifizieren  werden,  bleibt  abzuwarten. 

In  engem  Zusammenhange  mit  dieser  Haltung  steht  die  Wirkung 
der  geänderten  Regierung  in  England***  auf  Kaiser  Franz  Joseph  und 
seinen  Minister.  Seine  Majestät  sprachen  mir  weitgehende  —  zu  weit- 
gehende —  Hoffnungen  auf  die  von  Salisbury  zu  erwartende  Politik 
aus.  Der  Kaiser  schien  einen  engeren  Anschluß  Englands  an  den  Drei- 
bund zu  erwarten-*,  wenn  er  auch  vermied,  von  einem  „Bündnis''  zu 


*  Nach   dem   Rücktritt  des  Grafen   Kalnoky  war  Graf  Goluchowski   am   15.  Mai 
1895  zum  Minister  des  Äußern  ernannt  worden. 

**  Peter  Graf  Kapnist,  anfangs  der  SOer  Jahre  Botschaftsrat  in  Paris,  war  Nach- 
folger des  Fürsten  Lobanow  als  Botschafter  in  Wien  geworden. 
***  Seit  dem  26.  Juni  war,  an  Stelle  des  zurückgetretenen  Kabinetts  Rosebery,  wieder 
ein  konservatives  Kabinett  Salisbury  am  Ruder. 

140 


sprechen.  Augenscheinlich  aber  gab  ihm  die  neue  Regierung  in  Eng- 
land einen  höheren  Grad  von  Zuversicht  bezüglich  der  Stellung  Öster- 
reichs zum  Balkan.  Auch  Graf  Goluchowski  schien  ähnliches  zu  emp- 
finden. Er  sprach  von  der  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit,  im  Mittel- 
meer Italiens  und  Englands  Stellung  zu  kräftigen.  Er  sprach  aus,  daß 
man  das  Gegengewicht  gegen  Frankreich  nach  Möglichkeit  stärken 
müsse,  und  hielt  es  daher  für  wichtig,  Spanien  wieder  näher  an  Italien 
zu  ziehen.  Der  Graf  wird  noch  näher  auf  dieses  Thema  eingehen, 
vorderhand  betonte  er  den  lebhaften  Wunsch  Seiner  Majestät  des 
Kaisers  Franz  Joseph,  die  Königinregentin  gegenüber  dem  Andrängen 
französischer  republikanischer  Einflüsse  zu  schützen  und  Spanien  dem 
Dreibund  lieber  zu  gewinnen,  als  es  den  Franzosen  in  die  Arme  zu 
treiben.  Seine  Majestät  der  Kaiser  berührte  mir  gegenüber  diese 
Frage  nur  in  der  Form,  daß  er  einen  möglichst  engen  Anschluß  Eng- 
lands, Italiens  und  Spaniens  wünsche,  um  im  Mittelmeer  ein  Bollwerk 
gegen  das  republikanische  Frankreich  zu  gewinnen,  welches  destruk- 
tive Tendenzen  in  den  romanischen  Monarchien  verbreite. 

Meine  Eindrücke  möchte  ich  dahin  zusammenfassen,  daß  dem 
Grafen  Goluchowski  angesichts  der  Lage  in  Rußland  und  auf  dem 
Balkan  die  Bedeutung  des  Dreibundes  in  frappanter  Weise  vor  Augen 
geführt  ist,  und  daß  sowohl  Kaiser  Franz  Joseph  als  seinem  Minister 
durch  das  gleichzeitige  Wiedereintreten  Salisburys  in  die  Politik  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  der  „aggressive  Mut"  gestiegen  ist.  Das 
ging  auch  aus  Bemerkungen  des  Grafen  hervor,  die  den  Ausdruck  „Ruß- 
land, unser  gemeinsamer  Feind"  enthielten,  sowie  aus  den  Betrachtun- 
gen über  die  Unmöglichkeit  für  Deutschland,  aus  den  Balkanfragen 
herauszubleiben  —  was  ich  mit  der  gebührenden  Reserve  beant- 
wortete, pp.  P.  Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Was  denn? 

"  sehr  unpraktisch!    Die   Dardanellen   kann   sich  Russland  alle  Tage  ungehindert 

einstecken  wenn  es  will!    Er  sollte  an  gute  Compensationsobjecte  denken 
3  er  kann  es  aber  doch  nicht  hindern 
*  abwarten 

Nr.  2489 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Wien 
Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept 
Nr.  641  Berlin,  den  19.  August  1895 

[abgegangen  am  21.  August] 
Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich,  beifolgend  den  gefälligen  Be- 
richt Nr.  199  vom  S.d.Mts.*  mit  den  Randbemerkungen  Seiner  Majestät 


*  Siehe  Nr.  2488. 

141 


zu  Ihrer  gefälligen  Information  zu  übersenden.  In  weiterer  Ausführung 
bemerke  ich  hierzu   ergebenst  folgendes: 

Aus  den  Äußerungen  des  Kaisers  Franz  Joseph  und  des  Grafen 
Goluchowski,  welche  in  den  gefälligen  Berichten  Euerer  pp.  Nr.  1Q9 
und  Nr.  202  vom  8.  bzw.  11.  d.  Mts.  mitgeteilt  sind,  ergibt  sich,  daß 
die  österreichisch-ungarische  Regierung  damit  umgeht,  auf  der  Balkan- 
halbinsel eine  ein-  und  durchgreifendere  Politik  als  bisher  zu  verfolgen, 
und  daß  sie  hierfür  auf  unsere  Unterstützung  rechnet.  Während  Öster- 
reich-Ungarn einerseits  offenbar  nicht  daran  denkt,  im  Falle  eines 
Zusammenbruchs  der  Türkei  Rußland  Konstantinopel  und  die  Meer- 
engen zu  überlassen,  trägt  es  sich  andererseits  unverkennbar  mit  der 
Absicht,  auch  in  Bulgarien  dem  russischen  Einflüsse  Konkurrenz  zu 
machen. 

Eine  Unterstützung  dieser  Absichten  unsererseits  ist  keineswegs 
selbstverständlich.  Eine  solche  würde  vielmehr,  sofern  es  sich  um 
eine  österreichische  Aggressivaktion  handelte,  im  Widerspruch  mit 
allen  Traditionen  unserer  Balkanpolitik  stehen. 

Allerdings  ist  es  den  Bemühungen  des  Fürsten  Bismarck  seinerzeit 
nicht  gelungen,  in  Wien  und  St.  Petersburg  die  von  hier  aus  vorge- 
schlagene Abgrenzung  der  beiderseitigen  Interessensphären  auf  der 
Balkanhalbinsel  —  Bulgarien  für  Rußland,  Bosnien  und  die  Herzegowina 
mitsamt  Serbien  für  Österreich-Ungarn  —  zur  Annahme  zu  bringen*. 
Gleichwohl  sind  wir  auch  heute  noch  von  der  Richtigkeit  irgendeiner 
solchen  friedlichen  Scheidung  durchdrungen,  und  dies  um  so  mehr, 
als  die  Ereignisse  der  Vorhersage  des  Fürsten  Bismarck  recht  gegeben 
haben,  welcher  ein  Steigen  des  russischen  Einflusses  in  Serbien  als 
notwendige  Folge  der  Verdrängung  Rußlands  aus  Bulgarien  be- 
zeichnete. 

Wenn  Graf  Goluchowski  jetzt  ebenso,  wie  seinerzeit  Graf  Kälnokv 
mit  österreichischen  Absichten  auf  Bulgarien  hervortritt,  so  kann  man 
demselben  zunächst  erwidern,  daß  Österreich-Ungarn  den  Einfluß  in 
Sofia,  welchen  es  —  unter  Inanspruchnahme  unserer  Unterstützung  — 
jetzt  wieder  zu  gewinnen  sich  anschickt,  bis  vor  wenigen  iMonaten 
unbestritten  besessen  hat.  Durch  die  Gunst  der  Verhältnisse,  fast  ohne 
jedes  eigene  Zutun,  und  ohne  daß  dadurch  der  europäische  Friede 
gefährdet  worden  wäre,  hatte  Österreich-Ungarn  aus  dem  Staatsstreich 
von  1886  für  sich  Nutzen  gezogen  und  in  Bulgarien  festen  Fuß  gefaßt. 
Aber  die  starke  Position,  die  es  dort  innehatte,  hat  es  ebenso  kampf- 
los, wie  es  sie  gewann,  auch  wieder  verloren,  weil  es  Stambulow, 
dem  es  allein  sie  verdankte,  stürzen  ließ,  ohne  auch  nur  einen  Finger 
zu  seiner  Rettung  zu  rühren.  Es  ist  sogar  noch  die  Frage,  ob  nicht 
gerade  Österreichs  Vertreter  in  Sofia**  es  war,  der,  in  seinem  empfind- 


*  Vgl.  Ed.  V,  Kap.  XXX,  S.  37. 
**  Baron  von  Burian. 

142 


liehen  Selbstgefühle  durch  Stambulow  verletzt,  die  Minierarbeit  der 
Fürstin  Ferdinand  unterstützte. 

Wenn  Graf  Goluchovvski  jetzt  für  die  bulgarischen  Aspirationen 
Österreich-Ungarns  auf  unsere  Mitwirkung  zählt,  so  vermag  ich  mein 
Erstaunen  darüber  nur  schwer  zu  unterdrücken.  Nach  all  den  ausführ- 
lichen Erörterungen,  welche  die  Kabinette  von  Berlin  und  Wien  seit 
Jahren  über  diesen  Gegenstand  gehabt  haben,  hätte  ich  geglaubt, 
beiderseitiges  Einverständnis  darüber  voraussetzen  zu  dürfen,  daß  die 
Aufgabe,  Rußlands  Stellung  in  Bulgarien  einzuzwängen,  außerhalb  der 
vertragsmäßigen  Ziele  der  deutschen  Politik  liegt.  Denn  beim  ersten 
Abschlüsse  der  Verträge  —  im  Jahre  1879  — ■  war  Rußland  im  vollen 
Besitze  des  dauernden  Einflusses  in  Bulgarien,  und  die  Schwenkung  des 
Fürsten  Alexander  konnte  an  der  Tragweite  unserer  Abmachungen  mit 
Österreich  nichts  ändern. 

Graf  Goluchovvski  hat  es  gewissermaßen  als  selbstverständlich  be- 
zeichnet, daß  ein  Brand  im  Balkan  auch  uns  unter  allen  Umständen 
in  Mitleidenschaft  ziehen  würde.  Demgegenüber  muß  entschieden  be- 
tont werden,  daß  sich  weder  vor  der  deutschen  öffentlichen  Meinung 
noch  vor  dem  Deutschen  Reichstage  eine  Politik  mit  Erfolg  vertreten 
ließe,  welche  darauf  abzielt,  behufs  Verhinderung  der  Wiederherstellung 
des  früher  in  Bulgarien  bestandenen  russischen  Einflusses  den  Frieden 
mit  Rußland  zu  stören. 

Hierbei  darf  auch,  wie  ich  zu  Ew.  pp.  ganz  persönlicher  Er- 
wägung bemerke,  die  Möglichkeit  nicht  außer  acht  gelassen  werden, 
daß  Rußland,  wenn  es  uns  auf  seinem  Wege  nach  Konstantinopel 
findet,  sich  zunächst  gegen  uns  allein  wendet,  wobei  es  der  Unter- 
stützung Frankreichs  gewiß  ist,  welche  ihm  bei  einem  Vorgehen  auf 
der  Balkanhalbinsel,  solange  wir  neutral  bleiben,  vermutlich  fehlen 
würde. 

Behufs  Stärkung  des  österreichischen  Vorgehens  auf  der  Balkan- 
halbinsel trägt  sich  Graf  Goluchovvski  nach  Ew.  pp.  gefälligem  Be- 
richte Nr.  202  mit  der  Absicht,  die  Signatarmächte  des  Berliner  Ver- 
trages über  ihre  Absichten  für  den  Fall  des  Eintritts  anarchischer 
Zustände  in  Bulgarien  zu  sondieren.  Abgesehen  davon,  daß  die  Frage 
vorläufig  eine  rein  akademische  ist,  indem  anarchistische  Zustände 
bisher  nicht  eingetreten  sind,  würde  Österreich-Ungarn  hierbei  schwer- 
lich allgemeines  Entgegenkommen  finden,  am  wenigsten  bei  England, 
welches  mit  Recht  befürchten  wird,  daß,  wenn  erst  einmal  das  Schicksal 
türkischer  Tributstaaten  und  Provinzen  vor  das  Forum  Europas  ge- 
zogen wird,  auch  die  Aufrollung  der  ägyptischen  Frage  sich  nur  schwer 
wird  umgehen  lassen.  Es  wird  sich  daher  empfehlen,  wenn  Graf 
Goluchovvski  sich  über  dieses  Projekt  zuerst  vertraulich  mit  England 
auseinandersetzt.  Was  uns  angeht,  so  werden  wir  selbständig  und 
vom  Standpunkt  unserer  eigenen  Interessen  zu  prüfen  haben,  wie  weit 
wir    Österreich-Ungarn    bei    etwaigen,    in    den    Verträgen    nicht    vor- 

143 


gesehenen  Spezialplänen  unterstützen  können,  und  wo  die  Grenze  liegt, 
welche  zu  überschreiten  uns  die  Selbsterhaltungspflicht  verbietet. 

Wenn  Graf  Goluchowski  das  neuliche  Thema  wieder  berühren 
sollte,  wird  es  sich,  um  keine  unerfüllbaren  Hoffnungen  zu  ermutigen, 
empfehlen,  wenn  Ew.  pp.  sich  bei  Ihren  Äußerungen  von  den  vor- 
stehend kurz  angedeuteten  Gesichtspunkten  leiten  lassen. 

C.  Hohenlohe 


Nr.  2490 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  den 
Reictiskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  249  Wien,  den  28.  Oktober  1895 

Die  Auffassung  des  Grafen  Goluchowski  über  die  orientalische 
Lage  ist  wieder  beruhigter  geworden*.  Seine  nervöse  Erregtheit,  über 
die  ich  vor  einiger  Zeit  berichten  konnte,  hat  sich  einigermaßen  gelegt, 
ist  aber  keineswegs  ganz  geschwunden.  Der  Minister  hält,  wie  er  mir 
gestern  sagte,  die  Gefahr  ernster  Verwickelungen  zwar  augenblick- 
lich für  beseitigt,  mit  der  Möglichkeit  und  sogar  Wahrscheinlichkeit 
derselben  infolge  weiterer  Ereignisse  aber  glaubt  die  hiesige  Regierung 
auch  fernerhin  rechnen  zu  müssen. 

Wie  ich  wiederholt  aus  übereinstimmenden  Äußerungen  des  Mi- 
nisters und  seines  ersten  Sektionschefs,  des  klugen  und  unterrichteten 
Grafen  Welsersheimb,  feststellen  konnte,  erfüllt  tiefes  Mißtrauen  die 
hiesige  Regierung  mit  Bezug  auf  den  Fürsten  Lobanow.  Derselbe  hat 
nach  Ansicht  der  hiesigen  Staatsmänner  alle  Erwartungen  enttäuscht, 
die  russische  Politik  ist  seit  seiner  Berufung  unheimlich  geworden  und 
seltsam  rege^.  Den  beruhigenden  Worten  des  Fürsten  in  Berlin** 
scheint  man  nur  wenig  Wert  beizumessen,  an  seine  Aufrichtigkeit 
wird  nicht  geglaubt.  Graf  Goluchowski  und  sein  erster  Berater  sind 
vielmehr  überzeugt,  daß  die  russische  Politik  sich  trotz  augenblick- 
licher Wendung  nach  Ostasien  vornehmlich  auf  den  Augenblick  vor- 
bereite, wo  sie  ihre  Orientpläne  zur  Ausführung  bringen  könne.  Die 
erneuten  Truppenverschiebungen  an  die  russische  Westgrenze  sprechen, 
wie  Graf  Goluchowski  sagte,  deutlich  genug  für  diese  Absichten.    Ob 


*  Vgl.  darüber  Kap.  LXI,  A,  Nr.  2431  f.  Graf  Goluchowski  hatte  Ende  August,  an- 
gesichts der  bisherigen  Mißerfolge  des  „armenischen  Dreibunds",  d.  h.  Englands, 
Rußlands  und  Frankreichs,  in  der  armenischen  Frage  geplant,  seinerseits  aus  der 
bisher  eingenommenen  reservierten  Haltung  herauszutreten  und  den  Mächten  den 
Vorschlag  auf  Einsetzung  einer  europäischen  Kommission  auf  Grund  Artikels  61 
des  Berliner  Vertrags  zu  unterbreiten.  Deutscherseits  erklärte  man  sich  indessen 
dagegen,  daß  eine  solche  Initiative  von  der  Dreibundmächten  ausgehe.  Vgl.  Nr.  2420. 
**  Siehe  Bd.  IX,  Nr.  2323. 

144 


diese  auf  Konstantinopel  selbst  oder  nur  auf  die  freie  Durchfahrt  gehen, 
ist  im  Dunkeln. 

Andererseits  wird  die  Lage  im  Orient  hier  noch  immer  sehr  ernst 
beurteilt.  Die  Grafen  Goluchowski  und  Welsersheimb  sind  davon 
überzeugt,  daß  alle  Reformen  höchstens  einen  Aufschub,  keineswegs 
aber  eine  Rettung  bedeuten.  Den  Zusammenbruch  der  türkischen  Herr- 
schaft in  absehbarer  Frist  hält  die  hiesige  Regierung  für  unabwendbar. 
Graf  Welsersheimb  gab  diese  Ansicht  zu  erkennen  unter  gleichzeitigem 
Hinweis  auf  die  Notwendigkeit,  sich  schon  jetzt  über  die  weiteren 
Folgen  solcher  Ereignisse,  namentlich  mit  der  eng  verbündeten  deut- 
schen Regierung  zu  besprechen.  Der  erste  Sektionschef  setzte  mir  aus- 
einander, wie  unmöglich  es  für  Österreich  sein  würde,  eine  russische 
Umklammerung  von  Krakau  nach  Cattaro^  zuzulassen,  wie  nicht  nur 
Handelsinteressen,  sondern  auch  die  politische  Entwickelung  der  habs- 
burgischen  Monarchie  seit  dem  Jahre  1866  diese  auf  den  Orient 
anwiese^.  Die  schon  bestehenden  innerpolitischen  Schwierigkeiten 
legten  jedoch  die  Frage  nahe,  ob  fernere  Oebietserwerbungen  auf  der 
Balkanhalbinsel  als  Entgelt  für  russische  Fortschritte  nicht  von  zweifel- 
haftem Werte  seien*. 

Wie  mir  Graf  Goluchowski  sagte,  will  der  Minister,  anscheinend 
auf  Anregung  des  Baron  Calice,  die  Pforte  dazu  drängen,  nunmehr 
auch  in  Mazedonien  Reformen  einzuführen,  um  diese  Frage,  wenn 
möglich,  vorläufig  zu  erledigen  und  nicht  den  Vorwand  zu  Verwickelun- 
gen mit  Bulgarien  zu  geben.  Im  Grunde  macht  sich  jedoch  niemand 
hier  Illusionen  über  den  Wert  dieser  „Reformen".  Graf  Welsersheimb 
bezeichnete  dieselben  als  „Sand  in  die  Augen**  pour  la  galerie,  ohne 
wirkliche  Bedeutung.  Um  wirksame  Besserungen  in  die  Verwaltung 
einzuführen,  dazu  fehle  es  den  Türken  am  Willen  und  an  der  Macht; 
ein  Druck  von  außen  zugunsten  der  Christen  aber  habe  regelmäßig, 
wie  auch  die  jüngsten  Vorgänge  bewiesen,  verhängnisvolle  Erfolge. 

Lord  Salisbury  hat  nach  Ansicht  der  genannten  Herren  nur  die 
Erbschaft  seines  Vorgängers  übernommen  und  weiterführen  müssen 
und  ist  froh,  nachdem  der  öffentlichen  Meinung  wenigstens  durch  einen 
äußern  Erfolg*  Genüge  geschehen,  sich  wieder  „aus  der  Sackgasse" 
zurückziehen  zu  können  s.  Überhaupt  herrscht  für  den  britischen 
Premier  von  neuem  eine  günstigere  Stimmung;  Graf  Goluchowski 
hat  sich  über  die  Absichten  desselben  beruhigt;  der  Verdacht  heim- 
licher Zwecke  ist  anscheinend  gewichen. 

„Man  muß  die  Engländer  nicht  zu  schlecht  behandeln,"  meinte 
der  Graf  aus  eigener  Initiative,  „sie  sind  für  uns  keine  quantite 
negligeable  im  Orient,  wir  brauchen  sie  wegen  der  Russen.   Preßkriege 


*  Am  17.  Oktober  hatte  der  Sultan  den  ihm  von  England,   Rußland  und  Frank- 
reich oktroyierten  Reformplan  genehmigt    Siehe  Kap.  LXI,  A,  Nr,  2434. 

10    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  1^5 


bedeuten  nicht  viel,  aber  der  Ton  der  britischen  und  deutschen  Presse 
war  letzthin  sehr  bedauerlich." 

Der  Vorwurf  krasser  Interessenpolitik  sei  unbegründet,  jedes 
Bündnis,  auch  das  unsrige,  beruhe  lediglich  auf  Interesse,  unbeschadet 
der  persönlichen  Freundschaft  der  betreffenden  Diplomaten. 

Ich  hatte  wiederum  den  bestimmten  Eindruck,  daß  Graf 
Goluchowski  jene  Unterstützung  seiner  defensiven  Orientpolitik,  die 
er  bei  uns  nicht  zu  finden  sich  bewußt  ist,  in  England  sucht.  Er 
wünscht  dringend  ein  Bündnis  oder  eine  Verständigung  mit  London 
für  den  Fall  der  Wahrung  gemeinsamer  Interessen  im  Orient  und  für 
die  Notwendigkeit  der  Abwehr  russischer  Gelüste. 

Graf  Goluchowski  wird,  hierüber  dürfen  wir  uns  nicht  täuschen, 
eine  Lösung  der  orientalischen  Frage  in  russischem  Sinne  nicht  ge- 
statten. Sein  ganzes  Sinnen  ist  auf  diesen  einen  Punkt  gerichtet,  die 
Ereignisse  werden  ihn  vorbereitet  finden.  Die  orientalische  Frage 
ist  für  ihn  eine  politische  Lebensfrage  und  ein  Ehrenpunkt! 

Bemächtigt  sich  jedoch  Rußland  des  Orients,  und  Österreich- 
Ungarn  bleibt  passiv,  so  stürzt  der  jetzige  Minister,  und  die  Stellung 
dieser  Monarchie  an  der  Seite  Deutschlands  ist  in  der  Umarmung 
Rußlands  auf  die  Dauer  unhaltbar  geworden.  Der  Verzicht  auf  jede 
Orientpolitik  ist  ein  Kardinalpunkt  des  politischen  Glaubensbekennt- 
nisses aller  hiesigen  Gegner  des  Dreibundes.  Wenn  erst  die  Balkan- 
völker im  unmittelbaren  Dienste  der  Politik  der  slawischen  Interessen- 
gruppe stehen,  statt  sich  wie  bisher  wenigstens  zum  Teil  den  um  die 
deutsche  Politik  gruppierten  Nationen  anzulehnen,  kann  die  Leitung 
der  auswärtigen  Politik  Österreichs  wohl  kaum  lange  mehr  dem  Drucke 
seiner  17  Millionen  außerpolnischen  Slaw'en  und  der  mit  diesen  ver- 
bündeten Klerikalen  widerstehen,  welche  sich  jetzt  in  der  Richtung 
der  deutsch-magyarischen  Interessen  bewegen  müssen. 

Welches  ist  das  Programm  einflußreicher  Hof-  und  Gesellschafts- 
kreise, der  sogenannten  Feudalen,  sowie  auch  das  der  erzherzoglichen 
Thronfolger?  Rückverlegung  der  Legislative  in  die  Landtage,  Dele- 
gierung in  den  Reichsrat  wie  ehedem,  Auslieferung  Böhmens,  A^ährens 
und  Schlesiens  an  das  Tschechentum,  Begünstigung  der  Kroaten,  Serben, 
Slowaken  und  Walachen  in  Ungarn,  vor  allem  aber:  Niederwerfung 
des  Magyarentums,  Verzicht  auf  jede  Orientpolitik,  wenn  nötig  auch 
auf  Bosnien  und  Dalmatien  und  —  engster  Anschluß  an  Rußland! 

Eine  slawische  Politik  nach  innen  und  außen! 

C.  M.  Lichno  wsky 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Richtig 

•  davon   ist  ja   nicht  die  Rede! 

3  Saloniki  gehört  dann  doch  Oesterreich 

4  ! 

*  ist  er  schon  hinaus? 
146 


Nr.  2491 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  den 
Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  251  Wien,  den  30.  Oktober  1895 

Während  meines  heutigen  Besuches  beim  Grafen  Goluchovvski 
kam  der  Herr  Minister  abermals  auf  unser  Verhältnis  zu  England  zu 
sprechen  und  klagte  zwar  in  freundschaftlichster  Form,  aber  nicht 
ohne  einen  leisen  Anflug  von  Gereiztheit  über  die  scharfe  Sprache, 
welche  unsere  Presse  gegen  die  Briten  führe.  Diese  Fehde  könne  doch 
das  beiderseitige  Verhältnis  in  einem  Maße  beeinflussen,  das  sich 
unter  Umständen  —  der  Graf  spielte  auf  den  Orient  an  —  in  un- 
erwünschter Weise  fühlbar  machen  würde.  Er  nannte  es  „epouser 
la  quereile  de  la  Russie  avec  TAngleterre"  und  ließ  die  Bemerkung 
fallen,  daß  diese  Haltung  auch  dem  Kaiser  Franz  Joseph  aufgefallen 
seil. 

Als  ich  mir  hierauf  zu  entgegnen  erlaubte,  daß  meines  Wissens 
der  „Standard"  den  Anfang  gemacht*  und  sich  nur  eine  gerecht- 
fertigte Zurückweisung  geholt  habe  2,  im  übrigen  aber  durch  unsere 
Beziehungen  zu  Großbritannien  ein  auf  gemeinsamen  Sonderinteressen 
beruhendes  Einvernehmen  unserer  Verbündeten  mit  dem  Inselreich 
nicht  berührt  werde,  da  wir  nicht  in  gleichem  Maße  am  Orient  be- 
teiligt seien,  entgegnete  der  Graf,  er  könne  diese  leider  auch  in  unserer 
Presse  immer  wiederkehrende  Anschauung  ganz  und  gar  nicht  teilen. 
Eine  Trennung  unserer  politischen  Interessen  sei  schon  deshalb  un- 
denkbar, weil  jede  Schwächung  des  einen  Bundesgenossen  auch  den 
anderen  schädigen  müsse.  Der  Orient  ginge  daher  uns  geradeso  an 
wie  sie 3.  pp. 

Der  Herr  Minister  besprach  diese  Gegenstände  mit  überlegten 
Worten  und  in   unverkennbarer  Absicht. 

C.  M.  Lichnowsky 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  f 

2  Richtig 

3  ahem!  zu  deutsch:  wir  sollen  helfen  die  Russen  nicht  nach  Stamboul  hereinzulassen 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Die  Knochen  des  Pommerschen  Grenadiers  werden  so  wenig  für  London  als 
für  Stamboul  eingesetzt  werden. 


*  Vgl.  Kap.  LX,  Nr.  2385,  Fußnote  *.  Der  Artikel  des  ministeriellen  „Standard" 
hatte  eine  sehr  überhebliche  Kritik  an  der  deutschen  Politik,  besonders  in  der  ost- 
asiatischen Frage  geübt  und  u.a.  bemerkt:  das  Entgegenkommen  Englands,  welches 
Deutschland  so  lange  genossen  habe,  sei  für  dieses  wertvoller  als  irgendein 
momentanes  Resultat,  welches  aus  dem  Kokettieren  mit  Rußland  oder  Frankreich 
entstehen  könnte.  Der  Artikel  des  „Standard"  war  in  der  deutschen  Presse  viel 
erörtert  und  meist  mit  großer  Schärfe  zurückgewiesen  worden. 

10«  147 


Nr.  2492 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  den 
Reicilskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  254  Wien,  den  2.  November  1895 

Die  Vermutung,  daß  Graf  Goluchowski  angesichts  der  AVöglichkeit 
einer  Aufrollung  der  orientalischen  Frage  eine  Verständigung  mit  dem 
Kabinett  von  St.  James  gesucht,  habe  ich  gestern  im  Laufe  einer  längeren 
Unterredung  mit  dem  hiesigen  britischen  Botschafter  bestätigt  ge- 
funden. 

Sir  Edmund  Monson,  der  den  Ruf  besitzt,  zu  den  brauchbarsten 
Diplomaten  Ihrer  most  gracious  Majesty  zu  gehören,  verhehlte  nicht, 
daß  er  den  Grafen  in  den  letzten  Zeiten  sehr  beunruhigt  gefunden, 
namentlich  während  der  Anwesenheit  des  russischen  Ministers  in 
Paris*.  Der  britische  Vertreter  brauchte  die  Ausdrücke:  „most  uneasy'' 
und  „very  nerv'ous".  Auf  meine  Bemerkung,  daß  hauptsächlich  die 
Besorgnis  vor  einer  russischen  Offensive  im  Orient  den  k.  und  k.  Mi- 
nister des  Äußern  zu  erregen  schiene,  meinte  der  Botschafter,  daß 
derselbe  auch  ihm  sein  Mißtrauen  gegen  den  Fürsten  Lobanow  und 
dessen  orientalische  Pläne  zu  erkennen  gegeben,  zugleich  aber  habe 
Graf  Goluchowski  ihm  auf  das  bestimmteste  erklärt,  eine  Lösung  der 
orientalischen  Frage  im  russischen  Sinne  nicht  dulden  zu  wollen. 
„He  declared  most  positively  that  he  is  determined  not  to  allow  it.*' 
Sir  Edmund  hat  dem  Minister  erwidert,  daß  er  hierbei  ganz  auf  die 
Unterstützung  Englands  rechnen  könne.  Auch  habe  seine  Regierung 
diese  Zusage  nachträglich  gebilligt.  „I  was  approved  saying  so.*' 
England  und  Österreich  hätten  identische  Interessen  im  Orient. 

In  der  Annahme  eines  regen  ferneren  Gedankenaustausches  zwi- 
schen ihm  und  dem  Grafen  Goluchowski  über  die  türkischen  Angelegen- 
heiten benutzte  ich  die  Gelegenheit,  um  Sir  Edmund  zu  bedeuten, 
daß  unsere  Auffassung  der  genannten  Fragen  immer  die  gleiche  und 
unverändert  geblieben  sei,  seit  Bestehen  des  Bündnisses,  jetzt,  wie 
früher  zu  Zeiten  des  Fürsten  Bismarck.  Graf  Goluchowski  habe  daher 
unrecht,  eine  regere  Beteiligung  Deutschlands  an  seinen  südöstlichen 
Sorgen  zu  erwarten,  die  Kaiserliche  Regierung  könne  und  werde  in 
diesen  Dingen  nie  den  Standpunkt  passiver  Neutralität  und  die  ver- 
tragsmäßige Grundlage  verlassen,  und  müsse  den  zunächst  beteiligten 
Mächten  die  selbständige  Wahrung  ihrer  eigenen  Wünsche  überlassen. 

Sir  Edmund  gab  die  Richtigkeit  dieser  Ausführungen  zu  mit  dem 
Wunsche,  wenigstens  einer  „sympathisierenden  Neutralität"  unserer- 
seits sicher  zu  sein. 


*  Vgl.  Bd.  IX,  Kap.  LVIII,  Nr.  2320. 
148 


Auf  den  Fürsten  Lobanow  übergehend,  erzählte  er,  daß  der  russi- 
sche Minister  vor  seiner  Abreise  sich  von  ihm  in  den  wärmsten  Aus- 
drücken verabschiedet  habe,  mit  der  Versicherung,  alles  zu  tun,  um 
entsprechend  den  lebhaften  Sympathien  des  Zaren  für  die  britische 
Nation  herzliche  Beziehungen  zu  erhalten.  Ihm  sei  daher  die  jetzige 
Spannung  schwer  verständlich,  um  so  mehr,  als  auch  für  Ostasien 
keine  England  bedrohenden  russischen  Pläne  zu  bestehen  schienen. 
Er  glaube  mehr,  daß  es  ein  bloßer  Zeitungskrieg  sei*,  üraf  Golu- 
chowski  habe  ihm  zwar  gesagt,  kurz  nachdem  Graf  Kapnist  bei  ihm 
gewesen,  indes  ohne  ihn  als  Quelle  zu  nennen,  daß  der  Grund  der 
russischen  Verstimmung  gegen  England  in  der  verlängerten  Anwesen- 
heit der  britischen  Flotte  in  der  Nähe  der  Dardanellen**  zu  suchen  sei. 

Schließlich  meinte  der  Herr  Botschafter  noch,  daß  Lord  Salis- 
bury  sich  am  9.  d.  Mts.  gelegentlich  eines  Festessens  über  die  aus- 
wärtigen Fragen  äußern  werde***. 

C.  M.  Lichnowsky 


Nr.  2493 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  663  London,  den  2.  November  1895 

Im  Laufe  unserer  gestrigen  ganz  vertraulichen  Unterhaltung  kam 
Lord  Salisbury  selbst  wieder  auf  die  Beziehungen  Englands  zu  Öster- 
reich zurück.  Er  wiederholte  nochmals,  daß  man  in  Wien  wegen  der 
orientalischen  Frage,  und  namentlich  hinsichtlich  seiner  Haltung  zu 
derselben  noch  immer  besorgt  sei,  und  knüpfte  daran  nochmals  die 
Versicherung,  daß  er  zu  dieser  Besorgnis  keinerlei  Anlaß  gegeben 
habe.    Er  wisse  den  Wert,  den  die  Freundschaft  Österreichs  eventuell 


*  Tatsächlich  hatte  seit  den  letzten  Oktobertagen  eine  lebhafte  russisch-englische 
Preßfehde  über  die  orientalische  Frage  eingesetzt.  Im  amtlichen  russischen  „Re- 
gierungsboten" hieß  es  am  29.  Oktober:  „Nach  der  Meinung  politischer  Kreise 
gibt  es  keine  mit  dem  Orient  durch  wesentliche  Interessen  verknüpfte  Macht, 
welche  sich  nicht  empörte  über  die  Manieren  einer  zweideutigen  Politik  der  bri- 
tischen Diplomatie,  welche  beinahe  die  Frage  einer  Teilung  der  Türkei  berührte. 
Niemals  äußerte  sich  in  Europa  das  Gefühl  des  Mißtrauens  gegen  die  Richtung 
der  englischen  Politik  und  ihre  Ziele  in  so  handgreiflicher  Weise  wie  gegen- 
wärtig." 

**  Vgl.  Kap.  LXI,  B,  Nr.  2446. 

***  Tatsächlich  äußerte  sich  Salisbury  auf  dem  Lordmayors-Bankett  vom  9.  No- 
vember auch  über  die  Orientfrage:  die  Aspekten  in  der  armenischen  Frage  seien 
nicht  eben  friedlich;  der  Sultan  gefährde  trotz  allen  Wohlwollens  der  Mächte  seine 
Existenz,  wenn  er  sich  nicht  zu  Reformen  verstehe;  die  Mächte  seien  einig  in 
dem  Entschlüsse,  die  Klagen  der  Unterdrückten  abzustellen. 

149 


für  England  haben  würde,  vollständig  zu  schätzen  und  werde  daher 
nichts  tun,  was  die  österreichischen  Interessen  im  Orient  beeinträchtigen 
könnte.  Ganz  beiläufig  bemerkte  er  dazu,  daß  er  einmal  unter  dem 
Eindruck  der  Vorgänge  in  der  Türkei  mit  mir  —  aber  auch  nur  mit 
mir  —  gewisse  entfernte  Eventualitäten  akademisch  besprochen  habe, 
welche  jetzt  in  den  Hintergrund  getreten  seien*. 

Als  ich,  ohne  hierauf  näher  einzugehen,  die  Bemerkung  fallen  ließ, 
daß  ich  mir  die  Besorgnisse  der  österreichischen  Staatsmänner  wohl 
erklären  könne,  da  sie  sich  wohl  sagen  müßten,  daß  sie  einem  fait 
accompli  im  Orient  gegenüber  allein  machtlos  sein  würden  und  auf 
die  rechtzeitige  und  tatkräftige  Hülfe  Englands  nicht  im  voraus  mit 
Bestimmtheit  rechnen  könnten,  erwiderte  der  Minister  mit  Lebhaftig- 
keit: „Dasjenige  fait  accompli,  welches  man  in  Österreich  am  meisten 
fürchtet,  würde  ein  Versuch  Rußlands  sein,  sich  Konstantinopels  zu 
bemächtigen,  und  in  diesem  Fall  würde  es  sich  denn  doch  darum  han- 
deln, wer  zuerst  am  Platz  ist.*'  Ich  erwiderte  ihm,  diese  Bemerkung, 
wenn  ich  sie  richtig  verstände,  erinnere  mich  an  eine  Unterredung, 
die  ich  vor  einer  Reihe  von  Jahren  über  dasselbe  Thema  mit  ihm 
gehabt  hätte.  Er  habe  mir  damals  gesagt,  daß  er  den  Telegraphen, 
durch  welchen  er  mit  der  englischen  Mittelmeerflotte  in  fortgesetzter 
Verbindung  stehe,  jeden  Augenblick  mit  seinem  kleinen  Finger  in  Be- 
wegung setzen  könne,  und  daß  die  Flotte  dann  in  einer  sehr  kurzen 
Frist,  deren  ich  mich  nicht  mehr  genau  erinnerte,  vor  den  Dardanellen 
erscheinen  könnte**.  Lord  Salisbury  entsann  sich  seiner  damaligen 
Äußerung  genau  und  fügte  hinzu,  daß  nach  seinen  Ermittelungen  die 
eventuelle  Forcierung  der  Dardanellen  jetzt  vielleicht  mit  geringeren 
Schwierigkeiten  verbunden  sein  würde,  als  man  damals  angenommen 
hätte. 

Aus  diesen  Äußerungen  und  der  ganzen  Haltung  des  Ministers 
hatte  ich  auch  diesmal  wieder  den  Eindruck,  daß  er  den  größten  Wert 
darauf  legt,  die  Österreicher  und  auch  uns  davon  zu  überzeugen,  daß 
er  alle  mit  seiner  früheren  Politik  in  Widerspruch  stehenden  Pläne 
aufgegeben  und  in  sein  altes  Fahrwasser  zurückgekehrt  ist.  Ich  will 
damit  keineswegs  sagen,  daß  ihm  nur  daran  gelegen  ist,  diesen  Ein- 
druck hervorzubringen,  und  daß  er  sich  nicht  wirklich  zu  seiner  früheren 
Auffassung  bekehrt  hat.  Es  scheint  mir  sogar  wahrscheinlich,  daß  er 
sich  nach  wiederholtem  Umhertasten  von  der  Fruchtlosigkeit  des  Ver- 
suchs, mit  Rußland  resp.  Frankreich  zu  einer  für  England  annehm- 
baren Verständigung  zu  gelangen,  überzeugt  hat  und  zu  der  Erkenntnis 
gelangt  ist,  daß  das  Interesse  Englands  nur  durch  Wiederaufnahme 
seiner  alten  Politik  möglichster  Erhaltung  der  Türkei  und  naher  Be- 
ziehungen zum  Dreibund  gewahrt  werden  kann.    Dabei  verheimlichte 

*  Vgl.  Kap.  LX. 

**  Vgl.  Bd.  IX,  Nr.  2128. 

150 


aber  Lord  Salisbury  auch  heute  nicht,  daß  er  bestimmte  Verpflichtun- 
gen über  die  Behandlung  der  orientalischen  Frage  auch  Österreich 
gegenüber  nicht  im  voraus  eingehen  könne.  Er  bemerkte  dazu,  daß 
er,  wie  ich  nach  meiner  Kenntnis  der  hiesigen  Verhältnisse  wissen 
müsse,  in  dieser  Hinsicht  von  der  eventuellen  Entwickelung  der  Krisis 
im  Orient  und  von  dem  Eindruck,  den  dieselbe  auf  die  hiesige  öffent- 
liche Meinung  ausübe,  abhängen  werde.  Ein  etwaiges  plötzliches  und 
gewaltsames  Vorgehen  der  Russen  gegen  Konstantinopel  würde,  wie 
er  mit  Sicherheit  annehme,  hier  eine  solche  Entrüstung  hervorrufen, 
daß  das  englische  Kabinett  energische  Gegenmaßregeln  ergreifen 
könnte,  ohne  in  der  öffentlichen  Meinung  auf  Widerspruch  zu  stoßen. 

Meinerseits  habe  ich  mich  darauf  beschränkt,  die  von  Lord  Salis- 
bury angeregten  Fragen  akademisch  zu  besprechen,  ohne  ihm  nach 
irgendeiner  Richtung  zu-  oder  abzuraten. 

Ich  glaube  noch  erwähnen  zu  dürfen,  daß  Lord  Salisbury  auch  bei 
dieser  Gelegenheit  auf  den  angeblichen  geheimen  Vertrag  zwischen 
Rußland  und  China  zurückkam  und  sich  wieder  dahin  aussprach,  daß 
es  ihm  durchaus  nicht  unerwünscht  sein  würde,  wenn  Rußland  im 
fernen  Osten  weitgehende  Pläne  verfolgen  und  zu  diesem  Zweck  einen 
erheblichen  Teil  seiner  Streitkräfte  dort  konzentrieren  wolle.  Er  be- 
merkte dazu,  daß  es  auch  für  uns  ein  Vorteil  sein  würde,  wenn  ein 
Teil  der  russischen  Armee,  statt  an  der  Weichsel  konzentriert  zu 
werden,  in  Ostasien  festgehalten  würde.  Je  tiefer  sich  Rußland  dort 
engagiere,  um  so  weniger  werde  es  auch  in  der  Lage  sein,  mit  ent- 
sprechenden  Kräften  im   Orient  aufzutreten. 

P.  Hatzfeldt 


Nr.  2494 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  4.  November  1895 
Der  österreichisch-ungarische  Botschafter*  suchte  mich  heute  nach 
seiner  Rückkehr  aus  Urlaub  auf,  um  mir  die  Eindrücke  darzulegen, 
welche  er  aus  seinen  Unterredungen  mit  Graf  Goluchowski,  den  er 
auf  der  Durchreise  in  Wien  gesprochen,  bezüglich  der  gegenwärtigen 
politischen  Lage  gewonnen  hat.  Ich  entnahm  daraus,  daß  der  öster- 
reichische Minister  der  Entwickelung  der  Dinge  in  Konstantinopel 
mit  steigender  Besorgnis  gegenübersteht,  daß  er  dagegen  zu  der  Politik 


*  von  Szögyeny-Marich. 

151 


des  englischen  Kabinetts  zurzeit  größeres  Vertrauen  besitzt  als  noch 
vor  kurzem,  andererseits  unsere  Beziehungen  zu  England  ihm  einige 
Sorgen  bereiten.  Herr  von  Szögyeny  war  durch  Seine  Majestät  den 
Kaiser  über  den  Maletschen  Zwischenfall*  im  allgemeinen  orientiert; 
ich  nahm  Veranlassung,  ihm  einige  Details  darüber  mitzuteilen  und 
ihm  gleichzeitig  zu  sagen,  daß  Lord  Salisbury  das  Vorgehen  Malets 
bereits  desavouiert  habe  und  voraussichtlich  Sir  Frank  Lascelles** 
den  Auftrag  erhalten  werde,  formelle  Erklärungen  in  dieser  Beziehung 
abzugeben. 

Bezüglich  der  Lage  in  der  Türkei  bestand  zwischen  dem  Bot- 
schafter und  mir  Übereinstimmung  darüber,  daß  die  neuesten  Nach- 
richten aus  Konstantinopel  eine  Art  Zersetzungsprozeß  in  dem  staat- 
lichen Organismus  der  Türkei  erkennen  ließen,  von  dem  es  zweifel- 
haft sei,  ob  er  mit  Erfolg  noch  bekämpft  werden  könne.  Die  so  oft 
ventilierte  Frage,  wie  Österreich-Ungarn  sich  einem  eventuellen  tat- 
sächlichen Eingreifen  Rußlands  gegenüber  stellen,  und  welche  Haltung 
Deutschland  einnehmen  werde,  falls  daraus  ein  österreichisch-russischer 
Konflikt  entstehe,  trat  naturgemäß  bei  dem  weiteren  Verlaufe  unseres 
Gesprächs  in  den  Vordergrund.    Ich  führte  dabei  etwa  folgendes  aus: 

Der  Grundgedanke  des  Dreibundes  sei,  daß  die  Gefährdung  der 
Existenz  und  Machtstellung  einer  der  drei  Mächte  eine  schwere  Gefahr 
für  die  beiden  anderen  biete.  Die  hierdurch  begründete  Interessen- 
gemeinschaft finde  ihren  Ausdruck  in  der  Festlegung  des  casus  foederis 
für  bestimmte  Eventualitäten.  Ergebe  sich  aus  dieser  vertragsmäßig 
fixierten  Gemeinschaft  ganz  naturgemäß  die  Konsequenz,  daß  die 
drei  Staaten,  soweit  möglich,  bei  ihren  politischen  Aktionen  enge 
Fühlung  untereinander  hielten,  so  sei  doch  der  Dreibund  keine  Zwangs- 
jacke, welche  die  Handlungsfreiheit  seiner  Glieder  beschränke  oder 
aufhebe.  Jeder  Staat  habe  seine  speziellen  Interessen,  deren  Wahrung 
er  nach  freiem  Ermessen  obliegen  könne;  für  derartige  Aktionen  und 
ihre  Folgen  trage  er  selbstverständlich  auch  die  alleinige  Verantwort- 
lichkeit. Wolle  ein  Staat  über  den  geschriebenen  casus  foederis  hinaus 
sich  die  Unterstützung  eines  Bundesgenossen  sichern,  so  setze  dies 
eine  vorherige  Verständigung  ad  hoc  voraus.  Wir  hätten  neben  dem 
allgemeinen  Interesse  der  Friedenserhaltung  keinerlei  direkte  Interessen 
im  Orient;  die  Frage,  ob  die  Russen  oder  die  Türken  Konstantinopel 
besäßen,  ob  Bulgarien  mehr  oder  minder  sich  im  russischen  Fahr- 
wasser befinde,  interessiere  uns  wenig;  in  diesem  Sinne  sei  das  Wort 
von  den  Knochen  des  pommerschen  Grenadiers  noch  heute  vollkommen 
zutreffend  i.  Für  Österreich-Ungarn  läge  die  Sache,  wie  wir  an- 
erkennten, anders;  wie  weit  dieses  Interesse  gehe,  mit  welchem  Rechte 
ein   Teil   der   öffentlichen    Meinung   namentlich    in    Ungarn    eine    Be- 


*  Siehe  Bd.  XI,  Kap.  LXIII,  Nr.  2578  und  2579. 

**  Sir  E.  Malets  Nachfolger  als  englischer  Botschafter  in  Berlin. 


152 


Setzung  Konstantinopels  durch  die  Russen  als  mit  dem  Lebensinteresse 
Österreich-Ungarns  unverträglich  erachte,  sei  nicht  unsere  Sache  zu 
entscheiden;  in  dieser  Hinsicht  sei  die  österreichisch-ungarische  Re- 
gierung in  erster  Reihe  kompetent.  Wünsche  man  aber,  wenn  auch 
nur  höchst  eventuell,  unsern  Beistand  im  Konfliktsfall,  dann  hätten 
wir  auch  mitzureden,  und  je  aufrichtiger  dies  geschehe,  um  so  besser. 

Es  sei  ja  in  politicis  ungemein  schwer,  sich  darüber  zu  äußern, 
was  man  tun  werde,  wenn  künftige  noch  völlig  ungewisse  Eventualitäten 
einträten.  Das  heute  noch  ganz  unübersehbare  wo?  wie?  wann? 
unter  welchen  Umständen?  spiele  eine  so  entscheidende  Rolle,  daß 
alle  Beschlüsse  und  Vorsätze  von  heute  wieder  umgestoßen  werden 
könnten.  Auch  lägen  zurzeit  keine  Anzeichen  dafür  vor,  daß  Ruß- 
land besonders  begierig  sei,  die  orientaHsche  Frage  aufzurollen.  Wir 
hätten  ja  eine  Zeitlang  das  merkwürdige  Schauspiel  gesehen,  daß  Ruß- 
land und  England  die  Rollen  vertauschten;  ersteres  sei  für  die  Er- 
haltung der  Türkei  eingetreten,  letzteres  habe  sein  möglichstes  getan, 
um  den  morschen  Bau  zu  Fall  zu  bringen.  Inzwischen  habe  ja  das 
Londoner  Kabinett  seinen  Rückzug  angetreten  und  appelliere  nun- 
mehr an  die  Autorität  des  Sultans  zur  Herstellung  der  Ordnung, 
nachdem  man  vorher  in  Rede  und  Schrift  alles  getan,  um  jene  Autorität 
zu  ruinieren*. 

Führten  die  gegenwärtigen  Ereignisse  —  was  ja  nicht  ausge- 
schlossen —  im  weiteren  Verlaufe  zu  einer  Intervention  Rußlands 
oder  kurz  gesagt,  zu  einer  russischen  Besetzung  Konstantinopels, 
so  werde  die  Frage  eines  aktiven  Vorgehens  Österreich-Ungarns  sich 
unter  einem  verschiedenen  Gesichtspunkte  darstellen,  je  nachdem 
England  an  der  Aktion  teilnimmt,  d.h.  bereits  in  Aktion 
ist  oder  nicht 2.  Im  letzteren  Falle,  d.h.  wenn  England  beiseite 
bleibt,  könne  ich  dem  Botschafter  ganz  offen  sagen,  daß  wir  alles  auf- 
wenden würden,  um  Österreich-Ungarn  von  dem  Eintreten  in  einen 
Konflikt  mit  Rußland  abzuhalten  2.  Ein  österreichisch-russischer  Krieg 
wegen  des  Orients  mit  England  als  Zuschauer  würde  nichts  sein  als 
die  Ausführung  des  alten  englischen  Programms,  daß  England  seine 
Kriege  durch  andere  Staaten  führen  lasse ^.  Hierfür  seien  wir  nicht 
zu  haben.  Trete  Österreich-Ungarn  trotzdem  aktiv  auf,  so  werde  es 
lediglich  auf  eigenes  Risiko  handeln. 

Eine  weitere  entscheidende  Frage  werde  sein,  ob  Rußland  im 
Orient  allein  auftrete  oder  mit  dem  Schwergewichte  der  russisch- 
französischen  Verbrüderung. 

Man  habe  für  dieses  Verhältnis  noch  keinen  adäquaten  Ausdruck 
gefunden.  Das  sei  natürlich,  denn  die  vorhandenen  Bezeichnungen 
für  Verhältnisse  unter  Staaten  paßten  alle  nicht  auf  den  nie  dagewesenen 

♦  Vgl.  Kap.  LXL 

153 


Fall,  daß  eine  Großmacht  einfach  eine  andere  im  Schlepptau  führe. 
Wir  hätten  die  Tradition  guter  Beziehungen  zu  Rußland  über- 
nommen und  wollten  diese  erhalten,  aber  eine  traditionelle  Freundschaft 
zu  Rußland-Frankreich  bestehe  für  uns  nicht.  Die  Versicherun- 
gen des  Fürsten  Lobanow,  daß  Rußland  Frankreich  in  friedlichen 
und  konservativen  Bahnen  halten  werde,  hätten  bei  uns  nicht  ver- 
fangen^. —  Das  Kabinett  Bourgeois-Cavaignac*  sei  ein  guter  Kom- 
mentar zu  Lobanows  Versicherungen.  —  Die  Gefahr  des  russisch-fran- 
zösischen Verhältnisses  bestehe  darin,  daß  es  in  Rußland  die  Anmaßung 
zeitige,  durch  die  Drohung  mit  dem  Schwerte  zweier  Großmächte 
alle  Fragen  in  seinem  Sinne  lösen  zu  können.  Deutschland  habe  diese 
Gefahr  erkannt,  als  Rußland-Frankreich  sich  anschickte,  Japan  nieder- 
zurennen  und  danach  die  ostasiatische  Frage  nach  seinem  Belieben 
zu  ordnen.  Unsere  Teilnahme  an  der  Aktion  habe  diese  Pläne  durch- 
kreuzt**; ein  voller  Erfolg  sei  nicht  möglich  gewesen,  w^eil  England 
in  unbegreiflicher  Kurzsichtigkeit  sich  fern  gehalten  habe.  Aber  dar- 
über seien  wir  uns  klar,  daß,  wenn  Rußland-Frankreich  erst  einen 
durchschlagenden  Erfolg  durch  ,,bullying"  einer  einzelnen  Macht  davon- 
getragen, dies  einen  gefährlichen  Präzedenzfall  bilden  werde.  Und 
es  sei  gewiß,  daß,  wenn  Rußland-Frankreich  die  ostasiatische  Frage 
gegen  das  übrige  Europa,  die  orientalische  Frage  gegen  Österreich- 
Ungarn  und  England  usw.  im  russischen  Sinne  geordnet  haben 
werde,  eines  Tages  auch  Frankreich  seinen  Lohn  bekomme,  und  hier- 
für nicht  Äg}'pten  oder  Nordafrika,  sondern  Elsaß-Lothringen  in  Aus- 
sicht genommen  sei  6. 

Aus  alledem  ergebe  sich,  wie  dringend  notwendig  es  sei,  daß 
Österreich-Ungarn  nicht  im  voraus  isoliert  seine  orientalische  Politik 
festlege.  Wir  wüßten,  daß  Graf  Goluchowski  so  wenig  wie  sein  Vor- 
gänger eine  aggressive  Politik  auf  der  Balkanhalbinsel  betreibe  oder 
gar  auf  Abenteuer  ausgehen  werde;  eine  solche  Befürchtung  bestehe 
hier  nicht;  wir  hielten  aber  volle  Aufrichtigkeit  für  den  besten  Freund- 
schaftsdienst, den  wir  leisten  könnten.  Der  Fall  sei  allerdings  mög- 
lich, daß  eine  gegen  unsern  Rat  unternommene  Aktion  schließlich 
die  Existenz  und  Machtstellung  Österreichs  in  einem  Maße  gefährden 
könnte,  um  auch  uns  in  Aktion  zu  bringen,  immerhin  würde  es  aber 
dann  lediglich  von  unserm  Ermessen  abhängen,  den  Zeitpunkt  und  die 
Modalitäten  des  Einschreitens  zu  bestimmen. 

Der  Botschafter  schien  von  meinen  Ausführungen  sehr  befriedigt 
und  hob  her\'or,  daß  er  persönlich  die  Unmöglichkeit  einer  Abteilung 
der  Interessensphäre,  wie  sie  früher  Fürst  Bismarck  geplant,  nicht 
einzusehen  vermöge  und  einen  Versuch  nach  dieser  Richtung,  wenn 

*  Nach  dem  Sturz  des  Ministeriums  Ribot  hatte  am  1.  November  Bourgeois  das 
neue  Kabinett  gebildet  mit  Cavaignac  als  Kriegsminister  und  Berthelot  als  Außen- 
minister. 
**  Vgl  Bd.  IX,  Kap.  LVII. 

154 


erst  der  Stein  ins  Rollen  gekommen,  zur  Abwendung  eines  Konflikts 
für  durchaus  geboten  erachte.  Ich  entgegnete  ihm,  daß  ich  seine  Auf- 
fassung teile,  und  Österreich-Ungarn  auf  die  guten  Dienste  Deutsch- 
lands rechnen  könne  7,  wenn  es  sich  seinerzeit  mit  Rußland  über  die 
Balkanfrage  zu  verständigen  wünsche.  Einstweilen  begrüßten  wir  mit 
Freude  die  Nachricht,  daß  neuerdings  das  Londoner  Kabinett  mit  dem 
Wiener  engere  Fühlung  bezüglich  der  orientalischen  Frage  gesucht 
habe. 

Herr  von  Szögyeny  beklagte  schließlich,  daß  die  deutsche  Presse 
die  deutsche  Auffassung  der  orientalischen  Frage  vielfach  in  einer  Art 
darlege,  welche  in  Österreich-Ungarn  Entmutigung  und  Pessimismus 
hervorrufe. 

Marschall 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Einverstanden  6/XI.  93.       W. 
Randbemerkungen  des  Kaisers: 

1  Richtig 

2  Hauptsache 


3 


ja 


*  sehr  gut 
^  richtig 
6  gut 
Ma 


Nr.  2495 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Wien 
Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  824  Berlin,  den  5.  November  1895 

[abgegangen  am  6.  November] 

Die  in  dem  Wiener  Bericht  Nr.  254*  wiedergegebene  Äußerung 
des  Kaiserlichen  Geschäftsträgers,  daß  Deutschland  wegen  der  türki- 
schen Meerengen  nie  in  Aktion  treten  werde,  veranlassen  mich  zu 
einigen  einschränkenden  Bemerkungen. 

Die  Meerengen  für  sich  allein,  als  Verkehrsstraße  oder  als 
strategische  Punkte  betrachtet,  sind  allerdings  für  Deutschland  keine 
Kriegsgefahr  wert.  Wenn  aber  die  Frage,  wer  in  den  Meerengen 
herrschen  soll,  zu  einem  Kriege  führt,  welcher  die  Großmachtstellung 
des  Staates  A  oder  des  Staates  B  zu  gefährden  geeignet  ist,  so  handelt 
es  sich  von  da  ab  für  Deutschland  nicht  mehr  um  die  Bedeutung  der 
Meerengen,  sondern  um  die  Bedeutung  der  Großmacht  A  oder  B. 


*  Siehe  Nr.  2492. 

155 


Rußland,  welches  uns  durch  Verwandtschaft  der  souveränen 
Häuser,  wie  auch  durch  tatkräftige  Bundesgenossenschaft  im  Laufe 
der  letzten  anderthalb  Jahrhunderte  wiederholt  nahe  getreten  war, 
hat  als  solches  für  Deutschland  die  Bedeutung  eines  sympathischen 
und  günstigen  Machtfaktors,  vom  Standpunkt  der  Tradition,  wie  von 
dem  der  politischen  Ziele  aus  betrachtet:  denn  zwischen  Rußland  und 
Deutschland  besteht  —  was  kaum  von  zwei  anderen  Großmächten 
mit  der  gleichen  Bestimmtheit  behauptet  werden  könnte  —  keinerlei 
Ausbreitungskonflikt.  Wenn  daher  Rußland  die  iiroberung  der  Meer- 
engen ins  Auge  faßte,  so  würden  wir,  wie  das  unser  allergnädigster 
Herr  auch  bereits  in  autoritativer  Weise  ausgesprochen  hat,  schon 
deshalb  diesem  Projekte  nicht  feindselig  entgegentreten,  weil  Ruß- 
land, welches  solange  auf  seine  Politik  der  Unabhängigkeit  und  der 
freien  Hand  stolz  war,  durch  die  einfache  Logik  zu  der  Überzeugung 
geführt  werden  würde,  daß  es  sich  vor  dem  Eintritt  in  eine  so  folgen- 
reiche Aktion  mit  den  uns  befreundeten  Mittelmeermächten  über  die 
Entschädigungsfrage  zu  verständigen  hat  —  ein  Bestreben,  bei  welchem 
unsre  uneigennützige  Vermittelung  von  vornherein  gesichert  wäre. 

Eine  andre  Beurteilung  aber  müßte  die  russische  Politik  von 
deutscher  Seite  erfahren,  wenn  die  jetzige  demonstrative  franko- 
russische Zärtlichkeit  in  Taten  umgesetzt,  wenn  aus  dem  Zarentum 
und  der  Republik  wirklich  eine  Gruppe  mit  festen  politischen  Zielen 
würde.  Denn  einerseits  wäre  die  Auffassung,  daß  zwischen  Deutsch- 
land und  Rußland  kein  Interessenkonflikt  besteht,  in  dem  Augenblick 
hinfällig,  wo  letzteres  sich  in  Fragen  der  auswärtigen  Politik  mit 
Frankreich  identifiziert.  Andrerseits  läge  die  Besorgnis  nahe,  daß 
Rußland  im  Vertrauen  auf  die  ihm  verfügbare  französische  Macht 
hinfort  weniger  Wert  auf  eine  gütliche  Verständigung  mit  Österreich- 
Ungarn  und  Italien  legen  würde. 

Angesichts  einer  solchen  Rückkehr  Rußlands  zu  dem  —  schon 
einmal  mißglückten  —  Systeme  de  Tilsit  würde  die  Bedeutung  der 
Machtstellung  von  Österreich-Ungarn,  deren  Erhaltung  seit  Jahrzehnten 
eines  der  vornehmsten,  wenn  nicht  das  vornehmste  Ziel  unsrer  aus- 
wärtigen Politik  war,  sich  wenn  möglich  noch  steigern.  Die 
sicherste  Art  jedoch,  wie  im  kritischen  Falle  diese  Machtstellung 
sich  erhalten  ließe,  hängt  von  Verhältnissen  ab,  die  heute  noch  nicht 
zu  übersehen  sind. 

Soviel  aber  kann  ich  schon  heute  sagen,  daß  wir  alles  tun  werden, 
was  in  unseren  Kräften  steht,  um  Österreich-Ungarn  daran  zu  hindern, 
daß  es  den  Russen  den  Weg  nach  dem  Suezkanal  verlegt,  während 
England  sich  auf  unverbindliche  Erklärungen  beschränkt  und  tatsächlich 
im  Hintertreffen  bleibt. 

C.  Hohenlohe 


156 


Nr.  2496 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  835  Berlin,  den  6.  November  1895 

Ew.  pp,  beehre  ich  mich,  beifolgend  Abschrift  eines  Berichtes  des 
Kaiserlichen  Botschafters  in  London  vom  2.  d.  Mts.  über  eine  Unter- 
redung mit  Lord  Salisbury*  zu  Ihrer  gefälligen  Information  ergebenst 
zu  übersenden. 

Aus  den  Äußerungen  Lord  Salisburys  ergibt  sich,  daß  derselbe 
wieder  beginnt,  in  die  Bahnen  der  traditionellen  englischen  Politik  ein- 
zulenken, was  wir  nur  mit  Befriedigung  begrüßen  können.  Zu  be- 
achten aber  ist  die  Bemerkung  Lord  Salisburys,  daß  es  für  England 
noch  nicht  an  der  Zeit  sei,  bestimmte  VerpfUchtungen  über  die  Be- 
handlung der  orientalischen  Fragen  einzugehen,  und  daß  Englands 
Haltung  von  der  eventuellen  Entwickelung  der  Krisis  abhängig  sei. 

Unserer  festen  Überzeugung  nach  wird  sich  England  überhaupt 
nie  binden  noch  auch  jemals  tatkräftig  selbst  eingreifen,  solange  es 
nicht  die  feste  Überzeugung  gewinnt,  daß  andernfalls  Österreich- 
Ungarn  für  eine  Verteidigung  der  in  erster  Linie  englischen  Interessen 
absolut  nicht  zu  haben  ist. 

Ew.  pp.  stelle  ich  ergebenst  anheim,  sich  in  diesem  Sinne  ge- 
legentlich dem  Grafen  Goluchowski  gegenüber  zu  äußern. 

Marschall 

Nr.  2497 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  258  Wien,  den  8.  November  1895 

Ganz  vertraulich 

Ich  fand  bei  meiner  Rückkehr  nach  Wien  den  Grafen  Goluchowski 
durch  die  Lage  im  Orient  ganz  außerordentlich  präokkupiert.  Er  ist 
nervös  und  unruhig  geworden,  seit  ich  ihn  das  letzte  Mal  sah.  Die 
unverständliche  und  herumtastende  Politik  Englands  hat  ihm  das 
Gegengewicht  gestört,  dessen  er  zu  seiner  Beruhigung  gegenüber 
dem  „Erbfeinde"  Rußland  bedurfte.  Aus  diesem  Grunde  ist  sein  ganzes 
Streben  darauf  gerichtet,  den  Dreibund  mit '  England  Bahnen  be- 
schreiten zu  sehen,  die  einen  gewissen  inneren  Zusammenhang  zur 
Voraussetzung  haben. 


*  Siehe  Nr.  2493. 

157 


Es  ist  allerdings  der  glühend  lebhafte  Wunsch  erklärlich,  Eng- 
land unzweifelhaft  neben  dem  Dreibund  zu  sehen,  wenn  man  zwei 
Punkte  in  Erwägung  zieht,  welche  die  Basis  der  Anschauungen  des 
Grafen   in   der   orientalischen    Frage   bilden: 

1.  Österreich  kann  nicht  Rußland  in  Konstantinopel  dulden  oder 
Rußlands  Monopol  auf  die  Durchfahrt  durch  die  Dardanellen  ge- 
statten, weil  sich  die  Balkanstaaten  (insonderheit  Bulgarien)  sofort 
um  dieses  neue  russische  Zentrum  kristallisieren  würden,  resp.  der 
österreichische  Einfluß  im  Adriatischen  Meere  verloren  ginge. 

2.  Von  Kompensationen  kann  für  Österreich  bfei  einem  Zusammen- 
bruch der  Türkei  überhaupt  keine  Rede  sein,  weil  jeder  Zu- 
wachs für  die  bestehende  Staatsform  Österreich-Ungarns  eine  Kalamität 
ersten  Ranges  bedeuten  würde. 

Angesichts  solcher  Auffassung  ist  es  nicht  wunderbar,  wenn  Graf 
Goluchowski  nach  England  drängt,  und  wenn  er  nichts  mehr  be- 
fürchtet, als  eine  Verständigung  Englands  mit  Rußland,  welche  ihm 
bei  einer  eingetretenen  völligen  Entmutigung  Englands  nicht  aus- 
geschlossen  erscheint. 

Ich  habe  heute  dem  Grafen  noch  wenig  erwidert,  weil  ich  seinem 
Bedürfnis  Rechnung  trug,  sich  Luft  zu  machen  und  auszusprechen. 
Immerhin  habe  ich  aber  schon  jetzt  keinen  Zweifel  darüber  bestehen 
lassen,  daß  Deutschland  eine  Politik  Österreichs  nicht  unterstützen 
könne,  die  in  der  Besitzergreifung  Konstantinopels  durch  die  Russen 
den  Kriegsfall  erblickt. 

Bei  weiteren  Besprechungen  mit  dem  Grafen  werde  ich  mit  seiner 
mir  heute  sehr  bestimmten   Erklärung  zu  rechnen  haben: 

„Solange  ich  im  Amte  bin,  werde  ich  nicht  zugeben,  daß  Ruß- 
land nach  Konstantinopel  geht.  Ich  habe  in  dieser  Hinsicht  Seine 
Majestät  den  Kaiser  voll  und  ganz  auf  meiner  Seite." 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  es  mir  nützlich  erschiene,  mündlich 
Entschlüsse  zu  fassen  über  die  Haltung  der  Kabinette  von  Berlin 
und  Wien  im  Falle  von  Überraschungen,  die  seitens  Englands,  Ruß- 
lands oder  der  Türkei  eintreten  könnten,  ging  Graf  Goluchowski  leb- 
haft ein. 

Ich  werde  bei  meiner  nächsten  Unterredung  mit  dem  Minister 
hierauf  zurückkommen. 

Aus  den  allgemeinen  Betrachtungen  des  Grafen  hebe  ich  als  be- 
merkenswert  folgendes   gehorsamst    hervor: 

Der  Minister  hält  die  Lage  für  sehr  ernst,  aber  nicht  momentan 
für  bedrohlich. 

Rußland  wird  nicht  den  ersten  Schritt  am  Bosporus  tun,  da  ihm 
das  Aufrollen  der  Balkanfrage  jetzt  noch  nicht  erwünscht  ist. 

England  wird  sich  in  Selbsterkenntnis  seiner  schwachen  militäri- 
schen Verhältnisse  und  isolierten  Lage  nicht  leicht  entschließen,  einen 
Gewaltschritt  zu  machen,  aber  es  kann,  wenn  es  nicht  einen  gewissen 

15S 


Rückhalt  an  dem  Dreibund  —  besonders  an  Deutschland  —  fühlt, 
zu  einer  plötzlichen  Verständigung  mit  Rußland  getrieben  v/erden, 
welche  für  den  Dreibund,  in  erster  Linie  aber  für  Österreich,  die 
schwerste  Niederlage  bedeute.  Aus  diesem  Grunde  seien  gute  Be- 
ziehungen zu   England   zwingende   Notwendigkeit. 

Die  größte  Gefahr  liegt  in  den  Zuständen,  welche  im  Türkischen 
Reiche  Platz  gegriffen  haben.  Weniger  in  Armenien  als  in  Mazedonien 
und  Bulgarien,  wo  jeden  Augenblick  die  bestehende  Gärung  zu  einem 
Ausbruch  kommen  kann,  welcher  die  österreichischen  Interessen  ganz 
direkt  berührt. 

—  Graf  Goluchowski  befindet  sich  in  einer  sehr  schwierigen  Lage, 
weil  er  im  Grunde  nur  den  status  quo  für  die  einzige  Existenzmögüch- 
keit  ansieht.  Da  er  Kompensationen  perhorresziert,  ist  seine  Phantasie 
lahmgelegt.  Es  wird  daher  schwer  sein,  das  Bild  zu  malen,  an  dem 
er  Geschmack  findet,  und  doch  scheint  es  mir  im  allgemeinen  besser 
zu  sein,  diesen  durch  die  eingetretene  Lage  zum  Fanatiker  des  Drei- 
bundes gewordenen  Minister  am  Ballplatz  zu  haben,  als  einen  Wechsel 
eintreten  zu  sehen,  der  mit  der  ausgesprochenen  Tendenz,  sich  mit 
Rußland  zu  verständigen,  vielleicht  eine  Operation  vornimmt,  die  zum 
Schaden  Deutschlands  und  des  Dreibundes  ausfallen  könnte. 

Die  Furcht  vor  einem  Zuwachs  an  slawischen  Elementen  im 
Osten  des  Reiches  und  der  Gedanke,  außer  mit  Ungarn  in  Zukunft 
mit  einem  Slawenreiche  zu  tun  zu  haben,  welches  ähnliche  Tendenzen 
der  Selbständigkeit  wie  Ungarn  zeigen  würde,  übt  auf  einen  öster- 
reichischen Staatsmann,  welcher  im  Zentrum  der  nationalen  Bewegun- 
gen innerhalb  der  habsburgischen  Monarchie  steht,  einen  lähmenden 
Einfluß.  Er  erblickt  als  Zukunftsbild  an  Stelle  des  Ausgleiches  nicht 
nur  zwischen  Österreich  und  Ungarn,  sondern  zwischen  diesen  Staaten 
und  neuen  slawischen  Ländern  den  weiter  entwickelten  Ausgleich,  die 
Personalunion  —  d.  h.  den  Anfang  vom  Ende. 

P.  Eulenburg 

Nr.  2498 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Staats- 
sekretär des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Privatbrief.  Ausfertigung 

VertrauHch  Wien,  den  9.  November  1895 

Euerer  Exzellenz 
gestatte  ich  mir  zu  meinem  heutigen  Berichte*  ergebenst  hinzuzufügen, 
daß  nach  meiner  Auffassung  trotz  aller  energischen  Haltung  bezüglich 
Konstantinopels  Graf  Goluchowski  nicht  daran  denkt,  ohne  unsere 
tatsächliche  Unterstützung  den    Russen   im    Fall   des   Einmarsches 


*  Siehe  Nr.  2497. 

159 


den  Krieg  zu  erklären.   Er  wird  seine  Entschlüsse  nach  unserer  Haltung 
modifizieren. 

Daß  in  hiesigen  hohen  und  parlamentarischen  Kreisen  die  An- 
sicht weitere  Verbreitung  findet,  sich  mit  Rußland  zu  verständigen, 
habe  ich  konstatieren  können.  Diese  Ansicht  findet  um  so  mehr  An- 
hänger, je  mehr  es  transpiriert,  daß  der  Leiter  der  Politik  einen 
extremen  Standpunkt  einnimmt. 

Schließlich  darf  ich  wohl  um  geneigte  baldige  Mitteilung  bitten, 
falls  für  meine  Besprechung  mit  Graf  Goluchowski  bezüglich  der 
Haltung  Österreichs  bei  Eintritt  von  Überraschungen  noch  besondere 
Direktiven  notwendig  sein  sollten. 

P.  Eulenburg 

Nr.  2499 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  259  Wien,  den  10.  November  1895 

Vertraulich 

Der  Botschafter  Graf  Wolkenstein*,  mit  dem  ich  seit  oiner  langen 
Reihe  von  Jahren  in  freundschaftlichen  Beziehungen  stehe,  und  der 
sich  in  offenster  Weise  mir  gegenüber  auszusprechen  pflegt,  hat  auch 
während  seiner  jetzigen  kurzen  Anwesenheit  in  Wien  dieser  Gewohn- 
heit entsprochen. 

Da  der  Graf  midi  bat,  seine  Äußerungen  nur  als  persönliche  und 
vertrauliche  zu  betrachten,  bitte  ich  Euere  Durchlaucht,  meinem  ge- 
horsamsten Berichte  diesen  Charakter  geneigtest  erhalten  zu  wollen. 

In  sehr  auffallender  Weise  trat  sein  Gegensatz  zu  den  politischen 
Grundanschauungen    des   Grafen    Goluchowski    zutage. 

,,Ich  habe,"  sagte  Graf  Wolkenstein,  ,, während  meines  langen 
Aufenthaltes  in  Petersburg  stets  auf  eine  Verständigung  mit  Rußland 
hingearbeitet  und  bin  vom  Grafen  Kälnoky  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  unterstützt  worden.  Das  Märchen  von  der  Gefährlichkeit  Kon- 
stantinopels in  russischen  Händen  i  habe  ich  mit  allen  Mitteln  be- 
kämpft. Rußlands  sich  immer  stärker  entwickelnder  Handel  bedarf 
der  Dardanellen.  Daß  Rußland  den  Besitz  Konstantinopels  anstrebt, 
bezweifie  ich.  Man  weiß  in  Petersburg,  daß  die  Schaffung  eines  so 
großen  Zentrums  im  Süden  das  Reich  mitten  durchbricht.  Graf  Käl- 
noky war  in  der  Zustimmung  zu  meinen  Gedanken  vielfach  gehemmt 
—  und  zwar  meistens  dann,  wenn  er  Anlehnung  an  Ungarn  suchte. 
Er  war  jedenfalls  genötigt,  seiner  Zustimmung  einen  sehr  vorsichtigen 
Ausdruck  zu  verleihen." 

•  Seit  1894  Österreich-ungarischer  Botschafter  in  Paris,  vorher  Botschafter  in  Petersburg. 
160 


Graf  Wolkenstein,  dessen  deutsche  Sympathien  unzweifelhafte  sind, 
hat  in  dem  Bestreben  einer  Verständigung  mit  Rußland  ganz  bona  fide 
und  im  Hinblick  auf  die  Wiederherstellung  des  Drei-Kaiser-Bündnisses 
gehandelt,  während  diejenige  Partei,  welche  hier  sein  Programm  ver- 
tritt, mit  äußerster  Vorsicht  betrachtet  werden  muß.  Die  Verständi- 
gung mit  Rußland  auf  Kosten  Deutschlands  ist  ein  Programm  der 
Herzen,   welche   1866   wund  geschossen   sind. 

„Meine  Ansichten,"  fuhr  Graf  Wolkenstein  fort,  „will  man  jetzt 
nicht  hören.  Weder  Seine  Majestät  noch  Graf  Goluchowski  haben 
mich  befragt,  obgleich  die  Lage  doch  dazu  angetan  wäre,  einen  alten 
Petersburger  wie  mich  nach  seiner  Meinung  zu  fragen.  Man  scheint 
sich  mit  der  wahnsinnigen  Idee  zu  tragen,  eine  Verständigung  mit 
England  zu  suchen,  welches  keine  Garantien  zu  geben  imstande  ist. 
Für  mich  besteht  nur  die  eine  politische  Möglichkeit:  eine  fast  willen- 
lose Anlehnung  an  Deutschland,  welches  allein  stark  genug  ist,  uns 
zu  schützen,  und  in  dessen  Gesellschaft  niemand  wagen  wird,  uns 
anzufallen  oder  exorbitante  Forderungen  an  uns  zu  stellen. 

Deutschland  ist  so  stark,  daß  wir  Italien  nicht  brauchen  2.  Ich 
erkläre  Ihnen  offen,  daß,  wenn  ich  Minister  des  Äußern  geworden 
wäre,  so  würde  ich  den  Dreibund  nicht  erneuern  3.  Es  ist  ja  mög- 
lich, daß  ich  darüber  gefallen  wäre,  aber  Italien  ist  eine  unmögliche, 
geradezu  verderbliche  Zugabe  für  uns*.  Ein  Bündnis  mit  itaUen  ist 
nur  in  Friedenszeiten  denkbar.  Verliert  der  Dreibund  die  Schlacht, 
so  büßen  wir  unsere  italienischen  Lande  ein.  Gewinnt  er  die  Schlacht, 
so  ist  das  Drängen  des  berauschten  Bundesgenossen  so  stark,  daß 
wir  gegen  höchst  unbequeme  Kompensationen  auch  unsere  itaüeni- 
schen  Lande  verlieren 5.  Ich  habe  meine  Güter  in  Südtirol.  1870  war 
die  italienische  Sprachgrenze  in  Trient,  jetzt  ist  sie  in  Bozen.  Auf 
meinen  Besitzungen,  wo  man  damals  kaum  Italienisch  sprach,  ver- 
steht heute  kein  Mensch  mehr  Deutsch.  Das  Drängen  nach  dem  Lande, 
wo  alle  historischen  Interessen  wurzeln,  ist  übermächtig.** 

Diese  über  Italien  gemachten  Bemerkungen  des  Grafen  haben 
insofern  Bedeutung,  als  sie  der  Ton  sind,  in  welchem  auch  die  leiten- 
den Staatsmänner  singen. 

Die  Unruhe,  welche  aus  den  Äußerungen  des  Botschafters  über 
die  Politik  des  Grafen  Goluchowski  im  Orient  sprach,  erhielt  durch 
eine  mir  ganz  vertraulich  gemachte  Mitteilung  bezüglich  der  Hal- 
lung des  Grafen  Badeni*  zu  der  Frage  „Krieg  oder  nicht  Krieg" 
eine  gewisse  Einschränkung.  Der  neue  Ministerpräsident,  dessen 
Energie  und  Verstand  Graf  Wolkenstein  rühmte,  hat  ihm  unter  vier 
Augen  gesagt:  „Ein  jeder  Krieg  für  Österreich  ist  eine  Unmög- 
lichkeit.   Werden  wir  angegriffen,  so  müssen  wir  mit  Gottes  Hülfe 


*  Graf  Badeni  wurde  am  2.  Oktober  1895  nach  dem  Rücktritt  des  Ministeriums 
Windischgraetz  Ministerpräsident  und  Minister  des  Innern 

il    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  161 


die  Situation  akzeptieren,  aber  ein  Angriffskrieg  —  etwa  wegen  Kon- 
stantinopel oder  anderer  Fragen  des  Balkans  —  ist  ein  Wahnsinn  6. 
Ein  Nationalitätenstaat  kann  keinen  Krieg  ohne  Schaden  führen.  Sieg 
oder  Verlust  bildet  bei  einem  Konglomerat  von  Nationen  fast  die 
gleiche  Schwierigkeit." 

Diese  Auffassung  des  neuen  Ministerpräsidenten,  der  in  so  hohem 
Maße  das  Vertrauen  seines  allergnädigsten  Herrn  genießt,  halte  ich 
für  sehr  bedeutungsvoll,  angesichts  der  etwas  schroffen  Haltung  des 
Grafen  Goluchowski.  Wichtige  Entscheidungen  fällt  Kaiser  Franz 
Joseph  nicht,  ohne  den  Rat  des  Grafen  Badeni  zu  hören,  und  der 
durch  das  Leben  und  die  Ereignisse  müde  hohe  Herr,  welcher  sich 
schon  in  inneren  Fragen  nicht  zu  einer  energischen  Entschließung 
aufraffen  kann,  wird  im  entscheidenden  Momente  mehr  Tendenz  zeigen, 
den  klug  begründeten  Argumenten  des  Grafen  Badeni  als  den  mit 
überstürztem  Eifer  ausgesprochenen  Ansichten  des  Grafen  Goluchowski 
nachzugeben,  die  Krieg  bedeuten  können. 

„Ich  halte  es  nicht  für  unmöglich,"  sagte  mir  Graf  Wolkenstein, 
„daß  Goluchowski  über  seine  Ansichten  bezüglich  Konstantinopels 
fällt.  Es  darf  nicht  zu  bekannt  werden,  welche  Anschauungen  er  in 
seinem  Busen  trägt." 

Ich  glaube  nun  allerdings,  daß  bei  diesem  Ausspruch  des  Grafen 
Wolkenstein  der  Wunsch  der  Vater  des  Gedankens  war. 

P.  Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Richtig 

'  sehr  falsch!! 

'  sehr  kurzsichtig 

*  !  das  denkt  Italien  von  Oesterreich  auch 

*  Unsinn 

6  gut 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Wir  müssen  in  diesem  Augenblick  auch  in  vorsichtiger  Weise  Badeni  gebrauchen 

Nr.  2500 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Unsignierte  Abschrift.    Vom  Grafen  Eulenburg  am  10.  November  dem   Freiherrn 

von  Marschall  mitgeteilt 

Wien,  den  10.  November  1895 
Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät 
beehre  ich   mich    über  die   Audienz  bei  Seiner  Majestät  dem   Kaiser 
Franz  Joseph,  die  ich  zur  Übergabe  des  Geschenkes  Euerer  Majestät* 
erbeten  hatte,  folgendes   alleruntertänigst  zu   berichten : 

*  Es  handelt  sich  um  die  bekannte  allegorische  Zeichnung  mit  der  kaiserlichen 
Unterschrift:  Völker  Europas  wahrt  Eure  heiligsten  Güter!  Vgl.  Bd.  IX,  Kap.  LVIII, 
Nr.  2321  nebst  Fußnote  **. 

162 


Der  Kaiser  empfing  mich  allein  in  der  Burg  in  seinem  Arbeits- 
zimmer nachmittags  drei  Uhr  und  hatte  gewünscht,  daß  ich  im  Über- 
rock erschiene  —  wie  gewöiuiHch  bei  dergleichen  Audienzen.  Ich 
breitete  das  Bild  auf  einem  Tisch  aus  und  gab  die  Erklärung  der 
allegorischen  Darstellung.  Der  Kaiser  war  sichtlich  erfreut  und  äußerte, 
daß  die  Gedanken,  denen  Euere  Majestät  Ausdruck  verliehen  hätten, 
sehr  anziehend  und  interessant  seien.  In  der  Tat  wäre  es  ein  Segen, 
wenn  sich  die  europäischen  Staaten  besser  verständigen  wollten,  als 
es  jetzt  der  Fall  sei.  Seine  Majestät  baten  mich,  Euerer  Majestät  den 
herzlichsten  Dank  für  die  erwiesene  Freundlichkeit  auszusprechen. 

Hierauf  lud  mich  der  Kaiser  ein,  mit  ihm  an  seinem  Schreib- 
tisch Platz  zu  nehmen.  Er  begann  anknüpfend  an  das  Bild  über  die 
drohenden  Gefahren  zu  sprechen,  die  sich  im  Balkan  zeigten.  „Es 
ist  ja  nicht  Armenien,*'  sagte  der  Kaiser,  „das  mich  beunruhigt,  ob- 
gleich ich  eine  militärische  Kooperation  von  England  und  Rußland 
nicht  für  einfach  halte,  sondern  der  Balkan.  In  Mazedonien  erwacht 
unzweifelhaft  die  Bewegung  im  Frühjahr,  und  wenn  bis  dahin 
nicht  die  Türkei  wieder  auf  festeren  Füßen  steht,  wird  die  Lage 
äußerst  bedenklich." 

Ich  äußerte,  daß  die  Gefahr  schon  heute  eine  große  werde, 
wenn  z.  B,  in  Konstantinopel  ein  Christenmassaker  stattfände,  oder 
nach  Verjagung  oder  Beseitigung  des  Sultans  Anarchie  die  Mächte 
zwänge,  einzuschreiten  und  mit  Okkupation  vorzugehen.  Da  würden 
wohl  Rußland  und  England  als  die  „gegenwärtigen"  zunächst  berufen 
sein,  Ordnung  zu  schaffen.  Es  fiele  ihnen  also  auch  bei  Christen- 
massaker in  Konstantinopel  diese  Rolle  zu. 

„Nun,"  bemerkte  der  Kaiser,  „da  könnte  ja  auch  noch  ein  anderer 
sich  dabei  beteiligen." 

„Wenn  noch  Zeit  dazu  ist,"  antwortete  ich,  „aber  es  kann  unter 
Umständen  das  Interesse  der  gefährdeten  Christen  erheischen,  daß  jene 
beiden  Mächte  oder  eine  derselben  sofort  Konstantinopel  besetzt." 

„Dann  wäre  immerhin  noch  anzunehmen,"  führte  der  Kaiser  weiter 
aus,  „daß  die  Mächte  sich  nach  erledigter  Mission  wieder  hinausziehen." 

Ich  machte  die  Bemerkung,  daß,  wenn  es  Seiner  Majestät  auch 
nicht  wünschenswert  schiene,  sich  die  dauernde  Besetzung  Rußlands 
aus  der  Lage  der  Dinge  trotzdem  ergeben  könne. 

„Allerdings  wäre  das  durchaus  gegen  meinen  Wunsch,"  äußerte 
der  Kaiser  mit  einer  Betonung  und  so  kurz  abbrechend,  daß  ich  lästig 
zu  fallen  glaubte,  wenn  ich  diesen  Gedanken  weiter  verfolgte.  Ich 
hatte  ja  auch  genügend  durch  den  Akzent  erfahren,  den  diese  kaiser- 
liche  Bemerkung  erhalten  hatte. 

Nach  einer  kurzen  Pause  sagte  der  Kaiser:  „Die  Erklärungen, 
die  uns  England  gegeben  hat,  sind  sehr  beruhigend  und  durchaus 
korrekt.  Nach  den  etwas  eigentümlichen  Seitensprüngen,  die  Lord 
Salisbury  machte,  scheint  er  zum  Einsehen  der  einzig  denkbaren  rich- 

11.  163 


tigen  Politik  gelangt  zu  sein.  Dabei  ist  ja,  Gott  sei  Dank,  die  Haltung 
gegenüber  Rußland  immer  noch  so  weit  feindlich,  daß  der  Ge- 
danke einer  Verständigung  zwischen  diesen  beiden  Mächten  ausge- 
schlossen ist." 

Ich  begann  wieder  von  der  Lage  auf  dem  Balkan,  und  fand  den 
Kaiser  darin  zuversichtlich,  daß  die  sämtlichen  Mächte  vorderhand 
gemeinsam  vorgehen  würden,  wenn  die  Zustände  noch  ernstere 
werden  sollten.  „Der  Status  quo  ist  die  einzige  Möglichkeit,"  sagte 
der  Kaiser  sehr  lebhaft.  „Die  Türkei  muß  gehalten,  gestützt  und 
zurechtgemacht  werden.  Unsere  Lage  ist  sonst  eine  zu  schwierige. 
Aber  wie  ich  denken  auch  die  andern  zunächst  betroffenen  Herrscher. 
Der  König  von  Griechenland,  den  ich  kürzlich  sprach,  ist  türkischer 
als  der  Sultan  selbst.  Was  soll  auch  Griechenland  in  der  traurigen 
Verfassung  machen?  Ebenso  denken  Serbien  und  die  andern.  Nein, 
es  muß  der  Status  quo  erhalten  bleiben!" 

Ich  sagte,  daß  Deutschland  nicht  beteiligt  sei,  und  daß  Euere 
Majestät  nur  sehnlichst  die  Erhaltung  des  Friedens  wünschten,  daher 
gehe  auch  die  ernste  Tendenz  Euerer  Majestät  auf  die  Erhaltung  des 
Status  quo  —  aber  die  Ereignisse  könnten  stärker  sein  als  die  guten  Wünsche. 

Der  Kaiser  ging  hiernach  auf  Bulgarien  über,  das  ihm  auch  Be- 
sorgnis einflöße.  „Die  Verlogenheit  des  Prinzen  Ferdinand  kann  ihm 
den  Thron  kosten,"  äußerte  er. 

Ich  habe  aus  der  Unterhaltung,  die  eine  gute  halbe  Stunde  währte, 
den  Eindruck,  daß  der  Kaiser  mit  Graf  Goluchowski  vorläufig  an  dem 
Standpunkt  festhält:  Konstantinopel  den  Türken  und  Aufrechterhaltung 
des  Status  quo  unter  allen  Umständen.  Daß  sich  angesichts 
einer  Umgestaltung  der  Türkei  diese  Ansichten  modifizieren  werden, 
ist  wohl  denkbar.  Vor  dem  Abenteuer  eines  Krieges  wegen  Kon- 
stantinopel werden  Herr  und  Diener  stutzen,  wenn  wir  unsere  Hülfe 
versagen,  und  England  Gaukelbilder  statt  Verträge  bietet. 

—  Der  Kaiser  war  wohl  und  frisch  — ,  voller  Güte  und  Freund- 
lichkeit. Ich  mußte  ihm  sehr  eingehend  von  Euerer  Majestät  und 
Ihrer  A\ajestät  der  Kaiserin  erzählen. 

Nr.  2501 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Wien 
Grafen  zu  Euienburg 

Konzept 
Nr.  857  Berlin,  den  11.  November  1895 

Aus  Ew.  pp.  Bericht  Nr.  258*  habe  ich  entnommen,  daß  Ew.  pp. 
Unterredungen  mit  dem  Grafen  Goluchowski  bis  zu  dem  Punkte 
gelangt  sind,  daß  der  Minister  unter  Andeutung  seines  eventuellen 
*  Siehe  Nr.  2497. 

164 


Rücktritts  sich  äußerte,  er  werde  nicht  zugeben,  daß  Rußland  nach 
Konstantinopel  gehe,  und  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph 
voll  und  ganz  auf  seiner  Seite  stehe,  und  daß  Ew.  pp.  demgegenüber 
ebenso  bestimmt  den  Standpunkt  vertreten  haben,  daß  Deutschland 
eine  Politik  Österreichs  nicht  unterstützen  könne,  die  in  der  Besitz- 
ergreifung Konstantinopels  durch  die  Russen  einen  Kriegsfall  erblickt. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Sachlage  und  die  Anregung  Ew.  pp., 
jetzt  schon  die  Haltung  der  Kabinette  von  Berlin  und  Wien  für  den 
Fall  von  Überraschungen  zu  fixieren,  bemerke  ich  folgendes: 

So  begreiflich  der  Wunsch  der  österreichisch-ungarischen  Staats- 
männer ist,  angesichts  der  drohenden  Lage  in  Konstantinopel  sich 
Gewißheit  über  die  Haltung  Deutschlands  beim  Eintritt  zukünftiger 
Eventualitäten  zu  schaffen,  um  danach  ihre  Politik  zu  bestimmen, 
so  wenig  besteht  für  uns  zurzeit  ein  Interesse,  diesen  Wunsch  zu 
erfüllen  und  unsere  Politik  nach  der  einen  oder  anderen  Richtung 
festzulegen.  Der  Grundsatz,  zukünftige  Ereignisse,  deren  Eintritt  völlig 
ungewiß  ist,  und  die  in  ihren  Modalitäten  lediglich  der  Kombinations- 
gabe angehören,  nicht  im  voraus  zum  Gegenstande  bindender  Ent- 
scheidungen zu  machen,  gilt  insbesondere  dann,  wenn  ein  Gebiet  in 
Frage  steht,  welches  die  eigene  Interessensphäre  nicht  berührt,  wohl 
aber  den  Mittelpunkt  divergierender  Bestrebungen  anderer  Groß- 
mächte bildet.  Die  Stellung,  welche  Deutschland  in  Europa  einnimmt, 
und  die  Anerkennung  für  die  friedlichen  Tendenzen  des  Dreibunds  be- 
ruhen nicht  zum  mindesten  darauf,  daß  die  deutsche  Politik  in  Aus- 
nützung der  durch  den  Mangel  direkter  Interessen  geschaffenen  gün- 
stigen Lage  sich  in  der  Orientfrage  freie  Hand  bewahrt  und  es  ver- 
mieden hat,  in  dem  latenten  Streit  um  die  Dardanellen  und  Konstanti- 
nopel Partei  zu  ergreifen. 

Diese  Politik  ist  geeignet,  das  Wiener  Kabinett  vor  einer  agres- 
siven  Orientpolitik  gegen  Rußland  zu  warnen  und  bei  ihm  das  Gefühl 
der  alleinigen  Verantwortlichkeit  für  die  Folgen  einer  solchen  wach- 
zuhalten; dieselbe  darf  aber  nicht  derart  zum  Ausdruck  gelangen, 
daß  sie  in  Österreich-Ungarn  Entmutigung  hervorruft,  das  Gefühl  der 
Hülflosigkeit  zeitigt  und  damit  den  ohnehin  weitverbreiteten  Pessimis- 
mus steigert.  Ob  solche  Stimmungen  die  österreichisch-ungarische 
Politik  in  eine  für  uns  wünschenswerte  Richtung  lenken  werden,  ist 
mir  sehr  zweifelhaft,  um  so  mehr  als,  wie  Ew.  pp.  bekannt,  gerade  die 
dem  Deutschen  Reiche  feindlichen  Elemente,  welche  die  Wiederherstel- 
lung der  Zustände  vor  1866  in  den  Kreis  ihrer  Erwägungen  ziehen, 
am  entschiedensten  dafür  eintreten,  daß  Ösierreich-Ungarn  sich  zu- 
gunsten  Rußlands   jeder  aktiven   Orientpolitik   enthalte. 

Von  diesen  Erwägungen  geleitet,  habe  ich  meinem  Erlasse  vom 
5.  d.  Mts.*  den  Satz  vorangestellt,  daß   die  Meerengenfrage  und  ihre 

*  Siehe  Nr.  2495. 

165 


mangelnde  Bedeutung  für  uns  von  dem  Augenblicke  an  in  den  Hinter- 
grund trete,  wo  durch  einen  daraus  entstehenden  Krieg  die  Groß- 
machtstellung eines  Staates  tangiert  werde.  Ich  präzisiere  diesen  Satz 
dahin:  wir  haben  in  Wien  zur  Vorsicht  zu  raten  und  klarzustellen, 
daß  Österreich-Ungarn  jede  Aktion  gegen  Rußland  aus  Anlaß  der 
Meerengenfrage  auf  eigenes  Risiko  unternimmt;  wollten  wir  aber 
in  irgendeiner  Form  erklären,  daß  wir  Österreich-Ungarn  bei  einem 
eintretenden  Kriege  mit  Rußland  auch  dann  seinem  Schicksal  über- 
lassen würden,  wenn  seine  Großmachtstellung  bedroht  ist, 
so  würden  wir  die  Axt  an  die  Wurzel  unseres  Bündnisses  legen  und 
damit  die  Politik  von  Grund  aus  ändern,  welche  seit  1879  für  uns 
maßgebend  gewesen  ist. 

Eine  apodiktische  Erklärung,  was  wir  tun  und  was  wir  nicht  tun 
werden,  falls  Rußland  die  Dardanellen  nimmt,  ist  heute  um  so  weniger 
nötig,  weil  keinerlei  Anzeichen  dafür  vorliegen,  daß  Rußland  eine  solche 
Absicht  hegt.  Bei  einer  österreichischen  Aktion  kommt  es  für  unsere 
Haltung  wesentlich  darauf  an,  ob  das  russische  Vorgehen  gegen  die 
Meerengen  das  Ergebnis  der  russisch-französischen  Entente  war  oder 
nicht,  und  ob  England  bereits  aktiv  engagiert  ist  oder  sich  zurückhält. 
Nur  für  diesen  letztern  Fall  wünsche  ich  die  ausdrückliche  Erklärung, 
daß  wir  alles  tun  werden,  um  eine  österreichisch-ungarische  Aktion 
gegen  Rußland  zu  verhindern.  Im  übrigen  haben  wir  uns  freie  Hand 
zu  wahren  und  jede  Äußerung  zu  vermeiden,  welche  Österreich-Ungarn 
und  Italien  abhalten  könnte,  sich  mit  England  über  die  Orientfrage 
zu  verständigen  und  gegebenenfalls  dessen  rechtzeitiges  Eintreten  in 
die  Aktion  sicherzustellen. 

Eine  andere  als  die  vorstehend  dargelegte  Politik  kann  ich  vor 
Seiner  Majestät  nicht  vertreten. 

C.  Hohenlohe 


166 


B.  Österreichs  Vorstoß  in  der  Orientfrage  und  Englands 

Zurückweichen. 

Flottendemonstration  und  Stationärfrage 


Nr.  2502 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  170  Rom,  den  9.  November  1895 

Baron  Blanc  sagt  mir,  mein  englischer  Kollege*  habe  ihm  gestern 
geschrieben,  daß  in  London  immer  beunruhigendere  Mitteilungen  aus 
Konstantinopel  einliefen.  Ob  in  Rom  gleiche  Nachrichten  eingegangen 
wären,  und  was  Italien  angesichts  dieser  Lage  der  Dinge  zu  tun  ge- 
denke? Baron  Blanc  fügte  hinzu,  er  habe  dem  englischen  Botschafter 
„in  mehr  allgemeinen  Ausdrücken"  geantwortet,  daß  er  jederzeit  bereit 
wäre,  sich  mit  dem  Kabinett  von  St.  James  bezüglich  der  gegenüber 
den  Vorgängen  in  der  Türkei  zu  ergreifenden  Maßnahmen  zu  ver- 
ständigen. 

Bei  diesem  Anlaß  erzählte  mir  der  Minister  der  Auswärtigen  An- 
gelegenheiten —  indem  er  den  absolut  sekreten  Charakter  seiner 
Mitteilung  betonte,  die  er  nur  mir  persönlich  mache  — ,  er  habe  heute 
ein  Telegramm  von  dem  (zurzeit  in  Neapel  weilenden)  Minister- 
präsidenten Crispi  erhalten,  in  welchem  ihn  dieser  unter  dem  tindruck 
des  fortschreitenden  Zersetzungsprozesses  der  Türkei  frage,  ob  es 
nicht  angezeigt  wäre,  die  itaüenische  Flotte  in  der  Nähe  der  Dardanellen 
kreuzen  zu  lassen  i.  Er  habe,  fuhr  Baron  Blanc  fort,  Crispi  erwidert, 
daß  eine  solche  Maßnahme  ihm  verfrüht  erscheine. 

Als  ich  im  Laufe  des  ganz  vertraulichen  Gedankenaustausches, 
der  sich  an  diese  Mitteilungen  schloß,  Baron  Blanc  daran  erinnerte, 
wie  ich  ihm  stets  geraten  habe,  zwar  die  Verbindung  mit  England 
nicht  aufzugeben,  aber  weder  ohne  dieses  vorzugehen  noch  weiter  zu 
gehen  als  dieses,  äußerte  der  Minister  des  Äußern,  daß  ich  in  letzterer 
Richtung  keine  Besorgnis  zu  hegen  brauche.  Italien  könne  nach  Lage 
der  Verhältnisse  seine  Position  im  Mittelmeer,  auf  welcher  seine  Zu- 
kunft beruhe,  gegen  die  französisch-russische  Umklammerung  nur 
vereint  mit  England  behaupten;  er  werde  sich  von  England  aber  weder 
vorschieben  noch  exploitieren  lassen  2,  sondern  nur  so  weit  mit  dem- 
selben gehen,  als  dieses  sich  selbst  engagiere.   Baron  Blanc  ließ  hierbei 


*  Sir  F.  Cläre  Ford. 

169 


die  Bemerkung  fallen,  daß   er  genügenden   Einfluß  auf  Herrn  Crispi 
besitze,  um   diesen  von   übereilten  Schritten  abzuhalten. 

Baron  Blanc  hält  die  Situation  in  Konstantinopel  für  eine  sehr 
kritische.  Er  glaubt  jedoch,  daß  Rußland  die  dortige  Entwickelung 
nicht  überstürzen  wolle,  weil  es  zurzeit  noch  in  Ostasien  beschäftigt 
und  auch  mit  seinen  Rüstungen  noch  nicht  fertig  sei.  Ich  habe  die 
Empfindung,  daß  Baron  Blanc  gegenüber  der  akuter  werdenden  orien- 
talischen Frage  neuerdings  nicht  nur  mit  England,  sondern  auch  mit 
Österreich-Ungarn   engere   Fühlung  nehmen   möchte. 

B  ü  1  o  \v 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Also  war  mein  Verdacht  voll  gerechtfertigt.  England  hat  schon  Italien  bearbeitet 
und  thut  es  noch  um  es  und  damit  den  3  Bund  zu  engagiren,  und  dies  dann 
Rußland  gegenüber  zu  exploitiren.  Unter  keinen  Umständen  dürfen  Italjienische] 
Schiffe  eher  an  den  Dardanellen  erscheinen  als  bis  England  sich  selbst  fest  en- 
gagirt  und  Feuer  gegeben  hat.  Italiener  an  den  Dardanellen  sind  wie  ein  Brennend 
Licht  am  Pulverfaß;  und  würden  Russlands  Argwohn  bezüglich  unsrer  Auf- 
richtigkeit wachmfen.  Das  darf  nicht  sein.  England  soll  die  Suppe,  die  es  ein- 
gebrockt allein  aufessen  und  seine  Schiffe  zuerst  allein  einsetzen.  Bülow  soll 
Tag  und  Nacht  über  Blanc  wachen;  vor  allem  aber  Schiffssendung  verhindern. 

W. 

*  ums  Himmels  Willen  nicht! 


Nr.  2503 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Rom 

Bernhard  von  Bülow 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  124  Berlin,  den  10.  November  1895 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  170*. 

Seine  Majestät  ist  besorgt,  daß  Italien  dadurch,  daß  es  in  Aktion 
eintrete,  bevor  England  sich  für  dieselbe  fest  engagiert  habe,  sich 
von  letzterem  ausbeuten  lassen  und  dadurch  auch  den  Dreibund  in 
eine  schiefe  Lage  bringen  werde. 

Ich  glaube  mich  im  Einverständnis  mit  Ew.  pp.  zu  befinden,  wenn 
ich  Sie  ersuche,  Baron  Blanc  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  er 
von  England  diejenigen  Zugeständnisse,  welche  er  im  Interesse  der 
Machtstellung  Italiens  im  Hinblick  auf  kritische  Lage  von  England 
verlangen  zu  sollen  glaubt,  am  besten  dadurch  erlangen  wird,  daß  er 
zwar  im  allgemeinen  guten  Willen  zeigt,  sich  aber  nicht  gleich  anfangs, 
und  bevor  England  seine  Politik  festgelegt  hat,  zu  weit  engagiert. 

Es  wäre  deshalb  eine  nützliche  Nuance  zur  Kennzeichnung  der 
italienischen    Politik,    wenn    das    italienische    Geschwader,    falls    seine 

*  Siehe  Nr.  2502. 
170 


Entsendung  durch  die  Ereignisse  notwendig  wird,  zunächst  nicht  nach 
den  Dardanellen,  sondern  nach  anderen  türkischen  Häfen,  wo  in 
jetziger  Zeit  das  Leben  von  Christen  bedroht  sein  kann,  geschickt 
würde. 

C.  Hoheniohe 

Nr.  2504 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm,  Entzifferung 
Nr.  173  Rom,  den  11.  November  1895 

Unter   Bezugnahme  auf  Telegramm   Nr.  170*. 

Ich  habe  heute  Gelegenheit  gefunden,  Baron  Blanc  in  streng  ver- 
traulicher und  eingehender  Unterredung  nochmals  nachdrücklich  eine 
vorsichtige  und  abwartende  Haltung  gegenüber  der  orientalischen  Ver- 
wickelung anzuempfehlen  1.  Als  ich  den  Minister  der  Auswärtigen  An- 
gelegenheiten insbesondere  davor  warnte,  sich  zu  avancieren,  bevor 
sich  England  fest  engagiert  habe,  erklärte  derselbe,  daß  er  „nichts 
versäumen'',  aber  auch  „nichts  überstürzen"  werde.  Die  Regierung 
sei  sich  der  ernsten  Verantwortung  bewußt,  die  sie  vor  dem  Lande 
trage,  welches  jetzt  die  Ergebnisse  der  vom  Kabinett  Crispi  verfolgten 
auswärtigen  Politik  erwarte.  Das  Ministerium  wolle  sich  nicht  durch 
die  Ereignisse  überraschen  lassen,  werde  sich  aber  keinenfalls  vor- 
wagen, solange  sich  England  zurückhalte.  Seine  Absichten  ließen  sich 
in  die  Worte  zusammenfassen:  „Ne  provoquer  aucune  occasion  et  n'en 
manquer  aucune.*' 

Der  gegenwärtige  Augenblick,  äußerte  der  Minister  weiter,  sei 
für  die  Zukunft  der  italienischen  auswärtigen  Politik  von  entscheiden- 
der Bedeutung.  Insbesondere  hänge  für  Italien  von  dem  weiteren 
Verhalten  des  Kabinetts  von  St.  James  viel  ab.  Es  müsse  sich  nun- 
mehr zeigen,  ob  in  den  Köpfen  der  derzeitigen  englischen  Minister 
noch  etwas  von  der  Substanz  vorhanden  sei,  welche  einst  die  großen 
englischen  Staatsmänner  beseelt  habe.  Wenn  England  sich  jetzt  nicht 
ermanne  und  zu  einer  klaren,  entschiedenen  und  zuverlässigen  Politik 
zurückkehre,  werde  auch  Italien  endgültig  das  Vertrauen  zu  ihm  ver- 
lieren. „Si  l'Angleterre  faiblit,  l'Italie  devra  changer  ses  batteries 
et  orienter  autrement  sa  politique."  Als  ich  Baron  Blanc  sagte,  es 
würde  eine  nützliche  Nuance  zur  Kennzeichnung  der  italienischen 
Politik  sein,  wenn  das  italienische  Geschwader,  falls  seine  Entsendung 
durch  die  Ereignisse  notwendig  werden  sollte,  zunächst  nicht  nach 
den  Dardanellen,  sondern  nach  anderen  türkischen  Häfen  geschickt 
würde,  wo  in  jetziger  Zeit  das  Leben  von  Christen  bedroht  sein  könne, 
entgegnete   der  Minister,   vorläufig  sei   noch   kein   italienisches   Schiff 


*  Siehe  Nr.  2502. 

171 


nach  den  türkischen  Gewässern  abgegangen.  Das  ganze  aktive  Ge- 
schwader läge  noch  in  Gaeta,  allerdings  seeklar.  Die  italienische  Re- 
gierung werde  trotz  der  gestern  erfolgten  Absendung  des  französischen 
LevantegeSchwadcrs,  die  hier  eine  gewisse  Erregung  her\-orrufe,  hin- 
sichtlich der  Abfahrt  der  italienischen  Flotte  keine  vorschnellen  Ent- 
schlüsse fassen.  Wohin  er  eventuell  die  italienische  Eskader  dirigieren 
werde,  könne  er  noch  nicht  sagen,  wolle  aber  jedenfalls  meine  An- 
deutung in  betreff  der  Dardanellen  in  reifliche  Erwägung  ziehen.  Der 
Minister  ließ  hierbei  die  Bemerkung  fallen:  „Je  n'y  irai  pas  avant  les 
Anglais,  ni  meme  en  meme  temps  qu'eux,  mais  peut  etre  immediate- 
ment  apres." 

Der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  betonte  wiederholt 
seinen  Wunsch  nach  Fühlung  mit  uns,  seine  Dankbarkeit  für  unser 
wohlwollendes  Interesse,  wie  sein  Streben,  soweit  als  irgend  möglich 
nicht  gegen  unsere  Intentionen  zu  verstoßen.  Bülow 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Sehr  gut 

Nr.  2505 
Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  225  Wien,  den  11.  November  1895 

Graf  Goluchowski,  der  nach  der  letzten  Rede  Lord  Salisburys* 
entschieden  ruhiger  geworden  ist^,  teilt  mir  mit,  daß  der  eben  ein- 
getroffene Kurier  aus  Konstantinopel  sehr  ernste  Nachrichten**  ge- 
bracht habe.  Da  ein  Zusammenbruch  in  Konstantinopel  erwartet  werden 
kann,  welcher  das  Eingreifen  der  Mächte  erforderlich  machen  würde, 
will  der  Graf  eine  Anfrage  an  die  Kabinette  richten  ^  bezüglich  ge- 
meinschaftlicher Aktion  vor  Konstantinopel,  wenn  daselbst  bedenkliche 
Zustände  eintreten. 

Der  Graf  will  seinen  Antrag  etwa  folgendermaßen  formulieren: 

Erstens,  wird  es  notwendig,  den  Botschaften  und  Christen  in 
Konstantinopel  Hilfe  zu  bringen,  so  fahren  die  Fahrzeuge  der  Mächte 
gemeinschaftlich  in  die  Dardanellen^. 

Zweitens,  jede  Macht  beordert  die  gleiche  Anzahl  von  Schiffen 
zu  dieser  Mission'*. 

Drittens,  die  Botschafter  haben  den  Zeitpunkt  der  gemeinschaft- 
lichen  Aktion   zu   bestimmen. 

Graf  Goluchowski  will  heute  die  Absendung  von  österreichischen 
Kriegsschiffen  in  die  türkischen  Gewässer  beantragen^. 

*  Vgl.  Nr.  2492,  Fußnote  ***. 

'*  Meldungen    über    Massakers    in   den   Wilajets    Erserum    und    Diarbekir.    Vgl. 

Kap.  LXI.  B,  Nr.  2447.  2450  und  2457. 

172 


Nachrichten  aus  Konstantinopel  ergeben  das  Einverständnis  des 
Sultans  mit  den  stattgehabten  Massakers*.  In  Erserum  hat  das 
Blutbad  auf  ein  gegebenes  Zeichen  begonnen  und  aufgehört. 

Eulen  bürg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Goliichovvsky  hat  etwas  die  Nerven  verloren.  Anfragen  über  Verhalten  der 
Mächte  hätte  eigentlich  Lord  Salisbury  an  uns  andre  zu  richten  und  uns  um 
gütiges  Einverständniß  zu  ersuchen.  So  wird  der  3-Bund  wieder  in  den  Vorder- 
grund gerückt  und  England  wird  sofort  alle  Verantwortung  für  alles  Un- 
angenehme, das  passiren  könnte  Österreich  bezw.  uns  qua  Triplice  in  die 
Schuhe  zu  schieben  und  Russland  gegenüber  zu  verdächtigen  suchen.  Dies  an 
Gr[a]f  Eulenburg. 

*  Das  geht  ihn  doch  eigentlich  nichts  an!  Besser  ginge  dieser  Antrag  von  Salis- 
bury aus! 

3  wir  nicht 

*  Gott  Lob  wir  haben  keine  dort. 

^  dann  fahren  die  Italiener  auch  hin! 


Nr.  2506 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  121  Pera,  den  12.  November  1895 

In  einer  Zusammenkunft  der  Vertreter  der  Großmächte  wurde 
gestern  einstimmig  anerkannt,  daß  zum  Zwecke  eines  v/irksamen 
Schutzes  der  hiesigen  fremden  Untertanen  die  Hersendung  je  eines 
zweiten  Kriegsfahrzeugs  rätlich  sein  dürfte.  Nach  Artikel  3  der 
Pariser  Meerengenkonvention  vom  30.  März  1856  zulässig.  Anzahl  der 
Besatzung  wenn  möglich  gegen  150  Mann  erwünscht.  Bis  wann,  falls 
Kaiserliche  Regierung  zustimmt,  dürfte  wohl  auf  das  Eintreffen  dieses 
Fahrzeugs  hier  zu  rechnen  sein? 

Saurma 

Nr.  2507 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 
Nr.  858  Berlin,  den  12.  November  1895 

Dem  österreichischen  Botschafter,  welcher  heute  die  durch  Ew. 
Telegramm  Nr.  225**    angemeldete    Frage    hier   stellte,    habe    ich    er- 

•  Vgl.  Kap.  LXI,  B,  Nr.  2456  und  2458. 
**  Siehe  Nr.  2505. 

173 


widert,  daß  —  wie  auch  bereits  in  dem  Erlaß  Nr.  824*  des  Herrn 
Reichskanzlers  ausgeführt  ist  —  Vorgänge  in  den  Meerengen  an  sich 
für  Deutschland  vom  politischen  Standpunkt  aus  keinen  direkten 
Anlaß  zu  maritimer  Aktion  bieten,  deutsche  Schiffe  in  Konstantinopel 
daher  lediglich  die  Aufgabe  haben  würden,  den  Botschaften  und 
Christen  Hülfe  zu  bringen.  Da  diese  Aufgabe  aber  bereits  durch  das 
Erscheinen  der  andern  Geschwader  erledigt  würde,  so  ist  es  wahr- 
scheinlich, daß  wir  die  für  diesen  Zweck  etwa  disponiblen  deutschen 
Fahrzeuge  in  anderen  türkischen  Häfen,  wo  bedrohte  Europäer  und 
keine  Kriegsfahrzeuge  sind,  verwenden  werden. 

Marschall 


Nr.  2508 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  230  Wien,  den  13.  November  1895 

Graf  Goluchowski  hat  bis  jetzt  die  in  meinem  Telegramm  Nr.  225** 
vom  11.  enthaltene  Anfrage  nicht  an  die  Mächte,  sondern  nur  mir 
mitgeteilt.  Vorläufig  hat  er  die  auch  an  Euere  Durchlaucht  gelangte 
Frage***  bezüglich  gemeinsamen  Vorgehens  der  Mächte  und  Berufung 
eines  zweiten  Stationärs  nach  Konstantinopel  formuliert.  Hierauf  liegt 
heute  die  Antwort  aus  London  und  Rom  vor.  Lord  Salisbury  sagte 
zu  Graf  Deym,  er  stimme  dieser  Anregung  zu,  aber  der  zweite  Stationär 
gebe  wenig  Hilfe  im  Notfall.  Die  einzige  durchgreifende  Maßregel 
für  die  völlig  aussichtslosen  Zustände  in  der  Türkei  sei  die  Absetzung 
des  Sultans.  Ein  neuer  Sultan  werde  ein  gefügiges  Werkzeug  der 
Mächte  sein. 

Baron  Blanc  stimmt  gleichfalls  der  Anregung  Österreichs  zu. 
Er  spricht  aber  zugleich  die  Befürchtung  aus,  das  französische  Levante- 
geschwader beabsichtige,  sich  mit  den  russischen  Fahrzeugen  zu  ver- 
einigen. Deshalb  sei  es  wünschenswert,  [daß],  wenn  Österreich  jetzt 
auch  wie  Italien  Schiffe  nach  den  türkischen  Gewässern  sende,  diese 
sich  mit  den  italienischen  Fahrzeugen  an  die  Seite  Englands  begäben. 

Graf  Goluchowski  will  letzteren  Vorschlag  durchaus  vermieden 
wissen,  vielmehr  einer  Anregung  Freiherrn  von  Calices  nachgeben, 
wonach  bei  einer  gemeinsamen  Aktion  der  Mächte  die  Gruppierung 
der  Schiffe  ausdrücklich  nicht  nach  Bündnissen  stattfinden  soll. 

Sobald  die  Antworten  aus  St.  Petersburg  und  Paris   eingetroffen 

*  Siehe  Nr.  2495. 
**  Siehe  Nr.  2505. 
***  Vgl.  Nr.  2507. 

174 


sein  werden,  welche  nicht  vor  morgen  abend  zu  erwarten  sind,  weil 
Fürst  Lobanow  heute  nicht  in  St.  Petersburg  war,  will  der  Graf  die 
in  meinem  Telegramm  Nr.  225  enthaltenen  Vorschläge  den  Kabinetten 
unterbreiten. 

Vier  österreichische  Schiffe,  von  denen  das  eine  als  Stationär 
verwendet  werden  soll,  werden  in  diesen  Tagen  abgehen. 

Die  hier  eingetroffenen  Nachrichten  aus  der  Türkei  sind  andauernd 
sehr  ernste.  Die  Zuversicht  des  Grafen  Goluchowski  ist  jedoch  seit 
Konstatierung  entschiedener  Einmütigkeit  der  Mächte  wesentlich  ge- 
hoben. 

Eulenburg 


Nr.  2509 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  177  Rom,  den  13.  November  1895 

In  Ergänzung  seiner  schriftlichen  Mitteilung  sagt  mir  Baron  Blanc, 
daß  vier  italienische  Kriegsschiffe,  welche  eine  Division  des  aktiven 
Geschwaders  bildeten,  unter  dem  Kommando  des  Vizeadmirals  Accinni 
nach  den  türkischen  Gewässern  abgehen  würden,  vorläufig  „sans 
destination  precise''.  Die  Division  werde  voraussichtlich  aus  den 
Schiffen  „Re  Umberto",  „Andrea  Doria",  „Stromboli*',  „Aretusa*'  oder 
„Partenope"  bestehen. 

Als  ich  Baron  Blanc  fragte,  wohin  sich  diese  Flottendivision  zu- 
nächst begeben  würde,  entgegnete  der  Minister,  er  könne  die  Möglich- 
keit nicht  ausschließen,  daß  dieselbe  die  Besikabai  anlaufen  werde. 
Im  weiteren  Verlauf  unserer  Unterredung  ließ  Baron  Blanc  die  Be- 
merkung fallen,  daß,  wenn  die  französische  Flotte  in  Syrien  de- 
barkieren  sollte,  die  italienische  nach  Tripolis  dirigiert  werden  würde. 
Der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  äußerte  hierbei,  daß, 
wo  einerseits  eine  französische  Eskader  mit  unbekannter  Bestimmung 
ausgelaufen  sei,  während  andererseits  eine  Ausschiffung  russischer 
Truppen  in  Konstantinopel  durch  die  russische  Freiwilligenflotte  mög- 
lich erscheine,  die  italienische  Regierung  sich  nicht  durch  die  Er- 
eignisse überraschen  lassen  dürfe,  sondern  auf  alle  Eventualitäten  vor- 
bereiten müsse. 

Der  Minister  des  Äußern  bemerkte  endlich,  daß  nicht  der  Aviso 
„Galileo",  sondern  der  Aviso  „Archimede",  welcher  übrigens  nicht 
größer  sei  als  ersterer  und  wegen  seiner  geringen  Kanonenzahl  gleich- 
falls die  Dardanellen  passieren  dürfe,  als  zweiter  Stationär  nach  Kon- 
stantinopel geschickt  werden  würde.  Der.  „Archimede"  würde  eine 
genügend  starke  Besatzung  erhalten,  um  eventuell  100  Mann  zum 
Schutz  der   Botschaft  an  Land  setzen  zu  können.  Bülow 

175 


Nr.  2510 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm,    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  70  Berlin,  den  15.  November  1895 

Dem  türkischen  Geschäftsträger*  habe  ich  heute  gesagt:  „Mit 
tiefem  Bedauern  muß  ich  konstatieren,  daß  die  Zustände  in  Kon- 
stantinopel und  in  den  Provinzen  die  Geduld  Europas  zu  erschöpfen 
beginnen.  Die  großen  Kabinette,  sonst  in  vielen  Fragen  uneins,  sind 
einig  in  der  Erbitterung  über  die  Gefahren,  welche  die  jetzige  türkische 
Anarchie  heraufzubeschwören  geeignet  ist.  Seine  Majestät  der  Kaiser 
ist  durch  das  freundliche  Andenken,  welches  er  dem  Sultan  bewahrt, 
veranlaßt  worden  zu  befehlen,  daß  seine  Kriegsschiffe  an  der  großen 
gemeinsamen  Flottenbewegung,  welche  in  Aussicht  steht,  nicht  teil- 
nehmen sollen.  Diese  Abwesenheit  deutscher  Schiffe  bedeutet  die 
Abwesenheit  eines  für  den  Sultan  sympathischen  Elements,  d.  h.  also 
eine  Vermehrung  des  Übergewichts  derjenigen  Elemente,  welche  dem 
Sultan,  den  sie  als  den  Urheber  der  jetzigen  gefährlichen  Krisis  an- 
sehen, unfreundlich  gesinnt  sind**." 

Ew.  ersuche  ich,  auf  sicherem  Wege  die  vorstehenden  Äußerungen 
als  unsre  letzte  Warnung  an  den  Sultan  gelangen  zu  lassen  mit  dem 
Rate,  daß,  da  Europa  heute  mächtiger  ist  als  der  Sultan,  dieser  sich 
nur  dann  wird  behaupten  können,  wenn  er  eine  Politik  verfolgt,  welche 
Europa  Vertrauen  einflößt. 

Marschall 

Nr.  2511 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Letzlingen 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  1  Berlin,  den  15.  November  1895 

Der  österreichisch-ungarische  Botschafter  hat  mir  heute  im  Auf- 
trage seiner  Regierung  mitgeteilt,  dieselbe  beabsichtige,  außer  einem 


*  Rifaat  Bcy. 

**  Über  die  Gründe  des  deutschen  Vorgehens  heißt  es  in  einem  Erlaß  des  Staats- 
sekretärs Freiherrn  von  Marschall  an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulen- 
burg vom  IQ.  November  (Nr.  896):  „Außerdem  habe  ich,  um  irrigen  Schlüssen  ent- 
gegenzuwirken, welche  die  Pforte  etwa  aus  der  Nichtbeteiligung  einer  deutschen 
Flottenabteilung  an  einer  etwaigen  gemeinsamen  Demonstration  ziehen  könnte, 
dem  türkischen  Geschäftsträger  gesagt,  daß  ich  mit  tiefem  Bedauern  konstatieren 
müsse,  daß  die  Zustände  in  Konstantinopel  und  in  den  Provinzen  die  Geduld 
Europas  zu  erschöpfen  begännen"  usw.    Vgl.  auch  Nr.  2467. 

176 


zweiten  Stationsschiff  noch  ein  aus  vier  Kriegsschiffen  bestehendes 
Geschwader  nach  der  Levante  abgehen  zu  lassen. 

Rußland,  England  und  Frankreich  hätten  derzeit  schon  Schiffs- 
divisionen in  den  nahen  Gewässern  stationiert,  und  die  österreichisch- 
ungarische Regierung  dürfe  wohl  voraussetzen,  daß  in  Bälde  auch  die 
deutsche  und  die  italienische  Flagge  sich  daselbst  zeigen  würden. 
Wenn  in  der  Folge  im  türkischen  Orient  Eventualitäten  einträten, 
welche  eine  Bedrohung  der  Sicherheit  und  der  Interessen  der  Fremden 
in  sich  schließen  würden,  so  würde  es  zunächst  darauf  ankommen, 
zu  sehen,  ob  die  türkische  Regierung  fähig  sei,  die  Ordnung  herzu- 
stellen. Wenn  nicht,  wäre  es  nach  Erachten  seiner  Regierung  sodann 
an  den  Botschaftern,  auf  der  Basis  gemeinschaftlicher  Beschlüsse  von 
den  einzelnen  fremden  Flottenabteilungen  in  gleicher  Anzahl  und  un- 
gefähr gleicher  Stärke  beizustellende  Schiffe  zu  einer  ausschließlich 
zum  Schutz  der  europäischen  Interessen  bestimmten  kombinierten 
Flottenabteilung  zu  vereinigen  i.  Ein  etwaiger  Widerspruch  der  Hohen 
Pforte  gegen  die  Einfahrt  dieser  Schiffe  in  die  Meerengen  könnte  dann 
selbstredend  nicht  mehr  berücksichtigt  werden,  es  müßte  vielmehr 
ein  eventuell  türkischerseits  aktivierter  Widerstand  durch  entsprechendes 
gemeinsames  Vorgehen  gebrochen  werden  2.  Empfehlen  würde  es  sich 
allenfalls,  die  Kriegsfahrzeuge  der  Mächte  vorerst  in  gewissen  Distanzen 
von  den  Meerengen  entfernt  zu  halten,  um  nicht  durch  eine  Forcierung 
der  Einfahrt  die  in  Konstantinopel  herrschende  Erregung  zu  vermehren 
oder  auch  diese  Maßnahme  als  eine  direkt  gegen  den  Sultan  ge- 
richtete Drohung  erscheinen  zu  lassen. 

Innerhalb  der  Aktion  der  kombinierten  europäischen  Flotte  wäre 
darauf  zu  achten,  daß  darin  vor  allen  die  Einigkeit  der  Kabinette 
deutlich  zum  Ausdruck  gelänge,  weshalb  auch  die  Gruppierung 
der  Schiffe  nach  Allianzverhältnissen  etc.  möglichst  zu  vermeiden 
wäre. 

Herr  von  Szögyeny  hat  sodann  gefragt,  ob  wir  diesen  Anschau- 
ungen beipflichteten  und  geneigt  wären,  den  Kaiserlichen  Botschafter 
in  Konstantinopel  entsprechend  zu  instruieren. 

Ich  habe  dem  österreichischen  Botschafter  erwidert,  daß  wir  im 
Prinzip  die  Vorschläge  seiner  Regierung  durchaus  billigten  3,  und 
daß  wir  eine  großmächtliche  Aktion  zum  Schutz  der  Europäer  und 
etwaiger  sonstiger  gemeinsamer  Interessen  nur  mit  Genugtuung  be- 
grüßen könnten,  daß  es  uns  aber  aus  marinetechnischen  Gründen  zur- 
zeit leider  unmöglich  sei,  dem  österreichischen  Vorschlage  unmittel- 
bar praktische  Folge  zu  geben  *. 

Übrigens  hätten  auch  Seine  Majestät  der  Kaiser  bereits  die  Ent- 
sendung des  einzigen  gegenwärtig  im  Mittelländischen  Meer  verfüg- 
baren deutschen  Kriegsschiffs  an  die  kleinasiatische  Küste  und  in  die 

12    Die  große  Politik.   Bd.  10.  177- 


Nähe    der    durch    die    Unruhen    besonders    gefährdeten    Bezirke    be- 
fohlen 3*. 

Euere  Durchlaucht  darf  ich  bitten,  Seiner  Majestät  hiervon  Mel- 
dung machen  zu  wollen. 

Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Wer  soll  die  kommandiren?! 
»  wenn   das  man  gut  abläuft 
>  ja 

*  richtig 
Schlußberaerkung  des  Kaisers: 

Out 

Nr.  2512 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr,  179  Rom,   den  15.  November  1895 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  131**. 

Als  ich  heute  das  Glück  hatte,  Baron  Blanc  die  Anerkennung 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  und  insbesondere  für  die 
Art  und  Weise,  wie  der  italienische  Minister  der  Auswärtigen  An- 
gelegenheiten die  internationalen  Beziehungen  gegenüber  dem  öster- 
reichisch-ungarischen Geschäftsträger***  nuancierte,  den  allerhöchsten 
Dank  auszusprechen,  entgegnete  derselbe  sichtbar  hoch  erfreut:  „Vous 
n'auriez  pas  pu  me  faire  une  communication  qui  me  donne  plus  de 
plaisir.  J'en  suis  profondement  touche  et  heureux.  Veuillez  deposer 
aux  pieds  de  Sa  Majeste  l'Empereur  avec  mes  remerciments  respec- 
tueux  et  sinceres  l'assurance  de  mon  profond  devouement  pour  son 
auguste  Personne   comme   pour  sa   politique." 

Im  weiteren  Verlauf  unserer  ganz  vertraulichen  Unterredung  sagte 
mir  Baron  Blanc,  daß  die  italienische  Flottendivision  heute  abend  oder 
morgen,  Sonnabend,  auslaufen,  aber  vorderhand  weder  nach  der  Besika- 
bai  noch  nach  Lemnos  gehen  werde.  Wohin  die  italienischen  Schiffe 
später  dirigiert  werden  würden,  hinge  von  der  ferneren  Entwicklung 
der  Verhältnisse  ab;  zunächst  hätten  dieselben  nur  Ordre,  „ä  portee 
du  telegraphe"  in  den  türkischen  Gewässern  zu  kreuzen.  Der  Minister 
erwähnte  beiläufig,  Lord  Saüsbury  habe  dem  italienischen  Botschafter 
in  London,  gesagt,  daß,  nachdem  die  französische  Levanteeskader 
in  See  gegangen  sei,  das  Kabinett  von  St.  James  das  Auslaufen  eines 
italienischen  Geschwaders   durchaus  in   der  Ordnung  finde.    Die  der 

*  Es  handelte  sich  um  S.  M.  S.  „Moltke". 
**  Siehe  Nr.  2540. 

***  von  Eperjesy. 
t  General  Ferrero. 

178 


italienischen  Flottendivision  gegenüber  der  englischen  Mittelmeerflotte 
vorgeschriebene  Haltung  präzisierte  Baron  Blanc  folgendermaßen: 
„J'ai  donne  ordre  ä  Tamiral  Accinni  de  ne  pas  se  fourrer  entre  les 
jambes  des  Anglais,  mais  de  se  tenir  pret  ä  pouvoir  se  joindre  ä  eux 
si  les  Anglais  nous  le  demandaient  et  que  nous  y  consentions." 

Über  die  ihm  während  der  letzten  Tage  zugegangenen  Nachrichten 
äußerte  Baron  Blanc,  er  höre  aus  St.  Petersburg,  daß  man  dort  von 
der  energischeren  Haltung  Englands  überrascht  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  impressioniert  sei;  aus  Paris,  daß  die  Franzosen  ihre 
Entschließungen  im  großen  wie  in  Nebenfragen  (beispielsweise  hin- 
sichtlich der  Bestimmung  ihrer  Levanteeskader  lediglich  von  den 
Weisungen  Rußlands  abhängig  machten;  aus  London,  daß  sich  in  der 
englischen  öffentlichen  Meinung  ein  Umschwung  im  Sinne  einer  kräf- 
tigeren Politik  geltend  mache.  Baron  Blanc  fügte  letzterer  Mitteilung 
hinzu:  „Ce  mouvement,  je  l'espere,  va  aller  en  s'accentuant,  si  d'un 
cote  les  Anglais  se  persuadent  bien  que  personne  ne  tira  les  marrons 
du  feu  pour  eux,  et  si  d'autrement  nous  evitons  ce  qui  pourrait  les 
decourager.'' 

Mein  französischer  Kollege*  hatte  hier  angedeutet,  daß  die  fran- 
zösische Eskader  vielleicht  nach  Beirut  gehen  werde.  Baron  Blanc 
glaubt  trotzdem  nicht  an  eine  baldige  französische  Landung  in  Syrien, 
da  die  Russen  nicht  wünschen  würden,  daß  die  Franzosen  ihre  See- 
streitkräfte zersplitterten. 

Baron  Blanc  schloß  mit  der  Bemerkung,  er  hoffe,  daß  die  aus- 
wärtige Politik  des  Ministeriums  —  welche  er  wiederholt  mit  den 
Worten:  „ni  precipiter  ni  negliger"  charakterisiert  —  die  Unterstützung 
wie  der  hiesigen  öffentlichen  Meinung  so  auch  der  am  21.  November 
wieder  zusammentretenden  Kammer  finden  w^erde. 

Bülow 

Nr.  2513 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Letzlingen 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  3  Berlin,  den  16.  November  1895 

Da  die  an  verschiedenen  Punkten  Kleinasiens  ausgebrochenen  Un- 
ruhen an  Ausdehnung  neuerdings  eher  zuzunehmen  scheinen,  möchte 
ich  empfehlen,  dem  Ermessen  Seiner  Majestät  anheimzustellen,  ob  es 
sich  nicht  angesichts  der  bedrohten  Lage  auch  der  deutschen  Inter- 
essen in  der  Türkei  doch  ermöglichen  ließe,  ein  zweites  Kriegsschiff 
behufs  Entsendung  in  das  Mittelländische  Meer  —  nicht  notwendiger- 
weise gleich  nach  den  türkischen  Besitzungen  —  in  Dienst  zu  stellen. 

*  Billot. 

12*  179 


Dies  erscheint  um  so  dringender  mit  Rücksicht  darauf,  daß  Seine 
Majestät  bei  dem  letzten  Immediatvortrage  zu  äußern  geruht  haben, 
daß  Seiner  Majestät  Schiff  „Moltke"  wegen  seiner  Eigenschaft  als 
Schiffsjungen-Schulschiff  zu  aktiven  Aufgaben  doch  nur  in  beschränktem 
Maße  geeignet  sei. 

Marschall 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

Für's  erste  bin  ich  noch  dagegen  ein  weitres  Schiff  zu  senden.  Einmal  machen 
2  Schiffe  nicht  mehr  Eindruck  als  eines;  da  wo  alle  andren  Staaten  durch 
Flotten  oder  ganze  Divisionen  vertreten  sind.  Andrerseits  ist  durch  die  Ab- 
kommandirung  der  Division  in  Ostasien  theils  unsre  Mobilmachung  zu  Hause 
ernstlich  erschwert,  theils  unser  Indicnsthaltungsfond  —  vom  Parlament  stets 
zu  knapp  bemessen,  —  so  stark  in  Anspruch  genommen,  daß  vorläufig  eine 
weitre  Indienstellung  unthunlich  ist.    Wir  haben  eben  keine  Flotte  mehr!        W 


Nr.  2514 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  233  Wien,  den  16.  November  1895 

Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph  befahl  mich  heute  vor- 
mittag zur  Audienz.  Veranlassung  hierzu  gab  der  an  Seine  Majestät 
von  Herrn  von  Szögyeny  gelangte  Bericht  über  die  ihm  von  Seiner 
Majestät  unserm  allergnädigsten  Herrn  gemachten  Mitteilungen, 
welche  wörtlich  das  ausdrückten,  was  das  Telegramm  Nr.  173*  ent- 
hielt. Kaiser  Franz  Joseph  bat  mich,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser 
den  innigsten  und  wärmsten  Dank  für  die  Zusicherungen  auszusprechen, 
welche  wesentlich  zu  seiner  Beruhigung  beitrügen.  Er  seinerseits 
gebe  sein  heiligstes  Versprechen,  daß  er  auf  das  sorgsamste  vermeiden 
werde,  sich  in  eine  kriegerische  Aktion  ungezwungen  zu  verwickeln 
und   Deutschland   hineinzuziehen. 

Die  Gesamtsituation  sah  der  Kaiser  günstiger  an.  Die  öster- 
reichischen Kriegsschiffe  werden  zur  Abfahrt  bereitgestellt,  über  ihre 
Bestimmung  ist  jedoch  noch  nichts  festgestellt.  Sollte  es  zu  einer  ge- 
meinsamen Flottendemonstration  der  Mächte  kommen,  will  Seine 
Majestät  die  Gruppierung  nach  Bündnissen  strenger  vermeiden,  weil 
bei  einem  gemeinschaftlichen  Auftreten  aller  Mächte  die  meiste  Aus- 
sicht vorhanden  ist,  daß  auch  die  Beendigung  der  Demonstration 
gemeinschaftlich  erfolge. 

Wenn  ernstere  Komplikationen  einträten,  ist  der  Kaiser  des  Zu- 
sammengehens und  der  Verständigung  mit  England  und  Italien  sicher. 
Seine  Majestät  sagten:  „daß  die  Erklärungen  Lord  Salisburys,  wonach 

*  Siehe  Nr.  2542. 
180 


derselbe  fest  entschlossen  sei,  die  frühere  bewährte  Politik  durchzu- 
führen,  völlige   Beruhigung  in   dieser   Hinsicht  gewährt," 

Auf  die  Frage  nach  der  Entsendung  deutscher  Fahrzeuge  gab 
ich  Seiner  Majestät  die  Antwort,  daß  bei  einem  Einschreiten  der 
Mächte  zum  Schutz  der  Christen  außer  den  deutschen  Stationären 
Kriegsschiffe  anderer  Mächte  zur  Genüge  vorhanden  seien,  um  Hülfe  zu 
bringen.  Die  anderen  deutschen  Schiffe,  die  etwa  entsendet  würden, 
könnten  auch  in  anderen  Häfen  als  gerade  in  Konstantinopel  den 
bedrohten  Christen  Hülfe  bringen.  Der  Kaiser  sprach  hierauf  den 
sehr  lebhaften  Wunsch  aus,  es  möchten  deutsche  Schiffe  bei  einer 
Demonstration  nicht  fehlen.  Es  läge  ihm  viel  an  dem  einheitlichen  Bild. 

Ich  erwiderte,  daß  uns  die  glückliche  Lage,  in  der  wir  uns  gegen- 
über dem  Orient  befänden,  naturgemäß  Reserve  auferlege.  Übrigens 
seien  bestimmte  Entschlüsse  noch  in  dieser  Hinsicht  nicht  gefaßt, 
und  hätte  ich  bis  jetzt  keinen  Auftrag  erhalten,  mich  in  dieser  Detail- 
frage zu  äußern. 

Eulenburg 

Nr.  2515 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entziffenjng 
Nr.  270  St.  Petersburg,  den  16.  November  1895 

Fürst  Lobanow  teilt  mir  heute  einen  wohl  in  Berlin  bereits  be- 
kannten Vorschlag  des  Grafen  Goluchowski  mit  behufs  Verständigung 
über  etwaige  angesichts  der  Unruhen  in  der  Türkei  zu  ergreifende 
Maßregeln*.  Vertraulich  sagt  mir  der  Minister  in  gereiztem  Ton 
gegen  Graf  Goluchowski,  daß  dieser  Vorschlag  ihm  durchaus  un- 
praktisch und  ungeeignet  zur  Erreichung  einer  friedlichen  Lösung  er- 
scheine. Ernste  Gefahr  für  die  fremden  Untertanen  in  Konstantinopel 
hält  Fürst  Lobanow  vorläufig  für  nicht  wahrscheinlich  und  sogar  für 
ausgeschlossen.  Das  voreilige,  sonst  belanglose  Erscheinen  eines 
zweiten  Stationärs  würde  in  diesem  Augenblick  nur  unnütz  Alarm  und 
Panik  hervorrufen.  Die  Vereinigung  größerer  Geschwader  der  Mächte 
vor  den  Dardanellen  müßte  nach  Ansicht  des  Fürsten  Lobanow  die 
Muselmänner  unnütz  reizen  und  würde  kein  praktisches  Resultat  haben. 
Ein  eventuelles  Forcieren  der  Dardanellen  müsse  unabsehbare  Folgen 
haben.  Durch  solche  provokatorischen  Maßregeln  würde  die  Autorität 
und  das  Prestige  des  Sultans  und  seiner  Regierung  nur  unnütz  ge- 
schwächt, während  es  vor  allem  darauf  ankommen  müsse,  dieselbe 
möglichst  hoch  zu  halten.  Der  Sultan  habe  die  beste  Absicht,  die 
versprochenen  Reformen  einzuführen;  lasse  man  ihm  doch   Zeit  dazu 

*  Vgl.  Nr.  2505. 

181 


und  gebe  ihm  die  Möglichkeit,  die  Unruhen  im  Innern  selbst  zu  unter- 
drücken. Hierzu  sei  es  nötig,  daß  die  Mächte  seine  Autorität  mög- 
lichst unterstützen.  Lord  Salisbury  habe  aber  letztere  durch  seine 
Rede  nur  noch  mehr  untergraben.  England  scheine  Annexionsgedanken 
im  Schilde  zu  führen,  und  meint  Fürst  Lobanow,  jene  Pläne  seien 
ebensowenig  wie  die  ganze  Politik  Lord  Salisburys  undurchschaulich. 

Radolin 


Nr.  2516 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  273  London,  den  17.  November  1S95 

Der  österreichische  Botschafter  hat  gestern  Lord  Salisbury  die 
Mitteilung  gemacht,  welche  Graf  Goluchowski  dem  Grafen  Eulenburg 
gegenüber  in  drei  Punkten  formuliert  hatte.  Der  Premierminister  hat 
dem  Vorschlag  zugestimmt,  indem  er  gleichzeitig  die  Erwartung  aus- 
sprach, daß  der  Sultan  imstande  sein  würde,  die  Ruhe  aufrecht- 
zuerhalten, und  daß  damit  für  die  Botschafter  in  Konstantinopel  die 
Notwendigkeit  fortfallen   würde,    die   Schiffe   zu    requirieren. 

Der  Premierminister  hat  sich  auch  damit  einverstanden  erklärt, 
daß   jeder   Botschaft  zwei   Stationäre   zugeteilt   werden. 

Hatzfeldt 


Nr.  2517 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  129  Pera,  den  17.  November  1895 

Vertraulich 

Durch  die  von  mir  auf  Befehl  Euerer  Durchlaucht  heute  aus- 
geführten Demarchen,  betreffend  die  dem  Sultan  erteilte  letzte  War- 
nung*,  ist  Seine  Majestät  in   tiefste   Bestürzung  versetzt  worden. 

Kiasim  Bey**  erschien  heute  nachmittag  bei  mir,  um  mir  im 
Auftrag  des  Sultans  zu  erklären,  daß  Seine  Majestät  nunmehr i  bereit 
sei,   alles   und  jedes   zu   tun,   was  von   ihm  verlangt  werde.    Er  bitte 

*  Siehe  Nr.  2510. 

**  Sekretär  des  Sultans. 

182 


mich  nur,  ihm  diejenige  Politik  zu  bezeichnen,  welche  er  zu  befolgen 
habe,  um  Europa  Vertrauen  wieder  einzuflößen  2. 

Ich  bemerkte  Kiasim  Bey,  daß  ich  ihm  allerdings  nur  meine 
persönliche  Auffassung  darüber  kundgeben  könne. 

Diese  gehe  dahin,  vor  allem  den  ihm  von  den  Vertretern  der 
Mächte  gegebenen  Ratschlägen  schnell  und  gewissenhaft  nachzu- 
kommen, sowie  dasjenige,  was  sie  im  Interesse  der  Beilegung  der 
Krisis  von   ihm  forderten,   ohne  Anstand  zuzugestehen. 

Sodann  durch  peremtorische  Befehle  an  die  Behörden  und  Militär- 
befehlshaber, in  den  Provinzen  dem  Blutbad  Einhalt  zu  tun.  Die 
Schuldigen  seien  zu  bestrafen,  gleichviel  ob  Christen  oder  Musel- 
männer, den  Unschuldigen  aber  Schutz  gegen  Gewalttätigkeiten  zu 
gewähren. 

Schließlich  bemerkte  ich  Kiasim  Bey  als  meine  persönliche  Mei- 
nung, daß  Seine  Majestät  vielleicht  gut  daran  täten,  sich  auch  mit 
den  übrigen  Botschaftern,  sei  es  direkt,  sei  es  durch  Vermittelung 
des  Großwesirs,  in  Verbindung  zu  setzen,  um  ihnen  offen  und  ehrlich 
seinen  Entschluß  zu  bekunden,  alles  zu  tun,  was  sie  für  geeignet 
hielten,  um  der  Krisis  ein  möglichst  schnelles  Ende  zu  bereiten  und 
sie  zu  fragen,  was  er  zur  Erreichung  dieses  Zwecks  zu  tun  habe. 

Saurma 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  ! 

2  wird  ihm  nie  wieder  gelingen 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Alles  sehr  schön!  nutzt  aber  nichts,  weil  der  Sultan  keine  Macht  mehr  hat. 


Nr.  2518 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  271  St.  Petersburg,  den  17.  November  1895 

Österreichischer  Geschäftsträger*,  der  aber  nicht  genannt  werden 
will,  sagte  mir  vertraulich,  Fürst  Lobanow,  den  er  heute  gesehen,  sei 
mit  Sendung  zweiten  Stationärs  nach  Konstantinopel  einverstanden, 
auch  finde  er  Erscheinung  von  fremden  Kriegsschiffen  in  Levante- 
gewässern an  sich  nicht  unzweckmäßig,  Rußland  aber  habe  nur  drei 
kleine  Schiffe  dort  zur  Verfügung.  Dagegen  habe  sich  Fürst  Lobanow 
absolut  gegen  den  Graf  Goluchowskischen  Vorschlag  bezüglich  even- 
tuellen   Forcierens   der   Dardanellen   ausgesprochen   und   halte   diesen 


Markgraf  von  Pallavicini. 

183 


Punkt  als  Vertragsbruch  für  unannehmbar.  Außerdem  gebe  Fürst 
Lobanow  die  möglichen  anarchischen  Zustände  in  Konstantinopel,  die 
den  Sultan  und  fremde  Untertanen  gefährden  könnten,  überhaupt 
nicht  zu;  Fürst  Lobanow  deutete  gesprächsweise  dem  Geschäftsträger 
an,  daß  England  eine  gemeinschaftliche  Aktion  als  einen  Erfolg  der 
Rede  Lord  Salisburys*  auffassen  würde. 

Radolin 


Nr.  2519 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  264  Wien,  den  17.  November  1895 

Nachdem  Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph  mir  gestern 
vormittag  persönlich  in  sehr  dringender  Weise  die  Bitte  ausgesprochen 
hatte,  Deutschland  möge  sich  bei  der  Eventualität  einer  Flotten- 
demonstration der  Mächte  beteiligen,  um  nicht  das  Bild  europäischer 
Einigkeit  zu  stören,  suchte  mich  Graf  Goluchowski  abends  auf,  um  mir 
dieselbe   Bitte  sehr  eindringlich  vorzutragen. 

Ich  habe  dem  Grafen  in  derselben  Weise  geantwortet  wie  Seiner 
Majestät  dem  Kaiser:  daß  uns  unsere  glückliche  Lage  bezüglich  des 
Orients  Reserve  auferlege,  daß  leider  unsere  Flotte  noch  zu  klein  sei, 
um  an  allen  Punkten  erscheinen  zu  können,  wo  unsere  Interessen  es 
verlangten  —  hier  aber  unsere  Interessen  durch  die  Stationäre  ge- 
nügend vertreten  schienen  — ,  im  übrigen  die  letzte  Entscheidung 
noch  nicht  gefällt  und  jedenfalls  mir  bestimmte  Weisungen  einer 
Ablehnung  nicht   zugegangen   seien. 

Schließlich  habe  ich  dem  Grafen  wie  Seiner  Majestät  dem  Kaiser 
zugesagt,  daß  ich  die  österreichischen  Wünsche  nach  Berlin  über- 
mitteln würde. 

Ich  habe  den  Eindruck,  daß  es  Graf  Goluchowski  in  erster  Linie 
darum  zu  tun  ist,  unsere  rückhaltlose  Zustimmung  zu  seinen  Vor- 
schlägen möglichst  schnell  zu  haben,  damit  sein  Erfolg  nicht  in  Frage 
kommt  —  besonders  nicht  gar  durch  seine  Freunde  in  Frage  ge- 
stellt werde. 

Ob  bei  der  später  vielleicht  stattfindenden  Demonstration  deutsche 
Schiffe  anwesend  sind  oder  nicht,  ist  ihm   cura  posterior. 

P.  Eulen  bürg 

*  Vgl.  Nr.  2492,  Fußnote  ***. 
184 


Nr.  2520 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 

Nr.  452  St.  Petersburg,  den  16.  November  1805 

Der  Marineattache  Kalau  vom  Hofe  meldet:  Die  Mobilmachung 
der  Schwarzen-Meer-Flotte  wird  vorbereitet.  Vermehrte  Tätigkeit  der 
Zentralbehörde.  Nachtragskredite  zur  Beschleunigung  des  Schiffsbaus, 
Ausrüstung  und  Reparaturen  bewilligt. 

Verstärkung  des  Mittelmeergeschwaders  durch  Schiffe  von  Kron- 
stadt (Panzer  „Peter  Weliki''  und  zwei  andere)  beabsichtigt. 

Man  hofft,  daß  eine  kriegerische  Aktion  noch  bis  zum  Frühjahr  ^ 
vermieden  werden  kann.  Radolin 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Nach  der  Krönung? 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Dann  werden  wir  uns  auch  darauf  einrichten  und  unsre  Schulschiffe  früher 
heimkehren  lassen  müssen,  damit  sie  nicht  abgeschnitten  werden,  eventlueljl 
müßte  auch  die  Division  aus  Ostasien  heimkehren. 

Die  Armee  Vermehrung  muß  umgehend  ins  Auge  gefaßt  werden.      W. 

Nr.  2521 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  182  Rom,  den  19.  November  1895 

Baron  Blanc  sagt  mir,  er  habe  aus  Wien  und  St.  Petersburg  die 
telegraphische  Meldung  erhalten,  daß  Fürst  Lobanow  auf  denjenigen 
Punkt  der  Vorschläge  des  Grafen  Goluchowski,  welcher  die  Möglich- 
keit einer  eventuellen  internationalen  Flottendemonstration  vor  Kon- 
stantinopel* ins  Auge  faßte,  nicht  eingehe.  Im  Anschluß  hieran 
teilte  mir  der  Minister  mit,  daß  ihn  der  österreichisch-ungarische  Ge- 
schäftsträger heute  morgen  aufgesucht  habe,  um  ihn  zu  fragen,  wie 
er  über  die  russische  Weigerung  denke.  Seine  Herrn  von  i^perjesy 
erteilte  Antwort  wiederholte  mir  Baron  Blanc  nicht  wortgetreu,  aber 
sinngemäß,  wie  folgt:  „Je  ne  crois  pas  qu'il  ait  Heu  de  prendre  au 
tragique  le  refus  de  la  Russie.  —  Je  desire  toujours  la  continuation 
de  l'accord  entre  tous  les  ambassadeurs  des  Grandes  Puissances  ä 
Constantinople.  —  II  me  semble  cependant  que  l'incident  en  question 
prouve  que  les  trois  Puissances,  qui  sont  liees  entr'elles  par  les 
stipulations  du  12  decembre  1887,  ne  devraient  pas  trop  craindre 
de   se   montrer   ensemblei.    II  faut  notamment  ne   pas   laisser   croire 


*  Siehe  Nr.  2505. 

185 


a  Paris  qu'il  serait  possible  de  semer  la  zizanie  entre  Rome  et  Vienne, 
en  excitant  les  defiances  de  l'ltalie  contre  l'Autriche  par  des  manoeuvrcs 
dans  le  genre  de  l'article  du  ,Temps'  du  16  novembre  et  les  defiances 
de  TAutriclie  contre  un  accord  separe  anglo-italien  qui  n'existe  pas." 

Baron  Blanc  kam  wiederholt  darauf  zurück,  wie  hohen  Wert  er 
auf  den  Zusammenschluß  der  durch  gemeinsame  Mittelmeerinteressen 
verbundenen  drei  Mächte  Österreich-Ungarn,  Italien  und  England  lege. 
Der  Minister  ließ  hierbei  streng  vertraulich  die  Bemerkung  fallen: 
„Je  ne  grossirai  pas  les  questions,  je  ne  veux  entrainer  personne, 
mais  si  l'Angleterre  et  l'Autriche  marchaient,  je  les  suivraii.''  Der 
Minister  betonte  auch  heute,  daß  er  andererseits  nicht  daran  denke, 
sich  zu  avancieren,  bevor  England  in  Aktion  getreten  sei.  Den  italieni- 
schen Botschafter  in  Konstantinopel*  hat  Baron  Blanc  angewiesen, 
sich  nicht  von  seinen  übrigen  Kollegen  zu  trennen,  solange  alle  einig 
wären,  aber  im  Fall  von  A\einungsverschiedenheiten  mit  dem  öster- 
reichisch-ungarischen und  englischen  Vertreter  zu  gehen 2,  In  der  dem 
italienischen  Botschafter  erteilten  Instruktion  findet  sich,  wie  Baron 
Blanc  im  engsten  Vertrauen  hinzufügte,  der  Satz:  „Wenn  Ihr  öster- 
reichisch-ungarischer Kollege  die  Beteiligung  der  deutschen  Botschaft 
an  italienisch-osterreichisch-englischen  Demarchen  anstreben  sollte,  er- 
suche ich  Sie,  dieser  Tendenz  unter  dem  Hinweis  darauf  entgegen- 
zuwirken, daß  die  Zurückhaltung  Deutschlands  in  spezifisch  orientali- 
schen Fragen  berechtigt  ist  und  dem  österreichisch-italienisch-englischen 
Interesse  nicht  widerspricht 3/* 

Mit  der  neuerlichen  Haltung  des  Londoner  Kabinetts  schien  der 
italienische  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  im  großen  und 
ganzen  nicht  unzufrieden  zu  sein.  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II,: 
»  Richtig 

*  gut 

»  sehr  gut 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Gut 

Blanc   ist  von   allen  andren   Mächte   Ministem   bei   weitem  der  Vernünftigste; 

aber  Bülow  hat  ihn  gut  instruirt. 

Nr.  2522 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  132  Pera,  den  19.  November  1895 

Bei  Gelegenheit  einer  Besprechung  mit  meinen  Kollegen  gaben 
mir    dieselben    ihre    Befriedigung    über    die    dem    Sultan    auf    höhere 

*  A.  Pansa. 
186 


Weisung  von  mir  erteilte  ernste  Warnung*  zu  erkennen.  So  deutlich 
und  unumwunden  sei  bisher  noch  von  keinem  der  Botschafter  zu  ihm 
gesprochen  worden,  und  könne  diese  Sprache  nur  dazu  beitragen, 
ihn  zu  einer  heilsamen  Einsicht  zu  bringen,  wenn  er  einer  Sinnes- 
änderung überhaupt  noch  fähig  sein  sollte. 

S  a  u  r  m  a 

Nr.  2523 

Der  Botschalter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  133  Pera,  den  19.  November  18Q5 

Sämtliche  Vertreter  der  Großmächte  sind  nunmehr  im  Besitz 
der  Zustimmung  ihrer  Regierungen  bezüglich  der  Entsendung  eines 
zweiten  Stationärs. 

Ich  möchte  das  gleiche  für  uns  befürworten  i**,  da  gerade  wir  die 
größte  Kolonie  hier  haben,  und  unsere  alte  „Loreley",  die  gegenwärtig 
überhaupt  nur  noch  zirka  40  Fahrstunden  bis  zu  einer  Kesselreparatur 
hat,  nur  Unzureichendes  für  den  eventuellen  Schutz  der  hiesigen 
Deutschen   zu   leisten   imstande   wäre.  Saurma 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Habe  leider  keinen!  S.  M.  Aviso  Kaiseradler  war  von  mir  dazu  bestimmt. 
Leider  ist  er  vor  kurzem  mit  seinen  Kesseln  total  zusammengebrochen,  da  er 
20  Jahre  alt  ist,  daß  er  einer  großen  Kesselauswechslung  im  Dock  unter- 
worfen werden  muß,  die  viele  Monate  dauert.  Geld  zu  einem  Stationär  soll 
vom  Reichstag  gefordert  und  nach  Bewilligung  eine  englische  Yacht  gekauft 
werden,  da  bei  uns  kein  Fahrzeug  dazu  passend,  vor  allem  geräumig  vor- 
handen ist 

Nr.  2524 

Der  Botschalter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  135  Pera,  den  IQ.  November  18Q5 

Der  Sultan  hat  sich,  meinem  Rat  folgend***,  jetzt  auch  an  die 
übrigen  Botschafter  mit  der  Bitte  gewandt,  ihm  zu  erklären,  was  er 
zu  tun  habe,  um  das  Vertrauen  der  Mächte  wieder  zu  gewinnen. 

In  einer  gestrigen  Zusammenkunft  verabredeten  wir,  ihm  neben 
dem,  was  ihm  bereits  durch  mich  früher  gesagt  wurde   (Telegramm 


*  Vgl.  Nr.  2510. 

♦*  Vgl.  Nr.  2507  und  2513. 

***  Vgl.   Nr.  2510   und   2517. 


187 


Nr.  129*),  zu  empfehlen,  „energische  Wiederherstellung  der  Ruhe  in 
den  Provinzen  und  Ergreifung  von  Maßregeln  zur  Sicherung  der  Ord- 
nung in  der  Hauptstadt'*.  Verschiedene  zu  diesem  Zweck  geeignete 
[Maßregeln**]  wurden  ihm  dabei  angezeigt.  Bereits  heute  hat  uns  der 
Sultan  erklärt,  daß  er  alles  angenommen  und  die  entsprechenden  Wei- 
sungen  in   dem   von   uns   angegebenen   Sinne   erlassen   habe.    Bericht 

folgt. 

Saurma 


Schlußbemeriiung  Kaiser  Wilhelms  IL: 
Gut 


Nr.  2525 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeld  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  276  London,  den  20.  November  1895 

Im  Anschluß  an  Telegramm  Nr.  275***. 

Durch  vertrauliche  Unterhaltung  mit  Lord  Salisbury  ist  mein  Ein- 
druck verstärkt  worden,  daß  er  jetzt  vor  allem  an  zwei  Punkten  fest- 
hält: Übereinstimmung  der  Mächte  in  Konstantinopel  und  Initiative 
Österreichs  1  in  bezug  auf  die  für  die  Sicherheit  der  Fremden  erforder- 
lichen Vorschläge.  Letztere  begründete  er  mir  gegenüber  damit,  daß 
ein  von  Österreich  ausgehender  Vorschlag  von  anderen  Mächten  stets 
mit  weniger  Mißtrauen  werde  aufgenommen  werden  als  ein  engUscher 
Vorschlag. 

Graf  Deym  nimmt  nach  vertraulichen  Äußerungen  mir  gegenüber 
an,  daß  Graf  Ooluchowski  jetzt  seinen  letzten  Vorschlag  modifizieren 
wird,  um  das  Bedenken  des  Fürsten  Lobanow  wegen  etwaiger  For- 
cierung der  Dardanellen  zu  beseitigen.  Das  gleiche  scheint  Lord  Salis- 
bury zu  erwarten,  und  mein  Eindruck  ist,  daß  er  allem  zustimmen 
wird,  was  von  Wien  kommt,  indem  er  den  Russen  und  Franzosen 
überläßt,  österreichische  Vorschläge  abzulehnen. 

Auf  meine  Frage,  was  nach  seiner  Auffassung  für  die  Sicherheit 
der  Fremden  in  Konstantinopel  geschehen  werde,  falls  keine  Einigung 
unter  den  Mächten  auf  Grund  einer  österreichischen  Proposition  zu- 
stande komme,  und  die  Fremden  dort  tatsächlich  bedroht  würden, 
erwiderte  mir  der  Premierminister,  daß  er  dann  nichts  dazu 
tun  könne 2. 


*  Siehe  Nr.  2517. 

♦*  Zusatz  von  der  Hand  des  Freiherrn  von  Marschall  an  Stelle  einer  fehlenden 

Zifferngruppe. 

♦**  Siehe  Nr.  2461. 

188 


Als  die  größte  Gefahr  für  die  Türkei  betrachtet  Lord  Salisbury 
jetzt  den  arabischen  Aufstand,  welcher  nach  seiner  Versicherung  durch 
keinerlei  äußere  Einflüsse  herbeigeführt  noch  geschürt  ist^.  An  fran- 
zösische Absichten  auf  Syrien  glaubt  er  trotz  Entsendung  französi- 
schen Kriegsschiffs  nicht. 

Mit  dem  Artikel  der  „Morning  Post"  versichert  er,  nicht  das  ge- 
ringste zu  tun  zu  haben.  Hatzfeldt 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Ja  leider 

-  Wien  u[nd]  Rom  Petersb[urlg  mitth[eilen] 
3  dann  ist  es  sicher  geschehn 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Er  spielt  falsch 

Nr.  2526 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  138  Pera,  den  20.  November  18Q5 

Seine  Majestät  der  Sultan  sandte  mir  heute  seinen  ersten  Sekretär 
Tahsin  Bey,  um  mich  zu  bitten,  bei  den  übrigen  Botschaftern  mich 
dafür  zu  verwenden,  daß  deren  Regierungen  Abstand  von  der  Ent- 
sendung von  zweiten  Stationären*  nähmen. 

Ich  erklärte  mich  dazu  außerstande,  beruhigte  aber  Seine  Majestät 
über  den  Zweck  dieser  Maßregel,  welche  in  keiner  Weis'e  gegen  seine 
Person  gerichtet  sei,  sondern  lediglich  zur  Beruhigung  der  hier  leben- 
den Fremden  ergriffen  werden  solle. 

Saurma 

Nr.  2527 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  232  Paris,  den  20.  November  18Q5 

Herr  Berthelot  sagt  mir,  er  habe  die  österreichischen  Vorschläge 
nur  insoweit  angenommen,  als  es  sich  um  einen  zweiten  Stationär 
handelt.  Der  Firman  für  denselben  sei  schon  erwirkt  und  ein  Aviso 
segele  heute  von  Athen  aus  nach  Konstantinopel  ab.  Was  aber  den 
weiteren  Vorschlag  betreffe,  die  verbündeten  Flotten  durch  die 
Dardanellen  zu  schicken  und,  falls  nötig,  durch  Gewalt  zu  forcieren, 
so  gehe  das  der  hiesigen  Regierung  viel  zu  weit,  und  sie  habe  ent- 

*  Vgl.  Nr.  2523. 

189 


schieden  es  abgelehnt  i,  sich  dabei  zu  beteiligen.    Diese  Antwort  wird 
mit  derjenigen  Rußlands  identisch  sein. 

Über   ein    weiteres   Gespräch    mit   dem   Minister   über   die   orien- 
talische Frage  berichte  ich  durch  Feldjäger.  Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Diese  Antwort  ist  in   Petersburg  dem  Chemiker  diktirt  worden. 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Die  Ablehnung  ist  Goluchowski  ganz  gesund,  warum  kann  er  mit  seinen  An- 
fragen nicht  warten  wie  ich  vorschlug  bis  England  mit  so  etwas  hervortrat. 
Er  wird  sich  aber  über  die  Antwort  ärgern,  und  zugleich  sehn,  wie  weit 
Gallien  die  Rolle  der  Maitresse  dem  Slavischen  Louis  gegenüber  schon  ein- 
gegangen  ist,  und  das   ist  gut. 


Nr.  2528 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Entzifferung 
Nr.  195  Pera,  den  20.  November  1895 

Der  Eindruck,  welchen  die  letzte  Warnung  der  Kaiserlichen  Re- 
gierung* auf  den  Sultan  machte,  war  ein  überaus  tiefer.  Bereits  drei- 
mal sandte  er  den  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  zu  mir, 
um  von  mir  zu  erforschen,  ob  ich  glaubte,  daß  die  Flotten  der  Mächte 
kämen,  um  ihn  abzusetzen.  Kiasim  Bey  habe  ihm  nach  seiner  Unter- 
redung mit  mir  Andeutungen  in  dieser  Richtung  gemacht. 

Ich  vermochte  Seiner  Majestät  immer  nur  zu  wiederholen,  daß 
ich  nichts  über  die  Absichten  der  bezüglichen  Regierungen  wisse, 
daß  ich  aber  jedenfalls  das  eventuelle  Erscheinen  ihrer  maritimen 
Streitkräfte  in  türkischen  Gewässern  für  einen  Schritt  halte,  aus  wel- 
chem sich  unter  Umständen  allerdings  sehr  ernste  Folgen  für  Seine 
Majestät  ergeben  könnten.  Saurma 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
Gut 

Nr.  2529 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 
Nr.  136  Berlin,  den  21.  November  1895 

Graf  Lanza  teilt  mit,  daß  Graf  Nigra  gemeldet  habe,  die  Kaiser- 
Hche   Regierung   habe   den   Sultan   verständigt,   daß    Deutschland   aus 

♦  Vgl.  Nr.  2510. 
190 


Freundschaft    für    den    Sultan    der    allgemeinen    Flottendemonstration 
fern  bleibe.  Graf  Nigra  will  dies  aus  englischer  Quelle  erfahren  haben. 

Baron  Saurma  hatte  bereits  vorher  berichtet,  daß  meine  bezüg- 
lichen Eröffnungen  an  den  türkischen  Geschäftsträger*  durch  In- 
diskretion des  türkischen  Chiffrierbureaus  zur  Kenntnis  der  russischen 
und  französischen   Botschaft  gekommen  seien. 

Wir  haben  das  Bekanntwerden  des  vollständigen  Textes  nicht 
zu  scheuen,  welcher  den  Gesamteindruck  einer  außerordentlich  ernsten 
Warnung  gibt.  Der  freundschaftliche  Vordersatz  war  darauf  berechnet, 
diesen  Eindruck  noch  technisch  zu  verstärken. 

Wir  haben  von  Anfang  an  nie  einen  Augenblick  für  /nöglich  ge- 
halten, daß  der  weitgehende  Vorschlag  des  Grafen  Goluchowski,  dessen 
Annahme  die  franko-russische  Politik  von  ihrer  bisherigen  Grundlage 
weggezogen  haben  würde,  die  Zustimmung  von  Rußland  und  Frank- 
reich finden  könnte.  Unser  selbständiges  Eingreifen  bezweckte  an- 
gesichts dessen,  den  Sultan  auf  einem  anderen  Wege  zur  Nachgiebig- 
keit zu  bringen  und  dadurch  zu  vermeiden,  daß  von  gegnerischer 
Seite  die  Aktion  des  Grafen  Goluchowski  als  eine  ergebnislose  be- 
zeichnet werden  könne. 

Dieses  Ziel  glauben  wir  erreicht  zu  haben,  denn  es  ist  heute 
nicht  mehr  zweifelhaft,  daß  der  Sultan  jetzt  aufrichtig  bestrebt  ist, 
dem  Verlangen  der  Botschafter  nachzukommen.  Wieviel  von  diesem 
Erfolge  auf  unsere  Aktion  und  wieviel  auf  die  angedrohte  Flotten- 
demonstration kommt,  ist  ein  diplomatisches  Internum,  welches  für 
die  Außenwelt  kaum  Interesse  hat.  Hauptsache  ist,  daß  der  Aktion 
des  Grafen  Goluchowski  diejenige  Wirkung  tatsächlich  gefolgt  ist, 
auf  welche  sie  berechnet  war. 

Die  vorstehend  skizzierten  Gedanken  stelle  ich  anheim,  dem  Baron 
Blanc  ganz  vertraulich  als  Ihr  Eigen  zu  insinuieren. 

Marschall 


Nr.  2530 

Kaiser  Wilhelm  II.,  z.  Z.  in  Göhrde,  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Telegramm.  Entzifferung 

Göhrde,  den  23.  November  18Q5 
Nach  Rücksprache  mit  dem  Kommandierenden  Admiral**  und  mit 
dessen  Einverständnis  habe  ich  befohlen,  daß  „S.  M.  S.  Kaiser*'  von 
Asien  zurückberufen  und  nach  Port  Said  beordert  werden  soll.    Es  ist 

•  Siehe  Nr.  2510. 
**  Admiral  Knorr. 

191 


dies  geschehen,  da  ich  aus  den  wiederholten  Telegrammen  unseres  Bot- 
schafters in  Konstantinopel  ersehen  habe,  daß  das  Nichterscheinen 
eines  zweiten  Stationärs  unsererseits  bei  seinen  anderen  Kollegen 
Zweifel  in  unsere  Aufrichtigkeit  in  der  Mitwirkung  zur  Pression  auf 
die  Türkei  erweckt  hat.  Die  Stationierung  des  „Kaiser"  in  Port  Said 
hält  denselben  fern  von  den  anderen  Flotten,  verleiht  zugleich,  im  Fall 
ernstere  Unruhen  von  Arabien  nach  Ägypten  übergreifen  sollten,  der 
großen  deutschen  Kolonie  dortselbst  Sicherheit.  Sollten  ernste  Kom- 
plikationen zwischen  den  europäischen  Staaten  entstehen,  so  kann  der 
„Kaiser"  rascher  von  Port  [Said],  ohne  abgeschnitten  zu  werden,  als 
von  China  zurückkehren,  um  unsere  stark  geschwächte  Schlachtflotte, 
die  seiner  dringend  bedarf,  zu  verstärken.  Dieselbe  besteht  zurzeit 
nur  aus  sechs  Schiffen,  vier  neuen  und  zwei  alten.  Es  kann  bei  dem 
augenblicklichen  Mangel  an  Geld  wie  an  Personal  nicht  einmal  ohne 
Etatsüberschreitung  die  „Deutschland"  jetzt  in  Dienst  gestellt  werden. 
Die  Mitteilung  von  dem  demnächstigen  Erscheinen  des  „Kaiser"  in 
Port  Said  seitens  Euerer  Durchlaucht  (innerhalb  vier  Wochen  etwa) 
dürfte  ein  neuer  Beleg  unseren  Verbündeten  für  unsere  Aufrichtigkeit 
sein  und  eine  Beruhigung  für  die  Deutschen  in  der  Türkei. 
Fortsetzung  folgt. 

Wilhelm  I.  R. 


Wittenberge,  den  23.  November  18Q5 
Fortsetzung. 

Ich  bedauere,  daß  bei  den  geradezu  himmelschreienden  Zuständen 
in  unserer  Marine  und  ihrer  völligen  Unzulänglichkeit  in  jeder  Hin- 
sicht dieses  die  einzige  Art  ist,  in  welcher  ich  den  Wünschen  Euerer 
Durchlaucht  betreffs  unserer  Flagge  im  Mittelländischen  Meer  ent- 
gegenkommen kann.  pp. 

Wilhelm  I.  R. 


Nr.  2531 
Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Telegramm,    Eigenhändiges  Konzept 

Berlin,  den  23.  November  1895 
Euere  Majestät  muß  ich  auf  das  dringendste  bitten,  den  Befehl 
der  Rückberufung  Eurer  Majestät  Schiff  „Kaiser"  aus  Ostasien  so 
lange  zurückhalten  zu  wollen,  bis  ich  Eurer  Majestät  die  politischen 
Gründe  dargelegt  habe,  welche  sowohl  die  Rückberufung  des  Schiffs 
wie    dessen    Stationierung    in    Port    Said    unmöglich    machen.     Die 

192 


Schwächung  unserer  Flotte  in  den  ostasiatischen  Gewässern  würde  in 
diesem  Augenblick  einem  Verzicht  auf  die  Ansprüche  gleichkommen, 
über  die  wir  zurzeit  mit  der  chinesischen  Regierung  verhandeln. 
Die  Stationierung  eines  Schiffs  von  der  Stärke  Eurer  Majestät  Schiff 
„Kaiser"  in  Port  Said  würde  eine  Änderung  der  Politik  bedeuten, 
welche  wir  in  der  orientalischen  und  ägyptischen  Frage  bisher  mit 
Eurer  Majestät  Genehmigung  verfolgt  haben,  und  deren  volle  Auf- 
richtigkeit heute  von  keiner  Macht  bezweifelt  wird. 

In  Berücksichtigung  der  Dringlichkeit  der  Sache  bitte  ich  Euere 
Majestät,  die  Stunde  bestimmen  zu  wollen,  wann  ich  Eurer  Majestät 
Vortrag  erstatten  kann*. 

C.  Hohenlohe 

Nr.  2532 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  146  Pera,  den  26.  November  1895 

BekanntUch  hat  sich  der  Sultan  vor  wenigen  Tagen  direkt  an  die 
Kabinette  mit  der  Bitte  gewandt,  die  beschlossene  Maßregel,  be- 
treffend  Entsendung  zweiter  Stationäre,  rückgängig  zu  machen. 

Infolgedessen  haben  die  hiesigen  Botschafter  sämtlich  an  ihre 
Regierungen  gestern,  25.,  folgendes  telegraphiert: 

„Ihrer  einstimmigen  Auffassung  nach  erscheine  die  fragliche  Maß- 
regel als  geboten  sowohl  im  Interesse  der  Sicherheit  der  europäischen 
Kolonien  als  wegen  des  hier  auf  dem  Spiel  stehenden  Ansehens  der 
Mächte,  deren  Vertretern  die  Zustimmung  des  Sultans  für  die  Durch- 
gangsfirmans  bereits  mitgeteilt  worden  war. 

Es  sei  auf  der  Gewährung  der  Firmans  unter  Bezeichnung  einer 
Frist  zu  bestehen  mit  der  Warnung,  daß,  wenn  diese  Frist  abgelaufen, 
entsprechende  Maßregeln  würden  ergriffen  werden,  um  die  Ausübung 
eines  Rechts  zu  sichern,  welches  durch  die  Verträge  formell  anerkannt 
worden  sei." 

Der  von  den  Botschaftern  mir  gegenüber  ausgesprochenen  Hoff- 
nung, die  Kaiserliche  Regierung  möchte  doch  die  übrigen  Regierungen 
in  dieser  Angelegenheit  —  wenn  auch  nur  moralisch,  das  ist  durch 
bloße  Anmeldung  eines  Fahrzeugs,  unterstützen,  hielt  ich  ent- 
gegen, der  Sultan  sei  sich  genügend  bewußt,  daß  die  Kaiserliche 
Regierung  bei  ihren  hier  in  Betracht  kommenden  Zielen  mit  den  übrigen 

•  S.  M.  Schiff  „Kaiser"  wurde  zunächst  nicht  zurückberufen.  Infolge  einer  Be- 
Schädigung  im  Hafen  von  Amoy  mußte  das  Schiff  im  Januar  zur  Reparatur  nach 
Hongkong  in  Dock  gehen,  von  wo  es  Anfang  Februar  die  Heimreise  antreten  sollte. 
Auf  Befehl  des  Kaisers  blieb  aber  das  Schiff  vorläufig  in  Ostasiea. 

13    Die  große  Politik.  Bd.  10.  1 93 


Mächten  einig  sei,  und  bedürfe  zur  Erkenntnis  dieser  Tatsache  wohl 
nicht  einer  jedesmaligen  äußerlich  sichtbaren  Bekräftigung. 

Überdies  sei  eben  ein  entsprechendes  Fahrzeug  zurzeit  nicht  zur 
Hand,  und  damit  müsse  man  sich  abfinden. 

Saurma 


Nr.  2533 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 
Nr.  82  Berlin,  den  26.  November  1895 

Antwort  auf  Telegramm  146*. 

Ew.  pp.  Ablehnung,  zu  dem  neuesten  Beschluß  der  Botschafter  be- 
treffend die  zweiten  Stationäre  Stellung  zu  nehmen,  deckt  sich  mit 
unsrer  sonstigen  Haltung,  während  ich  nicht  sicher  bin,  ob  alle  ihre 
Kollegen  dabei  genau  den  Standpunkt  ihrer  respektiven  Regierungen 
vertreten.  Wenigstens  gaben  hier  eingelaufene  Berichte  den  Eindruck, 
daß  einzelne  Kabinette  anfangen,  in  der  Frage  weich  zu  werden. 

Infolgedessen  ward  gestern  von  uns  dem  Wiener  Kabinett  ge- 
raten, den  Verhältnissen  Rechnung  zu  tragen  und  durch  seinen  Ver- 
treter als  Doyen  die  Initiative  des  vorläufigen  Verzichts  auf  zweiten 
Stationär  zu  nehmen.  Graf  Goluchowski  hatte  aber  gerade  eine 
Direktive  für  Aufrechthaltung  des  Stationärantrags  —  offenbar  den- 
jenigen, von  welchem  Ew.  Telegramm  146  handelt  —  nach  Kon- 
stantinopel geschickt. 

Heute  früh  teilte  mir  nun  der  russische  Botschafter  mit**,  der 
Sultan  habe  an  den  Zaren  die  Bitte  gerichtet,  dieser  möge  auf  Be- 
seitigung des  Stationärantrags  hinwirken.  Der  Botschafter  fügte  hinzu, 
der  Zar  sei  geneigt,  der  Bitte  Folge  zu  geben.  Zunächst  wünsche  die 
russische   Regierung  zu  wissen,   wie   Deutschland  sich   stellen  würde. 

Dem  Bestreben,  uns  gegen  Österreich  und  dessen  Gruppe  vorzu- 
schieben, bin  ich  durch  die  Erwiderung  ausgewichen,  daß  wir  uns  ja 
in  Ermangelung,  eines  geeigneten  Fahrzeugs  bei  der  ganzen  Stationär- 
verhandlung nicht  beteiligt  und  deshalb  keinen  Anlaß  hätten,  jetzt 
nachträglich  Stellung  zu  nehmen.  Wir  würden  aber,  falls  alle  andern 
Mächte  einig  seien,  gegen  deren  Entscheidung  keine  prinzipiellen  Be- 
denken haben. 

Ew.  stelle  ich  anheim,  vorstehendes  vertraulich  bei  Ihrem  öster- 
reichischen Kollegen  zu  verwerten. 

Marschall 

*  Siehe  Nr.  2532. 
**  Siehe  Nr.  2534. 

194 


Nr.  2534 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn 

von  Marschall 

Reinschrift  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein* 

[Berlin,  den  26.  November  1895] 

Soeben  hat  mich  der  russische  Botschafter  aufgesucht,  um  mir 
mitzuteilen,  er  habe  ein  Telegramm  von  Fürst  Lobanow  erhalten,  wo- 
nach der  Sultan  sich  direkt  an  den  Kaiser  von  Rußland  gewandt  habe 
mit  der  Bitte,  bei  den  Großmächten  dahin  wirken  zu  wollen,  daß  von 
der  Entsendung  der  zweiten  Stationäre  Abstand  genommen  werde.  Der 
Sultan  motiviere  seine  Bitte  damit,  daß  bisher  den  Fremden  keinerlei 
Schaden  in  der  Türkei  zugefügt  worden  sei,  und  daß  in  der  Hauptstadt 
keinerlei  Unruhen  vorgefallen  seien.  Die  Entsendung  zweiter  Stationäre 
werde  die  Bevölkerung  der  Türkei  aufregen  und  dem  Sultan  die  Auf- 
gabe erschweren,  Ordnung  zu  halten,  während  die  Armenier  darin  eine 
Ermutigung  ihrer  revolutionären  Bestrebungen  sehen  würden. 

Graf  Osten-Sacken  teilte  im  Auftrage  seiner  Regierung  mit,  der 
Kaiser  von  Rußland  sei  geneigt,  dem  Wunsche  des  Sultans  entsprechend 
seine  Vermittelung  bei  den  anderen  Regierungen  eintreten  zu  lassen, 
und  er  sei  beauftragt  zu  fragen,  ob  wir  diesen  Standpunkt  teilten. 

Ich  erwiderte  dem  russischen  Botschafter,  daß  wir  selbst  aus 
mannetechnischen  Gründen  nicht  in  der  Lage  seien,  einen  zweiten 
Stationär  zu  entsenden,  und  daher  auch  nicht  in  der  Lage  seien, 
irgendwelche  Initiative  zu  ergreifen.  Da  die  Initiative  zu  dem  Vor- 
schlage der  Entsendung  zweiter  Stationäre  von  Wien  ausgegangen, 
würde  nach  unserer  Ansicht  Fürst  Lobanow  gut  tun,  sich  zunächst 
mit  Graf  Goluchowski  in  Verbindung  zu  setzen. 

Sollten  sämtliche  anderen  Mächte  in  die  Aufschiebung  der  Ent- 
sendung von  zweiten  Stationären  willigen,  so  hätten  wir  dagegen 
selbstverständlich  auch  nichts  einzuwenden, 

Marschall 

Nr.  2535 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherrn  von  Saurma 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 
Nr.  85  Berlin,  den  29.  November  1895 

Der  türkische  Geschäftsträger  war  eben  bei  mir,  um  mich  im 
Auftrage  seiner  Regierung  zu  bitten,  bei  den  Großmächten  dahin  zu 
wirken,  daß  die  Entsendung  der  zweiten  Stationäre  unterbleibe. 


*  Am  Kopf  des  Schriftstücks  steht  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm 
von  Schwarzenstein:  Auftragsgemäß  habe  ich  dem  österreichischen  Botschafter 
von  dem  Inhalte  der  nebenstehenden  Aufzeichnung  Mitteilung  gemacht      v.  M.  26 

13-  195 


Ich  habe  es  abgelehnt,  diesem  Wunsche  zu  entsprechen,  und 
dem  Geschäftsträger  gesagt,  wir  seien  zwar  selbst  aus  marinetechnischen 
Gründen  zurzeit  nicht  in  der  Lage,  einen  zweiten  Stationär  zu  ent- 
senden, gleichwohl  teile  die  Regierung  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
durchaus  die  Auffassung  der  übrigen  Großmächte  und  könne  dem 
Sultan  nur  dringend  raten,  dem  gemeinsamen  Antrage  derselben  zu 
entsprechen. 

Die  Entsendung  der  zweiten  Stationäre  sei  in  keiner  Weise  gegen 
die  Person  des  Sultans  gerichtet,  sondern  bezwecke  nur  die  Be- 
ruhigung der  Fremden   in   der  Türkei. 

Ew.  ersuche  ich,  sich  dort  im  gleichen  Sinne  zu  äußern  und  dabei 
einfließen  zu  lassen,  daß  eine  Ablehnung  des  Verlangens  der  Groß- 
mächte   dem    Sultan    möglicherweise    auch    persönliche    Feindschaften 


zuziehen  könne. 


Marschall 


Nr.  2536 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schvvarzenstein 

Nr.  333  Berlin,  den  6.  Dezember  1895 

Fürst  Lobanow  hat  gestern  dem  Fürsten  Radolin  angedeutet,  „daß 
Deutschland  seine  hohe  Mission,  in  seiner  Uneigennützigkeit  wurzelnd 
als  Vermittler  zu  wirken  gegenwärtig  Gelegenheit  hätte,  im  Interesse 
des  Friedens  in  besonderem  Maße  zu  betätigen;  Fürst  Lobanow  habe 
aber  das  unbestimmte  Gefühl,  daß  der  deutsche  Vertreter  in  Kon- 
stantinopel sich  zu  sehr  effaciere'*. 

Unverkennbar  sollte  dies  heißen,  der  deutsche  Vertreter  möge 
doch  den  von  Rußland  gestellten,  dann  wieder  fallen  gelassenen  Antrag 
auf  Zurückziehung  der  Forderung  der  Fermane  für  die  zweiten  Sta- 
tionäre unterstützen. 

Ich  habe  darauf  dem  Fürsten  Radolin  geantwortet*: 
„Trotzdem  Deutschland  bei  allen  türkischen  Angelegenheiten 
weniger  als  die  übrigen  Großmächte  interessiert  ist,  hat  doch  der 
Kaiserliche  Botschafter  in  Konstantinopel  in  der  letzten  Zeit  eine 
durchaus  nicht  effacierte  Rolle  gespielt.  Der  Rat,  welchen  er  dem 
Sultan  zu  der  Zeit  erteilte,  wo  die  Massakers  ihre  größte  Ausdehnung 
angenommen  hatten,  hat  sogar  ein  gewisses  Retentissement  gehabt, 
und  ihm  ist  eine  günstige  Wirkung  allgemein  zuerkannt  worden**.  In 

*  Durch  Telegramm  Nr.  215  vom  6.  Dezember. 
*♦  Vgl.  Nr.  2522. 

1% 


der  Stationärfrage  hat  Baron  Saurma,  obschon  Deutschland  nicht  in 
der  Lage  war,  selber  ein  geeignetes  Schiff  zu  schicken*,  gleichwohl 
mit  größter  Entschiedenheit  die  Schritte  der  übrigen  Botschafter  unter- 
stützt. Die  Einigkeit  der  Mächte  in  dieser  Frage  ward  gestört  und 
damit  die  Wirksamkeit  ihrer  Vorstellungen  beeinträchtigt  nicht  durch 
die  Haltung  des  deutschen,  sondern  durch  die  des  russischen  Bot- 
schafters, welcher  neuerdings  erklärte,  ohne  Instruktionen  zu  sein. 

Gleichwohl  war  die  erste  Anregung  der  Entsendung  eines  zweiten 
Stationärs  ursprünglich  grade  von   Herrn  von  Nelidow  ausgegangen. 

Sobald  und  soweit  nach  Eintreffen  der  russischen  Instruktionen 
die  Einigkeit  unter  den  Mächten  wiederhergestellt  sein  wird,  wird 
auch  der  Sultan  nachgeben." 

Es  ist  übrigens  nur  natürlich,  daß  jede  der  beiden  großen  Inter- 
essentengruppen, die  sich  in  Pera  gegenüberstehen,  Deutschland  für 
ihre  Zwecke  nutzbar  machen  möchte,  pp. 

Marschall 


Nr.  2537 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  Freiherr  von  Saurma  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  163  Pera,  den  10.  Dezember  1895 

Soeben  teilt  mir  der  Minister  des  Äußern  mit,  daß  Seine  Majestät 
der  Sultan  die  Genehmigung  zur  Durchfahrt  durch  die  Meerengen  für 
die  zweiten  Stationäre  unter  der  Voraussetzung  erteilt  hat,  daß  dieselben 
bezüglich  ihrer  Größe  dasjenige  Maß  innehalten,  welches  durch  den 
Pariser  Vertrag  bestimmt  ist,  sowie  daß  durch  diese  Maßregel  nichts 
an  den  Festsetzungen  des  gedachten  Vertrags  geändert  werde. 

Saurma 

•  Vgl.  Nr.  2523. 


197 


C.  Versuche  einer  Aktivierung  der  Entente  ä  trois 


Nr.  2538 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  184  Rom,  den  8.  November  1895 

Geheim 

pp.  In  welcher  Richtung  sich  gegenwärtig  die  Gedanken  der 
hiesigen  leitenden  Staatsmänner  bewegen,  möchte  ich  aus  einer  Be- 
merkung entnehmen,  weiche  Baron  Blanc  heute  im  Laufe  einer  Unter- 
redung über  die  allgemeine  Lage  mir  gegenüber  machte.  Herr  Crispi, 
erzählte  mir  der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten,  habe  vor 
einigen  Tagen  an  ihn  die  Frage  gerichtet,  ob  es  sich  nicht  empfehlen 
würde,  in  Wien  und  London  anzufragen,  ob  man  dort  noch  auf  dem 
Boden  der  Sekreten  Abmachungen  von  18871*  stünde.  Baron  Blanc 
setzte  hinzu,  daß  diese  Abmachungen  ihm  nach  wie  vor  als  die  wün- 
schenswerteste Grundlage  2  der  italienischen  Mittelmeerpolitik  er- 
schienen. 

B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Willielms  II.: 

1  Ja 

2  gut 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Gut 

Nr.  2539 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  178  Rom,  den  13.  November  1895 

Baron  Blanc  sagte  mir  im  engsten  Vertrauen,  daß  der  österreichisch- 
ungarische Geschäftsträger  Herr  von  Eperjesy  ihn  gestern  aufgesucht 
habe,  um  ihn  im  Auftrage  seiner  Regierung  zu  fragen,  welche  Haltung 
die  italienische  Regierung  gegenüber  der  sich  mehr  und  mehr  zu- 
spitzenden orientalischen  Krisis  einzunehmen  gedenke.  Die  auf  diese 
Anfrage  von  ihm   erteilte  Antwort  resümierte  mir  Baron   Blanc  etwa 


*  Vgl.  Bd.  IV,  Kap.  XXVII:  Entente  ä  trois  zwischen  Italien,  England  und  Öster- 
reich 1887—88. 

201 


folgendermaßen:  „Je  regarde  les  arrangements  de  1887  comme  encore 
existants.  Je  crois  que  si  la  France  et  la  Russie  continuent  ä  se 
persuader  que  les  aniis  de  1887  —  Tltalie,  la  Grande-Bretagne  et 
l'Autriche-Hongrie  —  n'osent  plus  se  montrer  ensemble,  cela  peut 
encourager  les  deux  puissances  dans  une  voie  perilleuse  pour  la 
paix." 

Der  Minister  fügte  hinzu,  er  habe  auf  die  Frage  des  österreichisch- 
ungarischen Geschäftsträgers,  ob  es  nicht  opportun  sein  würde, 
Deutschland  aufzufordern,  sich  enger  an  die  drei  Mächte  anzuschließen, 
welche  durch  die  Abmachungen  von  1887  verbunden  wären,  nach- 
stehendes geantwortet: 

„Je  n'ai  aucun  doute  sur  la  loyaute  de  TAllemagne,  mais  je  crois 
qu'elle  peut  nous  etre  plus  utile  en  seconde  ligne.  Ce  n'est  pas  ä 
Berlin  mais  ä  Londres  qu'il  faut  agir." 

B  ü  1  o  w 

Nr.  2540 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  131  Berlin,  den  14.  November  1895 

Ew.  Telegramme  Nr.  177*  und  178**  konnte  ich  noch  gleich 
gestern  abend  Seiner  Majestät  unterbreiten.  Allerhöchstderselbe  war 
über  den  Inhalt  beider,  namentlich  über  den  des  Telegramms  Nr.  178 
in  hohem  Grade  befriedigt.  Er  beauftragt  Eure  Exzellenz,  dem  Baron 
Blanc  dafür  die  Anerkennung  und  insbesondere  für  die  im  Schlußsatze 
des  Telegramms  Nr.  178  zum  Ausdruck  gebrachte  Nuancierung  den 
Dank  des  Kaisers  auszusprechen. 

Marschall 

Nr.  2541 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg*** 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  861  Berlin,  den  14.  November  1895 

Ew.  beehre  ich  mich,  anbei  die  Telegramme  des  Kaiserlichen 
Botschafters  in  Rom  Nr.  177f  und  178  ff  vom  gestrigen  Tage,  sowie 


♦  Siehe  Nr.  2509. 

**  Siehe  Nr.  2539. 

***  Der  gleiche   Erlaß  ging  an  den   Botschafter  in   London   (Nr.  1326). 

t  Siehe  Nr.  2509. 

ft  Siehe  Nr.  2539. 

202 


die  im  allerhöchsten  Auftrage  darauf  ergangene  Antwort*  crgebenst 
zu  übersenden.  Falls  von  kompetenter  Seite  Ihnen  gegenüber  die 
österreichisch-englisch-italienischen  Beziehungen  und  die  Konvention 
der  neun  Punkte  vom  12,  Dezember  1887**  zur  Sprache  gebracht  wer- 
den sollte,  wollen  Ew.  sich  vorsichtig,  jedoch  in  einer  Weise  äußern, 
welche  Ihrer  Ansicht  nach  geeignet  ist,  die  von  unserm  allergnädigsten 
Herrn  gewünschte  österreichisch-englisch-italienische  Annäherung  zu 
fördern. 

Marschall 

Nr.  2542 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Wien 
Grafen  zu  Eulenburg 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Staatssekretärs  Freiherrn  von  Marschall 

Nr.  173  Berlin,  den  14.  November  1895 

Seine  Majestät  haben  sich  gestern  in  meinem  Immediatvortrage 
und  demnächst  zum  österreichisch-ungarischen  Botschafter  dahin  ge- 
äußert: Seine  Majestät  sei  überzeugt,  daß  Rußland  und  Frankreich 
untrennbar  verbunden  seien,  um  ihre  Zwecke  gemeinsam  zu  ver- 
folgen, und  daß  Frankreich,  indem  es  seine  Politik  und  seine  Macht 
in  Rußlands  Dienste  stelle,  im  letzten  Ende  die  Wiedererwerbung 
von  Elsaß-Lothringen  im  Auge  habe.  Über  die  letzten  Ziele  der 
russisch-französischen  Entente  werde  Kaiser  Nikolaus  von  seinen  Rat- 
gebern geflissentlich  im  unklaren  gehalten.  Seine  Majestät  sei  voll- 
kommen damit  einverstanden,  daß  die  drei  Mächte,  welche  sich  1887 
im  Sinne  der  Erhaltung  des  Status  quo  im  Orient  verständigten,  auf 
der  Grundlage  jener  Verständigung  in  einen  Gedankenaustausch  träten, 
um  eine  gemeinsame  Haltung  angesichts  der  gegenwärtigen  Lage 
zu  verabreden.  Deutschland  werde  in  zweiter  Reihe  hinter  den  drei 
Mächten  stehen.  Sollte  die  Erhaltung  des  status  quo  nicht  möglich  sein, 
und  Eventualitäten  eintreten,  welche  heute  nicht  vorhergesehen  werden 
können,  so  werde  die  Lage  neuerdings  von  den  Mächten  zu  prüfen 
sein.  Deutschland  werde  Österreich-Ungarn  vor  einem  bewaffneten 
Konflikt  mit  Rußland  namentlich  dann  warnen,  wenn  England  noch 
nicht  fest  engagiert  sei.  Aber  selbstverständlich  stehe  dem  Kaiser 
Franz  Joseph  und  seiner  Regierung  das  endgültige  Urteil  darüber  zu, 
ob  ein  Lebensinteresse  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  durch 
den  Eintritt  gewisser  Ereignisse  verletzt  sei  oder  nicht.  Falls  die 
Großmachtstellung  Österreich-Ungarns  ohne  Provokation  seinerseits 
bedroht  werde,  könne  sich  Kaiser  Franz  Joseph  auf  ihn,  den  Kaiser, 
verlassen.  C.  Hohenlohe 


♦  Siehe  Nr.  2540. 

*'   Das  heißt  die  Abmachungen  von  1887,  vgl.   Bd.  IV,  Nr.  Q38,   Anlage. 


203 


Nr.  2543 

Der  Staa^ssekrefär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe,  z.  Z.  in  Letzlingen 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Berlin,  den  15.  November  1895 

Die  Kürze  des  vorgestrigen  Immediatvortrages  hat  nicht  gestattet, 
den  Bericht  Nr.  258*  des  Grafen  Eulenburg  Seiner  Majestät  vorzu- 
lesen. Es  dürfte  sich  daher  empfehlen,  daß  Ew.  jetzt  noch  nach- 
träglich wenigstens  den  kurzen  Inhalt  des  gehorsamst  angeschlossenen 
Berichts  bei  Seiner  Majestät  zum  Vortrag  bringen.  Die  beiden  Haupt- 
punkte sind,  daß  der  Kaiserliche  Botschafter  dem  Grafen  Goluchowski 
gesagt  hat,  Österreich  könne  bei  einem  aus  der  Meerengenfrage  ent- 
standenen Kriege  unter  keinen  Umständen  auf  deutsche  Unter- 
stützung rechnen ;  und  daß  darauf  Graf  Goluchowski  erwiderte,  Öster- 
reich-Ungarn werde  sich,  solange  wenigstens  er  Minister  sei,  unter 
keinen  Umständen  von  der  Meerengenfrage  desinteressieren.  Den 
hierdurch  zwischen  den  Kabinetten  von  Berlin  und  Wien  entstandenen 
Riß  hat  Seine  Majestät  dadurch  überbrückt,  daß  er  noch  vorgestern 
abend  dem  österreichisch-ungarischen  Botschafter  erklärte,  „Deutsch- 
land werde  allerdings  Österreich-Ungarn  vor  einem  bewaffneten  Kon- 
flikt mit  Rußland  namentlich  dann  warnen,  wenn  England  noch  nicht 
fest  engagiert  sei.  Aber  selbstverständlich  stehe  dem  Kaiser  Franz 
Joseph  und  seiner  Regierung  das  endgültige  Urteil  darüber  zu,  ob 
ein  Lebensinteresse  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie  durch 
den  Eintritt  gewisser  Ereignisse  verletzt  sei  oder  nicht.  Falls  die 
Großmachtstellung  Österreich-Ungarns  ohne  Provokation  seinerseits 
bedroht  werde,  könne  sich  Kaiser  Franz  Joseph  auf  unsern  aller- 
gnädigsten  Herrn  verlassen". 

Vorstehendes  ist  dem  Grafen  Eulenburg  sofort  telegraphisch  mit- 
geteilt worden,  um  seine  Sprache  zu  regeln. 

Schließlich  darf  ich  hinzufügen,  daß  die  inhaltliche  Mitteilung 
des  Eulenburgschen  Berichts  an  Seine  Majestät  hauptsächlich  der 
formalen  Korrektheit  wegen  zu  geschehen  hat.  Etwas  tatsäch- 
lich Neues  wird  Seine  Majestät  daraus  nicht  ersehen,  weil  der  Ab- 
stand zwischen  den  Ansichten  des  Grafen  Eulenburg  und  denen  des 
Wiener  Kabinetts  noch  deutlicher  als  in  der  Unterredung  mit  dem 
Grafen  Goluchowski  in  der  Audienz  beim  Kaiser  Franz  Joseph  zum 
Ausdruck  gekommen  ist,  über  welche  Graf  Eulenburg  Seiner  Majestät 
unserm    allergnädigsten    Herrn   direkten    Bericht  erstattet   hat**. 

Der  Vollständigkeit  wegen  füge  ich  für  Ew.  Durchlaucht  Vor- 
trag noch  Abschrift  der  von  Ew.  Durchlaucht  dem  Grafen  Eulenburg 

•  Siehe  Nr.  24Q7. 
**  Siehe  Nr.  2500. 

204 


erteilten  Antwort  —  Erlaß  nach  Wien  Nr.  857*  — ,  sowie  des 
Berichts  des  Botschafters  von  Bülow  Nr.  184  vom  8.  d.  Mts.**  ge- 
horsamst bei;  letzterer,  welcher  im  Original  bereits  Seiner  Majestät  vor- 
liegt, veranschaulicht  einige  der  Gefahren,  welche  den  Bestand  des  Drei- 
bunds schon  jetzt  bedrohen. 

Marschall 


Nr.  2544 

Der  Österreich -ungarische  Botschafter  in  Berlin  von  Szögy6ny  an 
den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Note.     Unsignierte,    undatierte    Ausfertigung,   am    17.  November   vom   Österreich- 
imgarischen  Botschafter  dem  Staatssekretär  Freiherrn  von  Marschall  überreicht 

[Berlin,  den  17.  November  1895] 
Graf  Goluchowski  telegraphiert  vom  16.  dieses  Abend  folgendes: 
Ich  habe  den  hochwichtigen  Inhalt  Ihres  Telegrammes  vom 
14.  dieses***  zur  allerhöchsten  Kenntnis  unseres  allergnädigsten  Herrn 
gebracht.  Allerhöchstderselbe  hat  mich  ermächtigt,  sobald  Sie  Ge- 
legenheit haben,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Wilhelm  den  aufrichtig- 
sten und  wärmsten  Dank  unseres  allergnädigsten  Herrn  für  die  offene 
und  loyale  Aussprache  zu  melden,  mit  welcher  Kaiser  Wilhelm  die 
maßgebenden  Gesichtspunkte  der  deutschen  Politik  in  den  Orient- 
fragen Ihnen  gegenüber  präzisierte. 

Unser  allergnädigster  Herr  hat  auch  Grafen  Eulenburg  zu  sich 
bitten  lassen  und  denselben  ersucht.  Seiner  Majestät  dem  Deutschen 
Kaiser  über  höchstdessen  so  erfreuliche  Erklärungen  den  aufrichtigsten 
Dank  auszusprechen.  — 

Wir  haben  nie  den  geringsten  Zweifel  daran  gehabt,  daß  die 
Kaiserlich  Deutsche  Regierung  den  Interessen  Österreich-Ungarns  in 
den  Orientfragen  Rechnung  tragen  wird,  und  waren  immer  überzeugt, 
daß  Deutschland  unterstützend  auf  unsere  Seite  treten  wird,  wenn 
die  Machtstellung  unserer  Monarchie  durch  Ereignisse  im  Orient  ge- 
fährdet würde,  und  wenn  es  sich  darum  handeln  sollte,  diese  Macht- 
stellung verteidigen  zu  müssen. 

Wenn  dies  betreffend  teilweise  in  der  öffentlichen  Meinung  irrige 
Auffassungen  auftauchten,  so  haben  wir  dies  hauptsächlich  darum 
bedauert,  weil  hierdurch  in  der  Öffentlichkeit  die  richtige  Wertschätzung 
unseres   Bundesverhältnisses  beeinträchtigt  wurde. 

Seit  dem  Abschlüsse  des  deutsch-österreichischen   Bündnisses  ist 

*  Siehe  Nr.  2501.  j 
**  Siehe  Nr.  2538." 
***  Vgl.  Nr.  2542. 

205 


die  rückhaltslose  Erklärung  Seiner  Majestät  Kaiser  Wilhelms,  welche 
höchstdersclbe  Ihnen  gegenüber  über  die  Tragweite  desselben  ge- 
macht hat,  die  bedeutungsvollste  Enunziation.  —  Sie  wird  das  intime 
Freundschaftsverhältnis  zwischen  beiden  Staaten  noch  inniger  ge- 
stalten; wir  begrüßen  dieselbe  mit  aufrichtigstem  Danke  und  großer 
Freude,  weil  wir  in  ihr  die  verläßlichste  Bürgschaft  finden,  daß  die 
Regierungen  beider  Reiche  die  beste  Garantie  der  eigenen  Sicherheit 
und  die  Wahrung  der  vitalsten  Interessen  ihrer  eigenen  Völker  in  der 
gemeinschaftlichen  Verteidigung  ihrer  beiderseitigen  Machtstellung  er- 
blicken. — 

Eine  jedwede  aggressive  Tendenz  oder  Provokation  werden  wir 
sorgsam  vermeiden;  nach  wie  vor  richten  wir  unser  ernstlichstes  Be- 
mühen auf  die  Erhaltung  des  europäischen  Friedens,  und  wir  sind 
fest  entschlossen,  im  Interesse  dieses  Friedens  bei  der  Behandlung 
aller  internationaler  Fragen  bis  zu  den  äußersten  Grenzen  der  Mäßig- 
keit und  Nachgiebigkeit  zu  gehen.  Wir  werden  dieser  rücksichtsvollen 
und  besonnenen  Politik  unter  allen  Umständen  treu  bleiben.  Wir 
tun  dies  mit  um  so  größerer  Beruhigung,  weil  wir  das  Bewußtsein 
haben,  daß,  wenn  trotz  alledem  Ereignisse  eintreten  sollten,  die  die 
Machtstellung  unserer  Monarchie  ernstlich  gefährden  würden,  bei  Ver- 
teidigung derselben  Deutschland  als  unser  treuer  Bundesgenosse  mit 
seiner  ganzen  Macht  an  unserer  Seite  stehen  wird.  — 

Ich  ersuche  Euere  Exzellenz,  meiner  aufrichtigsten  Genugtuung 
und  Freude  über  die  so  vollkommene  Übereinstimmung  unserer  Re- 
gierungen in  der  Auffassung  unseres  Bundesverhältnisses  Ausdruck 
zu  verleihen  und  Seiner  Durchlaucht  dem  Herrn  Reichskanzler  und 
dem  Herrn  Staatssekretär  Baron  Marschall  meinen  innigstgefühlten 
Dank  für  ihre  in  dieser  Richtung  betätigten  erfolgreichen  Bemühun- 
gen auszusprechen.  — 


Nr.  2545 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  263  Wien,  den  15.  November  1895 

Graf  Goluchowski  war  von  den  dem  Herrn  von  Szögyeny  durch 
Seine  Majestät  den  Kaiser  und  König  gemachten  Erklärungen  über 
unsere  Auffassung  der  gegenwärtigen  Lage  und  der  Bundesverhält- 
nisse zu   Österreich-Ungarn*  sichtlich   beglückt  und  bat   mich  in   be- 

♦  Vgl.  Nr.  2542. 
206 


wegten  Worten,  seinen  Dank  hierfür  übermitteln  zu  wollen.  Namentlich 
sei  auch  der  Kaiser  Franz  Joseph  hocherfreut  über  die  gedachte  Auf- 
fassung gewesen,  die  an  Wärme  und  Entschiedenheit  alle  bisherigen 
in  den  Schatten  stelle  i.  Der  Minister  fühlte  sich  durch  unsere  Unter- 
stützung sehr  ermutigt,  doch  habe  ich  nicht  unterlassen,  ihm  im  Sinne 
der  mir  gewordenen  Weisung  zur  Mäßigkeit  zu  raten  und  vor  einem 
Konflikte  mit  Rußland  ohne  vorheriges  Eingreifen  Englands  zu  warnen. 
Ich  werde  es  mir  auch  ferner  angelegen  sein  lassen,  auf  das  erregbare 
und  leidenschaftliche  Temperament  des  Grafen  mäßigend  einzu- 
wirken 2.  pp. 

P.  Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Sonderbar! 

ist  weiter  nichts  als  eine  Wiederholung  dessen  gewesen,  was  ich  dem  Kaiser 
in  Stettin  gesagt!! 

2  gut 


Nr.  2546 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  135  Berlin,  den  20.  November  1895 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  182*. 

Der  Standpunkt  des  Baron  Blanc,  daß  Österreich  und  England 
neben  Italien  in  erster  Linie  stehen  und  wir  in  der  zweiten,  ist  durch- 
aus korrekt.  Hier  ist  bemerkt  worden,  daß  in  den  letzten  Tagen,  und 
zwar  nachdem  Österreich  und  Italien  eine  energische  Haltung  ein- 
genommen hatten,  Lord  Salisbury  eine  friedlichere  Tonart  anschlägt. 
Es  ist  dies  für  Italien  durchaus  kein  Anlaß  zur  Entmutigung,  wohl  aber 
zur  Vorsicht.  Um  Englands  Lage  zu  fixieren,  wäre  es  praktisch,  wenn 
Wien  und  Rom  sich  darüber  verständigten,  in  London  eine  genauere 
Interpretation  der  „neun  Punkte"**  in  der  jetzigen  Form  anzuregen, 
mit  dem  Vorbehalt,  daß  dieselbe  in  einen  Staatsvertrag  umgewandelt 
werden  soll,  sobald  die  Verhältnisse  im  Orient  das  Herannahen  einer 
Krisis  erwarten  lassen. 

Ew.  pp.  stelle  ich  anheim,  den  Baron  Blanc  ohne  notwendige  Er- 
wähnung des  Auftrags  gelegentlich  auf  diese  Spur  zu  setzen. 

Marschall 


♦  Siehe  Nr.  2521. 

♦*  Das  heißt  des  Mittelmeerabkommens  von  1887. 


207 


Nr.  2547 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Freiherr  von  Marschall  an  den  Botschafter  in  London 

Grafen  von  Hatzfeldt 

Konzept 

Nr.  1384  Berlin,  den  20.  November  1895 

In  den  letzten  Tagen  hatte  ich  Anlaß  genommen,  Euere  Exzellenz 
um  Auskunft  über  die  Ursachen  zu  bitten,  welche  die  plötzliche  Schwen- 
kung des  englischen  Kabinetts  dem  Sultan  gegenüber  herbeigeführt 
haben  konnten*.  Da  kein  deutlich  erkennbarer  Beweggrund  vorzuliegen 
scheint,  so  haben  wir  es  hier  vermutlich  mit  einem  Versuch  Lord 
Salisburys  zu  tun,  nach  altenglischer  Art  sich  zurückzuziehen,  sobald 
andere  Mächte  sich  kampflustig  zeigen  i. 

Graf  Goluchowski  hat  durch  seinen  Vorschlag  zu  einer  gemein- 
samen, eventuell  gewaltsamen  Flottendemonstration  die  Tatenlust  Öster- 
reichs bekundet.  Daß  Italien,  wie  Euere  Exzellenz  aus  dem  beigefügten 
Telegramm  Nr.  182**  ersehen,  bereit  ist,  bei  der  Orientfrage  eine  aktive 
Rolle  zu  spielen,  dürfte  dem  englischen  Kabinett  zur  Genüge  bekannt  ge- 
wesen sein.  Die  Erscheinung,  daß  Lord  Salisbury  gerade  diesen  Moment 
wählt,  um  zu  erklären,  daß  man  mit  dem  Sultan  trotz  seiner  vielen 
Schwächen  Nachsicht  haben  müsse;  der  Umstand  ferner,  daß  Lord 
Salisbury,  soviel  wir  wissen,  weder  in  Wien  noch  in  Rom  den  Wunsch 
eines  Ausbaues  der  Abmachung  vom  12.  Dezember  1887***  hat  er- 
kennen lassen,  geben  dem  Verdacht  Nahrung,  daß  Lord  Salisbury 
zunächst  noch  einmal  versuchen  möchte,  Englands  Interessen  ohne 
Englands  Mitwirkung  verteidigen  zu  lassen 2.  Voraussichtlich  wird 
die  nächste  Zukunft  etwas  mehr  Klarheit  über  Englands  diplomatische 
Pläne  gewähren,  denn  es  liegt  in  der  rührigen  Natur  des  Baron  Blanc, 
daß  dieser  die  Frage  wegen  des  Ausbaues  der  Abmachung  von  1887 
nicht  einschlafen  läßt,  sondern  mit  den  beiden  anderen  Interessenten 
weiter  erörtert.  Wenn  also  demnächst  von  Rom,  von  Wien  oder  von 
beiden  in  London  weitere  Anregungen  erfolgen  bezüglich  Vorbereitung 
eines  im  kritischen  Moment  zu  finalisierenden  pactum  de  contrahendo, 
wird  man  ja  sehen,  wie  Lord  Salisbury  sich  dazu  stellt.  Für  eine 
direkte  Ablehnung,  welche  unfehlbar  dazu  führen  würde,  die  italienische 
Politik   in   eine   andere   Richtung   zu   treiben,   halte   ich   ihn   zu   klug. 


♦  Siehe  Nr.  2461,  Fußnote  • 

**  Siehe  Nr.  2521. 

***  Siehe  Bd.  IV,  Kap.  XXVIII,  Nr.  940,  Anlage. 

208 


Aus  dem  Grade  seiner  Zurückhaltung  und  der  Natur  seiner  even- 
tuellen Ausflüchte  wird  man  aber  wahrscheinlich  auf  seine  wirklichen 
Endabsichten  zurückschließen  können.  Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  Abschrift: 
1  Ja 

*  ja 

Nr.  2548 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  Kaiser  Wilhelm  II.,  z.  Z.  in  Göhrde 

Ausfertigung 

Berlin,  den  21.  November  1895 

Euerer  Kaiserlichen  und  KönigUchen  Majestät  verfehle  ich  nicht, 
ein  Telegramm  des  Grafen  Hatzfeldt*  ehrfurchtsvollst  zu  unterbreiten, 
wonach  das  englische  Kabinett,  welches  bis  vor  kurzem  im  Vordergrund 
der  orientalischen  Aktion  stand,  jetzt  die  unverkennbare  Neigung 
zeigt,  den  Vortritt  an  Österreich-Ungarn  zu  überlassen  i.  Der  von 
Euerer  Majestät  bereits  an  anderer  Stelle**  kritisierte  Vorschlag  des 
Grafen  Goluchowski  hat  die  Wirkung  gehabt,  in  der  Anschauung  Lord 
Salisburys  wenn  auch  nicht  von  Englands  Interessen,  so  doch  von 
der  Art,  dieselben  zu  verteidigen,  eine  Änderung  herbeizuführen.  Lord 
Salisbury  tritt  gern  die  Führung  an  Graf  Goluchowski  ab  und  bringt 
diesen  dadurch  in  das  diplomatische  Vordertreffen  gegenüber  Ruß- 
land und  Frankreich. 

Da  allerlei  Anzeichen  in  den  letzten  Tagen  ein  derartiges  Kurz- 
treten des  englischen  Kabinetts  ahnen  ließen,  ist  bereits  mit  gestriger 
Kurierexpedition  Euerer  Majestät  Botschafter  in  London  daraufhin 
durch  den  alleruntertänigst  beigefügten  Erlaß***  instruiert  worden. 

In  gleichem  Sinne  —  d.  h,  mit  Hinweis  darauf,  daß  England  in 
demselben  Grade  zurückweicht,  wie  es  andere  Mächte  geneigt  sieht, 
bei  Verteidigung  gemeinsamer,  insbesondere  auch  englischer  Interessen 
sich  voranzustellen  —  wird  heute,  wie  übrigens  schon  zu  wiederholten 
Malen,  die  österreichische  und  die  italienische  Regierung  verständigt 
werden  2.  Marschall 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 

Wien  und  Rom  scharf  machen  daß  sie  stets  England  den  Vortritt  im  Handeln 

lassen       22/XI  95 
Randbemerkungen  des  Kaisers: 
1  Das  haben  wir  ja  von  jeher  vorher  gesehn,  und  daher  warnte  ich  in  Wien  vor 

Vorschlägen,   welche  von   England  kommen  mußten. 

*  gut 

auch  Badeni  soll  nicht  uninformirt  bleiben 


*  Telegramm   Nr.  276  vom   20.  November,  siehe  Nr.  2525. 
**  Vgl.  Nr.  2505,  Randbemerkung. 
***  Siehe  Nr.  2547. 

14    Die  Große  Politik.   10.  Bd.  _  209 


Nr.  2549 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

jsjr.  816  Berlin,  den  21.  November  1895 

Anknüpfend  an  frühere  Mitteilungen  beehre  ich  mich,  Ew.  pp. 
anbei  Abschrift  eines  Erlasses*  zu  übersenden,  welchen  ich  gestern 
nach   London   gerichtet  habe. 

Nach  Abgang  dieses  Erlasses  traf  ein  Telegramm  des  Grafen 
Hatzfcldt**  ein,  worin  derselbe  über  eine  Unterhaltung  mit  Lord  Saiis- 
bury  berichtet.  Der  englische  Minister  hatte  in  derselben  die  Rück- 
zugsbewcgung  der  englischen  Politik,  welche  bereits  seit  dem  Vor- 
treten des  Grafen  Goiuchowski  erkennbar  war,  noch  deutlicher 
akzentuiert  und  dadurch  die  diesseitige,  von  Ew.  geteilte  Meinung 
bestätigt,  daß  England  stets  geneigt  ist,  bescheiden  zurückzutreten, 
sobald  es  andere  Mächte  geneigt  sieht,  zur  Verteidigung  englischer 
Interessen  vorzugehen. 

Die  neueste  Haltung  des  englischen  Ministers  begründet  keines- 
wegs die  Vermutung,  daß  seine  Anschauung  über  Englands  Mittel- 
meer- und  Orientinteressen  sich  geändert  habe;  nur  seine  Anschauung 
von  der  Art  der  Verteidigung  dieser  Interessen  hat  sich  geändert,  da 
durch  das  jugendlich  energische  Auftreten  des  Grafen  Goluchfjwski 
das  alte  Ideal  der  englischen  Politik,  andere  für  England  streiten  zu 
lassen,  dem  englischen  Minister  in  erreichbarere  Nähe  gerückt  schien. 

Ew.  pp.  werden  in  der  Lage  sein,  den  Baron  Blanc  bei  Besprechung 
der  Haltung  Englands  in  der  Ansicht  zu  befestigen,  daß  die  beste, 
ja  die  einzig  mögliche  Art,  England  in  eine  politische  oder  weiter- 
gehende Aktion  hineinzubringen,  die  ist,  seli)er  guten  Willen  zu  zeigen, 
dabei  aber  sich  entweder  hinter  oder  äußersten  Falles  auf  gleicher 
Höhe  mit  ihm  zu  bewegen. 

Wenn  Baron  Blanc  etwa  das  Vorstehende  als  seinen  eigenen 
Standpunkt  durch  den  österreichischen  Vertreter  in  Rom  oder  durch 
den  italienischen  Vertreter  in  Wien  an  den  Grafen  Goiuchowski  sagen 
ließe,  so  würde  der  italienische  Minister  damit  unseren  gemeinsamen 
Interessen  vielleicht  Nutzen  schaffen,  ohne  den  österreichischen  Mi- 
nister durch  direkte  Belehrung  zu  kränken. 

Marschall 

♦  Siehe  Nr.  2547, 
♦*  Siehe  Nr.  2525. 


210 


Nr.  2550 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  183  Rom,  den  21.  November  1895 

Ich  fand  heute  ungezwungene  Gelegenheit,  gegenüber  Baron  Blanc 
auf  dessen  neuHche  Bemerkung*  zurückzukommen,  daß  Herr  Crispi 
sich  mit  der  Absicht  trage,  in  London  und  Wien  anzufragen,  ob  man 
dort  noch  auf  dem  Boden  der  Abmachungen  von  1887  stehe.  Der 
Minister  entgegnete,  eine  solche  Anfrage  sei  in  London  bereits  gestellt 
worden.  Lord  Salisbury  habe  dem  itaüenischen  Botschafter  erklärt, 
daß  er  die  fraglichen  Abmachungen  als  noch  in  Kraft  befindlich  be- 
trachte. Ich  ließ  hierauf  —  ohne  auf  einen  Auftrag  schließen  zu 
lassen,  lediglich  als  persönlichen  Gedanken  —  die  Bemerkung  fallen, 
daß  es,  um  Englands  Lage  zu  fixieren,  offenbar  praktisch  sein  würde, 
wenn  Rom  sich  mit  Wien  darüber  verständigte,  in  London  eine 
genauere  Interpretation  der  „neun  Punkte"  in  der  jetzigen  Form  an- 
zuregen i  mit  dem  Vorbehalt,  daß  diese  in  einen  Staatsvertrag  um- 
gewandelt werden  solle 2,  sobald  die  Verhältnisse  im  Orient  das  Heran- 
nahen einer  Krisis  erwarten  ließen.  Die  zögernde  Art  und  Weise,  in 
welcher  Baron  Blanc  auf  meine  Idee  einging,  deutete  darauf  hin, 
daß  der  italienische  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  durch 
die  von  Lord  Salisbury  während  der  letzten  Tage  angeschlagene  — 
und  hier  sofort  bemerkte  —  friedlichere  Tonart  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  deroutiert  ist.  Baron  Blanc  meinte,  daß  er  sich  von  der  An- 
regung einer  genaueren  Interpretation  der  „neun  Punkte''  in  London 
unter  den  jetzigen  Verhältnissen  keinen  besonderen  Erfolg  versprechen 
könne.  Was  andererseits  die  Form  der  Stipulationen  von  1887  an- 
gehe, wolle  er  nicht  bestreiten,  daß  ein  von  den  Souveränen  unter- 
zeichneter Staatsvertrag  an  und  für  sich  besser  sein  würde  als  der 
gegenwärtige  Zustand.  Er  glaube  jedoch  nicht,  daß  England  auch 
nur  vorbehaltsweise  auf  eine  solche  Umwandlung  eingehen  werde, 
solange  die  Dinge  nicht  tatsächlich  noch  mehr  ins  Rollen  gekommen 
sein  würden. 

Im  Anschluß  hieran  äußerte  der  Minister,  daß  die  jüngsten  Wiener 
Vorschläge**  nach  seiner  Auffassung  dem  Geiste  der  Stipulationen 
von  1887  entsprochen  hätten.  Er  sei  auch  völlig  damit  einverstanden 
gewesen,  daß  das  Wiener  Kabinett  sich  mit  seinen  Propositionen 
zunächst  an  alle  Mächte  gewandt  habe.  Nachdem  jedoch  der  „springende 
Punkt"  dieser  Propositionen  —  die  eventuelle  Flottendemonstration 
vor  Konstantinopel  nach  vorheriger  Durchfahrt  durch  die  Dardanellen  — 


*  Siehe  Nr.  2538. 

**  Nämlich   einer  gemeinsamen   Flottendemonstration   vor  den  Dardanellen. 

u*  211 


von  Rußland  abgelehnt  worden  war,  hätte  England  im  Sinne  der  18S7« 
Abmachungen  und  auf  der  Grundlage  der  Wiener  Vorschläge  mit 
Italien  und  Österreich-Ungarn  allein  vorgehen  sollen.  Der  Minister 
ließ  durchblicken,  daß  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  England  vor  der 
russischen  Weigerung  zurückzuweichen  scheine  —  Baron  Blanc  ge- 
brauchte im  Laufe  seiner  ganz  vertraulichen  Expektorationen  zweimal 
das  Wort  „reculade^''  — ,  die  hier  auf  England  gesetzten  Hoffnungen 
wieder  abgekühlt  habe.  Der  Oberkommandierende  der  englischen 
Mittelmeerflotte  habe  vor  einigen  Tagen  bei  Admiral  Accinni*  an- 
gefragt, ob  die  italienische  Eskadre  nicht  neben  der  englischen  in 
Saloniki  vor  Anker  gehen  wolle;  die  italienische  Regierung  habe  einen 
Augenblick  daran  gedacht,  diesem  Wunsche  Folge  zu  geben;  an- 
gesichts der  wieder  so  vorsichtigen  Haltung  Englands  sei  Admiral 
Accinni  heute  jedoch  angewiesen  worden,  in  Smyrna  zu  bleiben^. 
Der  Minister  betonte  nachdrücklich,  daß  er  nach  wie  vor  bereit  sei, 
England  und  Österreich-Ungarn  zu  folgen,  aber  keinen  Schritt  vor- 
wärts tun  werde,  solange  sich  England  zurückhalte.  Beiläufig  er- 
wähnte Baron  Blanc,  er  habe,  wie  schon  dem  italienischen  Botschafter 
in  Konstantinopel,  so  jetzt  auch  den  italienischen  Botschaftern  in  Wien 
und  London  die  telegraphische  Direktive  erteilt,  daß  die  italienische 
Regierung  in  den  Stipulationen  von  1837  die  Basis  ihrer  Orient-  und 
Mittelmeerpolitik  erblicke,  aber  gerade  darum  es  ganz  in  der  Ordnung 
finde,   wenn   sich   Deutschland   in   zweiter  Linie  halte**. 

Ich  habe  es  mir  angelegen  sein  lassen,  den  Minister,  welcher  die 
Dinge  leicht  zu  sanguinisch  oder  zu  pessimistisch  nimmt,  über  die 
gegenwärtige  Phase  der  orientalischen  Krisis  zu  beruhigen,  indem 
ich  ihm  sagte,  daß  er  zwar  sehr  wohl  daran  tue,  sich  nicht  von  Eng- 
land vorschieben  und  ausbeuten  zu  lassen,  sich  aber  andererseits  auch 
nicht  decouragieren  lassen  solle.  Möge  [er]  sich  durch  unvermeidliche 
ups  and  downs  nicht  impressionieren  lassen,  sondern,  von  Entmutigung 
und  Unvorsichtigkeit  gleich  weit  entfernt,  die  weitere  Entwickelung  der 
Dinge  ruhig  abwarten  2. 

Für  meine  Mitteilung  über  die  wirksame  Aktion  des  Kaiserlichen 
Botschafters  in  Konstantinopel***  war  Baron  Blanc  dankbar  und  sprach 
seinen  Glückwunsch   über  diesen   Erfolg  der  kaiserlichen   Politik  aus. 

B  ü  1  o  w 

Randbemerkungen   Kaiser  Wilhelms  II.: 

'  Ja 

'  gut 

'  richtig 

*  da  sind  die  Engländer  auch  hin 


*  Kommandant  des  italienischen  aktiven  Geschwaders. 

**  Siehe  Nr.  2546. 

***  Siehe  Kap.  LXII,  B,  Nr.  2517. 

212 


Nr.  2551 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 

Nr.  723  London,  den  30.  November  1895 

Geheim 

In  streng  vertraulicher  Unterhaltung  mit  mir  äußerte  der  öster- 
reichische Botschafter,  er  habe  den  Eindruck,  ohne  bestimmte  An- 
haltspunkte dafür  geltend  machen  zu  können,  daß  Lord  Salisbury 
jetzt  für  den  Fall  eines  Krieges  mit  Rußland  zu  einer  Allianz 
mit  Österreich  und  seinen  Bundesgenossen  bereit  sein  würde.  Als 
ich  eine  gewisse  Überraschung  und  Ungläubigkeit  zeigte,  schon  des- 
halb, weil  ein  Vertrag  hier  Zustimmung  des  Parlaments  erfordern 
würde,  erwiderte  Graf  Deym,  daß  Notenaustausch  genügen  würde. 
Er  schien  dabei  anzunehmen,  daß  Lord  Salisbury  hierauf  eingehen 
würde,  bemerkte  aber  ausdrücklich,  daß  er  die  Frage  nicht  bei  ihm 
berührt  habe,  auch  für  besser  halte,  abzuwarten,  bis  der  Premier- 
minister einmal  selbst  damit  komme. 

Die  von  mir  nicht  provozierten  Äußerungen  des  Grafen  Deym 
scheinen  mir  deshalb  von  Interesse,  weil  sie  vermuten  lassen,  daß  die 
Eventualität  eines  Abkommens  mit  England  in  Wien  ernstlich  er- 
wartet wird,  wenn  man  auch  dort  den  Augenblick  noch  nicht  für  ge- 
kommen hält,  in  dieser  Richtung  hier  Schritte  zu  tun. 

Ich  bitte  um  streng  vertrauliche  Behandlung  dieses  Berichtes. 

Hatzfeldt 


Nr.  2552 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von   Schvvarzenstein 

Nr.  1448  Berlin,  den  2.  Dezember  1895 

[abgegangen  am  3.  Dezember] 

Die  in  Ew.  pp.  Bericht  Nr.  723*  wiedergegebene  Äußerung  des 
österreichischen  Botschafters,  er  habe,  allerdings  ohne  bestimmte  An- 
haltspunkte, den  Eindruck,  daß  Lord  Salisbury  für  den  Fall  eines 
Krieges  mit  Rußland  zu  einer  Allianz  mit  Österreich  und  dessen 
Bundesgenossen  bereit  sein  würde,  ist  von  doppeltem  Interesse: 

Erstens  wegen  der  freilich  ferner  liegenden  Möglichkeit,  daß 
Lord   Salisbury   wirklich   diesen  Wunsch   hegt,   zweitens   aber  wegen 


*  Siehe  Nr.  2551. 

213 


der  aus  der  Eröffnung  des  Botschafters  sich  ergebenden  Wahrschein- 
lichkeit, daß  österreichischerseits  nicht  nur  diese  Allianz,  sondern  ins- 
besondere auch  unsere  V-'ermittelung  und  Teilnahme  bei  derselben 
dringend  gewünscht  wird.  Eben  deshalb,  weil  es  uns  der  oster- 
reichischen  Regierung  und  ihren  wohlbekannten  Wünschen  gegen- 
über schwer  fallen  würde,  Vermittelung  und  Teilnahme  zu  trennen, 
dürfte  es  sich  empfehlen,  daß  Ew.  wie  bisher  Ihrem  österreichischen 
Kollegen  gegenüber  sich  aller  solcher  Anregungen  enthalten,  welche 
von  ihm  als  Vermittelungsanerbietungen  aufgefaßt  werden  könnten, 
ohne  jedoch  einen  Zweifel  darüber  aufkommen  zu  lassen,  daß  wir 
die  Herstellung  jenes  Einverständnisses  als  das  erstrebenswerteste 
Ziel  sowohl  der  österreichischen  als  auch  der  italienischen  und  eng- 
lischen Politik  ansehen. 

Marschall 


Nr.  2553 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg* 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden   Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  939  Berlin,  den  2.  Dezember  1895 

[abgegangen  am  9.  Dezember] 

Ew.  pp.  beehre  ich  mich,  in  der  Anlage  einen  Bericht  des  Grafen 
Hatzfeldt  vom  30.  v.  Mts.**  ergebenst  zu  übersenden,  worin  Äuße- 
rungen des  Grafen  Deym  über  eine  mutmaßlich  beabsichtigte  An- 
näherung Englands  an  den  Dreibund  wiedergegeben  sind.  Feste  An- 
haltspunkte hat  Graf  Deym,  wie  er  selber  sagt,  nicht.  Er  läßt  nur  in 
der  Art,  wie  er  den  möglichen  Anschluß  Englands  an  Österreich  und 
dessen  Verbündete  bespricht,  den  ohnedies  genugsam  bekannten 
österreichischen  Wunsch  erkennen,  Deutschland  in  die  gehoffte  öster- 
reichisch-englische Abmachung  hineinzuziehen. 

Unsere  Stellung  zu  Abmachungen  über  Orientfragen  ist  Ew.  pp. 
genugsam  bekannt.  Dieselbe  ist  nicht  von  Verträgen  abhängig,  sondern 
von  dem  Interesse,  welches  Deutschland  daran  hat,  daß  Österreich- 
Ungarn  und  Italien  als  Großmächte  fortbestehen.  Unsere  politische 
Aufgabe  ist  es  daher,  daß  wir,  in  zweiter  Linie  stehend,  die  Ent- 
wickelung  der  Dinge  abwarten;  Sache  der  in  erster  Linie  stehenden 
Mittelmeermächte  Österreich-Ungarn,  Italien  und  England  ist  es,  sich 
zunächst  über  diejenigen  Punkte  zu  verständigen,  welche  sie  für  wichtig 
zur  Wahrung   ihrer   Machtstellung   ansehen.    Daß   grade    Deutschland 


*  Ein   ähnlicher   Erlaß   ging   an   den   Botschafter   in   Rom    Bernhard   von    Bülow 

(Nr.  865). 

**  Siehe  Nr.  2551. 

214 


€s  sein  sollte,  welches  eine  Annäherung  zwischen  Österreich  und 
England  vermittelt,  erscheint  unnötig,  ebenso  wie  auch  unpraktisch. 
Unnötig,  weil  Graf  Goluchowski  als  rühriger  Russenfeind  keine  Ge- 
legenheit vorübergehen  lassen  wird,  welche  geeignet  wäre,  zu  einem 
Einvernehmen  mit  England  zu  führen.  Unpraktisch,  weil  durch  die 
Tatsache  unserer  Vermittelung  zwischen  England  und  Österreich  wir 
mehr,  als  sich  mit  unserer  allgemeinen  Politik  verträgt,  in  den  Vorder- 
grund geschoben  werden  würden. 

Ew.  pp.  bitte  ich  daher,  den  Gedanken  der  österreichisch-englisch- 
italienischen Annäherung  dort  nicht  anzuregen.  Sollte  die  Anregung 
von  außen  erfolgen,  so  wird  es  Ew.  leicht  werden,  ein  volles 
Verständnis  für  die  Vorteile  einer  österreichisch-englisch-italienischen 
Verständigung  in  Mittelmeer-  pp.  Fragen  zu  bekunden,  ohne  dabei  zu 
verschweigen,  daß  Deutschland  sich  für  dieselben  nicht  um  ihrer 
selbst  willen  interessiert,  sondern  erst  dann,  wenn  dieselben  zu  Ver- 
wickelungen führen  sollten,  welche  die  Existenz  unserer  Freunde  be- 
drohen. Ew.  wollen  zugleich  bemerken,  daß  Sie  mit  Freuden  jedes 
Symptom  begrüßen  würden,  welches  darauf  hindeutet,  daß  England 
beabsichtigt,  das  alte  System,  englische  Interessen  möglichst  ohne 
England  verteidigen  zu  lassen,  wirklich  aufzugeben,  daß  aber  die  Ihnen 
bisher  bekannt  gewordenen  Symptome  eine  feste  Unterlage  für  solche 
Hoffnungen  nicht  bieten.  Die  Unterredung  des  Grafen  Hatzfeldt  mit 
dem  Grafen  Deym  wollen  Sie  gänzlich  unerwähnt  lassen. 

Marschall 


Nr.  2554 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  290  London,  den  2.  Dezember  1895 

Geheim 

Zu   Bericht  Nr.  723*. 

Graf  Deym  sagt  mir,  er  fürchte  durch  seine  neuliche  Mitteilung 
mir  zu  Mißverständnis  Anlaß  gegeben  zu  haben.  Dieselbe  habe  sich 
nicht  auf  neuen  Vertrag,  sondern  auf  Bestätigung  des  alten  Ab- 
kommens bezogen,  welches  heute  formell  in  der  Luft  schwebe.  Hierzu 
würde  Lord  Salisbury,  wie  er  glaube,  bereit  sein,  während  Modifikation 
oder  genauere  Präzisierung  der  fraglichen  Punkte  hier  wohl  auf  Schwie- 
rigkeiten stoßen  würde.  Bestätigung  des  alten  Abkommens  würde  aber 
an  sich  sehr  wertvoll  sein,  da  Lord  Salisbury  darin  in  bezug  auf 
Integrität  der  Türkei   überhaupt  und  speziell  wegen   Konstantinopels 


*  Siehe  Nr.  2551. 

215 


und  auch  Bulgariens  bestimmte  Stellung  genommen  und  gewisse  Ver- 
pflichtungen  übernommen   habe. 

Ganz  vertraulich  fügte  der  Botschafter  hinzu,  daß  der  italienische 
Botschafter,  welcher  ihn  jetzt  häufig  aufsuche,  sehr  darauf  dränge,  hier 
Verständigung  über  Orient  anzuregen,  und  daß  er  ihn  zu  beruhigen  suche. 

Graf  Deym  wollte  heute  Urlaub  nach  Wien  antreten,  ist  aber 
telegraphisch  angewiesen  worden,  Abreise  noch  zu  verschieben. 

Hatzfeldt 


Nr.  2555 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow 

Konzept 

Nr.  869  Berlin,  den  3.  Dezember  18Q5 

[abgegangen  am  4.  Dezember] 

Als  Ergänzung  zu  dem  mittels  Erlaß  Nr.  865*  von  gestern  Euerpp. 
mitgeteilten  Londoner  Bericht  Nr.  723**  telegraphiert  Graf  Hatzfeldt: 

„(inser.  Telegramm  Nr.  290  aus  London***.)** 

Aus  dem  vorletzten  und  letzten  Absatz  des  Telegramms  wird  er- 
sichtlich, daß  man  italienischer-  wie  auch  österreichischerseits  dieser 
Frage  jetzt  besondere  Aufmerksamkeit  zuwendet. 

Was  unsere  Haltung  in  der  Frage  anlangt,  so  bleibt  dieselbe  immer 
unverändert.  In  dieser  Hinsicht  erlaube  ich  mir,  Ew.  pp.  Aufmerk- 
samkeit auf  den  Ihnen  ohne  Zweifel  bereits  bekannten  Erlaß  Nr.  139 
vom  28.  Februar  1888  zu  lenken,  welchem  ein  Erlaß  des  Fürsten  Bis- 
marck  nach  Wienf  beigefügt  war.  Letzterer  behandelt  unser  Bündnis 
mit  Österreich  und  macht  zwischen  Existenzfrage  und  Interessen- 


*  Vgl.  Nr.  2553. 
**  Siehe  Nr.  2551. 
♦**  Siehe  Nr.  2554. 

t  In  dem  Erlaß  Nr.  13Q  vom  28.  Februar  1888  nach  Rom  und  dem  beigefügten^ 
Erlaß  nach  Wien  vom  26.  Februar  1888  (Nr.  217)  war  der  Wunsch  der  deutschen 
Regierung  zum  Ausdnick  gelangt,  daß  das  durch  Mitwirkung  Deutschlands  herbei- 
geführte Einvernehmen  Österreichs,  Italiens  und  Englands  —  die  sogenannte 
Entente  ä  trois  —  nicht  neuerdings  durch  die  damals  wieder  aufflackernde  bulgari- 
sche Frage  gestört  werden  möge.  In  dem  Erlaß  nach  Wien  hieß  es  darüber  u.a.: 
„Wir  finden  es  natürlich,  wenn  die  österreichische  Regierung  für  alle  Fälle, 
welche  durch  unser  Bündnis  nicht  gedeckt  sind,  mit  England  unter  allen  Um- 
ständen und,  solange  es  irgend  angeht,  mit  Italien  sich  in  Fühlung  zu  halten 
sucht.  In  einem  Umschlage  der  italienischen  Politik  würde  selbst  für  die  Fälle, 
in  denen  wir  von  Hause  aus  mit  Österreich  gemeinsam  vorgehn,  eine  erhebliche 
Schwächung  unserer  militärischen  Stellung  liegen.  —  Wir  bleiben  für  Österreich 
sichere  Bundesgenossen  und  können  es  in  der  Gefahr  nicht  im  Stich  lassen. 
Daran  kann  die  bulgarische  Episode  nichts  ändern.  Unsere  Intimität  wird  da- 
durch nicht  berührt,  v  e.nn  unser  Alliierter  sich  für  politische  Aufgaben,  für  welche 

216 


fragen  (z.  B.  der  bulgarischen  oder  der  Meerengenfrage)  denselben 
Unterschied  für  die  Haltung  Deutschlands,  wie  wir  das  heute  tun. 

Da  indessen  Baron  Blanc  zu  der  Einsicht  gelangt  ist,  daß  Deutsch- 
land in  der  Frage  der  englisch-österreichisch-italienischen  Mittelmeer- 
und  Orientabmachungen  keinesfalls  in  die  erste  Reihe  —  wenigstens 
in  der  jetzigen  Phase  —  zu  treten  hat,  so  wird  es  kein  Bedenken  haben, 
daß  Ew.  pp.  demselben  auch  fernerhin  unsere  guten  Wünsche  für  das 
Zustandekommen  aussprechen  und  ihm  vielleicht  auch  durchblicken 
lassen,  daß  zweifellos  der  Kaiserliche  Botschafter  in  London  das 
Seinige  in  der  Sache  tut.  Daß  Ew.  pp.  in  diesem  Sinne  sich  äußern, 
wird  um  so  nützlicher  sein,  da  Baron  Blanc,  wie  das  in  Abschrift  nach- 
folgende Telegramm  desselben  an  den  hiesigen  Botschafter  erkennen 
läßt,  wieder  anfängt,  nervös  zu  werden. 
„Telegramme  de  Rome 

ä  Ambassade  d'Italie  ä   Berlin. 

Nous  sommes  plus  que  jamais  convaincus  qu'en  n'appliquant  pas 
les  accords  de  1887,  seul  moyen  d'assurer  la  paix  et  la  preponderance 
d'influence  tutelaire  en  Orient,  nous  allons  ä  la  rencontre  de  dangers 
d'anarchie  en  Turquie  et  de  guerre  europeenne  ä  base  de  repirtitions 
territoriales.  Nous  manifestons  confidentiellement  cette  conviction  ä 
decharge  (a  scanse)   de  responsabilite. 

(Signe)  Blanc" 

Am  vorsichtigsten  müssen  wir,  wie  ich  zu  Ew.  pp.  ganz  vertrau- 
lichen und  persönlichen  Orientierung  bemerke,  mit  Wien  sein,  da  beim 
Grafen  Goluchowski  der  Gedanke,  daß  Österreichs  Großmachtstellung 
bei  Deutschland  ihre  festeste  Stütze  findet  und  in  jeder  Lage  finden 
muß,  mehr  hervortritt,  als  uns  angenehm  ist  und  m  den  Rahmen  unserer 
Orientpolitik  paßt  Marschall 

an  sich  Deutschland  nicht  fehlen  kann,  die  englische  und  italienische  Anlehnung 
sichert.  Für  uns  hat  letztere  immer  den  Vorteil  einer  starken  Friedensbürgschaft 
neben  dem  österreichisch-deutschen  Bündnisse  und  auf  dem  ganzen  durch 
letzteres  nicht  gedeckten  Gebiete  der  europaischen  Politik.  Die  Neigung  zum 
Friedensbruch  wird  in  Rußland  wesentlich  vermindert,  wenn  man  dort  weiß,  daß 
es  Österreich  auch  ohne  deutsche  Hilfe  an  Beistand  gegen  unberechtigte  Angriffe 
nicht  fehlt.  Die  drei  Mittelmeermächte  bilden  ein  im  friedlichen  Sinne  wirkendes 
Gegengewicht  gegen  solche  orientalische  Bestrebungen  Rußlands,  welche  ihre  ge- 
meinsamen Interessen  bedrohen  könnten,  ohne  die  unsrigen  zu  berühren.  — 
Unser  Bündnis  mit  Österreich  gilt  der  beiderseitigen  Existenzfrage,  in  Bul- 
garien und  der  Türkei  handelt  es  sich  aber  um  Interessenfragen,  und  ich  be- 
greife es  vollkommen,  wenn  Österreich  zur  besseren  Wahrung  derselben  jede 
Trennung  von  den  orientalischen  Pfaden  der  englischen  Politik  vermeiden  will 
Solange  Österreich  mit  England  den  gleichen  Strang  zieht,  ist  auch  Italien  ziem- 
lich sicher.  Die  Bundesgenossenschaft  des  letzteren  ist  am  leichtesten  und  wiric- 
samsten  via  London  zu  pflegen  und  zu  erhalten:  sie  würde  zweifelhaft  von  dem 
Augenblick  an  werden,  in  welchem  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  England 
und  Österreich  zutage  träten." 

217 


Nr.  2556 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Biilow  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  192  Rom,  den  3.  Dezember  1895 

Ganz  vertraulich 

Euerer  Durchlaucht  bitte  ich  in  Ergänzung  und  Vervollständigung 
meiner  telegraphischen  Berichterstattung  über  Auffassung  und  Stim- 
mung des  Baron  Blanc  nachstehendes  vortragen  zu  dürfen. 

Die  Blicke  des  italienischen  Ministers  des  Äußern  sind  nach  wie 
vor  vor  allem  nach  London  gerichtet,  schon  weil  die  fernere  Richtung 
der  italienischen  Orient-  und  Mittelmeerpolitik  in  erster  Linie  von  dem 
Verhalten  Englands  abhängt.  Baron  Blanc  ist  auch  heute  noch  bereit, 
mit  England  und  Österreich-Ungarn  gemeinsam  vorzugehen;  er  wünscht 
ein  noch  engeres  Zusammenschließen  dieser  drei  Mächte.  Er  ver- 
zweifelt auch  noch  nicht  an  England  und  insbesondere  nicht  an  Lord 
Salisbury.  „Wenn  Lord  Rosebery  noch  am  Ruder  wäre,"  äußerte 
der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten,  „würde  ich  jetzt  keinen 
Finger  für  England  rühren;  mit  Lord  Salisbury  will  ich  jedoch  ehrlich 
versuchen,  zu  einer  Verständigung  zu  gelangen.*'  Nichtsdestoweniger 
haben  manche  Symptome  der  letzten  Wochen  —  das  Zurückweichen 
Englands,  sobald  das  Wiener  Kabinett  mit  seinen  Propositionen  vor- 
gegangen war,  die  auch  äußerlich  hervortretende  Reserve  meines  eng- 
lischen Kollegen*,  namentlich  aber  die  englische  Harthörigkeit  in  bezug 
auf  die  italienischen  Zeila-  und  Harrar-Wünsche**  —  nicht  gerade 
dazu  beigetragen,  das  hiesige  Vertrauen  zu  Großbritannien  zu  er- 
höhen. —  Nach  meinen  Eindrücken  besteht  auch  heute  kein  festes 
Abkommen  zwischen  Italien  und  England.  Baron  Blanc  ließ  erst  vor 
wenigen  Tagen  mir  gegenüber  die  Bemerkung  fallen,  die  Franzosen 
glaubten,  daß  zwischen  England  und  Italien  ein  intimeres  Verhältnis 
obwalte,  wie  dies  tatsächlich  der  Fall  sei.  „Nous  n'en  sommes  pas 
encore  lä,  helas,"  fügte  Baron  Blanc  hinzu.  —  Ich  habe  Baron  Blanc 
fortgesetzt  wiederholt,  daß  er  zwar  England  nicht  zurückstoßen  noch 
entmutigen,  sich  aber  unter  keinen  Umständen  von  demselben  vor- 
schieben lassen  dürfe,  bevor  dieses  sich  nicht  selbst  vertragsmäßig 
oder  tatsächlich  festgelegt  habe. 

Bei  verschiedenen  Gelegenheiten  trat  bei  Baron  Blanc  der  Wunsch 
nach  einer  größeren  Annäherung  zwischen  Deutschland  und  England 
hervor.  Wenn  Deutschland  und  England  uneinig  wären,  pflegt  der 
Minister  zu  sagen,  befände  sich  Italien  in  der  Lage  eines  Kindes,  dessen 
Eltern  auseinandergingen;  vereinigt  würden  der  Dreibund  und   Eng- 

♦  Sir  F.  Cläre  Ford. 
**  Vgl.  Kap.  LIV,  A. 

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land  die  Situation  dominieren  können.  Ich  habe  auf  solche  Andeutungen 
erwidert,  daß  an  den  früheren  Differenzen  zwischen  uns  und  England 
die  schwanitende,  kleinUche  und  kurzsichtige  PoHtik  Englands  die 
Schuld  getragen  hätte.  Die  englisch-deutschen  Beziehungen  würden 
sich  naturgemäß  in  dem  Grade  bessern,  als  England  zu  einer  klaren, 
festen  und  weitsehenden  Politik  zurückkehre.  Inzwischen  wäre,  so 
setzte  ich  zur  Beruhigung  des  italienischen  Ministers  hinzu,  das  gegen- 
wärtige Verhältnis  zwischen  Deutschland  und  England  kein  unfreund- 
liches. Ich  verwertete  in  dieser  Richtung  das  mir  hochgeneigtest  mit- 
geteilte englische  Memorandum  vom  23.  v.  Mts,*,  in  welchem  Lord 
Salisbury  seinen  Dank  für  die  deutsche  Mitwirkung  in  Konstantinopel 
bei  der  Wiederherstellung  der  Ruhe  aussprach,  verwies  auf  unsere 
Unterstützung  der  englischen  Schritte  wegen  der  Armenier  in  Zeitun** 
und  ließ  auch  durchblicken,  daß  nach  meinen  Informationen  der  neue 
englische  Botschafter  in  Berlin  Sir  Frank  Lascelles  mit  guten  Inten- 
tionen an  seine  wichtige  Aufgabe  herantrete. 

Mit  der  Haltung  des  Wiener  Kabinetts  ist  Baron  Blanc  soweit 
zufrieden.  Graf  Goluchowski  ist  ihm  jedenfalls  lieber  als  Graf  Käl- 
noky.  Zwischen  der  hiesigen  und  der  Wiener  Auffassung  der  Gesamt- 
situation besteht  insofern  ein  gewisser  Unterschied,  als  (nach  den  hier 
einlaufenden  Nachrichten,  und  soweit  ich  die  Dinge  von  hier  über- 
sehen kann)  Österreich  sich  nicht  ohne  uns  avancieren  möchte.  Baron 
Blanc  wäre  bereit,  auch  allein  mit  England  und  Österreich-Ungarn 
zu  gehen;  Österreich  scheint  sich  stets  umzusehen,  wo  wir  bleiben. 
Ich  habe  die  Empfindung  —  ich  bitte  diese  Mitteilung  als  eine  streng 
vertrauliche  betrachten  zu  wollen  — ,  daß,  wenn  Baron  Blanc  ge- 
legentlich die  Velleität  zeigte,  auch  uns  in  Mittelmeer-  und  Orient- 
fragen an  seiner  Seite  haben  zu  wollen,  oder  zu  stürmisch  auf  eine 
Einigung  zwischen  Deutschland  und  England  drängte,  dies  auf  Wiener 
Einwirkung  zurückzuführen  war.  Bis  jetzt  ist  es  jedoch  gelungen, 
Baron  Blanc  bei  der  Ansicht  zu  erhalten,  daß  es  im  Interesse  Italiens 
wie  Österreich-Ungarns  liegt,  wenn  Deutschland,  in  zweiter  Linie  i 
stehend,  es  zunächst  den  in  erster  Linie  stehenden  Mittelmeermächten 
Italien,  England  und  Österreich-Ungarn  überläßt,  sich  über  diejenigen 
Punkte  zu  verständigen,  welche  sie  für  wichtig  zur  Wahrung  ihrer 
Machtstellung  ansehen  2. 

Hinsichtlich  der  Stimmung  des  italienischen  Ministers  des  Äußern 
gegenüber  Rußland  konnte  ich  mancherlei  Wechsel  konstatieren.  Als 
—  vor  den  jüngsten  Wiener  Vorschlägen  —  die  Haltung  Englands 
eine  energischere  zu  werden  schien,  setzte  mir  Baron  Blanc  mehrfach 
auseinander,  daß  ein  Einrücken  der  Russen  in  Konstantinopel  die 
italienische  Zukunft  gefährden  würde.    Wenn  sich  die  Russen,  meinte 


*  Siehe  Nr.  2467,  Anlage. 

Siehe  Kap.  LXI,  Anhang,  Nr.  2480. 


** 


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der  Minister  am  13.  November,  der  Dardanellen  bemächtigten  und 
in  Konstantinopel  festsetzten,  würde  die  ganze  Balkanhalbinsel  und 
selbst  die  slawischen  Gebietsteile  der  habsburgischen  iWonarchie  unter 
russischen  Einfluß  geraten.  Von  Konstantinopel  bis  Triest  würde 
nur  noch  ein  Schritt  sein.  Um  der  Gefahr  zu  entgehen,  zwischen  dem 
russischen  Riesenreich  und  der  französischen  Republik  erdrückt  zu 
werden,  müsse  Italien  das  Seinige  tun,  damit  die  Russen  nicht  bis 
zum  Marmarameere  vordrängen.  Das  englische  Ausbiegen  nach  den 
Wiener  Propositionen  hat  seitdem  die  Auffassung  des  italienischen 
Ministers  des  Äußern  hinsichtlich  Konstantinopels  einigermaßen  modifi- 
ziert. Gestern  sagte  mir  Baron  Blanc,  er  wolle,  was  Konstantinopel 
beträfe,  nicht  englischer  sein  als  die  Engländer.  Wenn  die  Engländer 
die  Russen  in  Konstantinopel  vertrügen,  könne  Italien  dieselben  dort 
auch  aushalten.  Im  allgemeinen  ist  deutlich  zu  beobachten,  daß  das 
Prestige  Rußlands  hier  in  dem  Maße  steigt,  als  sich  England  ängstlich 
zeigt  2.  Baron  Blanc  glaubt  noch  nicht,  daß  Lord  Salisbury  sich  inner- 
lich mit  der  Besitzergreifung  Konstantinopels  durch  Rußland  abge- 
funden habe.  Er  neigt  aber  der  Ansicht  zu,  daß,  wenn  Lord  SaHs- 
bury  zu  lange  sich  auf  Lavieren  beschränke  und  nur  die  Sachen  in  die 
Länge  zu  ziehen  trachte,  diese  Besitzergreifung  und  das  Protektorat 
Rußlands  über  die  Türkei  schließlich  ein  fait  accompli  werden  würden. 
Er  behauptet,  Herr  von  Nelidow  habe  schon  das  Vertragsinstrument 
aufgesetzt,  durch  welches  der  Sultan  die  russische  Schutzherrlichkeit 
akzeptiere  und  den  Russen  die  Dardanellen  ausliefere;  es  fehle  nur 
noch  die  Unterschrift  des  Padischah,  welche  dieser  mit  Vergnügen 
geben  würde,  wenn  die  Russen  den  psychologischen  Moment  für  ge- 
kommen hielten.  —  Hinsichtlich  der  Stellung  Rußlands  zu  den 
italienisch-abessinischen  Schwierigkeiten  ist  seit  dem  Herbste  augen- 
scheinlich ein  Umschwung  eingetreten.  Baron  Blanc,  welcher  im 
Sommer  so  lebhafte  Klagen  über  das  Verhalten  Rußlands  in  dieser 
Richtung  führte*,  erklärt  jetzt,  das  St.  Petersburger  Kabinett  habe  er- 
kannt, daß  die  Abessinier  des  russischen  Wohlwollens  unwürdig  wären. 
Baron  Blanc  ist  nicht  so  russenfreundlich  —  und  jedenfalls  Rußland 
gegenüber  weit  unvorsichtiger  —  wie  Graf  Nigra**  oder  Graf  Tor- 
nielli***.  Aber  die  Neigung,  die  Tür  zu  einer  Verständigung  mit  Ruß- 
land nicht  ganz  zu  versperren,  trat  auch  bei  ihm  gelegentlich  hervor.  — 
Mein  russischer  Kollege,  Herr  Vlangaly,  der  ein  alter  Bekannter  von 
mir  ist  und  soweit  offen  mit  mir  redet,  sagte  mir  gelegentlich  gesprächs- 
weise und  vertraulich,  er  verlange  von  Italien  lediglich,  daß  sich  das- 
selbe nicht  um  die  eigentliche  Orientfrage  kümmere,  die  es  nichts 
anginge.    Italien    brauche   auch   gar   nicht   aus    dem    Dreibund    auszu- 


*  Vgl.  Kap.  LX,  Nr.  2369,  Anlage. 
♦*  Italienischer  Botschafter  in  Wien. 
*♦*  Seit  4.  Februar  Botschafter  in   Paris. 

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treten,  wenn  es  nur  seine  Dreibundstellung  wie  den  Gegensatz  zu 
Frankreich  nicht  zu  sehr  akzentuiere.  Er  gebe  den  Italienern  gern  zu, 
daß  sie  berechtigte  Mittelmeerinteressen  und  Aspirationen  hätten.  Aber 
das  Mittelmeer  sei  groß  und  bespüle  viele  schöne  Küstenstriche: 
Aufgabe  einer  klugen  und  vermittelnden  Politik  würde  es  sein,  die 
diesbezüglichen  italienischen  Aspirationen  mit  den  französischen  zu 
versöhnen. 

Aus  Paris  hörte  Baron  Blanc,  daß  die  dortige  Regierung  und 
öffentUche  Meinung  der  orientalischen  Verwicklung  ziemlich  ratlos 
und  beklommen  3  gegenüberstünden.  Der  unbedingte  Anschluß  Frank- 
reichs an  Rußland  —  bisher  für  die  Franzosen  der  Ariadnefaden  im 
Labyrinth  der  europäischen  Politik  —  würde  ihnen  unheimlich,  seit- 
dem es  den  Anschein  gewönne,  als  ob  es  im  Orient  zu  einem  ernst- 
lichen Zusammenstoß  zwischen  den  rivalisierenden  Mächten  kommen 
könnte.  Überhaupt  sei  es  den  Franzosen  nicht  recht,  daß  jetzt  die 
orientalische  Frage  im  Vordergrunde  stünde  statt  der  französischen 
Revindikationsbestrebungen  und  Hegemoniegelüste.  Die  Franzosen 
fürchteten  nichts  mehr,  als  daß  wegen  der  orientalischen  Frage  eine 
internationale  Konflagration  entstehen  könnte.  Zu  diesen  Nachrichten 
des  Baron  Blanc  stimmt  es,  daß  mein  französischer  Kollege  regel- 
mäßig eine  vergnügte  Miene  aufzieht,  wenn  das  europäische  Konzert 
ungetrübt  erscheint,  dagegen  einer  Trauerweide  gleicht,  sobald  sich 
die  Mächte  in  verschiedene  Gruppen  zu  spalten  scheinen.  —  Die- 
jenigen italienischen  Blätter,  welche  ihr  Losungswort  aus  Paris  emp- 
fangen („Secolo",  „Messaggero"  usw.)  suchen  hier  vor  allem  die 
Ansicht  zu  verbreiten,  daß  das  deutsche  Interesse  an  der  Aufrecht- 
erhaltung der  Tripelallianz  nicht  mehr  das  alte  sei.  Zu  diesem  Zweck 
wird  mit  besonderem  Eifer  die  Nachricht  verbreitet,  daß  Deutschland 
im  Grunde  mit  Rußland  und  Frankreich  mehr  sympathisiere  als  mit 
seinen  bisherigen  Alliierten  und  England. 

Als  die  „Times"  vor  einigen  Tagen  die  Idee  eines  neuen  Kon- 
gresses lancierte,  habe  ich  Baron  Blanc  als  Ausdruck  meiner  persön- 
lichen Meinung  gesagt,  daß  Italien,  welches  sich  des  Berliner  Kon- 
gresses nicht  gerade  mit  Vergnügen  erinnere,  bei  einem  neuen  Kongreß 
wahrscheinlich  ganz  schlecht  wegkommen  würde.  Ich  riete  ihm  als 
Freund,  sich  von  den  Engländern  nicht  zu  einem  solchen  einfangen 
zu  lassen*.  Ich  hielt  diese  Warnung  für  notwendig,  weil  die  Italiener 
allzu  geneigt  sind,  bei  allem  dabei  sein  zu  wollen.  Der  Minister  des 
Äußern  pflichtete  meinen  Ausführungen  bei  und  versicherte  schließ- 
lich, er  werde  allen  englischen  Verlockungen  in  dieser  Richtung  un- 
bedingten Widerstand  entgegensetzen. 

Die  breiteren  Schichten  der  italienischen  Bevölkerung  scheinen  mit 
der  auswärtigen  Politik  des  Ministeriums  Crispi-Blanc  nicht  unzu- 
frieden zu  sein.  Das  Gros  der  Bevölkerung  möchte  keinen  Krieg,  will 
aber  auch  nicht,  daß  Italien  bei  einer  eventuellen  Aufteilung  der  Türkei 

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leer  ausgehe.  Nur  die  Roten  und  Schwarzen  wünschen  geradezu,  daß 
Italien  bei  der  jetzigen  Orientverwicklung  nichts  profitiere  und  wo- 
möglich gedemütigt  aus  derselben  her\orgehe,  weil  sie  hoffen,  die  dann 
unvermeidliche  Enttäuschung  werde  den  Sturz  der  Monarchie  herbei- 
führen. In  den  Kreisen  der  Politiker  findet  man  die  Haltung  des 
Baron  Blanc  zu  einseitig  und  starr.  In  diesen  Kreisen  möchte  man, 
daß  die  italienische  Politik  es  mit  Frankreich  nicht  ganz  verdürbe 
und  namentlich  mehr  Rücksicht  auf  Rußland  nehme.  Man  möchte 
mit  einem  Worte  eine  Schaukelpolitik,  wie  sie  dem  italienischen  Cha- 
rakter und  den  hiesigen  Traditionen  entspricht.  In  der  italienischen 
Diplomatie  herrscht  eine  ähnliche  Auffassung  der  Dinge.  Ich  glaube, 
daß  außer  General  Ferrero  und  allenfalls  Herrn  Pansa*  kein  italieni- 
scher Botschafter  mit  der  Richtung  des  Baron  Blanc  wirklich  einver- 
standen ist.  Sie  fürchten  alle,  daß  Baron  Blanc  geneigt  sei,  sich  zu 
weit  von  dem  alten  Grundsatze  der  italienischen  Diplomatie  der  70'-'^ 
Jahre  zu  entfernen:  ,,Isolati  mai,  independenti  sempre.'*  (Nie  isoliert, 
aber  immer  unabhängig.)  Ich  hatte  Gelegenheit  —  im  allerengsten 
Vertrauen  und  gegen  die  Zusage  absoluter  Diskretion  — ,  auf  dem 
hiesigen  Ministerium  des  Äußern  Einsicht  in  zwei  Telegramme  des 
Grafen  Nigra  und  des  Grafen  Lanza**  vom  19.  v.  Mts.  zu  nehmen. 
Graf  Nigra  telegraphierte,  Deutschland  wünsche  au  bout  du  compte 
doch  nichts,  daß  Italien  sich  mit  England  und  Österreich-Ungarn  gegen 
Rußland  gruppiere;  Graf  Lanza  sprach  die  Überzeugung  aus,  daß  das 
Berliner  Kabinett  Konstantinopel  und  die  Dardanellen  im  letzten  Ende 
Rußland  zuwenden  werde.  Aus  beiden  Telegrammen  sprach  unver- 
kennbar die  Besorgnis,  daß  sich  Italien  gegenüber  Rußland  zu  sehr 
vorwagen  könnte. 

Die  bekannten  Fehler  des  Baron  Blanc  traten  auch  während  der 
vergangenen  Wochen  nur  zu  oft  her\'or.  Die  Situation  erfordert  vor 
allem  Geduld  und  Ruhe,  und  nichts  fällt  dem  gegenwärtigen  Minister 
des  .\ußern  schwerer,  aJs  still  zu  sitzen.  Wenn  ich  ihm  zum  hundert- 
sten Male  die  Gründe  auseinandergesetzt  hatte,  aus  denen  er,  mit 
unserer  Anerkennung  und  dem  bisher  Erreichten  zufrieden,  zunächst 
die  Dinge  weiter  reifen  lassen  möge,  kam  der  hitzige  und  hastige, 
ideenreiche  und  sprunghafte  Minister  mit  immer  neuen  Argumenten, 
um  mir  zu  beweisen,  daß  gerade  die  augenblickliche  Phase  der  Ent- 
wicklung Italien  in  eine  unmögliche  Lage  bringe.  Wenn  ich  ihn  einige 
Tage  nicht  sah,  konnte  ich  ziemlich  sicher  sein,  daß  er  inzwischen 
irgendeine  neue  Aktion  projektiert  oder  schon  in  Angriff  genommen 
hatte.  Wenn  es  bisher  möglich  war,  Baron  Blanc  im  großen  und 
ganzen  auf  der  richtigen  Linie  zu  erhalten,  so  dürfen  bei  der  Be- 
urteilung  der   ferneren    Entwicklung   der   Verhältnisse   außer   der   Er- 


*  Italienischer   Botschafter  in   London. 

**  Italienischer   Botschafter  in   Konstantinopel. 

222 


regbarkeit  der  hiesigen  öffentlichen  Meinung  auch  die  Eigentümlich- 
keiten des  in  gewisser  Hinsicht  unberechenbaren  Ministers  des  Äußern 
nicht  außer  acht  gelassen  werden.  Den  allerhöchsten  Befehlen  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs  entsprechend,  werde  ich  es  nach 
wie  vor  als  meine  Hauptaufgabe  betrachten,  soweit  als  möglich 
mäßigend  auf  Baron  Blanc  einzuwirken  und  denselben  tunlichst  von 
unliebsamen  Seiten-  und  Quersprüngen  abzuhalten. 

B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ja 

2  richtig 

3  die  Chemie  reicht  nicht  aus 
*  gut 

^  sogar  sehr 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Sehr  gut! 

Nr.  2557 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  193  Rom,  den  5.  Dezember  1895 

Geheim 

Euerer  Durchlaucht  beehre  ich  mich,  in  der  Anlage  Abschrift  und 
deutsche  Übersetzung  des  geheimen  Erlasses  zu  übersenden,  welchen 
Baron  Blanc  unterm  3.  d.  Mts.  an  die  italienischen  Botschafter  in 
London  und  Wien  gerichtet  hat,  um  zwischen  den  durch  die  Ab- 
machungen von  1887  verbundenen  Mittelmeermächten  einen  Gedanken- 
austausch über  die  Frage  anzuregen,  wie  sich  hinsichtlich  der  gegen- 
wärtigen Lage  im  Orient  eine  tatsächliche  und  praktische  Überein- 
stimmung der  Kabinette  von  London,  Wien  und  Rom  erzielen  lasse. 

Zu  diesem  Erlaß  erlaube  ich  mir  im  engsten  Vertrauen  zu  be- 
merken, daß  derselbe  ursprünglich  an  die  italienischen  Botschafter  in 
London,  Wien  und  Berlin  adressiert  war.  Der  Erlaß  enthielt  auch 
einen  Appell  an  Deutschland,  sich  im  Interesse  von  Italien  und  Öster- 
reich-Ungarn besser  mit  England  zu  stellen.  Deutschland  wurde  an 
verschiedenen  Stellen  der  fraglichen  Piece  hinsichtlich  der  Orient- 
frage  und  der  Lage  der  Dinge  in  Konstantinopel  auf  dieselbe  Linie 
mit  Italien,  Österreich-Ungarn  und  England  gerückt. 

Ich  habe  durch  nachdrückliche  Einwirkung  auf  Baron  Blanc  er- 
reicht, daß  derselbe  den  (bereits  in  der  Mundierung  begriffenen)  Erlaß 
einer  neuen  Durcharbeitung  unterzog,  wobei  die  unserem  so  be- 
rechtigten politischen  Standpunkt  wie  seinen  eigenen  früheren  Aus- 
lassungen am  meisten  widersprechenden  Passagen  ausgemerzt  wurden. 

223 


Auch  brachte  ich  die  Wendung  in  den  Erlaß,  daß  die  Reserve  des 
sich  in  zweiter  Linie  haltenden  Deutschlands  Italien  und  Österreich- 
Ungarn  zum  Nutzen  gereiche.  Eine  weitere  Modifizierung  des  Er- 
lasses, der,  wie  viele  Emanationen  des  Baron  Blanc  einen  an  sich 
nicht  unrichtigen  Gedanken  und  wohlgemeinte  Absichten  in  etwas 
seltsamer  und  jedenfalls  viel  zu  akzentuierter  und  nervöser  Form  zum 
Ausdruck  bringt,  war  nicht  möglich. 

Abschrift  des  beigeschlossenen  Erlasses  ist  „ä  titre  d'information" 
bereits  an  Graf  Lanza  nach  Berlin  abgegangen. 

B.  von  Bülow 

Anlage 

Der  italienische  Minister  des  Äußern  Baron  Blanc  an  den  italienischen 
Botschafter  in  London  Ferrero* 

Unsignierte  Übersetzung 

Streng  vertraulich  Rom,  den  3.  Dezember  1895 

Wir  haben  den  Vorschlägen  des  Wiener  Kabinetts**  zum  Schutze 
der  europäischen  Interessen  im  Ottomanischen  Reich  die  von  uns 
erbetene  Unterstützung  ehrlich  und  offen  gewährt,  und  mit  meinen 
im  Parlament  am  28.  November  abgegebenen  Erklärungen  habe  ich 
diejenige  Politik  betont,  welche  unserer  Ansicht  nach  allein  den  Frieden 
und  den  schützenden  Einfluß  der  Mächte  durch  die  .A.nwesenheit  der 
vereinigten  Geschwader  in  jenen  erregten  Gebieten  zu  gewährleisten 
vermag.  Aber  von  den  sechs  Mächten  haben  zwei  die  Wirksamkeit 
einer  solchen  Anwesenheit,  wenn  nicht  annulliert,  so  doch  zurzeit 
geschmälert,  sei  es,  daß  sie  die  Ausübung  jedweder  Aktion  der  Flotten, 
wie  ein  eventuelles  Erscheinen  vor  der  Hauptstadt,  dem  Herde  der 
in  den  Provinzen  herrschenden  Anarchie,  ausschlössen,  sei  es,  daß  sie 
zuletzt  erklärten,  die  Mächte  dürften  dem  Sultan  gegenüber  nicht 
weiter  ein  sogenanntes  Einschüchterungssystem  beobachten,  sie  müßten 
denselben  vielmehr  ermutigen  und  unterstützen,  damit  er  seine  Autorität 
wiederherstellen  könne. 

Die  Übereinstimmung  der  sechs  Mächte  erscheint  demnach  basiert 
auf  der  Verhinderung  der  Tripelallianz  wie  Englands  an  jedem  Mittel 
wirksamen  Einflusses  auf  die  virtuell  unter  russischen  Schutz  gestellte 
ottomanische  Regierung. 

Bei  dieser  Sachlage  erscheint  der  vertragsmäßige  politische  Status 
quo  in  seinem  Wesen  verschlechtert.  Ein  Übergewicht  an  Einfluß 
auf  den  Sultan  haben  jene  beiden  Mächte,  deren  Vertreter  bei  der 
Person   des   Sultans    die   Autorität    der   Pforte    bis   zu    reinem    Schein 


Derselbe  Erlaß  ging  auch  an  den  italienischen  Botschafter  in  Wien. 
■  Vgl.  Nr.  2505. 


224 


ü.nd  unsere  Unterhandlungen  mit  ihr  zu  einer  Enttäuschung  herab- 
drücken, während  es  andererseits  einer  dieser  beiden  Mächte  allein 
gestattet  ist,  die  Pflichten  eines  navalen  Schutzes  an  jenen  Orten  aus- 
zuüben, wo  die  Gemetzel  zu  beklagen  gewesen  sind.  Über  die  von 
den  Verträgen  festgesetzten  lokalen  Autonomien,  über  die  von  diesen 
Verträgen  stipulierten  Reformen,  über  die  Unabhängigkeit  der  Türkei, 
der  Hüterin  wichtiger  europäischer  Interessen,  über  alle  diese  Dinge 
darf  nicht  einmal  verhandelt  werden.  Die  Freiheit  der  Meerengen 
besteht  nur  für  die  russischen  Truppen,  welche  dieselben  mit  Waffen 
und  Fahnen  an  Bord  von  Schiffen  der  freiwilligen  Flotte  passieren; 
die  Türkei  ist  nur  Hüterin  der  Meerengen  und  des  Schwarzen  Meeres 
uns  und  den  anderen  Westmächten  gegenüber;  die  Haltung  der  Türkei 
hat  beständig  den  Charakter  sträflicher  Begünstigung  jener  fremden 
Interessen,  die  offen  einen  Zustand  der  Dinge  aufrechterhalten,  der 
mit  jeder  Gesetzmäßigkeit  innerer  wie  internationaler  Ordnung  im 
Widerspruch  steht.  Der  Zweck  der  1887  unter  Teilnahme  Deutschlands 
zwischen  Italien,  England  und  Österreich-Ungarn  getroffenen  Ab- 
machungen ist  völlig  vereitelt,  namentlich  nach  dem  in  Konstantinopel 
fruktifizierten  Siege  über  die  jüngsten  österreichisch-ungarischen  Vor- 
schläge. 

Die  Kabinette  von  Wien  und  London  schienen  bis  jetzt  zu  zögern 
gegenüber  der  Reserve,  mit  welcher  —  nach  unserer  Ansicht  zu  unserem 
Nutzen  —  Deutschland  uns  in  zweiter  Linie  unterstützt;  sie  schienen 
nicht  nur  auf  jede  Aktion  zu  verzichten,  die  geeignet  gewesen  wäre, 
die  Türkei  zu  den  soeben  dargelegten  Grundsätzen  zu  bekehren,  sondern 
sie  enthielten  sich  sogar  jeder  Gruppierung,  um  den  Schein  der  Über- 
einstimmung zu  Sechs  zu  retten,  der  um  den  Preis  stillschweigender 
Zurückziehung  der  von  England  und  von  uns  unterstützten  öster- 
reichisch-ungarischen   Vorschläge    erreicht   worden    war. 

Wir  haben  den  Kabinetten  von  Wien  und  London  gegenüber 
stets  eine  aufrichtige  Gemeinschaftlichkeit  der  Interessen  wie  der  Hal- 
tung bekundet.  Wir  sind  jetzt  aber  präokkupiert  einerseits  wegen  der 
Lage  unserer  Schiffe,  deren  Entsendung  als  eine  lächerliche  Demon- 
stration erscheinen  könnte;  andererseits  wegen  der  zweideutigen  Lage, 
in  welche  wir  gegenüber  unseren  Verpflichtungen  sowohl  gegen  die 
beiden  Kaisermächte  wie  gegen  England  durch  die  schon  zu  lange 
dauernden  Schwierigkeiten  versetzt  werden,  die  drei  Mittelmeermächte 
in  tatsächliche  und  praktische  Übereinstimmung  zu  bringen. 

Wir  haben  bereits  in  London  und  in  Wien  aussprechen  lassen, 
wie  wir  tief  überzeugt  sind,  daß,  wenn  unter  so  entscheidenden  Um- 
ständen die  1887"  Abmachungen  —  das  unserer  Ansicht  nach  einzige 
Mittel,  um  den  Frieden  und  die  Ruhe  in  der  Türkei  zu  verbürgen  — 
nicht  ausgeführt  werden,  wir  den  Gefahren  einer  Anarchie  im  Ottomani- 
schen Reich  und  europäischen  Kriegen  auf  der  Grundlage  territorialer 
Teilungen   entgegengehen.    Wir  glauben  jetzt  den  Pflichten  der  Auf- 

15    Die  Große  Politik.   10.  Bd.  225 


richtigkeit  zu  genügen,  wenn  wir  zur  Vermeidung  schwerer  Verant- 
wortlichkeit England  und  Österreich-Ungarn  unsere  Ansicht  aus- 
sprechen, daß  es  mehr  als  an  der  Zeit  sei,  mit  gegenseitigem  Ver- 
trauen und  gegenseitiger  Aufrichtigkeit  damit  vorzugehen,  die  Ansichten 
der  drei  Mächte  über  die  zur  Wiederherstellung  der  Unabhängigkeit 
der  Türkei  zu  ergreifenden  Maßregeln  darzulegen. 

Wir  vertrauen,  daß  England  und  Österreich-Ungarn  mit  der  seiner- 
zeit von  Deutschland  den  Abmachungen  von  1887  erteilten  Zustimmung 
werden  verhindern  können,  daß  in  letzter  Stunde  der  von  der  Tripel- 
allianz seit  so  vielen  Jahren  aufrecht  erhaltene  Friedenszweck  vereitelt 
werde. 

Euere  pp.  wollen  daher  der  dortseitigen  Regierung  vorschlagen, 
daß  der  1887  für  gewisse  und  unserer  Ansicht  nach  jetzt  eingetretene 
Eventualitäten  vorgesehene  Ideenaustausch  stattfinde,  zunächst  unter 
den  drei  Mittelmeermächten,  um  später,  auch  mit  Deutschland,  im 
Hinblick  auf  die  unvermeidlichen  Wirkungen  der  Haltung  Rußlands 
und  Frankreichs  die  Ausführung  der  1887  im  Prinzip  getroffenen  Ab- 
machungen zwischen  uns,  Österreich-Ungarn  und  England  zu  ver- 
einbaren. 


Nr.  2558 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  198  Rom,  den  7.  Dezember  1895 

Ganz  vertraulich 

Baron  Diane  übersandte  mir  gestern  abend  einen  an  den  italieni- 
schen Botschafter  in  Berlin  Graf  Lanza  gerichteten  Erlaß  unter  fliegen- 
dem Siegel  mit  nachstehenden  Zeilen:  „Personnelle!  —  Cher 
Ambassadeur,  Je  n'ai  pas  de  courrier  et  je  me  permets  de  Vous 
demander  si  Vous  voudriez  bien  faire  parvenir  le  pli  ci-joint  ä  Lanza 
apres  avoir  pris  connaissance  de  son  contenu.  Du  tout  ensemble  11 
apparaitrait  qu'on  est  encore  moins  mal  dispose  ä  Londres  qu'a 
Vienne.  Cordialement  ä  Vous.  (gez.)  Blanc."  —  Mit  „ä  Vienne"  ist, 
wie  ich  vertraulich  hinzufüge,  weniger  die  österreichische  Regierung 
als  Graf  Nigra  gemeint. 

Nachdem  ich  den  in  Rede  stehenden  Erlaß  durchgelesen  hatte, 
habe  ich  denselben  heute  mittag  Baron  Blanc  mit  dem  Bemerken  wieder 
zurückgegeben,  daß  es  mir  besser  erscheine,  ein  Schriftstück  nicht  zu 
befördern,  welches  hinsichtlich  unserer  Stellung  zu  den  orientalischen 
Händeln  in  Widerspruch  nicht  nur  mit  dem  stehe,  was  ich  dem  Mi- 
nister des  Äußern  seit  Beginn  der  fraglichen  Verwickelungen  oft  ge- 

226 


sagt  habe,  sondern  auch  mit  seinen  eigenen  bisherigen  Auslassungen. 
In  frcundschafthcher  Form  fügte  ich  hinzu,  daß  nach  meiner  Kenntnis 
der  Berliner  Auffassung  sich  Deutschland,  welches  bei  den  türkischen 
Angelegenheiten  weniger  direkt  beteiligt  sei  als  irgendeine  andere 
Macht,  im  eigenen  Interesse  wie  im  wohlverstandenen  Interesse  seiner 
Alliierten  von  niemand  in  den  Vordergrund  schieben  lassen  werde. 
Grade  in  zweiter  Linie  könne  Deutschland  seinen  Bundesgenossen 
wie  dem  europäischen  Frieden  offenbar  am  meisten  nützen.  Ich  Heß 
hierbei  durchblicken,  daß  ich  den  Wunsch  des  Baron  Blanc  nach 
Herstellung  eines  engeren  Zusammenschließens  zwischen  Italien,  Öster- 
reich-Ungarn und  England  auf  Grund  einer  genaueren  Interpretation 
der  bestehenden  Abmachungen  vollauf  würdigte,  hob  hierbei  jedoch 
hervor,  wie  die  Erzielung  eines  intimen  Einvernehmens  zwischen  den 
drei  Mittelmeermächten  meines  Erachtens  um  so  leichter  gelingen 
dürfte,  je  sorgfältiger  dieselben  vermeiden  würden,  die  Kaiserliche  Re- 
gierung schon  jetzt  in  diese  Vorbesprechungen  hineinziehen  zu  wollen. 
Ich  drückte  die  Überzeugung  aus,  daß  sich  Italien  zunächst,  soweit 
Deutschland  in  Frage  komme,  bei  der  Gewißheit  beruhigen  könne,  daß 
die  Bestimmungen  des  Dreibundsvertrags  keinerlei  Ergänzungen  be- 
dürften, sobald  die  Existenz  Italiens  in  Frage  stehe.  Ich  deutete  hierbei 
aber  gleichzeitig  an,  daß  es  im  eigensten  Interesse  des  Baron  Blanc 
liege,  die  bisher  von  ihm  erzielten  Resultate,  unsere  gute  Meinung 
von  ihm  wie  seinen  diplomatischen  Ruf  nicht  durch  allzu  stürmisches 
Vordrängen  noch  eine  zu  akzentuierte  Sprache  zu  gefährden. 

Baron  Blanc  entgegnete  mir,  daß  er  in  der  Offenheit  meiner 
Sprache  nur  einen  Beweis  für  die  Sorgfalt  sehe,  mit  welcher  ich  die 
Beziehungen  zwischen  Deutschland  und  Italien  vor  Mißverständnissen 
zu  bev/ahren  bestrebt  sei.  Er  wolle  noch  nicht  die  Hoffnung  aufgeben, 
daß  die  Umstände  die  Verwirklichung  seines  politischen  Lebens- 
programms —  das  Zusammenwirken  des  Dreibunds  mit  England  — 
ermöglichen  würden.  Er  werde  jedoch  bei  seinen  Bemühungen,  dieses 
Endziel  zu  erreichen,  vermeiden,  was  in  Widerspruch  mit  unserer 
Reserve  stünde,   deren   Berechtigung  er  anerkenne,   pp. 

B.  von  Bülow 

Nr.  2559 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Konzept 
Nr.  725  Beriin,  den  10.  Dezember  18Q5 

Geheim 

In  dem  Berichte  Nr.  222  vom  20,  v.  Mts.  haben  Ew.  eine  Äußerung 
des  Herrn  Berthelot  erwähnt,  dahin  gehend,  daß  die  Lokalisierung 
eines  etwaigen  Orientkrieges  der  sehnlichste  Wunsch  des  Präsidenten 

15»  227 


Faure  wie  auch  der  jetzigen   Regierung,  und  nach  der  Überzeugung 
des  Ministers   auch   der  Wunsch   des  ganzen   Landes  sei. 

Die  Hindernisse,  welche  sich  in  Form  politischer  Berechnungen 
oder  politischer  Leidenschaften  einer  Verwirklichung  dieses  Wunsches 
bei  herannahender  Entscheidung  entgegenstellen  würden,  sind  der- 
artige, daß  wir  gut  tun  werden,  jener  Äußerung  des  Herrn  Berthelot 
bis  auf  weiteres  lediglich  die  Bedeutung  eines  menschenfreundlichen 
Wunfches  beizulegen. 

An  sich  bildet  ja  in  den  Kriegen  der  Neuzeit  die  Lokalisierung 
nicht  die  Ausnahme,  sondern  die  Regel.  Auch  würden  sich  bei  einem 
russischen  Orientkriege  Kombinationen  denken  lassen,  die  es  bei  ruhiger 
politischer  Erwägung  als  die  für  Frankreich  und  sogar  auch  für  Ruß- 
land günstigere  Eventualität  erscheinen  lassen  würden,  wenn  ersteres 
durch  seine  Neutralität  eine  oder  zwei  andere  Großmächte  zur  gleichen 
Haltung  veranlaßte.  Aber  schwerlich  würde  neben  den  überschwäng- 
lichen  Hoffnungen,  welche  sich  noch  bis  vor  kurzem  an  die  franko- 
russische Kameradschaft  knüpften,  ruhige  politische  Erwägung  in  Frank- 
reich zur  Geltung  kommen,  am  wenigsten  dann,  wenn  Herr  von  Frey- 
cinet,  der  Träger  der  Tradition  Gambettas,  wieder  die  Leitung  von 
Frankreichs  auswärtiger  Politik  in  die  Hand  nimmt. 

Immerhin  erscheint  aber  die  Tatsache  als  ein  bemerkenswertes 
Symptom,  daß  ein  Franzose  in  der  Stellung  des  Herrn  Berthelot, 
welcher  die  Hauptverantwortung  für  Frankreichs  auswärtige  Politik 
auf  sich  lasten  fühlte,  gewagt  hat,  jenen  von  Ew.  berichteten  Aus- 
spruch zu  tun.  Nach  der  Beschreibung,  welche  Ew.  von  der  Per- 
sönlichkeit des  Herrn  Berthelot  gegeben  haben,  läßt  sich  auch  nicht 
annehmen,  daß  er  etwa  von  dem  Gedanken  geleitet  war,  uns  irre- 
zuleiten oder  einzuschläfern. 

Jedenfalls  werde  ich  Ew.  zu  Danke  verpflichtet  sein,  wenn  Sie 
über  alle  Symptome  ähnlicher  Stimmung,  welche  Ihnen  wahrnehmbar 
werden,  auch  fernerhin  berichten  wollen. 

Marschall 

Nr.  2560 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe* 

Ausfertigung 
Nr.  233  Paris,  den  12.  Dezember  1895 

pp.  Die  Vorgänge  in  Konstantinopel  werden  hier  mit  großer  Auf- 
merksamkeit verfolgt.  Man  ist  in  großer  Sorge  wegen  der  Komplika- 
tionen, die  man  hier  voraussieht  und  sehr  fürchtet.  Die  Stimmung 
ist  in  Beziehung  auf  die  Türkei  sehr  pessimistisch.  Die  hiesigen  Finanz- 

*  Der  Anfang  des  Münsterschen  Berichts  ist  abgedruckt  in  Bd.  IX,  Nr.  2367. 
22S 


männer  halten  den  finanziellen  Krach  in  Konstantinopel  für  unver- 
meidlich, und  die  hiesigen  Politiker  sehen,  wie  Rußland  und  Eng- 
land die  Rollen  vertauscht  haben.  Sie  fürchten,  daß  beide  Mächte 
sich  verständigen  und  dann  Frankreich  ganz  isoHeren  könnten.  Wenn 
auch  die  Stimmung  sich  verändert,  so  ändert  sich  vorläufig  die  Hal- 
tung der  hiesigen  Regierung  Rußland  gegenüber  nicht.  Solange  die 
entente  der  Mächte  in  Konstantinopel  besteht,  und  bis  eine  oder 
mehrere  der  Mächte  die  Maske  abwerfen,  wird  hier  russische  Politik 
getrieben  werden.  Dann  aber  kommt  der  zweite  Akt  des  jetzigen 
platonischen  Schauspiels. 

Die  politische  Kombination  wird  dann  eine  ganz  andere  v/erden. 

Die  Stimmung  neigt  immer  mehr  dahin,  daß  es  mehr  im  Interesse 
Frankreichs  liege,  sich  im  Orient  von  allen  kriegerischen  Unternehmun- 
gen fern  zu  halten,  käme  es  zum  Kriege,  denselben  zu  lokalisieren 
und  den  europäischen  Krieg  zu  vermeiden.  Der  Wunsch,  daß  in  dem 
Falle  Frankreich  und  Deutschland  neutral  bleiben  mögen,  ist  ent- 
schieden sehr  allgemein  verbreitet,  und  werde  ich  von  den  verschieden- 
sten Seiten  vielfach  darauf  angeredet.  Darin  zeigt  sich  am  deutlichsten 
der  Umschwung   der  öffentlichen   Meinung. 

Praktisch  wird  das  alles  erst  werden,  wenn  wirklich  der  Zusammen- 
bruch der  Türkei,  das  Ende  des  kranken  Mannes  eintreten  sollte.  Es 
würde  das  eine  fürchterliche  Kalamität  werden,  namentlich  vi^enn  der 
Sultan  so  sehr  in  die  Enge  getrieben  würde,  daß  er  die  grüne  Fahne 
aufsteckte  und  den  heiligen  Krieg  entfesselte.  Daß  alle  Mächte  davor 
und  vor  der  Teilung  zurückschrecken,  und  daß  sie  zusammenhalten 
wollen,  verstehe  ich.    Gott  gebe,  daß   es  ihnen  gelingen  möge^. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
*■  Und  daß  sie  es  ernstlich  wollen. 


Nr.  2561 
Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  306  London,  den  12.  Dezember  1895 

Geheim 

Zu   Erlaß   Nr.  1475  vom   6.  d.  Mts.*. 

Der  italienische  Botschafter  hat,  wie  er  mir  ganz  vertraulich  sagt, 
gestern  den  von  Baron  Blanc  angeregten,  angeblich  in  der  geheimen 
Abmachung  vom  Jahre  1887  vorbehaltenen  Ideenaustausch  bei  Lord 
Salisbury   zur  Sprache   gebracht.    Letzterer   hat,   ohne   den   Gedanken 

*  Durch  Erlaß  Nr.  1475  hatte  Graf  Hatzfeldt  vorläufige  Kenntnis  von  der  Blanc- 
schen  Demarche  (vgl.  Nr.  2558)  erhalten. 

229 


formell  abzulehnen,  darauf  hingewiesen,  daß  ein  solcher  Gedanken- 
austausch, der  einer  Art  Konferenz  der  beteiligten  Mächte  gleich- 
kommen würde,  nicht  geheim  bleiben  könnte  und  gerade  jetzt  das 
ohnehin  in  St.  Petersburg  bestehende  Mißtrauen  gegen  England  noch 
erhöhen  würde. 

Der  österreichische  Botschafter,  welcher  von  der  italienischen 
Demarche  offenbar  noch  nichts  weiß,  sagte  mir  heute  seinerseits 
ganz  vertraulich,  daß  Graf  Goluchowski,  wie  aus  einem  heute  ein- 
gegangenen Privatbrief  desselben  her\'orgehe,  auf  eine  einfache  Be- 
stätigung des  früheren  geheimen  Abkommens  zwischen  Österreich 
und  England  keinen  besonderen  Wert  mehr  lege,  weil  die  Bestim- 
mungen desselben  teilweise  zu  vage  und  unvollständige  seien.  Graf 
Deym  fügte  aber  hinzu,  daß  Graf  Goluchowski,  bevor  hier  ein  Schritt 
geschehe,  um  Erweiterung  resp.  Präzisierung  des  Abkommens  herbei- 
zuführen, die  Frage  noch  mit  ihm,  dem  Botschafter,  persönlich  in 
Wien  besprechen  wolle. 

Nach  seinen  Äußerungen  nimmt  Graf  Deym  übrigens  an,  daß  ein 
Gedankenaustausch  durch  das  englisch-österreichische  Abkommen  nur 
für  einen  bestimmten  Fall  vorgesehen  sei:  falls  eine  dritte  Macht 
(mit  welcher  nur  Rußland  gemeint  sein  könne)  mit  Konnivenz 
des  Sultans  in  Konstantinopel  einrücken  wollte,  würde  das  letztere 
durch  die  drei  Mächte  besetzt  werden,  welche  sich  für  diesen  Fall 
einen  vorherigen  Gedankenaustausch  vorbehalten  hätten.  Dieselnter- 
pretation  des  Grafen  Deym  kann  sich,  soweit  ich  die  geheimen  Ab- 
machungen kenne,  nur  auf  Nr.  8  der  mit  Bericht  Nr.  427  vom  10.  De- 
zember 1SS7  eingereichten  Note*  beziehen. 

Graf  Deym  zeigte  wenig  Hoffnung,  daß  Lord  Salisbury  auf  Er- 
weiterung des  Abkommens  eingehen  würde  und  ließ  dabei  erkennen, 
daß  in  Wien,  falls  es  dennoch  dazu  käme,  großer  Wert  auf  eine  von 
den  drei  Mächten  anzunehmende  Verpflichtung  gelegt  werden  würde, 
keine  eigenen  Vorteile  in  der  Türkei  zu  verfolgen.  Es  soll  damit  offenbar 
einer  Teilung  der  Türkei  vorgebaut  v/erden. 

Hatzfeldt 

Nr.  2562 

Der  Botschafter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Vortragenden 
Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Entzifferung 
Privat  für  Baron  von  Holstein  London,  den  13.  Dezember  1895 

Die  in  meinem  letzten  Privatbrief  ausgesprochene  Vermutung, 
daß  man  uns  hier  jetzt  sehr  wenig  Vertrauen  entgegenbringt,  bestätigt 

*  Siehe  Bd.  IV,  Kap.  XXVIII:  Entente  ä  trois  zwischen  Italien,  England  und  Öster- 
reich  1S87;88.    Nr.  940. 

230 


sich  immer  mehr.  Es  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  Lord 
Salisbury  mir  in  unserer  Unterhaltung  vom  ll.d.Mts.  über  die  vorher- 
gegangene Anregung  des  italienischen  Botschafters  bezüglich  Ge- 
dankenaustausches nichts  sagen  wollte.  Als  weiteres  Symptom  teile 
ich  Ihnen  eine  Äußerung  Lord  Salisburys  mit,  über  die  ich  nicht  amtlich 
berichten  möchte.  In  unserer  Konversation  war  im  allgemeinen  von 
den  verschiedenartigen  Interessen  der  Mächte  im  Orient  und  von  den 
Hintergedanken,  die  bald  der  einen,  bald  der  anderen  Macht  dort  zu- 
geschrieben würden,  die  Rede  gewesen,  und  hieran  anknüpfend  sagte 
Lord  Salisbur>':  „Von  einer  wohlunterrichteten  und  kompetenten  Per- 
sönlichkeit ist  mir  versichert  worden,  daß  Frankreich  dem  Plane  zu- 
gestimmt habe,  daß  Konstantinopel  eventuell  an  Deutschland  fallen 
solle.**  Als  ich  auf  die  absurde  und  offenbare  Unglaubwürdigkeit 
einer  solchen  Insinuation  hinwies,  stimmte  Lord  Salisbury  zwar  zu, 
fügte  aber  noch  einmal  hinzu:  „Es  ist  mir  aus  sehr  guter  Quelle  ver- 
sichert worden." 

Ich  bitte  dringend,  mich  möglichst  fortlaufend  von  allen  Nach- 
richten aus  Rom  über  Verhandlungen  mit  den  Engländern  informiert 
zu  halten,  damit  ich  hier  kontrollieren  kann.  In  die  Offenheit  und 
Aufrichtigkeit  meines  italienischen  Kollegen  setze  ich  nur  sehr  be- 
grenztes Zutrauen. 

An  einen  Erfolg  hier  bezüglich  Erweiterung  oder  Präzisierung 
der  neun  Punkte  glaube  ich  nur,  wenn  Wien  und  Rom  gemeinschaft- 
lich oder  wenigstens  übereinstimmend  handeln,  was  bisher  durchaus 
nicht  der  Fall  ist. 

Hatzfeldt 


Nr.  2563 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  345  Berlin,  den  15.  Dezember  18Q5 

Antwort  auf  Zifferbrief  vom   13.  d.  Mts.* 

Wenn  Lord  Salisbury  behauptet,  daß  irgend  jemand  in  der  Welt 
die  Erwerbung  von  Konstantinopel  durch  Deutschland  in  vernünftige 
Erwägung  zieht,  so  liegt  in  dieser  Äußerung  nicht  bloß  Hohn,  sondern 
auch  die  Hoffnung,  daß  wir  doch  vielleicht  einfältig  genug  sind,  um 
behufs  Beseitigung  des  (geheuchelten)  englischen  Mißtrauens  eine 
aktivere  Meerengenpolitik  einzuleiten. 

Gleichzeitig  erfahren  wir  von  zuverlässiger  Seite,  daß  gegenwärtig 
in  denjenigen  englischen  Kreisen,  welche  sich  für  auswärtige  Politik 


*  Siehe  Nr.  2562. 

231 


interessieren,  die  Parole  kursiert,  lieber  wegen  Ostasien  als  wegen  des 
Near-East  mit  Rußland  zu  fechten.  Auch  diese  Parole  ist  unaufrichtig. 
Denn  in  Ostasien  hat  England  keine  sicheren  Alliierten,  während  es 
für  die  Meerengenfrage  über  zwei  solche,  Österreich  und  Italien,  würde 
beliebig  verfügen  können.  Für  diejenigen  englischen  Kreise,  welche 
gebildet  genug  sind,  um  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen,  drückt  sich 
in  jener  These  einfach  die  Hoffnung  aus,  daß  Rußland  zuvörderst 
wegen  des  Near-East  in  Krieg  mit  den  Kontinentalmächten  kommen, 
und  England  dadurch  die  Möglichkeit  gegeben  werden  wird,  im  Far- 
East  nach   Belieben  zu  schalten. 

Angesichts  dieser  Symptome  ersuche  ich  Ew.,  die  Frage  der 
österreichisch-italienisch-englischen  Abmachung  nach  dem  Muster  von 
1887  nicht  weiter  zu  berühren.  Falls  von  englischer  Seite  Sie  darauf 
angeredet  werden  sollten,  wollen  Ew.  erwidern,  die  Regierung  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  sei  aus  verschiedenen  Gründen  zu  der  Über- 
zeugung gelangt,  daß  England  bisher  nicht  beabsichtige,  für  irgend- 
welche Mittelmeer-  oder  Orientfragen  selbst  einzutreten.  Falls  Ihre 
Kollegen  von  Österreich  oder  Italien  die  Frage  bei  Ihnen  anregen, 
bitte  ich  zu  sagen,  daß,  zwar  nicht  nach  Ihrer  Ansicht,  aber  nach  der- 
jenigen der  Kaiserlichen  Regierung,  England  sich  erst  dann  wird  binden 
wollen,  wenn  es  sicher  ist,  daß  ohne  England  weder  Österreich  noch 
Italien  sich  in  Krieg  wegen  der  Meerengen-  oder  sonstiger  Mittelmeer- 
fragen stürzen  wollen.  Es  schadet  nichts,  wenn  diese  Äußerungen, 
nicht  als  die  Ihrigen,  aber  als  die  hiesigen  an  Lord  Salisbury  gelangen. 

Marschall 

Nr.  2564 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Rom 
Bernhard  von  Biilow 

Konzept 

Nr.  923  Berlin,  den  17.  Dezember  1895 

Geheim  [abgegangen  am  20.  Dezember] 

Ew.  beehre  ich  mich,  anbei  eine  Abschrift  des  Berichts  Nr.  192 
urA  der  allerhöchsten  Randvermerke*  zu  übersenden.  Dieser  Bericht 
gibt  einen  interessanten  Einblick  in  die  derzeitige  Gemütsverfassung 
des  Baron  Blanc. 

Als  Italien  unserm  Rat  entgegen  seine  Flotte  zu  der  englischen 
in  den  türkischen  Gewässern  stoßen  ließ,  da  geschah  dies  in  der  Er- 
wartung sofortiger  gemeinsamer  Aktion.  Es  zeigt  sich  aber  heute, 
daß  jener  verfrühte  Schritt  mit  dazu  beigetragen  hat,  das  von  Italien 
erhoffte  Ergebnis  zu  vereiteln  i.   Sei  es,  daß  man  in  London  besorgte, 

•  Siehe  Nr.  2536. 
232 


durch  Italiens  Übereifer  zu  früh  in  Verwickelungen  zu  kommen,  sei 
es,  daß  die  englischen  Staatsmänner  anfingen,  die  Hoffnung  zu  nähren, 
Italien  in  seiner  Leidenschaft  werde  sich  und  den  Dreibund  kopfüber 
in  den  Orientkonflikt  stürzen,  ohne  England  abzuwarten  2.  Tatsache  ist, 
daß  das  Erscheinen  des  italienischen  Geschwaders  den  Augenblick  be- 
zeichnet, wo  England  in  ein  ruhigeres  Fahrwasser  einlenkte.  Infolge- 
dessen steht  jetzt  Baron  Blanc  vor  der  für  ihn  peinlichen  Aussicht, 
die  italienischen  Schiffe  ohne  Kampf  und  ohne  Gewinn  zurückkehren 
zu  sehen.  Die  Empfindlichkeit,  welche  deswegen  bei  dem  italienischen 
Minister  sich  äußert,  möchte  ich  als  eine  überreizte  bezeichnen.  Wenn 
der  Grundsatz,  daß  jede  militärische  Demonstration,  welche  nicht  zum 
Kriege  oder  zu  einer  „Entschädigung"  führt,  als  Demütigung  oder 
echec  des  demonstrierenden  Staates  anzusehen  ist,  Aufnahme  in  einen 
internationalen  Ehrenkodex  fände,  so  läge  darin  eine  unberechenbare 
Vermehrung  der  Gefahren,  die  den  Weltfrieden  schon  jetzt  bedrohen. 

Daß  aber  Baron  Blanc  durch  diesen  Anfang  einer  unangenehmen 
Erfahrung  zu  der  Erwägung  geführt  worden  ist,  Italien  werde  von 
den  Vorgängen  auf  der  Balkanhalbinsel  und  an  den  Meerengen  nicht 
näher  als  England  berührt,  ist  als  ein  entschiedener  Fortschritt  zu  be- 
zeichnen. Nur  dann,  wenn  Italien  dieser  Überzeugung  nicht  bloß 
mit  Worten,  sondern  auch  durch  sein  ruhiges  Verhalten  Ausdruck 
gibt,  wird  die  englische  Regierung  sich  ernstlich  die  Frage  vorlegen, 
ob  sie  die  Meerengen  definitiv  ihrem  Schicksal  überlassen  oder 
bei  ihrer  Verteidigung  mitwirken  will.  Schwerlich  legt  sich  Eng- 
land diese  Frage  in  dieser  Form  heute  schon  vor,  es  hofft  wohl  jetzt 
noch,  daß  ItaHen  und  Österreich  bei  einer  türkischen  Katastrophe 
das  kalte  Blut  verlieren  und  ungebeten  wie  unbezahlt  Englands  Ge- 
schäfte besorgen  werden. 

Die  Fühlung,  welche  Baron  Blanc  in  London  zu  nehmen  be- 
absichtigt, wird  ihn  über  die  derzeitigen  Pläne  und  geheimen  Hoff- 
nungen der  englischen  Regierung  aufklären.  Wenn  letztere,  deren  Ver- 
treter in  Konstantinopel  nach  den  jüngsten  Meldungen  des  Kaiser- 
lichen Botschafters  neuerdings  wieder  bemüht  ist,  die  übrigen  Mächte 
zu  einer  Aktion  in  der  armenischen  Frage  zu  drängen*,  gleichwohl 
sich  Italien  gegenüber  ablehnend  zu  allem  verhielte,  was  einer  Fixierung 
ihrer  Verbindlichkeiten  für  den  Ernstfall  ähnlich  sähe,  so  ergäbe  sich 
hieraus  nur,  daß  England  zur  Stunde  noch  hofft,  die  von  London  aus 
angeregte  armenisch-türkische  Frage  werde  ohne  englische  Opfer 
an  Geld  und  Blut  lediglich  durch  einen  allgemeinen  Kontinentalkrieg 
die  für  England  wünschenswerte  Lösung  erhalten  3. 

Die  Meerengenfrage  ist  für  England  nur  ein  Teil  der  russisch- 
englischen  Frage,  welche  außerdem  noch  die  ostasiatische,  die 
ägyptische  und   —   als   Unterabteilung  —   die   Frage   des   persischen 


*  Vgl.  Kap.  LXI,  B,  Nr.  2470. 

233 


Meerbusens  umfaßt.  Von  diesen  ist  die  Balkan-  oder  Meerengenfrage 
die  einzige,  wo  England  hoffen  kann,  andere  Mächte  vorzuschieben, 
deshalb  ist  die  Frage,  so  wie  geschehen,  aufgebauscht  worden. 

Gesetzt  den  Fall,  die  Meerengenfrage  erledigte  sich  ohne  Krieg, 
so  wäre  dadurch  England  keineswegs  entlastet,  der  franko-russische 
Druck  würde  vielmehr  nach  diesem  Erfolge  sich  in  Äg>-pten  wie  in 
Ostasien  erst  recht  fühlbar  machen.  England  wird,  wenn  es  weiter 
leben  will,  dem  Kampfe  schließlich  nicht  ausweichen  können  und 
wird  sich  dann  nach  Verbündeten  umsehen  müssen,  immer  voraus- 
gesetzt, daß  bis  dahin  die  England  bedrohende  Gefahr  nicht  etwa 
ohne  Englands  Zutun  durch  Englands  Mitinteressenten  beseitigt  ist. 
Mit  einem  Worte,  Italien  kann,  wenn  es  das  kalte  Blut  nicht 
verliert,  auf  England  in  absehbarer  Zeit  als  sicheren  Bundes- 
genossen für  die  endgültige  Lösung  der  schwebenden  Mittelmeerfragen 
rechnen.  Sehr  entfernt  dürfte  jener  Augenblick  auch  nicht  mal  sein. 
Dafür  bürgt  die  Ungeduld,  mit  welcher  Frankreich  auf  die  Regelung 
der  ägA'ptischen  Frage  drängt,  während  Rußland,  welches  für  die 
bevorstehende  große  Entscheidung  in  Ostasien  die  französische  Mit- 
wirkung gegen  England  nicht  entbehren  kann,  dadurch  zur  Berück- 
sichtigung  der   ägyptischen   Wünsche    Frankreichs    genötigt    wird. 

Ich  habe  soweit  nur  den  einen  Fall  ins  Auge  gefaßt,  wo  Italien 
an  seinen  jetzigen  politischen  Beziehungen  nichts  ändert,  also  im 
Vertragsverhältnis  mit  Deutschland  und  Österreich,  in  freundschaft- 
lichem  Verhältnis   mit   England   bleibt. 

Nachdem  Ew.  pp.  jedoch  erwähnt  haben,  daß  Baron  Blanc  auf 
die  Möglichkeit  hingedeutet  hat,  Italien  könnte,  falls  es  in  der  jetzigen 
politischen  Kombination  nicht  die  gehofften  Vorteile  finde,  sich  der 
gegnerischen  Seite  zuwenden,  darf  ich  nicht  unterlassen,  auf  die  Folgen 
hinzuweisen,  welche  diese  Schwenkung  für  Italiens  Zukunft  haben 
würde. 

Italien  lehnt  sich  heute  vertragsmäßig  oder  freundschaftlich  oder 
beides  an  drei  Mächte,  von  denen  zwei  ein  Interesse  an  seinem  Fort- 
bestände haben,  während  die  dritte  (Österreich)  sich  mit  dem  Dasein 
Italiens  ausgesöhnt  hat,  aus  demselben  auch,  solange  Italien  ihr  Ver- 
bündeter ist,  Nutzen  ziehen  kann.  Wenn  Italien  sich  von  dieser 
Gruppe  trennt,  tritt  es  als  schv/ächerer  Vierter  in  die  von  Rußland, 
Frankreich  und  dem  Papst  gebildete  communio  incidens  ein.  Denn, 
daß  Rußland  um  Italiens  willen  von  den  beiden  anderen  abrücken  sollte, 
indem  es  Italien  ernstlich  gemeinte  Konzessionen  macht,  die 
jenen  unangenehm  sind,  darf  man  von  vornherein  als  ausgeschlossen 
betrachten. 

Etwas  anderes  ist  es  mit  bloßen  Versprechungen,  durch  die  man 
suchen  würde,  Italien  zum  Abfall  zu  bringen,  mit  dem  geistigen  Vor- 
behalt, dieselben,  sobald  Italien  von  seinem  bisherigen  Anhang  isoliert 
ist,    nach   dem   Vorbilde   der   großen   Napoleonischen    Epoche   zu   be- 

234 


handeln,  wo  dem  Schwächeren,  gleichviel  ob  Freund  oder  Feind,  das, 
was  ein  Vertrag  ihm  gegeben  oder  gelassen  hatte,  beim  nächsten  Ver- 
trage beliebig  entzogen  ward. 

Daß  Italien  von  dem  Augenblick  an,  wo  seine  Haltung  im  Drei- 
bunde eine  zweifelhafte  wird,  der  schwächste  unter  den  europäischen 
Machtfaktoren  sein  würde,  bedarf  kaum  des  Beweises.  In  der  Gruppe, 
an  die  es  sich  künftig  anzulehnen  hätte,  würde  es  seine  beiden  un- 
versöhnlichsten Feinde,  Frankreich  und  den  Papst,  neben  sich  sehen. 
Frankreich  hat  nie  aufgehört  und  wird  selbst  unter  der  radikalsten 
Regierung  nicht  aufhören,  aus  Gründen  auswärtiger  Politik  die  V/ieder- 
herstellung  der  weltlichen  Macht  des  Papstes  zu  begünstigen,  in 
der  sicheren  Erwartung,  daß  der  Verlust  von  Rom  für  Italien  das 
Ende  nicht  nur  der  Einigkeit,  sondern  auch  der  Monarchie,  folglich 
der  ganzen  Mittelmeerrivalität  bedeutet.  Auch  der  Konvent  schützte, 
während  er  innerhalb  Frankreichs  die  Geistlichen  verfolgte,  aus  Gründen 
auswärtiger  Politik  die  Interessen  der  katholischen  Kirche  im  Orient 
eifersüchtig  wie  kaum  eine  andere  französische  Regierung. 

Das  Gefühl  der  Reue  darüber,  daß  von  Napoleon  III.  der  erste 
Anstoß  zur  Einigung  Italiens  ausging,  hat  in  Frankreich  von  1866 
bis  heute  stetig  zugenommen.  Gegen  die  Gefahren,  welche  aus  dieser 
Stimmung  sich  für  Italien  ergeben  konnten,  bildeten  Deutschland  und 
der  Dreibund  das  Gegengewicht.  In  dem  Augenblick  aber,  wo  Italien 
sich  vom  Dreibund  abwendet,  wird  Deutschland  sich  daran  erinnern 
müssen,  daß  wir  für  Italien,  welches  sich  anschickt,  uns  im  Stiche 
zu  lassen,  den  Preis  der  Erwerbung  Roms  in  zwiefacher  Form  zahlten, 
im  Kriege  gegen  Frankreich  und  im  Kulturkampf.  Es  ist  ein  Beweis 
für  die  geistige  Bedeutung  der  deutschen  katholischen  Führer,  daß 
dieselben  sich  tatsächlich  in  den  Gedanken  gefunden  haben,  den 
Staat,  welcher  den  tausendjährigen  Besitz  des  Heiligen  Stuhls  an  sich 
riß,  als  Mitglied  des  Dreibunds  unbehelligt  zu  lassen.  Für  die  Masse 
des  katholischen  Volks  wie  für  die  niedere  Geistlichkeit  bildet  gleich- 
wohl der  Umstand,  daß  Italien  durch  die  Regierung  des  Deutschen 
Kaisers  im  Besitze  des  Patrimonium  Petri  geschützt  wird,  ein  Thema 
für  endlose  Anklagen  und  die  Ursache  vielfacher  Entfremdung  gegen 
die  Regierung.  Und  von  dem  Augenblick  an,  wo  bekannt  ist,  daß  Italien 
dem  Dreibund  nicht  mehr  oder  nur  noch  äußerlich  angehört,  würde  nicht 
nur  bei  der  katholischen,  sondern  auch  bei  der  protestantischen  Be- 
völkerung sich  eine  mächtige  Strömung  fühlbar  machen,  entsprungen 
aus  der  Überzeugung,  daß  der  Zeitpunkt  gekommen  sei,  wo  wir  unserer 
Politik  diejenige  Richtung  zu  geben  haben,  v/elche  geeignet  ist,  ein 
volles  Einvernehmen  zwischen  Kaiser  und  Papst  herzustellen,  um  solcher 
Art  den  Kraftverlust,  welchen  Deutschland  infolge  von  Italiens  Über- 
tritt erlitten  hat,  durch  intensivere  innere  Einigkeit  auszugleichen. 

Deutschlands   Aufgabe   würde   es   ferner   sein,    dem   vorzubeugen, 
daß  infolge  der  Gärung  der  Gemüter,  welche  nach   dem  Abfall  Italiens 

235 


unvermeidlich  ist,  in  Österreich  die  deutschfeindlichen 
Gruppen  ans  Ruder  gelangen.  Um  dieser  Gefahr  vorzubeugen 
und  zu  verhindern,  daß  die  bisher  politisch  überwiegenden  Gruppen, 
welche  Anlehnung  beim  Deutschen  Reiche  suchen,  entmutigt  werden, 
müssen  wir  alsdann  mit  den  äußersten  Mitteln  auf  eine  Besserung 
der  russisch-österreichischen  Beziehungen  hinarbeiten.  Die  Verschärfung 
dieser  datiert  von  der  Zeit,  wo  Österreich  nach  dem  Verlust  seiner 
Hegemonie  über  Italien  und  seines  Einflusses  in  einem  Teile  des 
nichtpreußischen  Deutschlands  darauf  hingewiesen  war,  sich  in  südöst- 
licher Richtung  auszudehnen,  um  die  Einbuße  an  Italienischen  Unter- 
tanen durch  südslawische  Volksstämme  zu  ersetzen.  Diese  Schiebung 
hat  für  Österreich  nach  außen  hin  politische  Reibungen  mit  Rußland, 
nach  innen  eine  zugunsten  der  nichtpolnischen  Slawen,  zum  Nachteil 
der  Deutschen,  Polen  und  Ungarn  fühlbar  werdende  Störung  des 
Gleichgewichts  der  unter  habsburgischem  Zepter  lebenden  Natio- 
nalitäten herbeigeführt.  Sowohl  in  Rußland  wie  bei  den  Ungarn,  den 
Polen  und  den  österreichischen  Deutschen  würde  daher  der  Gedanke 
Anklang  finden,  Österreichs  slawische  Interessensphäre  enger  zu  be- 
grenzen und  dafür  den  Schwerpunkt  der  Monarchie  wieder  weiter 
nach  Westen  zu  verlegen. 

Ew.  ist  bereits  bekannt,  daß  wir  uns  dem  Gedanken  keineswegs 
verschließen,  es  könnte  jene  Verschiebung  des  österreichischen  Schwer- 
punktes auf  Kosten  des  Deutschen  Reichs  angestrebt  werden.  Indessen 
glaube  ich  doch,  daß,  falls  die  Haltung  Italiens  uns  zwingt,  die  Ver- 
ständigung zwischen  Österreich-Ungarn  und  Rußland  um  jeden  Preis 
herbeizuführen,  es  uns  gelingen  wird,  die  wichtigsten  unter  den  anderen 
Interessenten  zu  der  Überzeugung  zu  bringen,  daß  ihnen  eine  Ent- 
schädigung Österreichs  auf  Kosten  Italiens  —  etwa  mit  der  Grenze 
von  Villafranca  —  ersprießlicher,  und  daß  sie  jedenfalls  leichter  sein 
würde  als  eine  solche  auf  Kosten  Deutschlands.  Innerhalb  Österreichs 
würden  die  Ungarn  und  die  Polen  ihre  eigene  Machtstellung  durch 
eine  Ausdehnung  des  italienischen  Elements  nicht  gefährdet  sehen, 
wohl  aber  durch  eine  Verstärkung  des  deutschen  Elements  innerhalb 
der  Monarchie.  Für  den  unter  russischer  Einwirkung  stehenden  Teil 
der  österreichischen  Slawen  würde  die  Haltung  Rußlands  maßgebend 
sein,  und  was  den  Kaiser  von  Rußland  anlangt,  so  darf  angenommen 
werden,  daß  er  derjenigen  Lösung  den  Vorzug  geben  würde,  durch 
welche  ein  deutsch-russischer  Krieg  vermieden  ward.  Ja  sogar  die 
heutige  Zivilregierung  Frankreichs,  deren  Mitglieder  in  jedem  großen 
französischen  Kriege  auch  dann,  wenn  derselbe  erfolgreich  verläuft, 
ihr  politisches  Ende  erblicken  müssen,  würde  vielleicht  keines  großen 
russischen  Zuredens  bedürfen,  um  sich  anstatt  der  unsicheren  Aus- 
sichten eines  russisch-französischen  Krieges  gegen  Deutschland  und 
Österreich  —  mit  dem  sonst  von  vollständiger  Vereinsamung  be- 
drohten   England   im    Hintergrunde   —   eine   ungefährliche   Abfindung 

236 


auf  Kosten  des  wieder  wie  vor  hundert  Jahren  zum  Kompensations- 
objekt und  geographischen  Begriff  herabgedrücicten  Italiens  gefallen 
zu  lassen. 

Der  vorstehende  Exkurs  auf  das  uns  sonst  ungewohnte  Gebiet 
der  Konjekturalpolitik  verfolgt  vor  allem  den  Zweck,  Ew.  die  Sicher- 
heit zu  geben,  daß  Sie  ganz  im  Sinne  der  Regierung  Seiner  AAajestät 
des  Kaisers  handeln,  wenn  Sie  an  der  Hand  des  Ihnen  zu  eigener 
Verfügung  stehenden  reichhaltigen  politischen  und  geschichtlichen 
Materials  dem  Baron  Blanc,  falls  derselbe  das  Gespenst  des  italieni- 
schen Abfalls  vom  Dreibund  wieder  erscheinen  läßt,  den  Beweis  führen, 
daß  derjenige  italienische  Staatsmann,  Graf  Tornielli  oder  ein  anderer, 
welcher  Italien  in  diese  Bahnen  lenkt,  damit  lediglich  die  Zerstückelung 
des  Reichs  und  die  Wiederherstellung  der  weltlichen  Macht  des  Papstes 
in  die  Wege  leiten  wird. 

Zum  Schluß  will  ich  noch  bemerken,  daß  ich  das  aus  früherer 
Zeit  mir  erinnerliche  Schlagwort  Visconti  Venostas:  „Independenti 
sempre,  isolati  mai''  zu  meiner  Überraschung  in  Ew.  Bericht  wieder 
auftauchen  sah.  Ich  hätte  geglaubt,  daß  die  Schule  italienischer  Politik, 
welche  sich  in  jenem  Worte  verkörperte,  durch  den  Verlust  von  Tunis 
tatsächlich  ad  absurdum  geführt  worden  sei.  Sicher  bin  ich  jedenfalls, 
daß  Italien,  wenn  es  sich  jener  Irrlehre  wieder  zuwendet,  damit  jetzt 
keine  besseren  Erfahrungen  machen  wird  als  vor  14  Jahren. 

C.  Hohenlohe 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  Absdirift: 
^  Sehr  richtig 

2  das  ist  das  wahrscheinlichere 

3  richtig 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Einverstanden 

Italien  soll  nur  ruhig  auf  dem  Anstand  ausharren  wenn  auch  im  Stangen- 
holz der  Britische  Hirsch  schon  mit  dem  Geweih  klappert  und  dann  und  wann 
schreit!  Nur  nicht  losdrücken!  Er  muß  auf  die  Wiese  der  Bundesgenossen- 
schaft heraustreten  und  ist  er  da  erst  auf  dem  Freien,  dann  kann  ßlanc  i[h]m 
eins  aufs  Blatt  versetzen. 

Nr.  2565 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von  Schwarzenstein 

Nr.  1002  Berlin,  den  19.  Dezember  1895 

[abgegangen  am  20.  Dezember] 
pp.  Wir  können  nur  mit  Befriedigung  wahrnehmen,  daß  Graf  Goiu- 
chowski  auf  Grund  unserer  Vorstellungen  und  vielleicht  auch  einiger 
eigener  Erfahrungen   neuesten   Datums   keine   Neigung  hat,   sich  von 

237 


England  vorschieben  zu  lassen*.  Wir  können  in  Wien  immer  nur 
von  neuem  darauf  hinweisen,  daß  das  sicherste  Mittel,  Englands  Be- 
teiligung an  der  Erledigung  schwebender  Mittelmeer-  und  Orlciitfragen 
zu  verhindern,  darin  besteht,  daß  die  anderen  in  gleicher  Weise  wie 
England  interessierten  Kabinette  Eifer  und  Nervosität  zeigen.  Solange 
nicht  der  letzte  Schatten  der  Hoffnung  verschwunden  ist,  daß  Englands 
Interessen  doch  noch  vielleicht  ohne  England  gewahrt  werden  könnten, 
wird  England  sich  nicht  entschließen,  Ernst  zu  machen,  dann  aber 
allerdings,  denn  für  den  Ausbreitungstrieb  von  England  einerseits, 
Rußland  und  Frankreich  andererseits  ist  die  Welt,  und  ist  speziell  Asien 
zu  klein.  Der  Gang  der  Ereignisse  drängt  auf  den  Konflikt  hin, 
weniger  unmittelbar  wegen  europäischer  als  wegen  außereuropäischer, 
insbesondere  asiatischer  Fragen,  die  Reibungsfläche  erstreckt  sich  von 
Byzanz  und  Syrien,  dem  Boden  der  französischen  Kreuzfahrer,  bis 
Port  Arthur. 

Marschall 


Nr.  2566 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Entzifferung 

Nr.  520  St.  Petersburg,  den  19.  Dezember  1895 

Prinz  Liechtenstein**  teilte  mir  vertraulich  mit,  er  habe  aus  Privat- 
briefen Grund  zur  Annahme,  daß  Graf  Goluchov.ski  sich  überzeugt 
zu  haben  scheine,  Lord  Salisbury  hätte  zu  seinen  selbstsüchtigen 
Zwecken  im  Orient  Österreich  ausnutzen  und  ausbeuten  wollen  i. 
Auch  glaube  Graf  Goluchowski  anscheinend,  es  wäre  doch  ganz  gut 
möglich,  zu  einer  engeren  Verständigung  mit  Rußland  zu  gelangen. 

Fürst  Lobanow,  den  ich  heute  sah,  erwähnte  mir  aus  eigener 
Initiative  die  gleiche  Äußerung  des  Prinzen  Liechtenstein.  Der  Mi- 
nister sprach  mir  auch  mit  Befriedigung  von  einer  Unterhaltung,  die 
Graf  von  der  Osten-Sacken***  mit  Staatsminister  Freiherr  von  Marschall 
gehabt. 

Radolin 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Dahinter  kommt  er  jetzt   erst!?    Und  seit  wie  lange   predigt  ihm  das   mein 
Botschafter! 


*  Nämlich   in  der  armenischen  Frage.    Vgl.  Kap.  LXI,   B,  Nr.  2473  und  2473. 
**  Österreich-ungarischer  Botschafter  in  Petersburg. 
***  Russischer  Botschafter  in  Berlin. 

238 


Nr.  2567 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichs- 
kanzler Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  284  Wien,  den  21.  Dezember  18Q5 

Geheim 

Graf  Deym  ist  gestern  aus  London  hier  eingetroffen.  Er  brachte 
Eindrücive  mit,  welche  den  Grafen  Goluchowski  in  eine  behagliche 
Stimmung  versetzten  und  ihn  zu  folgenden  Betrachtungen  veranlaßten: 

„England  wird  immer  für  uns  eine  politische  Notwendigkeit  bleiben. 
Nicht  so  weit,  daß  wir  uns  vor  seinen  Wagen  spannen  ließen  oder 
pour  ses  beaux  yeux  in  kriegerische  Abenteuer  einträten,  aber  doch 
so,  daß  wir  z.  B.  nicht  zugeben  könnten,  daß  seine  Großmachtstellung 
in  Frage  gestellt  würde.  Wir  brauchen  England  als  Anlehnung  und 
müssen  deshalb  trachten,  in  möglichst  guten  Beziehungen  zu  bleiben. 
Gegenüber  der  höchst  zweideutigen  Politik  Rußlands  im  Orient  ist  es 
jetzt  sogar  für  uns  notwendig,  diesen  Zusammenhang  zu  zeigen. 
Die  Dispositionen  Lord  Salisburys  sind  gute.  Er  hat  dieses  durch  seine 
Haltung  gegenüber  Graf  Deym  bewiesen.  Aus  allen  diesen  Gründen 
ist  es  daher  notwendig,  auch  unsere  öffentliche  Sprache  danach  zu 
richten.  Ich  habe  mit  Ärger  den  heutigen  Leitartikel  der  „Neuen 
Freien  Presse"  gelesen  und  werde  mit  den  Leuten  ein  ernstes  Wort 
reden.  Eine  derartige  Sprache  gegen  England  muß  vermieden  werden 
—  und  ich  wäre  sehr  dankbar,  wenn  auch  in  Deutschland  zu  große 
Härten  in  der  Presse  unterlassen  würden  i.*' 

Daß  der  Artikel,  den  ich  mich  beehre.  Euerer  Durchlaucht  in  der 
Anlage*  gehorsamst  zu  überreichen,  nur  im  Hinbück  auf  die  Ausfälle 
gegen  England  den  Ärger  des  Grafen  erregte  und  etwa  auch  der 
Hymnus  auf  die  „neue  Freundschaft  zwischen  Deutschland  und  Ruß- 
land'' hierzu  eine  Veranlassung  gab,  unterliegt  keinem  Zweifel. 

Steckt  wohl  bezüghch  der  Entente  zwischen  Deutschland  und 
Rußland  in  Ostasien  ein  kleiner  Stachel  in  dem  Polenherzen,  so  ist 
doch  der  Graf  durch  die  loyale  Haltung  Deutschlands  und  die  un- 
zweifelhafte Sprache,  die  wir  in  allen  Schwierigkeiten  während  seiner 
Amtstätigkeit  hier  geführt  haben,  von  solchem  Zutrauen  zu  uns,  daß 


*  Der  Artikel  der  „Neuen  Freien  Presse"  (Nr.  11252  vom  20.  Dezember  1895) 
erörterte  im  Hinblick  auf  die  scharf  verurteilte  Haltung  Englands  das  nicht  mehr 
zu  verkennende  „Phänomen"  einer  gegen  England  gekehrten  deutsch-russisch-fran- 
zösischen Frontstellung.  In  der  wachsenden  Befreundung  zwischen  Deutschland  und 
Rußland,  die  auch  auf  das  Verhältnis  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  günstig 
einwirken  müsse,  sah  der  Artikel  das  beste  Mittel,  die  auf  Europa  noch  lastende 
Spannung  zu  vermindern.  Zu  dieser  Stelle  des  Artikels  hat  Kaiser  Wilhelm  II. 
am  Rande  vermerkt  „ja",  und  zu  dem  ganzen  Artikel  „sehr  gut", 

239 


es  ihm  fern  läge,  sich  über  die  Feder  eines  deutsch-russischen  Zeitungs- 
poHtikers   ernstliche  Sorgen   zu   machen. 

Von  großem  Interesse  sind  die  Mitteilungen,  die  mir  der 
Minister  mit  der  Bitte  um  Geheimhaltung  bezüglich  des 
accord  ä  trois  machte.  Die  günstigere  Gestaltung  dieser  Frage  gab 
wohl  in  erster  Linie  den  Ausschlag  für  die  vorstehenden  freund- 
lichen Absichten  bezüglich  Englands,  welche  der  Graf  zum  Ausdruck 
brachte. 

„Nicht  ich,"  sagte  er,  „habe  den  accord  ä  trois  in  England  wieder 
angeregt.  Was  ich  Ihnen  sage,  kommt  von  Lord  Salisbury.  Sie  wissen, 
daß  mir  der  alte  accord  ä  trois  unbrauchbar  und  ungenügend  er- 
scheint, und  daß  ich  abwarten  will,  meine  Vorschläge  zu  machen,  wenn 
ich  weiß,  daß  das  Terrain  in  England  überhaupt  möglich  zu  bebauen 
ist.  Dieses  scheint  nun  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der  Fall 
zu  sein.  Es  ist  Ihnen  bekannt,  daß  Lord  Salisbury  im  Jahre  1887 
nur  seinen  Namen  für  den  accord  hergab.  Jetzt  hat  er  das 
ganze  Ministerium  in  dieser  Frage  hinter  sich^  und  keinen 
Anstand  genommen,  es  dem  Grafen  Deym  mitzuteilen.  Die  Basis 
der  Wahlen,  auf  der  er  steht,  bedeutet  eine  gewisse  Garantie  für  die 
längere  Dauer  seiner  Regierung 3.  Daher  glaube  ich,  daß  etwas  zu 
machen  sein  wird.  Auch  scheint  es  mir  jetzt  eigentlich  unzweifelhaft, 
daß  Lord  Salisbury  sich  dem  Dreibund  anschließen  will*." 

Ich  bin  den  Mitteilungen  des  Grafen  gefolgt,  ohne  Bemerkungen 
irgendwelcher  politischer  Tragweite  zu  machen.  Da  er  sich  denjenigen 
englischen  Anzapfungen,  welche  sich  auf  orientalische  Fragen  heikler 
Natur  bezogen,  unzweifelhaft  ebenso  vorsichtig  als  energisch  gegen- 
überstellte, habe  ich  die  Hoffnung,  daß  er  sich  auch  bei  den  in  Aus- 
sicht stehenden  Abmachungen  und  Entschließungen  nicht  in  ein  Fahr- 
wasser wird  drängen  lassen,  welches  uns  unbequem  werden  könnte. 
Ich  habe  es  jedenfalls  nicht  an  Warnungen  fehlen  lassen,  und  pflegt 
er  deshalb  jetzt  gewöhnlich  seine  Betrachtungen  über  englisch-öster- 
reichische Beziehungen   mit  der  Bemerkung  zu  schließen: 

,,Im  übrigen  können  Sie  sicher  sein,  daß  ich  mir  von  England 
niemals  werde  das  Fell  über  die  Ohren  ziehen  lassen  5." 

P.  Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Ein  sehr  harmloser  Herr! 

2  Das  bedeutet  in  England  gar  wenig,  denn  auch  ein  Ministerium  kann  in  einem 

Tage  fallen!    Das  Parlament  muß  dahinter  stehen! 

3  ? 

*  !  ach  du  lieber  Himmel!  woher  will  er  denn  das  wissen 

*  Das  sieht  aber  verdeibelt  danach  aus. 

Schlußbemerkung  des   Kaisers: 
In  Beziehung  auf  England  ist  Qfoluchowski]  ein  großer  Optimist!    Salisbury  hat 
das  ganz  richtig  weg,  und  lockt  ihn  mit  der  Bemerkung  das  Ministerium  hinter 

240 


sich  zu  haben.  Das  bedeutet  nichts!  In  England  ist  die  „Times"  und  das 
„Parliament"  ausschlaggebend.  Solange  die  beiden  nicht  wollen  oder  mit- 
machen ist  Salisburys  Versprechen  null  und  nichtig  und  Oesterreich  fällt  rein. 
Deym  scheint  ein  Esel  zu  sein,  der  von  Salisbury  sich  enguirlandiren  ließ  und 
seinem  Minister  falsche  Hoffnungen  erweckte. 

Nr.  2568 
Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  281  Wien,  den  23.  Dezember  1895 

Geheim 

Graf  Goluchowski,  dem  ich  täglich  begegne,  kommt  immer  auf 
die  österreichisch-englischen  Beziehungen  zurück.  Er  erzählte  mir 
gestern,  daß  Lord  Salisbury  in  letzter  Zeit  dreimal  nach  London  ge- 
kommen sei,  lediglich  um  Graf  Deym  zu  sehen  und  anscheinend  immer 
in  der  Erwartung  österreichischer  Vorschläge.  Dieses  Faktum  und  das 
Entgegenkommen,  das  er  zeigte,  sieht  Graf  Goluchowski  als  Symptom 
dafür  an,  daß  England  alle  Türen  verschlossen  fand  und  jetzt  endlich 
vielleicht   zu   bindenden    Abmachungen   getrieben    werde. 

Auf  meine  Bemerkung,  daß  eine  Zwangslage  Englands  Österreich, 
welches  dort  Anlehnung  wünsche,  klar  den  Weg  zeige,  wie  es  sich 
dort  anzulehnen  habe,  sprach  sich  der  Graf  folgendermaßen  aus:  „Eng- 
lands Interessen  im  Mittelmeer  und  bei  den  Dardanellen  sind  größere 
als  diejenigen  Österreichs.  Es  muß  deshalb  vorangehen,  eventuell 
mit  Italien.  Österreich  steht  in  zweiter  Linie,  Deshalb  kann  ich  auch 
den  Punkt  Nr.  8  in  den  Abmachungen  von  1887*  nicht  in  jetziger 
Form  brauchen.  Englands  Stellung  und  Verpflichtungen  als  in 
erster  Linie  interessierte  Macht  müssen  unzweifelhaft  festgelegt  werden. 
Ich  werde  nach  Rückkehr  des  Grafen  Deym  auf  seinen  Posten  das 
Berliner  Kabinett  genau  über  meine  Schritte  in  England  vorher  in- 
formieren. Die  Haltung  Lord  Salisburys  scheint  mir  starke  Tendenz 
zu  zeigen,  nicht  nur  die  Abmachungen  von  1887  zu  ergänzen,  sondern 
sich  dem  Dreibund  anzuschließen." 

Ich  glaube  annehmen  zu  sollen,  daß  diese  Meinungsäußerung 
des  Grafen  maßgebend  für  seine  weiteren  Beziehungen  zu  England 
bleiben  wird.  Auch  halte  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  die 
englischen  Verständigungsversuche  in  St.  Petersburg  hierher  durch- 
gesickert sind. 

Ganz  vertraulich  melde  ich  schließlich,  daß  ich  Symptome  dafür 
habe,  daß  Graf  Goluchowski  nicht  mehr  eine  russische  Okkupation 
Konstantinopels  und  der  Dardanellen  als  casus  belli  betrachten  würde, 
immerhin  aber  noch  als  sehr  schwer  zu  lösende  Komplikation. 

Eulen  bürg 

*  Siehe  Bd.  IV,  Kap.  XXVIII:  Entente  ä  trois  zwischen  Italien,  England  und  Öster- 
reich  1887/88.    Nr.  940. 

16    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  241 


Nr.  2569 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept 

Nr.  1021  Berlin,  den  23.  Dezember  1S95 

Euerer  Exzellenz  bin  ich  dafür  dankbar,  daß  Sie  die  Aufmerksam- 
keit auf  den  Leitartikel  der  „Neuen  Freien  Presse"  Nr,  11252*  ge- 
lenkt haben. 

Derselbe  war  hier  übersehen  worden.  Den  Gedanken,  daß  man 
es  mit  einer  Redaktionsarbeit  zu  tun  hat,  möchte  ich  von  vornherein 
abweisen.  Um  dem  Ursprünge  etwas  näher  zu  kommen,  ersuche  ich 
Euer  pp.,  den  Grafen  Goluchowski  zu  bitten,  daß  er  die  ihm  zweifellos 
zu  Gebote  stehenden  Mittel  anwendet,  um  sich  und  Sie  hierüber  zu 
orientieren.  Lehnt  der  Graf  a  limine  ab  oder  sagt  er  Ihnen  später, 
daß  die  Nachforschungen  zu  nichts  geführt  haben,  so  wird  dadurch 
allerdings  die  Vermutung  in  den  Vordergrund  gerückt,  daß  der  eifrige 
Herr  von  Doczy**  jene  Auslassung  mit  oder  ohne  höhere  Inspiration 
ersann,  um  auf  diesem  Wege  von  uns  ein  Dementi  der  Behauptung 
zu  erzielen,  daß  in  der  Orientfrage  „Rußland  von  dem  deutschen  und 
dem  französischen  Freunde  flankiert  ist''. 

Von  vornherein  halte  ich  aber  die  Vermutung  des  österreichisch- 
offiziösen Ursprungs  für  weniger  wahrscheinlich.  Die  „Neue  Freie 
Presse"  hat  mancherlei  externe  Verbindungen,  und  ich  sehe  nicht 
ohne  weiteres  ein,  welchen  Vorteil  die  Organe  des  Grafen  Goluchowski 
davon  erwarten  können,  daß  sie  hervorheben,  Deutschland  habe  sich 
„auf  den  Weg  der  Bismarckschen  Staatskunst  zurückgefunden,  deren 
Prinzip  es  war,  überall,  wo  untergeordnete  deutsche  Interessen  in 
Frage  standen,  sich  den   Russen  gefällig  zu   erweisen". 

Richtiger,  aber  vielleicht  dem  in  dem  Artikel  vorgesteckten  Ziele 
weniger  entsprechend  wäre  es  zu  sagen,  daß  Deutschland  sich  von 
jenem  Prinzip  niemals  entfernt  hat.  Eben  deshalb  sind  wir  nicht 
geneigt,  Feuer  zu  fangen,  solange  es  sich  lediglich  um  die  Dardanellen 
handelt,  denn  die  sind  in  der  Tat  für  Deutschland  ein  „untergeordnetes 
Interesse".  Erst  dann,  wenn  die  Dardanellenfrage  Verhältnisse  an- 
nimmt, welche  einen  Rückschlag  auf  die  Existenzbedingungen  Öster- 
reichs in  Aussicht  stellen,  ist  die  Regierung  Seiner  Majestät  des 
Kaisers  genötigt,  der  Angelegenheit  näher  zu  treten,  weil  alsdann 
Deutschland  vor  der  Möglichkeit  steht,  in  den  Konflikt  mit  hinein- 
gezogen zu  werden.  Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  Deutschland, 
dem  die  Verantwortung  für  die  Folgen  mit  zufällt,  deswegen  auch 
Anspruch    darauf    macht,    gehört    zu    werden,    wenn    es    sich    um    die 

*  Vgl.  Nr.  2567,  Fußnote. 

**  Redakteur  der  „Neuen  Freien  Presse". 

242 


Anfänge  handelt,  d.  h.  um  die  Entscheidung  der  Frage,  an  welchem 
Punkte  die  Lebensinteressen  Österreichs  berührt  werden. 

Ich  erwähne  diesen  Punkt  heute  nur  akademisch.  Der  AugonbUck 
für  die  praktische  Erörterung  dieser  Frage  wird  erst  dann  gekommen 
sein,  wenn  Rußland  Neigung  zeigt,  zu  seinen  Gunsten  den  status  quo 
in  den  Meerengen  und  deren  Umgebung  zu  verändern.  Dieser  Punkt 
läßt  sich  aber  heute  noch  nicht  am  politischen  Horizont  erkennen; 
im  Gegenteil  war  es  bisher  England,  welches  sich  bestrebt  zeigte, 
am  Bestände  des  Osmanenreiches  zu  rütteln,  während  Rußland,  nicht 
aus  Uneigennützigkeit,  sondern  wahrscheinlich,  weil  es  seine  Kräfte 
für  Ostasien  sparen  möchte,  gegenwärtig  bemüht  ist,  einer  türkischen 
Katastrophe  vorzubeugen. 

Bei  dem  Versuche,  uns  über  Rußlands  Absichten  aufzuklären, 
legt  jeder  sich  vielleicht  am  besten  die  Frage  vor,  was  er  an  Stelle 
des  Fürsten  Lobanow  tun,  auf  welche  Entscheidungspunkte  er  die 
russische  Politik  hinschieben  würde.  Die  Tatsache  ist  gegeben,  daß 
auf  der  ganzen  Strecke  von  Skutari  bis  Korea,  wo  das  aggressive 
russische  Interesse  sich  an  dem  Erhaltungs-  oder  Erwerbstrieb  anderer 
Nationen  reibt,  England  immer  als  Gegner  auftritt.  Um  England 
können  sich  je  nach  Umständen  andere  Interessen  kristallisieren,  diese 
sind  aber  nicht  dieselben  in  Korea  wie  in  Konstantinopel.  In  Ost- 
asien würde  England  gegenüber  dem  Vorgehen  der  franko-russischen 
Gruppe  kaum  auf  mehr  als  auf  die  Unterstützung  Japans  rechnen 
können,  während  in  der  Dardanellenfrage  England,  wenn  es  wirklich 
Ernst  machte,  der  Unterstützung  von  Österreich  und  Italien  mit  Deutsch- 
land als  Reserve  sicher  sein  würde.  Wenn  daher  Rußland  die  Politik 
so  zu  schieben  sucht,  als  ob  der  Konflikt  mit  England  nicht  jetzt 
wegen  der  Dardanellen,  sondern  später  wegen  Ostasiens  zum  Austrag 
kommen  solle,  so  kann  man  das  nicht  als  besondere  Unaufrichtig- 
keit,  sondern  nur  als  richtige  Erkenntnis  der  politischen  Lage  be- 
zeichnen. Wenn  dagegen  England,  wie  man  das  jetzt  häufig  von 
kompetenten  Seiten  behaupten  hört,  das  Axiom  glaubhaft  zu  machen 
sucht,  Rußland  werde  für  England  leichter  in  Ostasien  als  im  Mittel- 
meer zu  bekämpfen  sein,  so  liegt  darin  ein  Beweis  für  die  Unaufrichtig- 
keit  der  englischen  Politik,  denn  an  leitender  Stelle  in  England 
weiß  man  so  gut  wie  wir,  auf  welche  Verbündete  England  in  Ost- 
asien, und  auf  welche  es  im  Mittelmeer  zu  rechnen  haben  würde.  Wenn 
England  gleichwohl  den  näheren  Konflikt  im  Mittelmeer  vermeidet 
und  dem  langsamer  herankommenden  ostasiatischen  den  Vorzug  zu 
geben  behauptet,  so  heißt  das  einfach:  England  hofft,  daß  im  Mittel- 
meer und  auf  der  Balkanhalbinsel  der  Kampf  ohne  England  losgehen, 
und  England  sich  den  eigenen  Aderlaß  dann  ganz  sparen  könnte. 

Diese  letztere  Hoffnung  —  darin  stimmen  alle  Anzeichen  über- 
ein —  hatte  Lord  Salisbury  noch  vor  kurzem.  Die  Äußerungen  der 
Grafen  Goluchowski  und   Deym,   welche   Euer  pp.   in   Ihrem   Bericht 

16*  243 


Nr.  284*  wiedergeben,  enthalten  in  ihrer  allgemeinen  Fassung 
nichts,  was  die  Hoffnung  stärken  könnte,  daß  der  englische  Premier- 
minister sich  jetzt  schon  von  seinen  bisherigen  Idealen  losgesagt  hat. 
Diese  Frage  ist  aber  zurzeit  noch  eine  offene,  und  wir  müssen  uns 
des  endgültigen  Urteils  enthalten  bis  zu  dem  Augenblick,  wo  Graf 
Goluchowski  der  Ansicht  sein  wird,  etwas  Festes  und  Greifbares 
erlangt  zu  haben.  Ob  unsere  Ansichten  über  das  Feste  und  Greif- 
bare sich  mit  denen  des  Grafen  Goluchowski  stets  decken  werden, 
diese  Erörterung  kann  auch  füglich  einer  späteren  Phase  vorbehalten 
bleiben.  Dagegen  muß  ich  mich  schon  heute  zu  der  Bemerkung  des 
Grafen  Goluchowski  äußern,  Lord  Salisbury  scheine  sich  dem  Drei- 
bunde anschließen  zu  wollen.  Wenn  hier  unter  Dreibund  derjenige 
zwischen  Deutschland,  Österreich  und  Italien  verstanden  ist,  so  bin 
ich  genötigt,  bezüglich  Deutschlands  einen  Vorbehalt  zu  machen, 
welcher  in  der  Natur  dieses  Vertrages  liegt.  Derselbe  ist  ein  defensiver 
und  erhaltender  Vertrag,  er  soll  den  gegenwärtigen  Besitzstand  seiner 
Teilnehmer  schützen.  Wenn  England  die  Neigung  zeigt,  als  Vierter 
beizutreten,  so  würde  das  —  nach  Äußerungen  zu  urteilen,  die  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  von  englischen  Staatsmännern  verschiedener 
Parteien  gemacht  worden  sind  —  darauf  hinauslaufen,  daß  der  Drei- 
oder Vierbund  für  die  über  den  ganzen  Erdkreis  zerstreuten  Be- 
sitzungen Englands  zu  fechten  hätte.  Graf  Goluchowski  wird  am 
besten  beurteilen  können,  bis  zu  welchem  Grade  patriotischen 
Schwunges  die  österreichisch-ungarischen  Parlamente  im  psycho- 
logischen Momente  würden  gebracht  werden  können.  Für  die  deutsche 
Regierung  aber  ist  es  eine  ausgeschlossene  Eventualität,  die  Stimme 
des  Reichstages  und  die  Stimme  des  Volkes  für  einen  Krieg  zu  er- 
langen, welcher  bezweckt,  zur  Verteidigung  von  Englisch-Indien  gegen 
Rußland   und   Frankreich   mitzuwirken. 

Unter  den  Einwendungen  gegen  einen  solchen  Krieg  würde  die- 
jenige am  schwersten  zu  widerlegen  sein,  wonach  England,  wenn  es 
für  seinen  längst  vorhergesehenen  Kampf  gegen  Rußland  europäischer 
Verbündeter  zu  bedürfen  glaubte,  sich  die  letzteren  durch  eine  feste 
Abmachung  wegen  der  Dardanellenfrage  leicht  hätte  sichern  können. 
Durch  eine  Abmachung  dieser  Art  mit  Österreich  und  Italien  würde 
England  zwar  nicht  sofort,  aber  für  den  schlimmsten  Fall  sich  auch 
die  Kooperation  Deutschlands  verschafft  haben,  weil  letzteres  die 
Verminderung  seiner  beiden  Verbündeten,  solange  sie  seine  Ver- 
bündeten sind,  niemals  würde  ruhig  ansehen  können. 

Das  bisher  Gesagte  fasse  ich  dahin  zusammen,  daß  Deutschland 
die  Abmachungen,  welche  die  ihm  befreundeten  Mittelmeerstaaten  in 
ihrem  Interesse  glauben  abschließen  zu  sollen,  nicht  nur  mit  seinen 
besten   Wünschen    begleitet,    sondern    sich    auch   der    Rückwirkungen 

*  Siehe  Nr.  2567. 
244 


bewußt  ist,  welche  aus  einer  solchen  Abmachung  am  letzten  Ende, 
d.  h.  dann,  wenn  Österreich  und  ItaHen  in  wirkliche  Schwierigkeiten 
kommen,  für  Deutschland  nicht  nur  in  Gemäßheit  des  Dreibunds- 
vertrages, sondern  auch  in  Wahrnehmung  der  Interessen  des  europä- 
ischen Gleichgewichts  erwachsen  können.  Andererseits  aber  halten  wir 
die  Idee  von  dem  Beitritt  Englands  zum  jetzigen  Dreibunde  aus  den 
vorstehend  entwickelten  Gründen  für  keine  praktisch  durchführbare 
und  ihre  Erörterung  deshalb  bei  der  gegenwärtigen  politischen  Kon- 
junktur für  unfruchtbar. 

Falls  Graf  Goluchowski  auf  diese  Frage  der  Ausdehnung  des 
Dreibunds  zurückkommen  sollte,  wollen  Ew.  pp.  darauf  hinweisen,  daß 
der  gegenwärtige  Streit  wegen  der  Schomburgklinie  in  Venezuela* 
kaum  geeignet  ist,  außerhalb  Englands  Anhänger  für  den  Gedanken 
einer  solidarischen  Wahrung  des  englischen  Besitzstandes  zu  werben. 

Marschall 


*  Die  Grenzlinie  zwischen  Englisch  Guyana  und  Venezuela,  die  schon  1841  von 
Robert  Schomburgk  kartographisch  festgelegt  war,  war  seither  wieder  strittige  ge- 
worden. Mitte  Oktober  1S94  hatten  England  und  Venezuela  die  Einsetzung  einer 
Kommission  zur  Schlichtung  ihrer  Grenzstreitigkeiten  vereinbart.  Aber  schon  am 
IQ.  Oktober  überreichte  England  ein  Ultimatum  wegen  Entschädigung  für  Miß- 
handlungen englischer  Untertanen,  das  zugleich  Bedingungen  zur  Regelung  des 
Grenzstreits  in  Guyana  aufstellte.  Der  Streit  drohte  durch  die  Einmischung  der 
Vereinigten  Staaten  große  und  weittragende  Perspektiven  anzunehmen.  Am 
17.  Dezember  erließ  Präsident  Cleveland  eine  Botschaft  an  den  Kongreß,  in  der 
er,  kraft  der  Monroe-Lehre  eine  entscheidende  iWitwirkung  bei  der  Regelung  der 
Grenzfragen,  selbst  auf  die  Gefahr  einer  kriegerischen  Verwicklung  mit  England 
in  Anspruch  nahm.  Vgl.  auch  Bd.  IX,  Kap.  LIX,  Nr.  2368,  nebst  Fußnote  *  S.  424. 


245 


Anhang 

Ein  Russisch -Englisches  Kondominium 
in  Konstantinopel? 


Nr.  2570 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  17.  Dezember  1895 
Der  russische  Botschafter  erwähnte  bei  einem  Gespräch  mit  mir, 
in  welcliem  er  über  die  Unklarheit  und  Unaufrichtigkeit  der  englischen 
Politik  klagte,  das  englische  Kabinett  habe  jüngst  in  Petersburg  die 
Idee  fallen  lassen,  Konstantinopel  zu  einem  russisch-englischen  Kondo- 
minium zu  machen,  Fürst  Lobanow  habe  diese  Idee  mit  Entrüstung 
zurückgewiesen  und  ihm  —  dem  Botschafter  —  einen  eingehenden 
Brief  darüber  geschrieben,  welcher  in  dem  Gedanken  gipfle,  daß  die 
Politik  Rußlands  ausschließlich  von  dem  Entschluß,  unverbrüchlich 
an  dem  Berliner  Vertrage  festzuhalten,  geleitet  sei. 

Marschall 


Nr.  2571 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Mumm  von   Schwarzenstein 

Nr.  1527  BerHn,  den  19.  Dezember  1895 

Ew.  wollen  aus  meiner  beifolgenden  Aufzeichnung*  entnehmen, 
daß  Fürst  Lobanow  behauptet,  England  habe  versucht,  mit  Rußland 
wegen  Herstellung  eines  russisch-englischen  Kondominiums  in  Kon- 
stantinopel  in  Unterhandlungen  zu  treten,  sei  jedoch  von  dem  russi- 
schen Minister  ab-  und  auf  den  Berliner  Vertrag  hingewiesen  worden. 
Die  russische  Mitteilung  konnte  uns  nicht  überraschen,  nachdem 
wir  seit  Monaten  Zeugen  der  herumtastenden  Politik  des  englischen 
Kabinetts  gewesen  sind.  Lord  Salisbury  verfolgt  unentwegt  den  Zweck, 
Englands    heutige    Besitz-    und    Machtsphäre    nicht    nur    zu    erhalten, 

*  Siehe  Nr.  2570. 

249 


sondern  möglichst  noch  auszudehnen,  ohne  daß  England  dadurch  in 
ernstliche  Kriegsgefahr  kommt.  Für  Erreichung  dieses  Zwecks  ver- 
sucht der  englische  AAinister  nach-  und  nebeneinander  die  verschieden- 
sten Mittel.  Ein  solches  Mittel  war  der  Versuch,  die  armenischen 
Wirren  als  Anlaß  zum  Konflikt  unter  den  Kontinentalmächten  zu  ver- 
werten, ein  anderer  solcher  Versuch  ist  der  jetzt  vorliegende  Kondo- 
minatsvorschlag.  Lord  Salisbury  hätte  sich  Vorschlag  und  Abweisung 
ersparen  können,  wenn  er  die  Tatsache  der  Erwägung  wert  gehalten 
hätte,  daß  die  Meerengen-  und  überhaupt  die  türkische  Frage  nur 
einer  unter  mehreren  zwischen  Rußland  und  England  streitigen  Punkten 
ist.  Letztere  erstrecken  sich  von  den  Dardanellen  bis  Port  Arthur, 
und  zu  ihrer  Erledigung  glaubt  Rußland  der  französischen  Unter- 
stützung benötigt  zu  sein.  Daß  Fürst  Lobanow  auf  letztere  wegen 
eines  so  zweifelhaften  Geschenks  wie  das  englisch-russische  Kondo- 
minium über  Konstantinopel  verzichten  sollte,  konnte  nur  ein  poli- 
tischer Optimist  für  möglich  halten.  Denn  die  Geschichte  der  Kondo- 
minia  in  Ägypten  wie  in  Schleswig-Holstein  lehrt,  daß  dieselben, 
wenn  nicht  mit  Krieg,  so  doch  mit  ernstlicher  Verfeindung  enden. 
Außerdem  kann  Rußland  sich,  solange  die  nördliche  Einfahrt  des 
Bosporus  unbefestigt  bleibt,  tatsächlich  schon  heute  als  Mitbesitzer 
von  Konstantinopel  ansehen  und  hat  in  dem  Sultan  jedenfalls  einen 
bequemeren  Partner,  als  England  sein  würde. 

Als  einen  geschickten  politischen  Zug  kann  ich  daher  jenen  Kondo- 
minatsvorschlag  nicht  ansehen,  denn  er  gibt  Rußland  eine  Handhabe, 
um  in  Wien  und  Rom  das  etwa  noch  vorhandene  Vertrauen  auf  Eng- 
land als  Illusion  darzustellen.  Da  wir  nicht  dasselbe  Interesse  wie 
Rußland  haben,  Österreich  und  Italien  gegen  England  mißtrauisch  zu 
machen,  so  werden  wir  die  russische  Mitteilung  verschweigen.  Daß 
aber  Rußland  dieselbe  nicht  verschweigt,  liegt  in  der  Natur  der  Dinge. 

Jeder  unbefangene  Beobachter  englischer  Politik  konnte  von  vorn- 
herein keine  andere  Überzeugung  haben  als  die,  daß  England  die 
Eventualität  einer  Mitbeteiligung  an  einem  großen  Kriege  erst  zu 
allerletzt  ins  Auge  fassen  werde,  nachdem  vorher  alle  Versuche,  sei 
es  der  Verständigung  mit  dem  Feinde,  sei  es  des  Vorschiebens  von 
Freunden,  erschöpft  worden  wären.  In  der  einen  wie  in  der  anderen 
Hinsicht  hat  England,  wie  auch  Euerer  pp.  Telegramm  Nr.  314  be- 
stätigt, in  neuester  Zeit  seine  Erfahrung  bereichert,  dabei  allerdings, 
wie  das  auch  im  Leben  einzelner  Menschen  vorkommt,  an  Kapital  ein- 
gebüßt, nämlich  an  dem  Kapital  von  Vertrauen,  welches  bis  dahin 
sich  auf  die  Persönlichkeit  von  Lord  Salisbury  gründete. 

Ich  glaube,  es  wird  nützlich  sein,  wenn  Ew.  pp.  dem  englischen 
Premier  von  der  uns  zugekommenen  russischen  Mitteilung  Kenntnis 
geben  mit  dem  Hinzufügen,  daß  dieselbe  von  uns  aus  nicht  weiter- 
gegangen ist,  da  wir  vermuten,  daß  Österreich  und  Italien  in  dem 
englischen  Vorschlage  einen  Widerspruch  gegen  die  Abmachung  von 

250 


1887  erblicken  werden.  Allerdings  läßt  aber  die  in  Ew.  pp.  Telegramm 
Nr.  314  erwähnte  abweisende  Haltung  des  Wiener  Kabinetts  den  Rück- 
schluß zu,  daß  man  dort  bereits  von  Petersburg  aus  aufgeklärt  und 
daher  England  gegenüber  auf  der  Hut  ist. 

Marschall 


Nr.  2572 

Kaiser  Wilhelm  11.  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Reinschrift  nach  Diktat 

Berlin,  den  20.  Dezember  1895 

Beim  Frühstück  im  Hause  des  Prinzen  Wilhelm  von  Hohen- 
zollern  traf  ich  den  Obersten  Swaine*.  Der  Inhalt  des  politischen 
Gesprächs  war  folgender:  Der  Oberst  meinte,  im  Orient  schienen  die 
Angelegenheiten  zu  einem  Stillstande  gekommen  zu  sein,  da  niemand 
recht  wisse,  was  zu  tun  sei.  Ich  fragte  ihn,  ob  überhaupt  noch  Armenier 
übrig  seien,  für  die  was  zu  tun  wäre**.  Als  er  mich  darauf  verwundert 
ansah,  bemerkte  ich,  daß  wohl  schon  ungefähr  80000  umgebracht 
wären.  Auf  den  Ausdruck  des  Erstaunens  seinerseits  fragte  ich  ihn, 
ob  denn  England  immer  noch  nicht  das  Gewissen  schlage  wegen  der 
heillosen  Wirtschaft,  die  es  durch  sein  unqualifizierbares  Verhalten 
in  Kleinasien  für  die  Armenier  hervorgerufen  und  über  die  Unruhe, 
die  es  in  Europa  unter  die  Mächte  gebracht  habe?  Der  Oberst  nickte 
nur  mit  dem  Kopfe  hin  und  her  und  schien  in  Verlegenheit.  Er  gab 
aber  dann  unumwunden  zu,  daß  der  eigentliche  Grund  zu  den  armeni- 
schen Wirren  unzweifelhaft  die  Aktion  Gladstones  unter  der  Ägide 
Argylls  und  Westminsters  gewesen  sei.  Ich  meinerseits  erkannte  an, 
daß  diese  letztere  ein  niederträchtiger  Coup  des  grand  old  man  ge- 
wesen sei,  um  seinen  Nachfolger  sofort  in  eine  Zwangslage  zu  bringen, 
der  dann  auch  in  seinen  Reden  nicht  anders  gekonnt  habe,  als  diese 
Giadstonesche  Politik  vorläufig  weiter  zu  vertreten  und  zu  verfolgen. 
Nach  der  energischen  Auslegung  der  Thronrede  seinerseits***  und 
mit  dem  Erscheinen  des  englischen  Mittelmeergeschwaders  vor  den 
Dardanellen  seien  wir  alle  auf  der  ganzen  übrigen  Welt  der  festen 
Überzeugung  gewesen,  England  mache  Ernst  und  werde  erforderlichen- 
falls   auch    vor   der   ultima    ratio    der    Kanone    nicht    zurückschrecken. 


*  Englischer   Militärattache  in   Bedin. 

**  Vgl.  Bd.  XI,  Kap.  LXIII,  Nr.  2579. 

•**  In  der  bei  der  Eröffnung  des  englischen  Parlaments  am   13.  August  verlesenen 

Thronrede  war  ein  energischer  Passus  wegen  der  armenischen  Frage   enthalten 

gewesen. 

251 


Als  daher  Italien  und  Österreich  von  England  zur  Kooperation  auf- 
f  gefordert  worden  seien,  und  als  Dreibundmächte  sich  meines  Ein- 
verständnisses vergewisserten,  sei  ihnen  von  mir  dasselbe  erteilt  worden, 
I  aber  nur  unter  der  Bedingung,  wenn  England  seine  Pläne  offen  mit- 
\i  teile,  zum  Ernstfall  überginge  und  positive  Garantien  für  die  das- 
selbe unterstützenden  A\ächte  gewähre.  Das  sei  jedoch  nicht  erfolgt. 
Ganz  im  Gegenteil.  Die  Erinnerungen  seitens  Italiens  an  die  Ab- 
machungen des  Jahres  1887,  für  deren  Inkrafttreten  die  augenblick- 
liche Lage  eine  geeignete  war,  seien  in  London  in  formeller  Weise,  aber 
ganz  kühl  lediglich  anerkannt  worden.  Ein  Fazit  sei  nicht  daraus  ge- 
zogen worden.  Ja  noch  mehr,  kaum  seien  die  italienischen  Schiffe 
in  levantinischen  Gewässern  eingetroffen  und  die  österreichischen  im 
Zusammenziehen  gewesen,  so  habe  die  bisherige  Energie  des  briti- 
schen Auftretens  eine  auffallende  Abschwächung  erfahren,  welche  auch 
deutlich  in  der  gesamten  englischen  Presse  zutage  getreten  sei.  Mit 
liebenswürdiger  Verbeugung  habe  England  die  beiden  zur  Hülfe  eilen- 
den Freunde,  die  es  (den  Vortritt  lassend  nur  unterstützen  sollten), 
beiseite  tretend  in  die  erste  Reihe  gelangen  lassen.  Dies  sei  bei  den 
Vorschlägen  bezüglich  der  zweiten  Stationäre,  welche  in  etwas  über- 
eilter Weise,  um  England  zu  gefallen  und  seiner  Freunde  Ehrlichkeit 
zu  betonen,  von  Österreich  gemacht  worden  seien,  in  dem  Grade 
zutage  getreten,  daß  durch  dieses  Manöver  in  rebus  orientalibus  statt 
England  Österreich  einen  refus  von  Rußland  erhalten  habe.  Dies 
habe  natürlich  in  Österreich  sehr  verschnupft  und  die  Dreibundmächte 
stutzig  gemacht.  Als  Folge  davon  rührten  dieselben  sich  jetzt  auch 
nicht  mehr,  und  da  England  ganz  zurückgetreten  sei,  sei  die  ganze 
Angelegenheit  zu  einer  Farce  degradiert,  wobei  die  Türken  uns  andere 
alle  weidlich  auslachten.  Der  Oberst  Swaine  war  tief  betroffen  und 
erklärte  positiv,  daß  er  die  Angelegenheit  noch  nie  in  dem  Lichte 
gesehen  habe,  daß  aber  ganz  bestimmt  die  englische  Regierung  die 
feste  Absicht  habe,  immer  loyal  zu  handeln  und  stets  über  ihre  Schritte 
die  Mächte  zu  orientieren;  er  wisse  dies  um  so  sicherer,  als  er  be- 
stimmte briefliche  Mitteilungen  aus  englischen  Regierungskreisen  habe, 
daß  seine  Konversation,  welche  er  mit  mir  vor  zwei  Monaten*  gehabt 
hätte,  und  welche  er  nach  London  gemeldet  hatte,  als  ein  so  wichtiges 
Dokument  angesehen  worden  sei,  daß  man  sie  habe  drucken  und  an 
alle  Mitglieder  des  Kabinetts  verteilen  lassen.  Diese  Meldung  habe  mit 
dem  Satz  geschlossen,  daß  er  inständigst  bäte  und  darauf  hinweise, 
daß  es  dringend  geboten  sei,  den  Wunsch  des  Deutschen  Kaisers  wohl 
zu  beherzigen,  daß  England  in  der  großen  Politik  im  Orient  keinen 
entscheidenden  Schritt  tun  möge,  ohne  zuvor  sämtliche  Dreibundmächte 
darüber  informiert  zu  haben.  Er  habe  diesen  Punkt  für  so  eminent 
wichtig   gehalten,    daß    er    denselben    Satz   in    einem    Privatbriefe    an 


*  Siehe  Bd.  XI,  Kap.  LXIII,  Nr.  2579. 
252 


Lord  Salisbury  nochmal  wiederholt  und  dem  Premier  besonders  ans 
Herz  gelegt  habe,  um  allem  Mißtrauen  und  Mißverständnissen  ein 
für  allemal  vorzubeugen.  Das  Schriftstück  habe  einen  solchen  Ein- 
druck gemacht,  daß  Goschen  ihm  noch  neulich  geschrieben  habe 
„it  is  the  most  important  documcnt  that  you  have  ever  sent  us  from 
Berlin".  Indem  ich  ihm  für  diese  Mitteilung  dankte,  erwiderte  ich, 
es  schiene  mir  doch,  als  ob  man  die  Mahnung  in  London  etwas  ver- 
gessen habe.  Denn  es  seien  mir  Nachrichten  zugegangen  aus  Wien 
und  Rom,  welche  ein  gleichzeitiges  Vorgehen  der  englischen  Bot- 
schafter erkennen  Heßen,  welches  zum  Zweck  habe,  diese  beiden 
Staaten  zu  weiterer  Aktivität  in  der  armenischen  Frage  zu  poussieren. 
Berlin  sei  dabei  unberücksichtigt  geblieben.  Diese  Versuche  seien 
selbstverständlich  mit  der  berechtigten  Bemerkung  a  limine  abge- 
wiesen worden,  das  sei  gerade  Englands  Sache,  Vorschläge  zu  machen, 
da  England  die  ganze  Affäre  eingerührt  habe.  Der  Zug  unverhohlenen 
Erstaunens  auf  des  braven  Obersten  Antlitz  zeigte  mir,  daß  er  von 
dieser  neuesten  Phase  noch  nichts  wußte.  Das  Erstaunen  jedoch 
wechselte  mit  unverhohlenem  Schrecken,  als  ich  ihm  mitteilte,  daß 
England  nach  Mitteilungen  neuesten  Datums  an  Rußland  die  Offerte 
eines  mit  Rußland  zu  teilenden  Kondominiums  über  Stambul*  ge- 
macht habe,  natürlich  ohne  uns  anderen  vorher  etwas  davon  mit- 
zuteilen. Er  rief:  „Oh  really,  these  news  are  most  distressing  for  me. 
For  I  hoped  that  after  my  last  report  such  surprises  would  not  happen 
again."  Darauf  fragte  er  mich,  wie  die  russische  Antwort  auf  den  Vor- 
schlag ausgefallen  sei.  Ich  erwiderte,  kategorische  Ablehnung.  Darauf 
meinte  der  Oberst,  das  wäre  doch  eigentlich  nicht  hübsch ;  warum 
erkläre  denn  Rußland  nicht  rund  heraus,  es  ginge  nur  einer  nach 
Konstantinopel,  und  das  wäre  es  selber,  dann  wüßten  wir  alle  doch, 
woran  wir  wären.  Hingehen  werde  es  doch  einmal  und  daran  könnte 
man  es  auf  die  Dauer  nicht  hindern,  und  dann  hätte  doch  endlich  diese 
Frage  mal  Ruhe.  Ich  erwiderte  darauf,  das  sei  gar  nicht  Rußlands 
Sache  und  träfe  auch  hier  bei  dem  englischen  Vorgehen  nicht  zu. 
England  habe  die  Frage  angeschnitten,  England  wolle  die  Türkei 
anscheinend  aufteilen  oder  anderweitig  verwalten  lassen,  mit  anderen 
Worten,  wolle  ein  Aufhören  des  augenblicklichen  Zustandes  (status 
quo).  Das  bedinge  einen  Bruch  oder  Auflösung  des  Berliner  Ver- 
trages. Das  erstere  müßte  es  auf  seine  eigene  Kappe  nehmen  und, 
wenn  es  Schneid  hätte,  durch  Forcierung  der  Dardanellen  erreichen. 
Dieses  setzte  ich  als  ausgeschlossen  voraus.  Das  zweite,  die  Auf- 
lösung des  Berliner  Vertrages  und  damit  verbundene  Teilungsprojekte 
der  Türkei,  könne  es  nur  zustande  bringen  mit  Einwilligung  sämtlicher 
Signatarmächte  des  Vertrages.  Um  diese  zu  erreichen,  gehörten  formu- 
lierte  Anträge   und   Vorschläge.    Und    um    diese    wiederum    bei    den 

*  Vgl.  Nr.  2570. 

253 


Mächten  anzubringen,  gehörten  überall  gleichzeitig  offen  und  ehrlich 
gemachte   Anfragen   und   Vorbesprechungen    (pourparlers). 

Resume  —  daher  sei  nicht  Rußland  an  der  Reihe,  sich  zu  äußern, 
denn  Rußland  wolle  ja  augenblicklich  den  Status  quo  gar  nicht  ändern, 
sondern  England  habe  das  Wort,  und  müsse  dieses  Wort  rieht  mit 
einer  Macht  allein  hinter  dem  Rücken  der  anderen  gesprochen  werden, 
sondern  mit  allen  gleichmäßig  und  offen,  wie  das  unter  kontinentalen 
Mächten  Sitte  sei.  Der  Oberst  gab  dies  auch  zu.  Er  kam  dann  wieder 
auf  das  Teilungsprojekt  zurück  und  regte  dabei  auffallenderweise  den- 
selben Gedanken  an,  den  die  Kaiserin  Friedrich  in  Rumpenheim* 
schon  ventiliert  hatte,  ob  nicht  aus  Konstantinopel  und  Umgegend 
(inkr.  Dardanellen)  ein  Freistaat  unter  allgemeiner  Garantie  gegründet 
werden  könnte  mit  freier  Durchfahrt  der  Kriegsschiffe  für  alle  Mächte? 
oder  ob  man  vielleicht  den  Russen  das  ganze  nördliche  europäische 
Ufer  von  Konstantinopel  mit  Gallipoli  einräumen  solle,  dann  hätten 
sie  wenigstens  die  Hälfte  der  Batterien  in  der  Hand  und  ungehinderte 
Durchfahrt?  Ich  erwiderte,  das  sei  Kombinationspolitik,  und  da  Eng- 
land anscheinend  Vorschläge  bereit  habe,  so  solle  es  erst  mit  den- 
selben mal  herauskommen,  das  übrige  würde  sich  finden.  Er  er- 
sehe aber  hieraus,  daß  das  Verhalten  Englands  in  der  letzten  Zeit 
auf  diplomatischem  Gebiet  dergestalt  zweideutig  und  fragwürdig  sei, 
daß  ihm  keine  der  europäischen  Kontinentalmächte  mehr  über  den 
Weg  traue;  daß  ferner  alle  Kontinentalmächte,  wie  er  aus  meiner 
allseitigen  Information  erkennen  könne,  vollkommen  einig  seien,  in 
dieser  Frage  gemeinsam  vorzugehen  im  Vertrauen  auf  die  Friedens- 
liebe des  Deutschen  Kaisers,  denselben  au  courant  hielten,  um  seines 
Einverständnisses  sicher  zu  sein.  Daß  alle  Staaten  mehr  oder  minder 
aus  den  eigentümlichen  Manövern  der  englischen  Diplomatie  (nach- 
dem sie  vergeblich  bemüht  gewesen  seien,  auf  den  Grund  der  eng- 
lischen Wünsche  zu  gelangen)  den  nicht  unberechtigten  Verdacht  ge- 
schöpft hätten,  England  wolle  sie  untereinander  verfeinden  und  gegen- 
einander ausspielen.  Ich  könnte  ihm  unter  vier  Augen  in  aller  Freund- 
schaft versichern,  daß,  falls  dieses  —  was  ich  aber  nicht  annehmen 
wolle  —  Englands  Absicht  gewesen  sei,  es  kein  Glück  damit  haben 
werde,  sondern  den  Kontinent  als  einen  festen  Block  sich  gegenüber 
finde  in  dem  Bestreben  der  Erhaltung  des  europäischen  Friedens. 
Aus  alter  Freundschaft  spräche  ich  offen  mit  ihm  und  müsse  ihm  be- 
stimmt erklären,  daß  die  Zeiten  vorüber  seien,  wo  auf  dem  Kontinent 
eine  Macht  sich  fände,  die  für  englische  Interessen  ins  Feuer  gehe. 
Wir  hätten  alle  das  Interesse  der  Selbsterhaltung  und  des  Wohles 
unserer  Völker  im  Auge.  Wünsche  England  Verbündete  oder  Helfer, 
so  müsse  es  von  seiner  Politik  der  freien  Hand  abgehen  und  den  Be- 
treffenden   nach    kontinentaler   Art    Garantien    oder   Verträge    geben, 

*  Siehe  Nr.  2463. 
254 


daß  es  für  die  Folgen  stehe  und  vor  allen  Dingen  selbst  handele. 
Ich  sei  selber  ein  halber  Engländer  und  wisse  ganz  genau,  daß  sie 
stolz  auf  ihr  Prestige  und  auf  ihre  Macht  seien  und  mißmutig  über 
manches  bei  uns,  zumal  über  unseren  wachsenden  Handel,  über  das 
„made  in  Germany".  Das  Prestige  sei  aber  nicht  mehr  dasselbe  wie 
früher.  England  habe  zu  meinem  tiefen  Kummer  seit  der  letzten 
radikalen  Regierung  in  allen  Teilen  der  Welt  so  gekniffen,  daß  man 
anfange,  daran  zu  zweifeln,  ob  es  überhaupt  noch  Fähigkeit  und 
kriegerischen  Sinn  genug  besitze,  um  seinem  Worte  Geltung  zu  ver- 
schaffen, denn  Prestige  werde  nur  durch  schneidige  Tätigkeit  und 
Handeln  aufrechterhalten,  nicht  aber  durch  diplomatisches  Pinassieren 
und  Ausweichen.  Wolle  es  Neuordnungen  im  Orient  anstreben,  welche 
seine  hundertjährige  Mittelmeerpolitik  ein  für  allemal  außer  Kurs  setzten, 
so  sei  das  seine  Sache,  es  dürfe  aber  nicht  diese  Schwenkungen  heim- 
lich vollziehen  und  unter  dem  Deckmantel  vorgeschützter  Tätigkeit 
Verbündete  heranziehen,  welche  es  dabei  reinfallen  lassen  wollte.  Ich 
bäte  ihn  daher  dringend,  in  geeigneter  Weise  dahin  zu  wirken,  daß 
durch  offene  und  ehrliche  Aussprache  mit  uns  allen  das  Vertrauen 
in  England  wiederhergestellt  werde,  da  es  ja  als  große  und  mächtige 
Monarchie  ein  so  wichtiger  Faktor  im  europäischen  Kultur-  und  Staaten- 
Icben  sei  und  ein  Mitwächter  über  das  monarchische  Prinzip.  Ich 
endete,  indem  ich  dem  Obersten  bemerkte,  daß  unser  Gespräch  rein 
privater  Natur  sei,  als  unter  zwei  alten  Bekannten  geführt,  nicht  als 
vom  Kaiser  zum  Militärattache,  und  könne  er  in  vertraulicher  Weise 
in  London  davon  Gebrauch  machen. 

Gleichzeitiges  Telegramm   an   sämtliche   Botschaften   noch   heute. 

Wilhelm  I.  R. 


Nr.  2573 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  21.  Dezember  1895 
Der  englische  Botschafter  teilte  mir  heute  mit,  Seine  Majestät 
der  Kaiser  habe  gestern  eine  längere  Unterredung  mit  Colonel  Swaine 
gehabt  und  dabei  erwähnt,  das  englische  Kabinett  habe  vor  kurzem 
in  Petersburg  den  Vorschlag  gemacht,  Konstantinopel  zum  russisch- 
englischen Kondominium  zu  machen.  Diese  Mitteilung  habe  ihn 
erstaunt,  da  er  in  Petersburg  niemals  einen  derartigen  Auftrag  ge- 
habt habe*;  ob  wir  etwa  amtlich  etwas  davon  wüßten?  Ich  entgegnete 


*  Sir  F.  Lascelles  war  vor  seiner  Berufung  nach  Berlin  Botschafter  in  Petersburg 
gewesen. 

255 


Sir  Frank,  daß  die  Tatsache,  daß  eine  solche  Anregung  in  Petersburg 
erfolgt  sei,  nach  unseren  Informationen  nicht  bezweifelt  werden  könne; 
ob  man  von  einem  „Vorschlag"  im  eigentlichen  Sinne  reden  könne, 
sei  eine  formelle  Frage  von  untergeordneter  Bedeutung. 

Sir  Frank  Lascelles  hob  dann  hervor,  wie  die  offenen  Aussprachen 
Seiner  Majestät  zu  Colonel  Swaine  der  englischen  Regierung  nur  er- 
wünscht sein  könnten,  da  sie  auf  diese  Weise  von  den  Intentionen 
und  Auffassungen  des  Monarchen  Kenntnis  erhielte,  daß  er  auch 
wisse,  wie  freundschaftlich  die  Gefühle  seien,  die  Seine  Majestät  für 
England  hege,  während  andererseits  bedauerlicherweise  auch  ein  ge- 
wisses Mißtrauen  gegen  das  englische  Kabinett  hervortrete,  welches 
das  letztere  nach  seiner  Überzeugung  nicht  verdiene. 

Ich  entgegnete,  daß  wir  der  Person  Lord  Salisburys  kein  Miß- 
trauen entgegenbrächten!,  daß  aber  allerdings  die  Haltung  des 
Londoner  Kabinetts  in  der  armenischen  Frage*  bis  jetzt  unser  Ver- 
trauen nicht  gewonnen  habe.  Vielleicht  rühre  dies  zum  Teil  daher, 
daß  Lord  Salisbury  in  der  armenischen  Frage  die  Politik  Gladstones 
fortsetze,  gegen  dessen  Intentionen  wir  stets  gerechtes  Mißtrauen 
gehegt  hätten.  Aber  auch  in  Lord  Salisburys  gegenwärtiger  Politik 
trete  das  Bestreben,  unsere  Alliierten  in  der  Orientfrage  zu  engagieren, 
ohne  sich  seinerseits  zu  binden,  unverkennbar  hervor,  und  dieser 
Politik  könnten  wir  die  Wege  nicht  ebnen,  ohne  unsere  eigenen  Inter- 
essen schwer  zu  verletzen.  Schon  in  dem  Augenblick,  als  das  öster- 
reichisch-ungarische und  das  italienische  Geschwader  sich  den  türki- 
schen Gewässern  genähert,  habe  man  ein  Zurückweichen  Englands 
wahrnehmen  können;  seit  jener  Zeit  versuche  das  Londoner  Kabinett 
fortwährend  das  Wiener  und  das  Römer  Kabinett  zu  neuer  Initiative 
in  der  armenischen  Frage  zu  bewegen,  die  doch  von  Rechts  wegen 
England  als  dem  Autor  der  ganzen  Sache  zukomme,  gleichzeitig  weise 
man  jeden  Gedanken  einer  Erweiterung  und  Vervollständigung  des 
Abkommens  vom  Jahre  1887  a  limine  zurück.  Ich  wolle  dem  Bot- 
schafter ganz  offen  sagen,  daß,  wenn  diese  englischen  Bestrebungen 
in  Wien  und  Rom  ohne  Erfolg  geblieben  seien,  daran  vornehmlich  die 
Ratschläge  schuld  seien,  die  wir  unsern  Alliierten  gegeben;  ich  glaubte 
sogar,  daß  auch  in  Zukunft  solchen  englischen  Anträgen  die  Ab- 
lehnung gewiß  sei.  Es  sei  zweifellos,  daß  jede  auf  englisches  Be- 
treiben unternommene  Initiative  Österreich-Ungarns  in  der  orientali- 
schen Frage  an  dem  Widerstand  Rußlands  scheitern  werde.  Davon 
würden  die  Beziehungen  Rußlands  und  Österreich-Ungarns  tangiert 
und  wir  in  direkte  Mitleidenschaft  gezogen.  Wir  könnten  nicht  dulden, 
daß  Österreich-Ungarn  niedergeschlagen  oder  erheblich  geschwächt 
werde.  Jede  Verschlechterung  der  Beziehungen  zwischen  Österreich 
und  Rußland  enthalte  für  uns  den  Keim   eines  großen  Krieges  nach 

♦  Vgl.  auch  Kap.  LXI. 
256 


zwei  Fronten.  Denn  der  Botschafter  werde  wohl  nicht  glauben,  daß 
Frankreich  still  halte  2,  wenn  wir  nach  Osten  engagiert  seien.  Wegen 
der  orientalischen  Frage,  die  uns  direkt  gar  nicht  angehe,  ein  solches 
Risiko  zu  laufen,  könne  niemand  uns  zumuten,  auch  wenn  noch  zehnmal 
soviel  Armenier  massakriert  würden.  Wenn  England  fortfahre,  unsere 
AUiierten  vorzuschieben,  ohne  selbst  irgendeine  VerpfHchtung  ein- 
zugehen oder  ein  amtliches  Risiko  zu  übernehmen,  während  man 
gleichzeitig  in  Petersburg  über  ein  Kondominium  Konstantinopels  rede, 
so  sei  dies  keine  PoHtik,  die  uns  Vertrauen  einflößen  könne,  so  sehr 
wir  auch  geneigt  seien,  mit  England  in  guten  Verhältnissen  zu  leben  2. 
Ich  wisse,  daß  man  auch  in  England  uns  mißtraue  und  den  Ver- 
dacht habe,  daß  wir  zurzeit  russische  Politik  trieben.  Der  Verdacht 
sei  unbegründet;  zwischen  uns  und  Petersburg  bestehe  nichts,  was 
wir  zu  verheimlichen  hätten.  Wir  seien  nur  überzeugt,  daß  Rußland 
zurzeit  aufrichtig  die  Erhaltung  des  Status  quo  im  Orient  auf  dem 
Boden  der  Verträge  wünsche  und  allen  Abenteuern  und  Experimenten 
abgeneigt  sei,  während  wir  die  gleiche  Überzeugung  bezüglich  der 
englischen  Politik  bis  jetzt  nicht  zu  gewinnen  vermöchten.  Die  Art, 
wie  man  in  London  den  Sultan  behandle,  die  mehr  oder  minder  offenen 
Versuche,  einen  Thronwechsel  herbeizuführen,  ohne  daß  man  die 
Gewißheit  habe,  ob  ein  besserer  Sultan  nachkäme,  das  Auftreten 
Sir  PhiHp  Curries  in  Konstantinopel  usw.,  all  dies  seien  nicht  gerade 
beruhigende  Symptome,  und  es  sei  daher  erklärlich,  daß  unsere  Politik 
sich  mehr  in  der  russischen  als  in  der  englischen  Linie  bewege.  Sollte 
England  ernstlich  gesonnen  sein,  sich  mit  unsern  Alliierten  über 
kommende  Eventualitäten  auf  der  Basis  völlig  paritätischer  bindender 
Verpflichtung  zu  verständigen,  so  würden  wir  dies  mit  lebhafter  Freude 
begrüßen.  Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  Abschrift: 
1  Richtig 

habe  ich  auch  wiederholt  an  Swaine  gesagt 
-  England  jedenfalls  wird  nichts  dazu  thun 
3  richtig 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Richtig 

Nr.  2574 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  Kaiser  Wilhelm  IL 

Ausfertigung 

Berlin,  den  23.  Dezember  1895 
Euerer   Kaiserlichen   und   Königlichen   Majestät   erlaube   ich   mir, 
anbei   ein   vom    englischen    Botschafter   mir  heute   übergebenes   Tele- 
gramm Lord  Salisburys  an  Sir  Frank  Lascelles  ehrfurchtsvoll  in  Vor- 

17    Die  Große  Politik.    10.  Bd.  2'37 


läge  zu  bringen.  Euere  Majestät  wollen  daraus  huldreichst  tntnehmen, 
daß  die  englische  Regierung  ^  erklärt,  ihrerseits  niemals  eine  Erwähnung 
des  Kondominatsgedankens  gegenüber  Rußland  veranlaßt  zu  haben. 

Marschall 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Die  Kerls  lügen  ja  ebenso  wie  die  Russen 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Radolin  soll  nun  aber  auf  Grund  dieser  Meldung  umgehend  Lobanoff  stellen! 

ich  lasse  mich  so  nicht  weiter  behandeln.    Entweder  Lobanow  oder  Salisbury, 

einer  hat  mich  frech  belogen  und  das  dulde  ich  nicht.  Ich  wünsche  telegraphische 

Antwort 


Anlage 

Der  englische  Premierminister  Lord  Salisbury  an  den  englischen 
Botschafter  in  Berlin  Sir  Frank  Lascelles 

Telegramm.    Unsignierte  Abschrift  vom  englischen  Botschafter  am  23.  Dezember 
dem  Staatssekretär  Freiherrn  von  Marschall  mitgeteilt 

reo«'-  December21.  1895. 
You  may  most  categorically  deny  that  the  idea  of  a  condominium 
at  Constantinople  between  England  and  Russia  has  ever  even  been 
mentioned  to   Russia  by  Her  Majesty's  Government. 


Nr.  2575 

Der  Botschafter  in  Petersburg  Fürst  von  Radolin  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  292  St.  Petersburg,  den  24.  Dezember  1895 

Fürst  Lobanow  sagte  mir  heute  im  Lauf  eines  längeren  Ge- 
sprächs zu  meinem  Erstaunen,  daß  ihm  gegenüber  England  die  Idee 
eines  Kondominiums  in  Cospoli  niemals  angeregt  habe  und  ihm  über- 
haupt nichts  davon  bekannt  sei^.  Ich  hielt  es  nicht  für  angezeigt,  der 
Mitteilung  des  Grafen  von  der  Osten-Sacken  an  Euere  Exzellenz* 
Erwähnung  zu  tun  und  behandelte  die  Nachricht  als  ein  mir  zu  Ohren 
gekommenes  Gerücht. 

Der  Minister  erzählte  mir  ferner,  daß  er  Herrn  von  Nelidow 
ermächtigt  habe,  sich  seinen  Kollegen  anzuschließen,  um  auf  die 
rebellischen   Armenier  in   Zeitun**   einwirken   zu  lassen,   behufs  Ver- 


*  Vgl.  Nr.  2570. 

**  Vgl.  Kap.  LXI,  Anhang,  Nr.  2480,  Fußnote  •. 

258 


ständigung  mit  den  Türken.  Die  Zeitungsnachrichten  über  Massakers 
in  Zeitun  seien  falsch,  und  die  Alarmberichte  aus  anderen  Orten  seien 
tendenziöse  Übertreibungen. 

Radolin 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Na  da  hört  doch  alles  aufl 


Nr.  2576 
Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  285  Wien,  den  26.  Dezember  18Q5 

Graf  Goluchovvski  hat  von  dem  englischen  Kondominatvorschlag 
gehört.  Er  teilt  mir  streng  vertraulich  mit,  daß  Herr  von  Szögyeny. 
durch  Sir  Frank  Lascelles  davon  erfahren,  welcher  jedoch  das 
kategorische  Dementi  von  Lord  Salisbury  zugleich  mitteilte. 

Graf  Goluchovvski  sagte  mir:  „Ich  halte  die  Sache  kaum  für  mög- 
lich und  glaube  eher  an  ein  neues  Lügengewebe  Fürst  Lobanows. 
Er  kann  aus  den  neuen  armenischen  Vorschlägen  sich  eine  solche  An- 
frage konstruiert  haben.  Andererseits  bekräftigt  mich  die  Geschichte, 
der  wahre  Sachverhalt  wird  wohl  niemals  erfahren  werden,  darin, 
den  neuen  accord  ä  trois  nur  so  abzuschließen,  daß  England  absolut 
gefesselt  ist"i. 

Ich   habe  den   Minister  gern   bei   dieser  Anschauung  belassen  2. 

Eulenburg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
'  Wenn  das  gelänge?! 
'  gut 


25g 


Dt. 


A     000  664  568