THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
RIVERSIDE
Die
Diplomatischen Akten
des Auswärtigen Amtes
1871-1914
Herausgegeben
im Auftrage des Auswärtigen Amtes
Die
Große Politik der
Europäischen Kabinette
1871-1914
Sammlung der Diplomatischen
Akten des Auswärtigen Amtes
Im Auftrage des Auswärtigen Amtes
herausgegeben von
Johannes Lepsius
Albrecht Mendelssohn Bartholdy
Friedrich Thimme
1
DEUTSCHE VERLAGSGESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8
10. Band:
Das türkische Problem
1895
1
DEUTSCHE VERLAGSGESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8
2. Auflage
Alle Rechte, besonders das der Obersetzung, vor-
behalten/Für Rußland auf Grund der deutsch-
russischen Übereinkunft / Amerikanisches Co-
pyright 1923 by Deutsche Verlagsgesellschaft
für Politik und Geschichte m. b. H. in Berlin
W 8, Unter den Linden 17/13 / Amerikanische
Schutzzollformel: A\ade in Germany / Gesetzt
in der Buchdruckerei Oscar Brandstetter in
Leipzig / Gedruckt in der Buchdruckerei
F. E. Haag in Melle i. H.
Inhaltsübersicht des zehnten Bandes
KAPITEL LX
Salisburys Aufteilungsplan. Cowes 1895 1
KAPITEL LXI
Salisbury und die Armenische Frage Juli bis Dezember 18Q5
A. Vom Antritt des neuen Kabinetts Salisbury bis zur Annahme des
Armenischen Reformpianes Juli bis Oktober 1895 37
B. Das Fiasko des „Armenischen Dreibundes" 89
Anhang: Die Episode von Zeitun 129
KAPITEL LXII
Versuche einer Neugruppierung der Mächte. Graf Goluchowskis Fiasko
2. Hälfte 1895
A. Goluchowskis Balkanpolitik 137
B. Österreichs Vorstoß in der Orientfrage und Englands Zurück-
weichen. Flottendemonstration und Stationärfrage 167
C. Versuche einer Aktivierung der Entente ä trois 199
Anhang: Ein Russisch- Englisches Kondominium in Konstantinopel? 247
Ein Namenverzeichnis für die Bände VII— XII erscheint am Schlüsse des
XII. Bandes; ein ausführliches Namen- und Sachverzeichnis zum Schlüsse
des gesamten Werkes
Kapitel LX
Salisburys Aufteilungsplan
Cowes 1895
1 Die Große Politik. 10. Bd.
Nr. 2369
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 130 Rom, den 15. Juli 1895
Geheim
Am 12. d. Mts. erhielt ich von Baron Blanc das nachstehende
Billett: „Cher Ambassadeur! Avant votre depart j'espere que nous
causerons encore. J'aurai ä vous remettre un petit memoire tout-ä-fait
objectif. Mille amities cordiales. (gez.) A. Blanc." Als ich gestern dem
Minister des Äußern vor Antritt meines Urlaubs meinen Abschieds-
besuch machte, übergab mir derselbe das anliegende sekrete Aide-
memoire* mit dem Bemerken, daß dasselbe seine innerste Ansicht (ma
pensee intime et sincere) über die italienische auswärtige Lage ent-
halte. Der Minister fügte hinzu, daß er beabsichtige, dieses Memoire
den italienischen Botschaften in Berlin, Wien und London zur In-
formation und als Direktive mitzuteilen.
Nach Durchsicht der beigeschlossenen Piece sagte ich Baron Blanc,
ich könne ihm nicht raten, derselben die Form eines Erlasses an die
italienischen Vertreter bei den verbündeten und befreundeten Höfen
zu geben. Ich könne ihm auch nicht versprechen, dieses Memoire
meiner hohen Regierung vorzulegen. Ich betrachte sein Memoire zu-
nächst nur als Schriftstück, dessen Lektüre mir während meines Ur-
laubs die Möglichkeit bieten werde, mich in seinen Anschauungen und
Gedankengängen noch besser als bisher zurechtzufinden.
Als ich Baron Blanc darauf aufmerksam machte, daß sein Aide-
memoire bei vielen und nicht immer begründeten Klagen kein prak-
tisches Petitum enthalte, erwiderte derselbe, daß seine tatsächlichen
Wünsche sich in zwei Worten zusammenfassen ließen: Zeila und
Harrar**. Im Anschluß hieran verbreitete sich Baron Blanc in längerer
Auseinandersetzung über das, was nach seiner Meinung an dem einen
wie an dem anderen Punkte geschehen müßte, um die italienische
* Siehe die Anlasfe.
♦* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV.
Position zu c-lciclitcrn. Um Unklarheiten und Übertreibungen vor-
zubeugen, ersuclite icii den Minister des Äußern um tuniiclist präzise
Formulierung seines diesbezüglichen Standpunkts und notierte unter
seinem Diktat nachstehendes: ,,Pour la paix en Afrique et pour des
rapports satisfaisants envers les deux puissances, la France et la Russie,
qui ne reconuaissent pas le protectorat Italien, il est imprudent de ne
pas songer ä une Solution de la question de l'Ethiopie. Cette Solution
n'existe pas dans des guerres indefinies du Tigre en direction du
Sud et dans une extension indefinie et coüteuse de Tadministration
italienne jusqu'au Schoa. La vraie Solution est celle dont nous avons
dcja pose les bases avec l'Angleterre dans les negociations avec le
Ministere Rosebery pour Zeila et pour le Harrar, oii notre influenae
etant une fois assuree de fait il ne serait meme plus necessaire de
faire une expcdition militaire au Harrar pour que la rebellion dans le
Schoa isole se dissolve elle-meme. La France sauf ä signer ou non
la dclimitation convenue en 1891* nous declare que hors de ces
limites ä determiner eile n'entend point exercer d'action politique
au delä. La Russie declare de son cote qu'elle n'a en Abyssinie d'autres
interets que des interets ecclesiastiques, auxquels nous sommes in-
differents entre Popes et Lazaristes. L'Angleterre pourrait donc sans
aucun risque de conflit international nous laisser la porte meridionale
de notre protectorat, qui est Zeila, ce qui assurerait la paix dans
l'Abyssinie et mettrait fin ä une Situation ä laquelle nous ne voudrions
pas voir prendre un caractere international. Pour Zeila ä defaut de
cession — ou bien de Condominium, qui serait agreable en nous
liant ä l'Angleterre — nous nous sommes reduits dernierement ä
nous contenter de la presence ä Zeila d'un Commissaire civil avec
drapeau Italien. Devant la coalition bien connue des Abyssins et des
Derviches et devant le droit de l'Angleterre affirme dans la declaration
du 5 mai 1894 de proteger sa ligne de confins avec le Harrar, il serait
naturel que les deux puissances solidaires puissent l'une et l'autre
diriger de Zeila l'action tutelaire qui serait opportune pour la tran-
quillite du Harrar."
Das Blancsche Aide-memoire trägt den Stempel der Eigenart dieses
eigenartigen Politikers. Soweit mir ein Urteil über dasselbe gestattet
ist, scheint es mir aus Wahrem und Falschem gemischt. Richtig ist,
daß sich Italien am Roten Meer in schwieriger Lage befindet. Wenn
den Italienern in Äthiopien etwas Unangenehmes passierte, würde hier
die Regierung — und unter Umständen noch mehr als die Regierung —
kopfüber gehen. Richtig ist auch, daß Frankreich und Rußland be-
strebt sind, Italien in Afrika Schwierigkeiten zu bereiten, um dasselbe
♦ Gemeint ist das Abkommen zwischen Großbritannien und Italien vom 24. März
und 15. April 1S91 über die Abgrenzung der beiderseitigen Einflußsphären im öst-
lichen Sudan.
auf diese Weise einzuschüchtern oder lahmzulegen. Daß wenigstens
die Franzosen hier im letzten Ende den Umsturz des Bestehenden, die
Auflösung des italienischen Einheitsstaates und die Föderativrepublik
anstreben, ist auch zweifellos. Falsch ist außer manchem andern, daß
Baron Blanc dem wesentlich defensiv angelegten Dreibund einen
aktiveren, wenn nicht offensiveren Charakter geben will. Die bloße
Tatsache, daß Italien zurzeit militärisch nichts weniger als aktions-
fähig ist, beweist das Irrige und Gefährliche dieser Auffassung. Richtig
ist endlich — und dies bleibt freilich die Hauptsache — , daß, wenn
England wirklich die Aufrechterhaltung des Status quo in Italien wie
im Mittelmeer will, es den italienischen Interessen in Äthiopien mehr
Rechnung tragen und sich für dieselben mehr einsetzen muß, als dies
unter dem Kabinett Rosebery der Fall war. Was das Wiener Kabinett
betrifft, so dürfte es wünschenswert sein, daß dasselbe namentlich
in der Form hier den Anschein vermiede, als ob es die italienischen
Afrika- und Mittelmeerinteressen völlig als quantitc ncgligeable be-
trachtete. An unserem Wohlwollen für Italien zweifelt Baron Blanc
im Grunde nicht. Ich habe jede Gelegenheit benutzt, um nicht nur
Baron Blanc, sondern auch Herrn Crispi und Seiner Majestät dem König
Humbert Besonnenheit und Maßhalten in Nordostafrika als Vor-
bedingung alles weiteren anzuempfehlen.
Ich darf mir vorbehalten, über die mannigfachen und komplizierten
Fragen, welche die Blancsche Aufzeichnung berührt, während meiner
Anwesenheit in Berlin (in der zweiten Hälfte August) auch mündlich
ehrerbietigen Vortrag zu halten.
B. von Bülow
Anlage
Aide Memoire.
Unsignierter Abdruck, von dem italienischen Minister des Äußeren Baron Blanc
am 14. Juli dem Botschafter Bernhard von Bülow übergeben
La Russie vient de declarer finalement qu'elle considere Menelik
comme souverain independant et qu'elle a le droit, ne reconnaissant
pas le protectorat Italien, d'avoir avec Menelik tels rapports qu'il
lui convient.
Ainsi se realise le projet, annonce depuis longtemps ä Paris,
de trouver en Abyssinie, faute de mieux, un terrain d'action de l'alliance
franco-russe; et cette action, se traduisant dans un appui moral et
materiel contre Tltalie ä ceux que I'alliance franco-russe considere,
non comme en rebellion, mais comme en guerre reguliere avec Tltalie,
ä ceux qui annoncent ä Paris et ä Petersbourg la continuation prochaine
des hostilites contre nous, constitue une provocation non dissimulee
contre la triple alliance.
5
C'est en effet comme alliee des puissances centrales
— le gouvernement frangais nous l'a plusieurs fois repete — que
ritalic a cte declaree par la France d'abord, et par la Russie maintenant,
hors la loi europeenne en ce qui concerne les regles etablies pour
l'Afriquc par les actes de Berlin et de Bruxelles. Et pour obtenir
de la France et de la Russie les benefices des Conventions inter-
nationales, ritalie, ä ce qui lui a ete declare formellement par la
France, doit sortir de la triple alliance.
On n'a pu l'y forcer par la guerre economique et par la propagande
radicale; on espere y arriver par Tisolement diplomatique, en vertu
des dcclarations repetees des puissances centrales, qu'elles se des-
interessent des questions nous concernant dans la Mediterranee et
en Afrique; et les hostilites prochaines en Abyssinie restent l'attente
des adversaires de l'alliance au dehors et au dedans, l'espoir de ceux
qui veulent une revolution en Italic.
Le groupe franco-russe, d'ailleurs, se montre sur tous les points
decide ä une communaute d'action qui lui donne une force que notre
groupe ä nous ne trouve pas dans des accords consideres comme
prives, en temps de paix, de toute application pratique. Le groupe
franco-russe ressemble ä une armee qui manoeuvre en face d'une
armee qui ne manoeuvre pas; et tandis qu'il agit seit contra nos
interets exterieurs, soit ä l'interieur meme par des moyens que nos
allies semblent ignorer, et qui se relient ä un programme de federalisme
ouvertement avoue par le Vatican comme par les sectes republicaines,
la dissolution de fait de la triple alliance a pu etre annoncee dans des
cercles officiels ä Paris, ä Petersbourg, ä Constantinople et ä Madrid,
Sans qu'aucun fait reliant les allies dans un interret palpable soit venu
repondre aux faits sur lesquels chaque jour se consolide la solidarite
franco-russe.
La question de savoir s'il existe entre la France et la Russie des
engagements ecrits semblables ä ceux qui dorment dans les armoires
de la triple alliance, parait, en presence de cette Situation de fait,
d'une importance pratiquement secondaire.
Pour rendre vivante l'alliance dont I'Italie fait partie, pour lui
assurer une adhesion durable de la conscience italienne, pour la
consolider ä travers tout changement de personnes au pouvoir, nous
avons cherche ä la fonder sur des interets reels dans la paix, sur des
situations de fait oü l'interet Italien se sentit effectivement lie aux
interets de l'alliance.
En presence de ce que les adversaires de l'alliance en Italic
qualifient d'indifference des deux empires envers nos interets, de
sacrifice meme de nos interets aux combinaisons que les deux empires
ont faites, ä notre detriment parfois, avec la France en Afrique et avec
la Russie en Orient, nous n'avons pas voulu prendre occasion et
6
pretexte de ces memes combinaisons de nos allies, pour cvolucr ä
notre tour, vers la France, qui nous a souvent invites ä une action
commune en Egypte, et qui nous a declare que Tripoli payerait en
cas de complication une attitude de notre part semblable ä celle de
1866; ni vers la Russie, qui nous reproche d'avoir oublie nos ancienncs
solidarites anti-autrichiennes en Orient; nous avons repudie l'idce
de chercher une garantie contre les obligations du casus foederis
dans une mediation russe; nous avons defini ouvertement et loyale-.ncnt,
envers la France et la Russie, nos intcrets et nos droits, dans la
question de notre colonie comme dans les autres questions, en vue
d'une politique de paix et de respect reciproque; et, pour assurer en
tout cette paix sans pretendre engager malgre eux nos allies dans
nos interets les plus legitimes, nous avons cherche, meme dans la
Periode defavorable marquee par le dernier cabinet britannique, ä
preparer autant quMl dependait de nous un retour ä la vraie base de
notre politique nationale, c'est-ä-dire ä l'entente entre la triple alliance
et l'Angleterre.
Nous n'avons point fait ä Londres un appel, auquel notre dignite
se refusait, pour une confiance que les faits seuls pourraient retablir;
nous n'avons attendu du cabinet Rosebery ni Cooperation, ni reci-
procite; nous n'avons demande ä l'Angleterre ni engagements, ni
eclaircissements sur sa politique, tandis que nous engagions et mettions
hors de doute la notre.
Nous avons ä nos risques et perils attire sur nous les forces des
derviches, et rendu plus süre contre toute attaque Toccupation anglaise
de l'Egypte, comme l'a reconnu le rapport Cromer; nous avons confirme
le droit d'influence de l'Angleterre sur le Nil; nous avons tenu tete
ä une coalition d'abyssins et de derviches, encourages et assistes par
le groupe franco-russe, sans nous plaindre de l'encouragement de
fait que trouvait cette coalition dans la circonstance que la porte de
notre protectorat dans le sud, le port de Zeyla, nous restait ferme;
nous avons fait, seuls, dans les incidents hispano-marocains, une
politique qui etait precisement la politique traditionnelle de l'Angleterre,
meme quand le dernier cabinet anglais y faisait une politique ä la
frangaise, meme quand il poussait ainsi vers la France l'Espagne,
que nous tächions au contraire de relier ä notre groupe et ä nous;
nous avons au debut des affaires d'Armenie donne ä l'Angleterre
l'appui qu'elle nous demandait ä Constantinople, sans nous plaindre
qu'en suite eile nous quittät pour une combinaison sterile avec la
Russie et la France; nous avons dans les affaires de l'Extreme Orient,
echange des le debut avec l'Angleterre des dispositions ä une action
eventuelle commune, qui ne se sont point dementies de notre part,
meme quand l'Allemagne a juge bon de se joindre aux demarches
franco-russes; le cabinet actuel a enfin, par sa rectitude invariable
de conduite envers les allies et envers l'Angleterre, attire sur l'Italie
seule les attaques et les difficultes que le groupe franco-russe dirige
naturellement sur eile, Tltalie ctant le cöte de la triple alliance que
les allies ont neglige de fortifier.
Teile est la Situation ä ravenement du cabinet Salisbury, qui
coincide avec la presence au pouvoir en Italie d'hommes qui ont
persiste malgre tout ä fonder notre politique sur la triple alliance
et sur les solidarites italo-anglaises.
En ce qui concerne le cabinet de Vienne, bien qu'il ne se soit
pas prete ä notre entente avec l'Angleterre dans la question armenienne,
en alleguant que cette question n'interessait pas TAutriche-Hongrie,
nous n'avons pas hesite, lorsque s'est manifeste la liaison naturelle
des affaires d'Armenie avec celle de Macedoine, ä repondre ä l'appel
que l'Autriche-Hongrie nous a adresse pour une demarche ä Sofia,
dans laquclle semble se reconstituer, ce qui serait d'un bon augure,
le groupe des quatre puissances.
Bien que TAutriche-Hongrie ait cru süffisant le renouvellement
pur et simple d'accord avec l'Espagne, qui n'avaient servi qu'ä faire
abonder l'Espagne en gages envers la France contre toute solidarite
reelle avec nous, et qui pourraient constituer sous nos successeurs
le point de depart d'un pacte occidental supprimant les Pyrenees
comme sous Louis XIV, et supprimant les Alpes comme aux temps
de la Republique Cisalpine, nous avons travaille pour la triple alliance
malgre les allies memes en quelque sorte, en insistant pour que
l'entente italo-espagnole proposee ne füt plus illusoire ni mensongere,
et qu'un pacte derisoire ne vint pas mettre une equivoque dans les
relations des maisons souveraines, un sceau de plus au sacrifice de
nos interets mediterraneens et africains.
Notre fermete est invariable, mais nous sommes dans un moment
historique qui doit decider si l'Italie, en fondant ses interets pacifiques
sur la triple alliance et sur l'Angleterre, a ete le jouet d'une utopie.
Notre diplomatie n'a point pour Instruction de frapper ä des
portes qui ne s'ouvrent pas toutes grandes devant eile. De meme
qu'elle a fait son devoir, nos forces feront le leur devant les attaques
prochaines promises par les abyssins ä Petersbourg et ä Paris,
Le casus foederis, que nous n'avons jamais pris l'initiative
de poser, ayant ete formellement pose par la France et la Russie contre
l'Italie, la triple alliance est mise en demeure, non par nous, mais
par nos adversaires communs.
II s'agit, pour les puissances alliees et pour l'Angleterre amie,
d'assurer ou d'abandonner la consolidation de l'alliance, par la garantie
effective et pacifique des droits et de la securite d'un allie.
C'est un de ces moments decisifs, qui, en diplomatie comme en
guerre, sont parfois fugitifs.
8
Nr. 2370
Der Sfellverfretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr
von Rotenhan an den Botschafter in London Grafen von Hatzfcldt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 832 Berlin, den 18. Juli 1895
Eu^. beehre ich mich, beifolgend den Bericht Nr. 130* des Kaiser-
lichen Botschafters in Rom vom 15. Juli nebst Anlage abschriftlich
zu übersenden.
Unzweifelhaft hat der Kaiserliche Botschafter recht, wenn er sagt,
daß Baron Blanc den defensiven Charakter des Dreibundes verkennt
und diesen zu einer Erwerbsgenossenschaft im Interesse Italiens um-
zustempeln versucht. —
Andrerseits aber ist die Haltung, welche das vorige englische
Kabinett sowohl wie auch die nach den rein finanziellen Gesichts-
punkten Lord Cromers geleitete ägyptische Regierung gegenüber den
italienisch-abessynischen Schwierigkeiten beobachtet hat, dazu angetan,
Italien in die Arme Frankreichs und Rußlands zu treiben. An dieser
Stelle wird Lord Salisbury einzusetzen haben, wenn er ein Abschwenken
Italiens verhindern will.
Sollte Lord Salisbury** an der altenglischen Auffassung festhalten,
daß andre Staaten, indem sie sich an Englands Seite stellen, damit
lediglich ihrem eignen Interesse dienen und folglich keinen Anspruch
auf englische Gegenleistung haben, so würde Italien wohl nicht die
einzige Macht sein, welche aus dieser Wahrnehmung bittere, aber
heilsame Lehren zöge.
Holstein
Nr. 2371
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Vortragenden
Rat im Auswärtigen Amt von Holstein
Telegramm. Entzifferung
Ganz vertraulich London, den 30. Juli 1893
Ich habe heute Lord Salisbury das Memoire von Blanc*** lesen
lassen und ihm Inhalt erläutert. Unter Voraussetzung voller Diskretion
(d.h., daß seine Äußerungen weder amtlich verwertet noch in
irgendeinem Schriftstück bekannt würden) bemerkte er dazu: Zeila
könne er, wie ich wisse, nicht geben; er sehe aber wohl ein, daß den
an sich unmotivierten Forderungen Italiens gegenüber etwas geschehen
* Siehe Nr. 2369.
** Nach dem Rücktritt des Kabinetts Rosebery war am 26. Juni d:e konservative
Partei mit Lord Salisbury als Premier und Außenminister zur Regierung ge-
kommen.
*** Siehe Nr. 2369, Anlage.
müsse. Die Zulassung eines Agenten in Zeila habe er in Rom bereits
zugesagt und nur die Fiaggcnfrage vorbehalten. Er wolle sich darüber
noch informieren, denke aber, da ich dies für notwendig halte, auch
darin den italienischen Wünschen entsprechen zu können. Er sei aber,
und dies bitte er streng vertraulich zu behandeln, geneigt, den
Italicnern in einem anderen und für sie wichtigeren Punkt entgegen-
zukommen, und zwar in bezug auf die Zukunft von Albanien und
Tripolis. Er habe dabei im Auge, was er „une division des reclama-
tions" in bezug auf die Türkei nannte, d.h., soviel ich aus seinen nicht
ganz klaren Erläuterungen entnehmen konnte, die Teilnahme Italiens
an etwaigen Reklamationen in Konstantinopel. Außerdem würden die
beiden Provinzen für den Fall der Teilung im Orient* Italien zu-
gesichert werden.
Bitte überlegen Sie, ob und was damit zu machen ist. Eventuell
müßte meines Erachtens das Eisen geschmiedet werden, solange es
heiß ist.
In bezug auf Armenien ist Lord Salisbury etwas beruhigter, nach-
dem der Sultan einen hier mißliebigen Wali abgesetzt, eine Amnestie
gegeben und eine Art Konstitution in Aussicht gestellt hat. Er bleibt
aber dabei, daß das Türkische Reich verfault sei und der Verfall nebst
obligater Teilung in absehbarer Zeit kommen müsse. Sehr bezeich-
nend war seine Äußerung, daß man hier sehr unrecht gehabt habe,
die Vorschläge des Kaisers Nikolaus an den damaligen englischen
Vertreter Seymour vor dem Krimkrieg abzulehnen**. Er, Lord Salis-
bury, würde sie jedenfalls akzeptiert haben.
Ich mußte zusagen, über heutiges Gespräch nicht amtlich zu be-
richten. Brief folgt morgen.
Hatzfeldt
Nr. 2372
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Vortragenden
Rat im Auswärtigen Amt von Holstein
Privatbrief. Ausfertigung
London, den 3L Juli 1895
Als ich gestern Lord Salisbury sah, welchen ich gut aufgelegt und
gesprächig fand, leitete ich die beabsichtigte Mitteilung des Blancschen
* Zum ersten .Wal taucht der Gedanke einer Teilung der Türkei, der also nicht
erst im Zusammenhang mit der Frage einer Schadloshaltung Italiens für Zeila bei
Salisbury entstanden ist, bei der Erörterung der armenischen Frage zwischen dem
englischen Premier und dem deutschen Botschafter am 9. Juli auf. Vgl. Kap. LXI, A,
Nr. 2396.
** Über die Unterredungen des Kaisers Nikolaus I. mit Sir George Hamilton Sey-
mour im Januar und Februar 1853 siehe Felix Bamberg, Geschichte der Orien-
talischen Angelegenheit, Berlin 1892, S. 38ff. und neuerdings F. J. C. Hearnshaw
in: Cambridge History of British Foreign Policy 1783-1919 (1923) Vol. II, p. 340 ff.
10
memoire's* mit der Bemerkung ein, daß ich diesmal speziell gekommen
sei, um im Vertrauen auf seine altbewährte Verschwiegenheit eine
Indiskretion zu begehen, die ich im Interesse der Sache für geboten
hielte. Jedenfalls werde es ihn interessieren, das von Baron Blanc
als geheim bezeichnete Schriftstück zu lesen und daraus zu ersehen,
welche Zwecke Italien verfolge, welche Stimmung innerhalb der jetzigen,
dem Dreibund und auch England besonders günstig gesinnten ita-
lienischen Regierung herrsche, und welche Schlüsse daraus in bezug
auf die weitere Entwickelung der italienischen Politik gezogen werden
könnten.
Lord Salisbury, welcher das memoire mit größter Aufmerksam-
keit durchlas, unterbrach sich nur einmal darin, um lächelnd zu bemerken:
„C'est une femme legitime qui demande ä etre payee." Als er
mit seiner Lektüre fertig war, dankte er mir für meine vertrauliche
Mitteilung, indem er hinzufügte, daß er meine „Indiskretion'* durch
eine gleiche Indiskretion in bezug auf seine Anschauungen und Ab-
sichten in der Sache beantworten wolle. Zunächst entwickelte er ziem-
lich ausführlich den Gedanken, daß das italienische Unternehmen in
dem fraglichen Teile Afrikas ein verfehltes sei, welches niemals, auch
nicht mit englischer Hülfe, zu einem ersprießlichen Ergebnis führen
könne. Es sei aber durch die Verhältnisse ausgeschlossen, daß diese
Hülfe, bei aller Bereitwilligkeit, Italien gefällig zu sein, sich so weit
erstrecken könne, als dies italienischerseits verlangt worden sei. Eng-
land könne auf den Besitz von Zeila nicht verzichten, weil es den-
selben zur Sicherung seiner eigenen Interessen im Roten Meer selbst
notwendig brauche, pp.
Lord Salisbury fuhr dann fort, indem er mich bat, dies als streng
vertraulich zu betrachten, daß er in einem andren Punkt, welcher
nach seiner Ansicht für Italien viel wichtiger sei, als das sterile Unter-
nehmen in Afrika, damit umgehe, den Italienern Entgegenkommen
zu zeigen. Es handle sich dabei um Albanien und Tripolis, zwei Pro-
vinzen, deren Besitz von den Italienern längst gewünscht werde und
auch wirklich wertvoll für sie sein würde. Sein Gedanke sei dabei,
die Italiener durch eine wirklich vorteilhafte Zusicherung zu binden
und gleichzeitig herbeizuführen, was er als „une division des recla-
mations ä Constantinople" bezeichnen wolle. Ich stellte verschiedene
Fragen, um Klarheit darüber zu erlangen, was er sich darunter denkt,
muß aber gestehen, daß mir dies nur unvollkommen gelungen ist.
Man kann sich zweierlei darunter denken: 1. daß Italien, falls Eng-
land den in der armenischen Frage eingeschlagenen Weg der Rekla-
mationen gegen die Mängel der türkischen Verwaltung in gewissen
Teilen des Türkischen Reichs fortsetzt, dieselbe Rolle in bezug auf
andre Teile der Türkei gleichzeitig übernimmt. 2. daß England, um
* Siehe Anlage zu Nr. 2369.
11
seine Aktion in Konstantinopel, die jetzt durch die russische und fran-
zösische Reserve gehemmt wird, zu verstärken, sich dabei der aktiven
italienischen Mitwirkung versichern will. Ich möchte annehmen, daß
Lord Salisbury beides im Auge hat und namentlich auch den Zweck
verfolgt, Italien, indem er demselben zwei am Mittelmeer gelegene
türkische Provinzen zuweist und ihm eine aktive Rolle in Konstan-
tinopel überträgt, für die Zukunft noch fester an das englische In-
teresse im Mittelmeer zu knüpfen.
Grade in dieser Hinsicht war es von hervorragendem Interesse,
vielleicht auch nicht ohne Absicht, daß Lord Salisbury mir im Verlauf
des Gesprächs die Theorie entwickelte, daß die Türkei, auch wenn
die armenische Frage vorläufig zur Ruhe käme, doch im großen und
ganzen zu verfault sei (trop pourric), um noch lange bestehen zu
können. Als ich dem gegenüber lediglich die Bemerkung machte:
wenn das wirklich wahr wäre und die Türkei zusammenfällt, was
dann, und wie glauben Sie, daß sich eine gütliche Teilung unter
die Interessenten bewerkstelligen läßt? erwiderte mir der Minister,
daß dies sicher keine leichte Aufgabe sein würde, daß die Schwierig-
keit aber heute nicht bestände, wenn man in England nicht den Fehler
begangen hätte, das Anerbieten des Kaisers Nikolaus an den eng-
lischen Vertreter* vor dem Krimkriege (Ägypten an England, Salo-
niki an Österreich usw.) abzulehnen, ein Fehler, den er, Salisbury,
gewiß nicht begangen hätte. Als ich meinerseits auf eine andre ge-
schichtliche Reminiszenz hinwies, nämlich die Unterhandlungen zwi-
schen Napoleon I. und dem Kaiser Alexander, welche hauptsächlich
daran gescheitert seien, daß der Kaiser Napoleon äußerstenfalls wohl
Konstantinopel, unter keinen Umständen aber gleichzeitig auch die
Dardanellen einräumen wollte, wurde Lord Salisbury nachdenklich und
bemerkte schließlich, daß die Sache allerdings große Schwierigkeiten
bieten würde, da kaum zu bezweifeln sei, daß Rußland, wenn es in
den Besitz der Dardanellen gelangte, jederzeit in der Lage sein würde,
im Verein mit Frankreich die englischen Interessen im Mittelmeer
auf das ernstlichste zu gefährden.
Aus der vorstehenden Darstellung ergibt sich meines Erachtens
zunächst, daß Lord Salisbury den Wert einer Verständigung mit Italien
erkennt und durchaus nicht abgeneigt ist, dafür gewisse Konzessionen
zu machen, wenn er es dadurch gleichzeitig an die englische PoHtik
binden und sich seiner Kooperation im Orient versichern kann. Es ist,
wie ich glaube, sehr der Mühe wert, uns ernstlich zu überlegen, ob wir
diese Verständigung, die gleichzeitig eine Stärkung des Dreibundes
bedeuten würde, fördern und zu möglichst raschem Abschluß bringen
wollen. Mir gegenüber hat Salisbury, wie Sie bemerken werden, das
gleiche Vertrauen und die gleiche Offenheit v/ie früher gezeigt.
* Siehe Fußnote ** zu Nr. 2371 (S. 10).
12
In zweiter Linie geht aus den Äußerungen des Ministers anzweifel-
haft hervor, daß seine Anschauungen in bezug auf die Erhaltung der
Türkei eine wesentliche Wandlung erlitten haben, und daß er heute
von der Überzeugung durchdrungen ist, daß England, um nicht zu
kurz zu kommen, mit der Möglichkeit des Zerfalls rechnen und den
Fall der Teilung ins Auge fassen muß. Die Voraussetzungen, mit
welchen wir unsrerseits in bezug auf die Entwickelung der europäischen
Politik zu rechnen haben, werden dadurch ebenfalls ganz andre, viel-
leicht vorteilhaftere, da sich die Möglichkeit ergeben kann, nach welcher
Fürst Bismarck lange gesucht hat, daß eine friedliche Verständigung
zwischen Österreich und Rußland (Teilung der Interessensphären) sich
ermöglichen läßt, während der Hauptgrund für die russische Ver-
stimmung gegen uns fortfallen und die französische Freundschaft für
Rußland viel weniger wertvoll werden würde. Ich beschränke mich,
um nicht zu lang zu werden, auf diese Andeutungen, um so mehr, als
Ihnen das alles zum mindesten ebenso gut bekannt ist als mir,
SchließHch bemerke ich nur noch, daß Salisbury nach meinem Ge-
fühl nichts dagegen hat, wenn wir uns unter der Hand bemühen wollen,
seinen Gedanken in Rom zu fördern. Was er um jeden Preis vermeiden
will, ist, daß seine Äußerungen bekannt werden, namentlich, daß sie
in irgendeinem amtlichen Schriftstück veröffentlicht werden könnten.
Leben Sie herzlich wohl für heute. Künftigen Sonntag, 4. August,
fahre ich nach Cowes* und nehme Kanzlisten und Chiffre mit. Salis-
bury wird wohl jedenfalls während des Aufenthalts einmal hinkommen.
Erscheint es irgendwie nützlich, so kann ich ganz gut von Cowes ein-
mal herkommen, um mit ihm zu sprechen.
P. Hatzfeldt
Nr. 2373
Der Unferstaafssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept
Nr. 244 Berlin, den 1. August 1895
Antwort auf Privattelegramm von vorgestern**, betreffend Lord
Salisburys auswärtiges Programm. Ton und Tendenz des letzteren
gefallen hier nicht sehr. Es fehlt das Gefühl der Gegenseitigkeit,
der Gedanke, daß England selber auch mal Konzessionen zu machen
haben könnte an solche Staaten, deren Unterstützung es nötig hat.
* Vom 4. bis 16. August war Kaiser Wilhelm zu Besuch in England.
** Siehe Nr. 2371.
13
Warum Lord Salisbury in Zeila keine Konzession machen kann,
ist unersichtlich. Es wäre sogar nützlich für England, Italien dort
festzunageln in Erwartung eines russisch -französischen Vordringens.
Jede englische Konzession in Zeila würde eine sicherere Gewähr für
das wirkliche Vorhandensein eines englischen Solidaritätsgefühls bieten
als der von Lord Salisbury entwickelte albanesische Plan, welcher so-
wohl für den Dreibund wie für England politische Bedenken hat.
Zunächst legt die Art, wie Lord Salisbury die Auflösung und Auf-
teilung der Türkei bespricht, uns — nicht zum erstenmal — den Ver-
dacht nahe, daß der englische Staatsmann diesen Prozeß beschleunigen
möchte in der Hoffnung, England werde den daraus entstehenden
kontinentalen Kämpfen vielleicht ganz fern bleiben oder doch ähnlich
wie in den ersten Napoleonischen Kriegen die Lage und die Ver-
hältnisse beherrschen, d. h. die Bedingungen der Mitwirkung vor-
schreiben, nicht empfangen.
Ist aber Lord Salisbury sicher, daß nicht schon die bloße Be-
sorgnis, Albanien in italienischen Besitz gelangen zu sehen, Österreich
vom Dreibund ab- und auf die feindliche Seite drängen würde? Trotz
dieser Gefahr wird Lord Salisbury von seinem Plan wahrscheinlich
ungern abgehen, denn schon beim Berliner Kongreß zeigte er sich
bestrebt, aus Handelsrücksichten Österreich den Weg nach Saloniki
zu verlegen. Dieser Gesichtspunkt ist vielleicht auch jetzt das treibende
Motiv des englischen Ministers, denn es wäre sonst nicht schwierig,
andere Objekte für die Befriedigung der italienischen Begehrlichkeit
ausfindig zu machen. Die neue Verteilung der Mittelmeerküstenländer
ist ohne einen Krieg, an dem Frankreich teilnimmt, kaum denkbar.
Ist aber Frankreich geschlagen, so wird z. B. Tunis für Italien ver-
fügbar, welches letztere dann, da es doch nicht überall und alles
nehmen kann, seine Ansprüche auf die Balkanhalbinsel fallen lassen
müßte.
Es ist schwer zu glauben, daß ein denkender Politiker wie Lord
Salisbury nicht die Wirkung erwogen haben sollte, welche schon die
bloße Besorgnis vor der italienischen Annexion Albaniens auf die Be-
ziehungen Österreichs, wie zum Dreibund, so auch zu England haben
müßte. Sollte Lord Salisbury etwa die Lücke, welche das Ausscheiden
Österreichs reißen würde, dadurch stopfen wollen, daß er sich bestrebt,
Frankreich — gleichfalls durch Konzessionen auf Kosten der Türkei,
Chinas oder sonstiger Dritter — heranzuziehen? Wenn dies nicht
Lord Salisburys Plan ist, dann wird er gut tun, sich erst über die Hal-
tung Österreichs zu vergewissern, bevor er die albanesische Frage
weiter zur Sprache bringt. Sonst könnte es ihm passieren, daß Öster-
reich verloren geht, ohne daß Frankreich gewonnen wird.
Es bleibt dahingestellt, ob nicht schon die einfache Anfrage in
Wien beunruhigen wird. Ungefährlicher wäre es jedenfalls, wenn
Lord Salisbury den Italienern entweder eine sofortige Befriedigung
14
mit Zeila oder eine Erweiterung ihrer nordafrikanischen Hoffnungen
gewährte.
Für Deutschland ist Vorsicht und Zurückhaltung geboten, solange
die Ziele und auch die Mittel der englischen PoUtik noch im Nebel
bleiben.
Rotenhan
Nr. 2374
Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 245 Berlin, den 2. August 1895
Ew. pp. heute eingegangenes Schreiben *, betreffend die Pläne Lord
Salisburys im Mittelmeer, ist geeignet, die Besorgnis zu vermehren,
welche bereits in meinem Telegramm Nr. 244** Ausdruck fand.
Ew. pp. stelle ich anheim, dem englischen Minister als Ihre eigne
Ansicht oder als die der Kaiserlichen Regierung zu verstehen zu geben,
daß, falls sein Vorschlag wegen Albaniens das zwischen Österreich
und Italien bestehende Bündnis sprengen, bzw. die Erneuerung des-
selben verhindern sollte, es unmöglich ist, heute schon zu sagen, ob
alsdann Deutschland durch die Macht der Verhältnisse zu der öster-
reichischen oder zu der italienischen Gruppe geschoben werden würde.
Wenn dem englischen Minister die als Folge seines Plans sich
ergebende Gefahr einer Sprengung des heutigen Dreibundes bisher
wirklich entgangen sein sollte, wird es Ew. pp. nicht schwer
werden, ihn zu überzeugen, daß er bei dem Plane einer Neuordnung
der Verhältnisse des westlichen Teiles der Balkanhalbinsel nicht ohne
Berücksichtigung der Ansichten und Interessen des Wiener Kabinetts zu
Werke gehen kann.
Gegen die Absicht Lord Salisburys, die italienische Interessen-
sphäre aus dem Roten in das Mittelmeer zu verlegen, haben wir an
sich nichts, denn es ergibt sich daraus, daß England gewillt ist, seinen
ägyptischen Besitz nach allen Seiten zu sichern und abzurunden. Nur
in dem Falle, wo Lord Salisbury die Entschädigung Italiens in einer
Weise durchführen wollte, welche die alte Rivalität zwischen Italien und
Österreich wieder wachruft, wäre Deutschland gezwungen, angesichts
einer neuen Lage seine Existenz durch neue schwerwiegende Ent-
schließungen zu wahren.
Rotenhan
* Siehe Nr. 2372.
** Siehe Nr. 2373.
15
Nr. 2375
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Mr. 215 London, den 3. Aug-ust 1895
Geheim
Antwort auf Telegramm Nr. 244*.
In ausfülirlichcr, streng vertraulicher Unterhaltung habe ich Lord
Salisbury noch vor Eingang des Telegramms Nr. 245** meine Be-
denken wegen Albaniens entwickelt, indem ich dieselben als Ergebnis
persönlichen Nachdenkens seit letztem Gespräch bezeichnete, gleich-
zeitig aber nicht verheimlichte, daß ich seitdem privaten Gedanken-
austausch mit Euerer Durchlaucht darüber gehabt. Ich hob dabei her-
vor, daß eine klare und erschöpfende Aussprache zwischen Lord Salis-
bury und mir jetzt um so mehr angezeigt erscheine, als sein politisches
Programm sich seit seinem letzten Ministerium offenbar in einem
wesentlichen Punkt verändert habe. Während er früher die Erhaltung
der Türkei als eines der wesentlichsten englischen Interessen in den
Vordergrund stellte, gehe er jetzt von der Voraussetzung des Zerfalls
und der damit verbundenen Teilung des Türkischen Reichs aus, die ihm,
wenn auch vielleicht nicht willkommen, doch nicht mehr ganz so un-
erwünscht zu sein scheine. Wenn er daraus die praktische Konsequenz
ziehe, den Italienern für den Fall der Teilung eine Provinz in Aussicht
zu stellen, welche Österreich denselben schwerlich würde überlassen
wollen, so könne dies letztere nach meiner Ansicht eine Rückwirkung
auf den Dreibund ausüben, die wir nicht unberücksichtigt lassen dürften.
Jede durch die englische Politik herbeigeführte Schwächung oder gar
Auflösung der Tripelallianz würde uns nach meiner persönlichen Auf-
fassung dazu führen müssen, auch nur unser eigenes Interesse zu Rate
zu ziehen, indem wir uns dann auf Beobachtung der Ereignisse be-
schränkten und uns dabei vorbehielten, falls es zu einer europäischen
Krisis wegen Orient oder Mittelmeer komme, mit unserem ganzen
Gewicht auf die Seite zu treten, deren Politik unsere Sicherheit und
unser Interesse am besten verbürge.
Lord Salisbury erwiderte mir zunächst mit großer Lebhaftigkeit,
er könne mir auf das bestimmteste versichern, daß meine Vor-
aussetzung, als ob in seinem politischen Programm seit seinem letzten
Ministerium eine Wandlung eingetreten sei, vollständig unbe-
gründet sei. Er lege ganz denselben Wert auf die Erhaltung der
Türkei wie damals, wünsche weder Zerfall noch auch Teilung derselben
und werde gewiß nicht das geringste tun, um dies zu fördern oder zu
• Siehe Nr. 2373.
•* Siehe Nr. 2374.
16
beschleunigen. Aber er könne nicht die Augen schließen und sich der
Erkenntnis entziehen, daß jene EventuaHtät, wie unerwünscht sie auch
sei, durch die Macht der Verhältnisse immer näher gerückt werde,
und daß es daher dringend ratsam sei, mit dieser Möglichkeit und den
unausbleiblichen Folgen einer solchen im voraus zu rechnen. Trotz-
dem habe er noch mit niemand außer mir, von dessen Diskretion er
überzeugt sei, über diesen Punkt ein Wort gesprochen, und werde
dies auch nicht tun, um keine vorzeitige Beunruhigung an irgendeinem
Punkt hervorzurufen. In dieser Hinsicht teile er vollständig und
unbedingt meine Auffassung, daß vor allem jede Beunruhigung
Österreichs vermieden werden müsse. Wenn daher, wie ich glaubte,
angenommen werden müsse, daß eine eventuelle Zusicherung an Italien
bezüglich Albaniens in Wien ein Stein des Anstoßes sein würde, so
verstehe sich von selbst, daß dieser Gedanke sofort aufgegeben werden müsse.
Als ich hier die Bemerkung fallen ließ, daß sich vielleicht nach
einer anderen Richtung etwas finden ließe, was auch Italien selbst
erwünschter als Albanien sein würde, sagte Lord Salisbury lebhaft:
„Sie meinen wohl Marokko? Auch dagegen würde ich nichts haben."
Auf meine Bemerkung, daß meines Wissens England dort selbst Ab-
sichten habe, erwiderte er, daß die an sich bescheidenen eventuellen
Wünsche Englands dort einer reichlichen Befriedigung Italiens durch
marokkanisches Territorium nicht im Wege stehen würden. Ich wies
diese Insinuation, die noch von Nutzen werden kann, nicht zurück,
bemerkte aber gleichzeitig, daß es noch einen anderen Punkt an der
Küste Nordafrikas gäbe, den Italien für wertvoll halten würde, näm-
lich Tunis. Der Minister wies auch dies nicht zurück und warf nur
die Frage auf, wie man sich eventuell die Ausführung denken könne.
Ich erwiderte, der Fall scheine mir nicht ganz ausgeschlossen, daß
Frankreich sich der hier beabsichtigten Teilung im Orient überhaupt
widersetzen und infolge eines erfolglosen Widerstandes dagegen den
Besitz von Tunis würde aufgeben müssen. Eine Zusicherung an Italien
für diesen Fall würde vielleicht in Rom schon als wertvoll begrüßt
werden. Auch hiergegen erhob der Minister keine prinzipiellen Be-
denken, und ich halte daher nicht für unmöglich, daß er sich eventuell
zu einer solchen geheimen Zusicherung verstehen würde.
Ich kam dabei nochmals auf die jetzigen italienischen Wünsche
bezüglich Marrars* usw. zurück und stellte die ganz vertrauliche
Frage, ob Lord Salisbury, wenn er wirklich jede Abtretung an der
Küste des Roten Meeres als ausgeschlossen betrachte, nicht in jenem
Teil Afrikas im Innern den Italienern noch irgendeine Konzession
machen könne. Er erwiderte mir zuerst, daß die Italiener dort schon
jetzt ein so ausgedehntes Territorium als ihnen gehörig beanspruchten,
daß kaum etwas übrig bleibe, was noch als ihr Eigentum hier an-
* Siehe Bd. VIII, Nr. 1991, Fußnote.
2 Die Große Politik. 10. Bd. 17
erkannt werden könnte. Als ich aber in dieser Richtung insistierte,
sagte er bereitwillig zu, sich alsbald näher informieren zu wollen, ob
und welches Entgegenkommen dort von selten Englands noch möglich
sein würde. Gleichzeitig ersuchte er mich, dies auch meinerseits in
Erwägung zu ziehen, und knüpfte daran die bedeutungsvolle Be-
merkung: „Aus den ihnen bekannten Gründen scheint es mir nötig,
für gewisse Eventualitäten sich über eine Art von Verteilungsplan im
Orient und namentlich am Mittelmeer zu verständigen. Meine Gedanken
darüber habe ich ihnen vertrauensvoll mitgeteilt, und Sie sehen, daß
ich auch zu Modifikationen darin gern bereit bin. Es wäre aber
sehr nützlich, daß Sie sich Ihrerseits einen Plan bildeten,
wie Sie ihn für geeignet und durchführbar halten würden,
und daß wir denselben dann ebenfalls streng vertrau-
lich besprechen könnten."
Aus dieser Unterredung und der ganzen Haltung Lord Salisburys
habe ich den bestimmten Eindruck gehabt, daß er vor allem, soviel
dies von ihm abhängt, die Erhaltung und Kräftigung des Dreibundes
wünscht (mehr noch, als sich der italienischen Hilfe, die er nicht über-
mäßig hoch schätzt, für England zu versichern), selbstverständlich,
weil er darin auch die beste Bürgschaft für das englische Interesse er-
blickt, und daß er sich aus diesem Grunde mit uns über einen Plan
verständigen möchte, durch welchen Italien möglichst befriedigt und
bei der Stange gehalten würde, ohne daß Österreich darin Grund zur
Unzufriedenheit und zum Abfall erblicken könnte. Er hat deshalb
dem Grafen Deym vor seiner Abreise nach Wien nur gesagt, daß die
Verhältnisse in der Türkei zwar immer schlechter würden, daß er
aber nach wie vor wünsche, den Verfall derselben nach Möglichkeit
hinzuhalten. Mir gegenüber betonte er noch gestern, daß Österreich
eventuell auch seine Befriedigung finden * die in der Richtung
nach Saloniki liegen würde. Meinerseits habe ich Lord Salisbury keinen
Zweifel darüber gelassen, daß wir Vorsicht für geboten halten und,
falls hier eine unseren Interessen schädliche Politik eingeschlagen
würde, nicht anstehen würden, nur unser eigenes Interesse zu Rate
zu ziehen. Über die Ziele und die Mittel der englischen Politik würden
wir uns aber jetzt, auch abgesehen von den letzten Eröffnungen des
Ministers, leicht aufklären können, w^enn ich in der Lage wäre, auf
seinen Vorschlag einzugehen und ihm, angeblich rein persön-
lich, einen mir richtig erscheinenden Plan für die eventuelle Regelung
der Dinge im Orient und im Mittelmeer zu bezeichnen, über welchen
er sich dann auszusprechen hätte. Von seiner Diskretion hat er uns
mehrfach Beweise gegeben.
Lord Salisbury wird übermorgen, Montag, nach Osborne kommen
und Mittwoch nach London zurückkehren. H atzfei dt
• Gruppe fehlt, vcrmuüich: könnte.
18
Nr. 2376
Der Untersfaatssekref är im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Alt-Aussee
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 19 Berlin, den 3. August 1895
Verschiedene Anzeichen haben hier den Verdacht erw^eckt, daß
Graf Goluchowski es mit Freude begrüßen w^ürde, wenn England durch
Räumung Ägyptens das Haupthindernis einer Annäherung an Frank-
reich beseitigte. Gleichzeitig aber soll der Graf sich mit der Hoff-
nung schmeicheln, daß England selbst nach der Räumung seine
maritime Position im Mittelmeer aufrechthalten, ja vielleicht noch ver-
stärken werde, Rußlands wegen.
Die Räumung Ägyptens würde von verhältnismäßig geringer Be-
deutung sein, wenn eine Aufrechthaltung der englischen Machtstellung
im Mittelmeer unabhängig von der Behauptung Ägyptens heute noch
denkbar wäre. Tatsächlich gibt es jedoch im englischen Volke hin-
sichtlich Ägyptens nur zwei Gruppen: die stärkere, welche Ägypten
und das Mittelmeer halten, die schwächere, welche aus beiden heraus
möchte. Ein englischer Staatsmann, welcher nach dem Verzicht auf
Ägypten und Suezkanal dem Staate noch finanzielle Opfer und erhöhtes
Risiko politischer Verwickelungen lediglich des Mittelmeers wegen zu-
muten wollte, würde sich damit zwischen zwei Stühle setzen und es
keiner Gruppe recht machen.
Das vollständige Verschwinden des englischen Machtfaktors aus
dem Mittelmeer würde aber voraussichtlich den Anschluß Italiens an
die russisch-französische Gemeinschaft herbeiführen.
Rotenhan
Nr. 2377
Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den Rat
im Kaiserlichen Gefolge Gesandten von Kiderlen, z. Z. in Helgoland
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 24 Berlin, den 3. August 1895
[abgegangen am 4. August]
Brief eben erhalten. Graf Hatzfeldt hat noch nicht Zeit gehabt,
über die neuesten, merkwürdigen Anregungen des Lord Salisbury amt-
lich zu berichten. Das Telegramm* und der Privatbrief**, welche
beide Sie dort haben, ist alles, was wir bis jetzt besitzen.
Alle jetzigen Vorschläge des englischen Ministers haben meines
Erachtens lediglich den Zweck, die unbehagliche Lage, in der sich
* Siehe Nr. 2371.
** Siehe Nr. 2372.
7* 19
England zurzeit wegen Ägyptens den Franzosen und Russen gegen-
über befindet, dadurch zu erleichtern, daß man in Kleinasien und am
Balkan Komplikationen schafft, bei denen alle Kontinentalmächte, selbst
wir, eher hineingezogen werden würden als England. Nur durch ein
akutes, schwerwiegendes englisches Interesse ist es zu erklären, daß
Lord Salisbury, der sonst immer auf Österreich die größte Rücksicht
nimmt und Italien nicht mag, jetzt den Italienern Albanien zuwenden
möchte, womit er gleichzeitig Österreich einen schweren Schlag ver-
setzen, voraussichtlich auch den Dreibund sprengen würde.
Deutschland seinerseits hat aber das größte Interesse daran, daß
der Zusammenbruch der Türkei erst eintritt, nachdem vorgesorgt ist,
daß unsre beiden Freunde, Österreich und Italien, sich bei der curee
nicht in die Haare geraten. Diese Verständigung herbeizuführen, ist
nicht unsre, sondern Englands Aufgabe, denn nicht wir wollen der
Türkei den Garaus machen, sondern Lord Salisbury möchte es. Solange
die österreichische und italienische Erbschaftsquote nicht genau zwischen
diesen beiden, unter englischer Assistenz, vereinbart ist, müssen wir —
eventuell zusammen mit Rußland, Frankreich und Österreich — alle stürmischen
anglo-italienischen „Reformvorschläge" in Konstantinopel bekämpfen.
Ich glaube, daß Lord Salisbury sein Balkanbrandprojekt — denn
darauf kommen seine Vorschläge hinaus — für jetzt nicht weiter ver-
folgen wird, wenn er beim Kaiser auf festen Widerstand stößt
und merkt, daß Seine Majestät ihn durchschaut.
Ich habe an Hatzfeldt — wohl überflüssigerweise — telegraphiert,
den Kaiser ja rechtzeitig, d. h. ehe derselbe Lord Salisbury sieht,
zu informieren. Aber Sie können das auch schon vorläufig tun mit dem
jetzt an Sie abgegangenen Material.
Der Kaiser wird, denke ich, schnell klar sehen. Ein besonders deut-
liches Anzeichen für Salisbur}'s Hintergedanken ist mir, daß er den
Italienern sogar Zeila nicht geben will; er will sie lieber gegen die
Balkanhalbinsel hetzen, damit sie dort alles auf den Kopf stellen.
Das werden sie auch, wenn sie sich selbst überlassen sind und Aus-
sicht auf Albanien haben.
Holstein
Nr. 2378
Der Unterstaatssekrelär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandten von Kiderlen
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 25 Berlin, den 4. August 1895
Graf Hatzfeldt meldet*, daß er Lord Salisbury eindringlich auf
Gefahren seines neuesten Programms aufmerksam gemacht und ihn
♦ Siehe Nr. 2375.
20
schließlich ganz entgegenkommend gefunden hat. Namentlich ver<
wahrte sich der Lord gegen den Gedanken, je etwas tun zu wollen
was Österreich und Italien wieder trennen könnte.
Aber — aufpassen müssen wir doch, tun es ja auch.
Rotenhan
Nr. 2379
Der Unterstaatssekrefär im Auswärtigen Amt
Freiherr von Rotenhan an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe,
z. Z. in Alt- Aussee
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 24 Berlin, den 5. August 1895
Da der erste Vortrag des Grafen Hatzfeldt bei Sr. Majestät statt-
findet, bevor Ew. Durchlaucht Zeit gehabt haben, sich über die Freitags-
unterredung des Botschafters mit Lord Salisbury zu äußern, ist gestern
etwa folgendes als Privatansicht an Graf Hatzfeldt telegraphiert wor-
den, mit dem Hinzufügen, daß Ew. sich noch nicht zur Sache geäußert:
„Weder Deutschland noch Sie persönlich dürfen Vorschläge wegen
Landverteilung im Mittelmeer machen. Wir wollen dort nichts haben,
also mögen diejenigen, welche dort etwas haben wollen, — England,
Italien, Österreich — sich verständigen. Höchstens könnten wir hinter-
her, nachdem jene drei einig geworden sind, auf Befragen er-
klären, daß deutsche Interessen dabei nicht direkt berührt werden.
Vorher an uns gelangende Anfragen lehnen wir ab zu beantw^orten.
Für England und Österreich, welche wünschen, unsre Brücken
nach Rußland hin möglichst bald abgebrochen zu sehen, wäre es
eine schwere Versuchung, wenn sie ganz vertraulich durchsickern lassen
könnten, daß Deutschland Vorschläge wegen Aufteilung von Türkei
und Marokko gemacht habe. Von dem Augenblick an, wo das bekannt
wird, haben wir nicht mehr freie Hand. Die wollen wir aber haben,
schon um im psychologischen Moment etwas für uns zu verlangen,
wenn auch nicht im Mittelmeer. Politische Frondienste sind zu ver-
meiden."
Ew. Durchlaucht bitte ich um telegraphisch '^ Willensäußerung, ob
und wie weit das Vorstehende Hochdero Genehmigung hat.
Rot enhan
21
Nr. 2380
Der Rat im Kaiserlichen Gefolge Gesandter von Kiderlen,
z. Z. in Cowes, an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Ivjr. 49 Cowes, den 5. August 1895
Geheim.
Die Pläne Lord Salisburys im Sinne der beiden unterwegs er-
haltenen Telegramme* mit Seiner Majestät besprochen, der sie als
„echt englisch" bezeichnete und sagte, er lasse sich auf nichts ein.
Kiderlen
Nr. 2381
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt, z. Z. in Cowes,
an den Vortragenden Rat im Auswärtigen Amt von Holstein
Telegramm, Entzifferung
Cowes, den 5. August 1895
Antwort auf Ihr gestern abend eingegangenes Telegramm**.
Verstehe vollkommen Ihre Meinung und werde selbstverständlich
danach verfahren, möchte aber, bevor definitiv für die ganze weitere
Entwickelung der Dinge maßgebende Entschlüsse gefaßt werden, Sie
privatim auf folgendes aufmerksam machen: Wenn Lord Salisbury,
nachdem er sich so weit avanciert, jetzt findet, daß wir jeder Ver-
ständigung mit ihm aus dem Wege gehen und auch Verständigung
zwischen ihm und Italien resp, Österreich in keiner Weise fördern
wollen, nachdem ich Konzessionen an Italien und Berücksichtigung
der Interessen Österreichs bis jetzt dringend befürwortet, ist der Fall
durchaus nicht ausgeschlossen — ich halte ihn sogar für wahrschein-
lich — , daß überhaupt nichts mit Italien und Österreich zustande
kommt und ersteres höchstens den Agenten in Zeila*** mit oder
ohne Flagge bekommt. Ich hoffe mich zu irren, fürchte aber nein,
schon deshalb, weil Lord Salisbury Indiskretion in Wien und nament-
lich Rom viel zu sehr fürchten wird, um dort offen mit Vorschlägen
über Zukunft im Orient herauszurücken.
Für Italien allein wird Lord Salisbury nach meiner Überzeugung
wenig tun. Er sieht darin vor allem das Mittel, den Dreibund zu halten
und eventuell auf seine Seite zu bringen. Dafür würde er den Italienern
jetzt eventuell Tripolis, Tunis und größten Teil von Marokko zu-
sichern, mehr als sie sonst jemals träumen könnten.
• Siehe Nr. 2377 und 2378.
♦* Vgl. Nr. 2377.
**♦ Siehe Bd. VIII, Fußnote zu Nr. 2014.
22
Darüber darf ich Sie und mich nicht täuschen, daß ich, wenn wir
uns ganz zurückziehen, das heißt, wenn ich weder Rat noch Ansicht
mehr geben kann, keinen nennenswerten Einfluß auf die weiteren
Entschlüsse Lord Salisburys in der Sache werde ausüben können;
selbstverständlich lag auch mir sehr fern, zum Abbrechen der Brücken
mit Rußland zu raten, so wenig ich von dort für uns jetzt erwarte.
Der „Plan" Lord Sahsburys hatte aber offenbar zur Voraussetzung
die reichlichste Befriedigung Rußlands im Orient, Konstantinopel
avec tout ce qui s'ensuit*. Der Geprellte war offenbar nur Frank-
reich, wenn sich nicht auch für letzteres ein Trost irgendwo finden
ließ. Ob Rußland an der eventuellen Enttäuschung Frankreichs viel
Interesse nehmen würde, wenn es selbst Konstantinopel usw. be-
kommt, ist aber doch zum mindesten fraglich, und unserem Inter-
esse würde es, wie mir scheint, kaum widersprechen, wenn Rußland
mit Rücksicht auf seine Befriedigung im Orient keinen Orund mehr
sähe, die französische Freundschaft auf unsere Kosten zu pflegen.
Ich zweifle nicht, daß Lord Salisbury uns im Fall unserer Be-
teiligung an der Verständigung auch entsprechenden Teil an den frei-
werdenden Territorien bereitwillig zugestehen w^ürde. Ob er uns aber
dafür englischen Besitz abtreten, und ob irgendein englischer Minister
der öffentlichen Meinung gegenüber stark genug wäre, Sansibar ein-
zuräumen, ist eine andere Frage. Ich halte dies nur in zwei Fällen
für denkbar: entweder bei einem Abkommen durch welches auch Eng-
land bedeutende und dem Publikum erkennbare Vorteile erreicht,
oder im Falle eines Kriegs, und wenn England dann unsere Hilfe um
jeden Preis haben muß.
Hatzfeldt
Nr. 2382
Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Alt-Aussee
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 27 Berlin, den 5. August 18Q5
Unterstaatssekretär abwesend, ich gebe daher nur meine Privat-
ansicht über das bedeutungsvolle Telegramm des Grafen Hatzfeldt**.
Wenn Lord Salisbury, wie Graf Hatzfeldt überzeugt ist, wirklich
die Absicht hat, auch Rußland, etwa durch das Meerengengebiet, zu
* In der Tat hatte Lord Salisbury schon am 9. Juli 1895 in einer Unterredung
mit Graf Hatzfeldt auf eine Teilung der Türkei angespielt, bei welcher die an
der russischen Grenze liegenden türkischen Provinzen nicht autonom, sondern
russisch werden würden. Vgl. Kap. LXI, A, Nr. 2396.
** Siehe Nr. 2381.
23
befriedigen und so Frankreich für Rußland entbehrlich zu machen,
so ändert das allerdings die Sachlage. Unter diesen Umständen schließe
ich mich der Ansicht des Kaiserlichen Botschafters vollständig an und
halte für nützlich und wünschenswert, daß er die Angelegenheit mit
Lord Salisbury weiter bespricht und mit diesem, zunächst „persönlich",
später je nach Sachlage auch amtlich, Ansichten austauscht. Telegra-
phischc Entscheidung Eurer Durchlaucht erbeten, des Kaisers wegen.
Holstein
Nr. 2383
Der Vorfragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den Rat
im Kaiserlichen Gefolge Gesandten von Kiderlen, z. Z. in Cowes
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 26 Berlin, den 5. August 1895
Privat [abgegangen am 6. August]
Erhielt soeben von Graf Hatzfeldt langes Telegramm*, welches
Sachlage vollständig ändert, da hiernach Salisbury versuchen v^ill, auch
Rußland durch wesentliche Konzessionen zu befriedigen und Frankreich
zu isolieren.
Gleichviel, ob dieser Gedanke schon früher vorhanden war oder
neu entstanden ist, er verdient Ermutigung.
Holstein
Nr. 2384
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe, z. Z. in Alt- Aussee,
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Alt-Aussee, den 6. August 1895
Antwort auf Telegramme Nr. 24**, 25***, 26, 27 f.
Ich bin damit einverstanden, daß Graf Hatzfeldt die in Rede
stehenden Fragen weiter, zunächst „persönlich", mit Lord Salisbury
bespreche, halte jedoch für nützHch, daß Graf Hatzfeldt nach Möglichkeit
vermeidet, diejenige Initiative bei Aufstellung des eventuellen Ver-
tcilungsplans zu ergreifen, die der englische Minister ihm anscheinend
zuschieben will. Fürst Hohenlohe
• Siehe Nr. 2381.
** Siehe Nr. 2379.
»*• Nr. 25 und 26 betrafen das Telegramm des Grafen Hatzfeldt vom 5. August
Nr. 2381.
t Siehe Nr. 2382.
24
Nr. 2385
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt, z. Z. in Cowes,
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 2 Cowes, den 7. August 1895
Geheim
Telegramm Nr. 253 erhalten.
Vorgestern abend vor dem Diner bei der Königin, welchem auch
Lord Salisbury beiwohnen sollte, hatte ich Seine Majestät gebeten, sich
bei eventueller Unterhaltung mit dem Premierminister, falls derselbe
die türkische Frage und seinen Verteilungsplan berühren sollte, auf
allgemeine Erwägungen darüber zu beschränken, daß die Verteilung
der Türkei eine für die Erhaltung des europäischen Friedens nicht
unbedenkliche Frage sei, über welche, wenn es einmal dahin kommen
sollte, die zunächst beteiligten Mächte sich zu verständigen hätten,
und daß die Lage der Dinge in der Türkei anscheinend kaum schlecht
genug sei, um den baldigen Eintritt dieser Frage erwarten zu lassen.
In der Unterhaltung, die nach dem Diner zwischen Seiner Majestät
und dem Premierminister stattfand, hat der letztere die Frage insoweit
berührt, daß er die zunehmende Verschlechterung der Verhältnisse
in der Türkei und die hiernach näherrückende Gefahr einer Auf-
lösung hervorhob, und Seine Majestät haben dem gegenüber die auf
eigene Beobachtungen gestützte Ansicht entwickelt, daß die dortigen
Verhältnisse sich eher gebessert hätten, daß die Gesetzgebung an sich
eine befriedigende sei, und daß es vor allen Dingen darauf ankomme,
den Sultan durch freundschaftliche Vorstellungen zur Absetzung schlech-
ter Beamten und zur Ernennung geeigneter und zuverlässiger Persön-
lichkeiten zu bestimmen.
Gestern nachmittag wollte der Kaiser auf Wunsch Ihrer Majestät
der Königin den Premierminister zu einer zweiten Unterredung an
Bord der Hohenzollern empfangen. Dies ist durch den zufälligen Um-
stand vereitelt worden, daß Lord Salisbury zu der Stunde, welche
Seine Majestät bestimmt hatten, gleichzeitig zur Audienz bei Ihrer
Majestät der Königin befohlen worden war, und es nachher zu einem
Besuch desselben an Bord der Hohenzollern zu spät wurde. Der
Premierminister ist heute früh durch unaufschiebbare Geschäfte nach
London zurückberufen worden*.
* Nach Freiherrn von Eckardstein (Lebenserinnerungen und politische Denk-
würdigkeiten Bd. I, S. 211 ff.; II, S. 284; III, S. 12ff.) hätte am 8. August an Bord
der „Hohenzollern" eine zweite Unterredung zwischen dem Kaiser und Lord
Salisbury stattgefunden, die schließlich sehr erregte Formen angenommen und eine
tiefgehende, dauernde Verstimmung zwischen beiden Persönlichkeiten zurück-
gelassen hätte. Die ganze Eckardsteinsche Erzählung mit ihrem dramatischen Auf-
putz ist aber in das Reich der Fabel zu verweisen; denn mit vollster Sicherheit
25
Im Lauf des gestrigen Nachmittags hat der Kaiser einen aus-
führhchen Vortrag von mir über die Sache entgegengenommen und
ergibt sich aus den Akten (vgl. namentlich den Brief Lord Salisburys an Graf
Hatzfc'ldt vom 8. August, Nr. 2380), daß eine solche Unterredung an Bord der
„Hohcnzollcrn" gar nicht stattgefunden hat. Damit fallen auch die Schluß-
folgerungen, die Freiherr von Eckardstein aus dem angeblichen Verhalten des
Kaisers gegen den englischen Staatsmann zieht, in sich zusammen. Daß nicht das
Verhalten Kaiser Wilhelms II. ein ungehöriges war, sondern dasjenige Lord Salis-
burys, geht klar und deutlich aus dem Entschuldigungsbrief des englischen
Premiers vom 8. August (siehe Nr. 2386) hervor, nach dem dieser die felepho-
nische Aufforderung des Kaisers, zur Fortsetzung des Gesprächs zu ihm zu
kommen, völlig ignoriert hat, derart, daß der Kaiser 2—3 Stunden vergeblich
wartete. Ohnehin hatte der Kaiser Grund, sich durch einen Begrüßungsartikel
verletzt zu fühlen, den der ministerielle „Standard" bei der Ankunft des Kaisers
in England gebracht hatte, und in dem u. a. die Hoffnung ausgesprochen war, daß
Wilhelm 11. bei der englischen Königin eine Lektion politischer Weisheit nehmen
möge. Nach diesem Artikel die persönliche Brüskierung durch Lord Salisbury:
das mußte allerdings eine Mißstimmung bei Kaiser Wilhelm II. erzeugen. So ist
es immerhin verständlich, wenn Holstein am 20. März 1901 an Eckardstein (siehe
dessen Lebenserinnerungen Bd. II, S. 282) schrieb: „Namentlich gelang es ihm
— Lord Salisbury — durch sein flegelhaftes Auftreten im Herbst 18Q5, den besten
Freund, den England in Deutschland hat, den Kaiser, in eine Stimmung zu
bringen, welche dann das ihrige zur Ablassung des Krügertelegramms beitrug."
In ähnlichem Sinne, wenn auch weniger schroff, hat sich Holstein am
31. Oktober 1901 zu dem früheren Berliner Korrespondenten der „Times", Valen-
tine Chirol, ausgelassen: „Lord Salisbury habe unmittelbar nach der Ankunft Seiner
Majestät in England ihm jenes Teilungsprojekt vorgetragen, jedoch eine Ab-
lehnung erfahren, welche durch ihre Lebhaftigkeit ihn wohl verletzt haben möge,
denn der Minister sei der nächsten Aufforderung des Kaisers zu einer erneuten
Besprechung ausgewichen und statt dessen nach London abgereist. Dieser dem
Kaiser erteilte Korb sei dann noch Gegenstand längerer diplomatischer Korre-
spondenz zwischen Berlin und London gewesen und habe eine Stimmung er-
zeugt, welche auf die Haltung des Kaisers zur Zeit des Jameson-Einfalles wohl
nicht ohne Einfluß gewesen sei" (Aufzeichnung Holsteins vom 31. Oktober 1901).
Ob wirklich die Stimmung des Kaisers gegen Lord Salisbury von Anfang an
so erregt gewesen ist, muß nach dem Befund der Akten doch bezweifelt werden.
Zu einem Wiener Bericht vom 18. August (siehe Nr. 2391) hat Wilhelm II. jeden-
falls noch eine Schlußbemerkung niedergeschrieben, in der er im Hinblick darauf,
daß der Teilungsgedanke aus Lord Salisburys Haupt, zumal nach dessen öffent-
licher Stellungnahme in der Oberhausrede vom 15. August, doch nicht mehr zu
verdrängen sein werde, ganz sachlich zu dem Gedanken der Teilung Stellung
nimmt und ihm gute Seiten abzugewinnen sucht. Ganz ähnlich äußerte sich Wil-
helm II. zu einem Konstantinopeler Bericht vom 22. August (Nr. 2416). Die von
Holstein behauptete lange andauernde Verstimmung des Kaisers könnte also erst
nachträglich durch die sich an Lord Salisburys Entschuldigungsschreiben vom
8. August knüpfende „längere Korrespondenz", von der indessen bei den Akten
nichts vorhanden ist (auch das Salisburysche Schreiben vom 8. ist als ein Privat-
brief erst am 19. August zu den Akten des Auswärtigen Amts genommen worden),
hervorgerufen sein.
Eine eigene Aufzeichnung des Kaisers über die Unterredung mit Lord Salis-
bury vom 5. August liegt, wie auf Grund der genauesten Nachforschungen in
den Akten konstatiert werden muß, nicht vor; es findet sich nicht die leiseste An-
spielung darauf. Ob Sir Valentine Chirol, der in der „Times" vom 11. und 13. Sep-
tember 1920 unter dem Titel „Ex-Kaiser and England. New Chapter of Diplomacy"
26
sich mit der Auffassung, zu welcher der Herr Reichskanzler nach Tele-
gramm Nr. 257* seine Zustimmung ausgesprochen hat, vollkommen ein-
verstanden erklärt. Nach meiner Rückkehr nach London werde ich daher
die Angelegenheit in diesem Sinne bei dem Premierminister weiter
verfolgen.
Hatzfeldt
Nr. 2386
Der englische Premierminister Marquess of Salisbury an den
Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Eigenhändig
Particuliere. Jeudi Aoüt 8. [1895]
La Reine me mande que S. M. L'Empereur mardi apres midi a
attendu deux ou trois heures pour me voir. C'est la premiere fois
que j'ai compris cette circonstance et jen suis desole.
Je n'avais pas la moindre idee que S. M. voulait causer avec moi,
et quand ä trois heures trois quarts j'ai re^u un telephone qu'il voulait
bien me recevoir ä 4 heures j'ai imagine que c'etait une politesse
gracieuse de sa part — et quand je suis sorti de l'audience pres la
Reine j'ai cru l'invitation annulee par la grande longueur de mon
audience.
Je n'ai qu'ä repeter mon tres grand regret pour le desagrement
que j'ai involontairement cause ä Sa Majeste.
Croyez moi toujours le votre. Salisbury
über seine Unterredung mit Holstein vom 31. Oktober 1001 berichtet, wirklich,
wie ihm Eckardstein (a. a. O. III, 13) unterstellt, eine eigne Aufzeichnung des
Kaisers eingesehen haben will, ist nicht ganz klar; Chirol sagt eigentlich nur, Fürst
Bülow habe angeordnet „that I should be allowed to peruse what purported to
be a copy of the Emperor's own record of the Cowes conversation". In einer
Holsteinschen Aufzeichnung über die Unterredung mit Valentine Chirol heißt
es darüber im Anschluß an die von Chirol vorgetragene englische Version, daß
der Vorschlag der Teilung der Türkei nicht von englischer, sondern von deut-
scher Seite ausgegangen sei, und daß Lord Salisbury sich der weiteren Er-
örterung des heikelen Gegenstandes nur durch schleunige Abreise habe ent-
ziehen können, „Ich hatte die Akten schon bereit gelegt und las Teile von Graf
Hatzfeldts Meldung (siehe Nr. 2372), sowie eine nach Helgoland an Herrn von
Kiderlen gerichtete Warnung (siehe Nr. 2377) vor. Chirol bemerkte darauf: ,Das
ist eine ernste Sache. Man war doch bisher gewohnt anzunehmen, daß dem
Worte eines Premierministers Glauben zu schenken sei. Jedenfalls bin ich
orientiert'."
Was Chirol „a copy of the Emperor's own record of the conversation" nennt,
wäre also in Wahrheit nur ein Teil der Hatzfeldtschen Berichterstattung, Aus dieser
aber (vgl. namentlich Nr. 2371) geht mit voller Gewißheit hervor, daß der Ge-
danke einer Aufteilung der Türkei von Lord Salisbury und nicht von deutscher
Seite ausgegangen ist,
• Vgl. Nr. 2384.
27
Nr. 2387
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
London, den 14. August 1895
Lord Salisbury sagte mir gestern, daß Italien den früher so dringend
verlangten Agenten in Zeila* mit Befugnis zur Flaggenführung nicht
mehr haben wolle. — Warum, wußte er anscheinend nicht, meinte
aber, die Erklärung werde wohl sein, daß die italienische Regierung
jetzt mehr haben wolle. Lord Salisbury hatte wegen anderweitigen
geschäftlichen rendez-vous wenig Zeit übrig, ich hatte aber außer-
dem den Eindruck, daß er in bezug auf Mittelmeerfrage und eventuelle
künftige Verteilung von türkischen Territorien etwas zurückhaltender
war, und ich enthielt mich daher ebenfalls jeder Initiative. Haben die
Italiener von seiner Anregung mir gegenüber etwas erfahren und hier
vielleicht durchblicken lassen, daß sie davon wissen? Er wiederholte
mehrmals mit einem gewissen Nachdruck, daß er mit niemandem auf der
Welt außer mit mir darüber gesprochen habe. Im übrigen blieb er
dabei, daß nach allen seinen Nachrichten die Dinge in der Türkei
schlecht ständen, komme es aber einmal zum Zusammenbruch, so sei
der Krieg beinahe unvermeidlich. Nutzanwendung: ich möchte doch
für rechtzeitige befriedigende Konzessionen des Sultans in der armeni-
schen Frage sorgen **.
Sehr frappiert hat mich gestern in meinen Unterhaltungen mit
Baron de Courcel und Lord Salisbury, daß beide besonders von
Marokko präokkupiert schienen. Baron de Courcel ließ die Bemerkung
fallen, daß Frankreich hier wohl eventuell Marokko bekommen könnte,
allerdings ohne das wichtige Tanger, welches England sich reserviere.
Lord Salisbury zeigte die frühere Besorgnis vor französischen Be-
strebungen in Marokko, meinte aber dazu, daß Frankreich sich für
Einräumung von Marokko zu vielen Dingen verstehen würde.
Sie sind hoffentlich damit einverstanden, daß ich vorläufig kein
Empressement zeige, auf Besprechung der Teilungsprojekte mit Lord
Salisbury zurückzukommen. Wir werden aber die Augen offen halten
müssen.
Die gestrigen Äußerungen Lord Sallsburys haben mich in der
Ihnen bekannten Überzeugung bestärkt, daß er es als eine unvermeid-
liche Voraussetzung jeder friedlichen Teilung im Orient betrachtet,
den Russen Konstantinopel, wahrscheinlich mit Einschluß der Dar-
danellen, einzuräumen. Er wiederholte aber dabei nochmals, daß er,
wie früher, die Erhaltung der Türkei bei weitem vorziehen würde.
Hatzfeldt
Vgl. Bd. VIII, Kap. LXIV, A, Nr. 2015 f.
' Vgl. Kap. LXI, A, Nr. 2412.
28
Nr. 2388
Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den
Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Privat Berlin, den 14, August 1895
Die Äußerungen von Salisbury über Teilung* sind ganz geheim
behandelt worden. Ich werde morgen noch Rotenhan fragen. Wahr-
scheinlich ärgert sich Lord Salisbury, weil der Kaiser sich zur Teilungs-
idee nicht bekehren ließ. Frankreich in Marokko, also mit vermehrter
Kontrolle der Straße von Gibraltar, und Rußland in den Dardanellen,
also gegenüber Port Said — dies als englisches Programm ist nur er-
klärlich, wenn man bei Lord Salisbury den Glauben voraussetzt, es
werde gleich bei der Durchführung zum allgemeinen Kriege der kon-
tinentalen Mächte kommen, wo dann England seine gewöhnliche Rolle
spielen würde. In der Tat würde z. B. bei der Teilung Marokkos Italien
sofort versuchen, den Dreibund hineinzuziehen.
Angesichts einer solchen englischen Politik dürfen wir tVeniger
als je die Brücken nach Rußland hin abbrechen.
Lobanow und Salisbury entwickeln gewisse Ähnlichkeiten: Hoch-
mut, Rücksichtslosigkeit, Ablehnung der Gleichberechtigung Mit-
beteiligter.
Ich werde Sonnabend vormittag dem Reichskanzler Vortrag halten.
Bitte vorher um Ihre Ansicht.
Holstein
Nr. 2389
Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 264 Berlin, den 15. August 1895
Über den Inhalt von Ew. letzten Unterredungen mit Lord Salis-
bury ist keinerlei Mitteilung gemacht worden**, außer dem Reichs-
kanzler und Herrn von Kiderlen unter Hinweis auf streng vertrau-
lichen Charakter.
Der Umstand, daß Lord Salisbury sich der zweiten Unterredung
mit Seiner Majestät dem Kaiser entzog, läßt vermuten, daß die erste
Unterredung, wo Seine Majestät Interesse für den Fortbestand des
Türkischen Reichs zeigte, den englischen Minister verdrossen hat. Den
* Vgl. Nr. 2372 und 2375.
** Vgl. Nr. 2372 und 2375.
29
Gedanken, eine Ableitung für Ägypten zu schaffen, scheint Lord Salis-
bury ab^r nicht aufgegeben zu haben, nach dem zu urteilen, was
Ew. über seine und des französischen Botschafters Äußerungen hin-
sichtlich Marokkos berichten.
Ob eine Teilung Marokkos In der Art, daß England und Frank-
reich die Hauptgewinner sind, ohne vorherigen europäisclien Kongreß
durchführbar sein würde, hängt vom guten Willen Europas ab. An
diesem möchte ich, selbst von dem fernen deutschen Standpunkte
aus, zweifeln, weil nicht bloß marokkanisches Gebiet, sondern auch
das europäische Gleichgewicht und für uns speziell der Bestand des
Dreibundes in Frage kommt.
Vielleicht kommt die Angelegenheit aber gar nicht so weit, wenn
es nämlich England und Frankreich nicht gelingt, sich über denjenigen
Gebietsteil, welcher die Durchfahrt von Süden beherrscht, zu ver-
ständigen. Die Äußerung des französischen Botschafters im vorletzten
Absatz von Ew. Telegramm Nr. 223* zeigt, daß Baron Courcel die Aus-
gleichung der englisch-französischen Interessengegensätze noch keines-
wegs für sicher hält
Rotenhan
Nr. 2390
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Geheim London, den 16. August 1895
Für Baron von Holstein.
Antwort auf Privattelegramm **. War gestern abwesend, daher
Verzögerung.
Nach meiner Überzeugung ist die Situation folgende:
Lord Salisbury sieht, wie schon früher Lord Rosebery, schwierige
Zeiten für England kommen und sucht sich dagegen beizeiten zu
decken. Während sein Vorgänger unmögliche Arrangements mit Öster-
reich, respektive Deutschland, anstrebte***, sucht Lord Salisbury nach
einem Verteilungsplan im Orient, durch welchen die Krisis beschworen,
jeder mehr oder weniger befriedigt, namentlich aber England das
Seinige ohne Schwertstreich erhalten, vielleicht noch mehr zugewandt
werden könnte. Über die Details des Planes, dessen Schwierigkeiten
* Der betreffende Absatz in dem Bericht des Grafen Hatzfeldt Nr. 223 vom
13. August über ein Gespräch mit dem französischen Botschafter lautet: „Schließ-
lich ließ Baron Courcel deutlich durchblicken, daß Frankreich und Deutschland
sich auch in Afrika, wo England niemandem etwas gönne, über manches ver-
ständigen könnten."
** Siehe Nr. 2388.
*** Siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2147 ff.
30
er nicht verkennt, ist er sich noch keineswegs klar. Der Zweck
seiner geheimen Besprechungen darüber mit mir war, zunächst sich
zu versichern, ob und welcher Verteilung wir zustimmen würden, dann
aber, wenn wir einig würden, durch uns Italien und Österreich, wahr-
scheinlich auch Rußland, dafür zu gewinnen. Dann war England schön
heraus, ohne für die Hülfe einer andern Macht hohen Preis zu zahlen,
Frankreich wäre von Rußland getrennt und würde schwerlich ohne das-
selbe einen großen Krieg riskieren, eventuell würde man noch einen
Bissen für dasselbe suchen, Syrien oder sonst etwas. Das ist die Auf-
fassung Lord SaUsburys. Einen Krieg der Kontinentalmächte wünscht
er nicht, und seine Berechnung geht nicht so weit, davon bin ich
überzeugt. Die frühere Rolle würde England in diesem Falle nicht
spielen können, weil es durch etwaige Niederwerfung Italiens und
Österreichs hülflos an Rußland und Frankreich ausgeliefert würde und
alle Bedingungen der beiden annehmen müßte. Jeder Friedensschluß
zwischen den streitenden Mächten könnte England, weil es keinem
geholfen, ebenfalls teuer zu stehen kommen. Alles das weiß Lord Salis-
bury sicher ganz genau.
Auf der anderen Seite haben wir mit Rußland zu rechnen, dessen
jetzige Regierung uns ebensowenig gönnt, uns mit gleicher, wenn nicht
größerer Rücksichtslosigkeit behandelt, auch wo wir ihm helfen wollen.
Wir haben von dort manches zu fürchten, aber nichts zu hoffen, so-
lange es nicht durch ein bindendes Abkommen verbürgt
ist. Die französische Freundschaft, in welcher die wahre Gefahr für uns
liegt, wird Rußland meines Erachtens nie aufgeben, solange wir ihm
nicht entweder den Weg nach Konstantinopel ebnen, indem wir Öster-
reich einfach fallen lassen oder letzteres zu einer Verständigung darüber
mit den Russen bestimmen, was dem Fürsten von Bismarck nicht ge-
lungen ist.
Unter solchen Umständen bin ich der Überzeugung, daß unser
Interesse uns vorschreibt, die Brücken nach keiner Seite abzubrechen
und die Möglichkeit der Verständigung nach beiden Seiten offen
zu halten. Zeigt England sich einem Plan geneigt, welcher für unsere
Alliierten und auch für Rußland annehmbar erscheint, daher die
dauernde Erhaltung des Friedens hoffen läßt, so haben wir meines
Erachtens keinen Grund, dies von vornherein abzuweisen. Werden uns
in St, Petersburg Vorschläge gemacht, oder zeigt sich dort überhaupt
Aussicht für eine wirkUche und bindende Verständigung, durch welche
die Erhaltung des Friedens, namentlich aber unsere eigene Sicherheit,
also vor allem russische Neutralität bei einem Konflikte mit Frankreich,
gewährleistet wird, so werden wir das ebensowenig zurückweisen
dürfen.
Bis zum Eintritt eines der beiden angeführten Fälle ist es nach
meiner festen Überzeugung unsere Aufgabe, die Beziehungen mit un-
sern Bundesgenossen zu pflegen, gleichzeitig aber uns volle Ak-
31
tionsfreiheit vorzubehalten. Alle kontinentalen Mächte mit Einschluß
Rußlands werden sich zweimal bedenken, einen europäischen Krieg zu
provozieren, ohne unserer Haltung sicher zu sein. Kommt es durch die
Macht der Verhältnisse dennoch dazu, so werden sich alle um uns be-
werben müssen, und wir werden das entscheidende Wort zu sprechen
haben, wenn wir den richtigen Augenblick ruhig abzuwarten verstehen.
Der einzige schwache Punkt dieser Politik ist, daß Lord Salis-
bur>' Mittel findet, irgendeinen Ausglcichungsplan ohne uns in Wien, Rom
und Petersburg zur Annahme zu bringen, oder daß Österreich sich direkt
mit Rußland über den Orient verständigt. Beides halte ich für möglich,
sehe aber kein Mittel, uns dagegen zu decken, wenn wir nicht vorher
zu einer Verständigung mit Lord Salisbury oder mit Fürst Lobanow
gelangen können.
Hatzfeldt
Nr. 2391
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 207 Wien, den 18. August 1895
Die Rede Lord Salisburys im Oberhause* hat in der hiesigen Presse
im allgemeinen eine Kritik erfahren, die in Anbetracht der Überraschung
über das Faktum der außerordentlich energischen Sprache des Lords
eine maßvolle genannt werden kann. Das Organ der Regierung, „Das
Fremdenblatt", spricht nur von der sehr ernsten Verwarnung an die
Türkei und stimmt darin mit der mir gestern abend vom Grafen
Goluchowski gemachten Äußerung überein.
Der Minister behauptet, auf die Rede „vorbereitet" gewesen zu
sein. Lord Salisbury habe dem österreichischen Vertreter in London
mitgeteilt, daß die Haltung der Pforte in der armenischen Frage ihn
* Am 15. August hatte Lord Salisbury im Oberhause eine sensationelle Rede über
die Türkei und die armenische Frage gehalten, in der er ernste Zweifel über den
dauernden Bestand des türkischen Reiches aussprach. Es hieß darin u.a.: „Die
Unabhängigkeit der Türkei ist zwar in das europäische Staatsrecht eingeschrieben
und durch die Verträge von Paris und Bariin gewährleistet, ist aber doch eine
ganz besondere Unabhängigkeit: sie ist eine Unabhängigkeit, die auf Grund der
Übereinkunft anderer Mächte bestellt, sie nicht anzutasten und sie aufrecht-
zuerhalten. Wie lange der heutige Zustand der Dinge andauern wird, das er-
scheint mir, ich gestehe es, heute mehr zweifelhaft als vor 20 Jahren. Wenn
von Geschlecht zu Geschlecht Jammergeschrei aus verschiedenen Teilen des Tür-
kischen Reiches erschallt, so kann nach meiner Oberzeugung der Sultan sich nicht
über die Wahrscheinlichkeit täuschen, daß Europa früher oder später der Hilfe-
rufe, die von selten der Pforte zu ihm dringen, überdrüssig werde, und daß die
dem Türkischen Reiche verliehene künstliche Stärke versagen werde."
32
zwänge, einen starken Druck auf den Sultan mittelst öffentlicher Kund-
gebung auszuüben.
Anscheinend war Graf Goluchowski durch diese Vorbereitung auch
über die Äußerungen Lord Salisburys beruhigt, welche den Bestand
der Türkei als einen prekären darstellen, pp.
Gegenüber dieser Haltung des Ministers möchte ich mir gehorsamst
erlauben, auf den hier beigefügten Artikel der „Presse" vom heutigen
Tage aufmerksam zu machen, eines Blattes, das bisweilen zu offiziösen
Kundgebungen benutzt wird. Will ich auch annehmen, daß die Äuße-
rungen des „Fremdenblattes*' bezüglich der Rede Lord Salisburys
den entsprechenden Ausdruck für die Auffassung der hiesigen Re-
gierung wiedergeben, so kann ich nicht leugnen, daß der Artikel der
„Presse" über die Äußerungen Salisburys, welche den Zusammenbruch
der Türkei in erkennbare Nähe schieben, den Anschauungen der
hiesigen Regierung entsprechen dürfte. Es fällt mir auch dabei auf,
daß die „Presse" das einzige Journal ist, welches den Gedanken aus-
spricht, „daß England die armenische Frage nur deshalb ^ forcieren und
ausbeuten will, damit man in Konstantinopel, Petersburg und Paris
die ägyptische Frage vergesse 2". P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
^ Richtig
* oder in England angenehmer Weise regle. Daher ist der Gedanke an einen
Zerfall der Türkei aus Salisburys Haupt nicht mehr zu verdrängen. Dem
folgt der Theilungsgedanke nach dem Gesetze der Logik. Will England das
Land der Pharaonen von Rus so- Frankreich ungefährdet behalten, ist ein ge-
eigneter Schritt die Auflassung des Bosporus und der Dardanellen an das
erstere. Damit muß alle Welt insbesondere Oesterreich rechnen. Zu verhindern
ist es nicht mehr. Wohl aber könnte Oesterreich unmittelbar und der Dreibund
mittelbar einen Vortheil daraus ziehn, wenn statt der [die] Knochen Pommerscher
Grenadiere und Magyarischer Honvedes für Stamboul's Erhaltung einzusetzen,
die Reiche das Letztere an Rußland gegen Compensation (Salonik, Zurück-
ziehung der Über-Masse der Truppen an unsrer Ostgrenze etc.) anböten; oder
Geneigtheit dazu erkennen lassen. Damit wird vermieden, daß der Brite dem
Russen allein die Dardanellen schenkt! Zögyeny* ist von mir in dem Sinne
beschieden mit Einverständniß des Reichskanzlers, neulich bei der Tafel am
18; und hat sich völlig einverstanden erklärt.
Nr. 2392
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 560 London, den 3L August 1895
Geheim
Als ich mich bei Lord Salisbury mit Rücksicht auf bevorstehenden
Urlaubsantritt verabschiedete, kamen wir in zwangloser vertraulicher
* L. V. SzögycHy^Marich, Österreich-ungarischer Botschafter in Berlin.
-3 Die Gro6e Politik. 10. Bd. 33
Unterhaltung und im Anschluü an armenische Frage nochmals auf die
Eventualitäten der Zukunft. Der Minister äußerte sich diesmal ganz
anders als in vorhergehenden Unterhaltungen. Ganz offen ging er
von der Voraussetzung aus, daß die Russen vom Schwarzen AVeer aus
den Zutritt zum Mittelmeer erlangen würden, und bezeichnete dies
als nach seiner Auffassung ganz annehmbar für England. Auch Ägypten,
welches sich dann vielleicht schwer würde halten lassen, sei von keiner
solchen Wichtigkeit, daß man hier nicht darauf verzichten könnte.
Als ich hier die Bemerkung fallen ließ: „Wohl für eine andere Kompen-
sation im Mittelmeer?", sagte Lord Salisbury: „Non, mes convoitises
sont ailleurs, plutöt du cöte de TEuphrate.''
Er fügte dann hinzu: „Bien entendu ces opinions sont toutes per-
sonnelles et je ne vous dis pas qu'aucun de mes collegues les partage.
Je ne vous garantis pas non plus que je ne changerai pas mois-meme
ma maniere de voir ä ce sujet.''
Als von der Möglichkeit einer Krisis im Orient die Rede war,
sagte der Minister noch zum Schluß : „Si cela arrive, je crois que ce
sera l'Allemagne qui ouvrira aux Russes le chemin de Constantinople.'*
Ich erwiderte: „Dans de certains cas vous feriez peut-etre de
meme si vous etiez ä la tete du Gouvernement allemand. Je n'exprime
qu'une opinion personnelle, mais je crois que, dans notre Situation
mcnacee de deux cötes, notre devoir est avant tout d'assurer notre
securite, si eile ne nous est pas garantie d'une autre maniere i."
Kurz nach dieser Unterhaltung traf ich mit dem französischen
Botschafter zusammen, welcher sofort von der hiesigen politischen
Situation anfing, die er als außerordentlich dunkel und kompliziert be-
zeichnete. Es sei unendlich schwer, sich ein Bild zu machen, was Lord
Salisbury eigentlich wolle. Er fügte dann hinzu: „C'est du reste un
hommc qui aime ä envisager les problemes de I'avenir et ä les
discuter.*'
Bei einem zweiten gelegentlichen Zusammentreffen kam Baron
de Courcel auf diesen Punkt zurück. Er ließ diesmal deutlich durch-
blicken, daß es sich um Probleme im Mittelmeer handele, und
ließ dabei das Wort „partage" fallen. Im Laufe der Unterhaltung er-
wähnte der Botschafter mehrmals, nicht ohne Absicht, die intimen Be-
ziehungen, die zwischen Frankreich und Rußland augenblicklich
beständen.
Der Unterstaatssekretär Sir Th. Sanderson, welchem ich ebenfalls
einen Abschiedsbesuch machte, suchte mich im Laufe der Unterhaltung
zu überzeugen, daß hier in bezug auf die auswärtige Politik nichts
verändert sei, und daß die Neigung Lord Saiisburys nach wie vor dahin
gehe, mit dem Dreibund in Übereinstimmung zu bleiben. Er leugnete
dabei nicht, daß es während des Ministeriums Rosebery eine Zeit ge-
geben habe, wo man hier wegen unseres „unfreundlichen" Auftretens
in der Kongofrage sehr gereizt gegen Deutschland gewesen sei. Auch
34
darüber sei man verstimmt gewesen, daß wir seinerzeit abgelehnt,
mit England zusammen auf die Lösung der chinesisch-japanischen
Schwierigkeiten einzuwirken, uns aber dann auf die erste Aufforderung
der Russen dabei beteiligt hätten. JVlanche Abweichungen von der
sonstigen deutschfreundlichen Politik der englischen Regierung, wie
z.B. die Annäherung an Rußland und auch eine etwas mehr
franzosenfreundliche Politik in Marokko, seien lediglich die
Folge dieser Gereiztheit gewesen.
Selbstverständlich wies ich die Behauptung, daß wir in der Kongo-
frage unfreundlich gewesen, als unbegründet zurück, indem ich daran
festhielt, daß unser Verhalten durch die vorhergehende Rücksichts-
losigkeit Englands in der Frage hervorgerufen und berechtigt ge-
wesen sei.
Die im vorstehenden geschilderten Unterhaltungen haben mich in
der Überzeugung bestärkt, daß die auswärtige Politik Lord Saüsburys
noch nicht endgültig feststeht, und daß er nach einer Kombination
sucht, die für den Fall einer Krisis im Orient die Sicherheit und viel-
leicht den Vorteil Englands garantiert, ohne daß letzteres dafür das
Schwert zu ziehen oder unerwünschte Opfer aus der eigenen Tasche
zu bringen braucht. Seine Unterhaltungen mit mir vor meiner Reise
nach Cowes gestatten kaum einen Zweifel, daß er uns zunächst für
eine solche Kombination zu gewinnen hoffte. Die Äußerungen des
Baron de Courcel gegen mich lassen zum mindesten vermuten, daß der
Premierminister seitdem auch nach dieser Richtung einen Fühler aus-
gestreckt hat.
Ob auch in St. Petersburg, habe ich bis jetzt nicht ermitteln
können, bezweifle aber kaum, daß die Eindrücke des Baron de Courcel
ihren Weg über Paris nach St. Petersburg gefunden haben.
Hatzfeldt
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Sehr gut
Nr. 2393
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 253 London, den 25. Oktober 1895
Telegramm Nr. 290* erhalten.
In meiner heutigen ersten ausführlichen und ganz vertraulichen
Unterhaltung mit Lord Salisbury äußerte derselbe sich zunächst über
* Durch Telegramm Nr. 290 war dem Grafen Hatzfeldt Kenntnis von einem Diktat
Kaiser Wilhelms vom 25. Oktober 1S95 über seine Unterredung mit dem eng-
lischen Militärattache Oberst Swaine vom gleichen Tage (siehe Bd. XI, Kap. LXIII,
Nr. 2579) gegeben worden.
die von der heutigen „Times" gebrachte Nachricht über ein geheimes
russisch-chinesisches Abkommen dahin, daß ihm noch keine Be-
stätigung dafür zugegangen sei, daß es ihm aber, wie er mir schon
früher gesagt, durchaus nicht unlieb wäre, wenn Rußland sich in China
weiter engagiere. Es würde dadurch vom Orient abgelenkt werden
und wäre dann mit den ihm übrigbleibenden Streitkräften nicht mehr
stark genug, um gleichzeitig an ein Vorgehen vom Schwarzen Meer
aus zu denken. Nur in dem Fall, wenn Rußland sich ausschließ-
liche Rechte für seine Schiffe in Port Arthur ausbedingt hätte,
würde England dagegen Einwendungen erheben müssen.
Über die Erledigung der armenischen Frage zeigte sich der Mi-
nister besonders deshalb erfreut, weil damit die Sorge vor einem Zu-
sammenbruch des Türkischen Reichs und die Notwendigkeit vorläufig
wegfalle, sich über das fernere Schicksal der Bestandteile desselben
den Kopf zu zerbrechen. Lord Salisbury betonte dabei, daß er in erster
Linie die Erhaltung des europäischen Friedens wünsche. Sollte es
dennoch infolge irgendeines russischen Vorgehens im Orient zu einer
Krisis kommen, so werde er sich sofort und vor allem nach Berlin
wenden, um sich mit uns über eine gemeinschaftliche Haltung zu ver-
ständigen. Der Minister fügte hinzu, daß man in Wien wegen des
Orients sehr besorgt sei und namentlich befürchtet habe, daß er, Lord
Salisbury, den Russen die Dardanellen überlassen wolle. Er habe daher
dem Grafen Goluchowski sagen lassen, daß er niemals eine solche Ab-
sicht ausgesprochen habe, und könne nur versichern, daß er in allem,
was die orientalische Frage betreffe, stets auf die österreichischen
Interessen in erster Linie Bedacht nehmen werde.
Ohne mich nach irgendeiner Richtung zu engagieren, habe ich
den Minister freundschaftlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, daß
die bisherige unsichere Politik Englands, die vielleicht zum Teil noch
den Mißgriffen seines Vorgängers zuzuschreiben sei, fast überall in
Europa Mißtrauen hervorgebracht habe, und daß niemand mehr an
bestimmte Ziele der englischen Politik und an eine konsequente Durch-
führung derselben glauben wolle.
Als der Minister mir, wie angeführt, mit Nachdruck sagte, daß
er sich im Fall einer drohenden Krisis sofort und zunächst mit uns
verständigen w^olle, habe ich erwidert, daß ich ihn stets bereitwillig
anhören würde, wenn es dann nicht zu spät sei.
Der neue englische Botschafter* soll hier genau über alles in-
formiert werden, damit er eventuell auch in der Lage ist, sich Seiner
Majestät gegenüber über alle von allerhöchstdemselben berührten
Fragen auszusprechen.
Das Telegramm Nr. 290 ist mir erst nach meiner Unterredung
mit Lord Salisbury zugegangen. H atzfei dt
* Sir F. Lascelles.
36
Kapitel LXI
Salisbury und die Armenische Frage
Juli bis Dezember 1895
A. Vom Antritt des neuen Kabinetts Salisbury bis zur
Annahme des Armenischen Reformplanes
Juli bis Oktober 1895
Nr. 2394
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler Fürsten von liohenlohe
Ausfertigung
Nr. 476 London, den 6. Juli 1895
In einer längeren politischen Rede, die Lord Rosebery* gestern
in der Albert Hall gehalten hat, hat er auch die armenische Frage be-
rührt, in der offenbaren Absicht, seinem Nachfolger dadurch Schwie-
rigkeiten zu bereiten. Nachdem er hervorgehoben hatte, daß das liberale
Kabinett im Einverständnis mit Rußland und Frankreich den Zweck
verfolgt habe, den Armeniern durch einen scharfen Druck in Konstanti-
nopel zum mindesten Sicherheit gegen „unerträgliche Bedrückung,
unerträgliche Grausamkeit und unerträgliche Barbareien" zu verschaffen,
fügte er hinzu, er hoffe, daß die jetzige Regierung auf dem von ihren
Vorgängern vorgezeichneten Wege nicht schwanken würde, da sie
sonst mit der ganzen christlichen Bevölkerung des Vereinigten König-
reichs Abrechnung zu halten haben würde.
Die Berechnung der Liberalen geht, wie ich es erwartet hatte,
dahin, Lord Salisbury vor die Alternative zu stellen, entweder gegen
seinen Wunsch den Sultan noch weiter zu demütigen und zu schädigen
oder, wenn er dies nicht tut, sich mit der von den Liberalen zugunsten
der Armenier künstlich erregten öffentlichen Meinung in Widerspruch
zu setzen.
Aus vertraulichen Äußerungen Lord Salisburys gegen mich habe
ich den Eindruck gehabt, daß er dies vollständig durchschaut, und daß
er versuchen wird, die ihm in den Weg gelegten Schwierigkeiten zu
umgehen, indem er den Anschein aufrechthält, daß England sich für
das Los der Armenier interessiert und in dieser Hinsicht keinen Rückzug
antritt, ohne sich jedoch, soweit er es vermeiden kann, zu einem
schärferen Auftreten in Konstantinopel drängen zu lassen. Seine größte
Hoffnung beruht aber darauf, daß der Sultan ihm seine Aufgabe er-
leichtern wird, indem er von selbst Maßregeln zur Herstellung einer
besseren Verwaltung ergreift und zu diesem Zweck vor allem an-
rüchige Beamte aus den betreffenden Provinzen abberuft und durch
bessere ersetzt. Mit offenbarer Genugtuung teilte mir der Minister
deshalb gestern mit, daß nach einer ihm eben zugegangenen Nach-
* Das liberale Kabinett Lord Rosebery hatte Ende Juni 1895 einem konservativen
Kabinett Lord Salisbury Platz gemaclit.
39
rieht der Sultan bereits einen der bedeni<lichsten Walis — der Name
war ilini entfallen — aus Armenien entfernt habe.
Wenn der Sultan die hiesige Situation, wie sie sich aus dem letzten
Kabinettswechsel ergibt, richtig erkennt, wird er nicht zögern dürfen,
den Wünschen Lord Salisburys in bezug auf die fraglichen Maßregeln
möglichst entgegenzukommen und ihm dadurch die Wege für die,
wie ich nicht zweifele, von ihm selbst gewünschte, mildere Behandlung
der armenischen Frage zu ebnen.
P. Hatzfeldt
Nr. 2395
Der Stellvertretende Staatssekretär des AuswärtigenAmtes Freiherr von
Rotenhan an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn vonSaurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 41 Berlin, den 7. Juli 1SQ5
In der ersten Unterredung, welche Lord Salisbury mit dem Grafen
Hatzfeldt gehabt hat, bemerkte ersterer, daß es in hohem Maße wün-
schenswert sein würde, wenn der Sultan aus eigenem Antriebe, ehe
die neue englische Regierung die Verhandlungen wegen Armeniens
wieder aufnähme, in der armenischen Angelegenheit etwas tue, z. B.
die Ersetzung schlechter Gouverneure durch gute, denn England könne
nicht ganz zurück.
Ew. pp. stelle ich die ganz vertrauliche Verwertung des Vor-
stehenden ausschließlich nach türkischer Seite anheim.
Rotenhan
Nr. 2396
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 483 London, den 10. Juli 1895
Ganz vertraulich
Als ich gestern mit Lord Salisbury die Nachrichten aus Mazedonien
respektive Sofia* besprach, brach er wiederholt davon ab, um auf die
armenische Frage zurückzukommen, die ihm bei weitem mehr Sorge
zu bereiten schien. Er bemerkte darüber:
„Wenn der Sultan uns doch nur einen annehmbaren Gouverneur
„vorschlagen wollte, dann könnten wir uns beruhigen, ohne ihm Zu-
„mutungen zu stellen, die seine souveränen Rechte oder seine Würde
* Seit Juni 1895 war an der bulgarischen Grenze ein Aufstand ausgebrochen, in
dessen Folge es zu Zusammenstößen zwischen türkischen und bulgarischen Soldaten
und zu Auseinandersetzungen zwischen der Pforte und Bulgarien kam, in die auch
die Vertreter der Großmächte eingriffen.
40
„beeinträchtigen würden. Aber ohne eine solche Genugtuung können
„wir nicht zurück i. Dazu ist, glauben Sie mir, die öffentliche Meinung
„hier zu stark engagiert (le courant est trop fort). Und es könnte
„doch immerhin ein Augenblick kommen, wo Rußland und England
„einmal wieder in der Sache übereinstimmen 2, und das würde dann
„das Ende der türkischen Herrschaft bedeuten."
Als ich hier einwarf, daß ich mir die fragliche Übereinstimmung
nicht recht denken könne, da Rußland kein autonomes Armenien an
seiner Grenze zu wünschen scheine, erwiderte der Minister: „Gewiß
„nicht, aber die Veränderungen, die dann kommen würden, würden
„vielleicht ganz andere und zugunsten Rußlands, also letzterem er-
„wünscht sein*".
Ich bin, obwohl unsere Unterhaltung eine ganz vertrauliche und
ungezwungene war, auf diesen Gedankengang vorläufig nicht näher
eingegangen, habe aber keine Zweifel, daß der Minister bei seiner
Äußerung eine Art Teilung der Türkei** im Auge hatte, bei welcher
die an der russischen Grenze liegenden türkischen Provinzen nicht
autonom, sondern russisch werden würden.
Als wir schließlich nochmals auf den von der Pforte zu ernennen-
den Gouverneur zurückkamen, bemerkte Lord Salisbury: „Wenn der
Sultan nur Reouf Pascha, den früheren Kriegsminister, vorschlagen
wollte. Schakir Pascha kann uns nicht passen, 11 est entierement
anglophobe."
Es ist mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß der Minister die Auf-
rollung der orientalischen Frage mit eventueller Teilung der Türkei
durchaus nicht wünscht. P. Hatzfeldt
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Es kann ja Saurma auf der von Radolin vorgezeichneten Basis fußend dem
Sultan freundschaftlichst so etwas suppeditiren.
Randbemerkungen des Kaisers:
1 Das ist Rosebery's That
2 ?
Nr. 2397
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von Rotenhan an den Botschafter in London Grafen
von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 228 Berlin, den 13. Juli 1895
Unter Bezugnahme auf Bericht Nr. 483***.
Auf Grund Euerer pp. Berichterstattung habe ich bereits am
* Vgl. Nr. 2371.
** Siehe Kapitel LX: Salisburys Aufteilungsplan Cowes.
*** Siehe Nr. 2396.
41
7. d. Mts. dem Kaiserlichen Botschafter in Konstantinopel telegraphisch
anheimgestellt, dort an maßgebender Stelle darauf hinzuweisen, wie
vorteilhaft es sein würde, wenn der Sultan aus eigener Initiative in
der armenischen Angelegenheit etwas tue, z. B, wenn er schlechte
Gouverneure durch gute ersetzen würde*.
Falls Ew. pp. es für angezeigt halten, stelle ich anheim, von sich
aus Rustem Pascha auf Reouf Pascha als geeigneten Gouverneur auf-
merksam zu machen.
Rotenhan
Nr. 2398
Der Stellverfrefende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von Rotenhan an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Saurma**
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 42 BerUn, den 14. Juli 1895
Graf Hatzfeldt meldet, daß Lord Salisbury dem Drängen der
öffentlichen Meinung Englands nicht mehr lange werde widerstehen
können und voraussichtlich binnen kurzem genötigt sein würde, in
der armenischen Frage voranzugehen, wenn nicht die Pforte der
englischen Regierung umgehend und freiwillig mindestens in der
Gouverneurfrage einige Konzessionen mache***.
Bitte dies vertraulich und unauffällig direkt an den Sultan ge-
langen zu lassen.
Rotenhan
Nr. 2399
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 83 Therapia, den 14. Juli 1895
Vertraulich
Der englische Botschafter hat gestern die türkischen Minister
aufgesucht, um bei denselben die armenische Frage zu urgieren und
ihnen zu sagen, er sei von Lord Salisbury angewiesen, bei der Pforte
darauf zu bestehen, daß der im Memorandum der drei Mächtef ins
Auge gefaßte Oberkommissar für die armenischen Provinzen nunmehr
♦ Vgl. Nr. 2395.
♦* Ein inhaltlich gleiches Telegramm ging an den Botschafter in Wien (Nr, 119).
*** Vgl. Nr. 2395, 2397.
t Vgl. Bd. IX, Nr. 2205.
42
baldigst entsendet und mit ausgedehnten Vollmachten versehen werde,
so zwar, daß er nicht in jedem einzelnen Falle gezwungen sei, bei der
Zentralstelle in Konstantinopel zuvor anzufragen.
Eine bestimmte befriedigende Antwort ist Sir Philip Currie nicht
gegeben worden.
Die aus einigen Ministern bestehende Kommission, welche vor
kurzem zusammengetreten war, um diejenigen Reformvorschläge aus
dem Memorandum der drei Mächte zu bezeichnen, welche mit der
türkischen Gesetzgebung vereinbar und für die Pforte annehmbar
seien*, hat ihre Aufgabe vollendet und auch die Instruktionen für
den Oberkommissar entworfen. Nach Prüfung dieser Vorschläge durch
den Ministerrat sind dieselben dem Sultan zur Genehmigung unter-
breitet worden, Seine Majestät hat aber die Sache, mit einigen Be-
merkungen versehen, an den Ministerrat zu erneuter Beratung zurück-
verwiesen.
Wie die Vertreter von England, Frankreich und Rußland vertrau-
lich wissen wollen, stehen die Zugeständnisse, welche die Pforte zu
machen geneigt ist, weit hinter den Reformvorschlägen der drei Mächte
zurück. Selbst in betreff der Ernennung des für Armenien bestimmten
Marschalls Schakir Pascha hat eine Verständigung nicht erzielt werden
können. Während die Ernennung Schakir Paschas zum Mufettisch
(Inspektor) einiger Lokalitäten Kleinasiens bereits vor einiger Zeit
amtlich veröffentlicht worden ist, erklären die drei Botschafter, ohne
die Wahl materiell weiter zu bemängeln, von dieser Ernennung keine
Notiz nehmen zu können, weil sie dieserhalb zuvor nicht befragt
worden seien.
Der für die Türkei in einem unverhofft günstigen Augenblick ein-
getretene Ministerwechsel in England hat der Pforte die Gelegenheit
geboten, durch rechtzeitige geringfügige Zugeständnisse — wie z. B.
die Ersetzung der Gouverneure in den armenischen Provinzen durch
vertrauenerweckende Persönlichkeiten — dem neuen Ministerium die
Mittel zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung in England an
die Hand zu geben. Die Pfortenminister verschlossen sich nicht der
Erkenntnis der Richtigkeit der Ratschläge, die ihnen von befreundeter
Seite nach dieser Richtung hin gegeben worden sind**. Aber die
an maßgebender Stelle feststehende, wie ich glaube, auf vertraulichen
Andeutungen der Vertretungen von Rußland und Frankreich beruhende
Überzeugung, daß diese beiden Mächte sich an koerzitiven Maßregeln
zugunsten der Armenier nicht nur nicht beteiligen, sondern England
von solchen geradezu abhalten würden, steht den guten Absichten der
Pforte hindernd im Wege. Es ist für letztere außerordentlich schwer,
freiere Hand für die Wahl von Personen beim Sultan zu erlangen, und
* Vgl. Bd. IX, Nr. 2205, S. 230.
** Vgl. Nr. 2395.
43
es ist fraglich, ob es den vereinten Bemühungen des Großwesirs und
des Ministers des Äußeren gelingen wird, eine irgendwie nennenswerte
Änderung dieser Zustände herbeizuführen.
Saurma
Nr. 2400
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das
Auswärtige Amt
relegramm. Entzifferung
London, den 23. Juli 1895
Privat für Baron von Holstein.
Der österreichische Botschafter*, welcher meine Ihnen bekannte
Auffassung bezüglich voraussichtlicher Haltung Lord Salisburys in der
armenischen Frage auf Grund seiner Unterhaltungen mit demselben
vollständig teilt, ist ernstlich besorgt, daß es, wenn der Sultan nicht
bald einlenkt, zu der für Österreich bedrohlichen Aufrollung der
orientalischen Frage kommen wird, und hat sich in diesem Sinne in
Wien ausgesprochen. Bis jetzt ist ihm aber die Auffassung des Grafen
Goluchowski in dieser Frage vollständig unbekannt, und er Deabsichtigt,
in nächster Zeit nach Wien zu reisen, um sich Aufklärung, respektive
Instruktionen zu holen. Die größte Gefahr, speziell für Österreich,
liegt meines Erachtens darin, daß Lord Salisbury, wenn er glaubt,
Aktion nicht länger vertagen zu können, sich zunächst in Petersburg
zu versichern sucht, wie weit man dort mit ihm gehen, und namentlich
wie man sich zu eventuellem einseitigem, energischem Vor-
gehen Englands in Konstantinopel stellen würde.
Hatzfeldt
Nr. 2401
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von Rotenhan an den Botschafter in Konstantinopel
Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 45 Berlin, den 25. Juli 1895
Nach unseren letzten Informationen ist energische Aktion der eng-
lischen Regierung mit Rücksicht auf englische öffentliche Meinung
unvermeidlich, wenn Türkei nicht bald Entgegenkommen zeigt.
Bitte den bisherigen Weisungen entsprechend dem Sultan und
der Pforte Nachgiebigkeit gegen England als im eigensten Interesse
der Türkei liegend dringend anzuempfehlen. Rotenhan
* Graf Deym.
44
Nr. 2402
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm, Entzifferung
Nr. 59 Therapia, den 26. Juli 1895
Antwort auf Telegramm Nr. 45*.
Ich werde noch heute Schritte beim Sultan erneuern, um ihm
Nachgiebigkeit gegen England als im Interesse der Türkei selbst liegend
dringend anzuempfehlen. Saurma
Nr. 2403
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 210 London, den 29. Juli 1895
Telegramm Nr. 238** erhalten.
Lord Salisbury, welchen ich durch vertraulichen Privatbrief von
dem Inhalt des Telegramms in Kenntnis gesetzt habe, dankt mir an-
gelegentlich für meine Mitteilung und bittet mich. Euerer Durchlaucht
seinen aufrichtigen Dank für die freundschaftliche und wertvolle Inter-
vention in Konstantinopel zu übermitteln.
Hatzfeldt
Nr. 2404
Der Stellvertretende Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von Rotenhan an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe,
z. Z. in Alt- Aussee
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 18 Berlin, den 3. August 1895
Der Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel telegraphiert***:
„Antwort der Pforte ist den drei Mächten heute übergeben f.
Russischer und französischer Vertreter scheinen dieselbe als
* Siehe Nr. 2401. Durch Telegramm Nr. 60 vom 26. Juli, das noch am gleichen
Tage mittels Telegramm (Nr. 238) nach London weitergegeben wurde, zeigte
Saurma die erfolgte Ausführung des Auftrags an. Das Ergebnis war, daß der
Sultan dem Botschafter sagen ließ, dieser würde „nach dem Ministerrat vom
nächsten Sonntag (28. Juli) den Erfolg unserer freundschaftlichen Intervention
sehen".
** Vgl. Nr. 2402, Fußnote.
*** Telegramm Nr. 67 vom 2. August.
t Siehe den Text der türkischen Antwort vom 1. August, die in unmittelbarem
Zusammenhang mit der nachdrücklichen deutschen Intervention erfolgte, in: Das
Staatsarchiv Bd. 58, S. 120 ff.
45
annehmbar zu betrachten, wenngleich sie erklären, daß die Zu-
geständnisse hätten weitergehend und klarer ausgedrückt sein
sollen.
Über Auffassung englischen Vertreters weiß ich noch nichts
Bestimmteres, doch glaube ich aus früheren Äußerungen desselben
annehmen zu können, daß auch seine Regierung, wünschend, die
armenische Frage beendet zu sehen, der Pforte bezüglich der
Aufnahme der Antwort keine besonderen Schwierigkeiten machen
wird.
Demnächst näherer Bericht über die Angelegenheit.'*
Deutschland hat dem Sultan zur Nachgiebigkeit in der armenischen
Frage geraten aus Rücksicht für Lord Salisbury, welcher klagte, daß
er durch seinen Vorgänger in gewissem Maße engagiert- sei. Indessen
hat Lord Salisbury wohl auch noch einen andren Beweggrund, wenn er
die Frage türkischer Reformen auf der Tagesordnung zu erhalten sucht.
England sieht sich — mit höchstens Italien als einzigem Ge-
fährten — in Ägypten durch Rußland und Frankreich bedroht. Es
wäre nur erlaubter Egoismus, wenn England sich bemühte, die Auf-
merksamkeit auf kleinasiatische und Balkanfragen abzulenken, dadurch
daß es die Frage der Reformen für Armenien oder für andre Teile des
Türkischen Reichs nicht zur Ruhe kommen ließe.
Wir glauben, daß Europa zwischen „Reformen*' und ,, Türkei"
zu wählen haben wird; diese beiden Begriffe werden sich nicht lange
vereinigen lassen. Da Deutschland und Österreich kein ersichtliches
Interesse an dem beschleunigten Zusammenbruch der Türkei haben,
so erscheint es fraglich, ob diese beiden Mächte den englischen Premier-
minister bei einem etwa fortgesetzten systematischen Rütteln an inneren
türkischen Zuständen fernerhin unterstützen sollen.
Ew. Durchlaucht werden vielleicht angezeigt finden, diese Frage
mit dem Grafen Goluchowski zu erörtern, und ihm dabei bemerklich
machen, daß unsre vorstehend skizzierte Anschauung uns hauptsächlich
durch das freundschaftliche Interesse für Österreich eingegeben ist.
R o t e n h a n
Nr. 2405
Aufzeichnung des Reichskanzlers Fürsten von Hohenlohe, z. Z.
in Alt-Aussee
Eigenhändig
Alt-Aussee, den 4. August 1895
Graf Goluchowski besuchte mich heute mittag auf seinem Weg
von Wien nach Ischl und blieb mehrere Stunden.
Da ich unsere Unterredung mit der mir zugegangnen und dem
46
Minister noch unbekannten Nachricht von der im Telegramm Nr. 18*
erwähnten Antwort der Pforte in der armenischen Frage beginnen
konnte, so schloß sich daran in unauffälliger Weise die Besprechung
der Frage der türkischen Reformen: Graf Goluchowski, den ich auf
die Möglichkeit hinwies, daß Lord Saüsbury diese Fragen auf der
Tagesordnung zu erhalten geneigt sein könne, um die Aufmerksamkeit
von Ägypten ab- und auf die kleinasiatischen und Balkanfragen hin-
zulenken, stimmte mir vollständig bei. Er erkennt die Gefahren voll-
kommen an, welche derartige Anregungen für den Bestand der Türkei
haben würden. Bei dieser Gelegenheit konnte ich auch das Gespräch
auf die Räumung Ägyptens durch die Engländer leiten und habe kon-
statiert, daß das Gerücht, Graf Goluchowski werde es mit Freude be-
grüßen, wenn England Ägypten aufgebe, nicht begründet ist. Ich hatte
den Eindruck, daß seine Zustimmung zu meiner Äußerung, das Ver-
schwinden Englands aus dem Mittelmeer werde den Anschluß Italiens
an die russisch-französische Gemeinschaft herbeiführen, eine durchaus
rückhaltlose und aufrichtige war. pp.
C. Hohenlohe
Nr. 2406
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 68 Therapia, den 6. August 1895
Im Anschluß an Telegramm Nr. 67**.
Heute sah ich meinen englischen Kollegen und konstatierte, daß
derselbe die Antwort der Pforte auf das Memorandum der drei Mächte
für ungenügend ansieht. Dieselbe enthalte eigentlich nur die Erklärung,
daß dasjenige, was die Mächte verlangen, entweder bereits gesetzlich
hier vorgesehen oder für die Pforte unannehmbar sei. Sir Ph. Currie
hat seinen russischen und französischen Kollegen für diese seine Auf-
fassung zu gewinnen vermocht, so daß alle drei Botschafter — jeder
für sich — nunmehr der Pforte ihre Meinung dahin eröffnet haben,
daß die türkische Antwort ihren Erwartungen nicht entspreche.
Die Antwort wurde von den Botschaftern ad referendum genommen
und den [drei]*** Regierungen übersandt.
Wie ich aus vertraulichen Äußerungen des Ministers der Aus-
wärtigen Angelegenheiten entnehme, scheint der Text der türkischen
* Siehe Nr. 2404.
♦* Vgl. Nr. 2404.
*** Zusatz von der Hand Mumms von Schwarzenstein an Stelle einer unverständ-
lichen Zifferngruppe.
47
Antwort nicht klar genug dasjenige als bindende Zusage der Pforte
auszudrücken, was von ihr als solche hatte bezeichnet werden sollen.
Es dürften zur Richtigstellung der bezüglichen Ausdrücke seitens
der Pforte nachträglich noch besondere Aufklärungen an die drei Bot-
schaften ergehen.
S a u r m a
Nr. 2407
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 102 Therapia, den 10. August 1895
Vertraulich
Bei Gelegenheit des gestrigen Selamliks ließ mich Seine Majestät
der Sultan bitten, zu ihm zu einer Unterredung zu kommen.
Ich begab mich infolgedessen sogleich nach Beendigung des Gebets
nach dem kaiserlichen Kiosk.
Die Unterhaltung währte über fünf Viertelstunden und bewegte
sich fast ausschließlich auf dem Gebiete gleichgültiger Gegenstände, pp.
Nach beendeter Audienz, und als ich mich bereits anschickte,
das Palais zu verlassen, sandte mir der Sultan seinen Oberzeremonien-
meister Munir Pascha nach, um mich zu ersuchen, noch einen Augen-
blick zu verweilen. Es handle sich um eine Bitte, welche der Sultan
noch an mich richten wolle.
Auf mein Ersuchen um nähere Erklärung übermittelte mir Munir
Pascha die Bitte des Sultans, ich möchte bei der Regierung Seiner
Majestät des Kaisers der Fürsprecher dafür sein, daß ihm seitens
derselben einige Unterstützung gewährt werde i gegenüber dem An-
drängen der Mächte von England, Frankreich und Rußland, welche
von den von der Pforte in den armenischen Angelegenheiten jüngst
gemachten Zugeständnissen nicht befriedigt schienen.
Ich bat Munir Pascha, dem Sultan mitzuteilen, daß ich nicht daran
zweifle, meine hohe Regierung, welche ein warmes Interesse an der
Wohlfahrt der Türkei nehme, werde derselben nach wie vor mit wohl-
erwogenen und wohlgemeinten Ratschlägen in allen schwierigen Lagen
beistehen.
Als Munir Pascha die Wünsche des Sultans dahin zu präzisieren
versuchte, daß sein Souverän bei aller Anerkennung des Wertes
unserer Ratschläge eine direkte mildernde Einwirkung der Kaiser-
lichen Regierung auf die drei Mächte erbitte 2, wurde ich kühler und
gab ihm zu verstehen, daß ich nicht in der Lage sei, auf ein derartig
formuliertes Ansinnen näher einzugehen, daß ich dagegen glaube, die
48
Pforte sei jedenfalls selbst am besten imstande, durch einsichtsvolles
Verhalten und kluges Entgegenkommen sich mit den drei Mächten in
erwünschter Weise auseinanderzusetzen 3,
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Aha! das fehlte noch
2 fällt mir nicht ein.
3 richtig.
Nr. 2408
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 105 Therapia, den 10. August 1895
Vertraulich
Euerer Durchlaucht beehre ich mich die Antwort der Pforte auf
das Memorandum der drei Mächte*, betreffend die Reformen in den
kleinasiatischen Provinzen, anliegend in Abschrift gehorsamst zu über-
reichen, pp.
Aus vertraulichen Äußerungen der beteiligten Vertretungen ent-
nehme ich, daß sie glauben, auf die Annahme von drei Punkten be-
stehen zu müssen: nämlich Einsetzung einer ständigen in Konstanti-
nopel tagenden Kommission, zur Hälfte aus muselmanischen, zur Hälfte
aus christlichen Beamten bestehend, zur Beaufsichtigung der Durch-
führung der Reformen, mit dem Rechte für die fremden Vertretungen,
die zu ihrer Kenntnis gelangenden Klagen aus den Provinzen vor diese
Kommission zu bringen, Wahl der Gemeindevorsteher (Mudir) durch
die Gemeinderäte, und nicht staatliche Ernennung derselben, endlich
Zulassung von Christen als Offiziere der Gendarmerie.
Es läßt sich noch nicht übersehen, welchen Grad des Druckes
es bedürfen wird, um die Pforte zur Annahme dieser drei Punkte
zu bringen. Die Zugeständnisse, die der Sultan bisher in dieser Frage
gemacht hat, namentlich auch die bereits erfolgte Ersetzung der
schlechten Gouverneure durch bessere, die endliche Inkraftsetzung
der angekündigt gewesenen Amnestie und die Einholung der Ge-
nehmigung der Mächte zur Ernennung Schakir Paschas zum Ober-
kommissar, sind nicht zum geringsten Teile auf die zwar freundschaft-
lichen, aber eindringlichen Vorstellungen der Kaiserlichen Regierung
zurückzuführen, und es wird nicht leicht sein, weitergehende Kon-
zessionen von ihm zu erlangen. Es ist erstaunlich, welch irrtümliche
Begriffe der Sultan bezüglich des ihm durch sein eigenes Interesse
vorgeschriebenen Verhaltens den europäischen Mächten gegenüber be-
* Vgl. Nr. 2404, Fußnote f.
4 Die Große Politik. Bd. 10. 49
sitzt. Anstatt schnell und ausg^iebig die an ihn gestellten Forderungen
zu befriedigen, läßt er sich jedes Zugeständnis einzeln durch scharfe
Worte und Drohungen abringen, was die Wirkung desselben natürlich
an und für sich in hohem Grade abschwächt. Hat er in bezug auf
irgendeinen Punkt Nachgiebigkeit gezeigt, so glaubt er, damit sich
von den übrigen Verpflichtungen befreit und alles getan zu haben, was
veruünfiigerweise von ihm verlangt werden konnte.
Saurma
Nr. 2409
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 108 Therapia, den 15. August 18Q5
Vertraulich
Bereits mehrfach hatte ich die Ehre darauf hinzuweisen, wie un-
klar und unbestimmt die Pforte sich in dem den drei Mächten über-
gebenen Antwortschreiben bezüglich der armenischen Reformen aus-
gedrückt hatte.
Nunmehr haben die drei hiesigen Botschafter, in der Absicht,
diese Unklarheit und die damit verbundene Möglichkeit einer willkür-
hchen Interpretation der Pforte zu beseitigen, der letzteren ein Schrift-
stück zugestellt, in welchem die von ihr gebrauchten unbestimmten
Ausdrücke als: „il pourra se faire", ,,il serait desirable de faire" usw.
durch bestimmte und positive, als: „il sera ordonne", „11 sera cree" usw.
ersetzt werden.
Gleichzeitig wird die Pforte in diesem Schreiben ersucht, sich
nunmehr endgültig darüber zu erklären, ob diese letztere Redaktion
sich mit demjenigen decke, was das Antwortschreiben der Pforte be-
züglich der armenischen Zugeständnisse habe ausdrücken wollen.
Der türkische Minister der auswärtigen Angelegenheiten* ist
diesem Schritte der Botschafter gegenüber in nicht geringe Verlegen-
heit geraten. Er behauptet, die Botschafter versuchten damit der Pforte
größere Zugeständnisse aufzuerlegen als diejenigen, welche von ihr
wirklich gemacht worden seien und gemacht werden konnten. Über
diese türkischerseits angebotenen Reformen hinauszugehen, hieße, sich
in Widerspruch mit den Grundsätzen und Anschauungen des Islams
setzen.
Zufällig sprach ich gestern mit meinem englischen Kollegen dar-
über, welchem Turkhan Pascha gleichfalls diese Auffassung münd-
lich zu erkennen gegeben hatte. Sir Philip Currie hielt dieselbe für
* Turkkhan Pascha.
50
eine der gewöhnlichen Ausflüchte türkischer Minister und betonte,
daß in dem ganzen Memorandum der drei Mächte ja kaum etwas
mehr verlangt werde als dasjenige, was die türkische Gesetzgebung
selbst bereits enthalte. Es werde seiner Ansicht nach lediglich auf den
Grad des Druckes der Mächte ankommen, wie weit der Sultan den
Forderungen derselben nachgeben werde. Bei Anwendung dieser
Druckmittel würde im Interesse einer gehörigen Wirkung derselben
natürlich der Umstand der bekannten Besorgnis des Sultans für seine
persönliche Sicherheit ^ entsprechend zu verwerten sein.
Die englische Regierung, bemerkte der Botschafter weiter, könne
sich nicht mit halben Zugeständnissen der Pforte begnügen. Sie sei
in der armenischen Sache zu weit engagiert und müsse der öffentlichen
Meinung Englands wegen wirkliche Reformen für die Besserung des
Schicksals der Armenier — gleichviel ob letztere dieses Interesse ver-
dienten oder nicht — erreichen. Auf die Durchführung gewisser For-
derungen werde Lord Salisbury, von der öffentlichen Meinung in Eng-
land gedrängt, nicht verzichten können, und zwar vor allem nicht auf
die Forderung, betreffend die Ernennung der Gouverneure,
welche, lediglich in die Hände des Sultans gelegt, stets nur unzu-
verlässige Elemente ergeben würde, sowie zweitens nicht auf die
Forderung einer europäischen Kontrolle der versprochenen Re-
formen, ohne welche diese letzteren sicher nie zur dauernden Aus-
führung gelangen würden.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ U sera suicide.
Nr. 2410
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 109 Therapia, den 17. August 1895
Gestern traf hier, aus Armenien kommend, der erste der Dele-
gierten ein, weiche die Regierungen von England, Frankreich und
Rußland der zur Untersuchung der armenischen Gewalttaten einge-
setzten türkischen Kommission zur Assistenz beigegeben hatten.
Derselbe, der französische Delegierte Herr Vilbert, brachte das
Konzept des von den erwähnten drei Delegierten verfaßten Kollektiv-
berichts*, betreffend das Ergebnis der von ihnen bewirkten Fest-
* Die Berichte der Delegierten siehe: Englisches Blaubuch, Turkey, Nr. 1. Part I.
Events at Sassoon, und Part II. Commission of inquiry at Moush: Proces-verbaux
and separate Depositions 1893.
4« 51
Stellungen mit. Mein französischer Kollege, welcher den Bericht un-
mittelbar vorher gelesen hatte, teilte mir hierüber folgendes mit:
Der Bericht sei äußerst mäßig gehalten und enthalte absolut
nur Tatsachen, welche als hundertfach erwiesen anzusehen seien. Sultan
und Regierung seien darin vollständig aus dem Spiel gelassen worden,
obschon es bekannt sei, daß die Parole: „Strenge Unterdrückung des
Aufstandes", welche zu den bedauerlichen gegen die Armenier be-
gangenen Gewaltakten führte, unmittelbar aus dem Palais gegeben
worden war.
Trotz aller Mäßigung und strenger Objektivität lege der Bericht
in unanfechtbarer Weise die Tatsachen klar, einmal, daß grausame
Metzeleien gegen die um Sassun, Musch und an anderen Orten an-
sässigen Armenier wirklich begangen wurden, daß ferner die Urheber-
schaft dieser Greuel den dortigen türkischen Behörden zur Last zu
legen und endlich, daß die ausführenden Organe die regulären türki-
schen Truppen selbst gewesen seien.
Über die Art der Tätigkeit der türkischen Kommission und die-
jenige der beteiligten Delegierten der Mächte berichtet Herr Vilbert
mündlich folgendes: Es sei wahrhaft unerhört, mit welcher Dreistigkeit
die türkischen Beamten versucht hätten, die Zeugenaussagen der ver-
nommenen Personen zu verschleiern und hinfällig zu machen. In
Fällen, wo den europäischen Delegierten augenscheinlich wahre Tat-
sachen von augenscheinlich glaubwürdigen Personen vorgelegt worden,
hätten tags darauf die türkischen Beamten Dutzende von gewaltsam
zusammengetriebenen Menschen vorgeführt, welche das Gegenteil von
jenen Aussagen bezeugten.
Auf diese Weise sei es während der ganzen Dauer der Unter-
suchung hergegangen. Das Resultat der türkischen Enquete sei denn
auch diesen Prozeduren entsprechend ausgefallen. Der türkische Be-
richt bestreite die Tatsache, daß Metzeleien durch türkische Truppen
verübt worden seien. Wenn Ausschreitungen hie und da begangen
worden, so müßten dieselben größtenteils auf Rechnung der Armenier
selbst gdsetzt werden, welche durch Unbotmäßigkeit und Gewaltakte
Veranlassung zur Züchtigung gegeben hätten. Bezüglich der nicht
zu bestreitenden Tatsache, daß an verschiedenen Orten noch die augen-
scheinlichen Spuren begangener Metzeleien von Armeniern vorgefunden
worden seien, bemerke der Bericht — es ist kaum glaublich — , daß
diese Bluttaten von Armeniern selbst gegen Armenier verübt worden
seien, nur um den Verdacht begangener Greuel auf die Türken zu
lenken.
Es ist anzunehmen, daß dieser Bericht vor seiner Veröffentlichung
eine wesentliche Modifizierung erfahren wird, so daß der Wahrheit
damit nicht in allzu brutaler Weise ins Gesicht geschlagen wird.
Inzwischen haben die europäischen Delegierten das Ansinnen der
türkischen Kommission rundweg zurückgewiesen, den türkischen Be-
52
rieht zu unterschreiben, haben vielmehr den obenerwähnten Bericht
für sich — und da sie einig in ihren bezüglichen Auffassungen &ind,
in Koliektivform — verfaßt und werden denselben nach erfolgter Aus-
arbeitung ihren hiesigen Botschaftern übergeben.
Bis jetzt besteht nur das französische Konzept davon und be-
findet sich noch in der Hand des französischen Botschafters, Herrn
Cambon, welchem ich vorstehende Mitteilungen verdanke. Binnen
kurzem dürften auch der englische und russische Botschafter Kenntnis
des bezüglichen Schriftstücks durch ihren Delegierten erhalten.
iWeitere Berichterstattung behalte ich mir gehorsamst vor.
Saurma
Nr. 2411
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 110 Therapia, den 17. August 1895
Vertraulich
Am Schluß des Monats Juni d. Js. hatte ich die Ehre, Euerer
Durchlaucht eine Unterredung mit meinem russischen Kollegen ge-
horsamst mitzuteilen, in welcher mir derselbe vertraulich erzählte,
die englische Regierung habe sich vergeblich an das russische Kabinett
mit dem Verlangen um Beteiligung an Koerzitivschritten gegen die
Türkei gewandt, welche nach englischer Auffassung erforderlich seien,
um den Sultan zur Nachgiebigkeit in der armenischen Angelegenheit
zu bewegen.
Gestern wurde mir eine ähnliche Mitteilung durch meinen öster-
reichisch-ungarischen Kollegen zuteil. Derselbe hatte gerade von Graf
Goluchowski eine Depesche folgenden Inhalts erhalten.
Nach Meldungen Fürst Liechtensteins aus St. Petersburg habe Fürst
Lobanow neueren Sondierungen Englands gegenüber, betreffend die
Vereinbarung von etwaigen gegen die Pforte anzuwendenden Druck-
mitteln, geantwortet, „qu'il repugnerait au Gouvernement Imperial
d'employer lui-meme ou de voir employees par d'autres des mesures
coercitives contre la Porte dans les affaires pendantes de l'Armenie".
Hiernach scheint die von Rußland beobachtete Zurückhaltung sich
im Laufe der Zeit noch gesteigert zu haben, indem Herr von Nelidow
mir gegenüber im Juni d. Js. nur bemerkte, daß die russische Re-'
gierung es ablehne, selbst an Zwangsmaßregeln gegen die Türkei
teilzunehmen, während sie gegenwärtig auch ein Einschreiten durch
andere mit Mißvergnügen ansehen würde.
Daß übrigens in der Sache selbst zwischen Rußland und Eng-
land im allgemeinen eine übereinstimmende Haltung in der schweben-
53
den Angelegenheit besteht, dürfte aus einer anderweitigen, an Baron
Calice aus Wien soeben gelangten Mitteilung hervorgehen, wonach
die russische Regierung in London vertraulich angefragt habe, auf
welche Reformen es der englischen Regierung besonders ankomme,
und sodann, als englischerseits die „europäische Kontrolle" der Re-
formen betont worden sei, geantwortet habe, daß Rußland bereit sei,
England bei der Herbeiführung dieses Zugeständnisses entsprechend
zu unterstützen.
Immerhin scheint zwischen diesen beiden Mitteilungen ein ge-
wisser Widerspruch zu bestehen. Herr von Calice erkannte dies eben-
falls, vermochte aber eine Erklärung dafür nicht zu geben.
S a u r m a
Nr. 2412
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Seh warzenstein
Nr. 49 Berlin, den 19. August 1895
Antwort auf Bericht Nr. 102*.
Der Herr Reichskanzler wünscht, daß Ew. pp. die an Munir Bey
für den Sultan erteilte Antwort noch dahin ergänzen, daß unsere Unter-
stützung nicht zu trennen ist von der Berücksichtigung unserer wohl-
gemeinten und uneigennützigen Ratschläge.
Diese Berücksichtigung haben wir aber seit den Eröffnungen,
welche Fürst Radolin in diesseitigem Auftrage bei seiner Abschieds-
audienz dem Sultan machte**, bis heute nur in so ungenügendem
Maße gefunden, daß wir die moralische Verantwortung für die Ver-
tretung des von der türkischen Regierung fortgesetzt behaupteten
Standpunktes nicht übernehmen können.
Marschall
Nr. 2413
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 115 Therapia, den 19. August 1895
Aus vertraulichen Andeutungen, die mir heute Herr von Nelidow
machte, entnehme ich, daß gegenwärtig Besprechungen zwischen den
Kabinetten von London, Paris und St. Petersburg stattfinden, um zu
* Siehe Nr. 2407.
♦* Siehe Bd. IX, Nr. 2202.
54
einem Einverständnis bezüglich der Einrichtung einer aus türkischen
und europäischen Mitgliedern zusammengesetzten, in Konstantinopel
tagenden Kommission zu gelangen, deren Aufgabe wäre, die von der
Pforte in Aussicht gestellten Reformen zu überwachen und zu prüfen,
ob die von ihr gemachten Zugeständnisse tatsächlich für die Besserung
der Zustände in Armenien ausreichen.
Diese Art der Zusammensetzung der Kontrollkommission würde
tatsächlich die Pforte ungleich empfindlicher treffen als die Kommission,
welche das ursprüngliche Memorandum der Mächte vorschlug.
Dort bestand die Kommission auch aus Moslems und Christen,
aber alle waren türkische Untertanen und vom Sultan ernannt. Die
Bütschaftsdragomans fungierten nur als vermittelnde Organe. Hier
hingegen handelt es sich um christliche Mitglieder, welche von den
Mächten bestellt, von ihnen in die Kommission berufen werden und
Sitz und Stimme in derselben haben.
Es ist wohl anzunehmen, daß sich die drei Mächte über diese An-
gelegenheit einigen werden, indessen kommt zuletzt immer wieder die
Frage zur Sprache: welches sind die anzuwendenden Druckmittel für
den Fall, daß die Pforte sich ablehnend gegenüber einem solchen Be-
schluß der drei Mächte verhält? Und hier liegt meiner Ansicht nach
der Widerspruch, in welchen sich die russische Regierung dadurch
gesetzt hat, daß sie auf der einen Seite sich zum Mitkämpfer Englands
für die europäische Kontrolle macht, auf der anderen Seite aber von
scharfen Zwangsmitteln nichts wissen will. Wenn aber je die Durch-
setzung einer Forderung der Mächte wirkliche Zwangsmittel erheischt,
so ist es die Forderung einer Kontrolle über innere türkische An-
gelegenheiten, an welcher Europäer direkt teilnehmen.
Die hiesigen Botschafter haben, wie sie mir offen eingestanden,
schließlich den Mut verloren, durch Zuspruch oder Warnung weiterhin
auf die Pforte einzuwirken, um dieselbe zur Einsicht zu bringen. Hat
dieselbe doch in ihrer Beantwortung des jüngsten Schreibens der drei
Botschafter (vgl. gehorsamsten Bericht Nr. 108 vom 15. d. Mts.*) die
von ihr bereits früher gemachten Zugeständnisse, statt zu erweitern,
durch spitzfindige Verklausuüerungen fast noch mehr herabgedrückt.
Übrigens glaube ich annehmen zu dürfen, daß Euere Durchlaucht
bezüglich der fraglichen Angelegenheit besser informiert ist, als ich
es zu tun vermag, indem es sich gegenwärtig eventuell um die Schaffung
eines neuen politischen Zustandes für die Türkei bzw. um eine ihr
aufzuerlegende weitere politische Beschränkung handeln würde, wofür
doch wohl die Vereinbarung auch mit den übrigen Großmächten er-
forderlich sein dürfte.
Sollten sich also die von mir gemeldeten vertraulichen Nachrichten
bestätigen, so dürften die drei mit der Sache befaßten Mächte sich
* Siehe Nr. 2409.
5S
bereits an die Kaiserliche Regierung sowie an die Kabinette von Wien
und Rom dieserlialb gewandt haben.
Anderenfalls würde meines Erachtens erwartet werden können,
daß sie dies tun werden, sobald sie unter sich zu einem Einverständnis
über ihren Plan gelangt sein werden.
Überhaupt wäre vielleicht jetzt mehr denn je der Anlaß für die
Kabinette von London, Paris und Petersburg gegeben, sich des Er-
fahrungssatzes zu erinnern, daß von einer orientalischen Regierung
volle Nachgiebigkeit meist erst dann mit Sicherheit erwartet werden
kann, wenn ihr alle Mächte geschlossen gegenüberstehen, und die
von ihnen gestellten Forderungen kollektiv und in identischer Form
erhoben werden.
Saurma
Nr. 2414
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
Mumm von Schwarzenstein
Eigenhändig
[Berlin, den 23. August 1895]
Die Anfrage Tewfik Paschas* wegen des durch Baron Saurma
übergebenen Memorandums, in welchem wir uns über ungenügende
Befolgung unserer Ratschläge beschweren, bezieht sich offenbar auf
die unserem Botschafter durch Telegramm Nr. 49** erteilte Weisung.
Die Pforte hat in der letzten Zeit fortgesetzt wegen bulgarischer
Dinge (oft recht unnötigerweise) unsere Intervention nachgesucht und
sich neuerdings (nach Bericht Nr. 102***) auch an uns gew^andt, um
ihr gegen die armenischen Forderungen der drei Mächte, England,
Frankreich und Rußland, beizustehen.
Wir haben in Bulgarien wiederholt den Wünschen der Pforte ent-
sprechend Vorstellungen gemacht; wenn sie aber jetzt auch noch unsere
Unterstützung bezüglich Armeniens wünscht, so dürfte Tewfik Pascha
darauf aufmerksam zu machen sein, daß wir trotz aller Sympathie
unseres Kaisers für den Sultan und der Kaiserlichen Regierung für
die Pforte doch schwer da helfen können, wo man unsere Ratschläge
so gering schätzt.
Insbesondere hatte Fürst Radolin im Auftrage Seiner Majestät
den Sultan bei seiner Abschiedsaudienz auf die in den Provinzen der
Türkei (insbesondere in Kleinasien) herrschende Günstlings- und Miß-
wirtschaft aufmerksam gemacht und ihm die Ersetzung der am meisten
kompromittierten Beamten durch integere Leute angeraten f. Wir haben
* Türkischer Botschafter in Berlin.
** Siehe Nr. 2412. Vgl. auch das folgende Schriftstück.
*** Siehe Nr. 2407.
t Vgl. Nr. 2202.
56
nicht gehört, daß diesem doch gewiß uneigennützigen Rat Folge ge-
leistet worden wäre.
Andererseits haben wir, während wir im Interesse der Türkei in
England fortgesetzt zur Mäßigung rieten, dem Sultan dringend emp-
fohlen, England durch freiwillige Gewährung von Reformen in
Armenien entgegenzukommen und so der von der öffentlichen Meinung
Englands dringend geforderten Pression zuvorzukommen. Es hätte
dies um so mehr im eigensten Interesse der Türkei gelegen, als diese
schließlich doch gezwungen sein wird, nachzugeben; dann aber wird
man in England diese Nachgiebigkeit nicht mehr als freiwillige Kon-
zession dankbar begrüßen, sondern man wird der englischen Aktion
bzw. derjenigen der drei Großmächte allein das Verdienst des türki-
schen Nachgebens zuschreiben. Unsere Ratschläge zur Nachgiebigkeit
in der armenischen Frage hat aber die Pforte völlig ignoriert imd damit
bereits erreicht, daß Lord Salisbury, der anfangs durchaus der Türkei
wohlgesinnt war, sich nunmehr öffentlich in der bekannten scharfen
Weise gegen die Türkei ausgesprochen hat*. Die verhältnismäßig
geringen Konzessionen, welche nach dem Worte „bis dat qui cito
dat" bei der Regierungsübernahme Lord Salisburys vermutlich genügt
hätten, um denselben zufriedenzustellen, werden jetzt schwerlich mehr
als ausreichend erachtet werden, und so wird die Nichtbefolgung
unserer Ratschläge voraussichtlich die Türkei zu größeren Opfern
nötigen, .als wenn sie gleich anfangs unsere Empfehlungen befolgt
hätte, pp.
V. Mumm
Nr. 2415
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 116 Therapia, den 22. August 1895
Vertraulich
Euerer Durchlaucht beehre ich mich im Anschluß an meinen
Bericht Nr. 102 vom 10. ds. Mts.** gehorsamst zu melden, daß ich,
der hohen Weisung Euerer Durchlaucht gemäß, Munir Pascha folgende,
für Seine Majestät den Sultan bestimmte Mitteilung habe machen
lassen:
„Le Gouvernement d'AUemagne est toujours dispose ä preter son
* Am 15. August hatte Marquis of Salisbury sich in dem Oberhause scharf über
die armenische Frage und die vom Sultan in ihr beobachtete Taktik der Ver-
schleppungen und Entschuldigungen ausgelassen, die schließlich ein Eingreifen
Europas herbeiführen und die Unabhängigkeit der Türkei gefährden müsse.
** Siehe Nr. 2407.
57
concours amical au Gouvernement Ottoman, mais pour que ce concours
puisse s'exercer d'une maniere efficace, il faut que le Gouvernement
Ottoman tienne compte des conseils dcsinteresses de rAllemagiie.
Or, depuis le dernier entretien du Prince de Radolin avec Sa Majeste
le Sultan jusqu'ä ce jour, il a ete si peu tenu compte des conseils de
l'Allemagne que le Gouvernement Imperial ne saurait assumer la
responsabilite morale de se charger de la defense du point de vue
auqucl la Sublime Porte s'est placee dans la question armenienne."
Diese Mitteilung soll, wie ich aus der Umgebung des Sultans
höre, denselben in eine hochgradige Aufregung versetzt haben. Er
mag eben daraus erkannt haben, daß seine Hoffnung auf die Unter-
stützung durch Deutschland in der gegenwärtigen Krisis eine nichtige
war.
Gestern abend bat A\unir Pascha im Auftrage des Sultans den
ersten Dragoman der Kaiserlichen Botschaft um eine Unterredung in
Jildis-Kiosk. In dieser Unterredung gab der Oberzeremonienmeister
namens des Sultans folgende Erklärungen ab: Die letzten Ratschläge
des Fürsten Radolin seien für ihn, den Sultan, unannehmbar gewesen.
Dieselben liefen darauf hinaus, ihm eine Regentschaft zur Seite zu
stellen, und das könne er sich auf keinen Fall gefallen lassen. Er
habe dies dem Fürsten gesagt, der darüber nach Berlin berichtet haben
werde.
Er frage nun, welche Ratschläge Deutschland seitdem gegeben
habe?
Herr Testa*, in der Sache bereits gehörig orientiert, antwortete,
daß seit der Abreise des Fürsten Radolin der Kaiserliche Botschafter
dem Sultan direkt sowie der Pforte wiederholt und dringend emp-
fohlen habe, den Ministerwechsel in London zu benutzen, um schleunigst
eine Verständigung mit England herbeizuführen; zu diesem Zwecke
erscheine es angezeigt, ohne Verzug die Gouverneure, über welche
zahlreiche Klagen geführt worden seien, durch tüchtige unbescholtene
Personen zu ersetzen und Maßregeln zur Besserung der Verwaltung
des Landes zu treffen, welche geeignet seien, dem der Türkei wohl-
gesinnten Lord Salisbury die A\ittel an die Hand zu geben, um die
öffentliche Meinung in England zu beruhigen**. Dies sei bisher leider
nicht geschehen und habe die Frage dadurch, daß die Verständigung
mit England bis jetzt verzögert worden, eine ernstere Wendung er-
halten.
Der Sultan hat hierauf durch Vermittelung des Kammerherrn
Zeki Bey antworten lassen, daß unmittelbar, nachdem ihm die Kaiser-
liche Botschaft von der Ersetzung der Gouverneure gesprochen habe,
er sofort der Pforte die erforderlichen Befehle dieserhalb oegeben
Deutscher Botschaftsdolmetscher.
■ Vgl. Nr. 2395, 2398.
58
habe. Einige Gouverneure seien schon abgesetzt, und auf seinen Befehl
werde die Pforte noch andere Veränderungen vornehmen.
Es ergebe sich hieraus, daß er den Ratschlägen Deutschlands
stets ein williges Gehör geliehen habe, und er rechne auch für die Zu-
kunft auf den wohlwollenden Rat der Kaiserlichen Regierung.
Hiermit hatte die Unterhaltung, die durch Vermittelung Munir
Paschas bzw. Zeki Beys durch mehrere dazwischenliegende Zimmer
geführt wurde, ihr Ende erreicht.
Es erhellt hieraus von neuem, wie wenig Seine Majestät der Sultan
die Lage der Verhältnisse übersieht, sowie andererseits, wie unzugäng-
lich er für jedwede Ratschläge ist, welche er im Grunde stets für Fallen
hält, die man ihm stellen will, um zu seiner Beseitigung zu gelangen.
Was diesen Punkt anlangt, ist er eben ein Kranker, bei welchem
mit Argumenten nichts auszurichten ist.
S a u r m a
Nr. 2416
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 117 Iherapia, den 22. August 1895
Ganz vertraulich
Die Art und Weise, wie die Regierung des Reichs gegenwärtig
von Seiner Majestät dem Sultan gehandhabt wird, beginnt die Un-
zufriedenheit der hiesigen Bevölkerung in immer sichtbarerer Weise
herauszufordern und den Wunsch seiner Ersetzung ^ durch einen
anderen Herrscher immer dringender hervortreten zu lassen.
Freilich ist man sich über die Mittel, diesen Zweck zu erreichen,
nirgends klar.
Der Sultan hat es verstanden, durch geschickte Manipulationen
diejenigen hervorragenden Personen im Reiche, welche bei etwaigen
gegen ihn gerichteten Komplotten in Frage kommen könnten, von-
einander zu trennen und gegenseitigen Argwohn und Mißtrauen unter
sie zu säen, so daß heute der Bruder dem Bruder nicht mehr traut.
Es fehlt infolgedessen die nötige Anzahl gleich entschlossener
Männer, welche — einer des anderen sicher — bereit wären, den An-
griff gegen Abdul Hamid praktisch einzuleiten.
Auf diese Weise erfreut sich letzterer ungeachtet der allgemeinen
im Volke gegen ihn herrschenden Aufgebrachtheit zurzeit noch einer
verhältnismäßigen Sicherheit.
Lange jedoch dürfte dieser Zustand kaum mehr andauern. An-
5Q
gesehene Personen in hohen Stellungen scheuen sich nicht, Fremden
gegenüber — denen sie vertrauen dürfen — offen auszusprechen, daß
ihr Souverän das Land demoralisiere und ruiniere 2, und die Rettung
der Türkei nur im Wege seiner Beseitigung zu erhoffen sei.
In folgender Weise äußerte sich unter anderen ein gewisser Zia
Bey, Mitglied des Ausschusses der hiesigen Präfektur und hoch-
angesehener Ulema. Ausgestattet mit seltenen Geistesgaben und
hervorragendem Scharfsinn, verfügt er über außerordentliche Kennt-
nisse von Land und Leuten. Seinen Namen bitte ich infolge seiner
dienstlichen Stellung geheim zu halten, zumal er in Hofkreisen im Ver-
dacht steht, ein Anhänger des Thronfolgers Reschad Effendi zu sein.
„Das türkische Volk,'' so erklärte Zia Bey einem meiner Be-
kannten gegenüber, „sei durch das herrschende Regierungsprinzip
gänzlich entartet und energielos geworden und trotz der allgemeinen
Unzufriedenheit zu einer Erhebung und Abschüttelung des Jochs un-
fähig. Die Lage sei unerträglich und dränge nach einer endlichen
Lösung. Die einzige Rettung erblicke man in einem Eingreifen der
europäischen Mächte. So würde es hier beispielsweise mit Freuden
begrüßt werden, wenn die englische Flotte die Dardanellendurchfahrt
erzwänge, unbeweglich vor Dolmabagdsche gelegt und die Absetzung
des Sultans gefordert würde."
Bezüglich des Großwesirs Said Pascha und des auswärtigen Mi-
nisters Turkhan Pascha äußerte sich Zia Bey mit den Worten:
„Der Großwesir, an sich ein ehrlicher und persönlich achtbarer
Mann, sei gegenwärtig nur auf Wahrung seiner jetzigen Stellung
bedacht, er wage gegen die Befehle des Sultans weder Einspruch zu
erheben, noch besitze er irgendwelchen Einfluß auf denselben.
Turkhan Pascha, der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten,
sei zwar wegen seiner gewinnenden europäischen Formen eine fesselnde
Persönlichkeit, ein fertiger Salonmensch, seiner Stellung dagegen durch-
aus nicht gewachsen. Er kenne hier weder Land noch Leute."
Das Urteil über Said mag im allgemeinen zutreffend sein. Der
Großwesir hat sich eben überzeugt, daß dem Sultan mit patriotischen
und energischen Ratschlägen nicht gedient ist. Die Forderung Said
Paschas, Truppen nach Ostrumelien zu senden, um der Türkei diese
Provinz zu retten, kostete ihm vor zehn Jahren sein Amt. Er ist jetzt
alt und will am Abend seines Lebens seine Stellung auf diese Weise
nicht wieder aufs Spiel setzen. Daher versucht er gegenwärtig nicht,
dem Willen seines Souveräns entgegen zu sein und wartet seine Zeit
ab, um vielleicht später dem Lande ersprießlichere Dienste leisten zu
können.
Turkhan Pascha ist etwas zu hart beurteilt. Als unerfahrener neuer
Minister befindet er sich zwischen dem alten routinierten Said, dem
er in der amtlichen Praxis nicht entfernt gewachsen ist, und dem
60
Sultan, der ihn bei dem bloßen Versuch eines selbständigen Auftretens
auf der Stelle seines Amtes entsetzen würde. Turkhan ist daher durch
den Zwang dieser Verhältnisse zum Schweigen verurteilt.
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 !
2 Das ist richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Sehr intressant und richtig ist das hier skizzirte Bild den Verhältnissen ent-
sprechend und deckt sich mit meinen Beobachtungen völlig. Danach hat Lord
Salisbury mit seiner Idee, der jetzigen Regierung ein Ende zu machen, nicht
unrecht.
Nr. 2417
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 118 Therapia, den 22. August 18Q5
Vertraulich
Die Meldungen Rustem Paschas über seine Unterredungen mit
Lord Salisbury bezüglich der armenischen Frage lauten für die Türkei
nicht günstig; der englische Premierminister verlangt nicht nur Ein-
führung von Reformen, sondern auch Bürgschaften für die tatsächliche
Durchführung derselben. Die Einzelheiten der einzuführenden Re-
formen will er einer Verständigung der hiesigen Vertreter der drei
Mächte mit der Pforte überlassen, aber als Bürgschaft besteht er auf
der Einsetzung einer dauernden Kontrollkommission, an welcher sich
auch Delegierte der drei Mächte zu beteiligen haben werden. Dieser
letztere Punkt berührt den Sultan und die Pforte am unangenehmsten,
weil türkischerseits darin der Anfang einer Stellung miter europäische
Kuratel erblickt wird. Die Pforte hat daher den Botschafter in London
angewiesen, alles aufzubieten, um Lord Salisbury zu bewegen, die
Forderung der Beteiligung der fremden Delegierten an der Kontroll-
kommission fallen zu lassen. Nach den Berichten Rustem Paschas
scheint es indessen, daß die englische Regierung entschlossen ist, es
zum Äußersten kommen zu lassen, ehe sie auf diese Bürgschaft ver-
zichtet, pp. Saurma
Nr. 2418
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 122 Therapia, den 28. August 1895
Die Zurückweisung, welche Seine Majestät der Sultan bei allen
Kabinetten der Großmächte erfahren hat, an welche er sich wandte,
61
um ihre Vermittelung im Sinne einer Beschwichtig-ung Englands zu
erlangen, scheint einen tiefen Eindruck auf Abdul Hamid gemacht
zu haben, so daß es aussieht, als wolle er sich schließlich den von Eng-
land, Frankreich und Rußland an ihn gestellten Forderungen doch noch
fügen, pp.
Noch einen letzten Versuch machte der Sultan bei dem französi-
schen und russischen Botschafter durch einen Appell an das Vertrauen
ihrer Regierungen zu den von ihm persönlich gegebenen Versprechun-
gen, worauf die Vertreter in höflicher Form zu verstehen gaben, daß
diese Versprechungen bereits bei Gelegenheit des Berliner Kongresses
gegeben und durch diesen sogar vertragsmäßig sanktioniert worden
seien, die Erfüllung derselben aber bis jetzt — also seit 18 Jiilircn —
auf sich warten gelassen habe.
S a u r m a
Nr. 2419
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
London, den 30. August 1895
Antwort auf Telegramm vom 29. d. Mts.*.
Ich habe nicht den Eindruck, daß hier schon jetzt extreme Maß-
regeln beabsichtigt werden. Noch in letzter Unterhaltung sprach Lord
Salisbury davon, daß die Sache sich anscheinend noch hinziehen werde.
Mein sonst gut unterrichteter französischer Kollege, welcher sorg-
fältig beobachtet, glaubt zwar an die Möglichkeit scharfer Maßregeln,
weil Lord Salisbury einen Erfolg in der Sache vor Wiederzusammentritt
der Kammer im Februar kommenden Jahres haben müsse, nimmt aber
ebenfalls nicht an, daß der Fall schon bald eintreten werde.
Mir hat Lord Salisbury eben in vertraulicher Unterhaltung selbst
gesagt, daß er Verständigung in Konstantinopel noch keineswegs für
ausgeschlossen halte. Dies werde auch in St. Petersburg angenommen,
wo man über Konstantinopel am besten unterrichtet sei. Lord Salis-
bury fügte hinzu, ich könne ruhig mehrwöchentlichen Urlaub antreten,
in dieser Zeit werde wohl nichts Besonderes vorfallen.
Er selbst geht übermorgen auf mehrere Wochen zu seiner Familie
nach Dieppe.
Ich kann für uns keinen Grund sehen, uns ohne weiteres in die
armenische Sache hineinziehen zu lassen, an welcher nicht beteiligt zu
sein, mir ein Vorteil zu sein scheint. Noch weniger Grund haben wir,
* Durch Telegramm Nr. 275 vom 29. August war dem Grafen Hatzfeldt ein Tele-
gramm des Botschafters in Wien Grafen zu Eulenburg (Nr. 193 vom 29. August)
mitgeteilt worden, in dem dieser meldete, Graf Goluchowski habe aus England
Nachrichten von bevorstehenden „extremen Maßregeln" der englischen Regie-
rung gegen die Türkei. Siehe das folgende Schriftstück.
62
wie mir scheint, England in diesem Falle eine unerbetene Gefälligkeit
aufzudrängen. Nach meinem Gefühl würde es sich aus diesen Gründen
empfehlen, auf die österreichische Anregung zu antworten, daß wir
fortgesetzt bereit sind, auch unsererseits in Konstantinopel dringend
zur Nachgiebigkeit zu raten, daß wir es aber nicht für angezeigt halten
können, an einer Kollektivaktion teilzunehmen, solange nicht ausgemacht
ist, daß nicht doch schließlich eine Verständigung zwischen der Pforte
und den drei beteiligten Mächten noch zustande kommt, und sich auch
nicht übersehen läßt, ob unsere Einmischung den letzteren in diesem
Stadium der Frage erwünscht sein würde.
Ich beabsichtige, wenn ich keine andere Weisung erhalte, über-
morgen Urlaub anzutreten.
Hatzfeldt
Nr. 2420
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Werki
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 55 Berlin, den 30. August 1895
Botschafter Wien telegraphierte* gestern;
„Graf Goluchowski hat Nachrichten aus England, welche ihn be-
fürchten lassen, daß die dortige Regierung wegen des Mißerfolgs in
Armenien zu extremen Maßregeln getrieben werden könnte.
Einer Anregung des Freiherrn von Calice folgend hält er es im
Interesse Österreichs gelegen, die auf einen toten Punkt geratene Aktion
der drei Mächte wieder flott zu machen. Die Erweisung eines Dienstes
an das zumeist beteiligte England, welches hierdurch vielleicht von
weitgehenden, dem Dreibund nicht gleichgültigen Entschlüssen ab-
gehalten werden könnte, zieht der Graf hierbei in Betracht. Das Mittel
zur Erreichung dieses Zwecks scheint ihm zu sein, daß einem von
den direkt interessierten Mächten ausgehenden Vorschlag auf Ein-
setzung einer europäischen Kommission auf Grund Artikel 61 des
Berliner Vertrags von den übrigen Mächten zugestimmt würde.
Österreichischer Botschafter in Berlin wird dieser Tage den Ge-
danken übermitteln. Bericht unterwegs.''
Österreichisch-ungarischer Geschäftsträger** hat heute bezügliche
Demarche gemacht. Graf Goluchowski nimmt, wie mir Baron Call
sagt, an, daß die Aktion Englands, Frankreichs und Rußlands in der
armenischen Frage gescheitert sei, und, wenn nicht ein Ausweg ge-
funden, die Gefahr vorliege, daß England zu einer Aktion schreite,
* Vgl. Nr. 2419, Fußnote *.
** G. Freiherr von Call zu Rosenburg und Kulmbach.
63
die möglicherweise die ganze orientalische Frage aufrollen werde.
Der Minister glaubt, daß die bisher intervenierenden drei Mächte dem-
nächst sich an die übrigen Signatarmächte mit dem Ansinnen wenden
würden, eine gemeinschaftliche Kommission auf Grund des Artikels 61
des Berliner Vertrags einzusetzen. Dieser Artikel lautet:
„La Sublime Porte s'engage ä realiser, sans plus de retard, les
amcliorations et les reformes qu'exigent les besoins locaux dans les
provinces habitees par les Armeniens et ä garantir leur securitc contre
les Circassiens et les Kurdes. Elle donnera connaissance periodique-
ment des mesures prises ä cet effet aux Puissances qui en surveilleront
Tapplication."
Graf Goluchowski wünscht eine Verständigung unter den Drei-
bundmächten in dem Sinne, daß diesem Ansinnen eventuell stattgegeben
werde. —
Ich habe Baron Call erwidert, daß ich die Befehle Seiner Majestät
und Ew. Durchlaucht einholen werde. Als persönliche Ansicht habe ich
dargelegt, daß entsprechend unserer traditionellen Politik im Orient
und bei dem Mangel eines direkten Interesses in der armenischen Frage
wir unsere Zurückhaltung bezüglich der letztren nicht aufzugeben ver-
möchten, und damit jede Initiative unsererseits, sei es allein oder ge-
meinsam mit Österreich-Ungarn und Italien, ausgeschlossen sei; wenn
aber sämtliche übrigen Signatarmächte darüber einig seien, daß Anlaß
zur Anwendung des Artikels 61 des Berliner Vertrags vorliege, und
wenn insbesondere Frankreich, Rußland und England aus ihrer Initiative
ein gemeinsames Ansinnen in dieser Richtung an die übrigen Kabinette
stellten, wir uns voraussichtlich einer Teilnahme an den Beratungen
nicht entziehen würden unter dem Vorbehalt, dabei die reservierte Stel-
lung einzunehmen, welche der Mangel direkten Interesses uns vor-
schreibe.
Abschrift des von Baron Call verlesenen Erlasses des Grafen
Goluchowski samt Beilagen gehen heute abend ab. Erbitte seinerzeit
um telegraphische Weisung.
Marschall
Nr. 2421
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe, z. Z. in Werki, an den
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 14 Werki, den 1. September 1895
Bin damit einverstanden, daß Euere Exzellenz die als persönliche
Ansicht gegebene Antwort an die österreichische Regierung* nach
Einholung des Befehls Seiner Majestät dem österreichischen Geschäfts-
* Vgl. Nr. 2420.
64
träger amtlich wiederholen und den Grafen Eulenburg entsprechend
instruieren. Ich stelle anheim, dem österreichischen Geschäftsträger
Kenntnis vom Inhalt des Telegramms des Grafen Hatzfeldt * (wieder-
gegeben im Telegramm an mich Nr. 56) zu geben, aus welchem
hervorgeht, daß die Befürchtungen des Grafen Goluchowski derzeit
noch zu weit gehen.
C. Hohen lohe
Nr. 2422
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 125 Therapia, den 3. September 1895
Meine Kollegen von Frankreich und England teilten mir gestern
mit, daß der Sultan vor einigen Tagen den Minister der Auswärtigen
Angelegenheiten zu ihnen sowie Herrn von Nelidow gesandt hatte,
um ihnen zu eröffnen, daß er sich entschlossen habe, die Aufsichts-
kommission — so wie dieselbe durch das ursprüngliche Memorandum
der drei Mächte vorgeschlagen war — anzunehmen.
Wenn er sich anfangs gesträubt habe, die Dolmetscher der Bot-
schaften der Großmächte zu den Verhandlungen mit der Kommission
zuzulassen, so sei er jetzt gewillt, diesen Widerstand aufzugeben und
sich den Wünschen der Mächte in dieser Beziehung zu fügen, pp.
Die Botschafter haben jene Erklärung des Sultans ihren Regierun-
gen mitgeteilt.
Es wird sich also fragen, ob letztere sich jetzt damit begnügen
werden. Jedenfalls äußerte sich Sir Philip Currie mir gegenüber dahin,
daß der Sultan mit seinen nachträglichen Zugeständnissen vielleicht
schon zu spät käme. pp.
Saurma
Nr. 2423
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 132 Therapia, den 18. September 1895
Noch ist eine definitive Rückäußerung der drei Aktionsmächte
auf die jüngsten Anerbietungen der Pforte in der armenischen An-
gelegenheit nicht erfolgt.
Dagegen hat die türkische Botschaft in London der Pforte gestern
* Siehe Nr. 2419.
5 Die Große Politik. Bd. 10. 65
Meldung von einer Erklärung gemacht, welche Lord Salisbury von
Dieppe aus an das Foreign Olfice mit der Bestimmung gericiitet habe,
dieselbe der türkischen Vertretung gegenüber als den Ausdruck des
von der englischen Regierung in der armenischen Sache gegenwärtig
eingenommenen Standpunktes mitzuteilen.
Diese vom Foreign Office an Rüstern Pascha in Form eines Aide-
memoire übergebene Äußerung des englischen Premiers laute wie
folgt:
„Lord Salisbury desire arriver ä une conclusion de l'affaire
armenienne, mais il faut que le Sultan donne des garanties pour
la securite de la vie et des bicns des populations dans les six
provinces en question.
Pour atteindre ce but deux methodes se presentent*
1^, adopter les reformes proposees par les trois Puissances
dans le memorandum,
2°, laisser Tadministration musulmane actuelle et instituer
dans les provinces en question une commission internationale qui
aurait ä signaler aux Ambassades les abus qui s'y commettent." —
Als Erwiderung hierauf hat Turkhan Pascha Rüstern angewiesen
zu erklären, daß die Pforte unter keinen Umständen die von Lord
Salisbury ins Auge gefaßte internationale Kommission annehmen könne.
Die dem türkischen Botschafter gegebene Instruktion versucht
dabei den Nachweis, daß die Pforte durch die schließlich zugestandenen
sechs Punkte allen denjenigen Forderungen gerecht geworden sei,
welche von den drei Mächten in ihrem ersten Memorandum aufgestellt
worden.
Betrachtet man den Verlauf der schwebenden Frage etwas näher,
so dürfte man fast zu dem Glauben geführt werden, daß die von Lord
Salisbury aufgesteUte Alternative — Annahme des ursprünglichen
Memorandums der drei Mächte oder internationale Kommission in
den armenischen Provinzen — darauf berechnet ist, die Pforte
zur bedingungslosen Annahme der ersteren „Methode" zu bewegen.
Es ist klar, daß der Sultan sich eher zu allem anderen bereit finden
lassen wird als zur Einsetzung dieses sein Ansehen in Kleinasien ver-
nichtenden fremden Tribunals.
Saurma
Nr. 2424
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 75 Therapia, den 30. September 18Q5
Heute vormittag haben Armenier vor der Pforte und anderen öffent-
lichen Gebäuden in Stambul demonstriert, wobei es zu blutigen Zu-
«6
sammenstößen mit der Polizei kam. In diesem Augenblick ist Stambul
in großer Erregung. Zahlreiche MoIIahs in den Straßen versammelt.
Militär wurde nicht bemerkt. Augenzeugen waren die bei mir weilenden
Gäste Prinz Holstein* und Graf Saurma.
Saurma
Nr. 2425
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 136 Therapia, den 4. Oktober 1895
Euerer Durchlaucht beehre ich mich in der Anlage den Wortlaut
der Erklärung** gehorsamst vorzulegen, welche die Dragomans der
Botschaften namens der letzteren gestern der Pforte gemacht haben,
um der barbarischen Metzelei Einhalt zu tun, welche von der musel-
manischen Bevölkerung Stambuls gegen die Armenier daselbst in den
letzten Tagen verübt wurde***.
In der bezüglichen Botschafterkonferenz vermochte ich dieser Er-
klärung eine Fassung zu verschaffen, deren Inhalt sich mit meinen früher
erhaltenen Weisungen deckte und mich daher in die Lage setzte, ohne
besondere Instruktionseinholung an dem fraglichen Schritt teilzunehmen.
Es erschien in der Tat hohe Zeit, die Pforte energisch auf die
Gefahren aufmerksam zu machen i, welche sich aus der ungehinderten
Beteiligung der fanatischen Volksmasse an der gewaltsamen Unter-
drückung der armenischen Demonstration für die allgemeine Sicherheit
der Fremden in Konstantinopel ergeben konnten.
Die Verfolgung und Massakrierung der ursprünglich an der un-
sinnigen Demonstration beteiligten Armenier war nach und nach in
eine systematische Hetze gegen letztere überhaupt übergegangen. Die-
selben wurden in ihren eigenen Behausungen von den Türken überfallen
und niedergemacht. Die Blutgier des Pöbels war auf diese Weise
geweckt worden und konnte jeden Augenblick in außerarmenischen
Kreisen ihre Befriedigung suchen.
Der gedachte Schritt der Botschafter, welcher von Sir Philip Currie
angeregt worden war, scheint denn auch seine Wirkung nicht verfehlt
zu haben. Die türkische Regierung kam endlich zur Besinnung und
erkannte das Unheil, welches durch ihr apathisches laisser faire ent-
stehen konnte.
Der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten gab den Dragomans
die bündigsten Erklärungen, daß den Warnungen der Botschafter
* Prinz Albert zu Schleswig-Holstein.
** Der Wortlaut der Erklärung ist abgedruckt in: Das Staatsarchiv Bd. 58, Nr. 10 982,
Beilage III.
*** Vgl. Nr. 2424.
5« 67
werde Rechnung getragen und sofort alle Maßregeln getroffen werden,
um Ruhe, Ordnung und allgemeine Sicherheit zu gewährleisten. In
der Tat wurden noch an demselben Tage Truppen nach Stambul be-
ordert, welche weitere Ausschreitungen verhinderten.
Die Abgelegenheit Stambuls von den europäischen Teilen der Stadt,
sowie die Verschwiegenheit der türkischen Behörden lassen einstweilen
noch kein genügendes Licht auf die Einzelheiten der beklagenswerten
Ereignisse fallen. Indessen erhellt schon jetzt mit genügender Sicherheit
1. daß die Zahl der Opfer an Menschen beträchtlich höher ist, als
ursprünglich angenommen wurde;
2. daß die türkischen Behörden selbst die Verantwortung für die
blutigen Ausschreitungen der muselmanischen Bevölkerung Stambuls
tragen, indem dieselben, von der beabsichtigten armenischen Demon-
stration unterrichtet, statt sie durch Truppen auf die einfachste Weise
zu verhindern, sie Zustandekommen ließen und die von der Polizei im
geheimen mit Waffen, insbesondere dicken Knütteln versehene Volks-
menge dazu anregten, über den Zug herzufallen und ihn zu zersprengen.
S a u r m a
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Also das ist schon geschehn wozu Goluchowski gerathen*
Nr. 2426
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 138 Therapia, den 4. Oktober 1895
Vertraulich
Mein russischer Kollege klagte in einer mit mir vorgestern ge-
pflogenen vertraulichen Unterredung über die Langsamkeit, mit welcher
die Interv'entionsregierungen die Fortführung der armenischen An-
gelegenheit gegenwärtig betrieben.
Lord Salisbury habe, nachdem die russische Regierung die zuletzt
von der Pforte zugestandenen sechs Punkte als eine ausreichende
Basis einer Verständigung bezeichnet, nach längerem Zögern den Vor-
schlag gemacht, die drei Botschafter in Konstantinopel möchten sich
über die Fassung einer der Pforte zu erteilenden Antwort einigen,
welche die gemachten Zugeständnisse akzeptiere, denselben aber noch
einige Punkte — u. a. die Beigabe eines europäischen Beirats für
den Generalkommissar Schakir Pascha — hinzugefügt zu wissen
wünschte. Er, Nelidow, und Herr Cambon hätten sich mit Sir Philip
Currie dieserhalb verständigt und vorige Woche Tag und Stunde
• Vgl. Nr. 2420.
68
festgesetzt, diese der Pforte zu gebende Antwort in obigem Sinne zu
formulieren, als bei dieser Zusammenkunft iiir englisclier Kollege plötz-
lich — ohne sich klar und deutlich auszusprechen — erklärte, „die
Sachlage habe sich für ihn infolge eines erhaltenen ,wenn auch nicht
geradezu amtlichen* Telegramms geändert, und er sei infolgedessen nicht
mehr in der Lage, ohne weiteres seinen früheren Instruktionen gemäß
bei dem obenerwähnten gemeinsamen Antwortsentwurf mitzuwirken"!.
Weder er noch Herr Canibon wüßten, worum es sich eigentlich
hierbei handele, bedauerten aber den dadurch herbeigeführten Auf-
schub um so mehr, als ihrer Meinung nach die endliche Herbeiführung
eines Abschlusses der armenischen Angelegenheit äußerst erwünscht
erscheine 2.
Vorgänge wie diejenigen, welche sich jüngst in Stambul abspielten,
würden vielleicht vermieden worden sein, wenn die Armenier endlich
sichtbare Resultate von der zu ihren Gunsten eingetretenen Intervention
der Mächte erblickt hätten. Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 [■?
2 Aber vielleicht nicht für England?
Nr. 2427
Aufzeichnung des Reichskanzlers Fürsten von Hohenlohe
Eigenhändig
Berlin, den 6. Oktober 18Q5
Der türkische Botschafter kam heute zu mir, um mir zu sagen,
seme Regierung habe einen die armenische Frage betreffenden Vor-
schlag an die drei beteiligten Mächte gerichtet, der sich wenig von
dem englischen Vorschlag* unterscheide, und von dem er hoffe, daß
er von den Mächten angenommen werde. Er bittet im Auftrag seines
Souveräns, diesen Vorschlag bei der englischen Regierung zu befür-
worten. Ich habe ihm gesagt, sobald ich Kenntnis von dem Wortlaut
des Vorschlags erhielte, würde ich die Befehle Seiner Majestät einholen.
C. Hohenlohe
Nr. 2428
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 141 Therapia, den 6. Oktober 1895
Den Botschaftern von England und Frankreich sind angeblich
sichere Nachrichten zugegangen, daß demnächst eine neue und stärkere
♦ Vgl. Nr. 2426.
69
Demonstration von den hiesigen Armeniern werde in Szene gesetzt
werden als diejenige, welche am 30. v. Mts. in Stambul stattfand. Die
genannten Botschafter, mitcrstützt von Herrn von Nelidow, baten
uns andere Botschafter, gemeinsam mit ihnen die hiesige Regierung
nochmals und in noch eindringlicherer Form auf die Gefahren auf-
merksam zu machen, welche mit Sicherheit zu erwarten seien, wenn
die Pforte nicht schleunigst energische Vorkehrungen treffe, um die
Wiederkehr von Ereignissen wie die jüngst stattgehabten zu verhüten.
Es wurde eine Verbalnote vereinbart, welche heute durch den
Dragoman der österreichisch-ungarischen Botschaft (Baron Calice ist
Doyen des diplomatischen Korps) im Beisein der übrigen Dragomans
dem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten* übergeben werden soll.
Euerer Durchlaucht beehre ich mich die Note abschriftlich ge-
horsamst zu überreichen**.
Da es sich hierbei nicht um Teilnahme an Schritten, betreffend die
armenische Frage als solche, sondern lediglich um Maßnahmen handelt,
welche die öffentliche Ruhe und die Sicherheit der in Konstantinopel
vorhandenen Kolonien betreffen, so hielt ich es für angezeigt, mich
analog dem Verhalten des österreichisch-ungarischen und italienischen
Vertreters von dem englischen Schritt nicht auszuschließen i, obgleich
ich augenblicklich die Lage der Dinge nicht so ernst ansehe, wie dies
von meinen Kollegen geschieht.
Die hiesige Regierung hat durch den Großwesir die bündigsten
Versicherungen gegeben, daß sie für die Aufrechterhaltung der Ord-
nung in Konstantinopel Bürgschaft leiste, und es liegt zurzeit keine
Veranlassung vor, anzunehmen, daß sie ihrem Versprechen nicht nach-
kommen wolle oder könne.
Wohl werden hier und da anderweitige armenische Putsche von
dem armenischen Revolutionskomitee angestiftet werden. Es liegt dies
aber in seinem Programm. Die türkische Regierung dürfte aber sehr
wohl imstande sein, Herr derselben durch die Truppen zu werden,
welche jetzt Stambul okkupieren, ohne die Bevölkerung, wie dies
jüngst geschah, an der Bekämpfung der fraglichen Demonstrationen
teilnehmen zu lassen.
Die große Masse der hiesigen einheimischen Armenier steht der
Bewegung fern.
Nur ein Teil derselben, welcher von dem Revolutionskomitee
terrorisiert wird und Waffen und Geld dafür erhält, beteiligt sich an
den Demonstrationen.
Auf diese Weise ist aber leider eine allgemeine Panik entstanden,
welche von dem Komitee in geschickter Weise ausgenutzt wird, um
die Aufregung wachzuhalten und neue Exzesse heraufzubeschwören.
* Said Pascha im neuen Kabinett Kiamil (seit 4. Oktober).
** Siehe den Text in: Das Staatsarchiv Bd. 58, Nr. 10 985.
70
So haben sich Hunderte von armenischen Familien in die armeni-
schen Kirchen geflüchtet und können trotz aller gütlicher Zureden
der Behörden nicht bewogen werden, dieselben zu verlassen. Ebenso
sind die armenischen Kaufläden unter dem Druck der Drohungen der
Agitatoren geschlossen.
Die Lage der Dinge ist zurzeit eine gespannte. Es ist aber zu
hoffen, daß infolge der der Pforte von uns gemachten ernsten Vor-
stellungen die Regierung jetzt in einer Weise vorgehen wird, um den
religiösen Fanatismus der Moslems gehörig niederzuhalten.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
i Ja
Nr. 2429
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm H., z. Z. in Hubertusstock
Telegramm. Entzifferung
Berlin, den 9. Oktober 1895
Euerer Majestät Geschäftsträger in Wien telegraphiert von heute:
„Ich fand den Grafen Goluchowski soeben sehr verstimmt über
die heute aus Trapezunt eingegangenen Nachrichten*, die er sehr
ernst beurteilt. Er erklärte mir, er sei bisher an der armenischen
Frage nicht beteiligt gewesen, nunmehr finge dieselbe aber an, eine
Wendung zu nehmen, die alle Großmächte gleichmäßig angehen i,
teils wegen der Gefährdung ihrer Angehörigen, teils wegen der Ver-
wickelungen, die daraus hervorgehen könnten. Der Minister hat bei
den Großmächten anfragen lassen, was sie zu tun beabsichtigen, und
wünscht gemeinsame und energische Vorstellungen bei der Pforte
mit dem Hinweis, daß man die Türkei verantwortlich machen werde
für fernere Metzeleien 2. Der Graf befürchtet die Möglichkeit poli-
tischer Verwickelungen, falls es nicht gelingen sollte, weiteren Unruhen
vorzubeugen 3,
Freiherr von Calice ist angewiesen worden, sich mit seinen Kollegen
über die nötigen Schritte zu einigen." Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
Ma
falls die Dardanellen damit in Anregung kommen
2 wird dem Sultan wenig imponiren, der so schon vor Angst nicht weiß was er
soll
3 ist der muselmännische Fanatismus erst mal im Gang kann man das nicht
Schlußbemerkung des Kaisers:
Aber der Urgrund zu all dem Unheil ist lediglich in England mit der ver-
wünschten Campagne Westminsters, Argylls und Gladstones zu gunsten der
Armenier zu suchen. Deren Blut liegt auf Englands Haupt
* Am 8. Oktober hatten neue Armeniermassakers in Trapezunt stattgefunden.
71
Nr. 2430
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales
Mr. 55 Berlin, den 10. Oktober 1895
Ew. pp. Meldungen über die Unruhen in Trapezunt habe ich er-
halten.
Ich ersuche Ew. pp., der türkischen Regierung zu verstehen zu
geben, daß wir nicht umhin können, die Pforte für diese und etwaige
weitere Vorgänge ähnlicher Art verantwortlich zu machen, wenn die-
selbe sich nicht endlich entschließt, energische Maßregeln zu treffen,
um der Wiederkehr solcher Ausschreitungen vorzubeugen.
Ew. pp. wollen dabei dem Sultan und der Pforte keinen Zweifel
darüber lassen, daß uns jede Möglichkeit einer Unterstützung der
Türkei genommen werden würde, wenn dieselbe sich der Erfüllung
ihrer staatlichen und vertragsmäßigen Verpflichtungen entzieht.
Marschall
Nr. 2431
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 238 Wien, den 10. Oktober 1895
Meine Eindrücke über die Haltung, welche die österreichisch-
ungarische Regierung nunmehr gegenüber den armenischen Wirren
einzunehmen beabsichtigt, lassen sich mit Bestimmtheit dahin zu-
sammenfassen, daß Graf Goluchowski zur prophylaktischen Offensive
überzugehen im Begriff ist. Der Minister des Äußern will auf diplo-
matischem Wege einerseits zu verhindern suchen, daß die Angelegen-
heit durch Angriffe auf Europäer oder andere weitere Bluttaten einen
unberechenbaren Umfang annimmt, andererseits aber England,
Frankreich und Rußland gegenüber nicht in die Hinter-
hand kommen. Daß er hierbei auf unsere Unterstützung rechnet,
ist ebenso gewiß, als daß eine ausweichende Antwort aus Berlin
in diesem Augenblick ihn besonders reizen und ärgern würde. Er
setzte in ziemlicher Erregtheit auseinander, daß trotz aller Unbeteiligt-
heit in orientalibus eine Macht wie Deutschland doch nicht passiv
bleiben könne angesichts von Ereignissen, durch die eine Bedrohung
der Reichsangehörigen jeden Augenblick zu gewärtigen wäre; eine
intime Verständigung mit der Kaiserlichen Regierung erscheine ihm
daher besonders notwendig.
72
Indem ich hervorhob, daß wir uns wohl an den von ihm geplanten
Schritten beteiligen würden, vorausgesetzt, daß alle anderen Groß-
mächte sich auch anschließen, suchte ich den Grafen in dem Wunsche
zu bestärken, sich namentlich mit dem am meisten interessierten
Staatsmanne, mit Lord Salisbury, ins Einvernehmen zu setzen, über
dessen ihm bisher gezeigte Zurückhaltung der Nachfolger des Grafen
Kälnoky sich, wie gemeldet, heftig beklagte.
C. M. Lichnowsky
Nr. 2432
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Geschäftsträger in Wien Prinzen von Lichnowsky
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales
Nr. 765 Berlin, den 12. Oktober 1895
Bericht Nr. 238 vom 10. d. Mts.* erhalten. Falls Graf Goluchowski
Ew. pp, gegenüber wiederum auf die armenischen Wirren zu sprechen
kommt, wollen Ew. pp. darauf hinweisen, daß die Pforte deutscher-
seits bereits in ernster Weise ermahnt worden ist, energische Maß-
regeln zu treffen, um der weiteren Ausbreitung von Unruhen, durch
welche die Sicherheit der Europäer gefährdet wird, vorzubeugen**.
Denjenigen gemeinsamen Schritten, welche die Botschafter in Kon-
stantinopel zur Erreichung dieses Zweckes getan hätten, hätte sich
daher auch der Kaiserliche Botschafter angeschlossen.
Ich bitte aber, dem österreichischen Minister keinen Zweifel dar-
über zu lassen, daß wir nicht gesonnen sind, uns über diese Grenze
hinaus in eine Aktion für die armenische Frage zu engagieren.
Marschall
Nr. 2433
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 146 Therapia, den 12. Oktober 1895
Als mich gestern der Auswärtige Minister in Therapia besuchte,
benutzte ich diese Gelegenheit, um mich des hohen Auftrages Euerer
Durchlaucht*** zu entledigen und ihm in sehr ernster Weise zu erklären,
* Siehe Nr. 2431.
♦* Vgl. Nr. 2430.
*** Vgl. Nr. 2430.
73
daß die Kaiserliche Regierung sich außerstande sehen würde, in Zukunft
der Pforte ihre Unterstützung zu leihen, wenn dieselbe Vorgänge
duldete, wie sie jüngst in Trapezunt stattgefunden hätten. Gleich-
zeitig bat ich, diese Eröffnung zur Kenntnis Seiner Majestät des
Sultans zu bringen.
Said Pascha sprach sein Bedauern über jene Vorkommnisse aus,
bemerkte jedoch zu deren teilweiser Entschuldigung, daß die Armenier
in Trapezunt genau in derselben Weise die Exzesse provoziert hätten,
wie dies in Konstantinopel der Fall gewesen wäre. Überhaupt sei
die Bewegung von Trapezunt aus der von Konstantinopel hervor-
gegangen. Die dortigen Armenier hätten mit Rücksicht auf die Be-
wegung in der Hauptstadt geglaubt, daß ein neues Blutvergießen in
der Provinz die armenische Sache nur fördern würde. Es seien daher,
um die Erregung des muselmanischen Volkes hervorzurufen, von den
Armeniern in Trapezunt Mordattentate sowohl gegen den Gouverneur
der Provinz als den Kommandanten der Truppen gemacht worden.
Beide seien durch Schüsse verwundet.
Übrigens sei nach den bisherigen amtlichen Nachrichten die Zahl
der Opfer nicht so groß, als es ursprünglich hieß. Auf armenischer
Seite seien etwa 25 und auf muselmanischer 10 Menschen gefallen*.
Ungeachtet dessen erkenne er an, daß eine Wiederholung der-
artiger Exzesse nicht mehr vorkommen dürfe, und er werde dafür
Sorge tragen, daß sofort mehr als 1000 Mann Militär nach Trapezunt
befördert werden, um die dortigen mit der Aufrechterhaltung der
Ordnung betrauten Truppen wirksam zu unterstützen. Nötigenfalls
werde der Belagerungszustand daselbst erklärt werden, um etwaigen
weiteren Ausschreitungen energisch vorzubeugen.
Saurma
Nr. 2434
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 87 Therapia, den 18. Oktober 1895
Wie der Großwesir mitteilt, hat der Sultan die zwischen den drei
Botschaftern und der Pforte vereinbarten Reformen bezüglich Armeniens
mittelst Iradee gestern, Donnerstag, genehmigt**.
Saurma
* Fußnote Saurmas: Daß diese offiziellen Angaben hinter der Wahrheit zurück-
bleiben, ist selbstverständlich. (Vgl. Nr. 2444, Anlage.)
** Vgl. Nr. 2438 nebst Fußnote *.
74
Nr. 2435
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr, 88 Therapia, den 19. Oktober 1895
Die Unzufriedenheit unter der hiesigen mohammedanisclien Be-
völkerung mit der vom Sultan geübten Regierung ist heute ungleich
größer, als sie es zur Zeit vor der Absetzung Abdul Asis war, und
durchdringt diesmal gleichmäßig alle Schichten des Volkes, Militär,
Geistlichkeit, Beamte bis hinab zum Arbeiter und Lastträger.
Mein ganz vertraulicher Bericht Nr. 117 vom 22. August d. Js.*
gibt bereits ein annäherndes Bild dieses Zustandes.
Jedermann will die Beseitigung Abdul Hamids. Nur weiß niemand
„wie?". Die nächste Gefahr dürfte Seiner Majestät von seiner nächsten
Umgebung im Palais drohen i.
Vorstehende Beurteilung der Lage ist auch diejenige meiner
Kollegen.
In betreff der Vorgänge von Trapezunt, so hat die Pforte in der
Folge der Warnungen der Kaiserlichen Regierung sofort die erforder-
lichen Maßnahmen getroffen und die Ordnung durch entsprechendes
Truppenaufgebot daselbst wiederhergestellt, pp.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL:
1 Und von England
Nr. 2436
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 392 SL Petersburg, den 19. Oktober 1895
Fürst Lobanow brachte während meines ersten Besuches bei ihm
die Sprache auf die armenischen Unruhen und die letzten Vorgänge
in Konstantinopel und meinte ganz unumwunden, daß dieselben auf
englische Intrigen zurückzuführen seiend. Seiner Ansicht nach seien
diese Ereignisse deshalb bedenklich, weil sie ihm als der Anfang des
Endes des Türkischen Reiches erscheinen. Er halte es für seine Auf-
gabe und für die Aufgabe aller konservativen Mächte, alles zu tun,
um nach Möglichkeit die Beschleunigung des Endes des Türkischen
Reichs zu hindern, das die Engländer provozieren zu wollen scheinen.
* Siehe Nr. 2416.
75
Er sei von Anfang an dagegen gewesen, die Durchführung großer Re-
formen so direkt in die Hand zu nehmen. Dies müsse der Sultan
allein tun. Die Mächte hätten nur zu verlangen, daß die christlichen
Völker der Türkei gerecht und gut regiert und behandelt würden.
Wie dies zu machen sei, wäre Sache der dortigen Regierung, und sie
allein treffe die Verantwortung. Die autonomen Bestrebungen der
einzelnen christlichen Völkerschaften direkt zu unterstützen und wo-
möglich durchzudrücken, sei synonym mit der Dekomposition des Türki-
schen Reichs, da die muselmanischen Elemente im ganzen schwächer
sind als die christlichen, namentlich wenn diese eine große Selbständig-
keit erlangen. Schließlich, sagte er, sei es besser, die Türkei zu er-
halten, als den unvermeidlichen Kampf über die Erbschaften derselben
auflodern zu sehen.
Radolin
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
Nr. 2437
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe, z. Z. in München, an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 40 München, den 21. Oktober 1895
Ich habe gestern abend nachstehendes Telegramm von Seiner
Majestät erhalten:
„In seinem Telegramm Nr. 88 aus Stambul* schildert Freiherr
von Saurma die Unzufriedenheit des türkischen Volkes mit Abdul Hamid
und die für dessen Person daraus erwachsende Gefahr. Die Schilderung
ist vollkommen richtig, die Situation aber weder neu noch überraschend;
sie ist nur in ein akutes Stadium getreten. Die schon seit langer Zeit
aus allen Teilen des Orients als im Wachsen begriffen gemeldete
moslemitische Bewegung ist es, welche sich hier zum erstenmal in
blutiger Weise fühlbar gemacht hat. Der Mahdi war seinerzeit ein
Symptom derselben. Die stete Repression der Mohammedaner in
Afrika durch die Christen an allen Orten und der Kampf gegen die
Sklaverei hat den Haß des Mohammedaners gegen den Christen nur
noch mehr geschürt. Der Mohammedaner braucht nach seinen religiösen
Sitten die Sklaverei, sie ist gewissermaßen integrierender Teil seines
Familienlebens. Die Steigerung der Schwierigkeiten, Sklaven zu er-
halten, oder gar die Unmöglichkeit, welche zu erwerben, muß der
Mohammedanismus als einen Akt der Feindseligkeit gegen seine
fundamentale Institution (den Koran) ansehen, er wird daher über kurz
♦ Siehe Nr. 2435.
76
oder lang um denselben kämpfen. Gepredigt ist schon lange aus Mekka
worden. Eine allgemeine Erhebung gegen die Christen und die Aus-
brüche des Fanatismus am selbigen Ort, die einzelnen Konsuln das
Leben gekostet, waren symptomatische Erscheinungen für die Gärung
in den moslemitischen Gemütern. Politisch ist diese fürchterliche Gefahr
von England sehr geschickt ausgenutzt worden. Der Sultan, bekannt-
lich in stetiger Angst vor dem der Verheißung nach aus Afrika zu
erwartenden mohammedanischen Messias, ist durch Aufwerfen der
armenischen Frage in tödliche Verlegenheit gesetzt worden. Vor den
Augen seiner strenggläubigen Untertanen ist er durch Genehmigung
der armenischen Reformpläne* herabgesunken, weil sich der Giaur
Einfluß auf die Regierung gesichert hat, es droht daher dem Padischah
unstreitig Gefahr für seine Person und für Konstantinopel. England
hat Angst vor Rußland im Orient (Indien, China), vor Frankreich ebenso
(Siam, Ägypten), und drittens vor seinen mohammedanischen Unter-
tanen. Es kalkuliert daher folgendermaßen: Rußland durch Entgegen-
kommen nach Stambul hineinzulocken. Frankreich durch eventuell
größere Konzessionen in Ägypten zu besänftigen. Die moslemitische
Bewegung gegen den Sultan anzufachen, daß derselbe gezwungen ist,
Rußland (den Christen) um Schutz und Hülfe gegen seine eigenen
Untertanen anzurufen, dadurch Rußland mit der moslemitischen Be-
wegung in Gegnerschaft zu setzen, und wenn dasselbe dann in offenen
Kampf mit dem durch die Besetzung Konstantinopels durch Christen
empörten Alohammedanismus getreten ist, dann offiziell seinen (Eng-
lands) mohammedanischen Untertanen zuliebe als Schützer des be-
drängten Moslems aufzutreten und zum Beweis und Pfand davon
die Dardanellen zu besetzen. Auf die Manier würde England seine
beiden Gegner loswerden und sie miteinander auch noch brouillieren,
ohne dabei die Dardanellen preiszugeben, um deren Besitz zu fechten
Rußland nicht mit voller Kraft eintreten könnte, da es eben, wie vorher
bemerkt, in einen Kampf auf Tod und Leben mit der mohammedani-
schen Welt verwickelt sein würde. Nach reiflicher Überlegung scheint
mir dies der ungefähre Gang der geheimsten Gedanken Englands zu
sein. Ich bin darin bestärkt worden durch eine mir auffällige Be-
merkung, welche die Kaiserin Friedrich, die sonst nie auswärtige
Politik mit mir bespricht, mir beim Diner in Straßburg** machte. Sie
sagte: ,Die Christenmassakers in der Türkei sind ganz grauenerregend.
Es ist die Pflicht aller christlichen Staaten, sich dies nicht von den
Türken gefallen zu lassen, das Blut der massakrierten Christenbrüder
darf nicht ungerächt bleiben. Die Regierung des Sultans sei unfähig
und unerhört, mit dem müßte kurzer Prozeß gemacht werden. Außer-
* Vgl. Bd. IX, Kap. LVI sowie Nr. 2438.
** Am 18. Oktober hatte der Kaiser in Gegenwart der Kaiserin Friedrich in Wörth
ein Denkmal Kaiser Friedrichs III. enthüllt.
77
dem sei aber sein Leben in Gefahr, da die Unzufriedenheit in der Türkei
dieselbe als im Zustande der Gärung befindlich erkennen lasse. Man
müsse auf eine allgemeine Erhebung der Moslems gegen den Sultan
vorbereitet sein. Es wäre nicht unmöglich, und ob nicht vielleicht die
Russen dann nach Konstantinopel einrücken dürften?'
Aus alledem geht hervor, daß die Lage am Alittelmeer in Gärung
ist, und Englands Schritte auf das schärfste überwacht werden müssen.
Ich bitte, demgemäß Instruktion an die Botschafter von London, Stambul,
St. Petersburg und Paris zu erlassen.
Wilhelm LR."
Ich habe folgendes geantwortet:
„Euerer Majestät danke icli alleruntertänigst für die wichtige Aller-
höchste Mitteilung von gestern. In den Äußerungen Ihrer Majestät
der Kaiserin Friedrich scheint in der Tat der Schlüssel zu den Plänen
Lord Salisburys gegeben. Ich glaube aber, daß Rußland zu klug ist,
um auf die englische Leimrute zu gehen. Wenn es den Sultan, ohne
Konstantinopel zu besetzen, unter sein Protektorat nimmt und dessen
Selbständigkeit schützt, so würde es den Kampf mit der mohammedani-
schen Welt vermeiden und den englischen Plan durchkreuzen.
Ich werde die befohlenen Instruktionen an die Botschafter von
London, Stambul, St. Petersburg und Paris absenden und sie zur
schärfsten Überwachung der Schritte Englands anweisen.*'
Hohenlohe
Nr. 2438
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 154 Therapia, den 22. Oktober 18Q5
Die Vereinbarungen, welche zwischen der Pforte und den Ver-
tretern von England, Frankreich und Rußland in betreff der in den
armenischen Provinzen Kleinasiens einzuführenden Reformen getroffen
worden waren, sind vom Sultan am 17. d. Mts. genehmigt worden.
Das Schriftstück, welches das Ergebnis der langwierigen Verhand-
lungen enthält und alle in der Frage gewährten Reformen zusammen-
faßt, ist den drei Botschaftern am 20. d. Mts. im türkischen Text amt-
lich mitgeteilt worden*.
Eine offizielle Übersetzung desselben wird von der Pforte an-
gefertigt, und werde ich nicht ermangeln, den Wortlaut Euerer Durch-
laucht gehorsamst vorzulegen.
Inzwischen hat die türkische Regierung die im Ausschnitt hier
• Siehe den Text in: Das Staatsarchiv Bd. 58, S. 166 ff.
78
beigefügte amtliche Bekanntmachung* veröffentlichen lassen, welche
eine Übersicht der einzuführenden Reformen enthält. Diese Bekannt-
machung — durch welche auch einem ausgesprochenen Wunsche der
drei Botschafter entsprochen wird — bezweckt, die öffentliche Mei-
nung in der Türkei über die Bedeutung der Reformen aufzuklären
und namentlich die in der muselmanischen Bevölkerung vielfach ver-
tretene falsche Ansicht richtigzustellen, als handele es sich bei den
Reformen um Vorteile, die den Armeniern zum Nachteil der Moslems
gewährt werden sollen. Aus Rücksicht auf die türkische Empfindlich-
keit ist in der Bekanntmachung die Einsetzung einer Kommission zur
Überwachung der Reformen, bei welcher die Botschaften die aus den
Provinzen eingehenden Beschwerden anbringen können, nicht erwähnt
worden. Aber abgesehen von dieser Überwachungskommission, die
eine praktisch ziemlich bedeutungslose Neuerung ist, bewegen sich
alle übrigen Reformen innerhalb des Rahmens desjenigen, was theo-
retisch bereits früher gewährt worden war. Es bleibt mithin abzu-
warten, ob die jetzigen Verheißungen nicht dasselbe Schicksal haben
werden wie die früheren.
Saurma
Nr. 2439
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 156 Therapia, den 23. Oktober 1895
Vertraulich
Seine Majestät der Sultan hat mich durch den Großwesir bitten
lassen, Seiner Majestät dem Kaiser, unserem allergnädigsten Herrn,
seinen lebhaften Dank für den Beistand zu übermitteln, welcher ihm
seitens Seiner Majestät in den jüngsten politischen Komplikationen
zuteil geworden sei^.
Ich bezog diese Kundgebung auf die energischen, aber freund-
schaftlichen Ratschläge, welche ich beauftragt war, an den Sultan ge-
langen zu lassen, um ihn in der armenischen Frage zur Nachgiebigkeit
zu bestimmen, so wie die nötigen Maßregeln zu treffen, um die im
Innern des Reiches ausgebrochenen Unruhen in ordnungsmäßiger Welse
zu dämpfen.
Dessenungeachtet suchte ich zu erforschen, welche Hülfsleistung
es hauptsächlich sei, die diesen lebhaften Dank des Sultans hervor-
gerufen habe und fand zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß
ihm hinterbracht worden sei, es habe unter den Mächten vor einiger
Zeit die Absicht bestanden, seine Entthronung herbeizuführen^, und
* Hier nicht abgedruckt.
79
es sei nur der Intervention Seiner Majestät des Deutschen Kaisers
zu verdanken, daß diese Absicht nicht zur Ausführung gekommen.
Ich glaube am besten daran zu tun, mich einer Äußerung in der
Sache zu enthalten und dieselbe auf sich beruhen zu lassen^, um so
mehr, als mir direkte Andeutungen darüber nicht gemacht worden
sind, und die Erfindung die Mauern des Jildis-Palais nicht verlassen
haben dürfte.
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Ich bin mir nicht bewußt
2 !
* ja
Nr. 2440
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 157 Therapia, den 23. Oktober 1895
Der hiesige englische Botschafter Sir Philip Currie begibt sich
morgen auf einen dreiwöchentlichen Urlaub nach London, um Lord
Salisbury zu sehen, mit welchem er seit seinem letzten Amtsantritt
noch nicht zusammengetroffen war. Es hat den Anschein, als ob er
sich bei seinem Chef für den Posten von Paris in Erinnerung bringen
möchte, welcher demnächst durch den Rücktritt des 70jährigen Lord
Dufferin vakant werden dürfte. Sir Philip ist ungern in Konstanti-
nopel, dessen rege und von aufregenden Wechseifällen häufig be-
gleitete Politik ihm nicht zusagt. Der Augenblick scheint ihm für
eine freundliche Berücksichtigung seiner Wünsche insofern vielleicht
günstig, als er durch die Beendigung der armenischen Frage mit
einem in England sehr anerkannten politischen Erfolge zu Hause er-
scheint.
Er drückte mir vor seiner Abreise seinen besonderen Dank für
die Unterstützung aus, welche ich im Auftrage meiner Regierung
im Interesse einer zufriedenstellenden Beendigung der armenischen
Angelegenheit und der damit im Zusammenhang stehenden jüngsten
ernsten Komplikationen gewährt habe. Er erwähnte dabei, daß, wie
die Erfahrung wiederum lehre, ein gesondertes Vorgehen einzelner
Mächte im Orient doch stets nur ein partielles oder wenigstens ver-
hältnismäßig langsames Ergebnis habe, und daß der volle durch-
schlagende Erfolg erst mit d^m Augenblick eintrete, wo eine Meinungs-
übereinstimmung aller Mächte zur unumstößlichen Gewißheit ge-
worden sei.
Saurma
80
Nr. 2441
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
für den Vortragenden Rat von Holstein
Telegramm. Entzifferung
London, den 24. Oktober 18Q5
Gestern abend Lord Salisbury kurz gesprochen, welcher aus
eigenem Antrieb wiederholt versicherte, daß seine Politik unverändert
sei, und dabei die Bemerkung fallen ließ, daß jetzt, nachdem die un-
erfreuliche armenische Angelegenheit einen befriedigenden Abschluß
gefunden, von Teilungsplänen keine Rede mehr sei.
Er versicherte, als ich darauf anspielte, daß er wohl durch Sir
E. Malet von unseren Auffassungen fortlaufend unterrichtet sei, seit
Wochen keinen nennenswerten Bericht von demselben erhalten zu
haben.
Ausführlichen Privatbrief für Sie durch gestrigen Feldjäger ab-
geschickt.
Hatzfeldt ^
Nr. 2442
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt*
Telegramm. Entzifferung
Nr. 253 London, den 25. Oktober 1895
Telegramm Nr. 290** erhalten.
In meiner heutigen ersten ausführlichen und ganz vertraulichen
Unterhaltung mit Lord Salisbury äußerte derselbe sich zunächst über
die von der heutigen „Times" gebrachte Nachricht über ein geheimes
russisch-chinesisches Abkommen dahin, daß ihm noch keine Bestätigung
dafür zugegangen sei, daß es ihm aber, wie er mir schon früher gesagt,
* Bereits abgedruckt in Kap. LX, Nr. 2393; hier des Zusammenhangs wegen
wiederholt.
** Telegramm Nr. 290 vom 25. Oktober hatte dem Botschafter Grafen Hatzfeldt
von einer Unterredung Wilhelms II. mit Oberst Swaine vom gleichen Tage
Kenntnis gegeben, die auch die armenische Frage gestreift hatte. Der Kaiser
sagte u. a. : „Gerade der englischen Presse und der von ihr beherrschten öffent-
lichen Meinung verdanken wir den ganzen unnützen Skandal der armenischen
Frage. Die sei vor allem den Russen sehr unangenehm. Hinc illae iacrimae! Der
Oberst stimmte zu und sprach sich sehr herbe über Argyll, Westminster und
Mr. Gladstone aus, die das ganze Unheil heraufbeschworen hätten. Er habe
noch neulich mit dem Lord Salisbury gesprochen und auch neuerdings von ihm
einen Brief erhalten und aus alledem, was er gehört, ginge eben hervor, in
welch heikle Lage der Premier durch diese unglückselige Erbschaft geraten sei.
Er wisse noch nicht recht, was er tun solle, fühle sich noch nicht ganz fest
im Sattel und mache daher auch Annäherungsversuche bei allen Nationen die
Reihe herum, um herauszufinden, wie dieselben über die Türkei dächten. Mit
Deutschland sei er ja glücklicherweise auf gutem Fuße und, wie er ihm noch
6 Die Große Politik. Bd. 10. 81
durchaus nicht unheb wäre, wenn Rußland sich in China weiter en-
gagiere. Es würde dadurch vom Orient abgelenkt werden und wäre
dann mit den ihm übrig bleibenden Streitkräften nicht mehr stark genug,
um gleichzeitig an ein Vorgehen vom Schwarzen Meer aus zu denken.
Nur in dem Fall, wenn Rußland sich ausschließliche Rechte für
seine Schiffe in Port Arthur ausbedingt hätte, würde England da-
gegen Einwendungen erheben müssen.
Über die Erledigung der armenischen Frage zeigte sich der Minister
besonders deshalb erfreut, weil damit die Sorge vor einem Zusammen-
bruch des Türkischen Reichs und die Notwendigkeit vorläufig wegfalle,
sich über das fernere Schicksal der Bestandteile desselben den Kopf
zu zerbrechen. Lord Salisbury betonte dabei, daß er in erster Linie
die Erhaltung des europäischen Friedens wünsche. Sollte es dennoch
infolge irgendeines russischen Vorgehens im Orient zu einer Krisis
kommen, so werde er sich sofort und vor allem nach Berlin wenden,
um sich mit uns über eine gemeinschaftliche Haltung zu verständigen.
Der Minister fügte hinzu, daß man in Wien wegen des Orients sehr
^besorgt sei und namentlich befürchtet habe, daß er, Lord Salisbury,
den Russen die Dardanellen überlassen wolle. Er habe daher dem
Grafen Ooluchowski sagen lassen, daß er niemals eine solche Absicht
ausgesprochen habe, und könne nur versichern, daß er in allem, was
die orientalische Frage betreffe, stets auf die österreichischen Interessen
in erster Linie Bedacht nehmen werde.
Ohne mich nach irgendeiner Richtung zu engagieren, habe ich den
Minister freundschaftlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, daß die
bisherige unsichere PoHtik Englands, die vielleicht zum Teil noch den
Mißgriffen seines Vorgängers zuzuschreiben sei, fast überall in Europa
Mißtrauen hervorgebracht habe, und daß niemand mehr an bestimmte
zuletzt geschrieben habe, an dem Punkt, wo er im Jahre 1892 gewesen sei;
einige kleine Fragen in Afrika sekundärer Natur an und für sich müßten in ver-
söhnlichem Geiste mit gegenseitiger Liebenswürdigkeit und Breite behandelt
werden. Ich erwiderte ihm, diese Mitteilung sei mir sehr interessant. Was die
armenische Frage beträfe, so sei Englands Politik völlig unverständlich, und das
Herumtasten bei den verschiedenen Nationen habe dahin geführt, daß alle ohne
Ausnahme von einem handfesten Mißtrauen gegen England erfüllt seien. In
dieser Frage stünden sämtliche Kontinentalmächte einheitlich und geschlossen
zusammen, in der Absicht, den status quo und durch schnelle Ededigung der
sogenannten armenischen Frage die Ordnung in der Türkei aufrecht zu erhalten.
Das einzige Land, das aber die Türkei nicht so hoch kommen lasse, sei Eng-
land. Die eigentümlichen Artikel, die letzthin in England erschienen seien, die
Thronrede in Verbindung mit der scharf aggressiven Rede des Premiers gegen
die Türkei hätten bei den Kontinentalmächten den Verdacht erweckt, England
wolle seine Mittelmeerpolitik ändern. Dieser Verdacht sei bestärkt worden durch
das wochenlange Spazierenfahren der Mittelmeerflotte vor den Dardanellen, und
es würden überall Stimmen laut, welche der Ansicht Ausdruck verliehen, Eng-
land wolle Konstantinopel an Rußland geben, Frankreich durch Konzessionen in
Ägypten gewinnen und selbst die Dardanellen nehmen."
Siehe den Abdruck des ganzen Schriftstücks in Bd. XI, Nr. 2579.
82
Ziele der englischen Politik und an eine konsequente Durchführung
derselben glauben wolle.
Als der Minister mir, wie angeführt, mit Nachdruck sagte, daß
er sich im Fall einer drohenden Krisis sofort und zunächst mit uns
verständigen wolle, habe ich erwidert, daß ich ihn stets bereitwillig
anhören würde, wenn es dann nicht zu spät sei.
Der neue englische Botschafter* soll hier genau über alles informiert
werden, damit er eventuell auch in der Lage ist, sich Seiner Majestät
gegenüber über alle von allerhöchstdenselben berührten Fragen aus-
zusprechen.
Das Telegramm Nr. 290 ist mir erst nach meiner Unterredung mit
Lord Salisbury zugegangen.
Hatzfeldt
Nr. 2443
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 404 St. Petersburg, den 24. Oktober 1895
Fürst Lobanow teilte mir gestern mit, daß er ein Telegramm des
russischen Botschafters in Konstantinopel erhalten habe, wonach die
Sofias und der fanatische Teil der Bevölkerung in bedrohlicher Er-
regung gegen den Sultan sind. Diese Ausbrüche des Fanatismus
deutete mir Fürst Lobanow als die Folgen der unüberlegten und
übertriebenen englischen Forderungen an^. Sollte der Sultan den
eigenen Untertanen zum Opfer fallen, meinte Fürst Lobanow, so würden
die Verhältnisse nicht um ein Haar besser, und nur neue Wirren
hervorgerufen werden. Eine Garantie für die Sicherheit der Person
des Sultans und ein Schutz gegen die Geistlichkeit soll indes darin
liegen, daß der Scheich ül Islam ein Mann der eigenen Wahl Abdul
Hamids ist, der ein Interesse daran hat, seinen Wohltäter und Herrn
vor dem Fanatismus der übrigen Geistlichen zu schützen.
Es hat sich kürzlich das Gerücht in Petersburg verbreitet, daß
Sir Philip Currie sich auch nicht sicher fühlt und ein Attentat gegen
ihn befürchtet wird. Bei dem leidenschaftlichen Auftreten Sir Philip
Curries imd bei seinen unvorsichtigen Äußerungen, deren ich mich
von Konstanitnopel her sehr wohl erinnere, sollte es mich nicht wun-
dern, wenn die Leidenschaft der Muselmänner sich auch gegen ihn
wendet. Wie er mir wenige Tage nach seiner Ankunft in Konstanti-
nopel — wo er mich noch kaum kannte — in brutalster Weise sagte,
er begriffe nicht, daß nicht einige der handfesten Generäle der kaiser-
lichen Umgebung diesem „schwächlichen elenden Manne** einen Dolch
* Sir F. Lascelles.
6* 83
in den Leib jagen 2, so wird er wohl mit gleicher Unvorsichtigkeit
auch anderweitig ähnliche Äußerungen gebraucht haben, welche die
einen vielleicht gegen ihn selbst ausnutzen könnten, und welche bei den
andern den Gedanken zur Reife zu bringen vermögen, den er ihnen gibt.
Während des tragischen Endes von Abdul Asis* war ich in
Konstantinopel, und ich kann nicht leugnen, daß eine große Ähn-
lichkeit in den Verhältnissen von damals und jetzt zu sein scheint 3.
Der damalige englische Botschafter Sir Henry Elliot galt allgemein
als der Urheber der jungtürkischen Bewegung und der Förderer der
Umsturzpartei. Ihm wurde indirekt die Katastrophe zugeschrieben.
Sein Verhalten glich dem des jetzigen englischen Botschafters in mehr
als einer Hinsicht. Weder der Sturz von Abdul Asis noch die er-
zielten Reformen der parlamentarisch liberalen Regierung, die Eng-
land in der Türkei eingeführt hatte, haben sich damals als segensreich
erwiesen, ebenso scheint mir nach meiner Erfahrung das Spiel von
Sir Philip Currie, die muselmanischen Leidenschaften zu wecken, ein
nicht minder zweck- und gewissenloses. Jedenfalls ist es schwer zu be-
greifen, wie er deduzieren will, daß sein einziges Bestreben auf die
Wohlfahrt der Türkei gerichtet ist. Die in England hervorgerufene
unzweifelhafte Schwächung der Türkei kommt zum Schluß hauptsäch-
lich Rußland zugut, das aber durchaus den Wunsch nicht hat, diese
Frucht zu ernten, bevor sie ihm reif in den Schoß fällt. Wenn infolge
der heraufbeschworenen revolutionären Geister der Sultan Abdul Hamid
fällt, so verliert die Türkei in ihm einen der klügsten und wohlmeinend-
sten, aber auch unglücklichsten Souveräne, den das Reich gehabt. Wenn
er nicht mehr sein wird, wird die Einsicht kommen, was man trotz
aller seiner Fehler an ihm verloren.
Ich finde diese Ansicht bei Leuten, die Konstantinopel genau
kennen, allgemein vertreten, und auch Fürst Lobanow spricht sich in
ähnlicher Weise aus 3. Radolin
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
' Ja
2 !
» richtig
Nr. 2444
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 162 Therapia, den 26. Oktober 1SQ5
Es ist mehrfach hier der Verdacht ausgesprochen worden, daß
die Behörden bei den jüngsten Reibungen zwischen Armeniern und
* Sultan Abdul Asis war kurz nach seiner gewaltsamen Entthronung am 4. Juni
1S76 ermordet worden.
84
Moslems ihre Hand in einer Weise im Spiel gehabt haben, daß letztere
zu den bedauerlichen Gewaltakten geradezu ermutigt worden sind.
Daß dies seitens der oberen leitenden Kreise nicht stattgefunden,
dürfte fast keinem Zweifel unterliegen ; dagegen möchte ich fast glauben,
daß dieser Vorwurf hie und da auf untergeordnete Organe in den
Provinzen bezogen werden kann.
Der anliegend in Abschrift gehorsamst beigefügte Bericht des
kaiserlich und königlich österreichisch-ungarischen Generalkonsuls in
Trapezunt über die am 8. d. Mts. daselbst vorgefallenen Metzeleien
scheint das oben Gesagte zu bestätigen.
Saurma
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Das übersteigt doch alles Dagewesene, das ist ja eine wahre Bartholomäus-
nacht!
Da muß der Pforte doch in andrem Tone gesprochen werden! Denn es
sind doch Christen! und schließlich geht es auch gegen die andren weißen
Christen.
Anlage*
Der Österreich-ungarische Generalkonsul in Trapezunt Zagorski an den
Österreich-ungarischen Botschafter in Konsfantinopel Freiherrn
von Calice
Abschrift. Auszug
[Trapezunt, den 10. Oktober 1895]
Unter dem erschütternden Eindrucke der blutigen Ereignisse, deren
Schauplatz unsere Stadt am 8. d. Mts. gewesen ist, erlaube ich mir,
im Nachtrage zu meiner desfallsigen telegraphischen Meldung nur jene
Tatsachen zur Kenntnis Euerer Exzellenz ergebenst zu bringen, die
mir aus eigener Anschauung bekannt sind oder von ganz verläßlichen
Augenzeugen verbürgt wurden.
Hiernach brach der Tumult, eigentlich der Überfall auf die armeni-
schen Kaufleute präzis um 11 Uhr vormittag = 51/2 Uhr ä la turque
an mehreren Punkten der Stadt gleichzeitig aus, so daß in dem Momente,
als der Generalgouverneur Kadri Bey (in ganz ungewohnter Weise und
Zeit) am Platze (Meydan) erschien, auch schon von drei verschiedenen
Seiten Nisams**, Saptiehs*** und der bewaffnete Pöbel die von dessen
* Diese Anlage ist aufgenommen worden im Hinblick auf die in der Rand-
bemerkung zum Bericht Nr. 162 zum Ausdruck gelangte Entrüstung des Kaisers.
Ähnliche Äußerungen des Kaisers siehe noch in Nr. 242Q, 2447, 2457. Auf die Auf-
nahme der weiteren in den Akten befindlichen zahlreichen Massakersberichte ist
verzichtet worden, da hier nur die eigentlich politischen Vorgänge interessieren.
** Reguläres Militär.
*** Gendarmen.
85
Anführern bezeichneten Armenier niederzuschießen, deren Waren-
magazine zu erbrechen und zu plündern begannen. Aus allen türkischen
Gasthöfen, Kaffeehäusern und Läden traten plötzlich bewaffnete Musel-
manen auf die Straße und töteten die Armenier, denen sie begegneten,
während am Meeresufer die türkischen Barkenführer ihre armenischen
Genossen überfielen und schonungslos mit Schußwaffen und Messern
niederstreckten. Dieser Kampf fand sogar in den Barken am Wasser
statt! Eine Abteilung Nisams und 200 Saptiehs beteiligten sich an
der Aktion und schössen teils auf die Passanten, teils in die Fenster
der von Armeniern bewohnten Häuser.
Dieses Gemetzel vollzog sich durchwegs ohne irgendeinen un-
mittelbaren Anlaß seitens der Armenier, sondern vorbereitet und
programmäßig, so daß die nachbarlichen Magazine der Griechen,
Katholiken und Türken ebenso unbehelligt blieben, wie deren an-
wesende Eigentümer; dagegen wurden alle Armenier, denen es nicht
gelang, aus den abgeschlossenen Gassen zu entkommen oder sich zu
verbergen, rücksichtslos erschossen oder niedergestochen; Frauen und
Kinder wurden verschont. Nach Verlauf von zwei Stunden wurde auf
ein gegebenes Signal das Feuer eingestellt; und während ein Teil des
Pöbels mit der Plünderung der Magazine beschäftigt war, zerstreute
sich die Menge ebenso schnell als sie vorher die Gassen angefüllt hatte.
Bereits um 4 Uhr nachmittag verkündete der öffentliche Ausrufer
In den Straßen im Namen des Wali, daß jede Gefahr beseitigt ist und
jedermann getrost seinen Geschäften nachgehen könne!!?
Der christlichen Bevölkerung bemächtigte sich aber eine derartige
Angst und Panik, daß sie sich aus ihren Wohnungen flüchtete und
Schutz in den Konsulaten, Kirchen und sonstigen vom Schauplatze ent-
fernten Gebäuden suchte.
Nachdem das mot d'ordre „Vernichtung der armenischen Kauf-
leute" gelautet hatte, so enthielt sich der Pöbel von sonstigen Exzessen
und drang nicht in die Privatwohnungen ein.
Die Zahl der Opfer läßt sich vor der Hand nicht feststellen,
nachdem sehr viele Leichen ins Meer versenkt wurden; jedoch es wird
mit einiger Wahrscheinlichkeit die Zahl der meistens von den Nisams
erschossenen Armenier auf zirka 500 bis 600 angegeben.
Obwohl seitens derselben fast gar kein Widerstand geleistet worden
sein soll, behauptet man, daß auch einige Muselmanen hierbei ihr Leben
eingebüßt haben oder verwundet wurden, was vermutlich infolge der
in den engen Gassen stattgefundenen Füsilladen eingetreten sein
mochte.
In der zwei Kilometer von hier entfernten Ortschaft Dermendere
wurden zur selben Stunde alle armenischen Kaufleute (14 an der Zahl)
von ihren eigenen Hamals getötet und beraubt.
Der durch diesen Gewaltstreich verursachte materielle Schaden
86
dürfte sich mindestens auf 2 Millionen Gulden bewerten lassen, wovon
mit Vs ^"^h ausländisclie Handelsfirmen getroffen sein dürften.
Abgesehen von den Ermordungen durch Schußwaffen, Axt- und
Handscharhiebe wurden hierbei keine Grausamkeiten verübt; es wäre
denn, daß ein Friseurgehilfe entzweigeschnitten und ein junger Kauf-
mann vom Kopfe bis tief in den Brustkorb gespalten vorgefunden
wurden.
Daß diese summarische Exekution der Armenier vom General-
gouverneur Kadri Bey vorbereitet und angeordnet wurde, unterliegt
keinem Zweifel, worüber Euerer Exzellenz umständlich zu berichten
ich mir ergebenst vorbehalte.
(gez.) Zagorski
87
B. Das Fiasko des Armenischen Dreibundes
Nr. 2445
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 9Q Therapia, den 29. Oktober 1895
Herr von Nelidow betonte mir in letzter Zeit wiederholt, daß nun-
mehr die enge Verbindung der drei Mächte in der armenischen An-
gelegenheit beendigt sei. Seine Genugtuung darüber war unverkenn-
bar. Ich mache die Wahrnehmung, daß Rußland die gegenwärtige
hochgradige Unpopularität Englands in der Türkei geschickt benutzt,
um die Pforte dahin zu führen, Anlehnung an Rußland zu suchen i.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Sehr erfreulich
Nr. 2446
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 408 St. Petersburg, den 29. Oktober 1895
Bei meinem gestrigen Besuch im Auswärtigen Ministerium er-
wähnte Fürst Lobanow wiederum die Vorgänge in Konstantinopel
und gab seinem Bedauern erneuten Ausdruck, daß die Mächte sich
hatten bewegen lassen, wegen der armenischen Klagen die allerdings
notwendigen Reformen in der Türkei selbst viel zu viel in die Hand
zu nehmen und zu beeinflussen. Diese Reformen hätte der Sultan
allein in der ihm geeignet scheinenden Weise ausführen sollen. *Es
sei immer eine undankbare Sache, sich in fremde Angelegenheiten als
Ratgeber einzumischen i und dadurch eine gewisse Verantwortung zu
übernehmen. Der Fürst wiederholte, was er mir schon unlängst ge-
sagt, daß er die Befürchtung habe, diese erzwungenen Reformen oder
vielmehr das fremde Eingreifen in die Souveränitätsrechte des Sultans
sei für die türkische Herrschaft nahezu ein Todesstoß und bedeute
91
den Anfang ihres Endes. England habe, wie ihm scheine, mehr Schaden
angerichtet, als es in seinem eigenen Interesse liegen könne, indem
es die Türkei über Gebühr geschwächt habe. Fast komisch klinge es,
wenn die Engländer jetzt gar behaupten, nur aus Interesse für die
Türkei Dinge zu tun, die ihr die Lebensadern unterbinden. So sei ihm,
dem Fürst Lobanow, unangenehm aufgefallen, daß Lord Dufferin, als
er ihn kürzlich in Paris gesehen, wo er, nebenbei gesagt, merkwürdig
wenig Erfolg habe und reüssiere, die Meinung aussprach, England
müßte die Dardanellen besitzen und sich dort festsetzen.
Auch begriffe er, Fürst Lobanow, nicht, was Lord Salisbury für
ein Motiv haben könne, den Sultan in einer so rücksichtslosen Weise
anzugreifen, wie er es unlängst getan*. Das heiße doch etwas zu weit
den Anschauungen der Oladstonianer und Unionisten, soweit sie seine
Wähler sind, Rechnung tragen. Lord Salisbury scheine ganz zu ver-
gessen, daß er einst Turkophile gewesen.
In den Kreisen des Auswärtigen Ministeriums finde ich die An-
sicht vertreten, daß England nicht recht zu wissen scheine, was es
wolle; es schütte förmlich das Kind mit dem Bade aus, wenn es für
die Armenier die Türken opfere, welche letzteren traditionell von Eng-
land geschützt zu werden pflegten.
Wenn Rußland und Frankreich sich mit England in der armeni-
schen Frage vereinigt hätten, so sei es nur deshalb geschehen, weil
beide fürchteten, daß, wenn England allein vorginge, es in seinem
Ungestüm folgenschwere Schritte gegen die Pforte unternehmen könnte,
wie z. B. ein Ultimatum mit nachfolgender Flottendemonstration und
Waffengewalt (welches letztere die Russen nicht billigen würden).
Beide Mächte hätten sich daher den Engländern angeschlossen, um
diesen einen Dämpfer aufzusetzen und ein Recht zu haben, mäßigend
in die Entschließungen einzugreifen. Die englische Politik in der Türkei
könne in Rußland niemals gebilligt werden.
Diese Auffassung findet ihre Bestätigung darin, daß — wie ich
seinerzeit zu berichten die Ehre hatte — die russische Regierung vom
Frühjahr d. Js. an unter der Hand dem Sultan alle möglichen be-
ruhigenden Winke hat geben lassen, die armenischen Reformen nicht
zu ernst zu nehmen (und dann schon lieber die Reformen — wenn
solche eingeführt werden sollten — aufs ganze Reich auszudehnen),
während sie äußerlich und offiziell mit den Engländern Hand in Hand
gii;g2.
Eine in den orientalischen Dingen gut bewanderte Persönlichkeit
des Auswärtigen Ministeriums, der frühere erste Dragoman der russi-
schen Botschaft in Konstantinopel, Herr Iwanow, den ich von dort
aus gut kenne, sagte mir, er begreife nicht, was die Absichten der
* Anspielung auf Lord Salisburys Oberhausrede vom 15. August. Vgl. Nr. 2391,
Fußnote *.
92
Engländer wären, und was sie für einen Vorteil haben könnten, den
Untergang des Türkischen Reiches förmlich heraufzubeschwören. Ihm
wolle scheinen, als ob England durch diese Politik die Aufmerksamkeit
Rußlands und Frankreichs von Ägypten ablenken wolle 3, um sich dessen
Besitz und vielleicht noch einen neuen Landerwerb in der allgemeinen
Verwirrung zu sichern*. Sonst könne niemand begreifen, welche Hinter-
gedanken es haben könne. Auch fürchtet Herr Iwanow, daß es ein
Fehlgriff des Sultans war, den sonst sehr klugen und einsichtigen, aber
als Anglophilen bekannten ^ Kiamil Pascha in einem Moment zum Groß-
wesir* zu wählen, wo es dem Sultan darauf ankommen mußte, den
englischen Wünschen und Forderungen energisch Widerstand zu leisten.
(Ich kann die Ansicht des Herrn Iwanow darin nicht teilen, denn
Kiamil Pascha ist mir als einer der besten Großwesire der letzten Zeit
bekannt, der dem Dreibund freundlich war^ und niemals in dem Rufe
stand, absolut im englischen Fahrwasser zu sein.)
Fürst Lobanow sagt mir, daß Rußland für die Erhaltung der
Türkei, schon des Weltfriedens wegen, nach Kräften eintreten müsse.
Der türkische Botschafter**, der mich öfter besucht, wiederholt
mir jedesmal, wie außerordentlich wohlmeinend die russische Regiemng
sich dem Sultan gegenüber verhält, und wie sehr ihr die Interessen
des Sultans am Herzen zu liegen scheinen.
In allen Kreisen St. Petersburgs tritt eine überaus starke Ver-
stimmung gegen England offen zutage. Alles, was England tut, erfüllt
die Russen mit Mißtrauen und jede gemeinsame Aktion mit England
sieht das hiesige Publikum von vornherein als zum Nachteile Rußlands
geschlossen an. Zur Erläuterung beehre ich mich einen Artikel aus
dem „Grashdanin" vom 19. d. Mts. in der Anlage gehorsamst bei-
zufügen.
Es wird hier unumwunden behauptet, Rußland sei durch England
in der Türkei hintergangen und ebenso im Pamir-Vertrag.
Mit dem größten Argwohn beobachtet man hier die Haltung Eng-
lands in Ostasien und möchte gern ein Eisenbahnabkommen mit China
ausführen, bevor die Engländer in irgendeiner Weise versuchen
könnten, dazwischenzutreten und den Plan möglicherweise zu ver-
eiteln. Bemerkenswert ist, daß neben der Animosität gegen England
ein gewisses Gefühl der Angst vor demselben unverkennbar ist. Mit
großer Spannung und Besorgnis wird auch jedes Anzeichen verfolgt
und beobachtet, welches an eine Annäherung Englands an Deutsch-
land oder umgekehrt ausgelegt werden könnte. Wie ich höre, bemüht
sich die Königin von England durch Privatkorrespondenz mit dem
Kaiser und wohl auch der Kaiserin eine Annäherung beider Regierungen
* Am 4. Oktober war Said Pascha vom Sultan entlassen und an seiner Stelle
Kiamil Pascha wieder zum Qroßwesir ernannt worden.
** Hüssni-Pascha.
93
zustande zu bringen. Die Gereiztheit gegen England ist aber in allen
Kreisen so groß, daß es selbst dem Kaiser nicht gelingen würde, die
Stimmung durchgreifend zu ändern 6.
Radolin
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Stimmt
2 auch nicht hübsch!
» ?
* möglich
^ richtig
6 gut
Nr. 2447
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 103 Therapia, den 1. November 1895
Die von mir in Telegramm Nr. 100 gemeldeten Nachricliten von
Metzeleien in Erzerum haben sich heute bestätigt.
Die Provokation soll wiederum von Armeniern ausgegangen sein.
Dieses Massaker ist um so bedeutungsvoller, als es unter den Augen
des mit der Wiederherstellung der Ruhe betrauten Generalkommissars
Schakir Pascha i stattgefunden hat
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 So was ist ja ganz unerhört
Nr. 2448
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 168 Therapia, den 1. November 1895
Ganz vertraulich
Durch den nunmehr definitiv erfolgten Abschluß des armenischen
Übereinkommens* zwischen der Pforte einerseits und Frankreich, Ruß-
land und England andererseits, ist die unnatürliche Verbindung zwi-
schen letzteren beiden Mächten wieder gelöst — eine Verbindung,
welche von Rußland doch wohl lediglich aus dem Grunde eingegangen
worden war, um England nicht allein bei der Arbeit zu lassen, aus
welcher unter Umständen eine für das Zarenreich unbequeme autonome
armenische Nachbarprovinz hätte hervorgehen können.
* Vgl. Nr. 2434 und Nr. 3438.
94
Von jetzt an dürfte die traditionelle Politik der beiden Mächte
wieder aufgenommen werden. Von Rußland, gerichtet auf Schwächung
und Zersetzung der Türkei, um einst, wenn der Augenblick günstig,
mit größtmöglichster Aussicht auf Erfolg die Türkei zu überfallen.
Von England, dahin zielend, die Türkei möglichst zu stärken, um sie
in die Lage zu setzen, sich gegen diesen russischen Überfall möglichst
gut zu wehren. Die Symptome dafür sind bereits wahrnehmbar.
England arbeitet mit aller Macht, um durch den ihm günstig ge-
sinnten Großwesir Kiamil Pascha beim Sultan den bösen Eindruck
zu verwischen, welchen sein schroffes Auftreten in den armenischen
Verwickelungen hier hervorgebracht hat. Daher wohl auch die plötz-
liche Mäßigung Lord Salisburys gegenüber den fortgesetzten Massen-
morden der Armenier, welche den ursprünglichen Massakers von
Sassun an Grausamkeit und Wildheit keineswegs nachstehen.
Rußland seinerseits gibt sich die größte Mühe, dem Sultan be-
greiflich zu machen, daß es nur dieser Macht zu danken gewesen, wenn
England verhindert wurde, die Dardanellen zu forcieren oder sonst
welche direkten Gewaltmaßregeln gegen die Türkei zu ergreifen. Auf
diese Weise hofft Rußland, das Mißtrauen des Sultans gegen sich
einzuschläfern und gegen England zu wecken.
Jedenfalls kommt es Rußland jetzt hauptsächlich darauf an, Zeit
zu gewinnen. Der jetzige Augenblick paßt ihm — vielleicht Ostasiens
wegen — für ein schärferes Auftreten in der Orientpolitik noch nicht.
Dies zeigt die Eile, das armenische Übereinkommen ungeachtet der
lückenhaften Zugeständnisse der Türkei nur schnell Zustandekommen
zu sehen.
Aus demselben Grunde wird auch die russische Regierung, wie
sich bald zeigen dürfte, an der Durchführung der armenischen Re-
formen sich zunächst ziemlich lau beteiligen, wie sie auch jetzt die
kleinasiatischen Metzeleien auffallend gleichmütig hinnimmt.
S a u r m a
Nr. 2449
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 665 London, den 2. November 1895
Ich hatte gestern Gelegenheit, als ich auf Lord Salisbury wartete,
im Wartezimmer desselben einige Worte mit dem mir seit einer Reihe
von Jahren wohlbekannten Sir Philip Currie zu wechseln, welcher vor-
gestern aus Konstantinopel hier eingetroffen ist. Derselbe bemühte
sich, mich davon zu überzeugen, daß er, weit entfernt davon, die Stel-
lung des Sultans erschüttern zu wollen, sein möglichstes getan habe,
95
um ihn zu schonen, soweit die Umstände dies irgendwie zuließen. Bei
der Erregtheit der öffentlichen Meinung in England sei es für Lord
Rosebery, wie auch für seinen konservativen Nachfolger ganz unmög-
lich gewesen, die armenische Frage fallen zu lassen, und sein, Sir
Philip Curries, ganzes Bestreben habe sich darauf richten müssen, den
Sultan von der Notwendigkeit zu überzeugen, gewisse Reformen schnell
und aus eigener Initiative zu bewilligen i. Hier würde man sich in diesem
Fall mit sehr wenig begnügt haben, und es sei tief zu beklagen, daß
der Sultan in seiner Verblendung so lange damit gezögert habe.
Als ich mir die Bemerkung erlaubte, daß man ein baufälliges Haus,
wie man hier die Türkei betrachte, nicht dadurch stütze, daß man
die Wände erschüttere, erwiderte mir der Botschafter, daß er dies
sehr wohl wisse, und daß er nicht ohne Sorgen in bezug auf die weitere
Entwickelung der Dinge in der Türkei sei. Vorläufig müsse man aber,
da die Sache sich einmal nicht umgehen ließ, im englischen Interesse
damit zufrieden sein, daß dieselbe durch die Konzessionen des Sultans
zu einem Abschluß gekommen sei, und zwar um so mehr, als England
auf die weitere Mitwirkung der beiden anderen Mächte nicht habe
rechnen können, ja nicht einmal sicher gewesen sei, daß es, falls
weitere Maßregeln sich als notwendig herausgestellt hätten, nicht bei
ihnen auf Widerspruch gestoßen wäre.
Aus der Sprache des Botschafters, welcher das englische Vorgehen
und das seinige in Konstantinopel lediglich zu entschuldigen suchte,
bin ich versucht, den Schluß zu ziehen, daß er durch Lord Salisbury,
mit welchem er bereits eine längere Unterredung gehabt hatte, dar-
über aufgeklärt worden ist, daß das Interesse desselben an den
Armeniern erschöpft ist, und daß er keine weitere Erschütterung des
türkischen Reichs wünscht.
P. Hatzfeldt
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 ! In der Türkei ohne Post und Eisenbahn!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Also wozu der Lärm?
Was steht zu Dienst ihr Herren?
Nr. 2450
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 107 Therapia, den 5. November 1895
In Diarbekir haben sich die berichteten Unruhen zu einer all-
gemeinen Metzelei aller Christen ohne Unterschied gestaltet.
Gleichzeitig werden von zahlreichen anderen Punkten Kleinasiens
96
neue Massakers gemeldet, gegen welche die Behörden entweder nicht
einschreiten können oder wollen.
Die Zustände daselbst sind in Anarchie ausgeartet.
Angesichts dieser Lage sind die Botschafter übereingekommen,
heute in Person gleichmäßig mündliche Vorstellung bei der Pforte
folgenden Inhalts* zu machen:
„Die Vertreter der Großmächte sind beunruhigt über die Lage
in den Provinzen, woselbst eine völlige Anarchie herrscht, welche
nichts mehr mit der armenischen Sache gemein hat und die Christen
jeder Nationalität gleichmäßig bedroht.
In Diarbekir haben sidi die Metzeleien und Plünderungen unter-
schiedslos auch auf nichtarmenische Christen erstreckt, ohne daß von
diesen ein Anlaß dazu gegeben worden.
In Mossul, in Bagdad und in Syrien, wo die Armenier fehlen,
nimmt die Gärung in bedrohlichem Maße zu. Die Pforte muß durch
die Ereignisse, welche sich im Jahre 1860 in Syrien zutrugen, belehrt
worden sein, daß eine derartige Anarchie nicht ungestraft andauern
kann.
Die Vertreter der Großmächte sind genötigt, ihren Regierungen
darüber zu berichten, welche bezüglich der zu ergreifenden Maßnahmen
sich untereinander verständigen dürften, wenn nicht von der Pforte
sofort die zur Beseitigung der beregten Mißstände erforderlichen Maß-
regeln ergriffen würden.
Sie ersuchen den Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, ihnen
mitzuteilen, welche Mittel die Pforte anzuwenden gedenke, um der
gegenwärtigen übermächtigen Unordnung ein Ziel zu setzen. '^
Saurma
Nr. 2451
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 114 Therapia, den 8. November 1895
Bei der gegen den Sultan gegenwärtig bestehenden hochgradigen
Erregung der hiesigen Bevölkerung muß man jeden Augenblick auf
den Ausbruch einer zur Beseitigung Abdul Hamids abzielenden Re-
volution gefaßt sein. Durch unglückliche Vorkommnisse bei etwaigen
Straßenunruhen könnte dabei allerdings auch mit Rücksicht auf den
den Moslems augenblicklich innewohnenden religiösen Fanatismus eine
direkte Gefahr für die hiesigen Christen im allgemeinen sich ergeben.
Saurma
* Den französischen Text der identischen Note siehe Staatsarchiv Bd. 58, Nr. 11 009.
7 Die Große Politik. 10. Bd Q7
Nr. 2452
Kaiser Wilhelm II., z. Z. in Piesdorf, an Kaiser Nikolaus II,
von Rußland
Telegramm en dair. Abschrift
Piesdorf, den 8, November 1895
Just received news by cypher from Stamboul that new Ministry*
is so little approved of by Mahometan popuIation that cxcitement is
on the increase. Troops with exception of Yildiz Guards not to be
relied upon any more. It ends with the words „Catastrophe is ap-
proaching".
I should be glad to know your intention about further development
of affairs before an accident happens.
Best love to dear Alix.
(signed) Willy
Nr. 2453
Kaiser Nikolaus II. von Rußland an Kaiser Wilhelm II.
Telegramm. Ausfertigung
Zarskoe Selo Palais, den 9. November 1S95
Thanks for news. I think that ,, Katastrophe" means dethronement
of Sultan which powers should not mix into as that is thcir own
internal question. But if the lives of Christians are threatened then
all the ambassadors at Stamboul ought to take measures^ to prevent
further bloodshed. I have sent such instructions to my lepresentative,
my opinion is that now England should be moderate and careful in
her Claims. Best love from Alix. Nicky
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 They have allready without avail.
Nr. 2454
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 1315 Berlin, den 10. November 1895
Zu Ew. pp. gefälligen Information.
Der Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel hatte unter dem
S.d. Mts. telegraphisch darauf hingewiesen**, daß bei der gegenwärtigen
* Das erst am 4. Oktober benifene Ministerium Kiamil Pascha war schon am
6. November durch ein Kabinett Rifaat Pascha ersetzt worden mit Tewfik Pascha,
dem bisherigen Botschafter in Berlin, als A\inister des Äußeren.
** Siehe Nr. 2451.
9S
gespannten Lage in der Türkei jeden Augenblick Ereignisse dort ein-
treten könnten, welche sofortige Entschließungen der dortigen fremden
Vertreter in betreff gemeinsamer zum Schutz der fremden Untertanen
zu vereinbarender Maßregeln erheischten.
Demgemäß habe ich den Freiherrn von Saurma ermächtigt, sich
eventuell auch ohne vorherige Anfrage beim Auswärtigen Amt an allen
denjenigen gemeinsamen Schritten zu beteiligen, welche sämtliche Bot-
schafter als durch die Lage der Verhältnisse geboten erachteten.
Marschall
Nr. 2455»
Aufzeichnung des Reichskanzlers Fürsten von Hohenlohe**
Unsignierte Reinschrift
Berlin, den 12. November 1895
Seine Majestät hat in seinem Telegramm vom 8. d. Mts.*** den
Zaren gefragt: „Ich möchte gern Deine Absichten kennen über die
weitere Entwickelung der türkischen Angelegenheiten, bevor ein Un-
glück geschieht."
Nach 22 Stunden erfolgte die russische Antwort f, wo es heißt:
„Wenn das Leben von Christen bedroht ist, dann sollten alle Bot-
schafter in Konstantinopel Maßregeln ergreifen, um weiteres Blut-
vergießen zu verhindern. Ich habe meinem Vertreter entsprechende
Instruktionen zugehen lassen. Meine Ansicht ist, daß England jetzt
maßvoll und vorsichtig in seinen Ansprüchen sein sollte."
Der Wortlaut der beiden Telegramme zeigt, daß der Zar den
von unserm allergnädigsten Herrn gewünschten Meinungsaustausch
ä deux ablehnt und statt dessen für die weitere Behandlung der Sache
auf die Vertreter sämtlicher Großmächte verweist. Schließlich wird
durch Vermittelung unseres allergnädigsten Herrn noch ein Rat an
England erteilt. Diese Art der Erwiderung läßt weder Freundschaft
noch Zutrauen erkennen. Gleichwohl mögen diese Empfindungen beim
Zaren vorhanden sein, und im Telegramm nur die Gefühle des Fürsten
Lobanow Ausdruck gefunden haben pp.ft-
Diese verschiedenen Symptome, Äußerungen Seiner Majestät des
Zaren und seiner vornehmsten Umgebung, werden hier erwähnt, weil
* Des Zusammenhangs wegen hier, vor Nr. 2456 f., eingereiht.
** Vgl. den Erlaß des Staatssekretärs Freiherrn von Marschall an den Botschafter
Bernhard von Bülovv vom 15. November (Bd. IX, Kap. LVIII, Nr. 2328), in den
wesentliche Teile der Hohenloheschen Aufzeichnung fast wörtlich übernommen
sind.
*** Siehe Nr. 2452.
t Siehe Nr. 2453.
tt Das ausgelassene Stück der Aufzeichnung betrifft eine höfische Rangfrage.
7. 99
sie erkennen lassen, daß unsere Beziehungen zu Rußland dermalen
keine gesicherten sind, und wir daher nicht recht tun würden, solange
Rußland in dieser für uns unsicheren Stellung verharrt, irgendwelche
andere freundschaftliche Beziehungen um Rußlands willen aufs Spiel
zu setzen.
Ebenso wie in Deutschland gibt es auch in Österreich starke
politische Gruppen, welche ein Zusammengehen mit Rußland wün-
schen. Der Unterschied zwischen den deutschen und den österreichi-
schen Anhängern eines russischen Bündnisses ist aber ein sehr wesent-
licher. Für die Deutschen bildet die russisch-französische Verbindung
ein Hindernis, wenigstens für das Zusammengehen in europäischen
und Mittelmeerfragen. Für die Österreicher im Gegenteil macht die
schon vorhandene Verbindung zwischen Rußland und Frankreich den
Anschluß an diese Gruppe noch wünschenswerter als den Anschluß
an Rußland allein. Alle diejenigen Österreicher, welche die nach dem
Jahre 1866 nötig gewordene Verlegung des österreichischen Schwer-
punkts mehr nach Osten als ein Unglück ansehen, hoffen von dem
Anschluß an die franko-russische Gruppe eine Revision des Nikols-
burger Friedens, Rückverlegung des österreichischen Schwerpunkts
nach Deutschland hinein und Wiedererlangung der österreichischen
Oberherrschaft über Süddeutschland bis zum Main und bis zum Rhein,
in Anlehnung an das Programm Josephs II., welches zum Bayerischen
Erbfolgekrieg führte. Dafür würde man den Franzosen gern Kon-
zessionen auf dem linken Rheinufer und den Russen solche auf der
Balkonhalbinsel machen.
Bisher haben die Anhänger dieses Programms keinen irgendwie
maßgebenden Einfluß auf die österreichische Politik seit 1879 gehabt,
weil die allgemeine Stimmung in Österreich dahin ging, daß man sich
im Dreibund sicher fühlte, und das Sichere, was man besaß, nicht für
unsichere Gewinne riskieren wollte. Angenommen aber, es verbreitete
sich in Österreich die Meinung, daß der Dreibund außerstande oder
nicht willens sei, im kritischen Moment für die Großmachtstellung
Österreichs einzutreten, so würde ein mächtiges Anwachsen der An-
hänger der russisch-französischen Allianz die sofortige Folge jener
Schwankung der Gemüter sein. Es kann in der Tat kaum drei Inter-
essentengruppen in der Welt geben, bei denen die Vorbedingungen
einer leichten Verständigung in so hohem Grade vorhanden sind,
wie bei den Russen, Franzosen und den nichtmag}'arischen und nicht-
polnischen Österreichern, welche ersteren alle drei sich durch die Ent-
stehung des Deutschen Reiches verkleinert und eingeengt fühlen. Diese
Gruppierung wird unvermeidlich in dem Augenblick, wo der Dreibund-
vertrag für Österreich bedeutungslos wird, d. h. in dem Augenblick,
wo die Österreicher die Gewißheit erhalten, daß wir sie bei den Ge-
fahren, welche eine Balkankrisis für Österreich nach sich ziehen kann,
selbst dann ohne Unterstützung lassen würden, wenn es sich um den
100
Fortbestand der Monarchie handeln sollte. In der Tat war auch die
Unterstützung bei Gefahren, welche dem Bestände der Monarchie
als Rückschläge einer Balkankrisis drohen könnten, der haupt-
sächlichste, wenn nicht der einzige Beweggrund, welcher Österreich
zum Abschluß des Dreibundes veranlaßt haben kann. Denn von keiner
anderen Seite ist das heutige Österreich bedroht. Von Deutschland
befürchtet man keine Gelüste auf tschechische Länder, zwischen Frank-
reich und Österreich bestehen keine Differenzpunktc, seit das Deutsche
Reich und das Königreich Italien entstanden sind, und Rußland hat
genug polnische Untertanen, um Galizien neidlos in österreichischem
Besitze zu lassen. Wenn man also in Österreich die Gewißheit er-
langt, daß der Dreibund keinerlei Sicherheit gegen Balkangefahren
gewährt, so hört der Dreibund damit auf, für Österreich eine raison
d'etre zu haben.
Wir dürfen also die Anhänger des Dreibundes in Österreich, d. h.
denjenigen Teil der österreichischen Volksstämme, welcher nicht Ge-
sinnungen grundsätzlicher Feindschaft gegen Deutschland hegt, nicht
hoffnungslos machen. Ebensowenig aber dürfen wir uns jetzt schon
für irgendeine mit der Balkanfrage zusammenhängende bestimmte Ak-
tionspolitik festlegen. Alle hierauf abzielenden Besprechun-
gen zwischen Berlin und Wien würden heute noch ver-
früht sein.
Nr. 2456
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 118 Pera, den 10. November 18Q5
Die Gespanntheit der Lage dauert fort.
Aus der Umgebung des Sultans werden Ausbrüche wilden Zorns
desselben gemeldet. Man hält ihn für unzurechnungsfähig und zittert
vor seinen Blutbefehlen. Niemand hält sein Leben einen Tag für sicher.
Übereinstimmend wird von den verschiedensten Seiten versichert,
daß die armenischen Gemetzel zum größten Teil auf geheime Befehle
von Jildis-Kiosk zurückzuführen sind. Trotzdem der Unwillen der
Bevölkerung gegen Abdul Hamid immer offener und unverhohlener
zutage tritt, so kommt es vorläufig nicht zum Ausbruch der Re-
volution, da die Männer fehlen, welche sich an die Spitze derselben zu
stellen bereit wären.
Saurma
101
Nr. 2457
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 17Q Pera, den 11. November 1895
Die traurigen Niedermetzelungen der Armenier in Kleinasien
können noch keineswegs als beendet angesehen werden.
Namentlich an denjenigen Punkten, wo Kurden ihre Blutarbeit
taten, darf die Einstellung der Massakers nur als provisorisch angesehen
werden, und es steht zu erwarten, daß, wenn dieselben ihren Raub
erst werden gehörig in Sicherheit gebracht haben, sie von neuem über
ihre wehrlosen Opfer herfallen werden.
Welches die Haltung der neu ausgehobenen Truppen sein wird,
wenn sie am Orte der Greuel erscheinen werden, bleibt abzuwarten.
In der armenischen Bevölkerung besteht jedenfalls in betreff der
Truppen kaum eine geringere Angst als in betreff der Kurden selbst.
Zum Glück für die Armenier herrscht gerade zwischen Türken und
Kurden ein tiefgehender Nationalhaß, so daß die Möglichkeit vorliegt,
daß letztere von den Truppen des Sultans werden verjagt werden.
Die Nachrichten, welche nach und nach von Augenzeugen von den
Stätten der Massakers hier einlaufen, sind übrigens einfach haar-
sträubend.
Die Umgebung von Erserum ist nur Wüste und rauchender
Schutt. Teilweise brennen die Dörfer noch heute. In Erserum wurden
die Leichen, die nicht schnell genug beerdigt werden konnten, einfach
den Hunden zum Fraß vorgeworfen.
Ich behalte mir vor, von meinen Kollegen eine Übersicht der bisher
stattgefundenen Metzeleien an den verschiedenen mit ihren Konsulaten
besetzten Orten zu erbitten, um sie Euerer Durchlaucht gehorsamst
vorzulegen.
Nur möchte ich bis zum Abschluß der Metzeleien damit warten,
was allerdings den Bericht leider noch einige Zeit hinausschieben dürfte.
Die letzte Metzelei in Diarbekir soll an Umfang alles übertreffen,
was in dieser Richtung bisher dagewesen ist. Nach Aussage des fran-
zösischen Botschafters — Frankreich allein hat daselbst eine kon-
sularische Vertretung — ist die Zahl der Opfer schwer festzustellen,
weil die Getöteten massenweise in die Gluten des brennenden Basars
geworfen worden sind.
Jammervoll soll es anzusehen sein, wie die Armenier völlig wider-
standslos sich gleich Schafen in den Ecken und Winkeln der Straßen
abtun lassen. Saurma
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Und da muß man nun als Christ und Europäer ruhig zusehn und auch dem
Sultan noch gut Worte geben! Pfui! über uns alle!
102 M
Nr. 2458
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 185 Pera, den 13. November 1895
Vertraulich
In betreff der Beantwortung der Frage, ob der Sultan selbst —
nachdem er durch seine Haltung bzw. durch direkte scharfe Befehle,
die aufständischen Armenier niederzuschmettern, die Blutgier der
Mohammedaner gegen die verhaßten Armenier entfesselt hat — im-
stande sein dürfte, dem weiteren Blutbade Einhalt zu tun, bestehen
hier verschiedene Meinungen,
Die einen sagen, es sei zu spät, andere meinen, daß, wenn der
Sultan offen und unzweideutig seinen Willen kundgebe, daß
die Armenier fortan zu schonen seien, dem Befehle Folge geleistet
werden würde. Der Befehl des Kalifen besitze diese Kraft.
Speziell General von der Goltz, der in Fragen dieser Art gut
orientiert ist, glaubt letzteres. Nur müsse das bezügliche Wort in einer
Weise gesprochen werden, daß jeder Hintergedanke dabei ausge-
schlossen erscheint, so daß die ausführenden Organe in der Provinz,
welche den persönlichen Haß des Sultans gegen die Armenier kennen,
nicht etwa glauben, daß ihm im Grunde doch ein Gefallen mit der
Fortsetzung der Gewalttätigkeiten gegen dieselben geschieht.
Ich bin im allgemeinen derselben Ansicht, jedenfalls insoweit es
sich um die bedauerliche Teilnahme der Truppen und der Saptiehs
an den Metzeleien handelt. Diese würden einem bezüglichen direkten
Befehle sich nicht zu widersetzen wagen. Damit wäre aber schon viel
gewonnen. Vereinzelte an den Armeniern begangene Morde und
Räubereien werden selbstverständlich auch in diesem Fall noch einige
Zeit andauern. Die aufgewühlten Wogen des Nationalhasses, des
Fanatismus, der Blut- und Raubgier können sich eben nur nach und
nach beruhigen.
Ich glaube, es besteht bei Abdul Hamid gegenwärtig die be-
stimmte Absicht, das ungeheure Blutbad, für welches ihn die Mächte
doch endlich zur ernsten Verantwortung ziehen könnten, nunmehr zu
beendigen.
Die großen Truppenaushebungen scheinen darauf hinzuweisen.
Neuerdings sind wiederum neue umfangreiche Redifeinziehungen von
ihm angeordnet worden.
Ich fürchte nur, daß auch damit wieder über das Ziel hinaus-
geschossen werden wird.
Eine so große Masse von Truppen unter Waffen will bezahlt und
ernährt sein. Für diesen wichtigen Punkt ist aber keinerlei Vorsorge
103
getroffen. Geld ist nicht vorhanden. An rechtzeitige Beschaffung von
Lebensmitteln, deren Herbeibringung zur Winterszeit bei der Wege-
losigkeit Kleinasiens enorm schwer ist, wird nicht gedacht. Was
Wunder, wenn die ausgehungerten und mißvergnügten Truppen sich
die nötige Nahrung im Wege der Plünderung selbst zu verschaffen
suchen werden i.
Die beabsichtigten Ruhestifter werden also unter diesen Um-
ständen vielleicht gerade die Ruhestörer werden.
Kurz, wohin der Blick sich auch wendet, Hoffnung verheißende
lichte Stellen vermögen in dem trüben Gewölk kaum irgendwo wahr-
genommen zu werden.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Und dann kommt die Reihe an die Europäer bzw. die Mächte
Nr. 2459
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 186 Pera, den 13. November 1S95
Vertraulich
Gestern erschien der Patriarch der katholischen Armenier Peter
Azarian bei mir — das gleiche wird er voraussichtlich bei den übrigen
Botschaftern getan haben — , um mir die verzweifelte Lage zu schil-
dern, in welcher sich die Armenier in diesem Augenblick befänden.
Er versicherte, die Vertreter der fremden Mächte hätten überhaupt
keine annähernde Vorstellung von den Greueln, welche die Türken
gegenwärtig an ihnen verübten.
Die fürchterliche Hetze finde nicht so sehr in den Städten, sondern
vielmehr im Innern des Landes in den Dörfern und Ortschaften statt,
wo sie unbemerkt und in aller Stille ausgeführt werden könnte. Die
Nachricht davon gelange nur durch heimliche Flüchtlinge hierher.
Zuerst würden die Männer niedergemacht, die Frauen und die
Kinder aus den Häusern gejagt, letztere sodann in Brand gesteckt,
nachdem alles Wertvolle daraus geraubt und auf Wagen fortgeschafft
worden sei.
Ein Aufhören der Vernichtung von Menschen, Hab und Gut der
Armenier sei noch nicht abzusehen. Überall breche das Morden, Sengen
und Brennen von neuem wieder aus.
Binnen kurzem müsse das armenische Volk total vernichtet sein,
was anscheinend überhaupt der Wunsch der Türken sei. In die Hände
104
Rußlands wollten sich die Armenier nicht werfen, da sie sicher seien,
dann ihrer Nationalität binnen kurzem beraubt zu sein. Der letzte
Rest der Übriggebliebenen werde jedoch endlich dazu gezwungen
werden.
Der Patriarch, der ein guter Kenner der hiesigen Verhältnisse ist,
versicherte mit Bestimmtheit, daß, wenn sich die Mächte zu einer wirk-
lich ernsten und dem Sultan sichtbaren Drohung vereinigen könnten,
die Greuel an demselben Tage ihr Ende erreicht haben würden i,
denn einem verständlichen und energischen Haltruf des Sultans würden
sich die Mohammedaner fügen.
Der Patriarch flehte mich an, seinen Hilfruf an die Kaiserliche
Regierung gelangen zu lassen und retten zu helfen, was noch zu retten
sei. pp.
Gegen die englische Politik sprach sich der Patriarch mit großer
Bitterkeit aus. England habe seine Hülfe „jusqu'au bouf' zugesagt 2
und lasse die Armenier, welche, auf dieses Wort rechnend, mit Stand-
haftigkeit und Opfermut ausgeharrt hätten, jetzt schmählich im Stich 3.
Bezüglich der anderen beiden Mächte, welche die Reformen für
die Armenier in die Hand genommen, bemerkte der Patriarch:
„En fait de ,reformes' demandees ä la Porte pour les Armeniens,
ces Puissances se contentent de compter et d'enregistrer soigneusement
le nombre des victimes."
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Das dürfte schon richtig sein. Dann ist der Sultan aber verloren, und desshalb
wird er stets ein Auge zudrücken
2 wie immer
3 nichts neues
Nr. 2460
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 187 Pera, den 14. November 1895
Vertraulich
Ungeachtet der immer mehr unter der hiesigen Bevölkerung sich
ausbreitenden Unzufriedenheit mit der Regierungsweise des Sultans
und der Offenheit, mit welcher überall von der Notwendigkeit seiner
Absetzung gesprochen wird, ist der Augenblick noch keineswegs ab-
zusehen, wann von den bloßen Worten hier zur Tat geschritten werden
wird.
Vorläufig wird die Art und Weise, wie man am besten zu diesem
105
erhofften Resultat kommen könne, nur diskutiert, ohne daß sich jemand
fände, welcher den Mut hätte, sich offen an die Spitze der Bewegung
zu stellen und die Revolution zu proklamieren.
Diese Zaghaftigkeit gibt dem Sultan Mut und flößt ihm Vertrauen
in das von ihm bis jetzt geübte System ein.
Er zentralisiert deshalb immer mehr die gesamte Regierungs-
gewalt in seiner Hand, beseitigt jede hervorragende, mit Fähigkeiten
und eigener Willenskraft ausgestattete ehrenhafte Person und duldet
nur Kreaturen, die, unbekümmert um das Wohl des Vaterlandes,
seinen Befehlen blindlings gehorchen.
Die Bildung des neuen Kabinetts unter dem Großvvesirat Rifaat
Paschas* liefert den Beweis, daß er festen Willens ist, in dieser von
ihm betretenen Bahn unbeirrt fortzuschreiten.
Daß er sich damit auf dem Thron dauernd nicht wird befestigen
können, liegt auf der Hand. Der Augenblick des Ausbruchs der Er-
hebung gegen ihn wird nur hinausgeschoben.
Wäre er nicht bezüglich der Lage der Verhältnisse völlig ver-
blendet, so würde er erkennen, daß es für ihn nur ein Heil gäbe:
Auf der einen Seite, die Unzufriedenheit des Volks dadurch zu
beseitigen und das Vertrauen zu ihm dadurch wieder entstehen zu
lassen, daß er dem Großwesir und der Pforte die frühere Autorität
und Verantwortlichkeit zurückgäbe und dabei Männer an die Spitze
der Regierung stellte, die allgemeine Achtung genießen. Auf der
anderen Seite, daß er durch Nachgiebigkeit gegenüber den Forde-
rungen der Mächte die Gefahren beseitigte, welche ihm aus deren
Überzeugung entstehen könnten, daß seine Regierungsweise eine
direkte und dauernde Gefahr für die Ordnung und Ruhe in dem Türki-
schen Reiche darstelle.
Im Palais hält sich übrigens die Überzeugung aufrecht, daß Abdul
Hamid wirklich geistesleidend sei, und daß alle seine bedauerhchen
Entschließungen sowohl in den armenischen Verwickelungen als auch
in betreff der sonstigen Ausübung seiner souveränen Gewalt direkte
Ausflüsse seiner zeitweisen Unzurechnungsfähigkeit sind^.
Bei Abdul Asis lagen die äußeren Verhältnisse ähnlich (freilich
ohne daß die Beschuldigung gerechtfertigt war). Es bestand aber dort
Einigkeit unter den zu einer regelmäßigen Absetzung erforderlichen
Faktoren — Großwesir, Scheich-ül-Islam und Kriegsminister — , wäh-
rend diese Personen hier gerade blind ergebene Werkzeuge des
Sultans sind.
S a u r m a
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Da können wir ja noch manches erleben! -
kann denn der Cheich-ul-Islam ihn nicht desswegen absetzen
♦ Siehe Nr. 2452, Fußnote.
106
Nr. 2461
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 275 London, den 19. November 1895
Vorläufige Antwort auf Telegramm Nr. 314*.
Ich habe vorläufig keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Artikel
der „Morning Post", welche bisher nicht als Organ der Regierung
betrachtet worden ist, von letzterer inspiriert worden ist. Dagegen
habe ich in den letzten Tagen den Eindruck, daß Lord Salisbury jetzt
dem Sultan gegenüber eine etwas größere Mäßigung für angezeigt
hält. Auffallend war mir in dieser Richtung schon die durch mein
Telegramm Nr. 273** gemeldete Äußerung des Premierministers gegen
Graf Deym, daß er dem österreichischen Vorschlag zustimme, sich
aber der Erwartung hingebe, daß dem Sultan die Wiederherstellung
der Ordnung gelingen werde. Von türkischen Konzessionen sehe ich
noch kein Symptom und nehme an, daß die augenblickliche größere
Reserve Englands durch den Wunsch herbeigeführt ist, den von Lord
Salisbury in seiner Rede*** betonten Akkord der Mächte nicht zu
stören. Meines Erachtens aus demselben Grunde und um Österreich
vorgehen zu lassen, hat Lord Salisbury vor einigen Tagen, wie durch
Telegramm Nr. 270 gemeldet, die Frage des österreichischen Bot-
schafters, ob er Vorschläge zu machen habe, ablehnend beantwortet
und Österreich die Initiative zugeschoben.
Ich sehe Lord Salisbury voraussichtlich morgen und werde dann
weiter berichten.
Hatzfeldt
Nr. 2462
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 193 Pera, den 19. November 1895
Durch den Doyen der Botschafter, Baron Calice, ließen wir Seiner
Majestät dem Sultan auf sein Ersuchen um Angabe derjenigen Ver-
* Durch Telegramm Nr. 314 vom 18. November 1895 war um Mitteilung darüber
ersucht worden, wodurch die in einem gleichzeitigen Artikel der „Morning Post"
signalisierte Schwenkung der englischen Politik gegenüber der Türkei herbei-
geführt sei, ob etwa durch türkische Konzessionen an England oder durch Be-
sorgnis vor einer russischen Besetzung Armeniens.
** Siehe Nr. 2516.
*** Vom 9. November. Vgl. Nr. 2492, S. 149, Fußnote ***.
107
haltungslinie, welche er einzuschlagen habe, um Europa wieder Ver-
trauen einzuflößen, mitteilen, daß es zunächst vor allem darauf an-
komme, sowohl in den von Anarchie ergriffenen Provinzen Kieinasiens
Ordnung und Ruhe wiederherzustellen als auch diejenigen Maßregeln
zu ergreifen, welche geeignet seien, die eventuell bedrohte Sicherheit
in Konstantinopel selbst aufrechtzuerhalten.
In ersterer Beziehung gaben wir Seiner Majestät anheim
1. den Gouverneuren und militärischen Organen strenge und nicht
mißzuverstehende Befehle zu erteilen, um dem weiteren Blutvergießen
Einhalt zu tun ;
2. die sofortige Absetzung derjenigen Walis und sonstigen Be-
amten zu bewirken, welche sich offenkundigen bösen Willens oder
auch nur strafwürdiger Nachlässigkeit bei den vorgekommenen Greueln
schuldig gemacht, und deren Ersetzung durch vertrauenswürdige Ele-
mente anzuordnen;
3. diejenigen Soldaten, welche an Mord und Plünderung teil-
genommen haben, zu bestrafen;
4. einen Hat^ zu veröffentlichen, mittelst dessen der feste Wille
des Sultans verkündet wird, Friede, Ordnung und Ruhe überall wieder
hergestellt zu sehen.
In letzterer Beziehung
1, die Stadt in militärische Bezirke einzuteilen, deren Kommandan-
ten für die Sicherheit der fremden Untertanen bei etwaigen Emeuten
verantwortlich gemacht werden;
2. keine Schwierigkeit gegen die den Mächten ohnehin vertrags-
mäßig zustehende Durchfahrt von zweiten Stationären zu erheben,
welche den Zweck haben, bei etwaigen für die fremden Kolonien ent-
stehenden Gefahren denselben entsprechend zu Hülfe zu kommen.
Bereits heut — als dem jener Mitteilung folgenden Tage — er-
schien der auswärtige Minister bei mir, um mir anzuzeigen, daß
Seine Majestät der Sultan für die ihm von uns zuteil gewordenen Rat-
schläge danke.
Er habe dieselben in vollem Maße gewürdigt und bereits ent-
sprechende ßefehle erlassen, um das, was ihm geraten worden, sofort
auszuführen.
Nur bezüglich des empfohlenen Hats^ glaube er, daß sich dieser
Punkt dadurch erledige, daß von heut ab alle die von ihm zu erlassen-
den strengen Befehle nicht wie bisher im Namen der Pforte, sondern
in feierlicher Weise im Namen des Sultans selbst gegeben und zu-
gleich durch die Organe der Presse zur öffentlichen ^ Kenntnis ge-
bracht werden würden. Dieses Verfahren komme an sich der Ver-
öffentlichung eines Hats gleich.
Was die Verdoppelung der Stationäre anlange, so werde er sich
nicht minder den Wünschen der Regierungen fügen, gebe aber zu
bedenken, ob das Erscheinen derselben nicht hier eine unnütze Auf-
108
regung hervorrufen könne, indem das Einlaufen einer Anzahl be-
waffneter Schiffe geeignet sei, an das Bevorstehen einer Gefahr glauben
zu lassen. Außerdem sei es nicht ausgeschlossen zu befürchten, daß
die hier befindlichen Führer des armenischen Aktionskomitees in der
Annahme, durch Europa gedeckt zu sein, eine neue, in ihren Folgen
stets gefährliche Demonstration in Szene setzen möchten.
Er, der Sultan, bitte mich, bei den übrigen Botschaftern meinen
Einfluß in diesem Sinne geltend zu machen.
Ich lehnte eine derartige Intervention ab, gab dem Minister viel-
mehr anheim, sich mit meinen Kollegen direkt darüber zu verständigen.
Ich selbst hielte das Eintreffen von einigen kleinen Fahrzeugen, die
ja nicht zusammen einträfen und auch hier nicht zusammen ankerten,
für nicht Aufsehen erregend, dagegen nützlich zur Beruhigung der durch
die in Stambul stattgehabten Metzeleien in Besorgnis geratenen fremden
Kolonien.
Im übrigen hätte ich persönlich noch keinerlei Mitteilung meiner
hohen Regierung, ob dieselbe überhaupt beabsichtige, ein zweites Fahr-
zeug hierher zu entsenden.
Tewfik Pascha wird den übrigen Botschaftern heute dieselbe Mit-
teilung machen, welche er mir soeben überbrachte.
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II,:
i Ist das wichtigste er wird sich aber wohl hüten den zu geben
2 aha! Da steckt der Hase! das ist aber die Hauptsache
8 und im geheimen wird der Giaur ausgelacht, und der Bevölkerung klar ge-
macht, es ist kein Hat also ungültig
Nr. 2463
Kaiser Wilhelm IL, z. /. in Rumpenheim, an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Telegramm. Entzifferung
Rumpenheim, den 21. November 1895
Eine poHtische Konversation, welche die Kaiserin Friedrich soeben
mit mir führte, dürfte Euerer Durchlaucht von einigem Interesse sein.
Ihre Majestät: Ich bin außerordentlich besorgt über die Wen-
dung, welche die Angelegenheit in der Türkei nimmt. Du mußt einen
Kongreß nach Berlin berufen.
Ich: Ich befürchte, daß bei dem Kongreß nicht viel Gescheites
herauskommen wird, außerdem hat Deutschland das geringste Inter-
esse am Orient, zudem schützt der Kongreß die Christen in keiner
Weise und hindert die Türken nicht, ihnen die Hälse abzuschneiden.
Ihre Majestät: Ja aber die Mächte müssen zusammenhalten, even-
tuell zusammen einschreiten und den Sultan mit Gewalt zwingen.
109
Ich: Wie?
Ihre Majestät: Man müsse sich zusammen verabreden imd dann
einrücken oder durch die Dardanellen gemeinschaftlich einfahren.
Ich: Die Greueltaten* geschehen im Innern Kleinasiens, Hunderte
von Kilometern von der Küste entfernt. Landungskorps demonstrieren-
der Geschwader sind daher nutzlos, einrücken mit Truppen kann nur
eine Macht, das ist Rußland, gemeinschaftliches Einrücken durch die
Dardanellen ist von den Großmächten in Erwägung gezogen worden,
jedoch von Frankreich und Rußland gemeinsam abgelehnt worden
und unterbleibt daher.
Ihre Majestät: Das ist recht schade. Diese Franzosen sind infame
Leute, wo sie den Russen zu was Niederträchtigem verhelfen können,
tun sie es mit Vergnügen und werden in allem mit ihnen zusammen-
stehen. Aber was um des Himmels willen soll denn werden, wenn die
Angelegenheiten zu kriegerischen Verwickelungen führen? Es stehen
so viele Interessen auf dem Spiel, bei uns z. B. ist Ägypten in höchster
Gefahr, Die Mächte könnten sich ja einigen, einer anderen Macht,
z. B. Rußland, das Mandat zum Einrücken und zum Pazifizieren der
Türkei zu übertragen. Ginge das nicht?
Ich: Ausführbar wäre dieser Gedanke an und für sich; aber wenn
die Russen einmal eingerückt sind, wer will ihnen eine Grenze ihres
Vordringens setzen, und wann gehen sie wieder raus?
Ihre Majestät: Das ist richtig, aber immerhin das kleinere Übel.
Schließlich, warum sollen sie nicht auch was dafür bekommen?
Ich: Wie die Verhältnisse einmal liegen, ist jedes Einrücken oder
jede Flottendemonstration mit dem Keim eines Dilemmas behaftet.
Eine bloße Demonstration wirkt auf den Sultan nicht mehr, der die
Armenier haßt und sie weiter exterminieren lassen wird. Er rechnet
dabei auf Zwiespalt unter den Mächten. Ein Einrücken bringt die
Gefahr mit sich, daß der Kalif in den Augen seiner mohammedanischen
Untertanen mit Hülfe der verhaßten Christen ihnen verhaßte Reformen
aufzwingen will, das kann zu Revolutionen in Konstantinopel und
Attentaten auf sein Leben führen. Aus Angst hiervor wird er gleich-
falls die Massakers der Christen nicht beendigen lassen.
Ihre Majestät: Der Zustand ist unhaltbar und ganz entsetzlich,
so wie die Türkei jetzt ist, kann sie nicht mehr zusammenhalten, es
muß zu einem allgemeinen Zusammenbruch kommen.
Ich: Es ist schade, daß Mr. Gladstone diese Frage überhaupt
angeschnitten hat und mit der öffentlichen Meinung auch Lord Salis-
bury engagierte.
Ihre Majestät: Das ist ganz richtig; aber es gibt Dinge, in denen
die öffentliche Meinung in England nun mal maßgebend ist.
♦ Siehe Kap. LXI, A.
110
Ich : Sollte Lord Salisbury nicht vielleicht an eine Lösung der Orient-
frage durch Teilung denken?*
Ihre Majestät (mit Wärme): Selbstverständlich, das ist ja auch
die einzige Rettung aus diesem impasse, die Türkei muß aufgeteilt
werden.
Ich: Wie v^^äre das wohl zu machen?
Ihre Majestät: Rußland muß die Dardanellen und Konstanti-
nopel bekommen, der Sultan muß seine sämtlichen Besitzungen auf
europäischem Boden aufgeben und räumen, sein verkommenes Regime
darf europäischen Boden nicht länger beflecken, Kleinasien ist groß
genug, und Bagdad muß wie in alter Zeit Hauptstadt der Kaufen
werden.
Ich: Was werden denn die Österreicher dazu sagen, und was
sollen die bekommen?
Ihre Majestät: Die Österreicher wären Esel, wenn sie sich dem
widersetzen wollten, denn mit der elementaren Gewalt eines Lava-
stromes rückt Rußland an Konstantinopel heran, es ist ihnen gar
nicht zu verwehren, die Meerengen zu nehmen, es ist auch ihr
gutes Recht, da sie einen outlet für ihren Handel haben müssen,
Österreich muß sich dagegen kompensieren, Albanien, Montenegro,
Serbien und so viel von Mazedonien besetzen, um freien Zutritt zu
Saloniki zu haben. Saloniki muß großer österreichischer Stapelplatz
und Kriegshafen werden, das ist ihm schon von jeher bestimmt.
Ich: Die Griechen wollen aber auch was haben. Was sollen
denn die kriegen?
Ihre Majestät: Die sämtlichen Inseln, Kreta und diejenigen Dörfer
Mazedoniens, die am Rhodopegebirge liegen.
Ich: Und was bekommt Frankreich?
Ihre Majestät: Frankreich kann Syrien nehmen, da hat es schon
großen Einfluß, England hat dann Ruhe in Ägypten. Rußland muß
im Mittelländischen Meer befriedigt werden und möglichst scharf in
Ostasien interessiert und engagiert werden, dann wird es Europa in
Frieden lassen.
Der Standpunkt Ihrer Majestät der Kaiserin wird wohl ziemlich
dem Ihrer Majestät der Königin und Lord Salisburys entsprechen, ist
im allgemeinen klar politisch durchdacht und völlig stichhaltig. Sie
trug mir ihre Ansichten in sehr lebhafter eindringlicher Weise vor,
anscheinend besorgt durch die Lage der Dinge, Entschieden betont
ist die Ansicht, daß der Türke in Europa nichts mehr zu suchen habe.
Dies Gespräch ist streng vertraulich an Graf Hatzfeldt mitzuteilen,
damit derselbe, in geeigneter Weise es verwendend, Lord Salisbury
sondiert. Nach seiner Antwort ist beides nach Rom, Konstantinopel,
Wien und Petersburg streng vertraulich mitzuteilen,
Wilhelm LR.
* Vgl. Kap. LX.
111
Nr. 2464
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an Kaiser Wilhelm II.,
z. Z. in Göhrde
Ausfertigung
Berlin, den 22. November 1895
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät sage ich meinen
ehrfurchtsvollen Dank für die huldreiche Mitteilung der Unterredung
mit Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich, welche die Bedeutung
einer höchst wertvollen Aufklärung über die Ziele und Mittel der
gegenwärtigen englischen Mittelmeerpolitik hat.
England ist hochgradig nervös, weil es durch die franko-russische
Gruppe Ägypten ernstlich bedroht sieht, dasselbe behalten möchte,
aber wenn irgend möglich, ohne selber dabei in einen Krieg zu
kommen 1. Die verschiedenen englischen Projekte: die inzwischen bereits
negativ erledigte gemeinsame Flottendemonstration, sowie auch das an
Rußland zu erteilende europäische Mandat, endlich die Aufteilung der
Türkei — haben alle und jedes nur den Zweck, diejenige zeitliche,
beziehungsweise örtliche Begrenzung der russischen Ausbreitung, auf
welche Euere Majestät bereits die Kaiserin als auf eine unvermeid-
liche Notwendigkeit hingewiesen haben, durch andere Mächte be-
sorgen zu lassen 2, zur Entlastung von England.
Das wirksamste Ableitungsmittel, englisch gedacht, würde aber
ohne alle Frage ein zweiter Berliner Kongreß bieten. Der erste be-
schnitt Rußlands Ansprüche, verhinderte den russisch-englischen Krieg
und lenkte dafür Rußlands dauernden Haß auf Deutschland 2 — drei
für England glückliche Ergebnisse. Daß Lord Sahsbury, welcher wie
ich den Kongreß mitmachte und die Wirkungen desselben in guter Er-
innerung haben wird, eine Wiederholung desselben dringend wünscht,
ist ebenso begreiflich wie auch andererseits, daß ich vom deutschen
Standpunkte aus, falls die Frage ernstlich an uns heranträte, Euerer
Majestät dringend davon abraten würde 3, gleichviel ob Berlin oder
eine andere Residenz zum Versammlungsort ausersehen wäre. Denn
ein Kongreß, indem er schweigende Zurückhaltung unmöglich macht,
kennt weder Vorhut noch Reserve, sondern stellt alle Beteiligten, gleich-
viel wie groß oder klein der eigene Anteil, in zwei einfachen Reihen
gegenüber. Deutschland käme durch die bloße Tatsache seiner Teil-
nahme an einem Kongreß über die Meerengenfragen aus seiner jetzigen
Reservestellung in die erste Linie i.
Wenn England, wie Ihre Majestät die Kaiserin gesagt hat, in
Ägypten durchaus Ruhe haben will, hat es dafür das einfache Mittel,
denjenigen beiden Mächten, deren Interessen an Mittelmeer- und Orient-
fragen leicht mit den englischen in die gleiche Bahn gebracht werden
können, nämlich Österreich und Italien, die Überzeugung zu geben,
112
dali sie im Augenblick der Entsciicidung von England nicht allein ge-
lassen werden 1.
Wie Euere Majestät aus dem ehrfurchtsvoll beigefügten Tele-
gramm des Botschafters von Bülow von gestern abend* huldreichst
ersehen wollen, ist während der letzten Tage, das heißt, nachdem
das Wiener sowohl wie das römische Kabinett eine gewisse Taten-
lust hatten erkennen lassen, in der englischen Politik im Gegenteil
ein gewisses Zurückweichen ^ bemerkbar geworden.
Aus dieser Erscheinung ist keineswegs zu schließen, daß die eng-
hsche Regierung die englischen Interessen im Mittelmeer anders be-
urteilt als vor vierzehn Tagen, sondern nur, daß Lord Salisbury den
Kabinetten von Rom und Wien gern Gelegenheit geben möchte,
sich in die vorderste Reihe zu stellen 2. Die gegenwärtige Gesamtlage
läßt sich dahin zusammenfassen: England ist entschlossen, nicht nur
Ägypten zu behalten, sondern auch nach unseren neuesten Nachrichten
durch Anlegung einer strategischen Bahn von Port Said nach dem
Persischen Meerbusen die zwischen diesen beiden Endpunkten ge-
legenen weiten Gebiete in seine Interessensphäre allmählich hinein-
zuziehen. Die englischen Ansprüche, in dieser Ausdehnung gedacht,
lassen sich nach menschlicher Berechnung mit dem franko-russischen
Machtgefühl und den hieraus sich ergebenden Konsequenzen nicht
versöhnen. England sieht den Konflikt herannahen, und seine ganzen
Bestrebungen sind darauf gerichtet, ihn hinauszuschieben, in der Hoff-
nung, daß interea aliquid fit, das heißt, daß inzwischen bei iigendeinem
Anlaß die Kontinentalmächte aufeinanderplatzen*.
Umgekehrt müssen diejenigen Mächte, welche ihre Zukunft durch
die franko-russische Gruppe bedroht sehen, sich die Aufgabe stellen,
akute Konflikte mit jener Gruppe möglichst so lange zu vermeiden 2,
bis England an die äußerste Grenze seiner philosophischen CHildsam-
keit zurückgedrängt ist und die Notwendigkeit sieht, wirklich niitzu-
fechten. Ob die Erwerbung der Dardanellen mit dem Marmarameer
als russischem Ausfallhafen nach Port Said hin dem Kabinett Salisbury
noch als eine politisch annehmbare Möglichkeit erscheint oder nicht,
läßt sich heute nicht mit Bestimmtheit voraussehen. Im Interesse der
Dreibundmächte liegt es aber jedenfalls, daß Österreich-Ungarn und
Italien zur Dardanellenfrage nicht früher als England feste Stellung
nehmen!. Die Kräfte der beiden erstgenannten würden schwerlich
gegenüber denen der franko-russischen Gruppe ausreichen, Deutsch-
land würde also vor die unangenehme Alternative gestellt, entweder
seinen beiden Freunden mit bewaffneter Hand Beistand zu leisten
oder die Perspektive ins Auge zu fassen, daß nach der Besiegung von
Österreich und Italien die siegreiche franko-russische Gruppe dem als-
dann isolierten Deutschland ihre Aufmerksamkeit zuwende.
* Siehe Nr. 2550.
8 Die Große Politik. 10. Bd. 113
Für die deutsche Diplomatie liegt in den durch Euere Majestät
erlangten englischen Aufklärungen die verstärkte Mahnung, dahin zu
arbeiten, daß diese Alternative uns erspart werde 2, und daß unsere
Dreibundfreunde die Politik der freien Hand in Balkan- und Meer-
engenfragen so lange sich wahren, wie England sich nicht vertrags-
mäßig oder tatsächlich festgelegt hat^. Kommen wird der Augenblick
sicher, wo England ein weiteres Überwuchern der franko-russischen
Macht unvereinbar mit seinen eigenen Existenzbedingungen findet,
und ich glaube der Allerhöchsten Billigung sicher zu sein, wenn ich
sage, daß die deutsche Politik ihre Aufgabe darin sehen muß, daß in
Erwartung dieses Augenblicks die Kabinette von Wien und Rom weder
die Geduld noch auch das Zutrauen zum Dreibund verlieren 1.
Die neueren Äußerungen des Baron Blanc gestatten den Rück-
schluß, daß dieser italienische Minister, ungeachtet seiner natürlichen
Lebhaftigkeit, allmählich zur richtigen Würdigung der Lage und ihrer
Anforderungen — Geduld und ruhige Nerven — gebracht worden ist^.
Fürst v. Hohenlohe
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms 11.:
i Richtig
2 ja
3 einverstanden
* ja
daß irgend ein Dummer sich finden wird
^ dasselbe muß bei Goluchovvski auch Stattfinden.
Schlußbemerkung des Kaisers:
Der Berliner Congreß war ein folgenschwerer Fehler ich werde nie in einen
zweiten willigen W.
Bemerkung des Kaisers am Kopf des Schriftstücks:
23/XI 95 Vollkommen einverstanden
Nr. 2465
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 267 Wien, den 21. November 1895
Mein englischer Kollege* lud mich und den türkischen Bot-
schafter** heute zum Frühstück, das zu Ehren Sir Philip Curries***
stattfand. Graf Nigra kam später, um Sir Philip zu begrüßen, mit
dem er seit seiner amtlichen Tätigkeit in London bekannt ist.
Der Botschafter traf gestern abend ein und reist heute mit dem
Orientexpreßzug weiter. *■
* Sir E. Monson.
** Galib Bey.
*** Sir Ph. Currie befand sich auf der Rückreise von London nach Konstantinopel.
Vgl. Nr. 2440.
114
Er sprach sich ziemlich offen zu mir aus und schien unter dem
Eindruci< einer im allgemeinen gebesserten Lage zu stehen. Wenn er
auch kein freundliches Wort für den Sultan fand, so war seine Sprache
doch wesentlich verschieden von derjenigen, die er früher in Konstanti-
nopel führte. Den armenischen Patriarchen nahm er sehr entschieden
gegen die Anschuldigungen in Schutz, welche bezüglich seiner Haltung
erhoben sind.
Sehr bemerkenswert erschien mir seine Äußerung:
„Ich gehe nach Konstantinopel mit so bestimmten Aufträgen,
mich ruhig zu verhalten und jede Schärfe zu vermeiden, daß ich die
Hoffnung hege, es bleibt das gute Einvernehmen der Mächte und der
Frieden erhalten. Meine Aufgabe ist durchaus angenehm, und —
fügte er mit einem Lächeln und akzentuiert hinzu: sehr anders als
diejenige, welche ich früher hatte i.''
Auf meine Bemerkung, daß die Entente, welche zwischen den
Botschaftern in Konstantinopel herrsche und sich als hervorragend
wirksam erwiesen habe, ihm seine Aufgabe erleichtern werde, erwiderte Sir
Philip, daß er besonders seine guten persönlichen Beziehungen zu Herrn von
Nelidow hervorheben könne, mit dem es sich sehr angenehm arbeite.
„Allerdings," fügte er hinzu, ,,ist es nötig, aufzupassen und sich
die Einmütigkeit nicht durch Intrigen stören zu lassen. '^ Ich erwähnte,
daß ich in dieser Hinsicht verschiedene Symptome bemerkt habe, und
sagte daran anschließend, wie mir das Faktum sehr eigentümlich er-
schiene, daß Rußland seine Ablehnung des letzten österreichischen
Vorschlages fast früher an seine Botschafter habe gelangen lassen,
als die Nachricht nach Wien übermittelt wurde.
Sir Philip Currie erwiderte, daß ihm dieses allerdings auch auf-
gefallen sei und ihn mit Mißtrauen erfülle.
Die Kriegsbereitschaft der russischen Schiffe und Truppen am
Schwarzen Meer schien ihn nicht besonders nachdenklich zu machen.
„Wahrscheinlich," sagte er, „geschah es, um erklären zu können: wir
sind fertig." P. Eulenburg
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Also „beide Maschinen Volldampf achteraus"
Nr. 2466
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 194 Pera, den 20. November 18Q5
Euerer Durchlaucht beehre ich mich in der Anlage Abschrift des
Zirkularschreibens vom 18. d. Mts.* gehorsamst vorzulegen, welches
* Hier nicht abgedruckt.
8* 115
Baron Calice an seine Kollegen richtete in betreff der von den Bot-
schaftern an Tewfik Pascha gemachten Eröffnung hinsichtlich der dem
Sultan anzuempfehlenden Haltung.
Aus demselben geht hervor, daß Seine Majestät der Sultan Infolge
unserer jüngsten Demarche* plötzlich weich und nachgiebig geworden
ist. Möchte diese Stimmung nur möglichst lange vorhalten!
Ich glaubte im Sinne Euerer Durchlaucht zu handeln, wenn ich
nach diesem erreichten Erfolge meine Person nicht länger mehr in
den Vordergrund stellte, die weitere Behandlung der Angelegenheit
vielmehr den vereinigten Botschaftern überließ.
Auf diese Weise glaubte ich am besten etwaigen Mißverständ-
nissen vorzubeugen, dahingehend, als ob die Kaiserliche Regierung
in einem besonders vertraulichen Freundschaftsverhältnis zu Seiner
Majestät dem Sultan, bzw. der Pforte stünde. Von dieser Anschauung
ausgehend bat ich den Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, in
Fällen, wo es sich um generelle Unterhandlungen zwischen der Pforte
und den Vertretern der Mächte handele, sich mit unserem Doyen**
in Verbindung zu setzen, anstatt mich ferner zur Mittelsperson zu
wählen.
Mit Rücksicht auf die unter den Mächten bezüglich der schweben-
den Fragen bestehende Einigkeit sei jener Modus meiner Ansicht nach
der angezeigtere.
S a u r m a
Nr. 2467
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien*** Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 909 Berlin, den 23. November 1895
Ew. pp. beehre ich mich unter Bezugnahme auf meinen Erlaß
Nr. 896 vom 19. d. Mts. f zu Ihrer gefälligen Information beifolgend
Abschrift eines von dem englischen Geschäftsträger heute hier über-
reichten Memorandums zu übersenden, aus welchem sich ergibt, daß
die englische Regierung unsere Mitwirkung in Konstantinopel behufs
Wiederherstellung der Ruhe mit Dank anerkennt.
Marschall
* Vgl. Nr. 2462.
** Der Österreich-ungarische Botschafter Freiherr von Calice.
*** Entsprechende Mitteilung erfolgte nach London, Rom und Konstantinopel.
t \gl. Nr. 2510, Fußnote ♦*.
116
Anlage
Der englische öeschäftsfräger in Berlin Martin Qosselin an den
Siaafssekrelär des Aus^\ärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Note. Unsignierte Ausfertigung
British Embassy Berlin, November 23. 1895
Her Majesty's Government have heard with much satisfaction of
the language used by the Imperial Ambassador at Constantinople
to His Majesty The Sultan. It appears that this language has produced
an excellent effect, and Lord Salisbury begs me to express to Your
Excellency the best acknowledgements of Her Majesty's Government
for the friendly support of Germany.
His Lordship is also glad to hear from Count Hatzfeldt that Baron
von Saurma has also joined Mr. Herbert in endeavouring to obtain
clemency for the insurgents at Zeitoun*. A very serious effect would
be produced on public opinion if the Turkish troops were permitted
to commit barbarities there.
Nr. 2468
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 25. November 1895
Der österreichisch-ungarische Botschafter gab mir heute \ ertrau-
liche Kenntnis von einem Bericht, welchen Graf Deym an den Grafen
Goluchovvski über eine Unterredung mit Lord Salisbury erstattet hat.
Danach hat letzterer sich dahin geäußert, daß Baron Calice der beste
Kenner der Verhältnisse in Konstantinopel sei, und England gern alle
Vorschläge, die von ihm gemacht würden, annehme. Bezüglich der
allgemeinen Situation äußerte der Premier Besorgnisse, daß es dem
Sultan nicht gelingen werde, Ordnung und Ruhe wieder herzustellen.
Um dieses Resultat zu erreichen, gäbe es ein Mittel, aber er zweifle,
ob die Mächte sich dazu entschließen würden. Auf Drängen des Bot-
schafters bezeichnete Lord Salisbury als dieses Mittel die „deposition
du Sultan". Bei der herrschenden Mißstimmung werde sich die-
selbe in sehr einfacher Weise vollziehen. An ein „demembrement"
der Türkei denke er nicht, denn dies würde das Signal zu einem
europäischen Kriege geben.
Marschall
Vgl. Kap. LXI, Anhang.
117
Nr. 2469
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 145 Pera, den 25. November 1895
Als eine weitere heilsame Folge der letzten Warnung der Kaiser-
lichen Regierung stellt sich der von Seiner Majestät dem Sultan ge-
faßte Beschluß dar, in einer demnächst zu erlassenden Proklamation
die in den sechs kleinasiatischen Provinzen einzuführenden Reformen
zur öffentlichen Kenntnis des Landes zu bringen.
Sodann hat Seine Majestät beschlossen, eine Kommission nach
Mazedonien zu entsenden, um die Wünsche der dortigen Bevölkerung
kennen zu lernen und die entsprechenden Refofmen möglichst bald auch
für diese Provinz vorzubereiten.
Saurma
Nr. 2470
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 226 Pera, den 11. Dezember 1895
In der gestern unter uns Vertretern der Großmächte stattgehabten
Besprechung* verlangte Sir Philip Currie in sehr erregten Worten,
die hiesigen Botschafter hätten vor der Welt die Pflicht, irgend etwas
Ernstliches zu unternehmen, um den grauenhaften Blutbädern in Klein-
asien, welche ihren ungehinderten Fortgang nähmen, Einhalt zu tun.
„In England beginne die Presse in sehr unangenehmer Weise Kritik i
an der eigenen Regierung wegen ihrer Unfähigkeit zu üben, die Greuel
in Kleinasien wirksam zu bekämpfen. Ebenso abfällig würde über
die hiesigen fremden Botschafter geurteilt, welche trotz ihrer zahl-
reichen „Konferenzen" nichts zur Verbesserung der Lage der Dinge
zustande brächten." Es müßten endlich unsererseits ^ direkte und
sichtbare Schritte getan werden, um in die entsetzlichen Unmenschlich-
keiten zum Zweck deren Beendigung einzugreifen.
Es wurde ihm entgegnet, daß die Auffassung, welche die eng-
lische Presse bezüglich des Charakters der. hiesigen Botschafter-
zusammenkünfte hege, eine irrtümliche sei. Unsere Besprechungen
hätten keineswegs einen beschließenden, vielmehr einen lediglich kon-
sultativen und privaten Charakter, insofern wir die Lage der hiesigen
* Vgl. den Bericht Sir Ph. Curries in: Das Staatsarchiv Bd. 53, Nr. 11042.
118
Verhältnisse gemeinsam besprächen und durch möglichst überein-
stimmende Beurteilung derselben unseren Regierungen die von ihnen
eventuell unter sich zu vereinbarenden Maßnahmen erleichterten.
Die Ergreifung irgendwelcher positiver Schritte stehe nicht uns,
sondern einzig und allein unseren Regierungen zu.
Auf diese Weise konnte auf den Antrag des englischen [Botschafters
nicht eingegangen werden, Spezialkommissäre — etwa die Militär-
attaches oder Dragomans der Botschaften — nach dem Schauplatz
der Greuel zu entsenden, um an Ort und Stelle geeignete Feststellungen
bezüglich des von der Pforte geflissentlich verschleierten wahren Sach-
verhalts zu machen.
Als darauf Sir Philip empfahl, der gedachte Vorschlag möge von
uns gemeinschaftlich unseren Regierungen unterbreitet werden, be-
merkte Herr von Nelidow — wohl nicht mit Unrecht — , daß eine
jetzt nach Kleinasien zu entsendende Kommission kaum ihre Aufgabe
zu erledigen imstande sein dürfte. Schon ein Reisen in den fast wege-
losen Gegenden jetzt zur Winterszeit sei kaum möglich. Ebenso schwer
würde sogar das einfache Unterkommen der Kommissare in den ver-
heerten Orten sein.
Schließlich kamen wir dahin überein, an der Hand des uns von
den Konsuln in Kleinasien bezüglich der neuesten Metzeleien ge-
lieferten Materials bei der Pforte erneute Vorstellungen zu erheben
und zu verlangen, daß die Regierungen* durch energische Maßregeln
auf Wiederherstellung der Ordnung in den armenischen Provinzen
hinarbeiten möge 3. — Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Das ist der Regierung ganz gesund
2 ! naiv!
3 Das wird nun ebensowenig Eindruck machen wie zuvor!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Das Verlangen nach energischen Schritten ist ganz gerechtfertigt, da die Rolle
die wir als Europa den Moslems gegenüber spielen mehr als jämmerlich ist.
Aber daß England es von andren als von sich selbst erwartet ist geradezu
hochkomisch. Wenn man bedenkt, daß der ganze Schwindel von England an-
gezettelt wurde!
Nr. 2471
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 227 Pera, den 11. Dezember 1895
Euerer Durchlaucht beehre ich mich in der Anlage einen Bericht
des Gerenten des Kaiserlichen Vizekonsulats in Amasia** vom 27.v.Mts.
*"Sic!
** Kaufmann Emanuel Sollbergcr.
119
zur hochgeneigten Kennhiisnahme abschriftlich gehorsamst zu über-
reichen.
Der Bericht schildert die Ereignisse, welche sich im vorigen Monat
in Amasia, Mersifun, Siwas, Josgad und Sileh abspielten, in zu-
treffender Weise, wie ich mich durch Vergleich mit den bezüglichen
Berichten der französischen Konsuln überzeugt habe.
Die in dem Sollbergerschen Bericht enthaltene Schätzung der
bisher getöteten Armenier auf 60 — 80000* stimmt mit anderweitigen
Angaben überein.
Nicht minder richtig hervorgehoben ist die türkischerseits fort
und fort aufgetischte Unwahrheit, daß die Armenier stets der provo-
zierende Teil gewesen sind. Es trifft dies wohl an einzelnen Orten
zu, bildet aber nicht im entferntesten die Regel. Es hat bisher nirgends
ein wirklicher Kampf zwischen Armeniern und Türken stattgefunden,
vielmehr stets eme einfache Abschlachtung von Hunderten der ersteren,
ohne daß kaum ein oder ein paar Türken das Leben dabei verloren.
Daß sich das Militär an den Metzeleien und Plünderungen beteiligt,
ist nichts Neues.
In Siwas waren von dem dortigen Gouverneur zum Schutz von
fremden Konsulaten, Kirchen, Hospitälern und Schulen militärische
Schutzmannschaften gestellt worden. Diese Soldaten beklagten sich
offen über diese ihre Verwendung, indem „ihnen dadurch die Zeit
und Gelegenheit genommen werde, an der Plünderung der Stadt teil-
zunehmen und sie auf diese Weise ihren Kameraden gegenüber in
ungerechten Nachteil kämen".
Überhaupt tritt die Erscheinung immer deutlicher auf, daß es
die Lust an Raub und Plünderung ist, welche das Motiv für die immer
wiederkehrenden Exzesse bildet.
Auch den besten Willen bei der Regierung vorausgesetzt, dürfte
es derselben jetzt, nach voller Entfesselung der wilden, in den armeni-
schen Provinzen hausenden Elemente schwer fallen, dieselben wieder
in Banden zu schlagen.
Die Zeit dafür ist versäumt.
Von einer Bestrafung der Schuldigen kann unter den gegen-
wärtigen Verhältnissen nicht die Rede sein. Die Straflosigkeit reizt
aber selbstverständlich zu neuen Untaten.
Saurma
* Bei dieser Stelle des Sollbergerschen Berichts findet sich die Randbemerkung
des Kaisers: „empörend!! und das sieht England ruhig mit an? nachdem es die
ganze Geschichte eingerührt hat"; am Schluß: „entsetzlich!"
120
Nr. 2472
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm II.
Ausfertigung
Berlin, den 15. Dezember 1895
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät gestatte ich mir
alleruntertänigst einen Bericht von AUerhöchstdero Botschafter in
Konstantinopel vom 11. d. Mts.* zu unterbreiten, aus welchem sich
ergibt, daß der englische Botschafter unter Hinweis auf die erregte
öffentliche Meinung Englands sich bemüht hat, seine Kollegen zu
aktiven Schritten in den armenischen Angelegenheiten anzuspornen.
Andererseits stimmen alle aus London hierher gelangten Nach-
richten darin überein, daß die englische Regierung bisher durchaus
nicht die Absicht durchblicken läßt, in dem Falle, wo ihr fortgesetztes
Rütteln zum Zusammenbruch der Türkei wirklich führen sollte, selber
mit bewaffneter Hand für die Verteidigung etwa bedrohter englischer
Interessen einzutreten i. Vielmehr geht augenscheinlich Englands Be-
streben dahin, bei diesem Anlasse einen Krieg der Kontinentalmächte
untereinander anzuregen, bei welchem Englands Betätigung in dessen
Belieben gestellt wäre 2. Angesichts dieser Sachlage darf ich die Aller-
höchste Genehmigung erhoffen, wenn ich entsprechend den bisherigen
Grundsätzen der deutschen Politik Euerer Majestät Botschafter in Kon-
stantinopel dahin instruiere, daß er sich gegenüber den englischen An-
trägen, welche alle den Zweck verfolgen, an dem morschen türkischen
Staatsbau zu rütteln, ablehnend verhalte 3.
Abschrift des Telegrammentwurfs** füge ich alleruntertänigst bei.
Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Gewiß nicht! Sie will daß wir über die Pflaumen welche sie vom Türkischen
Baum auf uns andre herabschüttelt uns in die Haare kommen sollen!
2 richtig
B ja
Nr. 2473
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg***
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 19Q Berlin, den 16. Dezember 1895
Sir Philip Currie hat nach Meldung des Kaiserlichen Botschafters
in den letzten Tagen wieder versucht, die Vertreter der übrigen Mächte
* Siehe Nr. 2470.
** Identisch mit Nr. 2474.
*** Ein gleiches Telegramm (Nr. 161) erging an den Botschafter in Rom.
121
unter Hinweis auf die gereizte öffentliche Meinung Englands dahin
zu bringen, daß sie ihren Regierungen zum Einschreiten in der armeni-
schen Frage raten möchten. Nachdem Freiherr von Saurma im Sinne
seiner Instruktionen diese Zumutung abgelehnt hatte, sind heute hier
vom englischen Botschafter zwei telegraphisch übermittelte Schrift-
sätze übergeben worden, wo die armenischen Greuel in den grellsten
Farben gemalt, und die nach englischer Ansicht daraus für die Mächte
hervorgehenden Konsequenzen an die Hand gegeben werden.
Wenn Euer pp., wie ich annehme, demnächst Gelegenheit haben,
diese Angelegenheit an maßgebender Stelle zu besprechen, bitte ich,
von neuem hervorzuheben, daß weder Deutschland noch Österreich
noch Italien ihr Gewissen durch die armenischen Angelegenheiten
belastet zu fühlen brauchen, daß vielmehr die Verantwortung hierfür
nächst oder neben der Türkei lediglich auf England ruht, welches ein
Interesse daran hatte, durch einen türkischen Konflikt, bei dem wo-
möglich sämtliche Kontinentalmächte in Mitleidenschaft gezogen
würden, die ägyptische Frage zeitweilig von der Tagesordnung ab-
setzen zu lassen.
Ew. pp. werden auch wiederum mit Nutzen hervorheben können,
daß das sicherste Mittel, England von der Beteiligung an Orient-
konflikten zu entbinden, darin besteht, daß andere Mächte, z. B. Öster-
reich und Italien, die Orientfrage im ganzen oder in einzelnen Teilen
zu ihrer eigenen Sache machen, ohne abzuwarten, daß England sich
vertragsmäßig oder tätlich fest engagiert hat.
Marschall
Nr. 2474
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 93 Berlin, den 17. Dezember 1895
Antwort auf Bericht 226*.
Einverstanden damit, daß Ew. sich ablehnend gegen die Anträge
des englischen Botschafters verhielten. Deutschland hat die armeni-
schen Greuel nicht verschuldet, hat daher auch keinen Grund zur
Erregung. England ist stark genug, um, falls es eine Sühne für seine
politischen Mißgriffe nötig hält, selber vorzugehen. Überdies wird
es ihm leicht sein, dann Mitinteressenten unter den anderen Mittel-
meermächten zu finden. In der Hinsicht werden wir ihm keinen
Zwang antun. Nur das beabsichtigen wir zu verhindern, daß die uns
* Siehe Nr. 2470.
122
näherstehenden Mächte Österreich und Italien für England, aber
ohne England die Kastanien aus dem Feuer holen, weil in letzterem
Falle die Kraftverhältnisse so sind, daß wir dann leicht gezwungen
werden könnten, unsrer Freunde wegen einzugreifen, obschon uns die
Meerengenfrage direkt nichts angeht.
Die vorstehende Instruktion hat Seiner Majestät vorgelegen.
Marschall
Nr. 2475
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 272 Wien, den 17. Dezember 1895
Der englische Botschafter hat gestern in dienstlichem Auftrage
die Aufmerksamkeit der hiesigen Regierung auf die Notstände in
Armenien gelenkt und die Frage gestellt, welche Vorschläge i etwa
Graf Goluchowski zur Hebung derselben machen könnte? Der Mi-
nister hat sehr energisch geantwortet, daß er sich unter keinen Um-
ständen in diese Frage mischen werde 2. Auch hat er Sir Edmund
Monson auf die Gefahr aufmerksam gemacht, welche in einer erneuten
Anregung dieser Frage läge.
Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 !
2 Gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
Gut
gebranntes Kind scheut das Feuer!
Nr. 2476
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 216 Rom, den 17. Dezember 1895
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 161*.
Als [ich] .Baron Blanc heute in einer laufenden Angelegenheil
aufsuchte, zeigte mir derselbe vertraulich einen Brief, welchen er
gestern in der armenischen Frage von meinem englischen Kollegen**
erhalten hatte. Der englische [Botschafter] schrieb in diesem Brief,
* Siehe Nr. 2473, Fußnote *♦*.
** Sir Francis Cläre Ford.
123
daß er von Lord Salisbury angewiesen i worden sei, die Haupt-
puni<tc aus der jüngsten Berichterstattung des englischen Vizekonsuls
in Musch über die Lage der Dinge in Armenien zur Kenntnis der
italienischen Regierung zu bringen. Das sich hieran anschließende
Resümee schilderte die armenischen Zustände als völlig anarchische,
beschuldigte die Türken aller möglichen Greuel und stellte schließlich
Bankerott und Zerfall in nahe Aussicht 2,
Ich benutzte diesen Anlaß, um in Anknüpfung an frühere Ge-
spräche zwischen uns von neuem hervorzuheben, daß Italien sein
Gewissen durch die armenischen Angelegenheiten ebensowenig belastet
zu fühlen brauche wie Deutschland und Österreich-Ungarn. Ich ließ
hierbei wiederum einfließen, wie das sicherste Mittel, die Engländer
von der Beteiligung an Orientkonflikten zu entbinden, darin bestehen
würde, daß Italien ohne vorheriges vertragsmäßiges oder tatsächliches,
aber festes englisches Engagement die Orientfrage im ganzen oder in
einzelnen Teilen zu seiner eigenen Sache machet.
Baron Blanc stimmte meinen Ausführungen mit der Bemerkung
bei, daß er sich auch in der armenischen Frage weder von England
vorschieben noch für England die Kastanien aus dem Feuer holen
wolle. Der Minister fügte hinzu, daß er auf den Brief meines eng-
lischen Kollegen nur mit einer Empfangsbestätigung antworten werde.
B ü 1 o w
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Abschrift:
1 Donnerwetter das ist ja die reine Conspiration!
2 also wie in Wien
' richtig
Nr. 2477
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 282 Wien, den 17. Dezember 1895
Ganz vertraulich
Graf Goluchowski las mir gestern abend einen Bericht des Grafen
Deym vor. Derselbe behandelt eine Unterredung des Botschafters
mit Lord Salisbury über die Lage im Orient. Graf Deym berichtet,
daß aus den Äußerungen Lord Salisburys hervorzugehen scheine, daß
er jedes eigenmächtige Handeln vermeiden wolle und sich eng an die
gemeinschaftlichen Schritte der Mächte anzulehnen beabsichtige 1. Er
sieht in der Erledigung der Stationärfrage* ein Symptom der Beruhigung
* Vgl. Kap. LXII, B.
124
und läßt durch den Botschafter dem Grafen Goluchowski zu dessen
Erfolg gratulieren 2.
Zum Schluß des Berichtes spricht Graf Deym die Befürchtung
aus, daß die von den englischen Blättern aller Parteien erneut auf-
genommenen Klagen über die armenischen Zustände Lord Salisbury
trotz seiner besten Dispositionen für die Durchführung der gemein-
schaftlichen Aktion in ein anderes Fahrwasser drängen könnten.
In gewisser Weise hat diese Besorgnis eine Begründung da-
durch erfahren, daß mein englischer Kollege gestern den Grafen
Goluchowski im dienstlichen Auftrage aufsuchte, um ihn auf die Un-
haltbarkeit^ der armenischen Zustände aufmerksam zu machen und
anzufragen, was Graf Goluchowski vorschlüge*, um Abhülfe zu
schaffen?
Der Minister sagte mir ziemlich erregt, daß er Sir Edmund
Monson sehr energisch erklärt habe, er werde unter keinen Um-
ständen seine Hand dazu bieten, sich in ein ganz aussichtsloses Unter-
nehmen einzulassen. Er bedauere von Herzen das Elend der unglück-
lichen verhungernden Weiber und Kinder, aber wolle vor allen Dingen
vermieden wissen, daß aus der englischen erregten öffentlichen Mei-
nung die alte armenische Frage zu neuem Leben erwache. Das könne
die mühevoll erreichte Entente der Mächte über den Haufen werfen
und noch schwierigere Situationen schaffen, als bisher zu überwinden
gewesen seien 5.
Von dem accord ä trois ist in den letzten Tagen keine Rede ge-
wesen. Den hohen Weisungen folgend, habe ich das Thema nicht
berührt. Ich vermute, daß Graf Goluchowski nach Ankunft des Grafen
Deym darauf zurückkommen wird. P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
* Was das heißt wissen wir
2 mit Speck fängt man Mäuse
3 das stimmt
* wirklich naiv!
5 gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
England, Russland und Frankreich hatten ja im Sommer so schön angefangen!
Nr. 2478
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 224 Rom, den 20. Dezember 18Q5
Baron Blanc erzählte mir, daß mein englischer Kollege Sir Cläre
Ford ihm gegenüber nochmals schriftlich auf die armenische An-
gelegenheit zurückgekommen sei. In dringlicher Form und unter aus-
125
drücklicher Bezugnahme auf eine spezielle Weisung Lord Salisburvs*
habe Sir Cläre den Wunsch ausgedrückt, daß der italienische Bot-
schafter in Konstantinopel angewiesen werden möge, sich c\entuellen
neuen Schritten des englischen Botschafters in der armenischen Frage
anzuschließen.
Er habe, fuhr Baron Blanc fort, auf die zweite englische Demarche
erwidert, daß ihm kein Grund vorzuliegen scheine, dem italienischen
Botschafter in Konstantinopel neue Instruktionen zukommen zu lassen,
da derselbe ohnehin angewiesen sei, sich an allen Vorstellungen zu
beteiligen, über welche alle übrigen Botschafter einig wären 2.
Als ich Baron Blanc sagte, ich könne es nur durchaus billigen,
daß er sich gerade in der armenischen Frage nicht von Großbritannien
vorschieben lasse, meinte derselbe, er denke weniger als je daran,
für England die Kastanien aus dem Feuer zu holen. England wolle
die armenische Angelegenheit aufbauschen, damit sich Italien in der-
selben engagiere, hinterher aber letzteres im Stiche lassen. Er werde
sich jedoch nicht fangen lassen.
Baron Blanc äußerte schließlich, daß die italienische Levante-
division* nach dem Hafen von Tarent zurückkehren solle 3. Nur zwei
Schiffe — „Piemonte" und „Partenope" — würden zunächst noch in
den türkischen Gewässern bleiben. Die Zurückberufung der Levante-
division werde nach außen mit marinetechnischen Gründen motiviert
werden, solle aber auch den Engländern zeigen, daß Italien denselben
nicht ohne tatsächliche Gegenleistungen oder vertragsmäßige Ver-
pfHchtungen zu Gebote stehe*.
B ü 1 o w
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Hatzfeldt sofort mittheilen
Randbemerkungen des Kaisers:
^ Ist dodi ganz unerhört
dann hat Salisbury Hatzfeld behumpst!
' gut
8 gut
wäre sie doch gleich da geblieben
* sehr gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
Büiow Blanc von mir danken und zu seiner korrekten Haltung beglückwünschen
Da war meine Konversation mit Swaine** ja sehr apropos!
Wenn das so weiter geht werden die Continentalmächte nächstens Schritte
berathen müssen zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen gegen England.
• Vgl. Kap. LXII, B, Nr. 2509, 2512.
** Vgl Bd. XI, Kap. LXIII, Nr. 2579.
126
Nr. 2479
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichsl^anzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 233 Pera, den 16. Dezember 1895
Die Einigkeit, welche bisher unter den liiesigen Vertretern der
Großmächte in betreff ihrer Haltung dem Sultan gegenüber — wenig-
stens äußerlich — bestand, beginnt immer fraglicher zu werden.
Sir Philip Currie dringt immer mehr darauf, daß der Sultan
öffentlich entlarvt und auf diese Weise den Mächten die Möglichkeit
gegeben werde, ihn zu fassen, um ihn an weiterer Anstiftung von
Unheil zu verhindern.
„Der Frevler, welcher bereits gegen hunderttausend Menschen
abgeschlachtet habe und noch nicht gesättigt sei, müsse aus allgemeinen
Menschlichkeitsrücksichten endlich unschädlich gemacht werden."
Herr von Nelidow dagegen weist alle Zumutungen zurück, welche
darauf abzielen, gegen den Sultan direkt vorzugehen und ihm irgend-
welchen Zwang in der Ausübung der Regierung aufzuerlegen.
Beide Kollegen suchten mich, ein jeder für seinen Standpunkt
privatim zu gewinnen.
Nelidow vertraute mir an, daß seine Instruktionen ihm positiv
vorschrieben, den Sultan zu stützen, auf alle Fälle aber jede Teilnahme
an Schritten abzulehnen, welche von seinen Kollegen im Sinne eines
unfreundlichen Vorgehens gegen denselben vereinbart werden könnten,
Sir Philip Currie wies auf den wachsenden Unmut der öffentlichen
Meinung in England und auf die daraus sich ergebende Wahrschein-
lichkeit hin, daß seine Regierung sehr bald dazu gedrängt werden
dürfte, in irgendeiner Weise energisch gegen den Sultan — den An-
stifter so grenzenlosen menschlichen Elends — vorzugehen. Auch
die übrigen Mächte könnten doch nicht Rußland zu Gefallen dulden,
daß die gesamte Türkei durch die Schuld Abdul Hamids der vollen
Anarchie anheimfiele.
Eingedenk der mir erteilten Weisung hielt ich mich beiden Bot-
schaftern gegenüber gleich vorsichtig zurück und bemerkte nur, wie
wünschenswert es mir scheine, unter uns einig zu bleiben, um durch
möglichst gleichmäßige und objektive Berichterstattung an unsere Re-
gierungen der Gefahr vorzubeugen, bei denselben eine divergierende
Beurteilung der hiesigen Verhältnisse entstehen zu lassen.
Nach der Haltung des hiesigen französischen Botschafters zu
schließen, scheint dessen Regierung — wenn auch im großen und
ganzen russische Heeresfolge leistend — nicht so milde gegen den
Sultan und sein Tun gestimmt, wie dies in St. Petersburg der Fall ist,
und würde eventuell kaum Partei für Abdul Hamid ergreifen wollen,
127
falls man englischerseits eines Tages ungeduldig werden und sich zu
direkteren Unternehmungen gegen diesen bewogen fühlen sollte.
Der Sultan, als feiner Beobachter, hat längst die entstandene
Wandlung in der Politik der ihm bisher geschlossen gegenüber ge-
standenen Mächte erfaßt und beginnt augenscheinlich, auf einen Rück-
halt an Rußland in etwaigen für ihn eintretenden schlimmen Lagen zu
zählen.
Daß damit der Wiederherstellung der Ordnung in Kleinasicn
wenig gedient wird, ist klar. Vielleicht hat eben auch Rußland ein
gesondertes politisches Interesse daran, die Zustände daselbst immer
mehr in Fäulnis übergehen zu sehen.
In mancher Beziehung mögen die europäischen Mächte Ursache
haben, eine solche Politik zu beklagen, indessen liegen für dieselben
die aus den kleinasiatischen Zuständen sich ergebenden Gefahren
immerhin sehr viel ferner als diejenigen, welche aus einem etwaigen
Ausbruch von Unordnungen in den europäischen Provinzen der Türkei
— also Mazedonien — eventuell entstehen könnten.
Diesen rechtzeitig vorzubeugen, dürfte wohl gegenwärtig ein
Hauptinteresse der „konservativen" Mächte sein.
Gewisse verdächtige Anzeichen deuten bereits darauf hin, daß
man sowohl in Bulgarien, als in Griechenland, ja vielleicht sogar in
Serbien sich für eine im nächsten Frühjahr in Szene zu setzende Aktion
vorzubereiten beginnt.
Der Vorwand dafür würde schnell gefunden sein: „Versprochene
und nicht ausgeführte Reformen seitens der türkischen Regierung."
Ein gemeinsames Einwirken der Mächte — einerseits auf die
Balkanstaaten im Sinne einer Dämpfung ihrer Aspirationen, anderer-
seits auf den Sultan, zum Zweck einer schnellen Gewährung und Ein-
führung von Reformen in Mazedonien — würde die Ruhe im Balkan
und damit den status quo in der Türkei, der ja doch, so mangelhaft
derselbe auch sein mag, gewünscht werden muß, bis auf weiteres
aufrecht erhalten können.
Für eine derartige gemeinsame Einwirkung der Mächte dürfte
sogar auch Rußland zu haben sein — wenigstens soweit den Bestim-
mungen des Artikel 23 des Berliner Vertrages damit Rechnung ge-
tragen wird.
Vorstehende Bemerkungen habe ich geglaubt, Euerer Durchlaucht
vorlegen zu sollen, da ich, nach Äußerungen meines österreichisch-
ungarischen Kollegen zu schließen, es für nicht unmöglich halte,
daß dessen Regierung bei den übrigen Kabinetten Umfrage halten
könne, ob die Ergreifung derartiger Sicherheitsvorkehrungen zur Be-
gegnung etwaiger neuer Wirren im Orient nicht angezeigt erscheinen
möchte.
Saurma
128
Anhang
Die Episode von Zeitun
•9 Die Große Politik. 10. Bd.
Nr. 2480
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 234 Pera, den 17. Dezember 1895
Vertraulich
Nach Äußerungen des hiesigen englischen Botschafters befindet
sich das Kabinett Salisbury der englischen öffentlichen Meinung gegen-
über in einer sich immer mehr verschlimmernden Verlegenheit. Das-
selbe erkennt, daß baldigst etwas Durchgreifendes im Interesse des
Schutzes der Armenier in Kleinasien geschehen müsse, wenn die Re-
gierung dem eigenen Lande gegenüber ihre Stellung behaupten wolle.
Dessenungeachtet wird Sir Philip Currie von London aus stets
darauf hingewiesen, daß die englische Regierung nur in Gemeinschaft
mit den übrigen Regierungen eventuell aktiv hier vorgehen würde.
Auf Rußland wird hierbei jetzt nicht mehr gezählt. Dagegen hofft man
auf eventuelle Unterstützung von Österreich und Italien. Letzteres
würde, nach der von Herrn Pansa gezeigten Haltung zu urteilen, bei
allem dabei sein ^ in der Hoffnung, daß irgendein materieller Vor-
teil aus dieser seiner Beteiligung für dasselbe entstehen könnte.
Österreich würde schwerer zu irgendwelchen Unternehmungen
gewonnen werden können. Baron Calice faßt die Lage der hiesigen
Verhältnisse sehr viel kühler auf und hält sich mehr zurück wie sein
italienischer Kollege, welcher jung und tatenlustig ist.
Wie die Dinge übrigens hier jetzt stehen, so dürfte sich zunächst
kaum eine direkte Veranlassung zu gewaltsamem Eingreifen für Eng-
land mehr bieten.
Das Schlimmste, was den Armeniern geschehen konnte, ist ge-
schehen, ohne daß von England mit den Waffen gegen die Türkei
eingeschritten wurde. Nennenswerte Greuel dürften von jetzt ab,
außer vielleicht in Zeitun — wo es sich aber um wirkliche Rebellen
handelt* — , kaum mehr zu erwarten sein. Der Winter verbietet von
* Die Armenier von Zeitun, einer Bergstadt im Taurus, hatten sich, um dem
drohenden Massaker vorzubeugen, mit den Waffen gegen die türkische Regie-
rung erhoben. Am 30. Oktober 1895 hatten sie den türkischen Gouverneur und
die Besatzung der türkischen Kaserne gefangen genommen. Einer türkischen
Armee von 50 000 Mann, die gegen Zeitun aufgeboten wurde, gelang es nicht,
9- 131
selbst die Raubzüge der kurdischen Horden. Im eigensten Interesse
wird der Sultan selbst die letzten Flammen der wilden Exzesse in
Kleinasien zu ersticken suchen.
Auf diese Weise kann also angenommen werden, daß England
kaum mehr in die Lage kommen wird, die Regierungen von Öster«
reich-Ungarn und Italien in irgendwelche Unternehmungen hinein-
zuziehen, welche im Grunde doch wohl nur englischen Interessen
dienen würden i.
Übrigens möchte ich eine von Sir Philip Currie mir jüngst ver-
traulich gemachte Bemerkung nicht unerwähnt lassen. Derselbe er-
klärte nämlich, als er mir die gegenwärtige peinliche Lage seiner Re-
gierung schilderte, daß jetzt in England auf alles gern würde ein-
gegangen werden, was zur Rettung der Armenier in Kleinasien dienen
könnte — selbst um den Preis, daß Rußland die von den Greueln
heimgesuchten armenischen Provinzen militärisch okkupieren wollte 2.
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
2 olle Kamellen
Nr. 2481
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. Q4 Berlin, den 18. Dezember 1895
Lassen Sie unverzüglich den Sultan wissen, daß weder die deutsche
noch sonst eine befreundete Regierung für ihn mit Aussicht auf Erfolg
der öffentlichen Meinung Europas wird entgegentreten können, falls
diese den Sultan verantwortlich macht für das Scheitern der Versuche,
die Episode von Zeitun zu einem menschenwürdigen Abschluß zu
bringen.
Marschall
die von den Armeniern verteidigte Stadt zu erobern. Als der Kommandeur der
Truppen Remzi Pascha weitere 50 000 Mann Verstärkung verlangte, wurde er
durch Edhem Pascha ersetzt. Zugleich nahm der Sultan auf den Rat des deut-
schen Botschafters das Angebot der Mächte an, durch die Konsuln von Aleppo
eine gütliche Vereinbarung zwischen den Aufständischen und der türkischen Re-
gierung herbeizuführen. Am 30. Januar 1896 trafen die Konsuln in Zeitun ein und
schlössen am 10. Februar einen Vertrag ab, in dem den Zeituniaten nicht nur
völlige Amnestie, sondern auch Steuererlaß für einige Jahre, christliche Gen-
darmerie und ein christlicher Gouverneur von der Pforte unter Garantie der
Mächte zugestanden wurde. In diesem einzigen Falle eines bewaffneten Auf-
standes sind die Mächte den Armeniern zu Hilfe gekommen; der Masse des arme-
nischen Volkes, die wehrlos abgeschlachtet wurde, ist wirkliche Hilfe und Sühne
von Seiten der Mächte versagt geblieben. '
132
Nr. 2482
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 236 Pera, den 19. Dezember 1895
pp. Unangenehm sind die süßen Worte zu iiören, vvelclie der
Sultan 1 durch Vermittelung Tevvfik Paschas an die Botschafter ge-
langen läßt, und welche von Ausdrücken väterlicher Milde und Nach-
sicht für seine verblendeten Untertanen in Zeitun überfließen, in dem
Augenblick, wo er augenscheinlich entschlossen ist, die große Blut-
arbeit beginnen zu lassen.
Der mir zugegangenen hohen Weisung gemäß, werde ich sofort
die entsprechenden Warnungen an den Sultan gelangen lassen.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Ein ekelhafter Mensch!
Nr. 2483
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm II.
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Berlin, den 24. Dezember 1895
Zu dem hierneben ehrfurchtsvollst vorgelegten Telegramm Nr. 177*
aus Konstantinopel verfehle ich nicht alleruntertänigst zu melden, daß
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät Botschafter bereits er-
mächtigt ist, nach Maßgabe seines in dem Telegramm enthaltenen
Antrags zusammen mit den anderen Botschaftern im Interesse der
Menschlichkeit zu wirken.
Marschall
Nr. 2484
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 177 Pera, den 23. Dezember 1895
Zeitun ist der Zufluchtsort für Tausende von armenischen Flücht-
lingen aus der Umgegend geworden.
Siehe die folgende Nummer.
133
Neue Kapitulationsverhandlungen sind türkischerseits versucht
worden, aber fruchtlos geblieben, weil die Zeituner den türkischen
Versprechungen mißtrauen.
Die hiesigen armenischen Patriarchen* glauben, daß eine gütliche
Vereinbarung zwischen beiden Parteien zustande kommen dürfte, wenn
seitens Delegierter der hiesigen fremden Vertreter vermittelt würde.
In einer heutigen Botschafterbesprechung kamen wir dahin über-
ein, Instruktionen bei unseren Regierungen einzuholen, betreffend die
eventuelle Ermächtigung, unsere guten Dienste der Pforte in der
gedachten Richtung freundschaftlich anzubieten.
Vielleicht könnte auf diese Weise der großen Gefahr vorgebeugt
werden, daß die als Sieger die Stadt später erstürmenden Truppen
große Greuel in der darin befindlichen dichten armenischen Bevölkerung
anrichteten.
Basis der Kapitulation würde sein: Schonung der Unschuldigen,
sowie der Weiber und Kinder — dagegen Bestrafung der Anstifter
der Rebellion und derjenigen Armenier, welche sich gemeiner Ver-
brechen schuldig gemacht habend.
Als Delegierte für die gedachte Vermittlung dürften sich die
Konsuln von Aleppo empfehlen.
Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
i Ich fürchte daß das alles leere Phrase ist! Sobald unsre Delegirten fort sind
schlagen sie alles todt!
Schliißbemerkung des Kaisers:
Ich verspreche mir von diesem Schritt ebensowenig wie von den endlosen zum
Gelächter Europas gewordenen Besprechungen der sechs Botschafter der
6 „Impuissances" wie die Türken uns nennen! Kanonenkugeln nach Jildis
hinein ist das Einzisre was zieht.
Nr. 2485
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 2 Pera, den 3. Januar 1896
Die Pforte hat unsere angebotene Mediation** zwischen ihr und
den Aufständischen von Zeitun angenommen, nachdem ihre Versuche,
selbst mit den Armeniern zu unterhandeln, gescheitert sind.
Die Konsuln von Aleppo wur-den daher gemäß unserer früheren
* Der gregorianische und der katholische armenische Patriarch.
** In einer Konferenz der Botschafter vom 28. Dezember war beschlossen worden,
der Pforte die Vermittlung in Zeitun durch die Konsuln von Aleppo anzubieten.
134
Vereinbarung von uns beauftragt, das Nähere unter sich wegen Zu-
standebringens einer Einigung zwischen den Zeitunesen und den türki-
schen Truppen hinsichtlich einer beiderseitig annehmbaren Kapitulation
zu beraten.
Saurma
Nr. 2486
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 25 Pera, den 13. Februar 1896
Die Mediation zwischen den Aufständischen in Zeitun und der
Pforte ist nunmehr zu beiderseitiger Zufriedenheit beendigt.
Meine Kollegen gaben mir in herzlicher Weise ihren Dank für
die von mir übernommene Vermittelung zu erkennen, welche für ge-
wisse, zwischen uns Botschaftern und dem Minister des Äußern in
der Sache zu treffende Vereinbarungen wünschenswert angesehen
worden war.
Saurma
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.
Decoration vorschlafen
Nr. 2487
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 105 Pera, den 18. April 1SQ6
Die Angelegenheit von Zeitun, welche den Gegenstand einer
längeren Reihe von Berichten von mir gebildet hatte, dürfte gegen-
wärtig als abgeschlossen anzusehen sein, wenigstens insoweit, als die
Kaiserliche Regierung Interesse dafür gezeigt hat.
Die 30000 Armenier, welche menschlicher Berechnung nach dem
Tode geweiht waren, sind durch die freundschaftliche Intervention
der deutschen und der englischen Regierung, denen sich später auch
die Regierungen der übrigen Großmächte angeschlossen haben, ge-
rettet worden, pp.
Saurma
13=
Kapitel LXII
Versuche einer Neugruppierung der Mächte
Graf Ooluchowskis Fiasko 2. Hälfte 1895
A. Ooluchowskis Balkanpolitik
Nr. 2488
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg, z. Z. in Ischl, an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 199 Ischl, den 8. August 1895
Vertraulich
Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph hatte die Gnade, mir
während meiner Anwesenheit in Ischl eine Audienz zu gewähren, bei
welcher höchstderselbe seine Ansicht über verschiedene politische
Fragen äußerte.
Die in Bulgarien nach der Ermordung Stambulows* eingetretene
Lage beschäftigte Seine Majestät in erster Linie, und der Kaiser ver-
urteilte auf das schärfste das Auftreten des Prinzen Ferdinand, dessen
Eitelkeit und Hochmut schlimme Früchte getragen hätten. War nun
auch Seine Majestät besorgt, daß eine Revolution in Bulgarien aus-
brechen würde, so schien der Kaiser doch dieser ernsten Eventualität
mit der Ruhe eines Mannes entgegenzusehen, der seine Entschlüsse
gefaßt hat. Seine Majestät sagten mir in sehr bestimmtem Tone:
„Ich werde niemals dulden, daß Rußland allein seine Hand auf Bulgarien
hälti.*' — Diese Äußerung stimmt mit den Ansichten überein, von
denen ich zu berichten früher die Ehre hatte. Es betrifft den Punkt,
wo sich die Auffassung Seiner Majestät und des Orafen Kalnoky
nicht deckten. Letzterer suchte die Verständigung mit Rußland auch
auf Kosten Bulgariens, während der Kaiser am Schluß seines viel-
geprüften Lebens ängstlich darauf bedacht ist, dasjenige zu sichern,
was ihm als Äquivalent für die verlorenen italienischen Länder und
die Vorherrschaft in Deutschland zugefallen ist. Hierzu gehört, daß
er seine Hand neben Rußland im Balkan halten kann.
Ich glaube darum nicht zu irren, wenn ich die Ansicht äußere,
daß der Kaiser sich auch einer Auslieferung der Dardanellen oder
Konstantinopels an Rußland entschieden widersetzen 2 — wenigstens
dem nur unter Gewinnung eines vollwertigen Kompensationsobjekts
zustimmen würde. Seine mir vor längerer Zeit gemachte Äußerung:
„Ich gebe niemals zu, daß Rußland Konstantinopel nimmt-^," deckt
sich mit seiner jetzigen Haltung gegenüber Bulgarien.
* Stambulow starb infolge eines Attentates am 18. Juli 1895.
139
In Graf Goluchovvski * hat Seine Majestät einen Minister ge-
wonnen, der in diesen Fragen aus eigener Überzeugung neben ihm
steht. Die Ereignisse in Bulgarien, die schwer zu durchschauende
Politik Rußlands und die damit erzeugte Unsicherheit haben den
latenten Russenhaß des polnischen Grafen wieder zu deutlicherem
Ausdruck gebracht. Er hat darum in einer Unterhaltung mit seinem
alten Pariser Freunde Kapnist** die Stellung Österreichs zu Bul-
garien in einer viel unzweideutigeren Weise präzisiert, als es jemals
sein Vorgänger getan haben würde. Er erzählte mir, daß er das vor-
sichtige Sondieren des russischen Botschafters mit den Worten unter-
brochen habe: „Wir wollen als alte Freunde ehrlich sprechen und
uns klar darüber werden, wie wir miteinander stehen. Mein Standpunkt
ist, über den Frieden trotz aller Schwierigkeiten sorgsam zu wachen.
Kommt es aber zu irgendeiner Änderung in Bulgarien, so verlangt
Österreich die Aufrechterhaltung seines Einflusses daselbst neben Ruß-
land," Graf Kapnist hat diese Äußerung dem Fürsten Lobanow mit-
geteilt und von ihm den Auftrag erhalten, dem Grafen zu antworten,
daß auch Rußland alles tun werde, den Frieden im Balkan zu erhalten,
im übrigen nichts dagegen einzuwenden habe, daß Österreich in Bul-
garien mitrede.
Die bestimmte Sprache des Grafen und der Erfolg desselben —
der allerdings durch die Entfesselung der panslavvistischen Agitation
in Bulgarien mit ihren Folgen stark in Frage gestellt werden kann
und auch wegen der ziemlich allgemein gehaltenen Antv/ort Lobanows
immerhin noch zweifelhaft erscheint — wird das Vertrauen seines
Monarchen zu ihm bedeutend erhöht haben.
Der Unterschied in der Auffassung und Behandlungsweise der
Balkanfragen zwischen Grafen Goluchowski und seinem Vorgänger
tritt schon jetzt deutlich zutage.
Wie weit freilich die russenfreundlichen Tendenzen des Wiener
Hochadels, bei dem Graf Goluchowski viele Attachen hat, und dessen
Gunst er sicherlich nicht missen will, die antirussischen Tendenzen
des Grafen modifizieren werden, bleibt abzuwarten.
In engem Zusammenhange mit dieser Haltung steht die Wirkung
der geänderten Regierung in England*** auf Kaiser Franz Joseph und
seinen Minister. Seine Majestät sprachen mir weitgehende — zu weit-
gehende — Hoffnungen auf die von Salisbury zu erwartende Politik
aus. Der Kaiser schien einen engeren Anschluß Englands an den Drei-
bund zu erwarten-*, wenn er auch vermied, von einem „Bündnis'' zu
* Nach dem Rücktritt des Grafen Kalnoky war Graf Goluchowski am 15. Mai
1895 zum Minister des Äußern ernannt worden.
** Peter Graf Kapnist, anfangs der SOer Jahre Botschaftsrat in Paris, war Nach-
folger des Fürsten Lobanow als Botschafter in Wien geworden.
*** Seit dem 26. Juni war, an Stelle des zurückgetretenen Kabinetts Rosebery, wieder
ein konservatives Kabinett Salisbury am Ruder.
140
sprechen. Augenscheinlich aber gab ihm die neue Regierung in Eng-
land einen höheren Grad von Zuversicht bezüglich der Stellung Öster-
reichs zum Balkan. Auch Graf Goluchowski schien ähnliches zu emp-
finden. Er sprach von der Notwendigkeit und Nützlichkeit, im Mittel-
meer Italiens und Englands Stellung zu kräftigen. Er sprach aus, daß
man das Gegengewicht gegen Frankreich nach Möglichkeit stärken
müsse, und hielt es daher für wichtig, Spanien wieder näher an Italien
zu ziehen. Der Graf wird noch näher auf dieses Thema eingehen,
vorderhand betonte er den lebhaften Wunsch Seiner Majestät des
Kaisers Franz Joseph, die Königinregentin gegenüber dem Andrängen
französischer republikanischer Einflüsse zu schützen und Spanien dem
Dreibund lieber zu gewinnen, als es den Franzosen in die Arme zu
treiben. Seine Majestät der Kaiser berührte mir gegenüber diese
Frage nur in der Form, daß er einen möglichst engen Anschluß Eng-
lands, Italiens und Spaniens wünsche, um im Mittelmeer ein Bollwerk
gegen das republikanische Frankreich zu gewinnen, welches destruk-
tive Tendenzen in den romanischen Monarchien verbreite.
Meine Eindrücke möchte ich dahin zusammenfassen, daß dem
Grafen Goluchowski angesichts der Lage in Rußland und auf dem
Balkan die Bedeutung des Dreibundes in frappanter Weise vor Augen
geführt ist, und daß sowohl Kaiser Franz Joseph als seinem Minister
durch das gleichzeitige Wiedereintreten Salisburys in die Politik bis
zu einem gewissen Grade der „aggressive Mut" gestiegen ist. Das
ging auch aus Bemerkungen des Grafen hervor, die den Ausdruck „Ruß-
land, unser gemeinsamer Feind" enthielten, sowie aus den Betrachtun-
gen über die Unmöglichkeit für Deutschland, aus den Balkanfragen
herauszubleiben — was ich mit der gebührenden Reserve beant-
wortete, pp. P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Was denn?
" sehr unpraktisch! Die Dardanellen kann sich Russland alle Tage ungehindert
einstecken wenn es will! Er sollte an gute Compensationsobjecte denken
3 er kann es aber doch nicht hindern
* abwarten
Nr. 2489
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Wien
Grafen zu Eulenburg
Konzept
Nr. 641 Berlin, den 19. August 1895
[abgegangen am 21. August]
Euerer Exzellenz beehre ich mich, beifolgend den gefälligen Be-
richt Nr. 199 vom S.d.Mts.* mit den Randbemerkungen Seiner Majestät
* Siehe Nr. 2488.
141
zu Ihrer gefälligen Information zu übersenden. In weiterer Ausführung
bemerke ich hierzu ergebenst folgendes:
Aus den Äußerungen des Kaisers Franz Joseph und des Grafen
Goluchowski, welche in den gefälligen Berichten Euerer pp. Nr. 1Q9
und Nr. 202 vom 8. bzw. 11. d. Mts. mitgeteilt sind, ergibt sich, daß
die österreichisch-ungarische Regierung damit umgeht, auf der Balkan-
halbinsel eine ein- und durchgreifendere Politik als bisher zu verfolgen,
und daß sie hierfür auf unsere Unterstützung rechnet. Während Öster-
reich-Ungarn einerseits offenbar nicht daran denkt, im Falle eines
Zusammenbruchs der Türkei Rußland Konstantinopel und die Meer-
engen zu überlassen, trägt es sich andererseits unverkennbar mit der
Absicht, auch in Bulgarien dem russischen Einflüsse Konkurrenz zu
machen.
Eine Unterstützung dieser Absichten unsererseits ist keineswegs
selbstverständlich. Eine solche würde vielmehr, sofern es sich um
eine österreichische Aggressivaktion handelte, im Widerspruch mit
allen Traditionen unserer Balkanpolitik stehen.
Allerdings ist es den Bemühungen des Fürsten Bismarck seinerzeit
nicht gelungen, in Wien und St. Petersburg die von hier aus vorge-
schlagene Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären auf der
Balkanhalbinsel — Bulgarien für Rußland, Bosnien und die Herzegowina
mitsamt Serbien für Österreich-Ungarn — zur Annahme zu bringen*.
Gleichwohl sind wir auch heute noch von der Richtigkeit irgendeiner
solchen friedlichen Scheidung durchdrungen, und dies um so mehr,
als die Ereignisse der Vorhersage des Fürsten Bismarck recht gegeben
haben, welcher ein Steigen des russischen Einflusses in Serbien als
notwendige Folge der Verdrängung Rußlands aus Bulgarien be-
zeichnete.
Wenn Graf Goluchowski jetzt ebenso, wie seinerzeit Graf Kälnokv
mit österreichischen Absichten auf Bulgarien hervortritt, so kann man
demselben zunächst erwidern, daß Österreich-Ungarn den Einfluß in
Sofia, welchen es — unter Inanspruchnahme unserer Unterstützung —
jetzt wieder zu gewinnen sich anschickt, bis vor wenigen iMonaten
unbestritten besessen hat. Durch die Gunst der Verhältnisse, fast ohne
jedes eigene Zutun, und ohne daß dadurch der europäische Friede
gefährdet worden wäre, hatte Österreich-Ungarn aus dem Staatsstreich
von 1886 für sich Nutzen gezogen und in Bulgarien festen Fuß gefaßt.
Aber die starke Position, die es dort innehatte, hat es ebenso kampf-
los, wie es sie gewann, auch wieder verloren, weil es Stambulow,
dem es allein sie verdankte, stürzen ließ, ohne auch nur einen Finger
zu seiner Rettung zu rühren. Es ist sogar noch die Frage, ob nicht
gerade Österreichs Vertreter in Sofia** es war, der, in seinem empfind-
* Vgl. Ed. V, Kap. XXX, S. 37.
** Baron von Burian.
142
liehen Selbstgefühle durch Stambulow verletzt, die Minierarbeit der
Fürstin Ferdinand unterstützte.
Wenn Graf Goluchovvski jetzt für die bulgarischen Aspirationen
Österreich-Ungarns auf unsere Mitwirkung zählt, so vermag ich mein
Erstaunen darüber nur schwer zu unterdrücken. Nach all den ausführ-
lichen Erörterungen, welche die Kabinette von Berlin und Wien seit
Jahren über diesen Gegenstand gehabt haben, hätte ich geglaubt,
beiderseitiges Einverständnis darüber voraussetzen zu dürfen, daß die
Aufgabe, Rußlands Stellung in Bulgarien einzuzwängen, außerhalb der
vertragsmäßigen Ziele der deutschen Politik liegt. Denn beim ersten
Abschlüsse der Verträge — im Jahre 1879 — ■ war Rußland im vollen
Besitze des dauernden Einflusses in Bulgarien, und die Schwenkung des
Fürsten Alexander konnte an der Tragweite unserer Abmachungen mit
Österreich nichts ändern.
Graf Goluchovvski hat es gewissermaßen als selbstverständlich be-
zeichnet, daß ein Brand im Balkan auch uns unter allen Umständen
in Mitleidenschaft ziehen würde. Demgegenüber muß entschieden be-
tont werden, daß sich weder vor der deutschen öffentlichen Meinung
noch vor dem Deutschen Reichstage eine Politik mit Erfolg vertreten
ließe, welche darauf abzielt, behufs Verhinderung der Wiederherstellung
des früher in Bulgarien bestandenen russischen Einflusses den Frieden
mit Rußland zu stören.
Hierbei darf auch, wie ich zu Ew. pp. ganz persönlicher Er-
wägung bemerke, die Möglichkeit nicht außer acht gelassen werden,
daß Rußland, wenn es uns auf seinem Wege nach Konstantinopel
findet, sich zunächst gegen uns allein wendet, wobei es der Unter-
stützung Frankreichs gewiß ist, welche ihm bei einem Vorgehen auf
der Balkanhalbinsel, solange wir neutral bleiben, vermutlich fehlen
würde.
Behufs Stärkung des österreichischen Vorgehens auf der Balkan-
halbinsel trägt sich Graf Goluchovvski nach Ew. pp. gefälligem Be-
richte Nr. 202 mit der Absicht, die Signatarmächte des Berliner Ver-
trages über ihre Absichten für den Fall des Eintritts anarchischer
Zustände in Bulgarien zu sondieren. Abgesehen davon, daß die Frage
vorläufig eine rein akademische ist, indem anarchistische Zustände
bisher nicht eingetreten sind, würde Österreich-Ungarn hierbei schwer-
lich allgemeines Entgegenkommen finden, am wenigsten bei England,
welches mit Recht befürchten wird, daß, wenn erst einmal das Schicksal
türkischer Tributstaaten und Provinzen vor das Forum Europas ge-
zogen wird, auch die Aufrollung der ägyptischen Frage sich nur schwer
wird umgehen lassen. Es wird sich daher empfehlen, wenn Graf
Goluchovvski sich über dieses Projekt zuerst vertraulich mit England
auseinandersetzt. Was uns angeht, so werden wir selbständig und
vom Standpunkt unserer eigenen Interessen zu prüfen haben, wie weit
wir Österreich-Ungarn bei etwaigen, in den Verträgen nicht vor-
143
gesehenen Spezialplänen unterstützen können, und wo die Grenze liegt,
welche zu überschreiten uns die Selbsterhaltungspflicht verbietet.
Wenn Graf Goluchowski das neuliche Thema wieder berühren
sollte, wird es sich, um keine unerfüllbaren Hoffnungen zu ermutigen,
empfehlen, wenn Ew. pp. sich bei Ihren Äußerungen von den vor-
stehend kurz angedeuteten Gesichtspunkten leiten lassen.
C. Hohenlohe
Nr. 2490
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an den
Reictiskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 249 Wien, den 28. Oktober 1895
Die Auffassung des Grafen Goluchowski über die orientalische
Lage ist wieder beruhigter geworden*. Seine nervöse Erregtheit, über
die ich vor einiger Zeit berichten konnte, hat sich einigermaßen gelegt,
ist aber keineswegs ganz geschwunden. Der Minister hält, wie er mir
gestern sagte, die Gefahr ernster Verwickelungen zwar augenblick-
lich für beseitigt, mit der Möglichkeit und sogar Wahrscheinlichkeit
derselben infolge weiterer Ereignisse aber glaubt die hiesige Regierung
auch fernerhin rechnen zu müssen.
Wie ich wiederholt aus übereinstimmenden Äußerungen des Mi-
nisters und seines ersten Sektionschefs, des klugen und unterrichteten
Grafen Welsersheimb, feststellen konnte, erfüllt tiefes Mißtrauen die
hiesige Regierung mit Bezug auf den Fürsten Lobanow. Derselbe hat
nach Ansicht der hiesigen Staatsmänner alle Erwartungen enttäuscht,
die russische Politik ist seit seiner Berufung unheimlich geworden und
seltsam rege^. Den beruhigenden Worten des Fürsten in Berlin**
scheint man nur wenig Wert beizumessen, an seine Aufrichtigkeit
wird nicht geglaubt. Graf Goluchowski und sein erster Berater sind
vielmehr überzeugt, daß die russische Politik sich trotz augenblick-
licher Wendung nach Ostasien vornehmlich auf den Augenblick vor-
bereite, wo sie ihre Orientpläne zur Ausführung bringen könne. Die
erneuten Truppenverschiebungen an die russische Westgrenze sprechen,
wie Graf Goluchowski sagte, deutlich genug für diese Absichten. Ob
* Vgl. darüber Kap. LXI, A, Nr. 2431 f. Graf Goluchowski hatte Ende August, an-
gesichts der bisherigen Mißerfolge des „armenischen Dreibunds", d. h. Englands,
Rußlands und Frankreichs, in der armenischen Frage geplant, seinerseits aus der
bisher eingenommenen reservierten Haltung herauszutreten und den Mächten den
Vorschlag auf Einsetzung einer europäischen Kommission auf Grund Artikels 61
des Berliner Vertrags zu unterbreiten. Deutscherseits erklärte man sich indessen
dagegen, daß eine solche Initiative von der Dreibundmächten ausgehe. Vgl. Nr. 2420.
** Siehe Bd. IX, Nr. 2323.
144
diese auf Konstantinopel selbst oder nur auf die freie Durchfahrt gehen,
ist im Dunkeln.
Andererseits wird die Lage im Orient hier noch immer sehr ernst
beurteilt. Die Grafen Goluchowski und Welsersheimb sind davon
überzeugt, daß alle Reformen höchstens einen Aufschub, keineswegs
aber eine Rettung bedeuten. Den Zusammenbruch der türkischen Herr-
schaft in absehbarer Frist hält die hiesige Regierung für unabwendbar.
Graf Welsersheimb gab diese Ansicht zu erkennen unter gleichzeitigem
Hinweis auf die Notwendigkeit, sich schon jetzt über die weiteren
Folgen solcher Ereignisse, namentlich mit der eng verbündeten deut-
schen Regierung zu besprechen. Der erste Sektionschef setzte mir aus-
einander, wie unmöglich es für Österreich sein würde, eine russische
Umklammerung von Krakau nach Cattaro^ zuzulassen, wie nicht nur
Handelsinteressen, sondern auch die politische Entwickelung der habs-
burgischen Monarchie seit dem Jahre 1866 diese auf den Orient
anwiese^. Die schon bestehenden innerpolitischen Schwierigkeiten
legten jedoch die Frage nahe, ob fernere Oebietserwerbungen auf der
Balkanhalbinsel als Entgelt für russische Fortschritte nicht von zweifel-
haftem Werte seien*.
Wie mir Graf Goluchowski sagte, will der Minister, anscheinend
auf Anregung des Baron Calice, die Pforte dazu drängen, nunmehr
auch in Mazedonien Reformen einzuführen, um diese Frage, wenn
möglich, vorläufig zu erledigen und nicht den Vorwand zu Verwickelun-
gen mit Bulgarien zu geben. Im Grunde macht sich jedoch niemand
hier Illusionen über den Wert dieser „Reformen". Graf Welsersheimb
bezeichnete dieselben als „Sand in die Augen** pour la galerie, ohne
wirkliche Bedeutung. Um wirksame Besserungen in die Verwaltung
einzuführen, dazu fehle es den Türken am Willen und an der Macht;
ein Druck von außen zugunsten der Christen aber habe regelmäßig,
wie auch die jüngsten Vorgänge bewiesen, verhängnisvolle Erfolge.
Lord Salisbury hat nach Ansicht der genannten Herren nur die
Erbschaft seines Vorgängers übernommen und weiterführen müssen
und ist froh, nachdem der öffentlichen Meinung wenigstens durch einen
äußern Erfolg* Genüge geschehen, sich wieder „aus der Sackgasse"
zurückziehen zu können s. Überhaupt herrscht für den britischen
Premier von neuem eine günstigere Stimmung; Graf Goluchowski
hat sich über die Absichten desselben beruhigt; der Verdacht heim-
licher Zwecke ist anscheinend gewichen.
„Man muß die Engländer nicht zu schlecht behandeln," meinte
der Graf aus eigener Initiative, „sie sind für uns keine quantite
negligeable im Orient, wir brauchen sie wegen der Russen. Preßkriege
* Am 17. Oktober hatte der Sultan den ihm von England, Rußland und Frank-
reich oktroyierten Reformplan genehmigt Siehe Kap. LXI, A, Nr, 2434.
10 Die Große Politik. 10. Bd. 1^5
bedeuten nicht viel, aber der Ton der britischen und deutschen Presse
war letzthin sehr bedauerlich."
Der Vorwurf krasser Interessenpolitik sei unbegründet, jedes
Bündnis, auch das unsrige, beruhe lediglich auf Interesse, unbeschadet
der persönlichen Freundschaft der betreffenden Diplomaten.
Ich hatte wiederum den bestimmten Eindruck, daß Graf
Goluchowski jene Unterstützung seiner defensiven Orientpolitik, die
er bei uns nicht zu finden sich bewußt ist, in England sucht. Er
wünscht dringend ein Bündnis oder eine Verständigung mit London
für den Fall der Wahrung gemeinsamer Interessen im Orient und für
die Notwendigkeit der Abwehr russischer Gelüste.
Graf Goluchowski wird, hierüber dürfen wir uns nicht täuschen,
eine Lösung der orientalischen Frage in russischem Sinne nicht ge-
statten. Sein ganzes Sinnen ist auf diesen einen Punkt gerichtet, die
Ereignisse werden ihn vorbereitet finden. Die orientalische Frage
ist für ihn eine politische Lebensfrage und ein Ehrenpunkt!
Bemächtigt sich jedoch Rußland des Orients, und Österreich-
Ungarn bleibt passiv, so stürzt der jetzige Minister, und die Stellung
dieser Monarchie an der Seite Deutschlands ist in der Umarmung
Rußlands auf die Dauer unhaltbar geworden. Der Verzicht auf jede
Orientpolitik ist ein Kardinalpunkt des politischen Glaubensbekennt-
nisses aller hiesigen Gegner des Dreibundes. Wenn erst die Balkan-
völker im unmittelbaren Dienste der Politik der slawischen Interessen-
gruppe stehen, statt sich wie bisher wenigstens zum Teil den um die
deutsche Politik gruppierten Nationen anzulehnen, kann die Leitung
der auswärtigen Politik Österreichs wohl kaum lange mehr dem Drucke
seiner 17 Millionen außerpolnischen Slaw'en und der mit diesen ver-
bündeten Klerikalen widerstehen, welche sich jetzt in der Richtung
der deutsch-magyarischen Interessen bewegen müssen.
Welches ist das Programm einflußreicher Hof- und Gesellschafts-
kreise, der sogenannten Feudalen, sowie auch das der erzherzoglichen
Thronfolger? Rückverlegung der Legislative in die Landtage, Dele-
gierung in den Reichsrat wie ehedem, Auslieferung Böhmens, A^ährens
und Schlesiens an das Tschechentum, Begünstigung der Kroaten, Serben,
Slowaken und Walachen in Ungarn, vor allem aber: Niederwerfung
des Magyarentums, Verzicht auf jede Orientpolitik, wenn nötig auch
auf Bosnien und Dalmatien und — engster Anschluß an Rußland!
Eine slawische Politik nach innen und außen!
C. M. Lichno wsky
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Richtig
• davon ist ja nicht die Rede!
3 Saloniki gehört dann doch Oesterreich
4 !
* ist er schon hinaus?
146
Nr. 2491
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an den
Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 251 Wien, den 30. Oktober 1895
Während meines heutigen Besuches beim Grafen Goluchovvski
kam der Herr Minister abermals auf unser Verhältnis zu England zu
sprechen und klagte zwar in freundschaftlichster Form, aber nicht
ohne einen leisen Anflug von Gereiztheit über die scharfe Sprache,
welche unsere Presse gegen die Briten führe. Diese Fehde könne doch
das beiderseitige Verhältnis in einem Maße beeinflussen, das sich
unter Umständen — der Graf spielte auf den Orient an — in un-
erwünschter Weise fühlbar machen würde. Er nannte es „epouser
la quereile de la Russie avec TAngleterre" und ließ die Bemerkung
fallen, daß diese Haltung auch dem Kaiser Franz Joseph aufgefallen
seil.
Als ich mir hierauf zu entgegnen erlaubte, daß meines Wissens
der „Standard" den Anfang gemacht* und sich nur eine gerecht-
fertigte Zurückweisung geholt habe 2, im übrigen aber durch unsere
Beziehungen zu Großbritannien ein auf gemeinsamen Sonderinteressen
beruhendes Einvernehmen unserer Verbündeten mit dem Inselreich
nicht berührt werde, da wir nicht in gleichem Maße am Orient be-
teiligt seien, entgegnete der Graf, er könne diese leider auch in unserer
Presse immer wiederkehrende Anschauung ganz und gar nicht teilen.
Eine Trennung unserer politischen Interessen sei schon deshalb un-
denkbar, weil jede Schwächung des einen Bundesgenossen auch den
anderen schädigen müsse. Der Orient ginge daher uns geradeso an
wie sie 3. pp.
Der Herr Minister besprach diese Gegenstände mit überlegten
Worten und in unverkennbarer Absicht.
C. M. Lichnowsky
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 f
2 Richtig
3 ahem! zu deutsch: wir sollen helfen die Russen nicht nach Stamboul hereinzulassen
Schlußbemerkung des Kaisers:
Die Knochen des Pommerschen Grenadiers werden so wenig für London als
für Stamboul eingesetzt werden.
* Vgl. Kap. LX, Nr. 2385, Fußnote *. Der Artikel des ministeriellen „Standard"
hatte eine sehr überhebliche Kritik an der deutschen Politik, besonders in der ost-
asiatischen Frage geübt und u.a. bemerkt: das Entgegenkommen Englands, welches
Deutschland so lange genossen habe, sei für dieses wertvoller als irgendein
momentanes Resultat, welches aus dem Kokettieren mit Rußland oder Frankreich
entstehen könnte. Der Artikel des „Standard" war in der deutschen Presse viel
erörtert und meist mit großer Schärfe zurückgewiesen worden.
10« 147
Nr. 2492
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an den
Reicilskanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 254 Wien, den 2. November 1895
Die Vermutung, daß Graf Goluchowski angesichts der AVöglichkeit
einer Aufrollung der orientalischen Frage eine Verständigung mit dem
Kabinett von St. James gesucht, habe ich gestern im Laufe einer längeren
Unterredung mit dem hiesigen britischen Botschafter bestätigt ge-
funden.
Sir Edmund Monson, der den Ruf besitzt, zu den brauchbarsten
Diplomaten Ihrer most gracious Majesty zu gehören, verhehlte nicht,
daß er den Grafen in den letzten Zeiten sehr beunruhigt gefunden,
namentlich während der Anwesenheit des russischen Ministers in
Paris*. Der britische Vertreter brauchte die Ausdrücke: „most uneasy''
und „very nerv'ous". Auf meine Bemerkung, daß hauptsächlich die
Besorgnis vor einer russischen Offensive im Orient den k. und k. Mi-
nister des Äußern zu erregen schiene, meinte der Botschafter, daß
derselbe auch ihm sein Mißtrauen gegen den Fürsten Lobanow und
dessen orientalische Pläne zu erkennen gegeben, zugleich aber habe
Graf Goluchowski ihm auf das bestimmteste erklärt, eine Lösung der
orientalischen Frage im russischen Sinne nicht dulden zu wollen.
„He declared most positively that he is determined not to allow it.*'
Sir Edmund hat dem Minister erwidert, daß er hierbei ganz auf die
Unterstützung Englands rechnen könne. Auch habe seine Regierung
diese Zusage nachträglich gebilligt. „I was approved saying so.*'
England und Österreich hätten identische Interessen im Orient.
In der Annahme eines regen ferneren Gedankenaustausches zwi-
schen ihm und dem Grafen Goluchowski über die türkischen Angelegen-
heiten benutzte ich die Gelegenheit, um Sir Edmund zu bedeuten,
daß unsere Auffassung der genannten Fragen immer die gleiche und
unverändert geblieben sei, seit Bestehen des Bündnisses, jetzt, wie
früher zu Zeiten des Fürsten Bismarck. Graf Goluchowski habe daher
unrecht, eine regere Beteiligung Deutschlands an seinen südöstlichen
Sorgen zu erwarten, die Kaiserliche Regierung könne und werde in
diesen Dingen nie den Standpunkt passiver Neutralität und die ver-
tragsmäßige Grundlage verlassen, und müsse den zunächst beteiligten
Mächten die selbständige Wahrung ihrer eigenen Wünsche überlassen.
Sir Edmund gab die Richtigkeit dieser Ausführungen zu mit dem
Wunsche, wenigstens einer „sympathisierenden Neutralität" unserer-
seits sicher zu sein.
* Vgl. Bd. IX, Kap. LVIII, Nr. 2320.
148
Auf den Fürsten Lobanow übergehend, erzählte er, daß der russi-
sche Minister vor seiner Abreise sich von ihm in den wärmsten Aus-
drücken verabschiedet habe, mit der Versicherung, alles zu tun, um
entsprechend den lebhaften Sympathien des Zaren für die britische
Nation herzliche Beziehungen zu erhalten. Ihm sei daher die jetzige
Spannung schwer verständlich, um so mehr, als auch für Ostasien
keine England bedrohenden russischen Pläne zu bestehen schienen.
Er glaube mehr, daß es ein bloßer Zeitungskrieg sei*, üraf Golu-
chowski habe ihm zwar gesagt, kurz nachdem Graf Kapnist bei ihm
gewesen, indes ohne ihn als Quelle zu nennen, daß der Grund der
russischen Verstimmung gegen England in der verlängerten Anwesen-
heit der britischen Flotte in der Nähe der Dardanellen** zu suchen sei.
Schließlich meinte der Herr Botschafter noch, daß Lord Salis-
bury sich am 9. d. Mts. gelegentlich eines Festessens über die aus-
wärtigen Fragen äußern werde***.
C. M. Lichnowsky
Nr. 2493
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 663 London, den 2. November 1895
Im Laufe unserer gestrigen ganz vertraulichen Unterhaltung kam
Lord Salisbury selbst wieder auf die Beziehungen Englands zu Öster-
reich zurück. Er wiederholte nochmals, daß man in Wien wegen der
orientalischen Frage, und namentlich hinsichtlich seiner Haltung zu
derselben noch immer besorgt sei, und knüpfte daran nochmals die
Versicherung, daß er zu dieser Besorgnis keinerlei Anlaß gegeben
habe. Er wisse den Wert, den die Freundschaft Österreichs eventuell
* Tatsächlich hatte seit den letzten Oktobertagen eine lebhafte russisch-englische
Preßfehde über die orientalische Frage eingesetzt. Im amtlichen russischen „Re-
gierungsboten" hieß es am 29. Oktober: „Nach der Meinung politischer Kreise
gibt es keine mit dem Orient durch wesentliche Interessen verknüpfte Macht,
welche sich nicht empörte über die Manieren einer zweideutigen Politik der bri-
tischen Diplomatie, welche beinahe die Frage einer Teilung der Türkei berührte.
Niemals äußerte sich in Europa das Gefühl des Mißtrauens gegen die Richtung
der englischen Politik und ihre Ziele in so handgreiflicher Weise wie gegen-
wärtig."
** Vgl. Kap. LXI, B, Nr. 2446.
*** Tatsächlich äußerte sich Salisbury auf dem Lordmayors-Bankett vom 9. No-
vember auch über die Orientfrage: die Aspekten in der armenischen Frage seien
nicht eben friedlich; der Sultan gefährde trotz allen Wohlwollens der Mächte seine
Existenz, wenn er sich nicht zu Reformen verstehe; die Mächte seien einig in
dem Entschlüsse, die Klagen der Unterdrückten abzustellen.
149
für England haben würde, vollständig zu schätzen und werde daher
nichts tun, was die österreichischen Interessen im Orient beeinträchtigen
könnte. Ganz beiläufig bemerkte er dazu, daß er einmal unter dem
Eindruck der Vorgänge in der Türkei mit mir — aber auch nur mit
mir — gewisse entfernte Eventualitäten akademisch besprochen habe,
welche jetzt in den Hintergrund getreten seien*.
Als ich, ohne hierauf näher einzugehen, die Bemerkung fallen ließ,
daß ich mir die Besorgnisse der österreichischen Staatsmänner wohl
erklären könne, da sie sich wohl sagen müßten, daß sie einem fait
accompli im Orient gegenüber allein machtlos sein würden und auf
die rechtzeitige und tatkräftige Hülfe Englands nicht im voraus mit
Bestimmtheit rechnen könnten, erwiderte der Minister mit Lebhaftig-
keit: „Dasjenige fait accompli, welches man in Österreich am meisten
fürchtet, würde ein Versuch Rußlands sein, sich Konstantinopels zu
bemächtigen, und in diesem Fall würde es sich denn doch darum han-
deln, wer zuerst am Platz ist.*' Ich erwiderte ihm, diese Bemerkung,
wenn ich sie richtig verstände, erinnere mich an eine Unterredung,
die ich vor einer Reihe von Jahren über dasselbe Thema mit ihm
gehabt hätte. Er habe mir damals gesagt, daß er den Telegraphen,
durch welchen er mit der englischen Mittelmeerflotte in fortgesetzter
Verbindung stehe, jeden Augenblick mit seinem kleinen Finger in Be-
wegung setzen könne, und daß die Flotte dann in einer sehr kurzen
Frist, deren ich mich nicht mehr genau erinnerte, vor den Dardanellen
erscheinen könnte**. Lord Salisbury entsann sich seiner damaligen
Äußerung genau und fügte hinzu, daß nach seinen Ermittelungen die
eventuelle Forcierung der Dardanellen jetzt vielleicht mit geringeren
Schwierigkeiten verbunden sein würde, als man damals angenommen
hätte.
Aus diesen Äußerungen und der ganzen Haltung des Ministers
hatte ich auch diesmal wieder den Eindruck, daß er den größten Wert
darauf legt, die Österreicher und auch uns davon zu überzeugen, daß
er alle mit seiner früheren Politik in Widerspruch stehenden Pläne
aufgegeben und in sein altes Fahrwasser zurückgekehrt ist. Ich will
damit keineswegs sagen, daß ihm nur daran gelegen ist, diesen Ein-
druck hervorzubringen, und daß er sich nicht wirklich zu seiner früheren
Auffassung bekehrt hat. Es scheint mir sogar wahrscheinlich, daß er
sich nach wiederholtem Umhertasten von der Fruchtlosigkeit des Ver-
suchs, mit Rußland resp. Frankreich zu einer für England annehm-
baren Verständigung zu gelangen, überzeugt hat und zu der Erkenntnis
gelangt ist, daß das Interesse Englands nur durch Wiederaufnahme
seiner alten Politik möglichster Erhaltung der Türkei und naher Be-
ziehungen zum Dreibund gewahrt werden kann. Dabei verheimlichte
* Vgl. Kap. LX.
** Vgl. Bd. IX, Nr. 2128.
150
aber Lord Salisbury auch heute nicht, daß er bestimmte Verpflichtun-
gen über die Behandlung der orientalischen Frage auch Österreich
gegenüber nicht im voraus eingehen könne. Er bemerkte dazu, daß
er, wie ich nach meiner Kenntnis der hiesigen Verhältnisse wissen
müsse, in dieser Hinsicht von der eventuellen Entwickelung der Krisis
im Orient und von dem Eindruck, den dieselbe auf die hiesige öffent-
liche Meinung ausübe, abhängen werde. Ein etwaiges plötzliches und
gewaltsames Vorgehen der Russen gegen Konstantinopel würde, wie
er mit Sicherheit annehme, hier eine solche Entrüstung hervorrufen,
daß das englische Kabinett energische Gegenmaßregeln ergreifen
könnte, ohne in der öffentlichen Meinung auf Widerspruch zu stoßen.
Meinerseits habe ich mich darauf beschränkt, die von Lord Salis-
bury angeregten Fragen akademisch zu besprechen, ohne ihm nach
irgendeiner Richtung zu- oder abzuraten.
Ich glaube noch erwähnen zu dürfen, daß Lord Salisbury auch bei
dieser Gelegenheit auf den angeblichen geheimen Vertrag zwischen
Rußland und China zurückkam und sich wieder dahin aussprach, daß
es ihm durchaus nicht unerwünscht sein würde, wenn Rußland im
fernen Osten weitgehende Pläne verfolgen und zu diesem Zweck einen
erheblichen Teil seiner Streitkräfte dort konzentrieren wolle. Er be-
merkte dazu, daß es auch für uns ein Vorteil sein würde, wenn ein
Teil der russischen Armee, statt an der Weichsel konzentriert zu
werden, in Ostasien festgehalten würde. Je tiefer sich Rußland dort
engagiere, um so weniger werde es auch in der Lage sein, mit ent-
sprechenden Kräften im Orient aufzutreten.
P. Hatzfeldt
Nr. 2494
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 4. November 1895
Der österreichisch-ungarische Botschafter* suchte mich heute nach
seiner Rückkehr aus Urlaub auf, um mir die Eindrücke darzulegen,
welche er aus seinen Unterredungen mit Graf Goluchowski, den er
auf der Durchreise in Wien gesprochen, bezüglich der gegenwärtigen
politischen Lage gewonnen hat. Ich entnahm daraus, daß der öster-
reichische Minister der Entwickelung der Dinge in Konstantinopel
mit steigender Besorgnis gegenübersteht, daß er dagegen zu der Politik
* von Szögyeny-Marich.
151
des englischen Kabinetts zurzeit größeres Vertrauen besitzt als noch
vor kurzem, andererseits unsere Beziehungen zu England ihm einige
Sorgen bereiten. Herr von Szögyeny war durch Seine Majestät den
Kaiser über den Maletschen Zwischenfall* im allgemeinen orientiert;
ich nahm Veranlassung, ihm einige Details darüber mitzuteilen und
ihm gleichzeitig zu sagen, daß Lord Salisbury das Vorgehen Malets
bereits desavouiert habe und voraussichtlich Sir Frank Lascelles**
den Auftrag erhalten werde, formelle Erklärungen in dieser Beziehung
abzugeben.
Bezüglich der Lage in der Türkei bestand zwischen dem Bot-
schafter und mir Übereinstimmung darüber, daß die neuesten Nach-
richten aus Konstantinopel eine Art Zersetzungsprozeß in dem staat-
lichen Organismus der Türkei erkennen ließen, von dem es zweifel-
haft sei, ob er mit Erfolg noch bekämpft werden könne. Die so oft
ventilierte Frage, wie Österreich-Ungarn sich einem eventuellen tat-
sächlichen Eingreifen Rußlands gegenüber stellen, und welche Haltung
Deutschland einnehmen werde, falls daraus ein österreichisch-russischer
Konflikt entstehe, trat naturgemäß bei dem weiteren Verlaufe unseres
Gesprächs in den Vordergrund. Ich führte dabei etwa folgendes aus:
Der Grundgedanke des Dreibundes sei, daß die Gefährdung der
Existenz und Machtstellung einer der drei Mächte eine schwere Gefahr
für die beiden anderen biete. Die hierdurch begründete Interessen-
gemeinschaft finde ihren Ausdruck in der Festlegung des casus foederis
für bestimmte Eventualitäten. Ergebe sich aus dieser vertragsmäßig
fixierten Gemeinschaft ganz naturgemäß die Konsequenz, daß die
drei Staaten, soweit möglich, bei ihren politischen Aktionen enge
Fühlung untereinander hielten, so sei doch der Dreibund keine Zwangs-
jacke, welche die Handlungsfreiheit seiner Glieder beschränke oder
aufhebe. Jeder Staat habe seine speziellen Interessen, deren Wahrung
er nach freiem Ermessen obliegen könne; für derartige Aktionen und
ihre Folgen trage er selbstverständlich auch die alleinige Verantwort-
lichkeit. Wolle ein Staat über den geschriebenen casus foederis hinaus
sich die Unterstützung eines Bundesgenossen sichern, so setze dies
eine vorherige Verständigung ad hoc voraus. Wir hätten neben dem
allgemeinen Interesse der Friedenserhaltung keinerlei direkte Interessen
im Orient; die Frage, ob die Russen oder die Türken Konstantinopel
besäßen, ob Bulgarien mehr oder minder sich im russischen Fahr-
wasser befinde, interessiere uns wenig; in diesem Sinne sei das Wort
von den Knochen des pommerschen Grenadiers noch heute vollkommen
zutreffend i. Für Österreich-Ungarn läge die Sache, wie wir an-
erkennten, anders; wie weit dieses Interesse gehe, mit welchem Rechte
ein Teil der öffentlichen Meinung namentlich in Ungarn eine Be-
* Siehe Bd. XI, Kap. LXIII, Nr. 2578 und 2579.
** Sir E. Malets Nachfolger als englischer Botschafter in Berlin.
152
Setzung Konstantinopels durch die Russen als mit dem Lebensinteresse
Österreich-Ungarns unverträglich erachte, sei nicht unsere Sache zu
entscheiden; in dieser Hinsicht sei die österreichisch-ungarische Re-
gierung in erster Reihe kompetent. Wünsche man aber, wenn auch
nur höchst eventuell, unsern Beistand im Konfliktsfall, dann hätten
wir auch mitzureden, und je aufrichtiger dies geschehe, um so besser.
Es sei ja in politicis ungemein schwer, sich darüber zu äußern,
was man tun werde, wenn künftige noch völlig ungewisse Eventualitäten
einträten. Das heute noch ganz unübersehbare wo? wie? wann?
unter welchen Umständen? spiele eine so entscheidende Rolle, daß
alle Beschlüsse und Vorsätze von heute wieder umgestoßen werden
könnten. Auch lägen zurzeit keine Anzeichen dafür vor, daß Ruß-
land besonders begierig sei, die orientaHsche Frage aufzurollen. Wir
hätten ja eine Zeitlang das merkwürdige Schauspiel gesehen, daß Ruß-
land und England die Rollen vertauschten; ersteres sei für die Er-
haltung der Türkei eingetreten, letzteres habe sein möglichstes getan,
um den morschen Bau zu Fall zu bringen. Inzwischen habe ja das
Londoner Kabinett seinen Rückzug angetreten und appelliere nun-
mehr an die Autorität des Sultans zur Herstellung der Ordnung,
nachdem man vorher in Rede und Schrift alles getan, um jene Autorität
zu ruinieren*.
Führten die gegenwärtigen Ereignisse — was ja nicht ausge-
schlossen — im weiteren Verlaufe zu einer Intervention Rußlands
oder kurz gesagt, zu einer russischen Besetzung Konstantinopels,
so werde die Frage eines aktiven Vorgehens Österreich-Ungarns sich
unter einem verschiedenen Gesichtspunkte darstellen, je nachdem
England an der Aktion teilnimmt, d.h. bereits in Aktion
ist oder nicht 2. Im letzteren Falle, d.h. wenn England beiseite
bleibt, könne ich dem Botschafter ganz offen sagen, daß wir alles auf-
wenden würden, um Österreich-Ungarn von dem Eintreten in einen
Konflikt mit Rußland abzuhalten 2. Ein österreichisch-russischer Krieg
wegen des Orients mit England als Zuschauer würde nichts sein als
die Ausführung des alten englischen Programms, daß England seine
Kriege durch andere Staaten führen lasse ^. Hierfür seien wir nicht
zu haben. Trete Österreich-Ungarn trotzdem aktiv auf, so werde es
lediglich auf eigenes Risiko handeln.
Eine weitere entscheidende Frage werde sein, ob Rußland im
Orient allein auftrete oder mit dem Schwergewichte der russisch-
französischen Verbrüderung.
Man habe für dieses Verhältnis noch keinen adäquaten Ausdruck
gefunden. Das sei natürlich, denn die vorhandenen Bezeichnungen
für Verhältnisse unter Staaten paßten alle nicht auf den nie dagewesenen
♦ Vgl. Kap. LXL
153
Fall, daß eine Großmacht einfach eine andere im Schlepptau führe.
Wir hätten die Tradition guter Beziehungen zu Rußland über-
nommen und wollten diese erhalten, aber eine traditionelle Freundschaft
zu Rußland-Frankreich bestehe für uns nicht. Die Versicherun-
gen des Fürsten Lobanow, daß Rußland Frankreich in friedlichen
und konservativen Bahnen halten werde, hätten bei uns nicht ver-
fangen^. — Das Kabinett Bourgeois-Cavaignac* sei ein guter Kom-
mentar zu Lobanows Versicherungen. — Die Gefahr des russisch-fran-
zösischen Verhältnisses bestehe darin, daß es in Rußland die Anmaßung
zeitige, durch die Drohung mit dem Schwerte zweier Großmächte
alle Fragen in seinem Sinne lösen zu können. Deutschland habe diese
Gefahr erkannt, als Rußland-Frankreich sich anschickte, Japan nieder-
zurennen und danach die ostasiatische Frage nach seinem Belieben
zu ordnen. Unsere Teilnahme an der Aktion habe diese Pläne durch-
kreuzt**; ein voller Erfolg sei nicht möglich gewesen, w^eil England
in unbegreiflicher Kurzsichtigkeit sich fern gehalten habe. Aber dar-
über seien wir uns klar, daß, wenn Rußland-Frankreich erst einen
durchschlagenden Erfolg durch ,,bullying" einer einzelnen Macht davon-
getragen, dies einen gefährlichen Präzedenzfall bilden werde. Und
es sei gewiß, daß, wenn Rußland-Frankreich die ostasiatische Frage
gegen das übrige Europa, die orientalische Frage gegen Österreich-
Ungarn und England usw. im russischen Sinne geordnet haben
werde, eines Tages auch Frankreich seinen Lohn bekomme, und hier-
für nicht Äg}'pten oder Nordafrika, sondern Elsaß-Lothringen in Aus-
sicht genommen sei 6.
Aus alledem ergebe sich, wie dringend notwendig es sei, daß
Österreich-Ungarn nicht im voraus isoliert seine orientalische Politik
festlege. Wir wüßten, daß Graf Goluchowski so wenig wie sein Vor-
gänger eine aggressive Politik auf der Balkanhalbinsel betreibe oder
gar auf Abenteuer ausgehen werde; eine solche Befürchtung bestehe
hier nicht; wir hielten aber volle Aufrichtigkeit für den besten Freund-
schaftsdienst, den wir leisten könnten. Der Fall sei allerdings mög-
lich, daß eine gegen unsern Rat unternommene Aktion schließlich
die Existenz und Machtstellung Österreichs in einem Maße gefährden
könnte, um auch uns in Aktion zu bringen, immerhin würde es aber
dann lediglich von unserm Ermessen abhängen, den Zeitpunkt und die
Modalitäten des Einschreitens zu bestimmen.
Der Botschafter schien von meinen Ausführungen sehr befriedigt
und hob her\'or, daß er persönlich die Unmöglichkeit einer Abteilung
der Interessensphäre, wie sie früher Fürst Bismarck geplant, nicht
einzusehen vermöge und einen Versuch nach dieser Richtung, wenn
* Nach dem Sturz des Ministeriums Ribot hatte am 1. November Bourgeois das
neue Kabinett gebildet mit Cavaignac als Kriegsminister und Berthelot als Außen-
minister.
** Vgl Bd. IX, Kap. LVII.
154
erst der Stein ins Rollen gekommen, zur Abwendung eines Konflikts
für durchaus geboten erachte. Ich entgegnete ihm, daß ich seine Auf-
fassung teile, und Österreich-Ungarn auf die guten Dienste Deutsch-
lands rechnen könne 7, wenn es sich seinerzeit mit Rußland über die
Balkanfrage zu verständigen wünsche. Einstweilen begrüßten wir mit
Freude die Nachricht, daß neuerdings das Londoner Kabinett mit dem
Wiener engere Fühlung bezüglich der orientalischen Frage gesucht
habe.
Herr von Szögyeny beklagte schließlich, daß die deutsche Presse
die deutsche Auffassung der orientalischen Frage vielfach in einer Art
darlege, welche in Österreich-Ungarn Entmutigung und Pessimismus
hervorrufe.
Marschall
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Einverstanden 6/XI. 93. W.
Randbemerkungen des Kaisers:
1 Richtig
2 Hauptsache
3
ja
* sehr gut
^ richtig
6 gut
Ma
Nr. 2495
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Wien
Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 824 Berlin, den 5. November 1895
[abgegangen am 6. November]
Die in dem Wiener Bericht Nr. 254* wiedergegebene Äußerung
des Kaiserlichen Geschäftsträgers, daß Deutschland wegen der türki-
schen Meerengen nie in Aktion treten werde, veranlassen mich zu
einigen einschränkenden Bemerkungen.
Die Meerengen für sich allein, als Verkehrsstraße oder als
strategische Punkte betrachtet, sind allerdings für Deutschland keine
Kriegsgefahr wert. Wenn aber die Frage, wer in den Meerengen
herrschen soll, zu einem Kriege führt, welcher die Großmachtstellung
des Staates A oder des Staates B zu gefährden geeignet ist, so handelt
es sich von da ab für Deutschland nicht mehr um die Bedeutung der
Meerengen, sondern um die Bedeutung der Großmacht A oder B.
* Siehe Nr. 2492.
155
Rußland, welches uns durch Verwandtschaft der souveränen
Häuser, wie auch durch tatkräftige Bundesgenossenschaft im Laufe
der letzten anderthalb Jahrhunderte wiederholt nahe getreten war,
hat als solches für Deutschland die Bedeutung eines sympathischen
und günstigen Machtfaktors, vom Standpunkt der Tradition, wie von
dem der politischen Ziele aus betrachtet: denn zwischen Rußland und
Deutschland besteht — was kaum von zwei anderen Großmächten
mit der gleichen Bestimmtheit behauptet werden könnte — keinerlei
Ausbreitungskonflikt. Wenn daher Rußland die iiroberung der Meer-
engen ins Auge faßte, so würden wir, wie das unser allergnädigster
Herr auch bereits in autoritativer Weise ausgesprochen hat, schon
deshalb diesem Projekte nicht feindselig entgegentreten, weil Ruß-
land, welches solange auf seine Politik der Unabhängigkeit und der
freien Hand stolz war, durch die einfache Logik zu der Überzeugung
geführt werden würde, daß es sich vor dem Eintritt in eine so folgen-
reiche Aktion mit den uns befreundeten Mittelmeermächten über die
Entschädigungsfrage zu verständigen hat — ein Bestreben, bei welchem
unsre uneigennützige Vermittelung von vornherein gesichert wäre.
Eine andre Beurteilung aber müßte die russische Politik von
deutscher Seite erfahren, wenn die jetzige demonstrative franko-
russische Zärtlichkeit in Taten umgesetzt, wenn aus dem Zarentum
und der Republik wirklich eine Gruppe mit festen politischen Zielen
würde. Denn einerseits wäre die Auffassung, daß zwischen Deutsch-
land und Rußland kein Interessenkonflikt besteht, in dem Augenblick
hinfällig, wo letzteres sich in Fragen der auswärtigen Politik mit
Frankreich identifiziert. Andrerseits läge die Besorgnis nahe, daß
Rußland im Vertrauen auf die ihm verfügbare französische Macht
hinfort weniger Wert auf eine gütliche Verständigung mit Österreich-
Ungarn und Italien legen würde.
Angesichts einer solchen Rückkehr Rußlands zu dem — schon
einmal mißglückten — Systeme de Tilsit würde die Bedeutung der
Machtstellung von Österreich-Ungarn, deren Erhaltung seit Jahrzehnten
eines der vornehmsten, wenn nicht das vornehmste Ziel unsrer aus-
wärtigen Politik war, sich wenn möglich noch steigern. Die
sicherste Art jedoch, wie im kritischen Falle diese Machtstellung
sich erhalten ließe, hängt von Verhältnissen ab, die heute noch nicht
zu übersehen sind.
Soviel aber kann ich schon heute sagen, daß wir alles tun werden,
was in unseren Kräften steht, um Österreich-Ungarn daran zu hindern,
daß es den Russen den Weg nach dem Suezkanal verlegt, während
England sich auf unverbindliche Erklärungen beschränkt und tatsächlich
im Hintertreffen bleibt.
C. Hohenlohe
156
Nr. 2496
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 835 Berlin, den 6. November 1895
Ew. pp, beehre ich mich, beifolgend Abschrift eines Berichtes des
Kaiserlichen Botschafters in London vom 2. d. Mts. über eine Unter-
redung mit Lord Salisbury* zu Ihrer gefälligen Information ergebenst
zu übersenden.
Aus den Äußerungen Lord Salisburys ergibt sich, daß derselbe
wieder beginnt, in die Bahnen der traditionellen englischen Politik ein-
zulenken, was wir nur mit Befriedigung begrüßen können. Zu be-
achten aber ist die Bemerkung Lord Salisburys, daß es für England
noch nicht an der Zeit sei, bestimmte VerpfUchtungen über die Be-
handlung der orientalischen Fragen einzugehen, und daß Englands
Haltung von der eventuellen Entwickelung der Krisis abhängig sei.
Unserer festen Überzeugung nach wird sich England überhaupt
nie binden noch auch jemals tatkräftig selbst eingreifen, solange es
nicht die feste Überzeugung gewinnt, daß andernfalls Österreich-
Ungarn für eine Verteidigung der in erster Linie englischen Interessen
absolut nicht zu haben ist.
Ew. pp. stelle ich ergebenst anheim, sich in diesem Sinne ge-
legentlich dem Grafen Goluchowski gegenüber zu äußern.
Marschall
Nr. 2497
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 258 Wien, den 8. November 1895
Ganz vertraulich
Ich fand bei meiner Rückkehr nach Wien den Grafen Goluchowski
durch die Lage im Orient ganz außerordentlich präokkupiert. Er ist
nervös und unruhig geworden, seit ich ihn das letzte Mal sah. Die
unverständliche und herumtastende Politik Englands hat ihm das
Gegengewicht gestört, dessen er zu seiner Beruhigung gegenüber
dem „Erbfeinde" Rußland bedurfte. Aus diesem Grunde ist sein ganzes
Streben darauf gerichtet, den Dreibund mit ' England Bahnen be-
schreiten zu sehen, die einen gewissen inneren Zusammenhang zur
Voraussetzung haben.
* Siehe Nr. 2493.
157
Es ist allerdings der glühend lebhafte Wunsch erklärlich, Eng-
land unzweifelhaft neben dem Dreibund zu sehen, wenn man zwei
Punkte in Erwägung zieht, welche die Basis der Anschauungen des
Grafen in der orientalischen Frage bilden:
1. Österreich kann nicht Rußland in Konstantinopel dulden oder
Rußlands Monopol auf die Durchfahrt durch die Dardanellen ge-
statten, weil sich die Balkanstaaten (insonderheit Bulgarien) sofort
um dieses neue russische Zentrum kristallisieren würden, resp. der
österreichische Einfluß im Adriatischen Meere verloren ginge.
2. Von Kompensationen kann für Österreich bfei einem Zusammen-
bruch der Türkei überhaupt keine Rede sein, weil jeder Zu-
wachs für die bestehende Staatsform Österreich-Ungarns eine Kalamität
ersten Ranges bedeuten würde.
Angesichts solcher Auffassung ist es nicht wunderbar, wenn Graf
Goluchowski nach England drängt, und wenn er nichts mehr be-
fürchtet, als eine Verständigung Englands mit Rußland, welche ihm
bei einer eingetretenen völligen Entmutigung Englands nicht aus-
geschlossen erscheint.
Ich habe heute dem Grafen noch wenig erwidert, weil ich seinem
Bedürfnis Rechnung trug, sich Luft zu machen und auszusprechen.
Immerhin habe ich aber schon jetzt keinen Zweifel darüber bestehen
lassen, daß Deutschland eine Politik Österreichs nicht unterstützen
könne, die in der Besitzergreifung Konstantinopels durch die Russen
den Kriegsfall erblickt.
Bei weiteren Besprechungen mit dem Grafen werde ich mit seiner
mir heute sehr bestimmten Erklärung zu rechnen haben:
„Solange ich im Amte bin, werde ich nicht zugeben, daß Ruß-
land nach Konstantinopel geht. Ich habe in dieser Hinsicht Seine
Majestät den Kaiser voll und ganz auf meiner Seite."
Auf meine Bemerkung, daß es mir nützlich erschiene, mündlich
Entschlüsse zu fassen über die Haltung der Kabinette von Berlin
und Wien im Falle von Überraschungen, die seitens Englands, Ruß-
lands oder der Türkei eintreten könnten, ging Graf Goluchowski leb-
haft ein.
Ich werde bei meiner nächsten Unterredung mit dem Minister
hierauf zurückkommen.
Aus den allgemeinen Betrachtungen des Grafen hebe ich als be-
merkenswert folgendes gehorsamst hervor:
Der Minister hält die Lage für sehr ernst, aber nicht momentan
für bedrohlich.
Rußland wird nicht den ersten Schritt am Bosporus tun, da ihm
das Aufrollen der Balkanfrage jetzt noch nicht erwünscht ist.
England wird sich in Selbsterkenntnis seiner schwachen militäri-
schen Verhältnisse und isolierten Lage nicht leicht entschließen, einen
Gewaltschritt zu machen, aber es kann, wenn es nicht einen gewissen
15S
Rückhalt an dem Dreibund — besonders an Deutschland — fühlt,
zu einer plötzlichen Verständigung mit Rußland getrieben v/erden,
welche für den Dreibund, in erster Linie aber für Österreich, die
schwerste Niederlage bedeute. Aus diesem Grunde seien gute Be-
ziehungen zu England zwingende Notwendigkeit.
Die größte Gefahr liegt in den Zuständen, welche im Türkischen
Reiche Platz gegriffen haben. Weniger in Armenien als in Mazedonien
und Bulgarien, wo jeden Augenblick die bestehende Gärung zu einem
Ausbruch kommen kann, welcher die österreichischen Interessen ganz
direkt berührt.
— Graf Goluchowski befindet sich in einer sehr schwierigen Lage,
weil er im Grunde nur den status quo für die einzige Existenzmögüch-
keit ansieht. Da er Kompensationen perhorresziert, ist seine Phantasie
lahmgelegt. Es wird daher schwer sein, das Bild zu malen, an dem
er Geschmack findet, und doch scheint es mir im allgemeinen besser
zu sein, diesen durch die eingetretene Lage zum Fanatiker des Drei-
bundes gewordenen Minister am Ballplatz zu haben, als einen Wechsel
eintreten zu sehen, der mit der ausgesprochenen Tendenz, sich mit
Rußland zu verständigen, vielleicht eine Operation vornimmt, die zum
Schaden Deutschlands und des Dreibundes ausfallen könnte.
Die Furcht vor einem Zuwachs an slawischen Elementen im
Osten des Reiches und der Gedanke, außer mit Ungarn in Zukunft
mit einem Slawenreiche zu tun zu haben, welches ähnliche Tendenzen
der Selbständigkeit wie Ungarn zeigen würde, übt auf einen öster-
reichischen Staatsmann, welcher im Zentrum der nationalen Bewegun-
gen innerhalb der habsburgischen Monarchie steht, einen lähmenden
Einfluß. Er erblickt als Zukunftsbild an Stelle des Ausgleiches nicht
nur zwischen Österreich und Ungarn, sondern zwischen diesen Staaten
und neuen slawischen Ländern den weiter entwickelten Ausgleich, die
Personalunion — d. h. den Anfang vom Ende.
P. Eulenburg
Nr. 2498
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Staats-
sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Privatbrief. Ausfertigung
VertrauHch Wien, den 9. November 1895
Euerer Exzellenz
gestatte ich mir zu meinem heutigen Berichte* ergebenst hinzuzufügen,
daß nach meiner Auffassung trotz aller energischen Haltung bezüglich
Konstantinopels Graf Goluchowski nicht daran denkt, ohne unsere
tatsächliche Unterstützung den Russen im Fall des Einmarsches
* Siehe Nr. 2497.
159
den Krieg zu erklären. Er wird seine Entschlüsse nach unserer Haltung
modifizieren.
Daß in hiesigen hohen und parlamentarischen Kreisen die An-
sicht weitere Verbreitung findet, sich mit Rußland zu verständigen,
habe ich konstatieren können. Diese Ansicht findet um so mehr An-
hänger, je mehr es transpiriert, daß der Leiter der Politik einen
extremen Standpunkt einnimmt.
Schließlich darf ich wohl um geneigte baldige Mitteilung bitten,
falls für meine Besprechung mit Graf Goluchowski bezüglich der
Haltung Österreichs bei Eintritt von Überraschungen noch besondere
Direktiven notwendig sein sollten.
P. Eulenburg
Nr. 2499
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 259 Wien, den 10. November 1895
Vertraulich
Der Botschafter Graf Wolkenstein*, mit dem ich seit oiner langen
Reihe von Jahren in freundschaftlichen Beziehungen stehe, und der
sich in offenster Weise mir gegenüber auszusprechen pflegt, hat auch
während seiner jetzigen kurzen Anwesenheit in Wien dieser Gewohn-
heit entsprochen.
Da der Graf midi bat, seine Äußerungen nur als persönliche und
vertrauliche zu betrachten, bitte ich Euere Durchlaucht, meinem ge-
horsamsten Berichte diesen Charakter geneigtest erhalten zu wollen.
In sehr auffallender Weise trat sein Gegensatz zu den politischen
Grundanschauungen des Grafen Goluchowski zutage.
,,Ich habe," sagte Graf Wolkenstein, ,, während meines langen
Aufenthaltes in Petersburg stets auf eine Verständigung mit Rußland
hingearbeitet und bin vom Grafen Kälnoky bis zu einem gewissen
Grade unterstützt worden. Das Märchen von der Gefährlichkeit Kon-
stantinopels in russischen Händen i habe ich mit allen Mitteln be-
kämpft. Rußlands sich immer stärker entwickelnder Handel bedarf
der Dardanellen. Daß Rußland den Besitz Konstantinopels anstrebt,
bezweifie ich. Man weiß in Petersburg, daß die Schaffung eines so
großen Zentrums im Süden das Reich mitten durchbricht. Graf Käl-
noky war in der Zustimmung zu meinen Gedanken vielfach gehemmt
— und zwar meistens dann, wenn er Anlehnung an Ungarn suchte.
Er war jedenfalls genötigt, seiner Zustimmung einen sehr vorsichtigen
Ausdruck zu verleihen."
• Seit 1894 Österreich-ungarischer Botschafter in Paris, vorher Botschafter in Petersburg.
160
Graf Wolkenstein, dessen deutsche Sympathien unzweifelhafte sind,
hat in dem Bestreben einer Verständigung mit Rußland ganz bona fide
und im Hinblick auf die Wiederherstellung des Drei-Kaiser-Bündnisses
gehandelt, während diejenige Partei, welche hier sein Programm ver-
tritt, mit äußerster Vorsicht betrachtet werden muß. Die Verständi-
gung mit Rußland auf Kosten Deutschlands ist ein Programm der
Herzen, welche 1866 wund geschossen sind.
„Meine Ansichten," fuhr Graf Wolkenstein fort, „will man jetzt
nicht hören. Weder Seine Majestät noch Graf Goluchowski haben
mich befragt, obgleich die Lage doch dazu angetan wäre, einen alten
Petersburger wie mich nach seiner Meinung zu fragen. Man scheint
sich mit der wahnsinnigen Idee zu tragen, eine Verständigung mit
England zu suchen, welches keine Garantien zu geben imstande ist.
Für mich besteht nur die eine politische Möglichkeit: eine fast willen-
lose Anlehnung an Deutschland, welches allein stark genug ist, uns
zu schützen, und in dessen Gesellschaft niemand wagen wird, uns
anzufallen oder exorbitante Forderungen an uns zu stellen.
Deutschland ist so stark, daß wir Italien nicht brauchen 2. Ich
erkläre Ihnen offen, daß, wenn ich Minister des Äußern geworden
wäre, so würde ich den Dreibund nicht erneuern 3. Es ist ja mög-
lich, daß ich darüber gefallen wäre, aber Italien ist eine unmögliche,
geradezu verderbliche Zugabe für uns*. Ein Bündnis mit itaUen ist
nur in Friedenszeiten denkbar. Verliert der Dreibund die Schlacht,
so büßen wir unsere italienischen Lande ein. Gewinnt er die Schlacht,
so ist das Drängen des berauschten Bundesgenossen so stark, daß
wir gegen höchst unbequeme Kompensationen auch unsere itaüeni-
schen Lande verlieren 5. Ich habe meine Güter in Südtirol. 1870 war
die italienische Sprachgrenze in Trient, jetzt ist sie in Bozen. Auf
meinen Besitzungen, wo man damals kaum Italienisch sprach, ver-
steht heute kein Mensch mehr Deutsch. Das Drängen nach dem Lande,
wo alle historischen Interessen wurzeln, ist übermächtig.**
Diese über Italien gemachten Bemerkungen des Grafen haben
insofern Bedeutung, als sie der Ton sind, in welchem auch die leiten-
den Staatsmänner singen.
Die Unruhe, welche aus den Äußerungen des Botschafters über
die Politik des Grafen Goluchowski im Orient sprach, erhielt durch
eine mir ganz vertraulich gemachte Mitteilung bezüglich der Hal-
lung des Grafen Badeni* zu der Frage „Krieg oder nicht Krieg"
eine gewisse Einschränkung. Der neue Ministerpräsident, dessen
Energie und Verstand Graf Wolkenstein rühmte, hat ihm unter vier
Augen gesagt: „Ein jeder Krieg für Österreich ist eine Unmög-
lichkeit. Werden wir angegriffen, so müssen wir mit Gottes Hülfe
* Graf Badeni wurde am 2. Oktober 1895 nach dem Rücktritt des Ministeriums
Windischgraetz Ministerpräsident und Minister des Innern
il Die Große Politik. 10. Bd. 161
die Situation akzeptieren, aber ein Angriffskrieg — etwa wegen Kon-
stantinopel oder anderer Fragen des Balkans — ist ein Wahnsinn 6.
Ein Nationalitätenstaat kann keinen Krieg ohne Schaden führen. Sieg
oder Verlust bildet bei einem Konglomerat von Nationen fast die
gleiche Schwierigkeit."
Diese Auffassung des neuen Ministerpräsidenten, der in so hohem
Maße das Vertrauen seines allergnädigsten Herrn genießt, halte ich
für sehr bedeutungsvoll, angesichts der etwas schroffen Haltung des
Grafen Goluchowski. Wichtige Entscheidungen fällt Kaiser Franz
Joseph nicht, ohne den Rat des Grafen Badeni zu hören, und der
durch das Leben und die Ereignisse müde hohe Herr, welcher sich
schon in inneren Fragen nicht zu einer energischen Entschließung
aufraffen kann, wird im entscheidenden Momente mehr Tendenz zeigen,
den klug begründeten Argumenten des Grafen Badeni als den mit
überstürztem Eifer ausgesprochenen Ansichten des Grafen Goluchowski
nachzugeben, die Krieg bedeuten können.
„Ich halte es nicht für unmöglich," sagte mir Graf Wolkenstein,
„daß Goluchowski über seine Ansichten bezüglich Konstantinopels
fällt. Es darf nicht zu bekannt werden, welche Anschauungen er in
seinem Busen trägt."
Ich glaube nun allerdings, daß bei diesem Ausspruch des Grafen
Wolkenstein der Wunsch der Vater des Gedankens war.
P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Richtig
' sehr falsch!!
' sehr kurzsichtig
* ! das denkt Italien von Oesterreich auch
* Unsinn
6 gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
Wir müssen in diesem Augenblick auch in vorsichtiger Weise Badeni gebrauchen
Nr. 2500
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an Kaiser Wilhelm II.
Unsignierte Abschrift. Vom Grafen Eulenburg am 10. November dem Freiherrn
von Marschall mitgeteilt
Wien, den 10. November 1895
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät
beehre ich mich über die Audienz bei Seiner Majestät dem Kaiser
Franz Joseph, die ich zur Übergabe des Geschenkes Euerer Majestät*
erbeten hatte, folgendes alleruntertänigst zu berichten :
* Es handelt sich um die bekannte allegorische Zeichnung mit der kaiserlichen
Unterschrift: Völker Europas wahrt Eure heiligsten Güter! Vgl. Bd. IX, Kap. LVIII,
Nr. 2321 nebst Fußnote **.
162
Der Kaiser empfing mich allein in der Burg in seinem Arbeits-
zimmer nachmittags drei Uhr und hatte gewünscht, daß ich im Über-
rock erschiene — wie gewöiuiHch bei dergleichen Audienzen. Ich
breitete das Bild auf einem Tisch aus und gab die Erklärung der
allegorischen Darstellung. Der Kaiser war sichtlich erfreut und äußerte,
daß die Gedanken, denen Euere Majestät Ausdruck verliehen hätten,
sehr anziehend und interessant seien. In der Tat wäre es ein Segen,
wenn sich die europäischen Staaten besser verständigen wollten, als
es jetzt der Fall sei. Seine Majestät baten mich, Euerer Majestät den
herzlichsten Dank für die erwiesene Freundlichkeit auszusprechen.
Hierauf lud mich der Kaiser ein, mit ihm an seinem Schreib-
tisch Platz zu nehmen. Er begann anknüpfend an das Bild über die
drohenden Gefahren zu sprechen, die sich im Balkan zeigten. „Es
ist ja nicht Armenien,*' sagte der Kaiser, „das mich beunruhigt, ob-
gleich ich eine militärische Kooperation von England und Rußland
nicht für einfach halte, sondern der Balkan. In Mazedonien erwacht
unzweifelhaft die Bewegung im Frühjahr, und wenn bis dahin
nicht die Türkei wieder auf festeren Füßen steht, wird die Lage
äußerst bedenklich."
Ich äußerte, daß die Gefahr schon heute eine große werde,
wenn z. B, in Konstantinopel ein Christenmassaker stattfände, oder
nach Verjagung oder Beseitigung des Sultans Anarchie die Mächte
zwänge, einzuschreiten und mit Okkupation vorzugehen. Da würden
wohl Rußland und England als die „gegenwärtigen" zunächst berufen
sein, Ordnung zu schaffen. Es fiele ihnen also auch bei Christen-
massaker in Konstantinopel diese Rolle zu.
„Nun," bemerkte der Kaiser, „da könnte ja auch noch ein anderer
sich dabei beteiligen."
„Wenn noch Zeit dazu ist," antwortete ich, „aber es kann unter
Umständen das Interesse der gefährdeten Christen erheischen, daß jene
beiden Mächte oder eine derselben sofort Konstantinopel besetzt."
„Dann wäre immerhin noch anzunehmen," führte der Kaiser weiter
aus, „daß die Mächte sich nach erledigter Mission wieder hinausziehen."
Ich machte die Bemerkung, daß, wenn es Seiner Majestät auch
nicht wünschenswert schiene, sich die dauernde Besetzung Rußlands
aus der Lage der Dinge trotzdem ergeben könne.
„Allerdings wäre das durchaus gegen meinen Wunsch," äußerte
der Kaiser mit einer Betonung und so kurz abbrechend, daß ich lästig
zu fallen glaubte, wenn ich diesen Gedanken weiter verfolgte. Ich
hatte ja auch genügend durch den Akzent erfahren, den diese kaiser-
liche Bemerkung erhalten hatte.
Nach einer kurzen Pause sagte der Kaiser: „Die Erklärungen,
die uns England gegeben hat, sind sehr beruhigend und durchaus
korrekt. Nach den etwas eigentümlichen Seitensprüngen, die Lord
Salisbury machte, scheint er zum Einsehen der einzig denkbaren rich-
11. 163
tigen Politik gelangt zu sein. Dabei ist ja, Gott sei Dank, die Haltung
gegenüber Rußland immer noch so weit feindlich, daß der Ge-
danke einer Verständigung zwischen diesen beiden Mächten ausge-
schlossen ist."
Ich begann wieder von der Lage auf dem Balkan, und fand den
Kaiser darin zuversichtlich, daß die sämtlichen Mächte vorderhand
gemeinsam vorgehen würden, wenn die Zustände noch ernstere
werden sollten. „Der Status quo ist die einzige Möglichkeit," sagte
der Kaiser sehr lebhaft. „Die Türkei muß gehalten, gestützt und
zurechtgemacht werden. Unsere Lage ist sonst eine zu schwierige.
Aber wie ich denken auch die andern zunächst betroffenen Herrscher.
Der König von Griechenland, den ich kürzlich sprach, ist türkischer
als der Sultan selbst. Was soll auch Griechenland in der traurigen
Verfassung machen? Ebenso denken Serbien und die andern. Nein,
es muß der Status quo erhalten bleiben!"
Ich sagte, daß Deutschland nicht beteiligt sei, und daß Euere
Majestät nur sehnlichst die Erhaltung des Friedens wünschten, daher
gehe auch die ernste Tendenz Euerer Majestät auf die Erhaltung des
Status quo — aber die Ereignisse könnten stärker sein als die guten Wünsche.
Der Kaiser ging hiernach auf Bulgarien über, das ihm auch Be-
sorgnis einflöße. „Die Verlogenheit des Prinzen Ferdinand kann ihm
den Thron kosten," äußerte er.
Ich habe aus der Unterhaltung, die eine gute halbe Stunde währte,
den Eindruck, daß der Kaiser mit Graf Goluchowski vorläufig an dem
Standpunkt festhält: Konstantinopel den Türken und Aufrechterhaltung
des Status quo unter allen Umständen. Daß sich angesichts
einer Umgestaltung der Türkei diese Ansichten modifizieren werden,
ist wohl denkbar. Vor dem Abenteuer eines Krieges wegen Kon-
stantinopel werden Herr und Diener stutzen, wenn wir unsere Hülfe
versagen, und England Gaukelbilder statt Verträge bietet.
— Der Kaiser war wohl und frisch — , voller Güte und Freund-
lichkeit. Ich mußte ihm sehr eingehend von Euerer Majestät und
Ihrer A\ajestät der Kaiserin erzählen.
Nr. 2501
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Wien
Grafen zu Euienburg
Konzept
Nr. 857 Berlin, den 11. November 1895
Aus Ew. pp. Bericht Nr. 258* habe ich entnommen, daß Ew. pp.
Unterredungen mit dem Grafen Goluchowski bis zu dem Punkte
gelangt sind, daß der Minister unter Andeutung seines eventuellen
* Siehe Nr. 2497.
164
Rücktritts sich äußerte, er werde nicht zugeben, daß Rußland nach
Konstantinopel gehe, und daß Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph
voll und ganz auf seiner Seite stehe, und daß Ew. pp. demgegenüber
ebenso bestimmt den Standpunkt vertreten haben, daß Deutschland
eine Politik Österreichs nicht unterstützen könne, die in der Besitz-
ergreifung Konstantinopels durch die Russen einen Kriegsfall erblickt.
Mit Rücksicht auf diese Sachlage und die Anregung Ew. pp.,
jetzt schon die Haltung der Kabinette von Berlin und Wien für den
Fall von Überraschungen zu fixieren, bemerke ich folgendes:
So begreiflich der Wunsch der österreichisch-ungarischen Staats-
männer ist, angesichts der drohenden Lage in Konstantinopel sich
Gewißheit über die Haltung Deutschlands beim Eintritt zukünftiger
Eventualitäten zu schaffen, um danach ihre Politik zu bestimmen,
so wenig besteht für uns zurzeit ein Interesse, diesen Wunsch zu
erfüllen und unsere Politik nach der einen oder anderen Richtung
festzulegen. Der Grundsatz, zukünftige Ereignisse, deren Eintritt völlig
ungewiß ist, und die in ihren Modalitäten lediglich der Kombinations-
gabe angehören, nicht im voraus zum Gegenstande bindender Ent-
scheidungen zu machen, gilt insbesondere dann, wenn ein Gebiet in
Frage steht, welches die eigene Interessensphäre nicht berührt, wohl
aber den Mittelpunkt divergierender Bestrebungen anderer Groß-
mächte bildet. Die Stellung, welche Deutschland in Europa einnimmt,
und die Anerkennung für die friedlichen Tendenzen des Dreibunds be-
ruhen nicht zum mindesten darauf, daß die deutsche Politik in Aus-
nützung der durch den Mangel direkter Interessen geschaffenen gün-
stigen Lage sich in der Orientfrage freie Hand bewahrt und es ver-
mieden hat, in dem latenten Streit um die Dardanellen und Konstanti-
nopel Partei zu ergreifen.
Diese Politik ist geeignet, das Wiener Kabinett vor einer agres-
siven Orientpolitik gegen Rußland zu warnen und bei ihm das Gefühl
der alleinigen Verantwortlichkeit für die Folgen einer solchen wach-
zuhalten; dieselbe darf aber nicht derart zum Ausdruck gelangen,
daß sie in Österreich-Ungarn Entmutigung hervorruft, das Gefühl der
Hülflosigkeit zeitigt und damit den ohnehin weitverbreiteten Pessimis-
mus steigert. Ob solche Stimmungen die österreichisch-ungarische
Politik in eine für uns wünschenswerte Richtung lenken werden, ist
mir sehr zweifelhaft, um so mehr als, wie Ew. pp. bekannt, gerade die
dem Deutschen Reiche feindlichen Elemente, welche die Wiederherstel-
lung der Zustände vor 1866 in den Kreis ihrer Erwägungen ziehen,
am entschiedensten dafür eintreten, daß Ösierreich-Ungarn sich zu-
gunsten Rußlands jeder aktiven Orientpolitik enthalte.
Von diesen Erwägungen geleitet, habe ich meinem Erlasse vom
5. d. Mts.* den Satz vorangestellt, daß die Meerengenfrage und ihre
* Siehe Nr. 2495.
165
mangelnde Bedeutung für uns von dem Augenblicke an in den Hinter-
grund trete, wo durch einen daraus entstehenden Krieg die Groß-
machtstellung eines Staates tangiert werde. Ich präzisiere diesen Satz
dahin: wir haben in Wien zur Vorsicht zu raten und klarzustellen,
daß Österreich-Ungarn jede Aktion gegen Rußland aus Anlaß der
Meerengenfrage auf eigenes Risiko unternimmt; wollten wir aber
in irgendeiner Form erklären, daß wir Österreich-Ungarn bei einem
eintretenden Kriege mit Rußland auch dann seinem Schicksal über-
lassen würden, wenn seine Großmachtstellung bedroht ist,
so würden wir die Axt an die Wurzel unseres Bündnisses legen und
damit die Politik von Grund aus ändern, welche seit 1879 für uns
maßgebend gewesen ist.
Eine apodiktische Erklärung, was wir tun und was wir nicht tun
werden, falls Rußland die Dardanellen nimmt, ist heute um so weniger
nötig, weil keinerlei Anzeichen dafür vorliegen, daß Rußland eine solche
Absicht hegt. Bei einer österreichischen Aktion kommt es für unsere
Haltung wesentlich darauf an, ob das russische Vorgehen gegen die
Meerengen das Ergebnis der russisch-französischen Entente war oder
nicht, und ob England bereits aktiv engagiert ist oder sich zurückhält.
Nur für diesen letztern Fall wünsche ich die ausdrückliche Erklärung,
daß wir alles tun werden, um eine österreichisch-ungarische Aktion
gegen Rußland zu verhindern. Im übrigen haben wir uns freie Hand
zu wahren und jede Äußerung zu vermeiden, welche Österreich-Ungarn
und Italien abhalten könnte, sich mit England über die Orientfrage
zu verständigen und gegebenenfalls dessen rechtzeitiges Eintreten in
die Aktion sicherzustellen.
Eine andere als die vorstehend dargelegte Politik kann ich vor
Seiner Majestät nicht vertreten.
C. Hohenlohe
166
B. Österreichs Vorstoß in der Orientfrage und Englands
Zurückweichen.
Flottendemonstration und Stationärfrage
Nr. 2502
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 170 Rom, den 9. November 1895
Baron Blanc sagt mir, mein englischer Kollege* habe ihm gestern
geschrieben, daß in London immer beunruhigendere Mitteilungen aus
Konstantinopel einliefen. Ob in Rom gleiche Nachrichten eingegangen
wären, und was Italien angesichts dieser Lage der Dinge zu tun ge-
denke? Baron Blanc fügte hinzu, er habe dem englischen Botschafter
„in mehr allgemeinen Ausdrücken" geantwortet, daß er jederzeit bereit
wäre, sich mit dem Kabinett von St. James bezüglich der gegenüber
den Vorgängen in der Türkei zu ergreifenden Maßnahmen zu ver-
ständigen.
Bei diesem Anlaß erzählte mir der Minister der Auswärtigen An-
gelegenheiten — indem er den absolut sekreten Charakter seiner
Mitteilung betonte, die er nur mir persönlich mache — , er habe heute
ein Telegramm von dem (zurzeit in Neapel weilenden) Minister-
präsidenten Crispi erhalten, in welchem ihn dieser unter dem tindruck
des fortschreitenden Zersetzungsprozesses der Türkei frage, ob es
nicht angezeigt wäre, die itaüenische Flotte in der Nähe der Dardanellen
kreuzen zu lassen i. Er habe, fuhr Baron Blanc fort, Crispi erwidert,
daß eine solche Maßnahme ihm verfrüht erscheine.
Als ich im Laufe des ganz vertraulichen Gedankenaustausches,
der sich an diese Mitteilungen schloß, Baron Blanc daran erinnerte,
wie ich ihm stets geraten habe, zwar die Verbindung mit England
nicht aufzugeben, aber weder ohne dieses vorzugehen noch weiter zu
gehen als dieses, äußerte der Minister des Äußern, daß ich in letzterer
Richtung keine Besorgnis zu hegen brauche. Italien könne nach Lage
der Verhältnisse seine Position im Mittelmeer, auf welcher seine Zu-
kunft beruhe, gegen die französisch-russische Umklammerung nur
vereint mit England behaupten; er werde sich von England aber weder
vorschieben noch exploitieren lassen 2, sondern nur so weit mit dem-
selben gehen, als dieses sich selbst engagiere. Baron Blanc ließ hierbei
* Sir F. Cläre Ford.
169
die Bemerkung fallen, daß er genügenden Einfluß auf Herrn Crispi
besitze, um diesen von übereilten Schritten abzuhalten.
Baron Blanc hält die Situation in Konstantinopel für eine sehr
kritische. Er glaubt jedoch, daß Rußland die dortige Entwickelung
nicht überstürzen wolle, weil es zurzeit noch in Ostasien beschäftigt
und auch mit seinen Rüstungen noch nicht fertig sei. Ich habe die
Empfindung, daß Baron Blanc gegenüber der akuter werdenden orien-
talischen Frage neuerdings nicht nur mit England, sondern auch mit
Österreich-Ungarn engere Fühlung nehmen möchte.
B ü 1 o \v
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Also war mein Verdacht voll gerechtfertigt. England hat schon Italien bearbeitet
und thut es noch um es und damit den 3 Bund zu engagiren, und dies dann
Rußland gegenüber zu exploitiren. Unter keinen Umständen dürfen Italjienische]
Schiffe eher an den Dardanellen erscheinen als bis England sich selbst fest en-
gagirt und Feuer gegeben hat. Italiener an den Dardanellen sind wie ein Brennend
Licht am Pulverfaß; und würden Russlands Argwohn bezüglich unsrer Auf-
richtigkeit wachmfen. Das darf nicht sein. England soll die Suppe, die es ein-
gebrockt allein aufessen und seine Schiffe zuerst allein einsetzen. Bülow soll
Tag und Nacht über Blanc wachen; vor allem aber Schiffssendung verhindern.
W.
* ums Himmels Willen nicht!
Nr. 2503
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Rom
Bernhard von Bülow
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 124 Berlin, den 10. November 1895
Antwort auf Telegramm Nr. 170*.
Seine Majestät ist besorgt, daß Italien dadurch, daß es in Aktion
eintrete, bevor England sich für dieselbe fest engagiert habe, sich
von letzterem ausbeuten lassen und dadurch auch den Dreibund in
eine schiefe Lage bringen werde.
Ich glaube mich im Einverständnis mit Ew. pp. zu befinden, wenn
ich Sie ersuche, Baron Blanc darauf aufmerksam zu machen, daß er
von England diejenigen Zugeständnisse, welche er im Interesse der
Machtstellung Italiens im Hinblick auf kritische Lage von England
verlangen zu sollen glaubt, am besten dadurch erlangen wird, daß er
zwar im allgemeinen guten Willen zeigt, sich aber nicht gleich anfangs,
und bevor England seine Politik festgelegt hat, zu weit engagiert.
Es wäre deshalb eine nützliche Nuance zur Kennzeichnung der
italienischen Politik, wenn das italienische Geschwader, falls seine
* Siehe Nr. 2502.
170
Entsendung durch die Ereignisse notwendig wird, zunächst nicht nach
den Dardanellen, sondern nach anderen türkischen Häfen, wo in
jetziger Zeit das Leben von Christen bedroht sein kann, geschickt
würde.
C. Hoheniohe
Nr. 2504
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm, Entzifferung
Nr. 173 Rom, den 11. November 1895
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 170*.
Ich habe heute Gelegenheit gefunden, Baron Blanc in streng ver-
traulicher und eingehender Unterredung nochmals nachdrücklich eine
vorsichtige und abwartende Haltung gegenüber der orientalischen Ver-
wickelung anzuempfehlen 1. Als ich den Minister der Auswärtigen An-
gelegenheiten insbesondere davor warnte, sich zu avancieren, bevor
sich England fest engagiert habe, erklärte derselbe, daß er „nichts
versäumen'', aber auch „nichts überstürzen" werde. Die Regierung
sei sich der ernsten Verantwortung bewußt, die sie vor dem Lande
trage, welches jetzt die Ergebnisse der vom Kabinett Crispi verfolgten
auswärtigen Politik erwarte. Das Ministerium wolle sich nicht durch
die Ereignisse überraschen lassen, werde sich aber keinenfalls vor-
wagen, solange sich England zurückhalte. Seine Absichten ließen sich
in die Worte zusammenfassen: „Ne provoquer aucune occasion et n'en
manquer aucune.*'
Der gegenwärtige Augenblick, äußerte der Minister weiter, sei
für die Zukunft der italienischen auswärtigen Politik von entscheiden-
der Bedeutung. Insbesondere hänge für Italien von dem weiteren
Verhalten des Kabinetts von St. James viel ab. Es müsse sich nun-
mehr zeigen, ob in den Köpfen der derzeitigen englischen Minister
noch etwas von der Substanz vorhanden sei, welche einst die großen
englischen Staatsmänner beseelt habe. Wenn England sich jetzt nicht
ermanne und zu einer klaren, entschiedenen und zuverlässigen Politik
zurückkehre, werde auch Italien endgültig das Vertrauen zu ihm ver-
lieren. „Si l'Angleterre faiblit, l'Italie devra changer ses batteries
et orienter autrement sa politique." Als ich Baron Blanc sagte, es
würde eine nützliche Nuance zur Kennzeichnung der italienischen
Politik sein, wenn das italienische Geschwader, falls seine Entsendung
durch die Ereignisse notwendig werden sollte, zunächst nicht nach
den Dardanellen, sondern nach anderen türkischen Häfen geschickt
würde, wo in jetziger Zeit das Leben von Christen bedroht sein könne,
entgegnete der Minister, vorläufig sei noch kein italienisches Schiff
* Siehe Nr. 2502.
171
nach den türkischen Gewässern abgegangen. Das ganze aktive Ge-
schwader läge noch in Gaeta, allerdings seeklar. Die italienische Re-
gierung werde trotz der gestern erfolgten Absendung des französischen
LevantegeSchwadcrs, die hier eine gewisse Erregung her\-orrufe, hin-
sichtlich der Abfahrt der italienischen Flotte keine vorschnellen Ent-
schlüsse fassen. Wohin er eventuell die italienische Eskader dirigieren
werde, könne er noch nicht sagen, wolle aber jedenfalls meine An-
deutung in betreff der Dardanellen in reifliche Erwägung ziehen. Der
Minister ließ hierbei die Bemerkung fallen: „Je n'y irai pas avant les
Anglais, ni meme en meme temps qu'eux, mais peut etre immediate-
ment apres."
Der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten betonte wiederholt
seinen Wunsch nach Fühlung mit uns, seine Dankbarkeit für unser
wohlwollendes Interesse, wie sein Streben, soweit als irgend möglich
nicht gegen unsere Intentionen zu verstoßen. Bülow
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Sehr gut
Nr. 2505
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 225 Wien, den 11. November 1895
Graf Goluchowski, der nach der letzten Rede Lord Salisburys*
entschieden ruhiger geworden ist^, teilt mir mit, daß der eben ein-
getroffene Kurier aus Konstantinopel sehr ernste Nachrichten** ge-
bracht habe. Da ein Zusammenbruch in Konstantinopel erwartet werden
kann, welcher das Eingreifen der Mächte erforderlich machen würde,
will der Graf eine Anfrage an die Kabinette richten ^ bezüglich ge-
meinschaftlicher Aktion vor Konstantinopel, wenn daselbst bedenkliche
Zustände eintreten.
Der Graf will seinen Antrag etwa folgendermaßen formulieren:
Erstens, wird es notwendig, den Botschaften und Christen in
Konstantinopel Hilfe zu bringen, so fahren die Fahrzeuge der Mächte
gemeinschaftlich in die Dardanellen^.
Zweitens, jede Macht beordert die gleiche Anzahl von Schiffen
zu dieser Mission'*.
Drittens, die Botschafter haben den Zeitpunkt der gemeinschaft-
lichen Aktion zu bestimmen.
Graf Goluchowski will heute die Absendung von österreichischen
Kriegsschiffen in die türkischen Gewässer beantragen^.
* Vgl. Nr. 2492, Fußnote ***.
'* Meldungen über Massakers in den Wilajets Erserum und Diarbekir. Vgl.
Kap. LXI. B, Nr. 2447. 2450 und 2457.
172
Nachrichten aus Konstantinopel ergeben das Einverständnis des
Sultans mit den stattgehabten Massakers*. In Erserum hat das
Blutbad auf ein gegebenes Zeichen begonnen und aufgehört.
Eulen bürg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Goliichovvsky hat etwas die Nerven verloren. Anfragen über Verhalten der
Mächte hätte eigentlich Lord Salisbury an uns andre zu richten und uns um
gütiges Einverständniß zu ersuchen. So wird der 3-Bund wieder in den Vorder-
grund gerückt und England wird sofort alle Verantwortung für alles Un-
angenehme, das passiren könnte Österreich bezw. uns qua Triplice in die
Schuhe zu schieben und Russland gegenüber zu verdächtigen suchen. Dies an
Gr[a]f Eulenburg.
* Das geht ihn doch eigentlich nichts an! Besser ginge dieser Antrag von Salis-
bury aus!
3 wir nicht
* Gott Lob wir haben keine dort.
^ dann fahren die Italiener auch hin!
Nr. 2506
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 121 Pera, den 12. November 1895
In einer Zusammenkunft der Vertreter der Großmächte wurde
gestern einstimmig anerkannt, daß zum Zwecke eines v/irksamen
Schutzes der hiesigen fremden Untertanen die Hersendung je eines
zweiten Kriegsfahrzeugs rätlich sein dürfte. Nach Artikel 3 der
Pariser Meerengenkonvention vom 30. März 1856 zulässig. Anzahl der
Besatzung wenn möglich gegen 150 Mann erwünscht. Bis wann, falls
Kaiserliche Regierung zustimmt, dürfte wohl auf das Eintreffen dieses
Fahrzeugs hier zu rechnen sein?
Saurma
Nr. 2507
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 858 Berlin, den 12. November 1895
Dem österreichischen Botschafter, welcher heute die durch Ew.
Telegramm Nr. 225** angemeldete Frage hier stellte, habe ich er-
• Vgl. Kap. LXI, B, Nr. 2456 und 2458.
** Siehe Nr. 2505.
173
widert, daß — wie auch bereits in dem Erlaß Nr. 824* des Herrn
Reichskanzlers ausgeführt ist — Vorgänge in den Meerengen an sich
für Deutschland vom politischen Standpunkt aus keinen direkten
Anlaß zu maritimer Aktion bieten, deutsche Schiffe in Konstantinopel
daher lediglich die Aufgabe haben würden, den Botschaften und
Christen Hülfe zu bringen. Da diese Aufgabe aber bereits durch das
Erscheinen der andern Geschwader erledigt würde, so ist es wahr-
scheinlich, daß wir die für diesen Zweck etwa disponiblen deutschen
Fahrzeuge in anderen türkischen Häfen, wo bedrohte Europäer und
keine Kriegsfahrzeuge sind, verwenden werden.
Marschall
Nr. 2508
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 230 Wien, den 13. November 1895
Graf Goluchowski hat bis jetzt die in meinem Telegramm Nr. 225**
vom 11. enthaltene Anfrage nicht an die Mächte, sondern nur mir
mitgeteilt. Vorläufig hat er die auch an Euere Durchlaucht gelangte
Frage*** bezüglich gemeinsamen Vorgehens der Mächte und Berufung
eines zweiten Stationärs nach Konstantinopel formuliert. Hierauf liegt
heute die Antwort aus London und Rom vor. Lord Salisbury sagte
zu Graf Deym, er stimme dieser Anregung zu, aber der zweite Stationär
gebe wenig Hilfe im Notfall. Die einzige durchgreifende Maßregel
für die völlig aussichtslosen Zustände in der Türkei sei die Absetzung
des Sultans. Ein neuer Sultan werde ein gefügiges Werkzeug der
Mächte sein.
Baron Blanc stimmt gleichfalls der Anregung Österreichs zu.
Er spricht aber zugleich die Befürchtung aus, das französische Levante-
geschwader beabsichtige, sich mit den russischen Fahrzeugen zu ver-
einigen. Deshalb sei es wünschenswert, [daß], wenn Österreich jetzt
auch wie Italien Schiffe nach den türkischen Gewässern sende, diese
sich mit den italienischen Fahrzeugen an die Seite Englands begäben.
Graf Goluchowski will letzteren Vorschlag durchaus vermieden
wissen, vielmehr einer Anregung Freiherrn von Calices nachgeben,
wonach bei einer gemeinsamen Aktion der Mächte die Gruppierung
der Schiffe ausdrücklich nicht nach Bündnissen stattfinden soll.
Sobald die Antworten aus St. Petersburg und Paris eingetroffen
* Siehe Nr. 2495.
** Siehe Nr. 2505.
*** Vgl. Nr. 2507.
174
sein werden, welche nicht vor morgen abend zu erwarten sind, weil
Fürst Lobanow heute nicht in St. Petersburg war, will der Graf die
in meinem Telegramm Nr. 225 enthaltenen Vorschläge den Kabinetten
unterbreiten.
Vier österreichische Schiffe, von denen das eine als Stationär
verwendet werden soll, werden in diesen Tagen abgehen.
Die hier eingetroffenen Nachrichten aus der Türkei sind andauernd
sehr ernste. Die Zuversicht des Grafen Goluchowski ist jedoch seit
Konstatierung entschiedener Einmütigkeit der Mächte wesentlich ge-
hoben.
Eulenburg
Nr. 2509
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 177 Rom, den 13. November 1895
In Ergänzung seiner schriftlichen Mitteilung sagt mir Baron Blanc,
daß vier italienische Kriegsschiffe, welche eine Division des aktiven
Geschwaders bildeten, unter dem Kommando des Vizeadmirals Accinni
nach den türkischen Gewässern abgehen würden, vorläufig „sans
destination precise''. Die Division werde voraussichtlich aus den
Schiffen „Re Umberto", „Andrea Doria", „Stromboli*', „Aretusa*' oder
„Partenope" bestehen.
Als ich Baron Blanc fragte, wohin sich diese Flottendivision zu-
nächst begeben würde, entgegnete der Minister, er könne die Möglich-
keit nicht ausschließen, daß dieselbe die Besikabai anlaufen werde.
Im weiteren Verlauf unserer Unterredung ließ Baron Blanc die Be-
merkung fallen, daß, wenn die französische Flotte in Syrien de-
barkieren sollte, die italienische nach Tripolis dirigiert werden würde.
Der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten äußerte hierbei, daß,
wo einerseits eine französische Eskader mit unbekannter Bestimmung
ausgelaufen sei, während andererseits eine Ausschiffung russischer
Truppen in Konstantinopel durch die russische Freiwilligenflotte mög-
lich erscheine, die italienische Regierung sich nicht durch die Er-
eignisse überraschen lassen dürfe, sondern auf alle Eventualitäten vor-
bereiten müsse.
Der Minister des Äußern bemerkte endlich, daß nicht der Aviso
„Galileo", sondern der Aviso „Archimede", welcher übrigens nicht
größer sei als ersterer und wegen seiner geringen Kanonenzahl gleich-
falls die Dardanellen passieren dürfe, als zweiter Stationär nach Kon-
stantinopel geschickt werden würde. Der. „Archimede" würde eine
genügend starke Besatzung erhalten, um eventuell 100 Mann zum
Schutz der Botschaft an Land setzen zu können. Bülow
175
Nr. 2510
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm, Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 70 Berlin, den 15. November 1895
Dem türkischen Geschäftsträger* habe ich heute gesagt: „Mit
tiefem Bedauern muß ich konstatieren, daß die Zustände in Kon-
stantinopel und in den Provinzen die Geduld Europas zu erschöpfen
beginnen. Die großen Kabinette, sonst in vielen Fragen uneins, sind
einig in der Erbitterung über die Gefahren, welche die jetzige türkische
Anarchie heraufzubeschwören geeignet ist. Seine Majestät der Kaiser
ist durch das freundliche Andenken, welches er dem Sultan bewahrt,
veranlaßt worden zu befehlen, daß seine Kriegsschiffe an der großen
gemeinsamen Flottenbewegung, welche in Aussicht steht, nicht teil-
nehmen sollen. Diese Abwesenheit deutscher Schiffe bedeutet die
Abwesenheit eines für den Sultan sympathischen Elements, d. h. also
eine Vermehrung des Übergewichts derjenigen Elemente, welche dem
Sultan, den sie als den Urheber der jetzigen gefährlichen Krisis an-
sehen, unfreundlich gesinnt sind**."
Ew. ersuche ich, auf sicherem Wege die vorstehenden Äußerungen
als unsre letzte Warnung an den Sultan gelangen zu lassen mit dem
Rate, daß, da Europa heute mächtiger ist als der Sultan, dieser sich
nur dann wird behaupten können, wenn er eine Politik verfolgt, welche
Europa Vertrauen einflößt.
Marschall
Nr. 2511
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Letzlingen
Telegramm. Entzifferung
Nr. 1 Berlin, den 15. November 1895
Der österreichisch-ungarische Botschafter hat mir heute im Auf-
trage seiner Regierung mitgeteilt, dieselbe beabsichtige, außer einem
* Rifaat Bcy.
** Über die Gründe des deutschen Vorgehens heißt es in einem Erlaß des Staats-
sekretärs Freiherrn von Marschall an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulen-
burg vom IQ. November (Nr. 896): „Außerdem habe ich, um irrigen Schlüssen ent-
gegenzuwirken, welche die Pforte etwa aus der Nichtbeteiligung einer deutschen
Flottenabteilung an einer etwaigen gemeinsamen Demonstration ziehen könnte,
dem türkischen Geschäftsträger gesagt, daß ich mit tiefem Bedauern konstatieren
müsse, daß die Zustände in Konstantinopel und in den Provinzen die Geduld
Europas zu erschöpfen begännen" usw. Vgl. auch Nr. 2467.
176
zweiten Stationsschiff noch ein aus vier Kriegsschiffen bestehendes
Geschwader nach der Levante abgehen zu lassen.
Rußland, England und Frankreich hätten derzeit schon Schiffs-
divisionen in den nahen Gewässern stationiert, und die österreichisch-
ungarische Regierung dürfe wohl voraussetzen, daß in Bälde auch die
deutsche und die italienische Flagge sich daselbst zeigen würden.
Wenn in der Folge im türkischen Orient Eventualitäten einträten,
welche eine Bedrohung der Sicherheit und der Interessen der Fremden
in sich schließen würden, so würde es zunächst darauf ankommen,
zu sehen, ob die türkische Regierung fähig sei, die Ordnung herzu-
stellen. Wenn nicht, wäre es nach Erachten seiner Regierung sodann
an den Botschaftern, auf der Basis gemeinschaftlicher Beschlüsse von
den einzelnen fremden Flottenabteilungen in gleicher Anzahl und un-
gefähr gleicher Stärke beizustellende Schiffe zu einer ausschließlich
zum Schutz der europäischen Interessen bestimmten kombinierten
Flottenabteilung zu vereinigen i. Ein etwaiger Widerspruch der Hohen
Pforte gegen die Einfahrt dieser Schiffe in die Meerengen könnte dann
selbstredend nicht mehr berücksichtigt werden, es müßte vielmehr
ein eventuell türkischerseits aktivierter Widerstand durch entsprechendes
gemeinsames Vorgehen gebrochen werden 2. Empfehlen würde es sich
allenfalls, die Kriegsfahrzeuge der Mächte vorerst in gewissen Distanzen
von den Meerengen entfernt zu halten, um nicht durch eine Forcierung
der Einfahrt die in Konstantinopel herrschende Erregung zu vermehren
oder auch diese Maßnahme als eine direkt gegen den Sultan ge-
richtete Drohung erscheinen zu lassen.
Innerhalb der Aktion der kombinierten europäischen Flotte wäre
darauf zu achten, daß darin vor allen die Einigkeit der Kabinette
deutlich zum Ausdruck gelänge, weshalb auch die Gruppierung
der Schiffe nach Allianzverhältnissen etc. möglichst zu vermeiden
wäre.
Herr von Szögyeny hat sodann gefragt, ob wir diesen Anschau-
ungen beipflichteten und geneigt wären, den Kaiserlichen Botschafter
in Konstantinopel entsprechend zu instruieren.
Ich habe dem österreichischen Botschafter erwidert, daß wir im
Prinzip die Vorschläge seiner Regierung durchaus billigten 3, und
daß wir eine großmächtliche Aktion zum Schutz der Europäer und
etwaiger sonstiger gemeinsamer Interessen nur mit Genugtuung be-
grüßen könnten, daß es uns aber aus marinetechnischen Gründen zur-
zeit leider unmöglich sei, dem österreichischen Vorschlage unmittel-
bar praktische Folge zu geben *.
Übrigens hätten auch Seine Majestät der Kaiser bereits die Ent-
sendung des einzigen gegenwärtig im Mittelländischen Meer verfüg-
baren deutschen Kriegsschiffs an die kleinasiatische Küste und in die
12 Die große Politik. Bd. 10. 177-
Nähe der durch die Unruhen besonders gefährdeten Bezirke be-
fohlen 3*.
Euere Durchlaucht darf ich bitten, Seiner Majestät hiervon Mel-
dung machen zu wollen.
Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Wer soll die kommandiren?!
» wenn das man gut abläuft
> ja
* richtig
Schlußberaerkung des Kaisers:
Out
Nr. 2512
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr, 179 Rom, den 15. November 1895
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 131**.
Als ich heute das Glück hatte, Baron Blanc die Anerkennung
Seiner Majestät des Kaisers und Königs und insbesondere für die
Art und Weise, wie der italienische Minister der Auswärtigen An-
gelegenheiten die internationalen Beziehungen gegenüber dem öster-
reichisch-ungarischen Geschäftsträger*** nuancierte, den allerhöchsten
Dank auszusprechen, entgegnete derselbe sichtbar hoch erfreut: „Vous
n'auriez pas pu me faire une communication qui me donne plus de
plaisir. J'en suis profondement touche et heureux. Veuillez deposer
aux pieds de Sa Majeste l'Empereur avec mes remerciments respec-
tueux et sinceres l'assurance de mon profond devouement pour son
auguste Personne comme pour sa politique."
Im weiteren Verlauf unserer ganz vertraulichen Unterredung sagte
mir Baron Blanc, daß die italienische Flottendivision heute abend oder
morgen, Sonnabend, auslaufen, aber vorderhand weder nach der Besika-
bai noch nach Lemnos gehen werde. Wohin die italienischen Schiffe
später dirigiert werden würden, hinge von der ferneren Entwicklung
der Verhältnisse ab; zunächst hätten dieselben nur Ordre, „ä portee
du telegraphe" in den türkischen Gewässern zu kreuzen. Der Minister
erwähnte beiläufig, Lord Saüsbury habe dem italienischen Botschafter
in London, gesagt, daß, nachdem die französische Levanteeskader
in See gegangen sei, das Kabinett von St. James das Auslaufen eines
italienischen Geschwaders durchaus in der Ordnung finde. Die der
* Es handelte sich um S. M. S. „Moltke".
** Siehe Nr. 2540.
*** von Eperjesy.
t General Ferrero.
178
italienischen Flottendivision gegenüber der englischen Mittelmeerflotte
vorgeschriebene Haltung präzisierte Baron Blanc folgendermaßen:
„J'ai donne ordre ä Tamiral Accinni de ne pas se fourrer entre les
jambes des Anglais, mais de se tenir pret ä pouvoir se joindre ä eux
si les Anglais nous le demandaient et que nous y consentions."
Über die ihm während der letzten Tage zugegangenen Nachrichten
äußerte Baron Blanc, er höre aus St. Petersburg, daß man dort von
der energischeren Haltung Englands überrascht und bis zu einem
gewissen Grade impressioniert sei; aus Paris, daß die Franzosen ihre
Entschließungen im großen wie in Nebenfragen (beispielsweise hin-
sichtlich der Bestimmung ihrer Levanteeskader lediglich von den
Weisungen Rußlands abhängig machten; aus London, daß sich in der
englischen öffentlichen Meinung ein Umschwung im Sinne einer kräf-
tigeren Politik geltend mache. Baron Blanc fügte letzterer Mitteilung
hinzu: „Ce mouvement, je l'espere, va aller en s'accentuant, si d'un
cote les Anglais se persuadent bien que personne ne tira les marrons
du feu pour eux, et si d'autrement nous evitons ce qui pourrait les
decourager.''
Mein französischer Kollege* hatte hier angedeutet, daß die fran-
zösische Eskader vielleicht nach Beirut gehen werde. Baron Blanc
glaubt trotzdem nicht an eine baldige französische Landung in Syrien,
da die Russen nicht wünschen würden, daß die Franzosen ihre See-
streitkräfte zersplitterten.
Baron Blanc schloß mit der Bemerkung, er hoffe, daß die aus-
wärtige Politik des Ministeriums — welche er wiederholt mit den
Worten: „ni precipiter ni negliger" charakterisiert — die Unterstützung
wie der hiesigen öffentlichen Meinung so auch der am 21. November
wieder zusammentretenden Kammer finden w^erde.
Bülow
Nr. 2513
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Letzlingen
Telegramm. Entzifferung
Nr. 3 Berlin, den 16. November 1895
Da die an verschiedenen Punkten Kleinasiens ausgebrochenen Un-
ruhen an Ausdehnung neuerdings eher zuzunehmen scheinen, möchte
ich empfehlen, dem Ermessen Seiner Majestät anheimzustellen, ob es
sich nicht angesichts der bedrohten Lage auch der deutschen Inter-
essen in der Türkei doch ermöglichen ließe, ein zweites Kriegsschiff
behufs Entsendung in das Mittelländische Meer — nicht notwendiger-
weise gleich nach den türkischen Besitzungen — in Dienst zu stellen.
* Billot.
12* 179
Dies erscheint um so dringender mit Rücksicht darauf, daß Seine
Majestät bei dem letzten Immediatvortrage zu äußern geruht haben,
daß Seiner Majestät Schiff „Moltke" wegen seiner Eigenschaft als
Schiffsjungen-Schulschiff zu aktiven Aufgaben doch nur in beschränktem
Maße geeignet sei.
Marschall
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Für's erste bin ich noch dagegen ein weitres Schiff zu senden. Einmal machen
2 Schiffe nicht mehr Eindruck als eines; da wo alle andren Staaten durch
Flotten oder ganze Divisionen vertreten sind. Andrerseits ist durch die Ab-
kommandirung der Division in Ostasien theils unsre Mobilmachung zu Hause
ernstlich erschwert, theils unser Indicnsthaltungsfond — vom Parlament stets
zu knapp bemessen, — so stark in Anspruch genommen, daß vorläufig eine
weitre Indienstellung unthunlich ist. Wir haben eben keine Flotte mehr! W
Nr. 2514
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 233 Wien, den 16. November 1895
Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph befahl mich heute vor-
mittag zur Audienz. Veranlassung hierzu gab der an Seine Majestät
von Herrn von Szögyeny gelangte Bericht über die ihm von Seiner
Majestät unserm allergnädigsten Herrn gemachten Mitteilungen,
welche wörtlich das ausdrückten, was das Telegramm Nr. 173* ent-
hielt. Kaiser Franz Joseph bat mich, Seiner Majestät dem Kaiser
den innigsten und wärmsten Dank für die Zusicherungen auszusprechen,
welche wesentlich zu seiner Beruhigung beitrügen. Er seinerseits
gebe sein heiligstes Versprechen, daß er auf das sorgsamste vermeiden
werde, sich in eine kriegerische Aktion ungezwungen zu verwickeln
und Deutschland hineinzuziehen.
Die Gesamtsituation sah der Kaiser günstiger an. Die öster-
reichischen Kriegsschiffe werden zur Abfahrt bereitgestellt, über ihre
Bestimmung ist jedoch noch nichts festgestellt. Sollte es zu einer ge-
meinsamen Flottendemonstration der Mächte kommen, will Seine
Majestät die Gruppierung nach Bündnissen strenger vermeiden, weil
bei einem gemeinschaftlichen Auftreten aller Mächte die meiste Aus-
sicht vorhanden ist, daß auch die Beendigung der Demonstration
gemeinschaftlich erfolge.
Wenn ernstere Komplikationen einträten, ist der Kaiser des Zu-
sammengehens und der Verständigung mit England und Italien sicher.
Seine Majestät sagten: „daß die Erklärungen Lord Salisburys, wonach
* Siehe Nr. 2542.
180
derselbe fest entschlossen sei, die frühere bewährte Politik durchzu-
führen, völlige Beruhigung in dieser Hinsicht gewährt,"
Auf die Frage nach der Entsendung deutscher Fahrzeuge gab
ich Seiner Majestät die Antwort, daß bei einem Einschreiten der
Mächte zum Schutz der Christen außer den deutschen Stationären
Kriegsschiffe anderer Mächte zur Genüge vorhanden seien, um Hülfe zu
bringen. Die anderen deutschen Schiffe, die etwa entsendet würden,
könnten auch in anderen Häfen als gerade in Konstantinopel den
bedrohten Christen Hülfe bringen. Der Kaiser sprach hierauf den
sehr lebhaften Wunsch aus, es möchten deutsche Schiffe bei einer
Demonstration nicht fehlen. Es läge ihm viel an dem einheitlichen Bild.
Ich erwiderte, daß uns die glückliche Lage, in der wir uns gegen-
über dem Orient befänden, naturgemäß Reserve auferlege. Übrigens
seien bestimmte Entschlüsse noch in dieser Hinsicht nicht gefaßt,
und hätte ich bis jetzt keinen Auftrag erhalten, mich in dieser Detail-
frage zu äußern.
Eulenburg
Nr. 2515
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entziffenjng
Nr. 270 St. Petersburg, den 16. November 1895
Fürst Lobanow teilt mir heute einen wohl in Berlin bereits be-
kannten Vorschlag des Grafen Goluchowski mit behufs Verständigung
über etwaige angesichts der Unruhen in der Türkei zu ergreifende
Maßregeln*. Vertraulich sagt mir der Minister in gereiztem Ton
gegen Graf Goluchowski, daß dieser Vorschlag ihm durchaus un-
praktisch und ungeeignet zur Erreichung einer friedlichen Lösung er-
scheine. Ernste Gefahr für die fremden Untertanen in Konstantinopel
hält Fürst Lobanow vorläufig für nicht wahrscheinlich und sogar für
ausgeschlossen. Das voreilige, sonst belanglose Erscheinen eines
zweiten Stationärs würde in diesem Augenblick nur unnütz Alarm und
Panik hervorrufen. Die Vereinigung größerer Geschwader der Mächte
vor den Dardanellen müßte nach Ansicht des Fürsten Lobanow die
Muselmänner unnütz reizen und würde kein praktisches Resultat haben.
Ein eventuelles Forcieren der Dardanellen müsse unabsehbare Folgen
haben. Durch solche provokatorischen Maßregeln würde die Autorität
und das Prestige des Sultans und seiner Regierung nur unnütz ge-
schwächt, während es vor allem darauf ankommen müsse, dieselbe
möglichst hoch zu halten. Der Sultan habe die beste Absicht, die
versprochenen Reformen einzuführen; lasse man ihm doch Zeit dazu
* Vgl. Nr. 2505.
181
und gebe ihm die Möglichkeit, die Unruhen im Innern selbst zu unter-
drücken. Hierzu sei es nötig, daß die Mächte seine Autorität mög-
lichst unterstützen. Lord Salisbury habe aber letztere durch seine
Rede nur noch mehr untergraben. England scheine Annexionsgedanken
im Schilde zu führen, und meint Fürst Lobanow, jene Pläne seien
ebensowenig wie die ganze Politik Lord Salisburys undurchschaulich.
Radolin
Nr. 2516
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 273 London, den 17. November 1S95
Der österreichische Botschafter hat gestern Lord Salisbury die
Mitteilung gemacht, welche Graf Goluchowski dem Grafen Eulenburg
gegenüber in drei Punkten formuliert hatte. Der Premierminister hat
dem Vorschlag zugestimmt, indem er gleichzeitig die Erwartung aus-
sprach, daß der Sultan imstande sein würde, die Ruhe aufrecht-
zuerhalten, und daß damit für die Botschafter in Konstantinopel die
Notwendigkeit fortfallen würde, die Schiffe zu requirieren.
Der Premierminister hat sich auch damit einverstanden erklärt,
daß jeder Botschaft zwei Stationäre zugeteilt werden.
Hatzfeldt
Nr. 2517
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 129 Pera, den 17. November 1895
Vertraulich
Durch die von mir auf Befehl Euerer Durchlaucht heute aus-
geführten Demarchen, betreffend die dem Sultan erteilte letzte War-
nung*, ist Seine Majestät in tiefste Bestürzung versetzt worden.
Kiasim Bey** erschien heute nachmittag bei mir, um mir im
Auftrag des Sultans zu erklären, daß Seine Majestät nunmehr i bereit
sei, alles und jedes zu tun, was von ihm verlangt werde. Er bitte
* Siehe Nr. 2510.
** Sekretär des Sultans.
182
mich nur, ihm diejenige Politik zu bezeichnen, welche er zu befolgen
habe, um Europa Vertrauen wieder einzuflößen 2.
Ich bemerkte Kiasim Bey, daß ich ihm allerdings nur meine
persönliche Auffassung darüber kundgeben könne.
Diese gehe dahin, vor allem den ihm von den Vertretern der
Mächte gegebenen Ratschlägen schnell und gewissenhaft nachzu-
kommen, sowie dasjenige, was sie im Interesse der Beilegung der
Krisis von ihm forderten, ohne Anstand zuzugestehen.
Sodann durch peremtorische Befehle an die Behörden und Militär-
befehlshaber, in den Provinzen dem Blutbad Einhalt zu tun. Die
Schuldigen seien zu bestrafen, gleichviel ob Christen oder Musel-
männer, den Unschuldigen aber Schutz gegen Gewalttätigkeiten zu
gewähren.
Schließlich bemerkte ich Kiasim Bey als meine persönliche Mei-
nung, daß Seine Majestät vielleicht gut daran täten, sich auch mit
den übrigen Botschaftern, sei es direkt, sei es durch Vermittelung
des Großwesirs, in Verbindung zu setzen, um ihnen offen und ehrlich
seinen Entschluß zu bekunden, alles zu tun, was sie für geeignet
hielten, um der Krisis ein möglichst schnelles Ende zu bereiten und
sie zu fragen, was er zur Erreichung dieses Zwecks zu tun habe.
Saurma
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 !
2 wird ihm nie wieder gelingen
Schlußbemerkung des Kaisers:
Alles sehr schön! nutzt aber nichts, weil der Sultan keine Macht mehr hat.
Nr. 2518
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 271 St. Petersburg, den 17. November 1895
Österreichischer Geschäftsträger*, der aber nicht genannt werden
will, sagte mir vertraulich, Fürst Lobanow, den er heute gesehen, sei
mit Sendung zweiten Stationärs nach Konstantinopel einverstanden,
auch finde er Erscheinung von fremden Kriegsschiffen in Levante-
gewässern an sich nicht unzweckmäßig, Rußland aber habe nur drei
kleine Schiffe dort zur Verfügung. Dagegen habe sich Fürst Lobanow
absolut gegen den Graf Goluchowskischen Vorschlag bezüglich even-
tuellen Forcierens der Dardanellen ausgesprochen und halte diesen
Markgraf von Pallavicini.
183
Punkt als Vertragsbruch für unannehmbar. Außerdem gebe Fürst
Lobanow die möglichen anarchischen Zustände in Konstantinopel, die
den Sultan und fremde Untertanen gefährden könnten, überhaupt
nicht zu; Fürst Lobanow deutete gesprächsweise dem Geschäftsträger
an, daß England eine gemeinschaftliche Aktion als einen Erfolg der
Rede Lord Salisburys* auffassen würde.
Radolin
Nr. 2519
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 264 Wien, den 17. November 1895
Nachdem Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph mir gestern
vormittag persönlich in sehr dringender Weise die Bitte ausgesprochen
hatte, Deutschland möge sich bei der Eventualität einer Flotten-
demonstration der Mächte beteiligen, um nicht das Bild europäischer
Einigkeit zu stören, suchte mich Graf Goluchowski abends auf, um mir
dieselbe Bitte sehr eindringlich vorzutragen.
Ich habe dem Grafen in derselben Weise geantwortet wie Seiner
Majestät dem Kaiser: daß uns unsere glückliche Lage bezüglich des
Orients Reserve auferlege, daß leider unsere Flotte noch zu klein sei,
um an allen Punkten erscheinen zu können, wo unsere Interessen es
verlangten — hier aber unsere Interessen durch die Stationäre ge-
nügend vertreten schienen — , im übrigen die letzte Entscheidung
noch nicht gefällt und jedenfalls mir bestimmte Weisungen einer
Ablehnung nicht zugegangen seien.
Schließlich habe ich dem Grafen wie Seiner Majestät dem Kaiser
zugesagt, daß ich die österreichischen Wünsche nach Berlin über-
mitteln würde.
Ich habe den Eindruck, daß es Graf Goluchowski in erster Linie
darum zu tun ist, unsere rückhaltlose Zustimmung zu seinen Vor-
schlägen möglichst schnell zu haben, damit sein Erfolg nicht in Frage
kommt — besonders nicht gar durch seine Freunde in Frage ge-
stellt werde.
Ob bei der später vielleicht stattfindenden Demonstration deutsche
Schiffe anwesend sind oder nicht, ist ihm cura posterior.
P. Eulen bürg
* Vgl. Nr. 2492, Fußnote ***.
184
Nr. 2520
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 452 St. Petersburg, den 16. November 1805
Der Marineattache Kalau vom Hofe meldet: Die Mobilmachung
der Schwarzen-Meer-Flotte wird vorbereitet. Vermehrte Tätigkeit der
Zentralbehörde. Nachtragskredite zur Beschleunigung des Schiffsbaus,
Ausrüstung und Reparaturen bewilligt.
Verstärkung des Mittelmeergeschwaders durch Schiffe von Kron-
stadt (Panzer „Peter Weliki'' und zwei andere) beabsichtigt.
Man hofft, daß eine kriegerische Aktion noch bis zum Frühjahr ^
vermieden werden kann. Radolin
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
i Nach der Krönung?
Schlußbemerkung des Kaisers:
Dann werden wir uns auch darauf einrichten und unsre Schulschiffe früher
heimkehren lassen müssen, damit sie nicht abgeschnitten werden, eventlueljl
müßte auch die Division aus Ostasien heimkehren.
Die Armee Vermehrung muß umgehend ins Auge gefaßt werden. W.
Nr. 2521
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 182 Rom, den 19. November 1895
Baron Blanc sagt mir, er habe aus Wien und St. Petersburg die
telegraphische Meldung erhalten, daß Fürst Lobanow auf denjenigen
Punkt der Vorschläge des Grafen Goluchowski, welcher die Möglich-
keit einer eventuellen internationalen Flottendemonstration vor Kon-
stantinopel* ins Auge faßte, nicht eingehe. Im Anschluß hieran
teilte mir der Minister mit, daß ihn der österreichisch-ungarische Ge-
schäftsträger heute morgen aufgesucht habe, um ihn zu fragen, wie
er über die russische Weigerung denke. Seine Herrn von i^perjesy
erteilte Antwort wiederholte mir Baron Blanc nicht wortgetreu, aber
sinngemäß, wie folgt: „Je ne crois pas qu'il ait Heu de prendre au
tragique le refus de la Russie. — Je desire toujours la continuation
de l'accord entre tous les ambassadeurs des Grandes Puissances ä
Constantinople. — II me semble cependant que l'incident en question
prouve que les trois Puissances, qui sont liees entr'elles par les
stipulations du 12 decembre 1887, ne devraient pas trop craindre
de se montrer ensemblei. II faut notamment ne pas laisser croire
* Siehe Nr. 2505.
185
a Paris qu'il serait possible de semer la zizanie entre Rome et Vienne,
en excitant les defiances de l'ltalie contre l'Autriche par des manoeuvrcs
dans le genre de l'article du ,Temps' du 16 novembre et les defiances
de TAutriclie contre un accord separe anglo-italien qui n'existe pas."
Baron Blanc kam wiederholt darauf zurück, wie hohen Wert er
auf den Zusammenschluß der durch gemeinsame Mittelmeerinteressen
verbundenen drei Mächte Österreich-Ungarn, Italien und England lege.
Der Minister ließ hierbei streng vertraulich die Bemerkung fallen:
„Je ne grossirai pas les questions, je ne veux entrainer personne,
mais si l'Angleterre et l'Autriche marchaient, je les suivraii.'' Der
Minister betonte auch heute, daß er andererseits nicht daran denke,
sich zu avancieren, bevor England in Aktion getreten sei. Den italieni-
schen Botschafter in Konstantinopel* hat Baron Blanc angewiesen,
sich nicht von seinen übrigen Kollegen zu trennen, solange alle einig
wären, aber im Fall von A\einungsverschiedenheiten mit dem öster-
reichisch-ungarischen und englischen Vertreter zu gehen 2, In der dem
italienischen Botschafter erteilten Instruktion findet sich, wie Baron
Blanc im engsten Vertrauen hinzufügte, der Satz: „Wenn Ihr öster-
reichisch-ungarischer Kollege die Beteiligung der deutschen Botschaft
an italienisch-osterreichisch-englischen Demarchen anstreben sollte, er-
suche ich Sie, dieser Tendenz unter dem Hinweis darauf entgegen-
zuwirken, daß die Zurückhaltung Deutschlands in spezifisch orientali-
schen Fragen berechtigt ist und dem österreichisch-italienisch-englischen
Interesse nicht widerspricht 3/*
Mit der neuerlichen Haltung des Londoner Kabinetts schien der
italienische Minister der Auswärtigen Angelegenheiten im großen und
ganzen nicht unzufrieden zu sein. Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II,:
» Richtig
* gut
» sehr gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
Gut
Blanc ist von allen andren Mächte Ministem bei weitem der Vernünftigste;
aber Bülow hat ihn gut instruirt.
Nr. 2522
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 132 Pera, den 19. November 1895
Bei Gelegenheit einer Besprechung mit meinen Kollegen gaben
mir dieselben ihre Befriedigung über die dem Sultan auf höhere
* A. Pansa.
186
Weisung von mir erteilte ernste Warnung* zu erkennen. So deutlich
und unumwunden sei bisher noch von keinem der Botschafter zu ihm
gesprochen worden, und könne diese Sprache nur dazu beitragen,
ihn zu einer heilsamen Einsicht zu bringen, wenn er einer Sinnes-
änderung überhaupt noch fähig sein sollte.
S a u r m a
Nr. 2523
Der Botschalter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 133 Pera, den 19. November 18Q5
Sämtliche Vertreter der Großmächte sind nunmehr im Besitz
der Zustimmung ihrer Regierungen bezüglich der Entsendung eines
zweiten Stationärs.
Ich möchte das gleiche für uns befürworten i**, da gerade wir die
größte Kolonie hier haben, und unsere alte „Loreley", die gegenwärtig
überhaupt nur noch zirka 40 Fahrstunden bis zu einer Kesselreparatur
hat, nur Unzureichendes für den eventuellen Schutz der hiesigen
Deutschen zu leisten imstande wäre. Saurma
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Habe leider keinen! S. M. Aviso Kaiseradler war von mir dazu bestimmt.
Leider ist er vor kurzem mit seinen Kesseln total zusammengebrochen, da er
20 Jahre alt ist, daß er einer großen Kesselauswechslung im Dock unter-
worfen werden muß, die viele Monate dauert. Geld zu einem Stationär soll
vom Reichstag gefordert und nach Bewilligung eine englische Yacht gekauft
werden, da bei uns kein Fahrzeug dazu passend, vor allem geräumig vor-
handen ist
Nr. 2524
Der Botschalter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 135 Pera, den IQ. November 18Q5
Der Sultan hat sich, meinem Rat folgend***, jetzt auch an die
übrigen Botschafter mit der Bitte gewandt, ihm zu erklären, was er
zu tun habe, um das Vertrauen der Mächte wieder zu gewinnen.
In einer gestrigen Zusammenkunft verabredeten wir, ihm neben
dem, was ihm bereits durch mich früher gesagt wurde (Telegramm
* Vgl. Nr. 2510.
♦* Vgl. Nr. 2507 und 2513.
*** Vgl. Nr. 2510 und 2517.
187
Nr. 129*), zu empfehlen, „energische Wiederherstellung der Ruhe in
den Provinzen und Ergreifung von Maßregeln zur Sicherung der Ord-
nung in der Hauptstadt'*. Verschiedene zu diesem Zweck geeignete
[Maßregeln**] wurden ihm dabei angezeigt. Bereits heute hat uns der
Sultan erklärt, daß er alles angenommen und die entsprechenden Wei-
sungen in dem von uns angegebenen Sinne erlassen habe. Bericht
folgt.
Saurma
Schlußbemeriiung Kaiser Wilhelms IL:
Gut
Nr. 2525
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeld an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 276 London, den 20. November 1895
Im Anschluß an Telegramm Nr. 275***.
Durch vertrauliche Unterhaltung mit Lord Salisbury ist mein Ein-
druck verstärkt worden, daß er jetzt vor allem an zwei Punkten fest-
hält: Übereinstimmung der Mächte in Konstantinopel und Initiative
Österreichs 1 in bezug auf die für die Sicherheit der Fremden erforder-
lichen Vorschläge. Letztere begründete er mir gegenüber damit, daß
ein von Österreich ausgehender Vorschlag von anderen Mächten stets
mit weniger Mißtrauen werde aufgenommen werden als ein engUscher
Vorschlag.
Graf Deym nimmt nach vertraulichen Äußerungen mir gegenüber
an, daß Graf Ooluchowski jetzt seinen letzten Vorschlag modifizieren
wird, um das Bedenken des Fürsten Lobanow wegen etwaiger For-
cierung der Dardanellen zu beseitigen. Das gleiche scheint Lord Salis-
bury zu erwarten, und mein Eindruck ist, daß er allem zustimmen
wird, was von Wien kommt, indem er den Russen und Franzosen
überläßt, österreichische Vorschläge abzulehnen.
Auf meine Frage, was nach seiner Auffassung für die Sicherheit
der Fremden in Konstantinopel geschehen werde, falls keine Einigung
unter den Mächten auf Grund einer österreichischen Proposition zu-
stande komme, und die Fremden dort tatsächlich bedroht würden,
erwiderte mir der Premierminister, daß er dann nichts dazu
tun könne 2.
* Siehe Nr. 2517.
♦* Zusatz von der Hand des Freiherrn von Marschall an Stelle einer fehlenden
Zifferngruppe.
♦** Siehe Nr. 2461.
188
Als die größte Gefahr für die Türkei betrachtet Lord Salisbury
jetzt den arabischen Aufstand, welcher nach seiner Versicherung durch
keinerlei äußere Einflüsse herbeigeführt noch geschürt ist^. An fran-
zösische Absichten auf Syrien glaubt er trotz Entsendung französi-
schen Kriegsschiffs nicht.
Mit dem Artikel der „Morning Post" versichert er, nicht das ge-
ringste zu tun zu haben. Hatzfeldt
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Ja leider
- Wien u[nd] Rom Petersb[urlg mitth[eilen]
3 dann ist es sicher geschehn
Schlußbemerkung des Kaisers:
Er spielt falsch
Nr. 2526
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 138 Pera, den 20. November 18Q5
Seine Majestät der Sultan sandte mir heute seinen ersten Sekretär
Tahsin Bey, um mich zu bitten, bei den übrigen Botschaftern mich
dafür zu verwenden, daß deren Regierungen Abstand von der Ent-
sendung von zweiten Stationären* nähmen.
Ich erklärte mich dazu außerstande, beruhigte aber Seine Majestät
über den Zweck dieser Maßregel, welche in keiner Weis'e gegen seine
Person gerichtet sei, sondern lediglich zur Beruhigung der hier leben-
den Fremden ergriffen werden solle.
Saurma
Nr. 2527
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 232 Paris, den 20. November 18Q5
Herr Berthelot sagt mir, er habe die österreichischen Vorschläge
nur insoweit angenommen, als es sich um einen zweiten Stationär
handelt. Der Firman für denselben sei schon erwirkt und ein Aviso
segele heute von Athen aus nach Konstantinopel ab. Was aber den
weiteren Vorschlag betreffe, die verbündeten Flotten durch die
Dardanellen zu schicken und, falls nötig, durch Gewalt zu forcieren,
so gehe das der hiesigen Regierung viel zu weit, und sie habe ent-
* Vgl. Nr. 2523.
189
schieden es abgelehnt i, sich dabei zu beteiligen. Diese Antwort wird
mit derjenigen Rußlands identisch sein.
Über ein weiteres Gespräch mit dem Minister über die orien-
talische Frage berichte ich durch Feldjäger. Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Diese Antwort ist in Petersburg dem Chemiker diktirt worden.
Schlußbemerkung des Kaisers:
Die Ablehnung ist Goluchowski ganz gesund, warum kann er mit seinen An-
fragen nicht warten wie ich vorschlug bis England mit so etwas hervortrat.
Er wird sich aber über die Antwort ärgern, und zugleich sehn, wie weit
Gallien die Rolle der Maitresse dem Slavischen Louis gegenüber schon ein-
gegangen ist, und das ist gut.
Nr. 2528
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Entzifferung
Nr. 195 Pera, den 20. November 1895
Der Eindruck, welchen die letzte Warnung der Kaiserlichen Re-
gierung* auf den Sultan machte, war ein überaus tiefer. Bereits drei-
mal sandte er den Minister der Auswärtigen Angelegenheiten zu mir,
um von mir zu erforschen, ob ich glaubte, daß die Flotten der Mächte
kämen, um ihn abzusetzen. Kiasim Bey habe ihm nach seiner Unter-
redung mit mir Andeutungen in dieser Richtung gemacht.
Ich vermochte Seiner Majestät immer nur zu wiederholen, daß
ich nichts über die Absichten der bezüglichen Regierungen wisse,
daß ich aber jedenfalls das eventuelle Erscheinen ihrer maritimen
Streitkräfte in türkischen Gewässern für einen Schritt halte, aus wel-
chem sich unter Umständen allerdings sehr ernste Folgen für Seine
Majestät ergeben könnten. Saurma
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Gut
Nr. 2529
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 136 Berlin, den 21. November 1895
Graf Lanza teilt mit, daß Graf Nigra gemeldet habe, die Kaiser-
Hche Regierung habe den Sultan verständigt, daß Deutschland aus
♦ Vgl. Nr. 2510.
190
Freundschaft für den Sultan der allgemeinen Flottendemonstration
fern bleibe. Graf Nigra will dies aus englischer Quelle erfahren haben.
Baron Saurma hatte bereits vorher berichtet, daß meine bezüg-
lichen Eröffnungen an den türkischen Geschäftsträger* durch In-
diskretion des türkischen Chiffrierbureaus zur Kenntnis der russischen
und französischen Botschaft gekommen seien.
Wir haben das Bekanntwerden des vollständigen Textes nicht
zu scheuen, welcher den Gesamteindruck einer außerordentlich ernsten
Warnung gibt. Der freundschaftliche Vordersatz war darauf berechnet,
diesen Eindruck noch technisch zu verstärken.
Wir haben von Anfang an nie einen Augenblick für /nöglich ge-
halten, daß der weitgehende Vorschlag des Grafen Goluchowski, dessen
Annahme die franko-russische Politik von ihrer bisherigen Grundlage
weggezogen haben würde, die Zustimmung von Rußland und Frank-
reich finden könnte. Unser selbständiges Eingreifen bezweckte an-
gesichts dessen, den Sultan auf einem anderen Wege zur Nachgiebig-
keit zu bringen und dadurch zu vermeiden, daß von gegnerischer
Seite die Aktion des Grafen Goluchowski als eine ergebnislose be-
zeichnet werden könne.
Dieses Ziel glauben wir erreicht zu haben, denn es ist heute
nicht mehr zweifelhaft, daß der Sultan jetzt aufrichtig bestrebt ist,
dem Verlangen der Botschafter nachzukommen. Wieviel von diesem
Erfolge auf unsere Aktion und wieviel auf die angedrohte Flotten-
demonstration kommt, ist ein diplomatisches Internum, welches für
die Außenwelt kaum Interesse hat. Hauptsache ist, daß der Aktion
des Grafen Goluchowski diejenige Wirkung tatsächlich gefolgt ist,
auf welche sie berechnet war.
Die vorstehend skizzierten Gedanken stelle ich anheim, dem Baron
Blanc ganz vertraulich als Ihr Eigen zu insinuieren.
Marschall
Nr. 2530
Kaiser Wilhelm II., z. Z. in Göhrde, an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Telegramm. Entzifferung
Göhrde, den 23. November 18Q5
Nach Rücksprache mit dem Kommandierenden Admiral** und mit
dessen Einverständnis habe ich befohlen, daß „S. M. S. Kaiser*' von
Asien zurückberufen und nach Port Said beordert werden soll. Es ist
• Siehe Nr. 2510.
** Admiral Knorr.
191
dies geschehen, da ich aus den wiederholten Telegrammen unseres Bot-
schafters in Konstantinopel ersehen habe, daß das Nichterscheinen
eines zweiten Stationärs unsererseits bei seinen anderen Kollegen
Zweifel in unsere Aufrichtigkeit in der Mitwirkung zur Pression auf
die Türkei erweckt hat. Die Stationierung des „Kaiser" in Port Said
hält denselben fern von den anderen Flotten, verleiht zugleich, im Fall
ernstere Unruhen von Arabien nach Ägypten übergreifen sollten, der
großen deutschen Kolonie dortselbst Sicherheit. Sollten ernste Kom-
plikationen zwischen den europäischen Staaten entstehen, so kann der
„Kaiser" rascher von Port [Said], ohne abgeschnitten zu werden, als
von China zurückkehren, um unsere stark geschwächte Schlachtflotte,
die seiner dringend bedarf, zu verstärken. Dieselbe besteht zurzeit
nur aus sechs Schiffen, vier neuen und zwei alten. Es kann bei dem
augenblicklichen Mangel an Geld wie an Personal nicht einmal ohne
Etatsüberschreitung die „Deutschland" jetzt in Dienst gestellt werden.
Die Mitteilung von dem demnächstigen Erscheinen des „Kaiser" in
Port Said seitens Euerer Durchlaucht (innerhalb vier Wochen etwa)
dürfte ein neuer Beleg unseren Verbündeten für unsere Aufrichtigkeit
sein und eine Beruhigung für die Deutschen in der Türkei.
Fortsetzung folgt.
Wilhelm I. R.
Wittenberge, den 23. November 18Q5
Fortsetzung.
Ich bedauere, daß bei den geradezu himmelschreienden Zuständen
in unserer Marine und ihrer völligen Unzulänglichkeit in jeder Hin-
sicht dieses die einzige Art ist, in welcher ich den Wünschen Euerer
Durchlaucht betreffs unserer Flagge im Mittelländischen Meer ent-
gegenkommen kann. pp.
Wilhelm I. R.
Nr. 2531
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an Kaiser Wilhelm II.
Telegramm, Eigenhändiges Konzept
Berlin, den 23. November 1895
Euere Majestät muß ich auf das dringendste bitten, den Befehl
der Rückberufung Eurer Majestät Schiff „Kaiser" aus Ostasien so
lange zurückhalten zu wollen, bis ich Eurer Majestät die politischen
Gründe dargelegt habe, welche sowohl die Rückberufung des Schiffs
wie dessen Stationierung in Port Said unmöglich machen. Die
192
Schwächung unserer Flotte in den ostasiatischen Gewässern würde in
diesem Augenblick einem Verzicht auf die Ansprüche gleichkommen,
über die wir zurzeit mit der chinesischen Regierung verhandeln.
Die Stationierung eines Schiffs von der Stärke Eurer Majestät Schiff
„Kaiser" in Port Said würde eine Änderung der Politik bedeuten,
welche wir in der orientalischen und ägyptischen Frage bisher mit
Eurer Majestät Genehmigung verfolgt haben, und deren volle Auf-
richtigkeit heute von keiner Macht bezweifelt wird.
In Berücksichtigung der Dringlichkeit der Sache bitte ich Euere
Majestät, die Stunde bestimmen zu wollen, wann ich Eurer Majestät
Vortrag erstatten kann*.
C. Hohenlohe
Nr. 2532
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 146 Pera, den 26. November 1895
BekanntUch hat sich der Sultan vor wenigen Tagen direkt an die
Kabinette mit der Bitte gewandt, die beschlossene Maßregel, be-
treffend Entsendung zweiter Stationäre, rückgängig zu machen.
Infolgedessen haben die hiesigen Botschafter sämtlich an ihre
Regierungen gestern, 25., folgendes telegraphiert:
„Ihrer einstimmigen Auffassung nach erscheine die fragliche Maß-
regel als geboten sowohl im Interesse der Sicherheit der europäischen
Kolonien als wegen des hier auf dem Spiel stehenden Ansehens der
Mächte, deren Vertretern die Zustimmung des Sultans für die Durch-
gangsfirmans bereits mitgeteilt worden war.
Es sei auf der Gewährung der Firmans unter Bezeichnung einer
Frist zu bestehen mit der Warnung, daß, wenn diese Frist abgelaufen,
entsprechende Maßregeln würden ergriffen werden, um die Ausübung
eines Rechts zu sichern, welches durch die Verträge formell anerkannt
worden sei."
Der von den Botschaftern mir gegenüber ausgesprochenen Hoff-
nung, die Kaiserliche Regierung möchte doch die übrigen Regierungen
in dieser Angelegenheit — wenn auch nur moralisch, das ist durch
bloße Anmeldung eines Fahrzeugs, unterstützen, hielt ich ent-
gegen, der Sultan sei sich genügend bewußt, daß die Kaiserliche
Regierung bei ihren hier in Betracht kommenden Zielen mit den übrigen
• S. M. Schiff „Kaiser" wurde zunächst nicht zurückberufen. Infolge einer Be-
Schädigung im Hafen von Amoy mußte das Schiff im Januar zur Reparatur nach
Hongkong in Dock gehen, von wo es Anfang Februar die Heimreise antreten sollte.
Auf Befehl des Kaisers blieb aber das Schiff vorläufig in Ostasiea.
13 Die große Politik. Bd. 10. 1 93
Mächten einig sei, und bedürfe zur Erkenntnis dieser Tatsache wohl
nicht einer jedesmaligen äußerlich sichtbaren Bekräftigung.
Überdies sei eben ein entsprechendes Fahrzeug zurzeit nicht zur
Hand, und damit müsse man sich abfinden.
Saurma
Nr. 2533
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 82 Berlin, den 26. November 1895
Antwort auf Telegramm 146*.
Ew. pp. Ablehnung, zu dem neuesten Beschluß der Botschafter be-
treffend die zweiten Stationäre Stellung zu nehmen, deckt sich mit
unsrer sonstigen Haltung, während ich nicht sicher bin, ob alle ihre
Kollegen dabei genau den Standpunkt ihrer respektiven Regierungen
vertreten. Wenigstens gaben hier eingelaufene Berichte den Eindruck,
daß einzelne Kabinette anfangen, in der Frage weich zu werden.
Infolgedessen ward gestern von uns dem Wiener Kabinett ge-
raten, den Verhältnissen Rechnung zu tragen und durch seinen Ver-
treter als Doyen die Initiative des vorläufigen Verzichts auf zweiten
Stationär zu nehmen. Graf Goluchowski hatte aber gerade eine
Direktive für Aufrechthaltung des Stationärantrags — offenbar den-
jenigen, von welchem Ew. Telegramm 146 handelt — nach Kon-
stantinopel geschickt.
Heute früh teilte mir nun der russische Botschafter mit**, der
Sultan habe an den Zaren die Bitte gerichtet, dieser möge auf Be-
seitigung des Stationärantrags hinwirken. Der Botschafter fügte hinzu,
der Zar sei geneigt, der Bitte Folge zu geben. Zunächst wünsche die
russische Regierung zu wissen, wie Deutschland sich stellen würde.
Dem Bestreben, uns gegen Österreich und dessen Gruppe vorzu-
schieben, bin ich durch die Erwiderung ausgewichen, daß wir uns ja
in Ermangelung, eines geeigneten Fahrzeugs bei der ganzen Stationär-
verhandlung nicht beteiligt und deshalb keinen Anlaß hätten, jetzt
nachträglich Stellung zu nehmen. Wir würden aber, falls alle andern
Mächte einig seien, gegen deren Entscheidung keine prinzipiellen Be-
denken haben.
Ew. stelle ich anheim, vorstehendes vertraulich bei Ihrem öster-
reichischen Kollegen zu verwerten.
Marschall
* Siehe Nr. 2532.
** Siehe Nr. 2534.
194
Nr. 2534
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn
von Marschall
Reinschrift von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein*
[Berlin, den 26. November 1895]
Soeben hat mich der russische Botschafter aufgesucht, um mir
mitzuteilen, er habe ein Telegramm von Fürst Lobanow erhalten, wo-
nach der Sultan sich direkt an den Kaiser von Rußland gewandt habe
mit der Bitte, bei den Großmächten dahin wirken zu wollen, daß von
der Entsendung der zweiten Stationäre Abstand genommen werde. Der
Sultan motiviere seine Bitte damit, daß bisher den Fremden keinerlei
Schaden in der Türkei zugefügt worden sei, und daß in der Hauptstadt
keinerlei Unruhen vorgefallen seien. Die Entsendung zweiter Stationäre
werde die Bevölkerung der Türkei aufregen und dem Sultan die Auf-
gabe erschweren, Ordnung zu halten, während die Armenier darin eine
Ermutigung ihrer revolutionären Bestrebungen sehen würden.
Graf Osten-Sacken teilte im Auftrage seiner Regierung mit, der
Kaiser von Rußland sei geneigt, dem Wunsche des Sultans entsprechend
seine Vermittelung bei den anderen Regierungen eintreten zu lassen,
und er sei beauftragt zu fragen, ob wir diesen Standpunkt teilten.
Ich erwiderte dem russischen Botschafter, daß wir selbst aus
mannetechnischen Gründen nicht in der Lage seien, einen zweiten
Stationär zu entsenden, und daher auch nicht in der Lage seien,
irgendwelche Initiative zu ergreifen. Da die Initiative zu dem Vor-
schlage der Entsendung zweiter Stationäre von Wien ausgegangen,
würde nach unserer Ansicht Fürst Lobanow gut tun, sich zunächst
mit Graf Goluchowski in Verbindung zu setzen.
Sollten sämtliche anderen Mächte in die Aufschiebung der Ent-
sendung von zweiten Stationären willigen, so hätten wir dagegen
selbstverständlich auch nichts einzuwenden,
Marschall
Nr. 2535
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
an den Botschafter in Konstantinopel Freiherrn von Saurma
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 85 Berlin, den 29. November 1895
Der türkische Geschäftsträger war eben bei mir, um mich im
Auftrage seiner Regierung zu bitten, bei den Großmächten dahin zu
wirken, daß die Entsendung der zweiten Stationäre unterbleibe.
* Am Kopf des Schriftstücks steht von der Hand des Vortragenden Rats Mumm
von Schwarzenstein: Auftragsgemäß habe ich dem österreichischen Botschafter
von dem Inhalte der nebenstehenden Aufzeichnung Mitteilung gemacht v. M. 26
13- 195
Ich habe es abgelehnt, diesem Wunsche zu entsprechen, und
dem Geschäftsträger gesagt, wir seien zwar selbst aus marinetechnischen
Gründen zurzeit nicht in der Lage, einen zweiten Stationär zu ent-
senden, gleichwohl teile die Regierung Seiner Majestät des Kaisers
durchaus die Auffassung der übrigen Großmächte und könne dem
Sultan nur dringend raten, dem gemeinsamen Antrage derselben zu
entsprechen.
Die Entsendung der zweiten Stationäre sei in keiner Weise gegen
die Person des Sultans gerichtet, sondern bezwecke nur die Be-
ruhigung der Fremden in der Türkei.
Ew. ersuche ich, sich dort im gleichen Sinne zu äußern und dabei
einfließen zu lassen, daß eine Ablehnung des Verlangens der Groß-
mächte dem Sultan möglicherweise auch persönliche Feindschaften
zuziehen könne.
Marschall
Nr. 2536
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schvvarzenstein
Nr. 333 Berlin, den 6. Dezember 1895
Fürst Lobanow hat gestern dem Fürsten Radolin angedeutet, „daß
Deutschland seine hohe Mission, in seiner Uneigennützigkeit wurzelnd
als Vermittler zu wirken gegenwärtig Gelegenheit hätte, im Interesse
des Friedens in besonderem Maße zu betätigen; Fürst Lobanow habe
aber das unbestimmte Gefühl, daß der deutsche Vertreter in Kon-
stantinopel sich zu sehr effaciere'*.
Unverkennbar sollte dies heißen, der deutsche Vertreter möge
doch den von Rußland gestellten, dann wieder fallen gelassenen Antrag
auf Zurückziehung der Forderung der Fermane für die zweiten Sta-
tionäre unterstützen.
Ich habe darauf dem Fürsten Radolin geantwortet*:
„Trotzdem Deutschland bei allen türkischen Angelegenheiten
weniger als die übrigen Großmächte interessiert ist, hat doch der
Kaiserliche Botschafter in Konstantinopel in der letzten Zeit eine
durchaus nicht effacierte Rolle gespielt. Der Rat, welchen er dem
Sultan zu der Zeit erteilte, wo die Massakers ihre größte Ausdehnung
angenommen hatten, hat sogar ein gewisses Retentissement gehabt,
und ihm ist eine günstige Wirkung allgemein zuerkannt worden**. In
* Durch Telegramm Nr. 215 vom 6. Dezember.
*♦ Vgl. Nr. 2522.
1%
der Stationärfrage hat Baron Saurma, obschon Deutschland nicht in
der Lage war, selber ein geeignetes Schiff zu schicken*, gleichwohl
mit größter Entschiedenheit die Schritte der übrigen Botschafter unter-
stützt. Die Einigkeit der Mächte in dieser Frage ward gestört und
damit die Wirksamkeit ihrer Vorstellungen beeinträchtigt nicht durch
die Haltung des deutschen, sondern durch die des russischen Bot-
schafters, welcher neuerdings erklärte, ohne Instruktionen zu sein.
Gleichwohl war die erste Anregung der Entsendung eines zweiten
Stationärs ursprünglich grade von Herrn von Nelidow ausgegangen.
Sobald und soweit nach Eintreffen der russischen Instruktionen
die Einigkeit unter den Mächten wiederhergestellt sein wird, wird
auch der Sultan nachgeben."
Es ist übrigens nur natürlich, daß jede der beiden großen Inter-
essentengruppen, die sich in Pera gegenüberstehen, Deutschland für
ihre Zwecke nutzbar machen möchte, pp.
Marschall
Nr. 2537
Der Botschafter in Konstantinopel Freiherr von Saurma an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 163 Pera, den 10. Dezember 1895
Soeben teilt mir der Minister des Äußern mit, daß Seine Majestät
der Sultan die Genehmigung zur Durchfahrt durch die Meerengen für
die zweiten Stationäre unter der Voraussetzung erteilt hat, daß dieselben
bezüglich ihrer Größe dasjenige Maß innehalten, welches durch den
Pariser Vertrag bestimmt ist, sowie daß durch diese Maßregel nichts
an den Festsetzungen des gedachten Vertrags geändert werde.
Saurma
• Vgl. Nr. 2523.
197
C. Versuche einer Aktivierung der Entente ä trois
Nr. 2538
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 184 Rom, den 8. November 1895
Geheim
pp. In welcher Richtung sich gegenwärtig die Gedanken der
hiesigen leitenden Staatsmänner bewegen, möchte ich aus einer Be-
merkung entnehmen, weiche Baron Blanc heute im Laufe einer Unter-
redung über die allgemeine Lage mir gegenüber machte. Herr Crispi,
erzählte mir der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, habe vor
einigen Tagen an ihn die Frage gerichtet, ob es sich nicht empfehlen
würde, in Wien und London anzufragen, ob man dort noch auf dem
Boden der Sekreten Abmachungen von 18871* stünde. Baron Blanc
setzte hinzu, daß diese Abmachungen ihm nach wie vor als die wün-
schenswerteste Grundlage 2 der italienischen Mittelmeerpolitik er-
schienen.
B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Willielms II.:
1 Ja
2 gut
Schlußbemerkung des Kaisers:
Gut
Nr. 2539
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 178 Rom, den 13. November 1895
Baron Blanc sagte mir im engsten Vertrauen, daß der österreichisch-
ungarische Geschäftsträger Herr von Eperjesy ihn gestern aufgesucht
habe, um ihn im Auftrage seiner Regierung zu fragen, welche Haltung
die italienische Regierung gegenüber der sich mehr und mehr zu-
spitzenden orientalischen Krisis einzunehmen gedenke. Die auf diese
Anfrage von ihm erteilte Antwort resümierte mir Baron Blanc etwa
* Vgl. Bd. IV, Kap. XXVII: Entente ä trois zwischen Italien, England und Öster-
reich 1887—88.
201
folgendermaßen: „Je regarde les arrangements de 1887 comme encore
existants. Je crois que si la France et la Russie continuent ä se
persuader que les aniis de 1887 — Tltalie, la Grande-Bretagne et
l'Autriche-Hongrie — n'osent plus se montrer ensemble, cela peut
encourager les deux puissances dans une voie perilleuse pour la
paix."
Der Minister fügte hinzu, er habe auf die Frage des österreichisch-
ungarischen Geschäftsträgers, ob es nicht opportun sein würde,
Deutschland aufzufordern, sich enger an die drei Mächte anzuschließen,
welche durch die Abmachungen von 1887 verbunden wären, nach-
stehendes geantwortet:
„Je n'ai aucun doute sur la loyaute de TAllemagne, mais je crois
qu'elle peut nous etre plus utile en seconde ligne. Ce n'est pas ä
Berlin mais ä Londres qu'il faut agir."
B ü 1 o w
Nr. 2540
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 131 Berlin, den 14. November 1895
Ew. Telegramme Nr. 177* und 178** konnte ich noch gleich
gestern abend Seiner Majestät unterbreiten. Allerhöchstderselbe war
über den Inhalt beider, namentlich über den des Telegramms Nr. 178
in hohem Grade befriedigt. Er beauftragt Eure Exzellenz, dem Baron
Blanc dafür die Anerkennung und insbesondere für die im Schlußsatze
des Telegramms Nr. 178 zum Ausdruck gebrachte Nuancierung den
Dank des Kaisers auszusprechen.
Marschall
Nr. 2541
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg***
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 861 Berlin, den 14. November 1895
Ew. beehre ich mich, anbei die Telegramme des Kaiserlichen
Botschafters in Rom Nr. 177f und 178 ff vom gestrigen Tage, sowie
♦ Siehe Nr. 2509.
** Siehe Nr. 2539.
*** Der gleiche Erlaß ging an den Botschafter in London (Nr. 1326).
t Siehe Nr. 2509.
ft Siehe Nr. 2539.
202
die im allerhöchsten Auftrage darauf ergangene Antwort* crgebenst
zu übersenden. Falls von kompetenter Seite Ihnen gegenüber die
österreichisch-englisch-italienischen Beziehungen und die Konvention
der neun Punkte vom 12, Dezember 1887** zur Sprache gebracht wer-
den sollte, wollen Ew. sich vorsichtig, jedoch in einer Weise äußern,
welche Ihrer Ansicht nach geeignet ist, die von unserm allergnädigsten
Herrn gewünschte österreichisch-englisch-italienische Annäherung zu
fördern.
Marschall
Nr. 2542
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Wien
Grafen zu Eulenburg
Telegramm. Konzept von der Hand des Staatssekretärs Freiherrn von Marschall
Nr. 173 Berlin, den 14. November 1895
Seine Majestät haben sich gestern in meinem Immediatvortrage
und demnächst zum österreichisch-ungarischen Botschafter dahin ge-
äußert: Seine Majestät sei überzeugt, daß Rußland und Frankreich
untrennbar verbunden seien, um ihre Zwecke gemeinsam zu ver-
folgen, und daß Frankreich, indem es seine Politik und seine Macht
in Rußlands Dienste stelle, im letzten Ende die Wiedererwerbung
von Elsaß-Lothringen im Auge habe. Über die letzten Ziele der
russisch-französischen Entente werde Kaiser Nikolaus von seinen Rat-
gebern geflissentlich im unklaren gehalten. Seine Majestät sei voll-
kommen damit einverstanden, daß die drei Mächte, welche sich 1887
im Sinne der Erhaltung des Status quo im Orient verständigten, auf
der Grundlage jener Verständigung in einen Gedankenaustausch träten,
um eine gemeinsame Haltung angesichts der gegenwärtigen Lage
zu verabreden. Deutschland werde in zweiter Reihe hinter den drei
Mächten stehen. Sollte die Erhaltung des status quo nicht möglich sein,
und Eventualitäten eintreten, welche heute nicht vorhergesehen werden
können, so werde die Lage neuerdings von den Mächten zu prüfen
sein. Deutschland werde Österreich-Ungarn vor einem bewaffneten
Konflikt mit Rußland namentlich dann warnen, wenn England noch
nicht fest engagiert sei. Aber selbstverständlich stehe dem Kaiser
Franz Joseph und seiner Regierung das endgültige Urteil darüber zu,
ob ein Lebensinteresse der österreichisch-ungarischen Monarchie durch
den Eintritt gewisser Ereignisse verletzt sei oder nicht. Falls die
Großmachtstellung Österreich-Ungarns ohne Provokation seinerseits
bedroht werde, könne sich Kaiser Franz Joseph auf ihn, den Kaiser,
verlassen. C. Hohenlohe
♦ Siehe Nr. 2540.
*' Das heißt die Abmachungen von 1887, vgl. Bd. IV, Nr. Q38, Anlage.
203
Nr. 2543
Der Staa^ssekrefär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe, z. Z. in Letzlingen
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Berlin, den 15. November 1895
Die Kürze des vorgestrigen Immediatvortrages hat nicht gestattet,
den Bericht Nr. 258* des Grafen Eulenburg Seiner Majestät vorzu-
lesen. Es dürfte sich daher empfehlen, daß Ew. jetzt noch nach-
träglich wenigstens den kurzen Inhalt des gehorsamst angeschlossenen
Berichts bei Seiner Majestät zum Vortrag bringen. Die beiden Haupt-
punkte sind, daß der Kaiserliche Botschafter dem Grafen Goluchowski
gesagt hat, Österreich könne bei einem aus der Meerengenfrage ent-
standenen Kriege unter keinen Umständen auf deutsche Unter-
stützung rechnen ; und daß darauf Graf Goluchowski erwiderte, Öster-
reich-Ungarn werde sich, solange wenigstens er Minister sei, unter
keinen Umständen von der Meerengenfrage desinteressieren. Den
hierdurch zwischen den Kabinetten von Berlin und Wien entstandenen
Riß hat Seine Majestät dadurch überbrückt, daß er noch vorgestern
abend dem österreichisch-ungarischen Botschafter erklärte, „Deutsch-
land werde allerdings Österreich-Ungarn vor einem bewaffneten Kon-
flikt mit Rußland namentlich dann warnen, wenn England noch nicht
fest engagiert sei. Aber selbstverständlich stehe dem Kaiser Franz
Joseph und seiner Regierung das endgültige Urteil darüber zu, ob
ein Lebensinteresse der österreichisch-ungarischen Monarchie durch
den Eintritt gewisser Ereignisse verletzt sei oder nicht. Falls die
Großmachtstellung Österreich-Ungarns ohne Provokation seinerseits
bedroht werde, könne sich Kaiser Franz Joseph auf unsern aller-
gnädigsten Herrn verlassen".
Vorstehendes ist dem Grafen Eulenburg sofort telegraphisch mit-
geteilt worden, um seine Sprache zu regeln.
Schließlich darf ich hinzufügen, daß die inhaltliche Mitteilung
des Eulenburgschen Berichts an Seine Majestät hauptsächlich der
formalen Korrektheit wegen zu geschehen hat. Etwas tatsäch-
lich Neues wird Seine Majestät daraus nicht ersehen, weil der Ab-
stand zwischen den Ansichten des Grafen Eulenburg und denen des
Wiener Kabinetts noch deutlicher als in der Unterredung mit dem
Grafen Goluchowski in der Audienz beim Kaiser Franz Joseph zum
Ausdruck gekommen ist, über welche Graf Eulenburg Seiner Majestät
unserm allergnädigsten Herrn direkten Bericht erstattet hat**.
Der Vollständigkeit wegen füge ich für Ew. Durchlaucht Vor-
trag noch Abschrift der von Ew. Durchlaucht dem Grafen Eulenburg
• Siehe Nr. 24Q7.
** Siehe Nr. 2500.
204
erteilten Antwort — Erlaß nach Wien Nr. 857* — , sowie des
Berichts des Botschafters von Bülow Nr. 184 vom 8. d. Mts.** ge-
horsamst bei; letzterer, welcher im Original bereits Seiner Majestät vor-
liegt, veranschaulicht einige der Gefahren, welche den Bestand des Drei-
bunds schon jetzt bedrohen.
Marschall
Nr. 2544
Der Österreich -ungarische Botschafter in Berlin von Szögy6ny an
den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Note. Unsignierte, undatierte Ausfertigung, am 17. November vom Österreich-
imgarischen Botschafter dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall überreicht
[Berlin, den 17. November 1895]
Graf Goluchowski telegraphiert vom 16. dieses Abend folgendes:
Ich habe den hochwichtigen Inhalt Ihres Telegrammes vom
14. dieses*** zur allerhöchsten Kenntnis unseres allergnädigsten Herrn
gebracht. Allerhöchstderselbe hat mich ermächtigt, sobald Sie Ge-
legenheit haben, Seiner Majestät dem Kaiser Wilhelm den aufrichtig-
sten und wärmsten Dank unseres allergnädigsten Herrn für die offene
und loyale Aussprache zu melden, mit welcher Kaiser Wilhelm die
maßgebenden Gesichtspunkte der deutschen Politik in den Orient-
fragen Ihnen gegenüber präzisierte.
Unser allergnädigster Herr hat auch Grafen Eulenburg zu sich
bitten lassen und denselben ersucht. Seiner Majestät dem Deutschen
Kaiser über höchstdessen so erfreuliche Erklärungen den aufrichtigsten
Dank auszusprechen. —
Wir haben nie den geringsten Zweifel daran gehabt, daß die
Kaiserlich Deutsche Regierung den Interessen Österreich-Ungarns in
den Orientfragen Rechnung tragen wird, und waren immer überzeugt,
daß Deutschland unterstützend auf unsere Seite treten wird, wenn
die Machtstellung unserer Monarchie durch Ereignisse im Orient ge-
fährdet würde, und wenn es sich darum handeln sollte, diese Macht-
stellung verteidigen zu müssen.
Wenn dies betreffend teilweise in der öffentlichen Meinung irrige
Auffassungen auftauchten, so haben wir dies hauptsächlich darum
bedauert, weil hierdurch in der Öffentlichkeit die richtige Wertschätzung
unseres Bundesverhältnisses beeinträchtigt wurde.
Seit dem Abschlüsse des deutsch-österreichischen Bündnisses ist
* Siehe Nr. 2501. j
** Siehe Nr. 2538."
*** Vgl. Nr. 2542.
205
die rückhaltslose Erklärung Seiner Majestät Kaiser Wilhelms, welche
höchstdersclbe Ihnen gegenüber über die Tragweite desselben ge-
macht hat, die bedeutungsvollste Enunziation. — Sie wird das intime
Freundschaftsverhältnis zwischen beiden Staaten noch inniger ge-
stalten; wir begrüßen dieselbe mit aufrichtigstem Danke und großer
Freude, weil wir in ihr die verläßlichste Bürgschaft finden, daß die
Regierungen beider Reiche die beste Garantie der eigenen Sicherheit
und die Wahrung der vitalsten Interessen ihrer eigenen Völker in der
gemeinschaftlichen Verteidigung ihrer beiderseitigen Machtstellung er-
blicken. —
Eine jedwede aggressive Tendenz oder Provokation werden wir
sorgsam vermeiden; nach wie vor richten wir unser ernstlichstes Be-
mühen auf die Erhaltung des europäischen Friedens, und wir sind
fest entschlossen, im Interesse dieses Friedens bei der Behandlung
aller internationaler Fragen bis zu den äußersten Grenzen der Mäßig-
keit und Nachgiebigkeit zu gehen. Wir werden dieser rücksichtsvollen
und besonnenen Politik unter allen Umständen treu bleiben. Wir
tun dies mit um so größerer Beruhigung, weil wir das Bewußtsein
haben, daß, wenn trotz alledem Ereignisse eintreten sollten, die die
Machtstellung unserer Monarchie ernstlich gefährden würden, bei Ver-
teidigung derselben Deutschland als unser treuer Bundesgenosse mit
seiner ganzen Macht an unserer Seite stehen wird. —
Ich ersuche Euere Exzellenz, meiner aufrichtigsten Genugtuung
und Freude über die so vollkommene Übereinstimmung unserer Re-
gierungen in der Auffassung unseres Bundesverhältnisses Ausdruck
zu verleihen und Seiner Durchlaucht dem Herrn Reichskanzler und
dem Herrn Staatssekretär Baron Marschall meinen innigstgefühlten
Dank für ihre in dieser Richtung betätigten erfolgreichen Bemühun-
gen auszusprechen. —
Nr. 2545
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 263 Wien, den 15. November 1895
Graf Goluchowski war von den dem Herrn von Szögyeny durch
Seine Majestät den Kaiser und König gemachten Erklärungen über
unsere Auffassung der gegenwärtigen Lage und der Bundesverhält-
nisse zu Österreich-Ungarn* sichtlich beglückt und bat mich in be-
♦ Vgl. Nr. 2542.
206
wegten Worten, seinen Dank hierfür übermitteln zu wollen. Namentlich
sei auch der Kaiser Franz Joseph hocherfreut über die gedachte Auf-
fassung gewesen, die an Wärme und Entschiedenheit alle bisherigen
in den Schatten stelle i. Der Minister fühlte sich durch unsere Unter-
stützung sehr ermutigt, doch habe ich nicht unterlassen, ihm im Sinne
der mir gewordenen Weisung zur Mäßigkeit zu raten und vor einem
Konflikte mit Rußland ohne vorheriges Eingreifen Englands zu warnen.
Ich werde es mir auch ferner angelegen sein lassen, auf das erregbare
und leidenschaftliche Temperament des Grafen mäßigend einzu-
wirken 2. pp.
P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Sonderbar!
ist weiter nichts als eine Wiederholung dessen gewesen, was ich dem Kaiser
in Stettin gesagt!!
2 gut
Nr. 2546
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 135 Berlin, den 20. November 1895
Antwort auf Telegramm Nr. 182*.
Der Standpunkt des Baron Blanc, daß Österreich und England
neben Italien in erster Linie stehen und wir in der zweiten, ist durch-
aus korrekt. Hier ist bemerkt worden, daß in den letzten Tagen, und
zwar nachdem Österreich und Italien eine energische Haltung ein-
genommen hatten, Lord Salisbury eine friedlichere Tonart anschlägt.
Es ist dies für Italien durchaus kein Anlaß zur Entmutigung, wohl aber
zur Vorsicht. Um Englands Lage zu fixieren, wäre es praktisch, wenn
Wien und Rom sich darüber verständigten, in London eine genauere
Interpretation der „neun Punkte"** in der jetzigen Form anzuregen,
mit dem Vorbehalt, daß dieselbe in einen Staatsvertrag umgewandelt
werden soll, sobald die Verhältnisse im Orient das Herannahen einer
Krisis erwarten lassen.
Ew. pp. stelle ich anheim, den Baron Blanc ohne notwendige Er-
wähnung des Auftrags gelegentlich auf diese Spur zu setzen.
Marschall
♦ Siehe Nr. 2521.
♦* Das heißt des Mittelmeerabkommens von 1887.
207
Nr. 2547
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Freiherr von Marschall an den Botschafter in London
Grafen von Hatzfeldt
Konzept
Nr. 1384 Berlin, den 20. November 1895
In den letzten Tagen hatte ich Anlaß genommen, Euere Exzellenz
um Auskunft über die Ursachen zu bitten, welche die plötzliche Schwen-
kung des englischen Kabinetts dem Sultan gegenüber herbeigeführt
haben konnten*. Da kein deutlich erkennbarer Beweggrund vorzuliegen
scheint, so haben wir es hier vermutlich mit einem Versuch Lord
Salisburys zu tun, nach altenglischer Art sich zurückzuziehen, sobald
andere Mächte sich kampflustig zeigen i.
Graf Goluchowski hat durch seinen Vorschlag zu einer gemein-
samen, eventuell gewaltsamen Flottendemonstration die Tatenlust Öster-
reichs bekundet. Daß Italien, wie Euere Exzellenz aus dem beigefügten
Telegramm Nr. 182** ersehen, bereit ist, bei der Orientfrage eine aktive
Rolle zu spielen, dürfte dem englischen Kabinett zur Genüge bekannt ge-
wesen sein. Die Erscheinung, daß Lord Salisbury gerade diesen Moment
wählt, um zu erklären, daß man mit dem Sultan trotz seiner vielen
Schwächen Nachsicht haben müsse; der Umstand ferner, daß Lord
Salisbury, soviel wir wissen, weder in Wien noch in Rom den Wunsch
eines Ausbaues der Abmachung vom 12. Dezember 1887*** hat er-
kennen lassen, geben dem Verdacht Nahrung, daß Lord Salisbury
zunächst noch einmal versuchen möchte, Englands Interessen ohne
Englands Mitwirkung verteidigen zu lassen 2. Voraussichtlich wird
die nächste Zukunft etwas mehr Klarheit über Englands diplomatische
Pläne gewähren, denn es liegt in der rührigen Natur des Baron Blanc,
daß dieser die Frage wegen des Ausbaues der Abmachung von 1887
nicht einschlafen läßt, sondern mit den beiden anderen Interessenten
weiter erörtert. Wenn also demnächst von Rom, von Wien oder von
beiden in London weitere Anregungen erfolgen bezüglich Vorbereitung
eines im kritischen Moment zu finalisierenden pactum de contrahendo,
wird man ja sehen, wie Lord Salisbury sich dazu stellt. Für eine
direkte Ablehnung, welche unfehlbar dazu führen würde, die italienische
Politik in eine andere Richtung zu treiben, halte ich ihn zu klug.
♦ Siehe Nr. 2461, Fußnote •
** Siehe Nr. 2521.
*** Siehe Bd. IV, Kap. XXVIII, Nr. 940, Anlage.
208
Aus dem Grade seiner Zurückhaltung und der Natur seiner even-
tuellen Ausflüchte wird man aber wahrscheinlich auf seine wirklichen
Endabsichten zurückschließen können. Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Abschrift:
1 Ja
* ja
Nr. 2548
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm II., z. Z. in Göhrde
Ausfertigung
Berlin, den 21. November 1895
Euerer Kaiserlichen und KönigUchen Majestät verfehle ich nicht,
ein Telegramm des Grafen Hatzfeldt* ehrfurchtsvollst zu unterbreiten,
wonach das englische Kabinett, welches bis vor kurzem im Vordergrund
der orientalischen Aktion stand, jetzt die unverkennbare Neigung
zeigt, den Vortritt an Österreich-Ungarn zu überlassen i. Der von
Euerer Majestät bereits an anderer Stelle** kritisierte Vorschlag des
Grafen Goluchowski hat die Wirkung gehabt, in der Anschauung Lord
Salisburys wenn auch nicht von Englands Interessen, so doch von
der Art, dieselben zu verteidigen, eine Änderung herbeizuführen. Lord
Salisbury tritt gern die Führung an Graf Goluchowski ab und bringt
diesen dadurch in das diplomatische Vordertreffen gegenüber Ruß-
land und Frankreich.
Da allerlei Anzeichen in den letzten Tagen ein derartiges Kurz-
treten des englischen Kabinetts ahnen ließen, ist bereits mit gestriger
Kurierexpedition Euerer Majestät Botschafter in London daraufhin
durch den alleruntertänigst beigefügten Erlaß*** instruiert worden.
In gleichem Sinne — d. h, mit Hinweis darauf, daß England in
demselben Grade zurückweicht, wie es andere Mächte geneigt sieht,
bei Verteidigung gemeinsamer, insbesondere auch englischer Interessen
sich voranzustellen — wird heute, wie übrigens schon zu wiederholten
Malen, die österreichische und die italienische Regierung verständigt
werden 2. Marschall
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Wien und Rom scharf machen daß sie stets England den Vortritt im Handeln
lassen 22/XI 95
Randbemerkungen des Kaisers:
1 Das haben wir ja von jeher vorher gesehn, und daher warnte ich in Wien vor
Vorschlägen, welche von England kommen mußten.
* gut
auch Badeni soll nicht uninformirt bleiben
* Telegramm Nr. 276 vom 20. November, siehe Nr. 2525.
** Vgl. Nr. 2505, Randbemerkung.
*** Siehe Nr. 2547.
14 Die Große Politik. 10. Bd. _ 209
Nr. 2549
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
jsjr. 816 Berlin, den 21. November 1895
Anknüpfend an frühere Mitteilungen beehre ich mich, Ew. pp.
anbei Abschrift eines Erlasses* zu übersenden, welchen ich gestern
nach London gerichtet habe.
Nach Abgang dieses Erlasses traf ein Telegramm des Grafen
Hatzfcldt** ein, worin derselbe über eine Unterhaltung mit Lord Saiis-
bury berichtet. Der englische Minister hatte in derselben die Rück-
zugsbewcgung der englischen Politik, welche bereits seit dem Vor-
treten des Grafen Goiuchowski erkennbar war, noch deutlicher
akzentuiert und dadurch die diesseitige, von Ew. geteilte Meinung
bestätigt, daß England stets geneigt ist, bescheiden zurückzutreten,
sobald es andere Mächte geneigt sieht, zur Verteidigung englischer
Interessen vorzugehen.
Die neueste Haltung des englischen Ministers begründet keines-
wegs die Vermutung, daß seine Anschauung über Englands Mittel-
meer- und Orientinteressen sich geändert habe; nur seine Anschauung
von der Art der Verteidigung dieser Interessen hat sich geändert, da
durch das jugendlich energische Auftreten des Grafen Goluchfjwski
das alte Ideal der englischen Politik, andere für England streiten zu
lassen, dem englischen Minister in erreichbarere Nähe gerückt schien.
Ew. pp. werden in der Lage sein, den Baron Blanc bei Besprechung
der Haltung Englands in der Ansicht zu befestigen, daß die beste,
ja die einzig mögliche Art, England in eine politische oder weiter-
gehende Aktion hineinzubringen, die ist, seli)er guten Willen zu zeigen,
dabei aber sich entweder hinter oder äußersten Falles auf gleicher
Höhe mit ihm zu bewegen.
Wenn Baron Blanc etwa das Vorstehende als seinen eigenen
Standpunkt durch den österreichischen Vertreter in Rom oder durch
den italienischen Vertreter in Wien an den Grafen Goiuchowski sagen
ließe, so würde der italienische Minister damit unseren gemeinsamen
Interessen vielleicht Nutzen schaffen, ohne den österreichischen Mi-
nister durch direkte Belehrung zu kränken.
Marschall
♦ Siehe Nr. 2547,
♦* Siehe Nr. 2525.
210
Nr. 2550
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 183 Rom, den 21. November 1895
Ich fand heute ungezwungene Gelegenheit, gegenüber Baron Blanc
auf dessen neuHche Bemerkung* zurückzukommen, daß Herr Crispi
sich mit der Absicht trage, in London und Wien anzufragen, ob man
dort noch auf dem Boden der Abmachungen von 1887 stehe. Der
Minister entgegnete, eine solche Anfrage sei in London bereits gestellt
worden. Lord Salisbury habe dem itaüenischen Botschafter erklärt,
daß er die fraglichen Abmachungen als noch in Kraft befindlich be-
trachte. Ich ließ hierauf — ohne auf einen Auftrag schließen zu
lassen, lediglich als persönlichen Gedanken — die Bemerkung fallen,
daß es, um Englands Lage zu fixieren, offenbar praktisch sein würde,
wenn Rom sich mit Wien darüber verständigte, in London eine
genauere Interpretation der „neun Punkte" in der jetzigen Form an-
zuregen i mit dem Vorbehalt, daß diese in einen Staatsvertrag um-
gewandelt werden solle 2, sobald die Verhältnisse im Orient das Heran-
nahen einer Krisis erwarten ließen. Die zögernde Art und Weise, in
welcher Baron Blanc auf meine Idee einging, deutete darauf hin,
daß der italienische Minister der Auswärtigen Angelegenheiten durch
die von Lord Salisbury während der letzten Tage angeschlagene —
und hier sofort bemerkte — friedlichere Tonart bis zu einem gewissen
Grade deroutiert ist. Baron Blanc meinte, daß er sich von der An-
regung einer genaueren Interpretation der „neun Punkte'' in London
unter den jetzigen Verhältnissen keinen besonderen Erfolg versprechen
könne. Was andererseits die Form der Stipulationen von 1887 an-
gehe, wolle er nicht bestreiten, daß ein von den Souveränen unter-
zeichneter Staatsvertrag an und für sich besser sein würde als der
gegenwärtige Zustand. Er glaube jedoch nicht, daß England auch
nur vorbehaltsweise auf eine solche Umwandlung eingehen werde,
solange die Dinge nicht tatsächlich noch mehr ins Rollen gekommen
sein würden.
Im Anschluß hieran äußerte der Minister, daß die jüngsten Wiener
Vorschläge** nach seiner Auffassung dem Geiste der Stipulationen
von 1887 entsprochen hätten. Er sei auch völlig damit einverstanden
gewesen, daß das Wiener Kabinett sich mit seinen Propositionen
zunächst an alle Mächte gewandt habe. Nachdem jedoch der „springende
Punkt" dieser Propositionen — die eventuelle Flottendemonstration
vor Konstantinopel nach vorheriger Durchfahrt durch die Dardanellen —
* Siehe Nr. 2538.
** Nämlich einer gemeinsamen Flottendemonstration vor den Dardanellen.
u* 211
von Rußland abgelehnt worden war, hätte England im Sinne der 18S7«
Abmachungen und auf der Grundlage der Wiener Vorschläge mit
Italien und Österreich-Ungarn allein vorgehen sollen. Der Minister
ließ durchblicken, daß die Leichtigkeit, mit welcher England vor der
russischen Weigerung zurückzuweichen scheine — Baron Blanc ge-
brauchte im Laufe seiner ganz vertraulichen Expektorationen zweimal
das Wort „reculade^'' — , die hier auf England gesetzten Hoffnungen
wieder abgekühlt habe. Der Oberkommandierende der englischen
Mittelmeerflotte habe vor einigen Tagen bei Admiral Accinni* an-
gefragt, ob die italienische Eskadre nicht neben der englischen in
Saloniki vor Anker gehen wolle; die italienische Regierung habe einen
Augenblick daran gedacht, diesem Wunsche Folge zu geben; an-
gesichts der wieder so vorsichtigen Haltung Englands sei Admiral
Accinni heute jedoch angewiesen worden, in Smyrna zu bleiben^.
Der Minister betonte nachdrücklich, daß er nach wie vor bereit sei,
England und Österreich-Ungarn zu folgen, aber keinen Schritt vor-
wärts tun werde, solange sich England zurückhalte. Beiläufig er-
wähnte Baron Blanc, er habe, wie schon dem italienischen Botschafter
in Konstantinopel, so jetzt auch den italienischen Botschaftern in Wien
und London die telegraphische Direktive erteilt, daß die italienische
Regierung in den Stipulationen von 1837 die Basis ihrer Orient- und
Mittelmeerpolitik erblicke, aber gerade darum es ganz in der Ordnung
finde, wenn sich Deutschland in zweiter Linie halte**.
Ich habe es mir angelegen sein lassen, den Minister, welcher die
Dinge leicht zu sanguinisch oder zu pessimistisch nimmt, über die
gegenwärtige Phase der orientalischen Krisis zu beruhigen, indem
ich ihm sagte, daß er zwar sehr wohl daran tue, sich nicht von Eng-
land vorschieben und ausbeuten zu lassen, sich aber andererseits auch
nicht decouragieren lassen solle. Möge [er] sich durch unvermeidliche
ups and downs nicht impressionieren lassen, sondern, von Entmutigung
und Unvorsichtigkeit gleich weit entfernt, die weitere Entwickelung der
Dinge ruhig abwarten 2.
Für meine Mitteilung über die wirksame Aktion des Kaiserlichen
Botschafters in Konstantinopel*** war Baron Blanc dankbar und sprach
seinen Glückwunsch über diesen Erfolg der kaiserlichen Politik aus.
B ü 1 o w
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
' Ja
' gut
' richtig
* da sind die Engländer auch hin
* Kommandant des italienischen aktiven Geschwaders.
** Siehe Nr. 2546.
*** Siehe Kap. LXII, B, Nr. 2517.
212
Nr. 2551
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 723 London, den 30. November 1895
Geheim
In streng vertraulicher Unterhaltung mit mir äußerte der öster-
reichische Botschafter, er habe den Eindruck, ohne bestimmte An-
haltspunkte dafür geltend machen zu können, daß Lord Salisbury
jetzt für den Fall eines Krieges mit Rußland zu einer Allianz
mit Österreich und seinen Bundesgenossen bereit sein würde. Als
ich eine gewisse Überraschung und Ungläubigkeit zeigte, schon des-
halb, weil ein Vertrag hier Zustimmung des Parlaments erfordern
würde, erwiderte Graf Deym, daß Notenaustausch genügen würde.
Er schien dabei anzunehmen, daß Lord Salisbury hierauf eingehen
würde, bemerkte aber ausdrücklich, daß er die Frage nicht bei ihm
berührt habe, auch für besser halte, abzuwarten, bis der Premier-
minister einmal selbst damit komme.
Die von mir nicht provozierten Äußerungen des Grafen Deym
scheinen mir deshalb von Interesse, weil sie vermuten lassen, daß die
Eventualität eines Abkommens mit England in Wien ernstlich er-
wartet wird, wenn man auch dort den Augenblick noch nicht für ge-
kommen hält, in dieser Richtung hier Schritte zu tun.
Ich bitte um streng vertrauliche Behandlung dieses Berichtes.
Hatzfeldt
Nr. 2552
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schvvarzenstein
Nr. 1448 Berlin, den 2. Dezember 1895
[abgegangen am 3. Dezember]
Die in Ew. pp. Bericht Nr. 723* wiedergegebene Äußerung des
österreichischen Botschafters, er habe, allerdings ohne bestimmte An-
haltspunkte, den Eindruck, daß Lord Salisbury für den Fall eines
Krieges mit Rußland zu einer Allianz mit Österreich und dessen
Bundesgenossen bereit sein würde, ist von doppeltem Interesse:
Erstens wegen der freilich ferner liegenden Möglichkeit, daß
Lord Salisbury wirklich diesen Wunsch hegt, zweitens aber wegen
* Siehe Nr. 2551.
213
der aus der Eröffnung des Botschafters sich ergebenden Wahrschein-
lichkeit, daß österreichischerseits nicht nur diese Allianz, sondern ins-
besondere auch unsere V-'ermittelung und Teilnahme bei derselben
dringend gewünscht wird. Eben deshalb, weil es uns der oster-
reichischen Regierung und ihren wohlbekannten Wünschen gegen-
über schwer fallen würde, Vermittelung und Teilnahme zu trennen,
dürfte es sich empfehlen, daß Ew. wie bisher Ihrem österreichischen
Kollegen gegenüber sich aller solcher Anregungen enthalten, welche
von ihm als Vermittelungsanerbietungen aufgefaßt werden könnten,
ohne jedoch einen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß wir
die Herstellung jenes Einverständnisses als das erstrebenswerteste
Ziel sowohl der österreichischen als auch der italienischen und eng-
lischen Politik ansehen.
Marschall
Nr. 2553
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg*
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 939 Berlin, den 2. Dezember 1895
[abgegangen am 9. Dezember]
Ew. pp. beehre ich mich, in der Anlage einen Bericht des Grafen
Hatzfeldt vom 30. v. Mts.** ergebenst zu übersenden, worin Äuße-
rungen des Grafen Deym über eine mutmaßlich beabsichtigte An-
näherung Englands an den Dreibund wiedergegeben sind. Feste An-
haltspunkte hat Graf Deym, wie er selber sagt, nicht. Er läßt nur in
der Art, wie er den möglichen Anschluß Englands an Österreich und
dessen Verbündete bespricht, den ohnedies genugsam bekannten
österreichischen Wunsch erkennen, Deutschland in die gehoffte öster-
reichisch-englische Abmachung hineinzuziehen.
Unsere Stellung zu Abmachungen über Orientfragen ist Ew. pp.
genugsam bekannt. Dieselbe ist nicht von Verträgen abhängig, sondern
von dem Interesse, welches Deutschland daran hat, daß Österreich-
Ungarn und Italien als Großmächte fortbestehen. Unsere politische
Aufgabe ist es daher, daß wir, in zweiter Linie stehend, die Ent-
wickelung der Dinge abwarten; Sache der in erster Linie stehenden
Mittelmeermächte Österreich-Ungarn, Italien und England ist es, sich
zunächst über diejenigen Punkte zu verständigen, welche sie für wichtig
zur Wahrung ihrer Machtstellung ansehen. Daß grade Deutschland
* Ein ähnlicher Erlaß ging an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
(Nr. 865).
** Siehe Nr. 2551.
214
€s sein sollte, welches eine Annäherung zwischen Österreich und
England vermittelt, erscheint unnötig, ebenso wie auch unpraktisch.
Unnötig, weil Graf Goluchowski als rühriger Russenfeind keine Ge-
legenheit vorübergehen lassen wird, welche geeignet wäre, zu einem
Einvernehmen mit England zu führen. Unpraktisch, weil durch die
Tatsache unserer Vermittelung zwischen England und Österreich wir
mehr, als sich mit unserer allgemeinen Politik verträgt, in den Vorder-
grund geschoben werden würden.
Ew. pp. bitte ich daher, den Gedanken der österreichisch-englisch-
italienischen Annäherung dort nicht anzuregen. Sollte die Anregung
von außen erfolgen, so wird es Ew. leicht werden, ein volles
Verständnis für die Vorteile einer österreichisch-englisch-italienischen
Verständigung in Mittelmeer- pp. Fragen zu bekunden, ohne dabei zu
verschweigen, daß Deutschland sich für dieselben nicht um ihrer
selbst willen interessiert, sondern erst dann, wenn dieselben zu Ver-
wickelungen führen sollten, welche die Existenz unserer Freunde be-
drohen. Ew. wollen zugleich bemerken, daß Sie mit Freuden jedes
Symptom begrüßen würden, welches darauf hindeutet, daß England
beabsichtigt, das alte System, englische Interessen möglichst ohne
England verteidigen zu lassen, wirklich aufzugeben, daß aber die Ihnen
bisher bekannt gewordenen Symptome eine feste Unterlage für solche
Hoffnungen nicht bieten. Die Unterredung des Grafen Hatzfeldt mit
dem Grafen Deym wollen Sie gänzlich unerwähnt lassen.
Marschall
Nr. 2554
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 290 London, den 2. Dezember 1895
Geheim
Zu Bericht Nr. 723*.
Graf Deym sagt mir, er fürchte durch seine neuliche Mitteilung
mir zu Mißverständnis Anlaß gegeben zu haben. Dieselbe habe sich
nicht auf neuen Vertrag, sondern auf Bestätigung des alten Ab-
kommens bezogen, welches heute formell in der Luft schwebe. Hierzu
würde Lord Salisbury, wie er glaube, bereit sein, während Modifikation
oder genauere Präzisierung der fraglichen Punkte hier wohl auf Schwie-
rigkeiten stoßen würde. Bestätigung des alten Abkommens würde aber
an sich sehr wertvoll sein, da Lord Salisbury darin in bezug auf
Integrität der Türkei überhaupt und speziell wegen Konstantinopels
* Siehe Nr. 2551.
215
und auch Bulgariens bestimmte Stellung genommen und gewisse Ver-
pflichtungen übernommen habe.
Ganz vertraulich fügte der Botschafter hinzu, daß der italienische
Botschafter, welcher ihn jetzt häufig aufsuche, sehr darauf dränge, hier
Verständigung über Orient anzuregen, und daß er ihn zu beruhigen suche.
Graf Deym wollte heute Urlaub nach Wien antreten, ist aber
telegraphisch angewiesen worden, Abreise noch zu verschieben.
Hatzfeldt
Nr. 2555
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Bernhard von Bülow
Konzept
Nr. 869 Berlin, den 3. Dezember 18Q5
[abgegangen am 4. Dezember]
Als Ergänzung zu dem mittels Erlaß Nr. 865* von gestern Euerpp.
mitgeteilten Londoner Bericht Nr. 723** telegraphiert Graf Hatzfeldt:
„(inser. Telegramm Nr. 290 aus London***.)**
Aus dem vorletzten und letzten Absatz des Telegramms wird er-
sichtlich, daß man italienischer- wie auch österreichischerseits dieser
Frage jetzt besondere Aufmerksamkeit zuwendet.
Was unsere Haltung in der Frage anlangt, so bleibt dieselbe immer
unverändert. In dieser Hinsicht erlaube ich mir, Ew. pp. Aufmerk-
samkeit auf den Ihnen ohne Zweifel bereits bekannten Erlaß Nr. 139
vom 28. Februar 1888 zu lenken, welchem ein Erlaß des Fürsten Bis-
marck nach Wienf beigefügt war. Letzterer behandelt unser Bündnis
mit Österreich und macht zwischen Existenzfrage und Interessen-
* Vgl. Nr. 2553.
** Siehe Nr. 2551.
♦** Siehe Nr. 2554.
t In dem Erlaß Nr. 13Q vom 28. Februar 1888 nach Rom und dem beigefügten^
Erlaß nach Wien vom 26. Februar 1888 (Nr. 217) war der Wunsch der deutschen
Regierung zum Ausdnick gelangt, daß das durch Mitwirkung Deutschlands herbei-
geführte Einvernehmen Österreichs, Italiens und Englands — die sogenannte
Entente ä trois — nicht neuerdings durch die damals wieder aufflackernde bulgari-
sche Frage gestört werden möge. In dem Erlaß nach Wien hieß es darüber u.a.:
„Wir finden es natürlich, wenn die österreichische Regierung für alle Fälle,
welche durch unser Bündnis nicht gedeckt sind, mit England unter allen Um-
ständen und, solange es irgend angeht, mit Italien sich in Fühlung zu halten
sucht. In einem Umschlage der italienischen Politik würde selbst für die Fälle,
in denen wir von Hause aus mit Österreich gemeinsam vorgehn, eine erhebliche
Schwächung unserer militärischen Stellung liegen. — Wir bleiben für Österreich
sichere Bundesgenossen und können es in der Gefahr nicht im Stich lassen.
Daran kann die bulgarische Episode nichts ändern. Unsere Intimität wird da-
durch nicht berührt, v e.nn unser Alliierter sich für politische Aufgaben, für welche
216
fragen (z. B. der bulgarischen oder der Meerengenfrage) denselben
Unterschied für die Haltung Deutschlands, wie wir das heute tun.
Da indessen Baron Blanc zu der Einsicht gelangt ist, daß Deutsch-
land in der Frage der englisch-österreichisch-italienischen Mittelmeer-
und Orientabmachungen keinesfalls in die erste Reihe — wenigstens
in der jetzigen Phase — zu treten hat, so wird es kein Bedenken haben,
daß Ew. pp. demselben auch fernerhin unsere guten Wünsche für das
Zustandekommen aussprechen und ihm vielleicht auch durchblicken
lassen, daß zweifellos der Kaiserliche Botschafter in London das
Seinige in der Sache tut. Daß Ew. pp. in diesem Sinne sich äußern,
wird um so nützlicher sein, da Baron Blanc, wie das in Abschrift nach-
folgende Telegramm desselben an den hiesigen Botschafter erkennen
läßt, wieder anfängt, nervös zu werden.
„Telegramme de Rome
ä Ambassade d'Italie ä Berlin.
Nous sommes plus que jamais convaincus qu'en n'appliquant pas
les accords de 1887, seul moyen d'assurer la paix et la preponderance
d'influence tutelaire en Orient, nous allons ä la rencontre de dangers
d'anarchie en Turquie et de guerre europeenne ä base de repirtitions
territoriales. Nous manifestons confidentiellement cette conviction ä
decharge (a scanse) de responsabilite.
(Signe) Blanc"
Am vorsichtigsten müssen wir, wie ich zu Ew. pp. ganz vertrau-
lichen und persönlichen Orientierung bemerke, mit Wien sein, da beim
Grafen Goluchowski der Gedanke, daß Österreichs Großmachtstellung
bei Deutschland ihre festeste Stütze findet und in jeder Lage finden
muß, mehr hervortritt, als uns angenehm ist und m den Rahmen unserer
Orientpolitik paßt Marschall
an sich Deutschland nicht fehlen kann, die englische und italienische Anlehnung
sichert. Für uns hat letztere immer den Vorteil einer starken Friedensbürgschaft
neben dem österreichisch-deutschen Bündnisse und auf dem ganzen durch
letzteres nicht gedeckten Gebiete der europaischen Politik. Die Neigung zum
Friedensbruch wird in Rußland wesentlich vermindert, wenn man dort weiß, daß
es Österreich auch ohne deutsche Hilfe an Beistand gegen unberechtigte Angriffe
nicht fehlt. Die drei Mittelmeermächte bilden ein im friedlichen Sinne wirkendes
Gegengewicht gegen solche orientalische Bestrebungen Rußlands, welche ihre ge-
meinsamen Interessen bedrohen könnten, ohne die unsrigen zu berühren. —
Unser Bündnis mit Österreich gilt der beiderseitigen Existenzfrage, in Bul-
garien und der Türkei handelt es sich aber um Interessenfragen, und ich be-
greife es vollkommen, wenn Österreich zur besseren Wahrung derselben jede
Trennung von den orientalischen Pfaden der englischen Politik vermeiden will
Solange Österreich mit England den gleichen Strang zieht, ist auch Italien ziem-
lich sicher. Die Bundesgenossenschaft des letzteren ist am leichtesten und wiric-
samsten via London zu pflegen und zu erhalten: sie würde zweifelhaft von dem
Augenblick an werden, in welchem Meinungsverschiedenheiten zwischen England
und Österreich zutage träten."
217
Nr. 2556
Der Botschafter in Rom Bernhard von Biilow an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 192 Rom, den 3. Dezember 1895
Ganz vertraulich
Euerer Durchlaucht bitte ich in Ergänzung und Vervollständigung
meiner telegraphischen Berichterstattung über Auffassung und Stim-
mung des Baron Blanc nachstehendes vortragen zu dürfen.
Die Blicke des italienischen Ministers des Äußern sind nach wie
vor vor allem nach London gerichtet, schon weil die fernere Richtung
der italienischen Orient- und Mittelmeerpolitik in erster Linie von dem
Verhalten Englands abhängt. Baron Blanc ist auch heute noch bereit,
mit England und Österreich-Ungarn gemeinsam vorzugehen; er wünscht
ein noch engeres Zusammenschließen dieser drei Mächte. Er ver-
zweifelt auch noch nicht an England und insbesondere nicht an Lord
Salisbury. „Wenn Lord Rosebery noch am Ruder wäre," äußerte
der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, „würde ich jetzt keinen
Finger für England rühren; mit Lord Salisbury will ich jedoch ehrlich
versuchen, zu einer Verständigung zu gelangen.*' Nichtsdestoweniger
haben manche Symptome der letzten Wochen — das Zurückweichen
Englands, sobald das Wiener Kabinett mit seinen Propositionen vor-
gegangen war, die auch äußerlich hervortretende Reserve meines eng-
lischen Kollegen*, namentlich aber die englische Harthörigkeit in bezug
auf die italienischen Zeila- und Harrar-Wünsche** — nicht gerade
dazu beigetragen, das hiesige Vertrauen zu Großbritannien zu er-
höhen. — Nach meinen Eindrücken besteht auch heute kein festes
Abkommen zwischen Italien und England. Baron Blanc ließ erst vor
wenigen Tagen mir gegenüber die Bemerkung fallen, die Franzosen
glaubten, daß zwischen England und Italien ein intimeres Verhältnis
obwalte, wie dies tatsächlich der Fall sei. „Nous n'en sommes pas
encore lä, helas," fügte Baron Blanc hinzu. — Ich habe Baron Blanc
fortgesetzt wiederholt, daß er zwar England nicht zurückstoßen noch
entmutigen, sich aber unter keinen Umständen von demselben vor-
schieben lassen dürfe, bevor dieses sich nicht selbst vertragsmäßig
oder tatsächlich festgelegt habe.
Bei verschiedenen Gelegenheiten trat bei Baron Blanc der Wunsch
nach einer größeren Annäherung zwischen Deutschland und England
hervor. Wenn Deutschland und England uneinig wären, pflegt der
Minister zu sagen, befände sich Italien in der Lage eines Kindes, dessen
Eltern auseinandergingen; vereinigt würden der Dreibund und Eng-
♦ Sir F. Cläre Ford.
** Vgl. Kap. LIV, A.
■218
land die Situation dominieren können. Ich habe auf solche Andeutungen
erwidert, daß an den früheren Differenzen zwischen uns und England
die schwanitende, kleinUche und kurzsichtige PoHtik Englands die
Schuld getragen hätte. Die englisch-deutschen Beziehungen würden
sich naturgemäß in dem Grade bessern, als England zu einer klaren,
festen und weitsehenden Politik zurückkehre. Inzwischen wäre, so
setzte ich zur Beruhigung des italienischen Ministers hinzu, das gegen-
wärtige Verhältnis zwischen Deutschland und England kein unfreund-
liches. Ich verwertete in dieser Richtung das mir hochgeneigtest mit-
geteilte englische Memorandum vom 23. v. Mts,*, in welchem Lord
Salisbury seinen Dank für die deutsche Mitwirkung in Konstantinopel
bei der Wiederherstellung der Ruhe aussprach, verwies auf unsere
Unterstützung der englischen Schritte wegen der Armenier in Zeitun**
und ließ auch durchblicken, daß nach meinen Informationen der neue
englische Botschafter in Berlin Sir Frank Lascelles mit guten Inten-
tionen an seine wichtige Aufgabe herantrete.
Mit der Haltung des Wiener Kabinetts ist Baron Blanc soweit
zufrieden. Graf Goluchowski ist ihm jedenfalls lieber als Graf Käl-
noky. Zwischen der hiesigen und der Wiener Auffassung der Gesamt-
situation besteht insofern ein gewisser Unterschied, als (nach den hier
einlaufenden Nachrichten, und soweit ich die Dinge von hier über-
sehen kann) Österreich sich nicht ohne uns avancieren möchte. Baron
Blanc wäre bereit, auch allein mit England und Österreich-Ungarn
zu gehen; Österreich scheint sich stets umzusehen, wo wir bleiben.
Ich habe die Empfindung — ich bitte diese Mitteilung als eine streng
vertrauliche betrachten zu wollen — , daß, wenn Baron Blanc ge-
legentlich die Velleität zeigte, auch uns in Mittelmeer- und Orient-
fragen an seiner Seite haben zu wollen, oder zu stürmisch auf eine
Einigung zwischen Deutschland und England drängte, dies auf Wiener
Einwirkung zurückzuführen war. Bis jetzt ist es jedoch gelungen,
Baron Blanc bei der Ansicht zu erhalten, daß es im Interesse Italiens
wie Österreich-Ungarns liegt, wenn Deutschland, in zweiter Linie i
stehend, es zunächst den in erster Linie stehenden Mittelmeermächten
Italien, England und Österreich-Ungarn überläßt, sich über diejenigen
Punkte zu verständigen, welche sie für wichtig zur Wahrung ihrer
Machtstellung ansehen 2.
Hinsichtlich der Stimmung des italienischen Ministers des Äußern
gegenüber Rußland konnte ich mancherlei Wechsel konstatieren. Als
— vor den jüngsten Wiener Vorschlägen — die Haltung Englands
eine energischere zu werden schien, setzte mir Baron Blanc mehrfach
auseinander, daß ein Einrücken der Russen in Konstantinopel die
italienische Zukunft gefährden würde. Wenn sich die Russen, meinte
* Siehe Nr. 2467, Anlage.
Siehe Kap. LXI, Anhang, Nr. 2480.
**
219
der Minister am 13. November, der Dardanellen bemächtigten und
in Konstantinopel festsetzten, würde die ganze Balkanhalbinsel und
selbst die slawischen Gebietsteile der habsburgischen iWonarchie unter
russischen Einfluß geraten. Von Konstantinopel bis Triest würde
nur noch ein Schritt sein. Um der Gefahr zu entgehen, zwischen dem
russischen Riesenreich und der französischen Republik erdrückt zu
werden, müsse Italien das Seinige tun, damit die Russen nicht bis
zum Marmarameere vordrängen. Das englische Ausbiegen nach den
Wiener Propositionen hat seitdem die Auffassung des italienischen
Ministers des Äußern hinsichtlich Konstantinopels einigermaßen modifi-
ziert. Gestern sagte mir Baron Blanc, er wolle, was Konstantinopel
beträfe, nicht englischer sein als die Engländer. Wenn die Engländer
die Russen in Konstantinopel vertrügen, könne Italien dieselben dort
auch aushalten. Im allgemeinen ist deutlich zu beobachten, daß das
Prestige Rußlands hier in dem Maße steigt, als sich England ängstlich
zeigt 2. Baron Blanc glaubt noch nicht, daß Lord Salisbury sich inner-
lich mit der Besitzergreifung Konstantinopels durch Rußland abge-
funden habe. Er neigt aber der Ansicht zu, daß, wenn Lord SaHs-
bury zu lange sich auf Lavieren beschränke und nur die Sachen in die
Länge zu ziehen trachte, diese Besitzergreifung und das Protektorat
Rußlands über die Türkei schließlich ein fait accompli werden würden.
Er behauptet, Herr von Nelidow habe schon das Vertragsinstrument
aufgesetzt, durch welches der Sultan die russische Schutzherrlichkeit
akzeptiere und den Russen die Dardanellen ausliefere; es fehle nur
noch die Unterschrift des Padischah, welche dieser mit Vergnügen
geben würde, wenn die Russen den psychologischen Moment für ge-
kommen hielten. — Hinsichtlich der Stellung Rußlands zu den
italienisch-abessinischen Schwierigkeiten ist seit dem Herbste augen-
scheinlich ein Umschwung eingetreten. Baron Blanc, welcher im
Sommer so lebhafte Klagen über das Verhalten Rußlands in dieser
Richtung führte*, erklärt jetzt, das St. Petersburger Kabinett habe er-
kannt, daß die Abessinier des russischen Wohlwollens unwürdig wären.
Baron Blanc ist nicht so russenfreundlich — und jedenfalls Rußland
gegenüber weit unvorsichtiger — wie Graf Nigra** oder Graf Tor-
nielli***. Aber die Neigung, die Tür zu einer Verständigung mit Ruß-
land nicht ganz zu versperren, trat auch bei ihm gelegentlich hervor. —
Mein russischer Kollege, Herr Vlangaly, der ein alter Bekannter von
mir ist und soweit offen mit mir redet, sagte mir gelegentlich gesprächs-
weise und vertraulich, er verlange von Italien lediglich, daß sich das-
selbe nicht um die eigentliche Orientfrage kümmere, die es nichts
anginge. Italien brauche auch gar nicht aus dem Dreibund auszu-
* Vgl. Kap. LX, Nr. 2369, Anlage.
♦* Italienischer Botschafter in Wien.
*♦* Seit 4. Februar Botschafter in Paris.
220
treten, wenn es nur seine Dreibundstellung wie den Gegensatz zu
Frankreich nicht zu sehr akzentuiere. Er gebe den Italienern gern zu,
daß sie berechtigte Mittelmeerinteressen und Aspirationen hätten. Aber
das Mittelmeer sei groß und bespüle viele schöne Küstenstriche:
Aufgabe einer klugen und vermittelnden Politik würde es sein, die
diesbezüglichen italienischen Aspirationen mit den französischen zu
versöhnen.
Aus Paris hörte Baron Blanc, daß die dortige Regierung und
öffentUche Meinung der orientalischen Verwicklung ziemlich ratlos
und beklommen 3 gegenüberstünden. Der unbedingte Anschluß Frank-
reichs an Rußland — bisher für die Franzosen der Ariadnefaden im
Labyrinth der europäischen Politik — würde ihnen unheimlich, seit-
dem es den Anschein gewönne, als ob es im Orient zu einem ernst-
lichen Zusammenstoß zwischen den rivalisierenden Mächten kommen
könnte. Überhaupt sei es den Franzosen nicht recht, daß jetzt die
orientalische Frage im Vordergrunde stünde statt der französischen
Revindikationsbestrebungen und Hegemoniegelüste. Die Franzosen
fürchteten nichts mehr, als daß wegen der orientalischen Frage eine
internationale Konflagration entstehen könnte. Zu diesen Nachrichten
des Baron Blanc stimmt es, daß mein französischer Kollege regel-
mäßig eine vergnügte Miene aufzieht, wenn das europäische Konzert
ungetrübt erscheint, dagegen einer Trauerweide gleicht, sobald sich
die Mächte in verschiedene Gruppen zu spalten scheinen. — Die-
jenigen italienischen Blätter, welche ihr Losungswort aus Paris emp-
fangen („Secolo", „Messaggero" usw.) suchen hier vor allem die
Ansicht zu verbreiten, daß das deutsche Interesse an der Aufrecht-
erhaltung der Tripelallianz nicht mehr das alte sei. Zu diesem Zweck
wird mit besonderem Eifer die Nachricht verbreitet, daß Deutschland
im Grunde mit Rußland und Frankreich mehr sympathisiere als mit
seinen bisherigen Alliierten und England.
Als die „Times" vor einigen Tagen die Idee eines neuen Kon-
gresses lancierte, habe ich Baron Blanc als Ausdruck meiner persön-
lichen Meinung gesagt, daß Italien, welches sich des Berliner Kon-
gresses nicht gerade mit Vergnügen erinnere, bei einem neuen Kongreß
wahrscheinlich ganz schlecht wegkommen würde. Ich riete ihm als
Freund, sich von den Engländern nicht zu einem solchen einfangen
zu lassen*. Ich hielt diese Warnung für notwendig, weil die Italiener
allzu geneigt sind, bei allem dabei sein zu wollen. Der Minister des
Äußern pflichtete meinen Ausführungen bei und versicherte schließ-
lich, er werde allen englischen Verlockungen in dieser Richtung un-
bedingten Widerstand entgegensetzen.
Die breiteren Schichten der italienischen Bevölkerung scheinen mit
der auswärtigen Politik des Ministeriums Crispi-Blanc nicht unzu-
frieden zu sein. Das Gros der Bevölkerung möchte keinen Krieg, will
aber auch nicht, daß Italien bei einer eventuellen Aufteilung der Türkei
221
leer ausgehe. Nur die Roten und Schwarzen wünschen geradezu, daß
Italien bei der jetzigen Orientverwicklung nichts profitiere und wo-
möglich gedemütigt aus derselben her\orgehe, weil sie hoffen, die dann
unvermeidliche Enttäuschung werde den Sturz der Monarchie herbei-
führen. In den Kreisen der Politiker findet man die Haltung des
Baron Blanc zu einseitig und starr. In diesen Kreisen möchte man,
daß die italienische Politik es mit Frankreich nicht ganz verdürbe
und namentlich mehr Rücksicht auf Rußland nehme. Man möchte
mit einem Worte eine Schaukelpolitik, wie sie dem italienischen Cha-
rakter und den hiesigen Traditionen entspricht. In der italienischen
Diplomatie herrscht eine ähnliche Auffassung der Dinge. Ich glaube,
daß außer General Ferrero und allenfalls Herrn Pansa* kein italieni-
scher Botschafter mit der Richtung des Baron Blanc wirklich einver-
standen ist. Sie fürchten alle, daß Baron Blanc geneigt sei, sich zu
weit von dem alten Grundsatze der italienischen Diplomatie der 70'-'^
Jahre zu entfernen: ,,Isolati mai, independenti sempre.'* (Nie isoliert,
aber immer unabhängig.) Ich hatte Gelegenheit — im allerengsten
Vertrauen und gegen die Zusage absoluter Diskretion — , auf dem
hiesigen Ministerium des Äußern Einsicht in zwei Telegramme des
Grafen Nigra und des Grafen Lanza** vom 19. v. Mts. zu nehmen.
Graf Nigra telegraphierte, Deutschland wünsche au bout du compte
doch nichts, daß Italien sich mit England und Österreich-Ungarn gegen
Rußland gruppiere; Graf Lanza sprach die Überzeugung aus, daß das
Berliner Kabinett Konstantinopel und die Dardanellen im letzten Ende
Rußland zuwenden werde. Aus beiden Telegrammen sprach unver-
kennbar die Besorgnis, daß sich Italien gegenüber Rußland zu sehr
vorwagen könnte.
Die bekannten Fehler des Baron Blanc traten auch während der
vergangenen Wochen nur zu oft her\'or. Die Situation erfordert vor
allem Geduld und Ruhe, und nichts fällt dem gegenwärtigen Minister
des .\ußern schwerer, aJs still zu sitzen. Wenn ich ihm zum hundert-
sten Male die Gründe auseinandergesetzt hatte, aus denen er, mit
unserer Anerkennung und dem bisher Erreichten zufrieden, zunächst
die Dinge weiter reifen lassen möge, kam der hitzige und hastige,
ideenreiche und sprunghafte Minister mit immer neuen Argumenten,
um mir zu beweisen, daß gerade die augenblickliche Phase der Ent-
wicklung Italien in eine unmögliche Lage bringe. Wenn ich ihn einige
Tage nicht sah, konnte ich ziemlich sicher sein, daß er inzwischen
irgendeine neue Aktion projektiert oder schon in Angriff genommen
hatte. Wenn es bisher möglich war, Baron Blanc im großen und
ganzen auf der richtigen Linie zu erhalten, so dürfen bei der Be-
urteilung der ferneren Entwicklung der Verhältnisse außer der Er-
* Italienischer Botschafter in London.
** Italienischer Botschafter in Konstantinopel.
222
regbarkeit der hiesigen öffentlichen Meinung auch die Eigentümlich-
keiten des in gewisser Hinsicht unberechenbaren Ministers des Äußern
nicht außer acht gelassen werden. Den allerhöchsten Befehlen Seiner
Majestät des Kaisers und Königs entsprechend, werde ich es nach
wie vor als meine Hauptaufgabe betrachten, soweit als möglich
mäßigend auf Baron Blanc einzuwirken und denselben tunlichst von
unliebsamen Seiten- und Quersprüngen abzuhalten.
B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
2 richtig
3 die Chemie reicht nicht aus
* gut
^ sogar sehr
Schlußbemerkung des Kaisers:
Sehr gut!
Nr. 2557
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 193 Rom, den 5. Dezember 1895
Geheim
Euerer Durchlaucht beehre ich mich, in der Anlage Abschrift und
deutsche Übersetzung des geheimen Erlasses zu übersenden, welchen
Baron Blanc unterm 3. d. Mts. an die italienischen Botschafter in
London und Wien gerichtet hat, um zwischen den durch die Ab-
machungen von 1887 verbundenen Mittelmeermächten einen Gedanken-
austausch über die Frage anzuregen, wie sich hinsichtlich der gegen-
wärtigen Lage im Orient eine tatsächliche und praktische Überein-
stimmung der Kabinette von London, Wien und Rom erzielen lasse.
Zu diesem Erlaß erlaube ich mir im engsten Vertrauen zu be-
merken, daß derselbe ursprünglich an die italienischen Botschafter in
London, Wien und Berlin adressiert war. Der Erlaß enthielt auch
einen Appell an Deutschland, sich im Interesse von Italien und Öster-
reich-Ungarn besser mit England zu stellen. Deutschland wurde an
verschiedenen Stellen der fraglichen Piece hinsichtlich der Orient-
frage und der Lage der Dinge in Konstantinopel auf dieselbe Linie
mit Italien, Österreich-Ungarn und England gerückt.
Ich habe durch nachdrückliche Einwirkung auf Baron Blanc er-
reicht, daß derselbe den (bereits in der Mundierung begriffenen) Erlaß
einer neuen Durcharbeitung unterzog, wobei die unserem so be-
rechtigten politischen Standpunkt wie seinen eigenen früheren Aus-
lassungen am meisten widersprechenden Passagen ausgemerzt wurden.
223
Auch brachte ich die Wendung in den Erlaß, daß die Reserve des
sich in zweiter Linie haltenden Deutschlands Italien und Österreich-
Ungarn zum Nutzen gereiche. Eine weitere Modifizierung des Er-
lasses, der, wie viele Emanationen des Baron Blanc einen an sich
nicht unrichtigen Gedanken und wohlgemeinte Absichten in etwas
seltsamer und jedenfalls viel zu akzentuierter und nervöser Form zum
Ausdruck bringt, war nicht möglich.
Abschrift des beigeschlossenen Erlasses ist „ä titre d'information"
bereits an Graf Lanza nach Berlin abgegangen.
B. von Bülow
Anlage
Der italienische Minister des Äußern Baron Blanc an den italienischen
Botschafter in London Ferrero*
Unsignierte Übersetzung
Streng vertraulich Rom, den 3. Dezember 1895
Wir haben den Vorschlägen des Wiener Kabinetts** zum Schutze
der europäischen Interessen im Ottomanischen Reich die von uns
erbetene Unterstützung ehrlich und offen gewährt, und mit meinen
im Parlament am 28. November abgegebenen Erklärungen habe ich
diejenige Politik betont, welche unserer Ansicht nach allein den Frieden
und den schützenden Einfluß der Mächte durch die .A.nwesenheit der
vereinigten Geschwader in jenen erregten Gebieten zu gewährleisten
vermag. Aber von den sechs Mächten haben zwei die Wirksamkeit
einer solchen Anwesenheit, wenn nicht annulliert, so doch zurzeit
geschmälert, sei es, daß sie die Ausübung jedweder Aktion der Flotten,
wie ein eventuelles Erscheinen vor der Hauptstadt, dem Herde der
in den Provinzen herrschenden Anarchie, ausschlössen, sei es, daß sie
zuletzt erklärten, die Mächte dürften dem Sultan gegenüber nicht
weiter ein sogenanntes Einschüchterungssystem beobachten, sie müßten
denselben vielmehr ermutigen und unterstützen, damit er seine Autorität
wiederherstellen könne.
Die Übereinstimmung der sechs Mächte erscheint demnach basiert
auf der Verhinderung der Tripelallianz wie Englands an jedem Mittel
wirksamen Einflusses auf die virtuell unter russischen Schutz gestellte
ottomanische Regierung.
Bei dieser Sachlage erscheint der vertragsmäßige politische Status
quo in seinem Wesen verschlechtert. Ein Übergewicht an Einfluß
auf den Sultan haben jene beiden Mächte, deren Vertreter bei der
Person des Sultans die Autorität der Pforte bis zu reinem Schein
Derselbe Erlaß ging auch an den italienischen Botschafter in Wien.
■ Vgl. Nr. 2505.
224
ü.nd unsere Unterhandlungen mit ihr zu einer Enttäuschung herab-
drücken, während es andererseits einer dieser beiden Mächte allein
gestattet ist, die Pflichten eines navalen Schutzes an jenen Orten aus-
zuüben, wo die Gemetzel zu beklagen gewesen sind. Über die von
den Verträgen festgesetzten lokalen Autonomien, über die von diesen
Verträgen stipulierten Reformen, über die Unabhängigkeit der Türkei,
der Hüterin wichtiger europäischer Interessen, über alle diese Dinge
darf nicht einmal verhandelt werden. Die Freiheit der Meerengen
besteht nur für die russischen Truppen, welche dieselben mit Waffen
und Fahnen an Bord von Schiffen der freiwilligen Flotte passieren;
die Türkei ist nur Hüterin der Meerengen und des Schwarzen Meeres
uns und den anderen Westmächten gegenüber; die Haltung der Türkei
hat beständig den Charakter sträflicher Begünstigung jener fremden
Interessen, die offen einen Zustand der Dinge aufrechterhalten, der
mit jeder Gesetzmäßigkeit innerer wie internationaler Ordnung im
Widerspruch steht. Der Zweck der 1887 unter Teilnahme Deutschlands
zwischen Italien, England und Österreich-Ungarn getroffenen Ab-
machungen ist völlig vereitelt, namentlich nach dem in Konstantinopel
fruktifizierten Siege über die jüngsten österreichisch-ungarischen Vor-
schläge.
Die Kabinette von Wien und London schienen bis jetzt zu zögern
gegenüber der Reserve, mit welcher — nach unserer Ansicht zu unserem
Nutzen — Deutschland uns in zweiter Linie unterstützt; sie schienen
nicht nur auf jede Aktion zu verzichten, die geeignet gewesen wäre,
die Türkei zu den soeben dargelegten Grundsätzen zu bekehren, sondern
sie enthielten sich sogar jeder Gruppierung, um den Schein der Über-
einstimmung zu Sechs zu retten, der um den Preis stillschweigender
Zurückziehung der von England und von uns unterstützten öster-
reichisch-ungarischen Vorschläge erreicht worden war.
Wir haben den Kabinetten von Wien und London gegenüber
stets eine aufrichtige Gemeinschaftlichkeit der Interessen wie der Hal-
tung bekundet. Wir sind jetzt aber präokkupiert einerseits wegen der
Lage unserer Schiffe, deren Entsendung als eine lächerliche Demon-
stration erscheinen könnte; andererseits wegen der zweideutigen Lage,
in welche wir gegenüber unseren Verpflichtungen sowohl gegen die
beiden Kaisermächte wie gegen England durch die schon zu lange
dauernden Schwierigkeiten versetzt werden, die drei Mittelmeermächte
in tatsächliche und praktische Übereinstimmung zu bringen.
Wir haben bereits in London und in Wien aussprechen lassen,
wie wir tief überzeugt sind, daß, wenn unter so entscheidenden Um-
ständen die 1887" Abmachungen — das unserer Ansicht nach einzige
Mittel, um den Frieden und die Ruhe in der Türkei zu verbürgen —
nicht ausgeführt werden, wir den Gefahren einer Anarchie im Ottomani-
schen Reich und europäischen Kriegen auf der Grundlage territorialer
Teilungen entgegengehen. Wir glauben jetzt den Pflichten der Auf-
15 Die Große Politik. 10. Bd. 225
richtigkeit zu genügen, wenn wir zur Vermeidung schwerer Verant-
wortlichkeit England und Österreich-Ungarn unsere Ansicht aus-
sprechen, daß es mehr als an der Zeit sei, mit gegenseitigem Ver-
trauen und gegenseitiger Aufrichtigkeit damit vorzugehen, die Ansichten
der drei Mächte über die zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit
der Türkei zu ergreifenden Maßregeln darzulegen.
Wir vertrauen, daß England und Österreich-Ungarn mit der seiner-
zeit von Deutschland den Abmachungen von 1887 erteilten Zustimmung
werden verhindern können, daß in letzter Stunde der von der Tripel-
allianz seit so vielen Jahren aufrecht erhaltene Friedenszweck vereitelt
werde.
Euere pp. wollen daher der dortseitigen Regierung vorschlagen,
daß der 1887 für gewisse und unserer Ansicht nach jetzt eingetretene
Eventualitäten vorgesehene Ideenaustausch stattfinde, zunächst unter
den drei Mittelmeermächten, um später, auch mit Deutschland, im
Hinblick auf die unvermeidlichen Wirkungen der Haltung Rußlands
und Frankreichs die Ausführung der 1887 im Prinzip getroffenen Ab-
machungen zwischen uns, Österreich-Ungarn und England zu ver-
einbaren.
Nr. 2558
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 198 Rom, den 7. Dezember 1895
Ganz vertraulich
Baron Diane übersandte mir gestern abend einen an den italieni-
schen Botschafter in Berlin Graf Lanza gerichteten Erlaß unter fliegen-
dem Siegel mit nachstehenden Zeilen: „Personnelle! — Cher
Ambassadeur, Je n'ai pas de courrier et je me permets de Vous
demander si Vous voudriez bien faire parvenir le pli ci-joint ä Lanza
apres avoir pris connaissance de son contenu. Du tout ensemble 11
apparaitrait qu'on est encore moins mal dispose ä Londres qu'a
Vienne. Cordialement ä Vous. (gez.) Blanc." — Mit „ä Vienne" ist,
wie ich vertraulich hinzufüge, weniger die österreichische Regierung
als Graf Nigra gemeint.
Nachdem ich den in Rede stehenden Erlaß durchgelesen hatte,
habe ich denselben heute mittag Baron Blanc mit dem Bemerken wieder
zurückgegeben, daß es mir besser erscheine, ein Schriftstück nicht zu
befördern, welches hinsichtlich unserer Stellung zu den orientalischen
Händeln in Widerspruch nicht nur mit dem stehe, was ich dem Mi-
nister des Äußern seit Beginn der fraglichen Verwickelungen oft ge-
226
sagt habe, sondern auch mit seinen eigenen bisherigen Auslassungen.
In frcundschafthcher Form fügte ich hinzu, daß nach meiner Kenntnis
der Berliner Auffassung sich Deutschland, welches bei den türkischen
Angelegenheiten weniger direkt beteiligt sei als irgendeine andere
Macht, im eigenen Interesse wie im wohlverstandenen Interesse seiner
Alliierten von niemand in den Vordergrund schieben lassen werde.
Grade in zweiter Linie könne Deutschland seinen Bundesgenossen
wie dem europäischen Frieden offenbar am meisten nützen. Ich Heß
hierbei durchblicken, daß ich den Wunsch des Baron Blanc nach
Herstellung eines engeren Zusammenschließens zwischen Italien, Öster-
reich-Ungarn und England auf Grund einer genaueren Interpretation
der bestehenden Abmachungen vollauf würdigte, hob hierbei jedoch
hervor, wie die Erzielung eines intimen Einvernehmens zwischen den
drei Mittelmeermächten meines Erachtens um so leichter gelingen
dürfte, je sorgfältiger dieselben vermeiden würden, die Kaiserliche Re-
gierung schon jetzt in diese Vorbesprechungen hineinziehen zu wollen.
Ich drückte die Überzeugung aus, daß sich Italien zunächst, soweit
Deutschland in Frage komme, bei der Gewißheit beruhigen könne, daß
die Bestimmungen des Dreibundsvertrags keinerlei Ergänzungen be-
dürften, sobald die Existenz Italiens in Frage stehe. Ich deutete hierbei
aber gleichzeitig an, daß es im eigensten Interesse des Baron Blanc
liege, die bisher von ihm erzielten Resultate, unsere gute Meinung
von ihm wie seinen diplomatischen Ruf nicht durch allzu stürmisches
Vordrängen noch eine zu akzentuierte Sprache zu gefährden.
Baron Blanc entgegnete mir, daß er in der Offenheit meiner
Sprache nur einen Beweis für die Sorgfalt sehe, mit welcher ich die
Beziehungen zwischen Deutschland und Italien vor Mißverständnissen
zu bev/ahren bestrebt sei. Er wolle noch nicht die Hoffnung aufgeben,
daß die Umstände die Verwirklichung seines politischen Lebens-
programms — das Zusammenwirken des Dreibunds mit England —
ermöglichen würden. Er werde jedoch bei seinen Bemühungen, dieses
Endziel zu erreichen, vermeiden, was in Widerspruch mit unserer
Reserve stünde, deren Berechtigung er anerkenne, pp.
B. von Bülow
Nr. 2559
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Konzept
Nr. 725 Beriin, den 10. Dezember 18Q5
Geheim
In dem Berichte Nr. 222 vom 20, v. Mts. haben Ew. eine Äußerung
des Herrn Berthelot erwähnt, dahin gehend, daß die Lokalisierung
eines etwaigen Orientkrieges der sehnlichste Wunsch des Präsidenten
15» 227
Faure wie auch der jetzigen Regierung, und nach der Überzeugung
des Ministers auch der Wunsch des ganzen Landes sei.
Die Hindernisse, welche sich in Form politischer Berechnungen
oder politischer Leidenschaften einer Verwirklichung dieses Wunsches
bei herannahender Entscheidung entgegenstellen würden, sind der-
artige, daß wir gut tun werden, jener Äußerung des Herrn Berthelot
bis auf weiteres lediglich die Bedeutung eines menschenfreundlichen
Wunfches beizulegen.
An sich bildet ja in den Kriegen der Neuzeit die Lokalisierung
nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Auch würden sich bei einem
russischen Orientkriege Kombinationen denken lassen, die es bei ruhiger
politischer Erwägung als die für Frankreich und sogar auch für Ruß-
land günstigere Eventualität erscheinen lassen würden, wenn ersteres
durch seine Neutralität eine oder zwei andere Großmächte zur gleichen
Haltung veranlaßte. Aber schwerlich würde neben den überschwäng-
lichen Hoffnungen, welche sich noch bis vor kurzem an die franko-
russische Kameradschaft knüpften, ruhige politische Erwägung in Frank-
reich zur Geltung kommen, am wenigsten dann, wenn Herr von Frey-
cinet, der Träger der Tradition Gambettas, wieder die Leitung von
Frankreichs auswärtiger Politik in die Hand nimmt.
Immerhin erscheint aber die Tatsache als ein bemerkenswertes
Symptom, daß ein Franzose in der Stellung des Herrn Berthelot,
welcher die Hauptverantwortung für Frankreichs auswärtige Politik
auf sich lasten fühlte, gewagt hat, jenen von Ew. berichteten Aus-
spruch zu tun. Nach der Beschreibung, welche Ew. von der Per-
sönlichkeit des Herrn Berthelot gegeben haben, läßt sich auch nicht
annehmen, daß er etwa von dem Gedanken geleitet war, uns irre-
zuleiten oder einzuschläfern.
Jedenfalls werde ich Ew. zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie
über alle Symptome ähnlicher Stimmung, welche Ihnen wahrnehmbar
werden, auch fernerhin berichten wollen.
Marschall
Nr. 2560
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe*
Ausfertigung
Nr. 233 Paris, den 12. Dezember 1895
pp. Die Vorgänge in Konstantinopel werden hier mit großer Auf-
merksamkeit verfolgt. Man ist in großer Sorge wegen der Komplika-
tionen, die man hier voraussieht und sehr fürchtet. Die Stimmung
ist in Beziehung auf die Türkei sehr pessimistisch. Die hiesigen Finanz-
* Der Anfang des Münsterschen Berichts ist abgedruckt in Bd. IX, Nr. 2367.
22S
männer halten den finanziellen Krach in Konstantinopel für unver-
meidlich, und die hiesigen Politiker sehen, wie Rußland und Eng-
land die Rollen vertauscht haben. Sie fürchten, daß beide Mächte
sich verständigen und dann Frankreich ganz isoHeren könnten. Wenn
auch die Stimmung sich verändert, so ändert sich vorläufig die Hal-
tung der hiesigen Regierung Rußland gegenüber nicht. Solange die
entente der Mächte in Konstantinopel besteht, und bis eine oder
mehrere der Mächte die Maske abwerfen, wird hier russische Politik
getrieben werden. Dann aber kommt der zweite Akt des jetzigen
platonischen Schauspiels.
Die politische Kombination wird dann eine ganz andere v/erden.
Die Stimmung neigt immer mehr dahin, daß es mehr im Interesse
Frankreichs liege, sich im Orient von allen kriegerischen Unternehmun-
gen fern zu halten, käme es zum Kriege, denselben zu lokalisieren
und den europäischen Krieg zu vermeiden. Der Wunsch, daß in dem
Falle Frankreich und Deutschland neutral bleiben mögen, ist ent-
schieden sehr allgemein verbreitet, und werde ich von den verschieden-
sten Seiten vielfach darauf angeredet. Darin zeigt sich am deutlichsten
der Umschwung der öffentlichen Meinung.
Praktisch wird das alles erst werden, wenn wirklich der Zusammen-
bruch der Türkei, das Ende des kranken Mannes eintreten sollte. Es
würde das eine fürchterliche Kalamität werden, namentlich vi^enn der
Sultan so sehr in die Enge getrieben würde, daß er die grüne Fahne
aufsteckte und den heiligen Krieg entfesselte. Daß alle Mächte davor
und vor der Teilung zurückschrecken, und daß sie zusammenhalten
wollen, verstehe ich. Gott gebe, daß es ihnen gelingen möge^.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
*■ Und daß sie es ernstlich wollen.
Nr. 2561
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 306 London, den 12. Dezember 1895
Geheim
Zu Erlaß Nr. 1475 vom 6. d. Mts.*.
Der italienische Botschafter hat, wie er mir ganz vertraulich sagt,
gestern den von Baron Blanc angeregten, angeblich in der geheimen
Abmachung vom Jahre 1887 vorbehaltenen Ideenaustausch bei Lord
Salisbury zur Sprache gebracht. Letzterer hat, ohne den Gedanken
* Durch Erlaß Nr. 1475 hatte Graf Hatzfeldt vorläufige Kenntnis von der Blanc-
schen Demarche (vgl. Nr. 2558) erhalten.
229
formell abzulehnen, darauf hingewiesen, daß ein solcher Gedanken-
austausch, der einer Art Konferenz der beteiligten Mächte gleich-
kommen würde, nicht geheim bleiben könnte und gerade jetzt das
ohnehin in St. Petersburg bestehende Mißtrauen gegen England noch
erhöhen würde.
Der österreichische Botschafter, welcher von der italienischen
Demarche offenbar noch nichts weiß, sagte mir heute seinerseits
ganz vertraulich, daß Graf Goluchowski, wie aus einem heute ein-
gegangenen Privatbrief desselben her\'orgehe, auf eine einfache Be-
stätigung des früheren geheimen Abkommens zwischen Österreich
und England keinen besonderen Wert mehr lege, weil die Bestim-
mungen desselben teilweise zu vage und unvollständige seien. Graf
Deym fügte aber hinzu, daß Graf Goluchowski, bevor hier ein Schritt
geschehe, um Erweiterung resp. Präzisierung des Abkommens herbei-
zuführen, die Frage noch mit ihm, dem Botschafter, persönlich in
Wien besprechen wolle.
Nach seinen Äußerungen nimmt Graf Deym übrigens an, daß ein
Gedankenaustausch durch das englisch-österreichische Abkommen nur
für einen bestimmten Fall vorgesehen sei: falls eine dritte Macht
(mit welcher nur Rußland gemeint sein könne) mit Konnivenz
des Sultans in Konstantinopel einrücken wollte, würde das letztere
durch die drei Mächte besetzt werden, welche sich für diesen Fall
einen vorherigen Gedankenaustausch vorbehalten hätten. Dieselnter-
pretation des Grafen Deym kann sich, soweit ich die geheimen Ab-
machungen kenne, nur auf Nr. 8 der mit Bericht Nr. 427 vom 10. De-
zember 1SS7 eingereichten Note* beziehen.
Graf Deym zeigte wenig Hoffnung, daß Lord Salisbury auf Er-
weiterung des Abkommens eingehen würde und ließ dabei erkennen,
daß in Wien, falls es dennoch dazu käme, großer Wert auf eine von
den drei Mächten anzunehmende Verpflichtung gelegt werden würde,
keine eigenen Vorteile in der Türkei zu verfolgen. Es soll damit offenbar
einer Teilung der Türkei vorgebaut v/erden.
Hatzfeldt
Nr. 2562
Der Botschafter in London Graf von Hatzfeldt an den Vortragenden
Rat im Auswärtigen Amt von Holstein
Entzifferung
Privat für Baron von Holstein London, den 13. Dezember 1895
Die in meinem letzten Privatbrief ausgesprochene Vermutung,
daß man uns hier jetzt sehr wenig Vertrauen entgegenbringt, bestätigt
* Siehe Bd. IV, Kap. XXVIII: Entente ä trois zwischen Italien, England und Öster-
reich 1S87;88. Nr. 940.
230
sich immer mehr. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß Lord
Salisbury mir in unserer Unterhaltung vom ll.d.Mts. über die vorher-
gegangene Anregung des italienischen Botschafters bezüglich Ge-
dankenaustausches nichts sagen wollte. Als weiteres Symptom teile
ich Ihnen eine Äußerung Lord Salisburys mit, über die ich nicht amtlich
berichten möchte. In unserer Konversation war im allgemeinen von
den verschiedenartigen Interessen der Mächte im Orient und von den
Hintergedanken, die bald der einen, bald der anderen Macht dort zu-
geschrieben würden, die Rede gewesen, und hieran anknüpfend sagte
Lord Salisbur>': „Von einer wohlunterrichteten und kompetenten Per-
sönlichkeit ist mir versichert worden, daß Frankreich dem Plane zu-
gestimmt habe, daß Konstantinopel eventuell an Deutschland fallen
solle.** Als ich auf die absurde und offenbare Unglaubwürdigkeit
einer solchen Insinuation hinwies, stimmte Lord Salisbury zwar zu,
fügte aber noch einmal hinzu: „Es ist mir aus sehr guter Quelle ver-
sichert worden."
Ich bitte dringend, mich möglichst fortlaufend von allen Nach-
richten aus Rom über Verhandlungen mit den Engländern informiert
zu halten, damit ich hier kontrollieren kann. In die Offenheit und
Aufrichtigkeit meines italienischen Kollegen setze ich nur sehr be-
grenztes Zutrauen.
An einen Erfolg hier bezüglich Erweiterung oder Präzisierung
der neun Punkte glaube ich nur, wenn Wien und Rom gemeinschaft-
lich oder wenigstens übereinstimmend handeln, was bisher durchaus
nicht der Fall ist.
Hatzfeldt
Nr. 2563
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 345 Berlin, den 15. Dezember 18Q5
Antwort auf Zifferbrief vom 13. d. Mts.*
Wenn Lord Salisbury behauptet, daß irgend jemand in der Welt
die Erwerbung von Konstantinopel durch Deutschland in vernünftige
Erwägung zieht, so liegt in dieser Äußerung nicht bloß Hohn, sondern
auch die Hoffnung, daß wir doch vielleicht einfältig genug sind, um
behufs Beseitigung des (geheuchelten) englischen Mißtrauens eine
aktivere Meerengenpolitik einzuleiten.
Gleichzeitig erfahren wir von zuverlässiger Seite, daß gegenwärtig
in denjenigen englischen Kreisen, welche sich für auswärtige Politik
* Siehe Nr. 2562.
231
interessieren, die Parole kursiert, lieber wegen Ostasien als wegen des
Near-East mit Rußland zu fechten. Auch diese Parole ist unaufrichtig.
Denn in Ostasien hat England keine sicheren Alliierten, während es
für die Meerengenfrage über zwei solche, Österreich und Italien, würde
beliebig verfügen können. Für diejenigen englischen Kreise, welche
gebildet genug sind, um zwischen den Zeilen zu lesen, drückt sich
in jener These einfach die Hoffnung aus, daß Rußland zuvörderst
wegen des Near-East in Krieg mit den Kontinentalmächten kommen,
und England dadurch die Möglichkeit gegeben werden wird, im Far-
East nach Belieben zu schalten.
Angesichts dieser Symptome ersuche ich Ew., die Frage der
österreichisch-italienisch-englischen Abmachung nach dem Muster von
1887 nicht weiter zu berühren. Falls von englischer Seite Sie darauf
angeredet werden sollten, wollen Ew. erwidern, die Regierung Seiner
Majestät des Kaisers sei aus verschiedenen Gründen zu der Über-
zeugung gelangt, daß England bisher nicht beabsichtige, für irgend-
welche Mittelmeer- oder Orientfragen selbst einzutreten. Falls Ihre
Kollegen von Österreich oder Italien die Frage bei Ihnen anregen,
bitte ich zu sagen, daß, zwar nicht nach Ihrer Ansicht, aber nach der-
jenigen der Kaiserlichen Regierung, England sich erst dann wird binden
wollen, wenn es sicher ist, daß ohne England weder Österreich noch
Italien sich in Krieg wegen der Meerengen- oder sonstiger Mittelmeer-
fragen stürzen wollen. Es schadet nichts, wenn diese Äußerungen,
nicht als die Ihrigen, aber als die hiesigen an Lord Salisbury gelangen.
Marschall
Nr. 2564
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Rom
Bernhard von Biilow
Konzept
Nr. 923 Berlin, den 17. Dezember 1895
Geheim [abgegangen am 20. Dezember]
Ew. beehre ich mich, anbei eine Abschrift des Berichts Nr. 192
urA der allerhöchsten Randvermerke* zu übersenden. Dieser Bericht
gibt einen interessanten Einblick in die derzeitige Gemütsverfassung
des Baron Blanc.
Als Italien unserm Rat entgegen seine Flotte zu der englischen
in den türkischen Gewässern stoßen ließ, da geschah dies in der Er-
wartung sofortiger gemeinsamer Aktion. Es zeigt sich aber heute,
daß jener verfrühte Schritt mit dazu beigetragen hat, das von Italien
erhoffte Ergebnis zu vereiteln i. Sei es, daß man in London besorgte,
• Siehe Nr. 2536.
232
durch Italiens Übereifer zu früh in Verwickelungen zu kommen, sei
es, daß die englischen Staatsmänner anfingen, die Hoffnung zu nähren,
Italien in seiner Leidenschaft werde sich und den Dreibund kopfüber
in den Orientkonflikt stürzen, ohne England abzuwarten 2. Tatsache ist,
daß das Erscheinen des italienischen Geschwaders den Augenblick be-
zeichnet, wo England in ein ruhigeres Fahrwasser einlenkte. Infolge-
dessen steht jetzt Baron Blanc vor der für ihn peinlichen Aussicht,
die italienischen Schiffe ohne Kampf und ohne Gewinn zurückkehren
zu sehen. Die Empfindlichkeit, welche deswegen bei dem italienischen
Minister sich äußert, möchte ich als eine überreizte bezeichnen. Wenn
der Grundsatz, daß jede militärische Demonstration, welche nicht zum
Kriege oder zu einer „Entschädigung" führt, als Demütigung oder
echec des demonstrierenden Staates anzusehen ist, Aufnahme in einen
internationalen Ehrenkodex fände, so läge darin eine unberechenbare
Vermehrung der Gefahren, die den Weltfrieden schon jetzt bedrohen.
Daß aber Baron Blanc durch diesen Anfang einer unangenehmen
Erfahrung zu der Erwägung geführt worden ist, Italien werde von
den Vorgängen auf der Balkanhalbinsel und an den Meerengen nicht
näher als England berührt, ist als ein entschiedener Fortschritt zu be-
zeichnen. Nur dann, wenn Italien dieser Überzeugung nicht bloß
mit Worten, sondern auch durch sein ruhiges Verhalten Ausdruck
gibt, wird die englische Regierung sich ernstlich die Frage vorlegen,
ob sie die Meerengen definitiv ihrem Schicksal überlassen oder
bei ihrer Verteidigung mitwirken will. Schwerlich legt sich Eng-
land diese Frage in dieser Form heute schon vor, es hofft wohl jetzt
noch, daß ItaHen und Österreich bei einer türkischen Katastrophe
das kalte Blut verlieren und ungebeten wie unbezahlt Englands Ge-
schäfte besorgen werden.
Die Fühlung, welche Baron Blanc in London zu nehmen be-
absichtigt, wird ihn über die derzeitigen Pläne und geheimen Hoff-
nungen der englischen Regierung aufklären. Wenn letztere, deren Ver-
treter in Konstantinopel nach den jüngsten Meldungen des Kaiser-
lichen Botschafters neuerdings wieder bemüht ist, die übrigen Mächte
zu einer Aktion in der armenischen Frage zu drängen*, gleichwohl
sich Italien gegenüber ablehnend zu allem verhielte, was einer Fixierung
ihrer Verbindlichkeiten für den Ernstfall ähnlich sähe, so ergäbe sich
hieraus nur, daß England zur Stunde noch hofft, die von London aus
angeregte armenisch-türkische Frage werde ohne englische Opfer
an Geld und Blut lediglich durch einen allgemeinen Kontinentalkrieg
die für England wünschenswerte Lösung erhalten 3.
Die Meerengenfrage ist für England nur ein Teil der russisch-
englischen Frage, welche außerdem noch die ostasiatische, die
ägyptische und — als Unterabteilung — die Frage des persischen
* Vgl. Kap. LXI, B, Nr. 2470.
233
Meerbusens umfaßt. Von diesen ist die Balkan- oder Meerengenfrage
die einzige, wo England hoffen kann, andere Mächte vorzuschieben,
deshalb ist die Frage, so wie geschehen, aufgebauscht worden.
Gesetzt den Fall, die Meerengenfrage erledigte sich ohne Krieg,
so wäre dadurch England keineswegs entlastet, der franko-russische
Druck würde vielmehr nach diesem Erfolge sich in Äg>-pten wie in
Ostasien erst recht fühlbar machen. England wird, wenn es weiter
leben will, dem Kampfe schließlich nicht ausweichen können und
wird sich dann nach Verbündeten umsehen müssen, immer voraus-
gesetzt, daß bis dahin die England bedrohende Gefahr nicht etwa
ohne Englands Zutun durch Englands Mitinteressenten beseitigt ist.
Mit einem Worte, Italien kann, wenn es das kalte Blut nicht
verliert, auf England in absehbarer Zeit als sicheren Bundes-
genossen für die endgültige Lösung der schwebenden Mittelmeerfragen
rechnen. Sehr entfernt dürfte jener Augenblick auch nicht mal sein.
Dafür bürgt die Ungeduld, mit welcher Frankreich auf die Regelung
der ägA'ptischen Frage drängt, während Rußland, welches für die
bevorstehende große Entscheidung in Ostasien die französische Mit-
wirkung gegen England nicht entbehren kann, dadurch zur Berück-
sichtigung der ägyptischen Wünsche Frankreichs genötigt wird.
Ich habe soweit nur den einen Fall ins Auge gefaßt, wo Italien
an seinen jetzigen politischen Beziehungen nichts ändert, also im
Vertragsverhältnis mit Deutschland und Österreich, in freundschaft-
lichem Verhältnis mit England bleibt.
Nachdem Ew. pp. jedoch erwähnt haben, daß Baron Blanc auf
die Möglichkeit hingedeutet hat, Italien könnte, falls es in der jetzigen
politischen Kombination nicht die gehofften Vorteile finde, sich der
gegnerischen Seite zuwenden, darf ich nicht unterlassen, auf die Folgen
hinzuweisen, welche diese Schwenkung für Italiens Zukunft haben
würde.
Italien lehnt sich heute vertragsmäßig oder freundschaftlich oder
beides an drei Mächte, von denen zwei ein Interesse an seinem Fort-
bestände haben, während die dritte (Österreich) sich mit dem Dasein
Italiens ausgesöhnt hat, aus demselben auch, solange Italien ihr Ver-
bündeter ist, Nutzen ziehen kann. Wenn Italien sich von dieser
Gruppe trennt, tritt es als schv/ächerer Vierter in die von Rußland,
Frankreich und dem Papst gebildete communio incidens ein. Denn,
daß Rußland um Italiens willen von den beiden anderen abrücken sollte,
indem es Italien ernstlich gemeinte Konzessionen macht, die
jenen unangenehm sind, darf man von vornherein als ausgeschlossen
betrachten.
Etwas anderes ist es mit bloßen Versprechungen, durch die man
suchen würde, Italien zum Abfall zu bringen, mit dem geistigen Vor-
behalt, dieselben, sobald Italien von seinem bisherigen Anhang isoliert
ist, nach dem Vorbilde der großen Napoleonischen Epoche zu be-
234
handeln, wo dem Schwächeren, gleichviel ob Freund oder Feind, das,
was ein Vertrag ihm gegeben oder gelassen hatte, beim nächsten Ver-
trage beliebig entzogen ward.
Daß Italien von dem Augenblick an, wo seine Haltung im Drei-
bunde eine zweifelhafte wird, der schwächste unter den europäischen
Machtfaktoren sein würde, bedarf kaum des Beweises. In der Gruppe,
an die es sich künftig anzulehnen hätte, würde es seine beiden un-
versöhnlichsten Feinde, Frankreich und den Papst, neben sich sehen.
Frankreich hat nie aufgehört und wird selbst unter der radikalsten
Regierung nicht aufhören, aus Gründen auswärtiger Politik die V/ieder-
herstellung der weltlichen Macht des Papstes zu begünstigen, in
der sicheren Erwartung, daß der Verlust von Rom für Italien das
Ende nicht nur der Einigkeit, sondern auch der Monarchie, folglich
der ganzen Mittelmeerrivalität bedeutet. Auch der Konvent schützte,
während er innerhalb Frankreichs die Geistlichen verfolgte, aus Gründen
auswärtiger Politik die Interessen der katholischen Kirche im Orient
eifersüchtig wie kaum eine andere französische Regierung.
Das Gefühl der Reue darüber, daß von Napoleon III. der erste
Anstoß zur Einigung Italiens ausging, hat in Frankreich von 1866
bis heute stetig zugenommen. Gegen die Gefahren, welche aus dieser
Stimmung sich für Italien ergeben konnten, bildeten Deutschland und
der Dreibund das Gegengewicht. In dem Augenblick aber, wo Italien
sich vom Dreibund abwendet, wird Deutschland sich daran erinnern
müssen, daß wir für Italien, welches sich anschickt, uns im Stiche
zu lassen, den Preis der Erwerbung Roms in zwiefacher Form zahlten,
im Kriege gegen Frankreich und im Kulturkampf. Es ist ein Beweis
für die geistige Bedeutung der deutschen katholischen Führer, daß
dieselben sich tatsächlich in den Gedanken gefunden haben, den
Staat, welcher den tausendjährigen Besitz des Heiligen Stuhls an sich
riß, als Mitglied des Dreibunds unbehelligt zu lassen. Für die Masse
des katholischen Volks wie für die niedere Geistlichkeit bildet gleich-
wohl der Umstand, daß Italien durch die Regierung des Deutschen
Kaisers im Besitze des Patrimonium Petri geschützt wird, ein Thema
für endlose Anklagen und die Ursache vielfacher Entfremdung gegen
die Regierung. Und von dem Augenblick an, wo bekannt ist, daß Italien
dem Dreibund nicht mehr oder nur noch äußerlich angehört, würde nicht
nur bei der katholischen, sondern auch bei der protestantischen Be-
völkerung sich eine mächtige Strömung fühlbar machen, entsprungen
aus der Überzeugung, daß der Zeitpunkt gekommen sei, wo wir unserer
Politik diejenige Richtung zu geben haben, v/elche geeignet ist, ein
volles Einvernehmen zwischen Kaiser und Papst herzustellen, um solcher
Art den Kraftverlust, welchen Deutschland infolge von Italiens Über-
tritt erlitten hat, durch intensivere innere Einigkeit auszugleichen.
Deutschlands Aufgabe würde es ferner sein, dem vorzubeugen,
daß infolge der Gärung der Gemüter, welche nach dem Abfall Italiens
235
unvermeidlich ist, in Österreich die deutschfeindlichen
Gruppen ans Ruder gelangen. Um dieser Gefahr vorzubeugen
und zu verhindern, daß die bisher politisch überwiegenden Gruppen,
welche Anlehnung beim Deutschen Reiche suchen, entmutigt werden,
müssen wir alsdann mit den äußersten Mitteln auf eine Besserung
der russisch-österreichischen Beziehungen hinarbeiten. Die Verschärfung
dieser datiert von der Zeit, wo Österreich nach dem Verlust seiner
Hegemonie über Italien und seines Einflusses in einem Teile des
nichtpreußischen Deutschlands darauf hingewiesen war, sich in südöst-
licher Richtung auszudehnen, um die Einbuße an Italienischen Unter-
tanen durch südslawische Volksstämme zu ersetzen. Diese Schiebung
hat für Österreich nach außen hin politische Reibungen mit Rußland,
nach innen eine zugunsten der nichtpolnischen Slawen, zum Nachteil
der Deutschen, Polen und Ungarn fühlbar werdende Störung des
Gleichgewichts der unter habsburgischem Zepter lebenden Natio-
nalitäten herbeigeführt. Sowohl in Rußland wie bei den Ungarn, den
Polen und den österreichischen Deutschen würde daher der Gedanke
Anklang finden, Österreichs slawische Interessensphäre enger zu be-
grenzen und dafür den Schwerpunkt der Monarchie wieder weiter
nach Westen zu verlegen.
Ew. ist bereits bekannt, daß wir uns dem Gedanken keineswegs
verschließen, es könnte jene Verschiebung des österreichischen Schwer-
punktes auf Kosten des Deutschen Reichs angestrebt werden. Indessen
glaube ich doch, daß, falls die Haltung Italiens uns zwingt, die Ver-
ständigung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland um jeden Preis
herbeizuführen, es uns gelingen wird, die wichtigsten unter den anderen
Interessenten zu der Überzeugung zu bringen, daß ihnen eine Ent-
schädigung Österreichs auf Kosten Italiens — etwa mit der Grenze
von Villafranca — ersprießlicher, und daß sie jedenfalls leichter sein
würde als eine solche auf Kosten Deutschlands. Innerhalb Österreichs
würden die Ungarn und die Polen ihre eigene Machtstellung durch
eine Ausdehnung des italienischen Elements nicht gefährdet sehen,
wohl aber durch eine Verstärkung des deutschen Elements innerhalb
der Monarchie. Für den unter russischer Einwirkung stehenden Teil
der österreichischen Slawen würde die Haltung Rußlands maßgebend
sein, und was den Kaiser von Rußland anlangt, so darf angenommen
werden, daß er derjenigen Lösung den Vorzug geben würde, durch
welche ein deutsch-russischer Krieg vermieden ward. Ja sogar die
heutige Zivilregierung Frankreichs, deren Mitglieder in jedem großen
französischen Kriege auch dann, wenn derselbe erfolgreich verläuft,
ihr politisches Ende erblicken müssen, würde vielleicht keines großen
russischen Zuredens bedürfen, um sich anstatt der unsicheren Aus-
sichten eines russisch-französischen Krieges gegen Deutschland und
Österreich — mit dem sonst von vollständiger Vereinsamung be-
drohten England im Hintergrunde — eine ungefährliche Abfindung
236
auf Kosten des wieder wie vor hundert Jahren zum Kompensations-
objekt und geographischen Begriff herabgedrücicten Italiens gefallen
zu lassen.
Der vorstehende Exkurs auf das uns sonst ungewohnte Gebiet
der Konjekturalpolitik verfolgt vor allem den Zweck, Ew. die Sicher-
heit zu geben, daß Sie ganz im Sinne der Regierung Seiner AAajestät
des Kaisers handeln, wenn Sie an der Hand des Ihnen zu eigener
Verfügung stehenden reichhaltigen politischen und geschichtlichen
Materials dem Baron Blanc, falls derselbe das Gespenst des italieni-
schen Abfalls vom Dreibund wieder erscheinen läßt, den Beweis führen,
daß derjenige italienische Staatsmann, Graf Tornielli oder ein anderer,
welcher Italien in diese Bahnen lenkt, damit lediglich die Zerstückelung
des Reichs und die Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes
in die Wege leiten wird.
Zum Schluß will ich noch bemerken, daß ich das aus früherer
Zeit mir erinnerliche Schlagwort Visconti Venostas: „Independenti
sempre, isolati mai'' zu meiner Überraschung in Ew. Bericht wieder
auftauchen sah. Ich hätte geglaubt, daß die Schule italienischer Politik,
welche sich in jenem Worte verkörperte, durch den Verlust von Tunis
tatsächlich ad absurdum geführt worden sei. Sicher bin ich jedenfalls,
daß Italien, wenn es sich jener Irrlehre wieder zuwendet, damit jetzt
keine besseren Erfahrungen machen wird als vor 14 Jahren.
C. Hohenlohe
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Absdirift:
^ Sehr richtig
2 das ist das wahrscheinlichere
3 richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Einverstanden
Italien soll nur ruhig auf dem Anstand ausharren wenn auch im Stangen-
holz der Britische Hirsch schon mit dem Geweih klappert und dann und wann
schreit! Nur nicht losdrücken! Er muß auf die Wiese der Bundesgenossen-
schaft heraustreten und ist er da erst auf dem Freien, dann kann ßlanc i[h]m
eins aufs Blatt versetzen.
Nr. 2565
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 1002 Berlin, den 19. Dezember 1895
[abgegangen am 20. Dezember]
pp. Wir können nur mit Befriedigung wahrnehmen, daß Graf Goiu-
chowski auf Grund unserer Vorstellungen und vielleicht auch einiger
eigener Erfahrungen neuesten Datums keine Neigung hat, sich von
237
England vorschieben zu lassen*. Wir können in Wien immer nur
von neuem darauf hinweisen, daß das sicherste Mittel, Englands Be-
teiligung an der Erledigung schwebender Mittelmeer- und Orlciitfragen
zu verhindern, darin besteht, daß die anderen in gleicher Weise wie
England interessierten Kabinette Eifer und Nervosität zeigen. Solange
nicht der letzte Schatten der Hoffnung verschwunden ist, daß Englands
Interessen doch noch vielleicht ohne England gewahrt werden könnten,
wird England sich nicht entschließen, Ernst zu machen, dann aber
allerdings, denn für den Ausbreitungstrieb von England einerseits,
Rußland und Frankreich andererseits ist die Welt, und ist speziell Asien
zu klein. Der Gang der Ereignisse drängt auf den Konflikt hin,
weniger unmittelbar wegen europäischer als wegen außereuropäischer,
insbesondere asiatischer Fragen, die Reibungsfläche erstreckt sich von
Byzanz und Syrien, dem Boden der französischen Kreuzfahrer, bis
Port Arthur.
Marschall
Nr. 2566
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Entzifferung
Nr. 520 St. Petersburg, den 19. Dezember 1895
Prinz Liechtenstein** teilte mir vertraulich mit, er habe aus Privat-
briefen Grund zur Annahme, daß Graf Goluchov.ski sich überzeugt
zu haben scheine, Lord Salisbury hätte zu seinen selbstsüchtigen
Zwecken im Orient Österreich ausnutzen und ausbeuten wollen i.
Auch glaube Graf Goluchowski anscheinend, es wäre doch ganz gut
möglich, zu einer engeren Verständigung mit Rußland zu gelangen.
Fürst Lobanow, den ich heute sah, erwähnte mir aus eigener
Initiative die gleiche Äußerung des Prinzen Liechtenstein. Der Mi-
nister sprach mir auch mit Befriedigung von einer Unterhaltung, die
Graf von der Osten-Sacken*** mit Staatsminister Freiherr von Marschall
gehabt.
Radolin
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Dahinter kommt er jetzt erst!? Und seit wie lange predigt ihm das mein
Botschafter!
* Nämlich in der armenischen Frage. Vgl. Kap. LXI, B, Nr. 2473 und 2473.
** Österreich-ungarischer Botschafter in Petersburg.
*** Russischer Botschafter in Berlin.
238
Nr. 2567
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichs-
kanzler Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 284 Wien, den 21. Dezember 18Q5
Geheim
Graf Deym ist gestern aus London hier eingetroffen. Er brachte
Eindrücive mit, welche den Grafen Goluchowski in eine behagliche
Stimmung versetzten und ihn zu folgenden Betrachtungen veranlaßten:
„England wird immer für uns eine politische Notwendigkeit bleiben.
Nicht so weit, daß wir uns vor seinen Wagen spannen ließen oder
pour ses beaux yeux in kriegerische Abenteuer einträten, aber doch
so, daß wir z. B. nicht zugeben könnten, daß seine Großmachtstellung
in Frage gestellt würde. Wir brauchen England als Anlehnung und
müssen deshalb trachten, in möglichst guten Beziehungen zu bleiben.
Gegenüber der höchst zweideutigen Politik Rußlands im Orient ist es
jetzt sogar für uns notwendig, diesen Zusammenhang zu zeigen.
Die Dispositionen Lord Salisburys sind gute. Er hat dieses durch seine
Haltung gegenüber Graf Deym bewiesen. Aus allen diesen Gründen
ist es daher notwendig, auch unsere öffentliche Sprache danach zu
richten. Ich habe mit Ärger den heutigen Leitartikel der „Neuen
Freien Presse" gelesen und werde mit den Leuten ein ernstes Wort
reden. Eine derartige Sprache gegen England muß vermieden werden
— und ich wäre sehr dankbar, wenn auch in Deutschland zu große
Härten in der Presse unterlassen würden i.*'
Daß der Artikel, den ich mich beehre. Euerer Durchlaucht in der
Anlage* gehorsamst zu überreichen, nur im Hinbück auf die Ausfälle
gegen England den Ärger des Grafen erregte und etwa auch der
Hymnus auf die „neue Freundschaft zwischen Deutschland und Ruß-
land'' hierzu eine Veranlassung gab, unterliegt keinem Zweifel.
Steckt wohl bezüghch der Entente zwischen Deutschland und
Rußland in Ostasien ein kleiner Stachel in dem Polenherzen, so ist
doch der Graf durch die loyale Haltung Deutschlands und die un-
zweifelhafte Sprache, die wir in allen Schwierigkeiten während seiner
Amtstätigkeit hier geführt haben, von solchem Zutrauen zu uns, daß
* Der Artikel der „Neuen Freien Presse" (Nr. 11252 vom 20. Dezember 1895)
erörterte im Hinblick auf die scharf verurteilte Haltung Englands das nicht mehr
zu verkennende „Phänomen" einer gegen England gekehrten deutsch-russisch-fran-
zösischen Frontstellung. In der wachsenden Befreundung zwischen Deutschland und
Rußland, die auch auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich günstig
einwirken müsse, sah der Artikel das beste Mittel, die auf Europa noch lastende
Spannung zu vermindern. Zu dieser Stelle des Artikels hat Kaiser Wilhelm II.
am Rande vermerkt „ja", und zu dem ganzen Artikel „sehr gut",
239
es ihm fern läge, sich über die Feder eines deutsch-russischen Zeitungs-
poHtikers ernstliche Sorgen zu machen.
Von großem Interesse sind die Mitteilungen, die mir der
Minister mit der Bitte um Geheimhaltung bezüglich des
accord ä trois machte. Die günstigere Gestaltung dieser Frage gab
wohl in erster Linie den Ausschlag für die vorstehenden freund-
lichen Absichten bezüglich Englands, welche der Graf zum Ausdruck
brachte.
„Nicht ich," sagte er, „habe den accord ä trois in England wieder
angeregt. Was ich Ihnen sage, kommt von Lord Salisbury. Sie wissen,
daß mir der alte accord ä trois unbrauchbar und ungenügend er-
scheint, und daß ich abwarten will, meine Vorschläge zu machen, wenn
ich weiß, daß das Terrain in England überhaupt möglich zu bebauen
ist. Dieses scheint nun doch bis zu einem gewissen Grade der Fall
zu sein. Es ist Ihnen bekannt, daß Lord Salisbury im Jahre 1887
nur seinen Namen für den accord hergab. Jetzt hat er das
ganze Ministerium in dieser Frage hinter sich^ und keinen
Anstand genommen, es dem Grafen Deym mitzuteilen. Die Basis
der Wahlen, auf der er steht, bedeutet eine gewisse Garantie für die
längere Dauer seiner Regierung 3. Daher glaube ich, daß etwas zu
machen sein wird. Auch scheint es mir jetzt eigentlich unzweifelhaft,
daß Lord Salisbury sich dem Dreibund anschließen will*."
Ich bin den Mitteilungen des Grafen gefolgt, ohne Bemerkungen
irgendwelcher politischer Tragweite zu machen. Da er sich denjenigen
englischen Anzapfungen, welche sich auf orientalische Fragen heikler
Natur bezogen, unzweifelhaft ebenso vorsichtig als energisch gegen-
überstellte, habe ich die Hoffnung, daß er sich auch bei den in Aus-
sicht stehenden Abmachungen und Entschließungen nicht in ein Fahr-
wasser wird drängen lassen, welches uns unbequem werden könnte.
Ich habe es jedenfalls nicht an Warnungen fehlen lassen, und pflegt
er deshalb jetzt gewöhnlich seine Betrachtungen über englisch-öster-
reichische Beziehungen mit der Bemerkung zu schließen:
,,Im übrigen können Sie sicher sein, daß ich mir von England
niemals werde das Fell über die Ohren ziehen lassen 5."
P. Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Ein sehr harmloser Herr!
2 Das bedeutet in England gar wenig, denn auch ein Ministerium kann in einem
Tage fallen! Das Parlament muß dahinter stehen!
3 ?
* ! ach du lieber Himmel! woher will er denn das wissen
* Das sieht aber verdeibelt danach aus.
Schlußbemerkung des Kaisers:
In Beziehung auf England ist Qfoluchowski] ein großer Optimist! Salisbury hat
das ganz richtig weg, und lockt ihn mit der Bemerkung das Ministerium hinter
240
sich zu haben. Das bedeutet nichts! In England ist die „Times" und das
„Parliament" ausschlaggebend. Solange die beiden nicht wollen oder mit-
machen ist Salisburys Versprechen null und nichtig und Oesterreich fällt rein.
Deym scheint ein Esel zu sein, der von Salisbury sich enguirlandiren ließ und
seinem Minister falsche Hoffnungen erweckte.
Nr. 2568
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 281 Wien, den 23. Dezember 1895
Geheim
Graf Goluchowski, dem ich täglich begegne, kommt immer auf
die österreichisch-englischen Beziehungen zurück. Er erzählte mir
gestern, daß Lord Salisbury in letzter Zeit dreimal nach London ge-
kommen sei, lediglich um Graf Deym zu sehen und anscheinend immer
in der Erwartung österreichischer Vorschläge. Dieses Faktum und das
Entgegenkommen, das er zeigte, sieht Graf Goluchowski als Symptom
dafür an, daß England alle Türen verschlossen fand und jetzt endlich
vielleicht zu bindenden Abmachungen getrieben werde.
Auf meine Bemerkung, daß eine Zwangslage Englands Österreich,
welches dort Anlehnung wünsche, klar den Weg zeige, wie es sich
dort anzulehnen habe, sprach sich der Graf folgendermaßen aus: „Eng-
lands Interessen im Mittelmeer und bei den Dardanellen sind größere
als diejenigen Österreichs. Es muß deshalb vorangehen, eventuell
mit Italien. Österreich steht in zweiter Linie, Deshalb kann ich auch
den Punkt Nr. 8 in den Abmachungen von 1887* nicht in jetziger
Form brauchen. Englands Stellung und Verpflichtungen als in
erster Linie interessierte Macht müssen unzweifelhaft festgelegt werden.
Ich werde nach Rückkehr des Grafen Deym auf seinen Posten das
Berliner Kabinett genau über meine Schritte in England vorher in-
formieren. Die Haltung Lord Salisburys scheint mir starke Tendenz
zu zeigen, nicht nur die Abmachungen von 1887 zu ergänzen, sondern
sich dem Dreibund anzuschließen."
Ich glaube annehmen zu sollen, daß diese Meinungsäußerung
des Grafen maßgebend für seine weiteren Beziehungen zu England
bleiben wird. Auch halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß die
englischen Verständigungsversuche in St. Petersburg hierher durch-
gesickert sind.
Ganz vertraulich melde ich schließlich, daß ich Symptome dafür
habe, daß Graf Goluchowski nicht mehr eine russische Okkupation
Konstantinopels und der Dardanellen als casus belli betrachten würde,
immerhin aber noch als sehr schwer zu lösende Komplikation.
Eulen bürg
* Siehe Bd. IV, Kap. XXVIII: Entente ä trois zwischen Italien, England und Öster-
reich 1887/88. Nr. 940.
16 Die Große Politik. 10. Bd. 241
Nr. 2569
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg
Konzept
Nr. 1021 Berlin, den 23. Dezember 1S95
Euerer Exzellenz bin ich dafür dankbar, daß Sie die Aufmerksam-
keit auf den Leitartikel der „Neuen Freien Presse" Nr, 11252* ge-
lenkt haben.
Derselbe war hier übersehen worden. Den Gedanken, daß man
es mit einer Redaktionsarbeit zu tun hat, möchte ich von vornherein
abweisen. Um dem Ursprünge etwas näher zu kommen, ersuche ich
Euer pp., den Grafen Goluchowski zu bitten, daß er die ihm zweifellos
zu Gebote stehenden Mittel anwendet, um sich und Sie hierüber zu
orientieren. Lehnt der Graf a limine ab oder sagt er Ihnen später,
daß die Nachforschungen zu nichts geführt haben, so wird dadurch
allerdings die Vermutung in den Vordergrund gerückt, daß der eifrige
Herr von Doczy** jene Auslassung mit oder ohne höhere Inspiration
ersann, um auf diesem Wege von uns ein Dementi der Behauptung
zu erzielen, daß in der Orientfrage „Rußland von dem deutschen und
dem französischen Freunde flankiert ist''.
Von vornherein halte ich aber die Vermutung des österreichisch-
offiziösen Ursprungs für weniger wahrscheinlich. Die „Neue Freie
Presse" hat mancherlei externe Verbindungen, und ich sehe nicht
ohne weiteres ein, welchen Vorteil die Organe des Grafen Goluchowski
davon erwarten können, daß sie hervorheben, Deutschland habe sich
„auf den Weg der Bismarckschen Staatskunst zurückgefunden, deren
Prinzip es war, überall, wo untergeordnete deutsche Interessen in
Frage standen, sich den Russen gefällig zu erweisen".
Richtiger, aber vielleicht dem in dem Artikel vorgesteckten Ziele
weniger entsprechend wäre es zu sagen, daß Deutschland sich von
jenem Prinzip niemals entfernt hat. Eben deshalb sind wir nicht
geneigt, Feuer zu fangen, solange es sich lediglich um die Dardanellen
handelt, denn die sind in der Tat für Deutschland ein „untergeordnetes
Interesse". Erst dann, wenn die Dardanellenfrage Verhältnisse an-
nimmt, welche einen Rückschlag auf die Existenzbedingungen Öster-
reichs in Aussicht stellen, ist die Regierung Seiner Majestät des
Kaisers genötigt, der Angelegenheit näher zu treten, weil alsdann
Deutschland vor der Möglichkeit steht, in den Konflikt mit hinein-
gezogen zu werden. Es kann nicht wundernehmen, daß Deutschland,
dem die Verantwortung für die Folgen mit zufällt, deswegen auch
Anspruch darauf macht, gehört zu werden, wenn es sich um die
* Vgl. Nr. 2567, Fußnote.
** Redakteur der „Neuen Freien Presse".
242
Anfänge handelt, d. h. um die Entscheidung der Frage, an welchem
Punkte die Lebensinteressen Österreichs berührt werden.
Ich erwähne diesen Punkt heute nur akademisch. Der AugonbUck
für die praktische Erörterung dieser Frage wird erst dann gekommen
sein, wenn Rußland Neigung zeigt, zu seinen Gunsten den status quo
in den Meerengen und deren Umgebung zu verändern. Dieser Punkt
läßt sich aber heute noch nicht am politischen Horizont erkennen;
im Gegenteil war es bisher England, welches sich bestrebt zeigte,
am Bestände des Osmanenreiches zu rütteln, während Rußland, nicht
aus Uneigennützigkeit, sondern wahrscheinlich, weil es seine Kräfte
für Ostasien sparen möchte, gegenwärtig bemüht ist, einer türkischen
Katastrophe vorzubeugen.
Bei dem Versuche, uns über Rußlands Absichten aufzuklären,
legt jeder sich vielleicht am besten die Frage vor, was er an Stelle
des Fürsten Lobanow tun, auf welche Entscheidungspunkte er die
russische Politik hinschieben würde. Die Tatsache ist gegeben, daß
auf der ganzen Strecke von Skutari bis Korea, wo das aggressive
russische Interesse sich an dem Erhaltungs- oder Erwerbstrieb anderer
Nationen reibt, England immer als Gegner auftritt. Um England
können sich je nach Umständen andere Interessen kristallisieren, diese
sind aber nicht dieselben in Korea wie in Konstantinopel. In Ost-
asien würde England gegenüber dem Vorgehen der franko-russischen
Gruppe kaum auf mehr als auf die Unterstützung Japans rechnen
können, während in der Dardanellenfrage England, wenn es wirklich
Ernst machte, der Unterstützung von Österreich und Italien mit Deutsch-
land als Reserve sicher sein würde. Wenn daher Rußland die Politik
so zu schieben sucht, als ob der Konflikt mit England nicht jetzt
wegen der Dardanellen, sondern später wegen Ostasiens zum Austrag
kommen solle, so kann man das nicht als besondere Unaufrichtig-
keit, sondern nur als richtige Erkenntnis der politischen Lage be-
zeichnen. Wenn dagegen England, wie man das jetzt häufig von
kompetenten Seiten behaupten hört, das Axiom glaubhaft zu machen
sucht, Rußland werde für England leichter in Ostasien als im Mittel-
meer zu bekämpfen sein, so liegt darin ein Beweis für die Unaufrichtig-
keit der englischen Politik, denn an leitender Stelle in England
weiß man so gut wie wir, auf welche Verbündete England in Ost-
asien, und auf welche es im Mittelmeer zu rechnen haben würde. Wenn
England gleichwohl den näheren Konflikt im Mittelmeer vermeidet
und dem langsamer herankommenden ostasiatischen den Vorzug zu
geben behauptet, so heißt das einfach: England hofft, daß im Mittel-
meer und auf der Balkanhalbinsel der Kampf ohne England losgehen,
und England sich den eigenen Aderlaß dann ganz sparen könnte.
Diese letztere Hoffnung — darin stimmen alle Anzeichen über-
ein — hatte Lord Salisbury noch vor kurzem. Die Äußerungen der
Grafen Goluchowski und Deym, welche Euer pp. in Ihrem Bericht
16* 243
Nr. 284* wiedergeben, enthalten in ihrer allgemeinen Fassung
nichts, was die Hoffnung stärken könnte, daß der englische Premier-
minister sich jetzt schon von seinen bisherigen Idealen losgesagt hat.
Diese Frage ist aber zurzeit noch eine offene, und wir müssen uns
des endgültigen Urteils enthalten bis zu dem Augenblick, wo Graf
Goluchowski der Ansicht sein wird, etwas Festes und Greifbares
erlangt zu haben. Ob unsere Ansichten über das Feste und Greif-
bare sich mit denen des Grafen Goluchowski stets decken werden,
diese Erörterung kann auch füglich einer späteren Phase vorbehalten
bleiben. Dagegen muß ich mich schon heute zu der Bemerkung des
Grafen Goluchowski äußern, Lord Salisbury scheine sich dem Drei-
bunde anschließen zu wollen. Wenn hier unter Dreibund derjenige
zwischen Deutschland, Österreich und Italien verstanden ist, so bin
ich genötigt, bezüglich Deutschlands einen Vorbehalt zu machen,
welcher in der Natur dieses Vertrages liegt. Derselbe ist ein defensiver
und erhaltender Vertrag, er soll den gegenwärtigen Besitzstand seiner
Teilnehmer schützen. Wenn England die Neigung zeigt, als Vierter
beizutreten, so würde das — nach Äußerungen zu urteilen, die im
Laufe der letzten Jahre von englischen Staatsmännern verschiedener
Parteien gemacht worden sind — darauf hinauslaufen, daß der Drei-
oder Vierbund für die über den ganzen Erdkreis zerstreuten Be-
sitzungen Englands zu fechten hätte. Graf Goluchowski wird am
besten beurteilen können, bis zu welchem Grade patriotischen
Schwunges die österreichisch-ungarischen Parlamente im psycho-
logischen Momente würden gebracht werden können. Für die deutsche
Regierung aber ist es eine ausgeschlossene Eventualität, die Stimme
des Reichstages und die Stimme des Volkes für einen Krieg zu er-
langen, welcher bezweckt, zur Verteidigung von Englisch-Indien gegen
Rußland und Frankreich mitzuwirken.
Unter den Einwendungen gegen einen solchen Krieg würde die-
jenige am schwersten zu widerlegen sein, wonach England, wenn es
für seinen längst vorhergesehenen Kampf gegen Rußland europäischer
Verbündeter zu bedürfen glaubte, sich die letzteren durch eine feste
Abmachung wegen der Dardanellenfrage leicht hätte sichern können.
Durch eine Abmachung dieser Art mit Österreich und Italien würde
England zwar nicht sofort, aber für den schlimmsten Fall sich auch
die Kooperation Deutschlands verschafft haben, weil letzteres die
Verminderung seiner beiden Verbündeten, solange sie seine Ver-
bündeten sind, niemals würde ruhig ansehen können.
Das bisher Gesagte fasse ich dahin zusammen, daß Deutschland
die Abmachungen, welche die ihm befreundeten Mittelmeerstaaten in
ihrem Interesse glauben abschließen zu sollen, nicht nur mit seinen
besten Wünschen begleitet, sondern sich auch der Rückwirkungen
* Siehe Nr. 2567.
244
bewußt ist, welche aus einer solchen Abmachung am letzten Ende,
d. h. dann, wenn Österreich und ItaHen in wirkliche Schwierigkeiten
kommen, für Deutschland nicht nur in Gemäßheit des Dreibunds-
vertrages, sondern auch in Wahrnehmung der Interessen des europä-
ischen Gleichgewichts erwachsen können. Andererseits aber halten wir
die Idee von dem Beitritt Englands zum jetzigen Dreibunde aus den
vorstehend entwickelten Gründen für keine praktisch durchführbare
und ihre Erörterung deshalb bei der gegenwärtigen politischen Kon-
junktur für unfruchtbar.
Falls Graf Goluchowski auf diese Frage der Ausdehnung des
Dreibunds zurückkommen sollte, wollen Ew. pp. darauf hinweisen, daß
der gegenwärtige Streit wegen der Schomburgklinie in Venezuela*
kaum geeignet ist, außerhalb Englands Anhänger für den Gedanken
einer solidarischen Wahrung des englischen Besitzstandes zu werben.
Marschall
* Die Grenzlinie zwischen Englisch Guyana und Venezuela, die schon 1841 von
Robert Schomburgk kartographisch festgelegt war, war seither wieder strittige ge-
worden. Mitte Oktober 1S94 hatten England und Venezuela die Einsetzung einer
Kommission zur Schlichtung ihrer Grenzstreitigkeiten vereinbart. Aber schon am
IQ. Oktober überreichte England ein Ultimatum wegen Entschädigung für Miß-
handlungen englischer Untertanen, das zugleich Bedingungen zur Regelung des
Grenzstreits in Guyana aufstellte. Der Streit drohte durch die Einmischung der
Vereinigten Staaten große und weittragende Perspektiven anzunehmen. Am
17. Dezember erließ Präsident Cleveland eine Botschaft an den Kongreß, in der
er, kraft der Monroe-Lehre eine entscheidende iWitwirkung bei der Regelung der
Grenzfragen, selbst auf die Gefahr einer kriegerischen Verwicklung mit England
in Anspruch nahm. Vgl. auch Bd. IX, Kap. LIX, Nr. 2368, nebst Fußnote * S. 424.
245
Anhang
Ein Russisch -Englisches Kondominium
in Konstantinopel?
Nr. 2570
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 17. Dezember 1895
Der russische Botschafter erwähnte bei einem Gespräch mit mir,
in welcliem er über die Unklarheit und Unaufrichtigkeit der englischen
Politik klagte, das englische Kabinett habe jüngst in Petersburg die
Idee fallen lassen, Konstantinopel zu einem russisch-englischen Kondo-
minium zu machen, Fürst Lobanow habe diese Idee mit Entrüstung
zurückgewiesen und ihm — dem Botschafter — einen eingehenden
Brief darüber geschrieben, welcher in dem Gedanken gipfle, daß die
Politik Rußlands ausschließlich von dem Entschluß, unverbrüchlich
an dem Berliner Vertrage festzuhalten, geleitet sei.
Marschall
Nr. 2571
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Mumm von Schwarzenstein
Nr. 1527 BerHn, den 19. Dezember 1895
Ew. wollen aus meiner beifolgenden Aufzeichnung* entnehmen,
daß Fürst Lobanow behauptet, England habe versucht, mit Rußland
wegen Herstellung eines russisch-englischen Kondominiums in Kon-
stantinopel in Unterhandlungen zu treten, sei jedoch von dem russi-
schen Minister ab- und auf den Berliner Vertrag hingewiesen worden.
Die russische Mitteilung konnte uns nicht überraschen, nachdem
wir seit Monaten Zeugen der herumtastenden Politik des englischen
Kabinetts gewesen sind. Lord Salisbury verfolgt unentwegt den Zweck,
Englands heutige Besitz- und Machtsphäre nicht nur zu erhalten,
* Siehe Nr. 2570.
249
sondern möglichst noch auszudehnen, ohne daß England dadurch in
ernstliche Kriegsgefahr kommt. Für Erreichung dieses Zwecks ver-
sucht der englische AAinister nach- und nebeneinander die verschieden-
sten Mittel. Ein solches Mittel war der Versuch, die armenischen
Wirren als Anlaß zum Konflikt unter den Kontinentalmächten zu ver-
werten, ein anderer solcher Versuch ist der jetzt vorliegende Kondo-
minatsvorschlag. Lord Salisbury hätte sich Vorschlag und Abweisung
ersparen können, wenn er die Tatsache der Erwägung wert gehalten
hätte, daß die Meerengen- und überhaupt die türkische Frage nur
einer unter mehreren zwischen Rußland und England streitigen Punkten
ist. Letztere erstrecken sich von den Dardanellen bis Port Arthur,
und zu ihrer Erledigung glaubt Rußland der französischen Unter-
stützung benötigt zu sein. Daß Fürst Lobanow auf letztere wegen
eines so zweifelhaften Geschenks wie das englisch-russische Kondo-
minium über Konstantinopel verzichten sollte, konnte nur ein poli-
tischer Optimist für möglich halten. Denn die Geschichte der Kondo-
minia in Ägypten wie in Schleswig-Holstein lehrt, daß dieselben,
wenn nicht mit Krieg, so doch mit ernstlicher Verfeindung enden.
Außerdem kann Rußland sich, solange die nördliche Einfahrt des
Bosporus unbefestigt bleibt, tatsächlich schon heute als Mitbesitzer
von Konstantinopel ansehen und hat in dem Sultan jedenfalls einen
bequemeren Partner, als England sein würde.
Als einen geschickten politischen Zug kann ich daher jenen Kondo-
minatsvorschlag nicht ansehen, denn er gibt Rußland eine Handhabe,
um in Wien und Rom das etwa noch vorhandene Vertrauen auf Eng-
land als Illusion darzustellen. Da wir nicht dasselbe Interesse wie
Rußland haben, Österreich und Italien gegen England mißtrauisch zu
machen, so werden wir die russische Mitteilung verschweigen. Daß
aber Rußland dieselbe nicht verschweigt, liegt in der Natur der Dinge.
Jeder unbefangene Beobachter englischer Politik konnte von vorn-
herein keine andere Überzeugung haben als die, daß England die
Eventualität einer Mitbeteiligung an einem großen Kriege erst zu
allerletzt ins Auge fassen werde, nachdem vorher alle Versuche, sei
es der Verständigung mit dem Feinde, sei es des Vorschiebens von
Freunden, erschöpft worden wären. In der einen wie in der anderen
Hinsicht hat England, wie auch Euerer pp. Telegramm Nr. 314 be-
stätigt, in neuester Zeit seine Erfahrung bereichert, dabei allerdings,
wie das auch im Leben einzelner Menschen vorkommt, an Kapital ein-
gebüßt, nämlich an dem Kapital von Vertrauen, welches bis dahin
sich auf die Persönlichkeit von Lord Salisbury gründete.
Ich glaube, es wird nützlich sein, wenn Ew. pp. dem englischen
Premier von der uns zugekommenen russischen Mitteilung Kenntnis
geben mit dem Hinzufügen, daß dieselbe von uns aus nicht weiter-
gegangen ist, da wir vermuten, daß Österreich und Italien in dem
englischen Vorschlage einen Widerspruch gegen die Abmachung von
250
1887 erblicken werden. Allerdings läßt aber die in Ew. pp. Telegramm
Nr. 314 erwähnte abweisende Haltung des Wiener Kabinetts den Rück-
schluß zu, daß man dort bereits von Petersburg aus aufgeklärt und
daher England gegenüber auf der Hut ist.
Marschall
Nr. 2572
Kaiser Wilhelm 11. an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Reinschrift nach Diktat
Berlin, den 20. Dezember 1895
Beim Frühstück im Hause des Prinzen Wilhelm von Hohen-
zollern traf ich den Obersten Swaine*. Der Inhalt des politischen
Gesprächs war folgender: Der Oberst meinte, im Orient schienen die
Angelegenheiten zu einem Stillstande gekommen zu sein, da niemand
recht wisse, was zu tun sei. Ich fragte ihn, ob überhaupt noch Armenier
übrig seien, für die was zu tun wäre**. Als er mich darauf verwundert
ansah, bemerkte ich, daß wohl schon ungefähr 80000 umgebracht
wären. Auf den Ausdruck des Erstaunens seinerseits fragte ich ihn,
ob denn England immer noch nicht das Gewissen schlage wegen der
heillosen Wirtschaft, die es durch sein unqualifizierbares Verhalten
in Kleinasien für die Armenier hervorgerufen und über die Unruhe,
die es in Europa unter die Mächte gebracht habe? Der Oberst nickte
nur mit dem Kopfe hin und her und schien in Verlegenheit. Er gab
aber dann unumwunden zu, daß der eigentliche Grund zu den armeni-
schen Wirren unzweifelhaft die Aktion Gladstones unter der Ägide
Argylls und Westminsters gewesen sei. Ich meinerseits erkannte an,
daß diese letztere ein niederträchtiger Coup des grand old man ge-
wesen sei, um seinen Nachfolger sofort in eine Zwangslage zu bringen,
der dann auch in seinen Reden nicht anders gekonnt habe, als diese
Giadstonesche Politik vorläufig weiter zu vertreten und zu verfolgen.
Nach der energischen Auslegung der Thronrede seinerseits*** und
mit dem Erscheinen des englischen Mittelmeergeschwaders vor den
Dardanellen seien wir alle auf der ganzen übrigen Welt der festen
Überzeugung gewesen, England mache Ernst und werde erforderlichen-
falls auch vor der ultima ratio der Kanone nicht zurückschrecken.
* Englischer Militärattache in Bedin.
** Vgl. Bd. XI, Kap. LXIII, Nr. 2579.
•** In der bei der Eröffnung des englischen Parlaments am 13. August verlesenen
Thronrede war ein energischer Passus wegen der armenischen Frage enthalten
gewesen.
251
Als daher Italien und Österreich von England zur Kooperation auf-
f gefordert worden seien, und als Dreibundmächte sich meines Ein-
verständnisses vergewisserten, sei ihnen von mir dasselbe erteilt worden,
I aber nur unter der Bedingung, wenn England seine Pläne offen mit-
\i teile, zum Ernstfall überginge und positive Garantien für die das-
selbe unterstützenden A\ächte gewähre. Das sei jedoch nicht erfolgt.
Ganz im Gegenteil. Die Erinnerungen seitens Italiens an die Ab-
machungen des Jahres 1887, für deren Inkrafttreten die augenblick-
liche Lage eine geeignete war, seien in London in formeller Weise, aber
ganz kühl lediglich anerkannt worden. Ein Fazit sei nicht daraus ge-
zogen worden. Ja noch mehr, kaum seien die italienischen Schiffe
in levantinischen Gewässern eingetroffen und die österreichischen im
Zusammenziehen gewesen, so habe die bisherige Energie des briti-
schen Auftretens eine auffallende Abschwächung erfahren, welche auch
deutlich in der gesamten englischen Presse zutage getreten sei. Mit
liebenswürdiger Verbeugung habe England die beiden zur Hülfe eilen-
den Freunde, die es (den Vortritt lassend nur unterstützen sollten),
beiseite tretend in die erste Reihe gelangen lassen. Dies sei bei den
Vorschlägen bezüglich der zweiten Stationäre, welche in etwas über-
eilter Weise, um England zu gefallen und seiner Freunde Ehrlichkeit
zu betonen, von Österreich gemacht worden seien, in dem Grade
zutage getreten, daß durch dieses Manöver in rebus orientalibus statt
England Österreich einen refus von Rußland erhalten habe. Dies
habe natürlich in Österreich sehr verschnupft und die Dreibundmächte
stutzig gemacht. Als Folge davon rührten dieselben sich jetzt auch
nicht mehr, und da England ganz zurückgetreten sei, sei die ganze
Angelegenheit zu einer Farce degradiert, wobei die Türken uns andere
alle weidlich auslachten. Der Oberst Swaine war tief betroffen und
erklärte positiv, daß er die Angelegenheit noch nie in dem Lichte
gesehen habe, daß aber ganz bestimmt die englische Regierung die
feste Absicht habe, immer loyal zu handeln und stets über ihre Schritte
die Mächte zu orientieren; er wisse dies um so sicherer, als er be-
stimmte briefliche Mitteilungen aus englischen Regierungskreisen habe,
daß seine Konversation, welche er mit mir vor zwei Monaten* gehabt
hätte, und welche er nach London gemeldet hatte, als ein so wichtiges
Dokument angesehen worden sei, daß man sie habe drucken und an
alle Mitglieder des Kabinetts verteilen lassen. Diese Meldung habe mit
dem Satz geschlossen, daß er inständigst bäte und darauf hinweise,
daß es dringend geboten sei, den Wunsch des Deutschen Kaisers wohl
zu beherzigen, daß England in der großen Politik im Orient keinen
entscheidenden Schritt tun möge, ohne zuvor sämtliche Dreibundmächte
darüber informiert zu haben. Er habe diesen Punkt für so eminent
wichtig gehalten, daß er denselben Satz in einem Privatbriefe an
* Siehe Bd. XI, Kap. LXIII, Nr. 2579.
252
Lord Salisbury nochmal wiederholt und dem Premier besonders ans
Herz gelegt habe, um allem Mißtrauen und Mißverständnissen ein
für allemal vorzubeugen. Das Schriftstück habe einen solchen Ein-
druck gemacht, daß Goschen ihm noch neulich geschrieben habe
„it is the most important documcnt that you have ever sent us from
Berlin". Indem ich ihm für diese Mitteilung dankte, erwiderte ich,
es schiene mir doch, als ob man die Mahnung in London etwas ver-
gessen habe. Denn es seien mir Nachrichten zugegangen aus Wien
und Rom, welche ein gleichzeitiges Vorgehen der englischen Bot-
schafter erkennen Heßen, welches zum Zweck habe, diese beiden
Staaten zu weiterer Aktivität in der armenischen Frage zu poussieren.
Berlin sei dabei unberücksichtigt geblieben. Diese Versuche seien
selbstverständlich mit der berechtigten Bemerkung a limine abge-
wiesen worden, das sei gerade Englands Sache, Vorschläge zu machen,
da England die ganze Affäre eingerührt habe. Der Zug unverhohlenen
Erstaunens auf des braven Obersten Antlitz zeigte mir, daß er von
dieser neuesten Phase noch nichts wußte. Das Erstaunen jedoch
wechselte mit unverhohlenem Schrecken, als ich ihm mitteilte, daß
England nach Mitteilungen neuesten Datums an Rußland die Offerte
eines mit Rußland zu teilenden Kondominiums über Stambul* ge-
macht habe, natürlich ohne uns anderen vorher etwas davon mit-
zuteilen. Er rief: „Oh really, these news are most distressing for me.
For I hoped that after my last report such surprises would not happen
again." Darauf fragte er mich, wie die russische Antwort auf den Vor-
schlag ausgefallen sei. Ich erwiderte, kategorische Ablehnung. Darauf
meinte der Oberst, das wäre doch eigentlich nicht hübsch ; warum
erkläre denn Rußland nicht rund heraus, es ginge nur einer nach
Konstantinopel, und das wäre es selber, dann wüßten wir alle doch,
woran wir wären. Hingehen werde es doch einmal und daran könnte
man es auf die Dauer nicht hindern, und dann hätte doch endlich diese
Frage mal Ruhe. Ich erwiderte darauf, das sei gar nicht Rußlands
Sache und träfe auch hier bei dem englischen Vorgehen nicht zu.
England habe die Frage angeschnitten, England wolle die Türkei
anscheinend aufteilen oder anderweitig verwalten lassen, mit anderen
Worten, wolle ein Aufhören des augenblicklichen Zustandes (status
quo). Das bedinge einen Bruch oder Auflösung des Berliner Ver-
trages. Das erstere müßte es auf seine eigene Kappe nehmen und,
wenn es Schneid hätte, durch Forcierung der Dardanellen erreichen.
Dieses setzte ich als ausgeschlossen voraus. Das zweite, die Auf-
lösung des Berliner Vertrages und damit verbundene Teilungsprojekte
der Türkei, könne es nur zustande bringen mit Einwilligung sämtlicher
Signatarmächte des Vertrages. Um diese zu erreichen, gehörten formu-
lierte Anträge und Vorschläge. Und um diese wiederum bei den
* Vgl. Nr. 2570.
253
Mächten anzubringen, gehörten überall gleichzeitig offen und ehrlich
gemachte Anfragen und Vorbesprechungen (pourparlers).
Resume — daher sei nicht Rußland an der Reihe, sich zu äußern,
denn Rußland wolle ja augenblicklich den Status quo gar nicht ändern,
sondern England habe das Wort, und müsse dieses Wort rieht mit
einer Macht allein hinter dem Rücken der anderen gesprochen werden,
sondern mit allen gleichmäßig und offen, wie das unter kontinentalen
Mächten Sitte sei. Der Oberst gab dies auch zu. Er kam dann wieder
auf das Teilungsprojekt zurück und regte dabei auffallenderweise den-
selben Gedanken an, den die Kaiserin Friedrich in Rumpenheim*
schon ventiliert hatte, ob nicht aus Konstantinopel und Umgegend
(inkr. Dardanellen) ein Freistaat unter allgemeiner Garantie gegründet
werden könnte mit freier Durchfahrt der Kriegsschiffe für alle Mächte?
oder ob man vielleicht den Russen das ganze nördliche europäische
Ufer von Konstantinopel mit Gallipoli einräumen solle, dann hätten
sie wenigstens die Hälfte der Batterien in der Hand und ungehinderte
Durchfahrt? Ich erwiderte, das sei Kombinationspolitik, und da Eng-
land anscheinend Vorschläge bereit habe, so solle es erst mit den-
selben mal herauskommen, das übrige würde sich finden. Er er-
sehe aber hieraus, daß das Verhalten Englands in der letzten Zeit
auf diplomatischem Gebiet dergestalt zweideutig und fragwürdig sei,
daß ihm keine der europäischen Kontinentalmächte mehr über den
Weg traue; daß ferner alle Kontinentalmächte, wie er aus meiner
allseitigen Information erkennen könne, vollkommen einig seien, in
dieser Frage gemeinsam vorzugehen im Vertrauen auf die Friedens-
liebe des Deutschen Kaisers, denselben au courant hielten, um seines
Einverständnisses sicher zu sein. Daß alle Staaten mehr oder minder
aus den eigentümlichen Manövern der englischen Diplomatie (nach-
dem sie vergeblich bemüht gewesen seien, auf den Grund der eng-
lischen Wünsche zu gelangen) den nicht unberechtigten Verdacht ge-
schöpft hätten, England wolle sie untereinander verfeinden und gegen-
einander ausspielen. Ich könnte ihm unter vier Augen in aller Freund-
schaft versichern, daß, falls dieses — was ich aber nicht annehmen
wolle — Englands Absicht gewesen sei, es kein Glück damit haben
werde, sondern den Kontinent als einen festen Block sich gegenüber
finde in dem Bestreben der Erhaltung des europäischen Friedens.
Aus alter Freundschaft spräche ich offen mit ihm und müsse ihm be-
stimmt erklären, daß die Zeiten vorüber seien, wo auf dem Kontinent
eine Macht sich fände, die für englische Interessen ins Feuer gehe.
Wir hätten alle das Interesse der Selbsterhaltung und des Wohles
unserer Völker im Auge. Wünsche England Verbündete oder Helfer,
so müsse es von seiner Politik der freien Hand abgehen und den Be-
treffenden nach kontinentaler Art Garantien oder Verträge geben,
* Siehe Nr. 2463.
254
daß es für die Folgen stehe und vor allen Dingen selbst handele.
Ich sei selber ein halber Engländer und wisse ganz genau, daß sie
stolz auf ihr Prestige und auf ihre Macht seien und mißmutig über
manches bei uns, zumal über unseren wachsenden Handel, über das
„made in Germany". Das Prestige sei aber nicht mehr dasselbe wie
früher. England habe zu meinem tiefen Kummer seit der letzten
radikalen Regierung in allen Teilen der Welt so gekniffen, daß man
anfange, daran zu zweifeln, ob es überhaupt noch Fähigkeit und
kriegerischen Sinn genug besitze, um seinem Worte Geltung zu ver-
schaffen, denn Prestige werde nur durch schneidige Tätigkeit und
Handeln aufrechterhalten, nicht aber durch diplomatisches Pinassieren
und Ausweichen. Wolle es Neuordnungen im Orient anstreben, welche
seine hundertjährige Mittelmeerpolitik ein für allemal außer Kurs setzten,
so sei das seine Sache, es dürfe aber nicht diese Schwenkungen heim-
lich vollziehen und unter dem Deckmantel vorgeschützter Tätigkeit
Verbündete heranziehen, welche es dabei reinfallen lassen wollte. Ich
bäte ihn daher dringend, in geeigneter Weise dahin zu wirken, daß
durch offene und ehrliche Aussprache mit uns allen das Vertrauen
in England wiederhergestellt werde, da es ja als große und mächtige
Monarchie ein so wichtiger Faktor im europäischen Kultur- und Staaten-
Icben sei und ein Mitwächter über das monarchische Prinzip. Ich
endete, indem ich dem Obersten bemerkte, daß unser Gespräch rein
privater Natur sei, als unter zwei alten Bekannten geführt, nicht als
vom Kaiser zum Militärattache, und könne er in vertraulicher Weise
in London davon Gebrauch machen.
Gleichzeitiges Telegramm an sämtliche Botschaften noch heute.
Wilhelm I. R.
Nr. 2573
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 21. Dezember 1895
Der englische Botschafter teilte mir heute mit, Seine Majestät
der Kaiser habe gestern eine längere Unterredung mit Colonel Swaine
gehabt und dabei erwähnt, das englische Kabinett habe vor kurzem
in Petersburg den Vorschlag gemacht, Konstantinopel zum russisch-
englischen Kondominium zu machen. Diese Mitteilung habe ihn
erstaunt, da er in Petersburg niemals einen derartigen Auftrag ge-
habt habe*; ob wir etwa amtlich etwas davon wüßten? Ich entgegnete
* Sir F. Lascelles war vor seiner Berufung nach Berlin Botschafter in Petersburg
gewesen.
255
Sir Frank, daß die Tatsache, daß eine solche Anregung in Petersburg
erfolgt sei, nach unseren Informationen nicht bezweifelt werden könne;
ob man von einem „Vorschlag" im eigentlichen Sinne reden könne,
sei eine formelle Frage von untergeordneter Bedeutung.
Sir Frank Lascelles hob dann hervor, wie die offenen Aussprachen
Seiner Majestät zu Colonel Swaine der englischen Regierung nur er-
wünscht sein könnten, da sie auf diese Weise von den Intentionen
und Auffassungen des Monarchen Kenntnis erhielte, daß er auch
wisse, wie freundschaftlich die Gefühle seien, die Seine Majestät für
England hege, während andererseits bedauerlicherweise auch ein ge-
wisses Mißtrauen gegen das englische Kabinett hervortrete, welches
das letztere nach seiner Überzeugung nicht verdiene.
Ich entgegnete, daß wir der Person Lord Salisburys kein Miß-
trauen entgegenbrächten!, daß aber allerdings die Haltung des
Londoner Kabinetts in der armenischen Frage* bis jetzt unser Ver-
trauen nicht gewonnen habe. Vielleicht rühre dies zum Teil daher,
daß Lord Salisbury in der armenischen Frage die Politik Gladstones
fortsetze, gegen dessen Intentionen wir stets gerechtes Mißtrauen
gehegt hätten. Aber auch in Lord Salisburys gegenwärtiger Politik
trete das Bestreben, unsere Alliierten in der Orientfrage zu engagieren,
ohne sich seinerseits zu binden, unverkennbar hervor, und dieser
Politik könnten wir die Wege nicht ebnen, ohne unsere eigenen Inter-
essen schwer zu verletzen. Schon in dem Augenblick, als das öster-
reichisch-ungarische und das italienische Geschwader sich den türki-
schen Gewässern genähert, habe man ein Zurückweichen Englands
wahrnehmen können; seit jener Zeit versuche das Londoner Kabinett
fortwährend das Wiener und das Römer Kabinett zu neuer Initiative
in der armenischen Frage zu bewegen, die doch von Rechts wegen
England als dem Autor der ganzen Sache zukomme, gleichzeitig weise
man jeden Gedanken einer Erweiterung und Vervollständigung des
Abkommens vom Jahre 1887 a limine zurück. Ich wolle dem Bot-
schafter ganz offen sagen, daß, wenn diese englischen Bestrebungen
in Wien und Rom ohne Erfolg geblieben seien, daran vornehmlich die
Ratschläge schuld seien, die wir unsern Alliierten gegeben; ich glaubte
sogar, daß auch in Zukunft solchen englischen Anträgen die Ab-
lehnung gewiß sei. Es sei zweifellos, daß jede auf englisches Be-
treiben unternommene Initiative Österreich-Ungarns in der orientali-
schen Frage an dem Widerstand Rußlands scheitern werde. Davon
würden die Beziehungen Rußlands und Österreich-Ungarns tangiert
und wir in direkte Mitleidenschaft gezogen. Wir könnten nicht dulden,
daß Österreich-Ungarn niedergeschlagen oder erheblich geschwächt
werde. Jede Verschlechterung der Beziehungen zwischen Österreich
und Rußland enthalte für uns den Keim eines großen Krieges nach
♦ Vgl. auch Kap. LXI.
256
zwei Fronten. Denn der Botschafter werde wohl nicht glauben, daß
Frankreich still halte 2, wenn wir nach Osten engagiert seien. Wegen
der orientalischen Frage, die uns direkt gar nicht angehe, ein solches
Risiko zu laufen, könne niemand uns zumuten, auch wenn noch zehnmal
soviel Armenier massakriert würden. Wenn England fortfahre, unsere
AUiierten vorzuschieben, ohne selbst irgendeine VerpfHchtung ein-
zugehen oder ein amtliches Risiko zu übernehmen, während man
gleichzeitig in Petersburg über ein Kondominium Konstantinopels rede,
so sei dies keine PoHtik, die uns Vertrauen einflößen könne, so sehr
wir auch geneigt seien, mit England in guten Verhältnissen zu leben 2.
Ich wisse, daß man auch in England uns mißtraue und den Ver-
dacht habe, daß wir zurzeit russische Politik trieben. Der Verdacht
sei unbegründet; zwischen uns und Petersburg bestehe nichts, was
wir zu verheimlichen hätten. Wir seien nur überzeugt, daß Rußland
zurzeit aufrichtig die Erhaltung des Status quo im Orient auf dem
Boden der Verträge wünsche und allen Abenteuern und Experimenten
abgeneigt sei, während wir die gleiche Überzeugung bezüglich der
englischen Politik bis jetzt nicht zu gewinnen vermöchten. Die Art,
wie man in London den Sultan behandle, die mehr oder minder offenen
Versuche, einen Thronwechsel herbeizuführen, ohne daß man die
Gewißheit habe, ob ein besserer Sultan nachkäme, das Auftreten
Sir PhiHp Curries in Konstantinopel usw., all dies seien nicht gerade
beruhigende Symptome, und es sei daher erklärlich, daß unsere Politik
sich mehr in der russischen als in der englischen Linie bewege. Sollte
England ernstlich gesonnen sein, sich mit unsern Alliierten über
kommende Eventualitäten auf der Basis völlig paritätischer bindender
Verpflichtung zu verständigen, so würden wir dies mit lebhafter Freude
begrüßen. Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Abschrift:
1 Richtig
habe ich auch wiederholt an Swaine gesagt
- England jedenfalls wird nichts dazu thun
3 richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Richtig
Nr. 2574
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm IL
Ausfertigung
Berlin, den 23. Dezember 1895
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät erlaube ich mir,
anbei ein vom englischen Botschafter mir heute übergebenes Tele-
gramm Lord Salisburys an Sir Frank Lascelles ehrfurchtsvoll in Vor-
17 Die Große Politik. 10. Bd. 2'37
läge zu bringen. Euere Majestät wollen daraus huldreichst tntnehmen,
daß die englische Regierung ^ erklärt, ihrerseits niemals eine Erwähnung
des Kondominatsgedankens gegenüber Rußland veranlaßt zu haben.
Marschall
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Die Kerls lügen ja ebenso wie die Russen
Schlußbemerkung des Kaisers:
Radolin soll nun aber auf Grund dieser Meldung umgehend Lobanoff stellen!
ich lasse mich so nicht weiter behandeln. Entweder Lobanow oder Salisbury,
einer hat mich frech belogen und das dulde ich nicht. Ich wünsche telegraphische
Antwort
Anlage
Der englische Premierminister Lord Salisbury an den englischen
Botschafter in Berlin Sir Frank Lascelles
Telegramm. Unsignierte Abschrift vom englischen Botschafter am 23. Dezember
dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall mitgeteilt
reo«'- December21. 1895.
You may most categorically deny that the idea of a condominium
at Constantinople between England and Russia has ever even been
mentioned to Russia by Her Majesty's Government.
Nr. 2575
Der Botschafter in Petersburg Fürst von Radolin an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 292 St. Petersburg, den 24. Dezember 1895
Fürst Lobanow sagte mir heute im Lauf eines längeren Ge-
sprächs zu meinem Erstaunen, daß ihm gegenüber England die Idee
eines Kondominiums in Cospoli niemals angeregt habe und ihm über-
haupt nichts davon bekannt sei^. Ich hielt es nicht für angezeigt, der
Mitteilung des Grafen von der Osten-Sacken an Euere Exzellenz*
Erwähnung zu tun und behandelte die Nachricht als ein mir zu Ohren
gekommenes Gerücht.
Der Minister erzählte mir ferner, daß er Herrn von Nelidow
ermächtigt habe, sich seinen Kollegen anzuschließen, um auf die
rebellischen Armenier in Zeitun** einwirken zu lassen, behufs Ver-
* Vgl. Nr. 2570.
** Vgl. Kap. LXI, Anhang, Nr. 2480, Fußnote •.
258
ständigung mit den Türken. Die Zeitungsnachrichten über Massakers
in Zeitun seien falsch, und die Alarmberichte aus anderen Orten seien
tendenziöse Übertreibungen.
Radolin
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Na da hört doch alles aufl
Nr. 2576
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 285 Wien, den 26. Dezember 18Q5
Graf Goluchovvski hat von dem englischen Kondominatvorschlag
gehört. Er teilt mir streng vertraulich mit, daß Herr von Szögyeny.
durch Sir Frank Lascelles davon erfahren, welcher jedoch das
kategorische Dementi von Lord Salisbury zugleich mitteilte.
Graf Goluchovvski sagte mir: „Ich halte die Sache kaum für mög-
lich und glaube eher an ein neues Lügengewebe Fürst Lobanows.
Er kann aus den neuen armenischen Vorschlägen sich eine solche An-
frage konstruiert haben. Andererseits bekräftigt mich die Geschichte,
der wahre Sachverhalt wird wohl niemals erfahren werden, darin,
den neuen accord ä trois nur so abzuschließen, daß England absolut
gefesselt ist"i.
Ich habe den Minister gern bei dieser Anschauung belassen 2.
Eulenburg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
' Wenn das gelänge?!
' gut
25g
Dt.
A 000 664 568