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Grundlinien
Kritik der bisherigen Sittenlehre
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entworfen
von
F. Schleiermacher.
Zweite Ausgabe.
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Gedrukkt und verlegt bei G. Reimer.
1834.
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Von der Abſicht dieſes Buches redet die Einleitung;
und der Verfaſſer verſpricht, wie auch das Werk ſelbſt
beurtheilt werde, dem Zwekke wenigſtens Billigung.
Auch hofft er, wiewol ein aͤhnlicher Verſuch von ihm
auf einem andern Gebiet und in anderer Form une
gluͤkklich genug von vielen iſt ausgelegt worden, nicht
fo mißverſtanden zu werden, als ſei es mit dieſer Prüs
fung der bisherigen Sittenlehre darauf abgeſehn, das
ganze Beſtreben für nichtig zu erklaren, und ſich den⸗
jenigen zuzugeſellen, welche die Ethik als beſondere
philoſophiſche Wiſſenſchaft verneinen. Vielmehr glaubt
er ſeinen Glauben an die Moͤglichkeit deſſen, was noch
nicht zur Wirklichkeit gekommen iſt, genugſam beur⸗
kundet. Ja es war in dieſen Werke, worin von ſei⸗
nen eignen Grundſaͤzen nicht ausdruͤkklich die Rede ſein
konnte, eine nie aus den Augen geſezte Rebenabſicht
IV
dasjenige, was er ſagen mußte, fo darzuftellen und fo
zu verfnüpfen, daß dem Leſer recht oft und von allen
Seiten die Punkte vor Augen gefuͤhrt wuͤrden, von
welchen nach des Verfaſſers Ueberzeugung jede gruͤnd—
liche Verbeſſerung der Ethik ausgehen muß. So daß
er hofft fuͤr diejenigen, welche in dem philoſophiſchen
Calculus nicht ungeuͤbt ſind, und dasjenige vergleichen
wollen, was gelegentlich in den Reden uͤber die Reli—
gion noch mehr aber in den Monologen angedeutet
worden, feine Ideen auch hier ſchon deutlich genug nie>
dergelegt zu haben, und ſich deshalb leichter beruhigen
wird, wenn ihm das Schikkſal die Zeit verweigern
ſollte, um die Sittenlehre nach ſeiner Weiſe irgend be—
friedigend darzuſtellen. Aus dieſem Geſichtspunkt alſo
wuͤnſchen ſeine Vorausſezungen ſowol als ſeine Reſul⸗
tate nicht als Theoreme und Köfungen, ſondern als
Aufgaben vielmehr und heuriſtiſche Hypotheſen beur⸗
theilt zu werden. Vielleicht moͤchte bei dem gegenwaͤr⸗
tigen Zuſtande der Wiſſenſchaften und dem immer noch
obwaltenden Streit uͤber die erſten Principien eine ſolche
Art der Kritik, wie dieſe, auch fuͤr andere Zweige der
Erkenntniß ſich nuͤzlich erweiſen, um von einem Punkt
aus, der außerhalb des ſtreitigen Gebietes liegt, daſ⸗
ſelbe zu vermeſſen. Wenigſtens kann nicht genug er:
innert werden, was im Streit uͤber das einzelne ſich
ſo leicht vergißt, daß zur wiſſenſchaftlichen Form, in
welcher die Erkenntniß und die Kunſt ſich durchdrin⸗
gen, alles muß hingefuͤhrt werden, was den Namen der
Philoſophie verdient. Doch dieſes nur beiläufig. Ueber
die Ausfuͤhrung aber iſt noch folgendes zu erinnern.
V
Zuerſt will dieſes Buch ausdruͤtklich nur für die—
jenigen geſchrieben fein, welche mit feinen Gegenſtaͤn—
den hinlaͤnglich bekannt ſind. Schon von irgend einem
einzelnen Werke ſcheint eine Kritik, welche zugleich
Darlegung des Inhaltes iſt, etwas wunderliches und
vergebliches zu ſein. Denn der urtheilende iſt nicht
zu derſelben Zeit in einem rein auffaſſenden Gemuͤths—
zuſtande, oder kann wenigſtens nicht dafür angenom-
men werden, und ſo ſind dem Leſer zwei unbekannte
Größen gegeben, der Gegenſtand ſelbſt und die Anſicht
des urtheilenden, ſo daß er ſich im beſten Falle mit
einer unbeſtimmten Aufgabe verſtrikkt ſieht, von wel⸗
cher die Grenzen, innerhalb deren die Loͤſung liegt,
nur ſchwer zu finden ſind. Auch iſt offenbar, wie viel
Unwahrheit durch dieſe Art der Behandlung verbreitet
wird, und welche Vorſtellungen diejenigen erhalten,
welche nur durch ein ſolches Mittel die literariſchen
Gegenſtaͤnde betrachten. Wieviel weniger alſo koͤnnte
Glauben verdienen und Nuzen ſchaffen eine ähnliche
Kritik einer ganzen Wiſſenſchaft. Wer daher erſt aus
dieſem Buche die verſchiedenen Syſteme der Sitten⸗
lehre will kennen lernen, der gehört nicht unter die ges
wuͤnſchten Leſer, und wird, die fragmentariſche Dar⸗
ſtellung, die das meiſte vorausſezt, nicht verſtehend,
auch das Urtheil nur auf bloßen blinden Glauben hins
nehmen muͤſſen, und gar nicht berechtiget ſein es ſelbſt
wieder zu beurtheilen. Dieſe Beſchraͤnkung des Wir⸗
kungskreiſes hat nun auch alle einzelnen Anfuͤhrungen
und Belege unnoͤthig gemacht. Denn die kundigen,
welche in den Quellen zu Hauſe ſind, werden ohne
VI
Zweifel was jedesmal gemeint iſt herausfinden. Die
andern aber, wenn ja auf fie ſollte Ruͤkkſicht zu neb-
men ſein, werden doch in einer Angelegenheit, wo al—
les Verſtehen nur auf dem Zuſammenhange beruht,
durch den Prunk der Citate um ihren Glauben nur
betrogen. Obgleich feſt entſchloſſen nicht nachzuſchla—
gen, meinen fie, der Schriftſteller werde es doch nicht
wagen ihnen Stellen aufzufuͤhren, in denen das nicht
enthalten ſei, weshalb er ſie herbeibringt. Daran aber
denken die guten nicht in ihrer Unſchuld, daß bei der
genaueſten wortlichen Uebereinſtimmung doch das ans
gefuͤhrte eine andere Bedeutung haben koͤnne im Zu⸗
ſammenhange. Deshalb wird ihnen auch jo zum Bes
mitleiden mitgeſpielt in den Geſchichten und Kritiken
der Philoſophie, ja um es nicht ſo weit zu ſuchen in
jeder parteigaͤngiſchen Beurtheilung auch neuerer Werke
von raiſonnirendem Inhalt. Dagegen wäre der Vers
faſſer gern fuͤr die kundigen an mehreren Orten mehr
ins einzelne gegangen, haͤtte der Raum es geſtattet.
Eben ſo blieb mit Recht ausgeſchloſſen jede polemiſche
Ruͤkkſicht auf abweichende Anſichten und Auslegungen
des geſchichtlichen Stoffes. Doch iſt, um dieſe Gren—
zen feſtzuhalten, dem Verfaſſer ſehr willkommen gewe⸗
ſen, daß er nicht eher als nach dem Abdrukk faſt des
ganzen Buches die lezten Baͤnde geleſen hat von
Tennemanns Geſchichte der Philoſophie. Denn das
gruͤndliche Studium und das freie Urtheil, welches
fi) in dieſem Werk offenbart, hätte ihn leicht vers
leiten können, an mehreren Stellen theils die wirk⸗
liche Abweichung feiner Anſicht ſtaͤrker heraus zu bes
VII
ben, theils uͤber die ſcheinbaren ſich befriedigender zu
erklaͤren. |
Was zweitens die Schreibart betrifft, fo iſt leicht
vorauszuſehen, daß fie von vielen, welche ſich gern zu
Richtern aufwerfen, als abſcheulich wird verworfen wer—
den, von andern wohlmeinenden bedauernd gemißbilli—
get, und nur von wenigen aufmerkſamen einer ernſtli—
chen Pruͤfung ihrer Gruͤnde und ihrer Bedeutung ge—
wuͤrdiget. Doch da die ungebundene Rede, nicht die—
jenige nämlich, deren jeder ſich gebraucht ohne davon
zu wiſſen, nar erſt entſteht, ja von vielen noch nicht
anerkannt iſt, ſo wird es leicht ſich uͤber jene zu troͤ—
ſten. Die lezteren aber moͤgen uͤberlegen, ob es ein
unrechter Gedanke geweſen, eine Schrift, welche ſich
lediglich mit der Aufloͤſung wiſſenſchaftlicher Formeln
beſchaͤftigt, auch ſoviel moͤglich in Abſicht auf die Zeis
chen ſelbſt und ihre Verknuͤpfung zu der Strenge und
Einfachheit der mathematiſchen Analyſe zuruͤkkzufuͤhren.
Hiezu iſt auch die Freiheit zu rechnen, deren ſich die
Analyſten bedienen, die Zwiſchenglieder, oder auch, wenn
der Weg gebahnt iſt, das Ende der Aufloͤſung ihrer
Gleichungen nicht ſelten auszulaffen, und nur beilaͤufig
ohne Abweichung vom Wege darauf hinzuzeigen, wo
eine Formel aufſtoͤßt, die in anderer Hinſicht bemer—
kenswerth ſein kann. Wie weit nun dieſe Idee hier
iſt erreicht worden, moͤgen andere beurtheilen; dem
Verfaſſer iſt nur ſoviel gewiß, daß der Verſuch zum
zweiten Mal angeſtellt ihm beſſer gelingen wuͤrde. Auch
von kleinen Nachlaͤſſigkeiten, in deren Vermeidung, die
in der That beſchwerlicher iſt als ſchwer, einige mit
VIII
Unrecht den ganzen Werth eines guten Vortrages fe-
zen, weiß er ſich nicht frei. Aber wenn es auch Gründe
geben kann, dieſe Art der Vollendung der fruͤheren Er—
ſcheinung eines Werkes, beſonders eines wiſſenſchaftli⸗
chen, bisweilen leichter aufzuopfern, ſo haben ſie doch
nur fuͤr den Schriftſteller ſelbſt ihr rechtes Gewicht,
und er kann ihrer ohnerachtet nicht umhin, indem er
die verfehlten Stellen der beſſernden Sprachliebe der
Leſer überläßt, ſich ſelbſt dem Tadel Preis zu geben,
der ihn betrifft. N
Stolpe im Auguſt 1803.
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Einleitung.
1.
Von der Idee dieſer Kritik.
| Wie eine beſtimmte Darſtellung der Ethik von ihren Grund-
ſaͤzen aus die uͤbrigen pruͤft und wuͤrdiget, dieſes haben wir
ſchon oͤfters geſehen, uud faſt keiner, der über die allgemeinen
Geſeze des menſchlichen Handelns auf eine neue Art zu reden
glaubte, hat es unterlaſſen. Es kann aber, wie bei einer ſol—
chen Vergleichung gewoͤhnlich verfahren wird, kaum daraus
abgenommen werden, in wie fern eine von der andern ab—
weicht, wozu etwas vollſtaͤndigeres erfordert wuͤrde, als dieſe
einzelnen Blikke, welche jeder von den vortheilhafteſten Stel—
len ſeines eignen Weges auf den des Andern hinuͤberwirft;
noch weniger aber, welche von beiden die richtige iſt. Denn
oftmals wird die Sache gefuͤhrt nur durch eine Berufung
auf das Gefuͤhl, welches Jeder dem ſeinigen gleichartig bei
den Unpartheiiſchen voraus ſezt; auf welchem Wege denn fuͤr
die Wiſſenſchaft gar nichts entſchieden werden kann. Oder,
wie die Beiſpiele zeigen, beruht der Ausſpruch darauf, daß
die eine nicht erweiſen und zu Stande bringen kann, was
die andere, und daß, was dieſe gebietet, jener zufolge nicht
ſollte geboten werden. Soll nun Gruͤnden dieſer Art einiges
Gewicht beigelegt werden, ſo muß dasjenige Syſtem der
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4
SEittenlehre, auf welches die Pruͤfung ſich bezieht, ſich bereits
als das richtige erwieſen haben. Dieſes aber kann keines
vermittelſt einer ſolchen oder ſolchen Beſchaffenheit ſeines In—
haltes, wie wenn eines von ſich ſagt, aus ihm allein erfolge
ein ſolches Betragen, wie es in der buͤrgerlichen Geſellſchaft
zu wuͤnſchen waͤre, oder wie es der Gottheit angenehm ſein
kann, oder wie es den Menſchen überhaupt wahrhaft nüzlich
iſt. Denn jenes beides iſt fremdartig fuͤr die Sittenlehre,
welche doch als Wiſſenſchaft ein Recht hat keinem andern
Endzwekk untergeordnet, ſondern nur fuͤr ſich beurtheilt zu
werden. Das leztere aber iſt ganz thoͤricht, und nichts laͤ—
cherlicheres mag wohl erdacht werden, als was Jemand zu
ſagen pflegt von dieſer ethiſchen Schule ſie ſei der Tugend
guͤnſtiger als jene. Sondern dies kann nur geſchehen, indem
eine ſolche Darſtellung von ſich zeigt, daß ſie ihre Aufgabe
der Form nach vollſtaͤndig und rein geloͤſt habe; denn als—
dann kann ſie eine jede andere mit ihren Anſpruͤchen ſo lange
abweiſen, bis dieſe den nemlichen Beweis gefuͤhrt hat. Es
giebt nemlich gar fuͤr jede eigentliche Wiſſenſchaft, wie doch
die Ethik ſein will und ſoll, keine andere Kritik als die der
wiſſenſchaftlichen Form, und eine ſolche aufzuſtellen ſoll hier
verſucht werden. Ob aber auch mit einer ſolchen fuͤr die
Sittenlehre viel zu gewinnen ſein moͤchte, koͤnnte wohl mit
Recht einer zweifelnd fragen. Dieſer müßte vorläufig entwe⸗
der mit der Antwort zufrieden ſein, daß der Verſuch es zeigen
werde, oder ſich mit ſeinem Zweifel auf eine zwiefache Vor⸗
ausſezung verweiſen laſſen. Wenn nemlich mehrere von den
ihrem Inhalt und ihren Grundſaͤzen nach, wie ſie wenig⸗
ſtens ſelbſt behaupten, ſo weit von einander abweichenden
Syſtemen der Sittenlehre jedes in ſeiner Art die Aufgabe
kunſtgerecht geloͤſt hätten: dann würde allerdings auf dieſem
Wege uͤber die Vorzuͤge des einen vor dem andern nichts zu
entſcheiden ſein. Wer aber moͤchte dieſes wohl glauben, und
ſo gering von der Wiſſenſchaft denken, daß es ihm moͤglich
ſchiene, dieſelbige Aufgabe koͤnne nach ihren Geſezen zu meh⸗
5
reren und verſchiedenen Loͤſungen ohne Fehler gelangen? Viel—
mehr wuͤrden wir alsdann mit Sicherheit folgern, nicht nur
daß die Ethik ſich nicht eigne eine Wiſſenſchaft zu ſein, ſon—
dern auch daß ſchon der Gedanke derſelben nur auf einem
vielfaͤltig leeren Schema beruhen muͤſſe. Kann hingegen je—
nes Zeugniß der Richtigkeit der Form nur einer oder gar
keiner gegeben werden: dann werden wir ſowohl fernerhin
glauben dürfen, daß die Ethik eine Wiſſenſchaft ſei, als auch
hoffen, dieſe Art der Kritik werde uns zeigen, entweder wo
fie bereits, oder warum fie noch nirgends zu Stande gekom—
men. Denn ohne Zweifel muß es, wie fuͤr die Kunſt ſo
auch für die Wiſſenſchaft gelten, daß Geſtalt und Gehalt eins
ander gegenſeitig zur Bewaͤhrung dienen; ſo nemlich, daß,
was der Geſtalt widerſtrebt, auch gar nicht ein Beſtandtheil
irgend eines ſo gearteten Ganzen darf ſein wollen, und wie—
derum, welche Geſtalt ſich nicht einen beſtimmten Gehalt ana
eignet, alles andere aber aus eigner Kraft ausſtoͤßt, dieſe
auch nicht verlangen darf, daß irgend etwas gutes und wuͤr—
diges ſich hergebe um ſie auszufuͤllen. Auf dieſem Grund—
ſaze nun beruht die Moͤglichkeit, daß eine wie die Ethik ſo
vielfach bearbeitete Wiſſenſchaft, wenn nur der Begrif derſel⸗
ben gegeben iſt, ganz ohne weder einen von den bisherigen
Verſuchen anzuerkennen, noch auch einen neuen zuvor anzu—
ſtellen, dennoch der Kritik unterworfen werden kann.
2.
Von den Grenzen derſelben.
Wenn nun das Geſchaͤft einer ſolchen Kritik dieſes iſt,
zu unterſuchen, in wiefern die Ethik in ihren bisherigen Ges
ſtalten den Anſpruch eine eigne und aͤchte Wiſſenſchaft ſein
zu wollen gerechtfertiget hat: ſo folgt alſo, daß ſie nur da
es zu verrichten befugt iſt, wo dieſe Anſpruͤche mit dem Wort
oder der That gemacht worden ſind, das heißt, wo ein zu—
ſammenhaͤngendes und das Gebiet umfaſſendes Syſtem vers
6
heißen worden ift, welches das zufällige menſchliche Handeln
unter einer Idee betrachtet, nach der, was darin ihr angemeſ—
ſen iſt, ausſchließend und ohne Ausnahme als gut geſezt, als
boͤſe aber eben ſo Alles mit ihr unvereinbare verworfen wird.
Wobei jedoch einerſeits nicht jede geringfuͤgige Verſchiedenheit
einer einzelnen Darſtellung ihr das Recht giebt ein beſonderes
Verweilen der Unterſuchung zu fordern; denn ſonſt wuͤrde weder
das Ende zu finden ſein, noch auch verhindert werden koͤnnen, daß
nicht, was vielleicht urſpruͤnglich nur Mißverſtand oder Un—
geſchikklichkeit war, uns unbelohnte Muͤhe verurſache. Ande—
rerſeits aber auch muß nicht eben, was wir ſuchen, mit aus-
druͤkklichen Worten verkuͤndigt, noch auch in einer ſich dem
erſten Anblikk beglaubigenden Geſtalt ausgefuͤhrt worden ſein:
ſondern auch die ſtillſchweigende Abſicht reicht uns hin, und
die unvollendete That. So hat gleich Platon, obſchon er
unter den erſten und treflichſten Arbeitern dieſes Feldes her-
vorragt, keine zu Ende gefuͤhrte und vollſtaͤndige Darlegung
ſeiner Ethik hinterlaſſen. Welcher aber verdiente wohl ge—
nannt zu werden, wenn dieſer ausgeſchloſſen ſein ſollte? Oder
wie koͤnnte er es, da doch nicht gelaͤugnet werden mag, daß
er die Ethik als Wiſſenſchaft gedacht und gewollt hat, und
ſo deutlich zwar, daß Jeder geſtehen muß, wie alle der Art
Andeutungen und Ausſpruͤche in ſeinen Werken nicht etwa
aufs ohngefaͤhr hier fo dort anders hingeworfen, ſondern
zuſammengehoͤrige und von dem Kundigen leicht zuſammenzu—
fuͤgende Theile eines eigenen Ganzen ſind. Nur kann er, und
9
wer ſich in gleichem Falle befindet, weder ſelbſt noch auch
ſeine Idee des fehlenden wegen getadelt werden, es muͤßte
denn der leztern erwieſen werden koͤnnen, daß ſie ihrer Natur
nach nicht hingereicht habe, um das angefangene zu vollenden.
Nur alſo da wo wiſſenſchaftliche Ausfuͤhrung und Abſicht
entweder an ſich oder doch fuͤr uns nicht vorhanden iſt, kann
auch das Ethiſche nicht Gegenſtand dieſer Kritik ſein. Das
fuͤr uns nemlich iſt zu verſtehen von ſolchen Voͤlkern deren
nicht, wie die unſrige, von der helleniſchen abſtammende Weis⸗
7
heit uns nicht im Zuſammenhange bekannt iſt; das an ſich
| aber von allen fittlichen Ausſpruͤchen der gemeinen Rede un»
Meinung, ſo wie auch von jeder Ethik die ſich auf eitnfange
gene göttliche Gebote bezieht. Denn eben fo würde eine Kri—
tik der Wiſſenſchaft von den Gruͤnden des Daſeins weder mit
den halben und ſchiefen Begriffen des gemeinen Verſtandes,
noch auch mit den von einer Offenbarung ausgehenden Leh—
ren ſich einlaſſen dürfen, Iſt nun lals Gegenſtuͤkk der lezte—
ren die Ethik der Gottfeligfeit nur Darlegung des gebieten—
den Inhalts einer Offenbarung; ſo iſt ſie ganz außerhalb der
Wiſſenſchaft gelegen. Will ſie aber dieſen Inhalt auf irgend
eine Art mit der natürlichen Erkenntniß in Verbindung ſezen:
ſo fuͤgt ſie ſich nothwendig entweder an die kunſtloſen und
unverbundenen Ausdruͤkke der gemeinen Meinung, oder an die
wiſſenſchaftliche Behandlung irgend einer Schule an; wie ſie
denn auch beides zu allen Zeiten mit abwechſelndem Erfolge
gethan hat. Beides gilt auch von dem Theile ihres Inhal—
tes, welchem die Gottheit noch beſonders als Gegenſtand zum
Grunde liegt, da ja die gemeine Meinung vorzüglich das ſitt—
liche und fromme verbindet, aber auch die Ethik der Schule
nicht unterlaͤßt von Pflichten oder Geſinnungen gegen die
Gottheit auf irgend eine Weiſe zu handeln. Erſtere aber,
die Ausſpruͤche des gemeinen Verſtandes, koͤnnen fuͤr ſich gar
nicht im Zuſammenhange betrachtet werden, da nicht einmal
eine vorgebliche Einheit der Grundſaͤze vorhanden iſt, ſondern
vielmehr das eine hier, das andere dort her genommen zu
ſein ſcheint, und was ſie zuſammen haͤlt, nur eine der Ethik
fremde Beziehung ſein kann. Allerdings indeß ſtehen ſie in
einer unvermeidlichen Wechſelwirkung, theils dieſe beſtimmend,
theils durch ſie beſtimmt, mit den Verſuchen der wiſſenſchaft—
lichen Ethik, und in ſofern wird in einzelnen Faͤllen auch auf
ſie Ruͤkkſicht zu nehmen ſein.
Demnaͤchſt aber ſoll nur jenes Syſtem uͤber das zufäl⸗
lige menſchliche Handeln der Gegenſtand der Unterſuchung
ſein, und uͤber nichts darf ſie ſich verbreiten, was von oben
7
8
oder unten her dieſem angehaͤngt zu werden pflegt. Deshalb
F hon iſt das menſchliche Handeln, wiefern es der Inhalt dies
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ſer Wiſſenſchaft iſt, ein zufaͤlliges genannt worden, nicht aber
ein freies, um nemlich dieſen Begrif gaͤnzlich zu vermeiden,
uͤber welchen ſchon wegen Ungleichheit der Meinungen hier
nicht im Voraus entſchieden werden kann. Denn Einige zwar
legen ihn zum Grunde ihrer Ethik als unentbehrlich, Andere
aber haben ihn gaͤnzlich verneint, obwohl ſie auch eine Ethik
aufſtellen; und es giebt auch ſolche, unter denen Kant iſt,
die ihn zu dieſem Endzwekk gaͤnzlich bei Seite ſtellen. Woll⸗
ten wir nun im voraus entſcheiden, daß eine von dieſen
Verfahrungsarten fuͤr die Sittenlehre nothwendig ſei, und
welche, ſo wuͤrden wir unbefugtermaßen diejenigen, welche
anderer Meinung ſind, vom Anfange her ausſchließen, und
die ganze Unterſuchung auf einen andern Ort ſtellen, als den
einmal in Beſiz genommenen. Es liegt nemlich dieſer Begrif
gar nicht innerhalb des abgeſtekten Gebietes. Denn Keiner,
er bejahe ihn nun oder verneine, wird behaupten, daß wenn
ſeine Ueberzeugung hievon ſich aͤnderte, er dann anderes fuͤr
gut und anderes fuͤr boͤſe halten wuͤrde, als zuvor. Wofern
nicht Jemand im Eifer ſagen moͤchte, er wuͤrde dann gar
keinen Unterſchied annehmen zwiſchen boͤſe und gut, welches
jedoch hieße, die menſchliche Natur weniger dem Ideal unters
werfen, als irgend einen Theil der koͤrperlichen. Denn von
dieſer find wir überzeugt, daß alles in ihr nothwendig er⸗
folgt: wer aber macht nicht, den Begrif des Ideals anwen⸗
dend, dennoch einen Unterſchied der Vollkommenheit und Uns
vollkommenheit oder Schoͤnheit und Haͤßlichkeit zwiſchen den
verſchiedenen Naturen ſowohl, als auch den einzelnen von
gleicher Natur? So auch giebt es uͤber die kuͤnſtleriſchen
Handlungen des Menſchen und das Gelingen derſelben ein
Syſtem der Beurtheilung nach dem Ideale, ohne daß jemals
die Frage in Anregung kaͤme, ob auch der Kuͤnſtler Freiheit
gehabt, anders und beſſer zu koͤnnen. Sondern dieſer Begrif liegt
auf der einen Seite hoͤher, auf der andern niedriger, als die Wiſ—
9
ſenſchaft. Niedriger nemlich liegt die Anwendung, welche von
demſelben gemacht wird, wenn beſtimmt werden ſoll, ob man
denken und ſagen muͤſſe, der Thaͤter habe nicht anders ge—
konnt, oder er habe nicht anders gewollt, welches noch genauer
ſo auszudruͤkken waͤre, ob er nicht anders koͤnnen gewollt,
oder nicht anders wollen gekonnt. Denn dieſe Frage würde
gar nicht aufgeworfen werden, wenn nicht durch die ſittliche
Beurtheilung etwas von der That ausgeſagt wuͤrde, welches,
in wiefern es auch auf den Thaͤter uͤberzutragen ſei, der Ge⸗
genſtand des Zweifels iſt. Hoͤher aber, als die beſondere
Wiſſenſchaft der Ethik, liegt die Frage ſelbſt von der Frei⸗
heit, in ſofern ſie die menſchliche Natur in ihren weſentlich—
ſten Beziehungen erſt zuſammenſezend darſtellen, und die Vers
haͤltniſſe der Perſoͤnlichkeit zu der Eigenſchaft des Menſchen,
vermoͤge deren er ein Theil eines Ganzen iſt, beſtimmen ſoll.
Denn dies iſt offenbar ein Theil desjenigen Geſchaͤfts, welches
der natuͤrlichen Ordnung nach, jeder einzelnen Wiſſenſchaft
vorangehn muß, nie aber mit in dieſelbe hinabgezogen werden
darf. Womit jedoch noch nicht geſagt iſt, daß jene Frage
grade zu demjenigen höheren gehöre, wovon die Ethik abges
leitet werden muͤßte. Eben ſo wenig wird aus denſelben
Gruͤnden die Rede ſein von jeder von den Meiſten gleichfalls
zum Behuf der Sittenlehre für nothwendig erachteten Eintheis
lung des menſchlichen Geiſtes in was immer für einzelne ein—
ander bei oder untergeordnete Kraͤfte und Vermoͤgen. Denn
auch hier, ob auf eine und auf welche die Ethik ſich beziehen
muͤſſe, entſcheiden zu wollen, wuͤrde den Beſiz jener Begrifs—
bildung und Ableitung der menſchlichen Natur vorausſezen,
und von der Beurtheilung der bisherigen ethiſchen Verſuche
unvermeidlich zur ſelbſteigenen Anſtellung eines neuen hintrei—
ben. Sondern uns wird nur obliegen, aus dem, was Jeder
ans Licht gebracht hat, zu zeigen mit welchem Erfolg der eine
ſich dieſes Huͤlfsmittels gaͤnzlich begeben, und was mit dem-
ſelben Andere ausgerichtet. Denn weder jenes noch dieſes
Verfahren duͤrfen wir anſehn als unnachlaßliche Bedingung
10
der Sittenlehre überhaupt, ſondern wir muͤſſen für jeden einzel-
nen Fall beſonders fragen, ob es nur willkuͤrlich und zufällig fei
in dieſem Syſtem, oder aber durch ſeines hoͤchſten Grundſazes,
ſei es nun Geiſt oder Buchſtabe, bedingt und begruͤndet.
I
3. |
Von ihrer Anordnung und Eintheilun
Was aber die Anordnung der vorſeienden Unterſuchung
betrift, ſo werden vielleicht die Meiſten, weil es ihnen das
bequemſte ſcheint, erwarten, die verſchiedenen Behandlungsar—
ten der Sittenlehre, wie man ſie hergebrachter Weiſe als ver—
ſchiedene Schulen zu betrachten pflegt, nach einander und
jede in ihrem eigenen Zuſammenhange fuͤr ſich gewuͤrdiget zu
ſehen. Allein es iſt dieſer Begrif von ſo und ſo vielen Schu—
len, wie man ſie auch ſtellen und zaͤhlen moͤge, mehr eine zu—
faͤllige und halb erdichtete als auf etwas wirkliches und we⸗
ſentliches ſich beziehende Vorſtellungsart. Nicht freilich ſo,
als ob ſie nicht urſpruͤnglich ihren Sinn gehabt haͤtte; nur
war dieſer mehr ein geſchichtlicher, nicht ſowol den Inhalt
als die Ueberlieferung betreffender. Der gegenwärtige Ges
brauch dieſes Wortes aber iſt ein ſolcher, welchem zwar die
der Sache Kundigen ſich ohne Widerrede fuͤgen, wohl aber
wiſſen, wie wenig treffendes damit bezeichnet wird. Es darf
nemlich, wie jeder zugeben wird, im wiſſenſchaftlichen Sinn
eine Schule nicht bloß aus dem Erfinder und feinen Nachtre—
tern beſtehen, ſondern die Nachfolger ſollen jene Anſicht, wel—
che der Stifter genommen, weiter ausbilden, und wiewohl
immer ſeinem Geiſte getreu, auch die Mannichfaltigkeit, welche
ſie noch zulaͤßt weiter ins Licht ſezen, indem ſie der eine dieſe
der andere jene, jeder ſeiner Natur gemaͤß auffaſſen, ſo auch
der eine dem, ein anderer jenem Theile des Ganzen ſich vor-
zuͤglich widmen. Und in dieſem Sinne giebt es wol wenig—
ſtens innerhalb der Ethik noch nichts, was ſo feſt beſtehend
zur Vollendung ausgebildet worden waͤre, ohne von ſeiner
—
*
11
urſpruͤnglichen Eigenthuͤmlichkeit zu verlieren. Denn wenn
auch jemand auf den erſten Anblikk glauben moͤchte, es ſei
unter den Alten die Schule des Epikuros und die Englaͤndi—
ſche unter den Neueren dieſem Gedanken nahe gekommen: ſo
wird ſich doch bei laͤngerer Betrachtung auch dieſer Schein
wieder verlieren. Doch dies ſei nur im Vorbeigehen anges
deutet. Noch weniger aber koͤnnte nach dieſer Anſicht auf
eine bequeme Weiſe die Unterſuchung geordnet werden, ſon—
dern nur unzulaͤnglich, und doch nicht ohne mancherlei Wie-
derholungen, welche den Leſenden verwirren. Denn es giebt
innerhalb jeder dieſer Schulen nicht nur Abweichungen, welche
bedeutender ſind, als das, was in anderer Hinſicht eine von
der andern unterſcheidet; ſondern auch die Eigenthuͤmlichkeiten
der mehreſten ſind, ohne ihr Verhaͤltniß zu den andern, wel—
ches durch ſolche Abſonderung nur dem Auge entzogen wird,
nicht richtig zu verſtehen. Ueberdies verſchwinden in manchen
Theilen der Wiſſenſchaft die Unterſchiede wo nicht gaͤnzlich
doch weit mehr, als man nach den Abweichungen im Ausdruff
der oberſten Idee und nach den Behauptungen von ihrer gro—
ßen Ungleichartigkeit vermuthen ſollte. Beſſer alſo ſcheint es
gethan nach den zur Loͤſung der ethiſchen Aufgabe unum⸗
gaͤnglichen Erforderniſſen das Ganze zu ordnen; innerhalb dies
ſer großen Hauptſtuͤkte aber die Ausfuͤhrung bald ſo, bald
anders zu geſtalten, je nachdem bequeme Ueberſicht und rich⸗
tige Vergleichung, bald durch dieſe, bald durch jene Anord—
nung am meiſten beguͤnſtigt werden. Zufolge nemlich des
ſchon vorlaͤufig aufgeſtellten Begriffes iſt das erſte Erforderniß
einer jeden Ethik die leitende Idee oder der oberſte Grundſaz,
welcher diejenige Beſchaffenheit des Handelns ausſagt, durch
welche jedes einzelne als gut geſezt wird, und welche ſich
uͤberall wieder finden muß, indem das ganze Syſtem nur
eine durchgefuͤhrte Aufzeichnung alles desjenigen iſt, worin ſie
erſcheinen kann. Dieſe Ideen nun, lediglich aus dem Ge—
ſichtspunkt ihrer Tauglichkeit zur Begruͤndung eines ſolchen
Syſtems, vergleichend zu wuͤrdigen, ſoll das Geſchaͤft des er—
12
ſten Buches fein. Dann beſteht das weitere darin, daß für
jeden Fall, wo von einem Zuſtande der Unbeſtimmtheit und
der Aufforderung aus ein gutes und ein boͤſes moͤglich iſt,
die Handlungsweiſe, wodurch jenes zu Stande kommen wuͤrde,
in Beziehung auf die leitende Idee ſowohl als auch auf ih⸗
ren beſonderen Gegenſtand, bezeichnet werde. Die Beſchaffen⸗
heit dieſer einzelnen ſittlichen Begriffe zu pruͤfen iſt das zweite
Buch beſtimmt. Nemlich nicht etwa, ob das für gut ausge—
gebne auch wirklich gut ſei; denn dieſes koͤnnen wir von da
aus, wohin wir uns geſtellt haben, nicht an und fuͤr ſich ent⸗
ſcheiden. Sondern nur, ob ſie unter ſich und mit ſihren
oberften Gründen in richtigem Zuſammenhange ſtehn, und ſich
eines wahren Inhaltes und beſtimmter Umriſſe zu ruͤhmen
haben. Endlich aber entſteht die Frage, ob auch die Geſammt⸗
heit dieſer Begriffe die ganze Sphaͤre des moͤglichen menſch⸗
lichen Handelns ausfuͤllt, ſo daß nichts was darin ethiſch
gebildet werden koͤnnte, ausgeſchloſſen, und nichts, was ſich
als Gegenſtand ſittlicher Beurtheilung zeigt, unbeſtimmt ges
laſſen worden; kurz, ob das Syſtem auch vollſtaͤndig und
geſchloſſen iſt. Dieſe Unterſuchung muß, die Richtigkeit der
im erſten Buch uͤber die Grundſaͤze gefaͤllten Urtheile bewaͤh⸗
rend und ſo zum Anfange zuruͤkkkehrend, im dritten das
Ganze beſchließen. Auf dieſem Wege ſtehet zu hoffen, daß
eine in Beziehung auf den genommenen Standort vollſtaͤndige
Ueberſicht über die bisherigen Fortſchritte der Ethik als Wiſ—
ſenſchaft gewonnen, und ſo ein Jeder in Stand geſezt werde,
auch uͤber den Werth des ſo verarbeiteten Inhaltes ſein Ur⸗
theil zu faͤllen.
Erſtes Buch.
Kritik der hoͤchſten Grundſaͤze der Sittenlehre.
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Einteitung..
Eh. die verſchiedenen Ideen, welche bisher der Ethik zum |
Grunde gelegt worden, in Abſicht auf ihren Werth, nemlich
ihre Tauglichkeit zur Auffuͤhrung eines wiſſenſchaftlichen Ge—
baͤudes, beurtheilt werden, dringt ſich die vorlaͤufige Frage
auf nach ihrem verſchiedenen Urſprung. Es kann nemlich die
hoͤchſte Idee erſt nach den einzelnen Saͤzen und vermittelſt
ihrer gefunden worden ſein, um dieſe zu vereinigen und ſo
das Beduͤrfniß der Vernunft nach Vollendung der wiſſen⸗
ſchaftlichen Form wenigſtens im einzelnen zu befriedigen; ſo
wie gewiß in der Groͤßenlehre nicht die erſten und einfachſten
Grundſaͤze zuerſt gefunden, ſondern nur zur Begruͤndung defz
fen geſucht worden, was ſich zunaͤchſt im Gebrauch als un=
beſtreitbar aufdrang. Oder es kann ein beſonderes Beduͤrf—
niß auf dieſe beſtimmte Wiſſenſchaft ihres Inhaltes wegen
gerichtet ſein, und ſo der eine ſich bei dieſer der andere bei
jener Idee beruhigt haben, wie jede die vorliegende Forderung zu
erfüllen ſchien. Oder endlich es kann auch die hoͤchſte Idee
dieſer Wiſſenſchaft noch einen hoͤheren wiſſenſchaftlichen Grund
uͤber ſich haben, und entweder, als aus ihm durch die reine
herabwaͤrts gehende Forſchung ohne irgend ein anderes In⸗
tereſſe entſtanden, oder doch als an ihn angeknuͤpft und auf
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ihn zuruͤkkgefuͤhrt vorgeſtellt werden. Denn ſo wie die Ver⸗
nunft des Einen von einem einzelnen in wiſſenſchaftlicher Ge⸗
ſtalt erſcheinenden Saz zuruͤkkgetrieben wird, um die Aufgabe,
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wozu diefer und alle ihm beigeordnete Saͤze gehören und die
Gruͤnde ihrer Aufloͤſung zu ſuchen: ſo erſcheint der noch wiſ—
ſenſchaftlicheren Vernunft des Andern dieſe Forderung ſelbſt
nur als ein einzelnes, und ihr Grund als ein ſelbſt noch
weiter zu begruͤndendes. Ein ſolches Beſtreben aber kann
ſeine Ruhe nirgend anders finden, als in der Bildung einer
— wenn hier nicht ein höherer Name nöthig iſt — Wiſſen—
ſchaft von den Gruͤnden und dem Zuſammenhang aller Wiſ—
ſenſchaften. Dieſe nun darf ſelbſt nicht wiederum, wie jene
einzelnen Wiſſenſchaften, auf einem oberſten Grundſaz beru—
hen; ſondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der An—
fang fein kann, und alles einzelne gegenfeitig einander bes
ſtimmend nur auf dem Ganzen beruht, ift fie zu denken, und
fo daß fie nur angenommen oder verworfen, nicht aber bes
gruͤndet und bewieſen werden kann. Eine ſolche hoͤchſte und
allgemeinſte Erkenntniß würde mit Recht Wiſſenſchafts lehre
genannt, ein Name, welcher dem der Philoſophie unſtreitig
weit vorzuziehen iſt, und deſſen Erfindung vielleicht fuͤr ein
groͤßeres Verdienſt zu halten iſt, als das unter dieſem Na⸗
men zuerſt aufgeſtellte Syſtem. Denn ob dieſes die Sache
ſelbſt gefunden habe, iſt noch zu beſtreiten, ſo lange es nicht
in einer ungetrennten Darſtellung bis zu den Gruͤnden aller
wiſſenſchaftlichen Aufgaben und den Methoden ihrer Aufloͤ⸗
ſung herabgefuͤhrt iſt. Jener aber haͤlt, wodurch allein ſchon
zur Erreichung des lezten Endzwekkes nicht wenig gewonnen
iſt, die Aufmerkſamkeit immer auf das hoͤchſte Ziel des menſch⸗
lichen Wiſſens gerichtet: dahingegen der Name der Philoſo-
phie entweder nur den untergeordneten Nuzen hat, einen fal⸗
ſchen Duͤnkel zu demuͤthigen, oder gar einer Zeit geziemt, wo
jenes Ziel noch nicht anerkannt war; indem er nur im allge⸗
meinen auf eine zu unternehmende Uebung und Verbeſſerung
des menſchlichen Verſtandes hindeutet. Wäre nun jene hoͤchſte
Erkenntniß bereits auf eine unbeſtrittene Art mit dem unmit⸗
telbaren Bewußtſein allgemeiner Uebereinſtimmung gefunden:
ſo wuͤrde aus unſerem Standort die Ethik, welche ſich in
dieſer
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dieſer gruͤndete, allen uͤbrigen vorzuziehen ſein. Denn alle
ihre Fehler, wenn die Kritik uns deren zeigte, koͤnnten nur
zufaͤllige und leicht zu heilende ſein, dagegen jede andere, wie
feſt in ſich beſtehend und wohlgerundet ſie auch zu ſein ſchiene,
uns nur die Aufgabe aufdringen wuͤrde, ſie entweder auf jene
zuruͤkkzufuͤhren, oder den Betrug aufzudekken, durch welchen
ſie ſich einen ſcheinbaren Werth verſchafft habe. Allein jene
Erkenntniß iſt nicht auf eine ſolche Art gefunden, ſondern
nur einige Verſuche gemacht, deren keiner recht genuͤgen will.
Daher kann auch die Meinung nicht ſein, einem Syſtem der
Sittenlehre deshalb, weil es mit einem von ihnen zuſammen—
haͤngt, einen entſchiedenen Vorzug einzuraͤumen; indem es nicht
unſer Geſchaͤft iſt, jene Verſuche zu vergleichen, und zwiſchen
ihnen zu entſcheiden. Wohl aber kann wie uͤberall ſo auch
hier Kenntniß von der Entſtehungsart der zu unterſuchenden
oberſten Ideen zum beſſeren Verſtaͤndniß derſelben beitragen,
und die Einſicht, von welchem Beduͤrfniß die Bildung einer
jeden Ethik ausgegangen iſt, kann unſern Erwartungen gleich
anfangs die gehoͤrige Richtung geben. Doch nun genug von
dieſem vorläufigen, und zur Sache ſelbſt.
Diejenigen zuerſt unter den Alten, welche in einem ge—
ſchloſſenen Zuſammenhange die ſogenannte Philoſophie vortru—
gen, pflegten ſie einzutheilen in die logiſche phyſiſche und
ethiſche, ohne den gemeinſchaftlichen Keim, aus welchem dieſe
drei Staͤmme erwachſen ſind, aufzuzeigen, noch auch hoͤhere
Grundſaͤze aufzuſtellen. Denn wenn bei einigen gewiſſerma—
ßen eine von dieſen Wiſſenſchaften der andern untergeordnet
wird, indem die logiſche die Kennzeichen der Wahrheit fuͤr die
beiden andern enthaͤlt; die ethiſche aber, in welcher gezeigt
wurde, daß Beſchaͤftigung mit jener dem Weiſen gebuͤhre,
den Grund des Daſeins derſelben als menſchliches Werk aufzeigt;
und die phyſiſche dem Gegenſtande der beiden andern ſeine
Stelle im Ganzen beſtimmt: ſo erhellt daraus nur um ſo
deutlicher, wie alle dreie von einander unabhaͤngig jede auf
ihrem eignen Grunde beruhen, ohne daß eine gemeinſchaftliche
Schleierm. Grundl. B
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Ableitung für fie gefunden wäre, und ohne daß ins Licht ge—
ſezt wuͤrde, wie man ſich bei ihnen beruhigen muͤſſe, und wie jede
das geſammte Gebiet der Erkenntniß einer gewiſſen Art umfaßt.
Dieſelbige Bewandniß hat es mit der neueren Eintheilung der
Philoſophie in die theoretifche und praftifche, welche auch mit der
vorigen, bis auf die Ausſonderung der Logik, ganz uͤberein—
kommt. Vielmehr iſt hier noch deutlicher herausgehoben, wie
wenig beide mit einander gemein haben. Denn jedem Theile
iſt beſonders fuͤr die Wiſſenſchaften, in welche er zerfaͤllt,
eine allgemeine Philoſophie vorgeſezt, welche die gemeinſchaft—
lichen Grundbegriffe derſelben enthaͤlt, eine noch allgemeinere
aber, um beide Theile zu verbinden, wird nicht eben ſo ge—
funden. Demnach iſt die Ethik was nemlich den Urſprung
der Idee derſelben, und die Ableitung ihrer Grundſaͤze betrift,
eben ſo weit von der Theorie der Seele als von der des hoͤch—
ſten Weſens abgeſchnitten, ſo daß auch nicht einmal der Ge—
danke an eine ſyſtematiſche Verknuͤpfung aller menſchlichen Erz
kenntniſſe hier anzutreffen iſt.
Ob aber Kant, welcher mit der Fakkel der Kritik in die—
ſem alten Gebaͤude umherzuleuchten den Muth faßte, dieſen
Gedanken wirklich gehabt hat, koͤnnte auch mit Grunde be—
zweifelt werden. Denn er redet zwar mit nicht geringem
Nachdrukk von einer Architektonik der Vernunft, moͤchte aber
dennoch, ſokratiſch befragt, mehr ein begeiſterter, als ein vers
nuͤnftig wiſſender zu ſein ſcheinen, und zwar vielleicht aus
Mangel an Begeiſterung und Ueberfluß an Vernunft. We⸗
nigſtens kann, was er ſagt, nicht dazu dienen, die Nothwen⸗
digkeit irgend einer einzelnen Wiſſenſchaft ins Licht zu ſezen,
oder den Kreis, innerhalb deſſen fie alle befaßt fein muͤſſen,
aus ſeinem Mittelpunkte zu zeichnen. Sondern, wie wenn
einer, der nach dem Fundament eines Gebaͤudes gefragt wird,
die Zwiſchenwaͤnde aufzeigt, welche die Gemaͤcher von einan—
der abſondern, begnuͤgt er ſich mit einer Eintheilung des vor⸗
handenen, welche hoͤchſtens nur ein dialektiſches Beduͤrfniß
befriedigen kann; und auch dieſes nur unzureichend. Denn
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wer mag es ertragen, wiewohl von Kants Nachfolgern und
Verbeſſerern die beſten es auch angenommen haben, die reine
Ethik von der reinen Naturlehre, nur als Geſezgebung der
Vernunft fuͤr die Freiheit, von der fuͤr die Natur unterſchie—
den zu ſehen, da doch die Art der Geſezgebung in beiden Wiſ—
ſenſchaften bei ihm ſo durchaus verſchieden iſt, daß es eine der
ethiſchen aͤhnliche fuͤr die Natur, und eine der phyſiſchen aͤhnliche
für die Freiheit gleichfalls geben muß. Dies heißt die Wiſſen—
ſchaften ſelbſt verlarven, um zugleich deſto leichter ein ungeſchiktes
Verfahren verhuͤllen zu koͤnnen. Wenn er aber, um beide
getrennte Syſteme zu vereinigen, die Ethik ſelbſt, als die
ganze Beſtimmung des Menſchen darlegend, zur hoͤchſten Wif-
ſenſchaft machen will: ſo iſt dies nur dieſelbe beſchraͤnkte An—
ſicht, die ſich ſchon bei den Alten gezeigt hat. Es mag wohl
geſagt werden, daß der Ethiker die übrigen Vernunftkuͤnſtler
anſtelle: aber aus ſeiner Wiſſenſchaft kann, daß jene, und
warum grade ſo gefunden worden ſind, niemals begruͤndet
werden. Zum Behuf dieſer vom praktiſchen ausgehenden
Einheit aller Vernunftkenntniſſe mußte nun freilich ein Ueber—
gang, eine Bruͤkke zwiſchen den beiden bisher getrennten Sy—
ſtemen geſucht werden. Es iſt aber hiemit gleichfalls nur
leerer Schein, der auf eben ſoviel Willkuͤhrlichkeit als Miß—
verſtand beruht. Denn wenn auch deutlich waͤre, was doch
ſchwer zu begreifen ſein moͤchte, wie die Ideen von Freiheit,
Unſterblichkeit und Gott fuͤr das hoͤchſte Ziel alles Beſtrebens
der beſchauenden Vernunft zu halten ſind, wie mag doch der—
jenige grade, welcher gezeigt hat, wie ſie aus ganz natuͤrlichen
Mißverſtaͤndniſſen in dem Geſchaͤfte der Welterklaͤrung ent⸗
ſtanden find, vernuͤnftigerweiſe auf den Verſuch geleitet wer-
den, ob ſie nicht da, wo Handlungen geboten werden, einen
poſitiven Werth und Gehalt haben moͤchten. Dann aber
liegt auch dieſer Fund ganz außerhalb der Ethik, welche nur
den Inhalt der Vernunftgebote für das Handeln aufſtellt,
mit den zur Sanction hinzugefuͤgten Drohungen und Verhei⸗
ungen aber gar nichts zu ſchaffen hat. Ferner, wie ſollte
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irgend einer Wiſſenſchaft eine ſolche Vorausſezung geziemen,
daß vermoͤge des einen und mit ihm zugleich ein anderes geſezt
ſein koͤnne, was mit jenem gar nichts gemein hat, wie doch von
der Sittlichkeit, der nach Kant nemlich, und der Gluͤkkſeligkeit
offenbar iſt? Alles dieſes aber muß herbeigefuͤhrt werden,
um jenen Uebergang zu bauen. Haͤtte nun Jemand dieſe
Ideen von Unſterblichkeit und Gott auf die geforderte Art ur—
ſpruͤnglich in die Sittenlehre hinein verarbeitet: ſo wuͤrde eine
gleiche Kritik, wie fie Kant an der theoretiſchen Philoſophie
geübt hat, ſehr leicht zeigen, wie entbehrlich und nur aus
Mißverſtand hineingedrungen ſie dort ſind, und umgekehrt mit
großem Recht vermuthen, ſie moͤchten auf ſpekulativem Boden
erzeugt, und dort eigenbehoͤrig ſein. Und ſo verwandelt ſich
der Bau nur in ein Kinderſpiel mit dem luftigen Bauſtoff,
der von einem Ufer zum andern hin und wieder geſchlagen
wird. Denn auf dieſe Weiſe, wenn nemlich die Idee des
hoͤchſten Weſens zwar beiden Theilen der Philoſophie gemein,
aber in dem einen nur ein durch einen unvermeidlichen Fehler
entſtandenes, und alſo hinauszuwerfendes Erzeugniß, und in
dem andern nur ein uͤberfluͤſſiges Triebwerk iſt, welches nichts
bewegt, und von nichts bewegt wird, kann ſie ſolche unmoͤg— |
lich beide verbinden. Auch thut Kant ſehr wohl, dem gemäß
keine Ableitung des Inhalts der Ethik von jener Idee zu ge—
ftatten, welche auf dieſe Art ſelbſt keinen Boden hat, und
eigentlich nirgends ſteht. Hievon alſo mag der Zuſammen⸗
hang, oder vielmehr der Mangel daran, genugſam angedeutet
ſein, daß ſich nicht Jemand verleiten laſſe, zu glauben, jene
Phyſicotheologie oder tranſcendentale Theologie, welche doch
zulezt der Schlußſtein in dem Gewoͤlbe alles Wiſſens ſein
ſoll, ſei in dieſem Weltweiſen, und fuͤr ihn wirklich etwas.
Sie iſt freilich die gluͤkliche Stelle, von welcher aus Andere
das geſehen haben, was auch er ſucht, nur daß er auf ſeinem
Wege niemals dorthin gelangen kann. Merkwuͤrdig aber iſt
es, und nicht ganz zu verſchweigen, wenn es gleich hier nicht
ausgefuͤhrt werden darf, wie ſich in dieſem Lehrgebaͤude, ſtatt
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der unerreichbaren Einheit des theoretiſchen und praktiſchen Sy—
ſtems, ganz unerwartet eine Unterordnung beider unter die—
loſophie ſich frei und mit Beſonnenheit aͤußert, ſo entſchieden
herabgewuͤrdiget wird. Nemlich, daß die Gluͤkkſeligkeit nur
praktiſchen, nur um jener willen gleichſam aufgedrungen, und
da ſie nun im theoretiſchen auch nicht vernunftmaͤßig entſtan—
den ſind: ſo bleibt nur uͤbrig, daß ſie uͤberall einem Handeln
der Fantaſie ihr Daſein verdanken. Dieſes wäre vielleicht an
ſich nicht wunderlich, ſehr wunderlich aber bleibt es in dieſem
deſſelben das. beabfichtigte durch fie ausgeführt worden. Das
Geſagte mag hinreichen, um zu zeigen, daß auch Kant die
Ethik nur vorgefunden, daß er ſonſt auch nicht den Gedan—
ken gehabt haben wuͤrde, ſie hervorzubringen, und von einem
Mittelpunkte des menſchlichen Wiſſens aus zu beſchreiben.
Dies geht auch ſchon aus der Art hervor, wie er uͤberall den
Streit fuͤhrt, daß die Ethik ſich nicht auf einen Begrif der
menſchlichen Natur gruͤnden duͤrfe, nemlich ohne den gering—
ſten Verdacht, daß ein ſolcher von einem hoͤheren Punkt aus
koͤnnte abgeleitet ſein, ſondern immer nur auf die gemeinen
und willkuͤhrlichen Ruͤkkſicht nehmend. Ferner daraus, daß er
ſelbſt gar nicht beſorgt iſt, dasjenige, was ſeinem Ausdrukke
und Gemeinſchaft vernünftiger Weſen irgendwo her abzulei—
ten, und doch iſt ihm dieſe Vorausſezung ſo nothwendig, daß
ohne ſie ſein Geſez nur ein unverſtaͤndliches Orakel ſein
wuͤrde. Auch vieles andere Einzelne koͤnnte angefuͤhrt werden,
wenn es noͤthig waͤre.
Doch vielleicht iſt ſchon zu lange gezoͤgert worden, von die⸗
ſem Philoſophen zu demjenigen uͤberzugehen, welcher von Vielen,
wiewol gegen Jenes Willen, für den Vollender ſeires Syſtems
gehalten wird, zu dem Erfinder nemlich der Wiſſenſchaftslehre.
ſelbe Fantaſie zeigt, welche überall, wo der Geiſt dieſer Phi
ein Ideal der Fantaſie ſei, geſteht der Urheber ſelbſt; ihm —
zufolge aber find die Ideen von Unſterblichkeit und Gott im
Syſtem, und ein ſtarker Beweis, wie ſchlecht in dem Geifte
des ethiſchen Geſezes zum Grunde liegt, nemlich die Mehrheit
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Dieſer nun macht theils als ſolcher, theils und mehr noch
wegen ſeines Syſtems der Sittenlehre, und der Art, wie es
ſich uͤberall auf jene Wiſſenſchaftslehre bezieht, die meiſten
Anſpruͤche darauf, eine Ableitung der Ethik, wie wir fie vers
langten, zu Stande gebracht zu haben. Freilich ſcheint gleich
anfangs die ganze Strenge dieſer Forderung verlezt zu ſein.
Wenn nemlich die Wiſſenſchaftslehre, welche die hoͤchſte Er—
kenntniß wie die Wurzel aller übrigen fein fol, zu des Er⸗
finders eigner Zufriedenheit ſo weit wirklich ausgefuͤhrt waͤre,
daß der Ort ſich aufzeigen ließe, wo jeder beſonderen philoſo—
phiſchen Wiſſenſchaft Keim ihr eingewachſen iſt, und von wo aus
er, ſobald ihm Freiheit vergoͤnnt wird, als ein eigner Stamm in
die Hoͤhe ſteigen muß: dann natuͤrlich wuͤrde das Syſtem der
Sittenlehre ſich lediglich angeſchloſſen haben an dieſen beſtimm⸗
ten Ort der Wiſſenſchaftslehre, darauf ſich berufend, daß dort
die Idee der Ethik, als ein nothwendiger Gedanke gefunden
worden, deſſen methodiſche und ſyſtematiſche Entwiklung nun die
beſondere Wiſſenſchaft bilden ſoll. Dem ganz entgegen ver—
nachlaͤßigt ſeine Ethik die Berufung auf einen ſolchen Ort in
der Grundlage der Wiſſenſchaftslehre, und ſcheint, wie jede
andere, nur mit der Hinweiſung auf die allgemein vorhan—
dene ſittliche Zunoͤthigung zu beginnen. Von dieſer aber er=
hellt nicht für ſich, daß fie einen tranſcendentalen Grund ha⸗
ben muͤſſe: denn auch ein allgemein gefundenes, kann eine
Taͤuſchung fein, die nur einen empiriſchen Grund hat. Hier⸗
aus nun entſteht der nachtheilige Schein, als ob die Wiſſen—
ſchaft, ohne zu wiſſen, daß ſie eine ſolche ſein muß, anfinge
aufs Gerathewohl, und als ob, wenn ſie auch nun an die
Wiſſenſchaftslehre anknuͤpft, dieſes nur zufaͤllig geſchaͤhe an
einer zufaͤlligen Stelle, dergleichen es, man weiß nicht wo
und wie viele mehr noch, geben koͤnne. Auf dieſe Art aber
wuͤrde ſie nicht erſcheinen als ein nothwendiges Glied in einem
alles umfaſſenden Syſtem menſchlicher Erkenntniß. Allein die⸗
ſer nur ſcheinbare Vorwurf trifft die Sache ſelbſt wenig, und
loͤſt ſich darin auf, daß, es ſei nun aus Unzufriedenheit mit
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der erſten Darſtellung der Wiſſenſchaftslehre, oder aus welchen
andern Gruͤnden, der Urheber vorgezogen hat das hieher gehoͤ—
rige Stuͤkk der urſpruͤnglichen Wiſſenſchaft, welches dort zum Theil
fehlte, zum Theil in einer untauglichen Geſtalt vorhanden war,
an Ort und Stelle von vorn herein aufs neue zu bilden,
lieber als ſich unzureichend und erkuͤnſtelt auf jenes zu be—
rufen. Denn als Theile der Wiſſenſchaftslehre muß auch
ſchon der Unkundige diejenigen Saͤze erkennen, die in der Sit—
tenlehre und dem Naturrecht, zwei von einander verſchiedenen
beſonderen Wiſſenſchaften, gemeinſchaftlich zu finden ſind, wel—
ches nur ſo moͤglich iſt, daß ſie eigentlich nicht dieſen, ſon—
dern der uͤber ihnen ſtehenden hoͤheren Wiſſenſchaft angehoͤren.
Der Kundige aber erkennt dafuͤr gleich auf den erſten Blikk
die alles begruͤndende Aufgabe, ſich ſelbſt bloß als ſich
ſelbſt zu denken, oder wie ſie hernach naͤher beſtimmt wird,
ſich ſelbſt als das Objective zu finden. Daher wird auch
nur der, welchem die erſten Gruͤnde der Wiſſenſchaftslehre
nicht genug bekannt ſind, einen weſentlichen Anſtoß daran
finden (was freilich im Vortrage mangelhaft iſt) daß dieſes
beides ohne weiteres gleich geſezt wird, und das zu findende
abgeſehen vom Denken zu finden aufgegeben werden ſoll.
Ein ſolches umbildendes Ergaͤnzen der Wiſſenſchaftslehre nun
ſehen wir nicht nur im Anfang der Sittenlehre, ſondern in
allen Haupttheilen derſelben, im erſten ſowohl, welcher nur
den leeren Gedanken eines Sittengeſezes zu Tage foͤrdert, als
auch in dem zweiten, worin fuͤr dieſen der Gehalt und die
Anwendung gefunden wird, und eben ſo im dritten, von wel—
chem hier nicht weiter die Rede ſein kann. Dieſes alles ſoll
nicht geſagt ſein, als ob etwa ein ſolches Verfahren von uns
fuͤr verdaͤchtig gehalten wuͤrde; vielmehr wuͤrden wir auch
dieſes ruͤkwaͤrts gehende Anbilden des hier erforderlichen Thei—
les der hoͤchſten Wiſſenſchaft, ſofern es ſich nur als richtig
bewaͤhrt, gar ſehr zu loben finden. Erinnert aber muß es
werden, damit in Abſicht auf den Zuſammenhang des ab—
geleiteten mit dem geſammten menſchlichen Wiſſen, oder ans
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dern einzelnen Theilen deſſelben, ein Unterſchied gemacht werde,
zwiſchen dem allgemeinen und dem rein ethiſchen; ferner, da—
mit in beiden Haupttheilen der Ort ſorgfaͤltig aufgeſucht werde,
wo, und die Art wie nun eigentlich das beſondere ſich ab—
leitend von dem allgemeinen ausgeht. Denn hiebei iſt die
größte Aufmerkſamkeit erforderlich, wegen der beſondern Bes
ſchaffenheit der Methode dieſes Weltweiſen, welche bei einigen
großen und eigenthuͤmlichen Vortreflichkeiten, die allein ihrem
Erfinder den Ruhm eines der erſten philoſophiſchen Kuͤnſtler
zuſichern, auch durch andere, vielleicht nicht ſowohl abſichtlich
erſonnene als von ſelbſt ſich darbietende, gefaͤhrliche und ver⸗
fuͤhreriſche Huͤlfsmittel ſich auszeichnet. Beſonders kann da,
wo gleichſam aus Nachſicht dem ſtrengen und ermuͤdenden
Gange des Syſtems Einhalt geſchieht unter dem Schein vor—
bereitender Anſichten und Umſichten, etwas ſchon vorlaͤufig
halb eingeſchwaͤrzt werden, deſſen mangelhafter Erweis in der
eigentlichen weitern Entwikkelung des Syſtems hernach um
ſo weniger bemerkt wird. So kann auch leicht bei Vereini—
gung der Gegenſaͤze, und ſonſt wo die Formeln vielfach vers
ſchlungen find, ein bedeutender Fehler des Rechnens unbeach—
tet durchſchluͤpfen; oder auch die uͤbrigens ſehr tugendhafte
und lobenswerthe Vermeidung einer allzueng beſtimmten Lehre
ſprache einige nicht ganz rechtliche Erleichterungen beguͤnſti—
gen. Und auf eine andere als ſolche Art mag auch wohl
jenes Wunderbare nicht erreicht worden ſein, daß nemlich in
und mit dem bloßen Wollen zugleich, auch das Sittengeſez
ſoll gefunden worden ſein. Wunderbar gewiß, daß die Auf—
gabe ein beſtimmtes nothwendiges Bewußtſein, wie das Fins
den feiner ſelbſt, zu Stande zu bringen endlich und vollſtaͤn—
dig nicht anders kann geloͤſt werden, als indem ein in
Hinſicht auf jenes ganz zufaͤlliges Denken gefunden wird.
Und ſo geht doch ohne Sprung, wie in dem Werke ſelbſt
geruͤhmt wird, die Ableitung weiter von dem allgemeinen Bes
wußtſein des Wollens zu dem beſonderen beſtimmter Pflich⸗
ten, ſo daß dieſes als bereits in jenem enthalten und nur
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aus ihm heraus entwikkelt und dargeſtellt muß betrachtet
werden. Denn daß dieſes leztere Bewußtſein, in Beziehung
auf jenes erſte des Wollens uͤberhaupt und der Freiheit, ein
beſonderes und zufaͤlliges ſei, dies kann Fichte eben ſo wenig
als ſonſt einer abläugnen, obſchon er ſich verwahrt durch die
Behauptung, daß gaͤnzlich von einem ſolchen Gedanken ent—
bloͤßt Keiner ein vernuͤnftiges Weſen ſein koͤnne. Geſteht er
doch, dieſes nicht achtend, anderswo ſelbſt, daß Aeußerung der
Selbſtthaͤtigkeit auch Statt habe in einer Wahl, bei welcher
auf keiner Seite jenes Geſez in Betracht gezogen wird; ſchil—
dert auch ſelbſt menſchliche Geſinnungen, und zwar die ſo ge—
ſinnten als freie, wobei das Bewußtſein der Selbſtthaͤtigkeit
das leuchtende und herrſchende, das des Geſezes aber ganz
verdunkelt und aufgehoben iſt. Ferner, daß unmoͤglich auf
ſolche Weiſe das beſondere mit dem allgemeinen zugleich ges
funden, und durch denſelbigen Grund wie dieſes bedingt und
beſtimmt fein kann, muß Jeder wiſſen. Sonft dürfte auch
an die Wiſſenſchaftslehre die Aufgabe ergehen, aus derſelben
urſpruͤnglichen Handlung des Ich, aus welcher ſie eine Au—
ßenwelt entwikkelt, auch die Geſeze der Bewegung, Veraͤnde⸗
rung und Bildung in derſelben abzuleiten, wogegen ſie ſich
immer ſehr weislich und verſtaͤndig verwahrt hat. Endlich
aber, daß die Aufgabe wirklich nicht eine neue iſt, welche zus
naͤchſt durch den Gedanken des Sittengeſezes gelöft wird, ſon⸗
dern noch die erſte, iſt klar genug. Denn es war nur eben
vorher bemerkt, das Ich ſei bis jezt ſich der Selbſtthaͤtigkeit
nur erſt als eines Vermoͤgens bewußt geworden, wodurch
alſo, und zwar am meiſten nach dem richtigen Begriff von
Vermoͤgen, den Fichte uͤberall nachdruͤkklich aufſtellt, noch ſo
viel als nichts geleiſtet worden. Und daß fie fi) deren bes
wußt werden ſoll als eines Triebes, daraus ergiebt ſich her—
nach unmittelbar der Gedanke des Sittengeſezes. Im voraus
alſo ſcheint dieſe Ableitung nicht die Pruͤfung beſtehen zu
koͤnnen, welches auch die Betrachtung des Verfahrens ſelbſt
gar ſehr beſtaͤtiget. Die Aufgabe nemlich lautet, zu finden,
26
wie ſich der Trieb nach Selbſtthaͤtigkeit als ſolcher auf das
ganze Ich aͤußert. Dieſes nun kann, wie bekannt, nach
Fichte nicht anders als theilweiſe gefunden und dargeſtellt
werden. Sonach waͤre dieſer Trieb zu ſtellen, als einzeln
beide Seiten des Ich die ſubjective ſowohl als die objective
beſtimmend, und beide Beſtimmungen wären hernach wie ges
wohnt mit einander zu vereinigen, welches heißt durch einans
der zu bedingen, um jenen Trieb im Bewußtſein vorzuſtellen
und zu bezeichnen. Ganz fo einfach wie der Sache angemefz
fen würde auf dieſem Wege erhalten, als vollſtaͤndiges Bes
wußtſein der Freiheit, wie ſie ein Trieb iſt, und als jedes
Finden ſeiner ſelbſt begleitend und vollendend, ein Gedanke
und ein Gefuͤhl; das Gefuͤhl nemlich des Strebens und der
Gedanke der Freiheit, als gleich nothwendig, wie durch ein⸗
ander bedingt ſo von einander unzertrennlich. Weit dieſer
Aufloͤſung vorbei wird hingegen zuerſt, weil nemlich nur ein
Gedanke, und zwar ein ganz anderer aufgeſtellt werden ſoll,
vorbereitend gezeigt, daß hier nicht ein Gefuͤhl zu erwarten
ſei, da doch nur gelaͤugnet werden kann bloß ein Gefühl,
eben ſo wenig aber ſich behaupten laͤßt, bloß ein Gedanke.
Ferner wird zu demſelben Behuf und um dennoch das
ganze Verfahren ſcheinbar anzuwenden, nicht, wie hier ange—
deutet worden iſt, die Rechnung angelegt, ſondern nur das
ſubjective durch durch das objective und erſt das ſo verbun⸗
dene durch jenen Trieb, dann aber wieder das ſo entſtandene
auch durch das ſubjective beſtimmt. Dieſes Verfahren aber
muß Jeder, der auch nur ein tuͤchtiger Lehrling dieſer Me⸗
thode geworden iſt, als unregelmäßig, und um eine Beſtim—
mung des ganzen Ich vorzuſtellen, durchaus fehlerhaft finden.
Allein ſogar von alle dieſem abgeſehen iſt doch das Reſultat
nur erſchlichen. Denn das geſezlich nothwendige Denken der
Selbthaͤtigkeit, welches der gefundene Inhalt des Gedanken
eigentlich iſt, kann doch nicht gleich gelten dem Denken oder
ſich ſelbſt geben eines Geſezes der Selbſtthaͤtigkeit, wie hier
leider eines in das andere ſich verwandeln muß. Wenn ſo
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ein beſtimmtes Zeichen und ein beſtimmendes ihr Geſchaͤft mit
einander vertauſchen, ſo iſt nicht moͤglich, daß die Formel
noch ihren vorigen Werth behalte, und der andern Seite der
Gleichung entſpreche. Daß nun ſolche Fehler, und noch
manche vorhergehende, der Methode nicht ganz wuͤrdige Wen⸗
dungen Vielen unbemerkt geblieben find, geſchieht, anderer klei⸗
ner Verfaͤnglichkeiten nicht zu gedenken, nur weil von Anfang
her die ſittliche Zunoͤthigung als Veranlaſſung der ganzen
Aufgabe gezeigt, und alſo bei allen Leſenden zum begleitenden
Gedanken geworden iſt, den ſie gern, ſobald es ſich thun laͤßt,
der Reihe einſchieben. Nicht beſſer auch ſteht es um eine an
dere, kleine, wie in der Nußſchale eingeſchaltete Ableitung,
davon ausgehend, daß die Vernunft ſich durch ſich ſelbſt ihr
Handeln, die endliche ein endliches, beſtimme. Denn wo das
eigentliche Handeln, und das in der Vorſtellung, ſonſt das
ideale genannt, neben einander geſtellt werden, da kann nicht
in demſelben Sinn, worin die Bedingungen des Denkens und
Anſchauens Geſez der Vernunft fuͤr das lezte ſind, das ethi⸗
ſche ihr Geſez fuͤr das erſte ſein. Zwar hier wird auf dieſes
gedeutet, weil nemlich Beſtimmtheit eines reinen Thuns kein
Sein gaͤbe, ſondern ein Sollen: hievon aber liegt die uͤberre⸗
dende Kraft nur in dem „kein Sein.“ Denn wer dieſes her⸗
ausnimmt, wird nicht mehr begreifen, wofür ihm die Gleich⸗
heit des vieldeutigen Ausdrukks, Beſtimmtheit eines reinen
Thuns, mit dem ganz unerklaͤrten des Sollens ſo klar ge⸗
worden ſei. So auch iſt ein verwechſelter Gebrauch des
Seins und Sollens die einzige Begruͤndung einer andern Aus⸗
ſage vom Sittengeſez, an welche hernach vieles angeknuͤpft
wird, daß nemlich das durch dieſes Geſez geforderte, weil
es eben immer ſein ſolle, und nie ſei, in der Unendlichkeit
liegen muͤſſe, ſo daß ihm nur in einer Reihe angenaͤhert wer⸗
den koͤnne. Noch ſchaͤrfer unterſcheidet ſich, was die Buͤndig⸗
keit des Zuſammenhanges betrifft, im zweiten Theile das eis
gentlich ethiſche von dem allgemeinen. Denn lezteres ſtellt
nach Vermoͤgen die aͤußeren Bedingungen auf, unter welchen
28
allein das Ich praktiſch ſein kann, erſteres aber geht in gro⸗
ßer Verwirrung und ohne Leitung umher, ein verlaſſenes
Kind des Ueberfluſſes und der Armuth der Methode, ihres zu
viel und zu wenig Thuns, um ſich einen Raum zu gewinnen
in dieſem abgeſtekkten Gebiet. Hier nemlich ſoll der ſchon
oben halb eingeſchwaͤrzte Begrif von einer ſelbſtthaͤtigen Be-
ſtimmung, gemaͤß oder auch zuwider gewiſſen, man weiß
nicht woher entſtehenden, Forderungen der Selbſtthaͤtigkeit,
und alſo von einer materiellen Freiheit in und neben der for⸗
mellen, ordentlich hervorgebracht werden. Zu dem Ende wird
gefordert, ein Trieb auf das Bewußtſein der Freiheit, und ſo
auch ein Trieb auf die Bedingung deſſelben, nemlich die
Unbeſtimmtheit. Wunderlich indeß erſcheint es ſicher Jedem,
wie ein Trieb nach Unbeſtimmtheit ſich hernach entwiffeln
ſoll als Trieb auf etwas ſo durchaus beſtimmtes, als zumal
in dieſer Darſtellung das Sittengeſez ſein will. Noch auch
wuͤrde ſich Jemand hiebei beruhigen, wenn nicht durch die
vorhergegangene Aeußerung, die auch ſcheinbarer als richtig
iſt, daß nemlich eine hoͤhere Art von Freiheitsbewußtſein
entſtaͤnde, wenn die Selbſtbeſtimmung gegen die Neigung
liefe, eine Geneigtheit bewirkt worden waͤre, nun irgend ein
unveraͤnderliches Gewicht in dieſer Wageſchale zu erwarten,
nemlich den hier aufgeſtellten reinen Trieb. Wie kann aber
uͤberhaupt aus jener Forderung, die ſelbſt, wie jeder ſieht,
nur ſchlecht herbeigefuͤhrt iſt, ein eigner Trieb gefolgert wer⸗
den? Es muͤßte denn, wovor, da ja alles im Ich aus einem
Triebe erklaͤrt werden ſoll, das Syſtem nicht erſchrekken moͤge,
ein Trieb ſein nach der Reflexion. Denn von dieſer aus
herrſcht ja nicht nur im Ich die Freiheit, ſondern auch durch
dieſe, da ſchon vermoͤge des Innehaltens andere Forderungen
des Triebes ſich darſtellen, wird es ſich feiner Freiheit bes
wußt; wie ſich denn auch die Reflexion, wenn der zuerſt ge⸗
pruͤfte Theil der Ableitung richtiger pollfuͤhrt worden wäre,
als die eigentliche Bedingung des Freiheitsbewußtſeins
wuͤrde gezeigt haben. Denn daß das Gefuͤhl des Strebens
29
nothwendig begleitet ift von dem Gedanken der Freiheit, will
eben dieſes ſagen und nichts anderes. Der auf eine fo mans
gelhafte Art herbeigefuͤhrte reine Trieb, wird nun, damit aus
ihm der erwuͤnſchte ſittliche Trieb erwachſen koͤnne, in einen
Widerſpruch geſezt mit dem, als Bedingung des Handelns
uͤberhaupt, in dem allgemeinen Theile abgeleiteten Naturtriebe.
Dieſer Widerſpruch aber entſteht nicht nur bloß aus der vor—
ausgeſezten beſchraͤnkten Vorſtellung des Handelns, daß es
nemlich immer und uͤberall auf Objecte außer dem Ich gehen
muͤſſe, ſondern er wird auch nur ſehr unzureichend geloͤſt.
Nemlich um ihn zu ſezen, wird dem reinen Triebe Cauſalitaͤt
abgeſprochen, in der Bedeutung, daß er der Materie nach doch
nichts anders wollen koͤnne, als was die Natur, wenn dies
von ihr geſagt werden dürfte, auch wollen würde, ausdrüffs
lich alſo in Beziehung auf die Materie des Wollens. Geloͤſt
aber wird er dadurch, daß dem reinen Triebe die Form des
Handelns zum Hervorbringen angewieſen wird. So bleibt
demnach in dem nemlichen Sinne ſeine Cauſalitaͤt doch auf-
gehoben, und der Widerſpruch ungeloͤſt. Dieſe Aufloͤſung
nun, angeknuͤpft an jenen nicht minder in der Luft ſchweben—
den Gedanken von der Reihe der Annaͤherung, ergiebt es, daß
dieſe Reihe in jener der Forderungen des Naturtriebes enthal—
ten iſt, ſo daß jedes Glied in jener aus einem Gliede in die—
ſer herausgehoben iſt. Alſo die Reihe durch deren Fortſezung
das Ich unabhaͤngig werden wuͤrde, iſt ein Theil derjenigen,
deren ebenfalls unendliche Summe das Ganze ſeiner Abhaͤn—
gigkeit ausmacht. Wie er nun dieſes denken koͤnne, mag Je⸗
der zuſehen. Allein, auch abgerechnet ein ſo merkwuͤrdiges
Verhaͤltniß, wie mag wohl durch Fortſezung irgend einer
Reihe das Ich ſeiner Unabhaͤngigkeit, das heißt, nach dem
Sinne des Syſtems ſelbſt, ſeinem Aufhoͤren annaͤhern? Durch
das Hinzufuͤgen einer Handlung zur andern, ſo daß gedacht
werden muß, wenn die unendliche Summe koͤnnte gezogen
werden, wuͤrde das Aufhoͤren anfangen? Oder vielleicht durch
das Wachſen der Sittlichkeit dem Grade nach, ſo daß etwas
1
30
ähnliches hier ſtatt fände, wie bei den Zahle und Meßluͤnſt⸗
lern der Uebergang durch das Unendliche in das Entgegen—
geſezte? Und ſoll es an dieſer des Uebermuthes und Stolzes
ſo oft verklagten Philoſophie etwa nur Beſcheidenheit ſein,
daß nicht nur die Mittel, wie etwa der Staat und die Kite
che, ſondern auch die Zwekke, wie das Ich, auf die eigne Zer⸗
ſtoͤrung abſichtlich und pflichtmaͤßig ausgehen? Denn des
myſtiſchen Weſens iſt ſie noch nie beſchuldiget worden. Doch
dieſes verhalte ſich wie es wolle: offenbar iſt immer aus dem
vorigen, daß dieſe in ihrer Abſicht und Entſtehung ſich wi—
derſprechende Reihe, und ihre fo unbegreifliche als unbewies
ſene Beſtimmtheit für Jeden von Jedes erſtern Punkt aus-
die einzige Geſtalt iſt, in welcher das Sittengeſez und ſein
Gefordertes mit dem was hier der Wiſſenſchaftslehre ange—
hoͤrt, in Verbindung gebracht worden. Und dieſes Gewebe,
von dem nur die Hauptfaͤden an der eben geendigten Beleuch—
tung haben ſichtbar gemacht werden koͤnnen, wird ſonder Zwei—
fel Jedem, der es weiter verfolgt, ſo loſe als verworren er—
ſcheinen, nicht ungleich dem Faden, welchen die Kinder mit
ſcheinbarer Kuͤnſtlichkeit um die Finger verſchlingend befeſtigen,
und welcher ſich dann wieder mit einem Zuge loͤſen laͤßt, weil
eigentlich nichts befeſtiget war. Nicht als ob ſchon gelaͤugnet wer⸗
den ſollte, das hier aufgeſtellte Sittengeſez koͤnne nicht ein aͤch—
ter und brauchbarer Ausdrukk der hoͤchſten Idee der Ethik
ſein, noch weniger ſoll ſchon etwas beſtimmt werden uͤber den
Werth der daraus abgeleiteten Sittenlehre; nur ihre Verknuͤp⸗
fung mit dem erſten Ringe der menſchlichen Erkenntniß iſt fuͤr
unhaltbar, und wie nicht vorhanden anzuſehn.
Zwei nur ſind noch uͤbrig, von denen geruͤhmt werden
kann, daß fie eine Ableitung der Ethik ebenfalls verſucht has
ben, Platon nemlich unter den Alten, unter den Neueren aber
Spinoza. Beide faſt ſo ſehr einander entgegengeſezt, als
Meiſter der hoͤheren Wiſſenſchaft es nur ſein duͤrfen, haben
doch unter manchem andern auch dieſes Unternehmen, ja zum
Theil auch die Art der Ausfuͤhrung mit einander gemein.
84
Beide nemlich kommen darin uͤberein, daß ihnen die Erkennt⸗
niß des unendlichen und hoͤchſten Weſens nicht etwa erſt Er—
zeugniß einer andern iſt, vielweniger ein zu andern erſten
Gruͤnden noch hinzugeholtes Noth- und Huͤlfsmittel, ſondern
die erſte und urſpruͤngliche, von welcher jede andere ausgehen
muß. Offenbar iſt nun, daß auf dieſe Art eine Unterord—
nung aller einzelnen beſonderen Wiſſenſchaften unter eine ſo
weit uͤber ſie erhabene nicht ſchwer kann zu bewerkſtelligen
ſein, und daß ſo weder die Ausſonderung des ethiſchen vom
phyſiſchen Schwierigkeiten erregen, noch aus einer ſich darbie—
tenden gegenſeitigen Unterordnung beider Verwirrung entſtehen
kann, wie es bei denen die vom Endlichen anfangen, unver—
meidlich zu fein ſcheint. So demnach ſtellt Spinoza, der bes
ſondern Wiſſenſchaft, die er darſtellen will, die hoͤchſte eben
wie Fichte, nur als Vorkenntniß mitgebend, das Buch von
Gott an die Spize feiner Ethik; an welches ſich dann natürs
lich anſchließt das von der Seele des Menſchen. Denn der
Begrif derſelben iſt genau abgeleitet aus dem in der Lehre
von Gott aufgeſtellten Verhaͤltniß des Unendlichen zum End—
lichen und Einzelnen. Und zwar nicht allein, welches billig
Verdacht erregen koͤnnte, ſondern ſo, daß gleich die Stelle
angewieſen iſt fuͤr aͤhnliche Darſtellungen der Weltkoͤrper ſo—
wohl als der uͤbrigen organiſchen Weſen, und bis zu der
ſogenannten todten Natur herab aller verſchiedenen Verbin⸗
dungen des Denkenden und Ausgedehnten, in denen das Un⸗
endliche ſich offenbart. In dieſem Begrif der menſchlichen
Seele aber iſt nothwendig enthalten der Gegenſaz des Thuns
und Leidens, der getheilten und ungetheilten Urſaͤchlichkeit der
Veränderung, welcher in feiner Ethik den Charakter des gus
ten und boͤſen, oder vielmehr, weil er die gaͤnzliche Ausſchlie⸗
ßung des einen nicht etwa in der Unendlichkeit fordert, ſon⸗
dern uͤberall als unmoͤglich ableitet, den des vollkommenen und
unvollkommenen beſtimmt. Nur zweierlei iſt mangelhaft an
dieſer Verknuͤpfung. Zuerſt nemlich iſt zwar der Begrif aller
einzelnen Dinge und ſo auch des Menſchen dem Verhaͤltniß
32
des Endlichen zum Unendlichen ganz gemäß, aber nicht in
ihrer beſondern gerade ſolchen Beſtimmtheit daraus begreif—
lich gemacht; ſo daß er gleichſam uͤber die einzelnen Naturen
zwar die Probe machen, nicht aber ſie ſelbſt durch Rechnung
hervorbringen kann. Dieſes indeß wird fuͤr die Ethik da—
durch gut gemacht, daß auch die hoͤchſte Idee derſelben ſich
nicht auf den beſonderen Begrif des Menſchen bezieht, ſon—
dern auf den jedes einzelnen Dinges, dem eine Seele zuge—
ſchrieben werden kann. Darum aber muß zugeſtanden werden,
daß eben dieſe Idee ihm nur in ſo fern natuͤrlich iſt, als da—
durch der Maaßſtab fuͤr die moͤglichen Verſchiedenheiten an—
gegeben wird, nicht aber in ſo fern ſie den Weg bezeichnen
ſoll zur Bildung aus dem unvollkommen in das vollkom—
mene. Denn eine Ethik in dieſem Charakter wuͤrde er, wenn
er ſie nicht vorgefunden haͤtte, keine Veranlaſſung gehabt ha—
ben hervorzubringen. Theils weil er, indem er ſich mit aller
Kraft ſeiner Eigenthuͤmlichkeit huͤten wollte, daß nicht das
gefaͤhrliche Spiel mit allgemeinen Begriffen ſeine, auf die
reinſte und anſchaulichſte Abſpiegelung des Wirklichen ange—
legte, Wiſſenſchaft verduͤrbe, auf eine ihm eigne Art das Ideal
mit dem allgemeinen Begrif verwechſelte. Theils haßte er
nicht ungerechter Weiſe die Zwekkbegriffe, und vermiſchte noch
mit dieſen das Ideal. So daß er auf allen Seiten in
Feindſchaft befangen war gegen dasjenige, worauf der eigen—
thuͤmliche Charakter der Ethik beruht; was ihm freilich nicht
haͤtte begegnen koͤnnen, wenn er nicht, ſo ganz wie er es war,
entbloͤßt geweſen waͤre auch von jeder Vorſtellung einer
Kunſt oder eines Kunſtwerkes. Man kann daher nicht laͤug—
nen, daß die Ethik ihm faſt wider ſeinen Willen und wohl
nur polemiſch zu Stande gekommen iſt, es ſei nun um die
gemeinen Begriffe zu beſtreiten, oder um ſeine Theorie vom
hoͤchſten Weſen zu rechtfertigen und zu bewaͤhren. Dieſe
Maͤngel nun ſind es, welche den Gegenſaz zwiſchen ihm und
Platon am augenſcheinlichſten bezeichnen.
Von dieſem lezteren nun muß Jeder, der ihn einigermaßen |
kennt,
—
33
kennt, es wiſſen, wie er von Anfang an von der Ahn—
dung ausgegangen iſt fuͤr die Wiſſenſchaft des Wahren
und des Guten, fuͤr die Phyſik und Ethik einen gemein—
ſchaftlichen Grund zu ſuchen, und wie er dieſen, ihrem Ur—
ſprunge ſich je laͤnger je mehr annaͤhernd, beſtaͤndig auf—
geſucht hat. Ja man kann ſagen, daß es keine bedeutende
giebt unter ſeinen Darſtellungen, worin nicht dieſes Beſtre—
ben die Stelle waͤre, von welcher aus ſich Licht uͤber das
Ganze verbreitete. Ihm nun erſcheint das unendliche We—
ſen nicht nur als ſeiend und hervorbringend, ſondern auch
als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunſt—
werken ins unendliche zuſammengeſeztes Kunſtwerk der Gott—
heit. Daher auch, weil alles Einzelne und wirkliche nur wer—
dend iſt, das unendliche bildende aber allein ſeiend, ſind auch
ihm die allgemeinen Begriffe, nicht etwa nur wie jenem, Schein
und Wahn der Menſchen, ſondern bei dem entgegengeſezten
Verfahren werden fie ihm die lebendigen Gedanken der Gott—
heit, welche in den Dingen ſollen dargeſtellt werden, die ewis
gen Ideale, in welchen und zu welchen alles iſt. Da er
nun allen endlichen Dingen einen Anfang ſezt ihres Werdens,
und ein Fortſchreiten deſſelben in der Zeit: ſo entſteht auch
nothwendig in allen, denen eine Verwandſchaft mit dem hoͤch—
ſten Weſen gegeben iſt, die Forderung dem Ideale deſſelben
anzunaͤhern, fuͤr welche es keinen andern erſchoͤpfenden Aus—
drukk geben kann, als den der Gottheit aͤhnlich zu werden.
Daß alſo hier eine noch feſtere Anknuͤpfung der Ethik an die
oberſte Wiſſenſchaft ſtatt finde, als dort, iſt offenbar. Ob
aber die hoͤchſte Wiſſenſchaft ſelbſt fo logiſch, als Spinoza
ſie aufbaut, oder fo wie Platon, fie nur nach einer poetiſchen
Vorausſezung des hoͤchſten Weſens hinzeichnet, einen feſteren
Stand habe, dieſes zu beurtheilen, iſt nicht des gegenwaͤrtigen
Orts. Nur dies iſt das Ende der Unterſuchung, daß unter
Allen, welche den Gedanken gefaßt haben, die Ethik aus ei—
ner hoͤheren Wiſſenſchaft her zu begruͤnden, es nur denen bis
izt vielleicht gelungen iſt, welche objectiv philoſophirt haben,
Schleierm. Grundl. C
34 | | en
das heißt von dem Unendlichen als dem einzigen nothwendi—
gen Gegenſtande ausgegangen ſind. Auch dieſe aber moͤgen
die Idee der Sittenlehre eher gehabt haben, als den Gedan—
ken dieſer Verknuͤpfung; und fo kann im allgemeinen anges
nommen werden, daß bis jezt nur die zuerſt angefuͤhrten
Gruͤnde wirkſam geweſen ſind zu deren Entſtehung. Denn
ſowol das Bewußtſein der innern ſittlichen Zunoͤthigung, es
beruhe nun, worauf es wolle, als auch einzelne ethiſche Be—
griffe und Saͤze in aͤußerer wiſſenſchaftlicher Geſtalt, ſind den
Verſuchen der Wiſſenſchaft ſelbſt überall vorangegangen. Ale
les aber nicht mit Bewußtſein noch nach feſten Geſezen ge—
bildete iſt ſchwankend, und irgendwo unbeſtimmt; woraus
denn die Verſchiedenheit der hoͤchſten Grundſaͤze ſich leicht er—
klaͤrt, welche die doppelte Aufgabe zu loͤſen hatten das bereits
einzeln gefundene entweder zu vereinigen oder außer Werth
zu ſezen, und jene innere Zunoͤthigung auf eine befriedigende
Weiſe auszuſprechen. Welche ſo entſtandene Verſchiedenheiten
wir nun im Begrif ſtehen naͤher zu beleuchten.
Erfier Abſchnitt.
Von der Verſchiedenheit in den bisherigen ethi—
ſchen Grundfäzen.
Ussists find, wenn man auf jede kleine Abweichung ſehen
will, die Formeln, welche von je her, als erſte Grundſaͤze,
an die Spize der Sittenlehre geſtellt worden; und ein nicht
zu beendigendes Geſchaͤft waͤre es, ſie einzeln aufzuzaͤhlen und
zu behandeln. Denn auch ſolche, die im Ganzen einſtimmig
waren mit andern, hat bald die Hofnung leichter einen Ein—
wurf zu beſchwichtigen, bald die Ausſicht durch mehr Allge—
meinheit oder durch abgeſchnittnere Beſtimmung einen feſteren
Grund zu legen, auf Abaͤnderungen geleitet an dem, was ih—
nen uͤberliefert war. So auch hat mancher, wie es zu gehen
pflegt, neues erfunden zu haben geglaubt, indem er nur aus
den Schaͤzen der Sprache das alte mit neuen Worten beklei—
dete, oder dieſelbe Gleichung nur anders ordnete und geſtal—
tete. Dennoch ſollten wir keine von dieſen uͤbergehen, ſofern
ſie der Grund eines eignen Gebaͤudes wirklich geworden, oder
werden gekonnt. Denn es kann auch, was obenhin betrach-
tet nur als ein geringer Unterſchied erſcheint, ſich in den
Folgerungen wichtiger zeigen; und jede beſondere Wiſſenſchaft,
wie ſie verbunden iſt den Worten genau zu folgen, muß auch
C2
—
36
dieſe uͤberall geziemend verehren. Erleichtert indeß würde die
Sichtung, wenn es moͤglich waͤre mit Gewißheit die große
Anzahl der Ausdruͤkke auf eine kleinere der Gedanken zurüff
zu führen. Denn da für jedes Gedachte nur ein Ausdruff
der angemeſſenſte ſein kann: ſo wuͤrde ſich nach dieſer Ver—
gleichung dem vollkommneren das unvollkommene unterord—
nen laſſen, und es muͤßten die vielen kleinen Erſcheinungen
fi) in wenige große und durch kenntliche Züge zu unterſchei⸗
dende verwandeln. Wie ganz leicht aber und unbedeutend
waͤre das Geſchaͤft, koͤnnten wir jenes von Kant aufgezeichnete
Taͤflein dabei gebrauchen, welches, wie er verheißt, alle ethi—
ſchen Grundſaͤze, die moͤglichen zu den wirklichen enthalten
ſoll. Nur leider hat er auch hier nach ſeiner Weiſe zu viel
gethan und zu wenig. Wer zum Beiſpiel moͤchte wohl ſa—
gen, daß der Urheber der Fabel von den Bienen, und der
alte gallikaniſche Montaigne, jener die buͤrgerliche Verfaſſung,
dieſer die Erziehung in demſelben Sinne zum Beftimmungs-
grunde des Willens im ethiſchen Geſez erhoben, wie etwa
die alte dialektiſche oder ſtoiſche Schule den Begrif der Voll—
kommenheit? Vielmehr wird Jeder geſtehen, daß von dem,
was zu billigen iſt oder zu verwerfen, Merkmale angeben,
und die Form dieſer Urtheile, ſelbſt ihrem Weſentlichen nach,
nur als Thatſachen aus einem natuͤrlichen Grunde erklaͤren
wollen, zwei ganz verſchiedene Handlungen ſind, welche nur
gewiſſermaßen den Gegenſtand gemein haben. Und ſchwer
iſt beſonders zu begreifen, wie auf eine ſolche Zuſammenſtel—
lung grade Kant verfallen konnte, welcher überall die unab—
haͤngige Aufbauung eines Syſtems im Sinne hat, die Jene
aus dem, was er ihre Grundfäze nennt, verwerfen, die Uebri—
gen aber aus den ihrigen verſuchen wollen. So auch druͤkt er
den ethiſchen Grundſaz uͤberall aus, unter der Formel des Sol—
lens, welche den genannten beiden unterlegen zu wollen nur das
Lachen erregen muͤßte uͤber den gaͤnzlichen Mißverſtand. Denn
ſo wuͤrden beide, die Fahne des ethiſchen Zweifels verlaſſend,
der eine ſich wohin er noch wollte, der andere zu denen
37
Schulen des Alterthums fluͤchten, welche die Ethik der Staats⸗
kunſt unterordnen. Das zu wenig aber in jenem Taͤflein
aufzuzaͤhlen, möchte zu viel werden; denn zu groß und auf—
fallend iſt darin die Unkenntniß alter und neuer Schulen.
Wer zum Beiſpiel mag es dulden, daß Ariſtipp uͤber dem
Epikur vergeſſen worden, oder daß die ſinnvollere Platoni⸗
ſche Formel der Veraͤhnlichung Gottes durch die neuere und
inhaltleere des goͤttlichen Willens verdraͤngt iſt, oder daß
Ariſtoteles und Spinoza gaͤnzlich vergeſſen ſind? Es genuͤge
daher dieſe allgemeine Andeutung, um Mißtrauen zu erwek—
ken gegen jene Anſicht, welche uns zwiſchen allen ethiſchen
Grundſaͤzen keine andere Entgegenſezung uͤbrig laͤßt, als die,
daß wir den Kantiſchen der allgemeinen Geſezmaͤßigkeit oder
Selbſtherrſchaft des Willens von allen uͤbrigen, als welche
ſaͤmmtlich auf eine Unterthaͤnigkeit deſſelben ausgehen, unter=
ſcheiden ſollen. Denn indem ſich dieſem waͤhrend ſeiner Pruͤfung
das von ihm ſogenannte Objective doch wieder in ein Subjectiz
ves, und das Vernunftmaͤßige in ein auf der Erfahrung be—
ruhendes verwandelt: fo fließt alles, was nicht das ſeinige
iſt, dermaßen zuſammen, daß aller natuͤrliche Unterſchied der
Farben verſchwindet. Ob nun dieſer Gegenſaz zwiſchen dem
formellen und materiellen wenigſtens als ein einzelner vor—
handen iſt, dieſes wird die Folge lehren. Jezt aber iſt zu=
naͤchſt ein anderer Weg aufzuzeigen, um die Verhaͤltniſſe der
verſchiedenen Grundſaͤze gegen einander, ihre Aehnlichkeit und
Unaͤhnlichkeit fo wie es unſer Vorhaben erfordert, zu entdek—
ken. Daß wir hiebei nicht an eine ſyſtematiſche Eintheilung
derſelben denken koͤnnen, leuchtet von ſelbſt Jedem ein, der
den Sinn unſeres Vorhabens begriffen hat, und ſich des Or—
tes erinnert, an welchen wir uns von Anfang an geſtellt ha—
ben. Vielmehr haben wir, anſtatt nur mehrere unter wenige
gemeinſchaftliche Abtheilungen zuſammenzufaſſen, von dem
Gedanken auszugehen, daß auch jeder einzelne mannigfaltig
iſt in ſeinen Eigenſchaften und Beziehungen. Dieſe alſo wer—
den wir aufſuchen und ſehen, ob ſie auf die wiſſenſchaftliche
5
38
Tauglichkeit, welche der Gegenſtand unferer Prüfung iſt, einen
Einfluß haben; in welchem Falle ſich denn ergeben wird, daß
einige von den verſchiedenen Grundſaͤzen in dieſer, andere in
einer andern Hinſicht ſich gleichen und zuſammengehoͤren. Ei—
nes aber iſt hiebei als ſchon gethan vorauszuſezen, die Unter—
ordnung nemlich deſſen, was nur im einzelnen abweicht, un—
ter einen Hauptgedanken, welches, ob es richtig geſchehen, die
Sache ſelbſt und die Zuſammenſtimmung des Erfolgs am
beſten beweiſen wird.
Der erſte Gegenſaz nun, der ſich uns aufdringt, iſt der,
welchen auch Kant anfaͤnglich angenommen, bald aber wieder
vernichtet hat, nemlich der alte zwiſchen den Syſtemen der
Luſt und der Tugend und Naturgemaͤßheit, oder wie die
Neueren ihn ausdruͤkken, zwiſchen denen der Gluͤkkſeligkeit und
der Vollkommenheit. Denn wenn gleich die meiſten Neueren
beides der That nach als unzertrennlich mit einander verbun-
den darſtellen, ja ſchon die ſpaͤteren unter den Alten aͤhnliche
Meinungen geaͤußert: ſo unterſcheidet ſich doch beides dem
Gedanken nach fo ſehr, und iſt urſpruͤnglich für fo entgegen—
geſezt gehalten worden, daß, wie es damit beſchaffen ſei, aufs
neue muß unterſucht werden. Dieſes wird am beſten ge—
ſchehen, wenn wir die Grundſaͤze in ihrer Anwendung auf
das einzelne verfolgen. Hier nun zeigt ſich, daß die Grund
ſaͤſe der Naturgemaͤßheit, der Vollkommenheit, der Gottaͤhn⸗
lichkeit, und welche noch ſonſt hieher gehoͤren moͤgen, alle
dieſe gerichtet ſind auf ein ſo und nicht anders Sein oder
Thun des Menſchen; die aber der Luſt und der Schmerzlo—
ſigkeit, und die ihnen aͤhnliche nicht auf das ſo Sein oder ſo
Thun ſelbſt, ſondern nur auf eine beſtimmte Beſchaffenheit
des Bewußtſeins von einem Sein oder Thun. Denn ein
ſolches iſt die Luſt, nicht ein Sein oder Thun ſelbſt, ſondern
ein durch das Gefuͤhl gegebenes Wiſſen um ein Sein oder
Thun. So kann ja einer vollkommen ſein in der koͤrperlichen
Staͤrke, aber er wird, wenn er nicht, es ſei nun ruhend oder
handelnd dieſe Vollkommenheit betrachtet, die eigenthuͤmliche
39
Luſt daran nicht genießen. Daß aber auch beides, wie nicht
an ſich einerlei ſo auch nicht fuͤr den Willen nothwendig
verbunden iſt, leuchtet ebenfalls ein. Denn es kann ja und
wird auch wenigſtens dem Vorſaz nach, Jeder deſſen Grund—
ſaz dies iſt, wenn er etwas nach der Idee der Naturgemaͤß—
heit vollbracht hat, ſogleich fortſchreiten zu einer neuen Handlung,
ohne auf das der vorigen nachfolgende Gefuͤhl ſeine Aufmerkſam—
keit zu richten; fo daß, wenn ſich dieſes auch immer einiger⸗
maßen aufdraͤngt, er es doch nur zufaͤllig beſizt, und, was
den Willen anbetrift, es laͤngſt uͤberſprungen hat. Eben ſo
kann der, welcher nur auf das Gefuͤhl ausgeht, ſich dieſes in
manchen Faͤllen wenigſtens verſchaffen ohne gehandelt zu ha—
ben, durch Erinnerung an eine vergangene Handlung oder
durch das Vorbilden einer kuͤnftigen, oder durch die Vorſtel—
lung derſelben uͤberhaupt, und behauptet ſo ſeinem Grundſaz
nachgekommen zu ſein, wo jener glauben wuͤrde, noch gar
nichts gethan zu haben. Ja, wenn auch ein ſolcher ſich be=
wogen findet, die Handlung ſelbſt zu vollbringen, um nicht
das auf jene Art erzeugte Bewußtſein durch ein entgegenge—
ſeztes leichter aufgehoben zu ſehen: ſo geſchieht doch das nur
zufaͤllig, und ſein Wille iſt nicht darauf gerichtet. Sonach
iſt ſoviel gewiß, daß in dem Syſtem der Luſt die Handlung
oder das Sein nur das Nichtgewollte iſt als Mittel, in dem
der Tugend aber das Gefuͤhl das Nichtgewollte als Zugabe.
Dieſes Gegenſazes nun waren die Alten ſich ſehr deutlich bes
wußt. Wie denn von den Epikureern geſagt wird, ſie haͤtten
nicht zugeben moͤgen daß in dem Begrif des hoͤchſten Gutes
mit verſchlungen werde der der Thaͤtigkeit, weil nemlich ihr
Hoͤchſtes nicht ein im Handeln, ſondern ein im Leiden gege—
benes war, nicht ein Selbſtwirken, ſondern ein gleichviel wo—
her bewirktes. Und die Dialektiker oder Stoiker nannten
deshalb die Luſt ein beilaͤufig und im Gefolge eines andern
mit erzeugtes, um das Verhaͤltniß derſelben zu ihrem Gegen—
ſtande des Wollens zu bezeichnen. Nur die Neueren haben,
den Unterſchied zwiſchen dem weſentlichen und zufaͤlligen
40
überfehend, beides friedliebend verbunden, fo daß die Verwir⸗
rung groß und kaum zu löfen iſt, indem der eine vielleicht
mit der Geſinnung dieſes in der Darſtellung aber jenes, und
ein Anderer dagegen in umgekehrter Ordnung beides ergriffen
hat. Wer aber wiſſenſchaftlich zu pruͤfen entſchloſſen iſt, darf
ſich nicht blenden laſſen durch den Schein der Geſinnung,
welche doch nur zweideutig bleibt, wenn ſie nicht genau und
beſtimmt ausgeſprochen wird, ſondern er hat ſich lediglich an
die Darſtellung zu halten. Dieſer nun bei Einigen zu fol—
gen, von denen es zweifelhaft ſein koͤnnte, wohin ſie zu rech—
nen ſind, muß den Gegenſaz, von welchem jezt die Rede iſt,
noch deutlicher machen. So erſcheint die anglikaniſche Schule
des Shaftesbury, wieviel auch dort immer von der Tugend die
Rede iſt, dennoch als gaͤnzlich der Luſt ergeben. Denn es
endiget alles in den Beweis, daß die aͤchte und dauerhafte
Gluͤkſeligkeit nur vermittelſt der Tugend zu erwerben ſei; und
das Wohlwollen, welches ihr Weſen in dieſer Schule aus—
macht, erhaͤlt ſeine Stelle nur dadurch, daß eine eigne Luſt,
wie ſie ſagen, aus demſelben entſpringt. Vielleicht wuͤrde die
unhaltbare Doppelſeitigkeit ihrer Darſtellung eher und beſſer
ans Licht gekommen ſein, wenn ſchon gleich damals, als un—
ſtreitig der Grund dazu gelegt wurde, jene Empfindſamkeit ſicht—
bar geweſen waͤre, welche es anlegt auf die Fertigkeit ſich ohne
Hand oder Fuß zu regen, durch das bloße Nachempfin—
den vermittelſt der Einbildung, alle Suͤßigkeiten jenes auf
Wohlwollen beruhenden ſittlichen Gefuͤhls zu verſchaffen. Denn
dieſem Genuß muͤßte Shaftesbury folgerechterweiſe denſelben
Werth zuerkannt haben, wie dem aus dem eignen Handel
entſtandenen, und ſo wuͤrde die Weisheit ihr Ziel darin geſezt
haben, die fittliche Luft zwar, weil es ſich bei ihr thun laͤßt, in
der Einbildung, die organiſche aber, bei welcher dieſes nicht gehen
will, in der Wirklichkeit zu genießen. Woraus denn am be—
ſten erhellt, wie wenig in dieſem Syſtem das Handeln eigent-
lich das Gewollte ſein kann. Und wenn auch einige, wie
Ferguſon, ihrem Geſez den Namen geben nicht von der Luſt
41
ſondern von der Selbſterhaltung, ſo daß es unmittelbar auf
ein Sein zu gehen ſcheint: fo erflären fie doch ſelbſt, wie un—
tergeordnet dieſes iſt, indem ſie aͤußern, ein Weſen, welches
keine Uebel empfaͤnde und keine Beduͤrfniſſe haͤtte, welches ja bei—
des Beziehungen auf die Luft find, würde auch keine Bewegungs-
gruͤnde haben zu handeln. Ja der dieſer Schule ſich ſo ſehr
annaͤhernde Garve hat ihrem Gebaͤude die Zinne aufgeſezt,
die für Jeden das Wahrzeichen fein kann, indem er die Ach—⸗
tung, welche ſeit einiger Zeit das Loſungswort geworden war
fuͤr die, welche eine reine Thaͤtigkeit abgeſondert von aller Luſt
ſuchen, erklaͤrt als die Sympathie mit der Gluͤkkſeligkeit deſ—
ſen, der gut gehandelt hat, welches ſagen will, der durch das
Wohlwollen gluͤkkſelig geworden iſt. Auf der andern Seite
ſind nun aber auch diejenigen zu betrachten, welche, obgleich
der reinen Thaͤtigkeit angehoͤrig, dennoch von Vielen unver—
ſchuldeter weife für Anhänger der Luft find angeſehen worden.
Unter dieſen ift der erſte Ariſtoteles, an dem man deutlich
ſehen kann, wie derjenige, welcher auf reine Thaͤtigkeit aus—
geht, auch die Luſt behandeln wird, wenn nicht etwa die
Ruͤkkſichten eines Streites ihn anders noͤthigen. Er nemlich
ſieht die Luſt zwar an als nothwendig verbunden mit der
Vollendung einer naturgemaͤßen Handlung, deshalb aber iſt
ſie keinesweges das, worauf er abzwekkt. Denn ſonſt wuͤrde
er nicht, ohne Hinſicht auf etwa ſchmerzliche Folgen, jede Luſt
ausſchließen, welche auf einem andern Wege als dieſem er—
zeugt wird, jede, welche uͤbermaͤßig eine uͤbermaͤßige Handlung
begleitet, oder die aus verwikkelten Beziehungen entſtehend
nicht einer beſtimmten Handlungsweiſe eigenthuͤmlich iſt. Auch
deshalb weil er zu Erreichung des Hoͤchſten den Beſiz aͤuße—
rer Guͤter fordert, darf er nicht anders beurtheilt werden.
Denn dies haͤngt bei ihm theils davon ab, daß er nicht den
ſittlichen Werth auch in dem ruhenden der Geſinnung zu fin—
den weiß, ſondern nur in dem beweglichen des Handelns,
wozu es, da bei der Art, wie er die Sittenlehre verbindet mit
der Staatslehre, alles Handeln nur ein buͤrgerliches ſein kann,
42
eines anftändigen Wirkungskreiſes und aͤußerer Mittel bedarf;
theils auch davon, daß er dieſen Werth nicht feſtzuhalten und
anzuſchauen weiß in einem Moment, ſondern nur in dem un—
unterbrochenen Gebrauch einer lang ausgeſponnenen Zeit. Da—
her iſt es ganz in ſeinem Geiſte geſagt, was ſeine bald aus—
geartete Schule nicht nachgeſprochen haben wuͤrde, daß dieje—
nigen, welche den Reichthum fuͤr einen Beſtandtheil an ſich
der Gluͤkſeligkeit hielten, nicht bedaͤchten, wie dieſe eine Le—
bensweiſe ſei, welche alſo keine andern unmittelbaren Beſtand—
theile haben koͤnne, als Handlungen. Auch) erflärt er ſich oft
genug, es gaͤbe fuͤr ihn kein anderes unmittelbar gewolltes,
als dasjenige, von welchem man auch nichts begehre, als
eben die Thaͤtigkeit ſelbſt. Wie ihm denn auch die Luſt, auf
welche er einen Werth legt, nicht ein gleichviel woher gegebe—
nes iſt, ſondern nur durch die Thaͤtigkeit einer naturgemaͤßen
Kraft und Eigenſchaft; und er nicht an ihr ſchaͤzt, daß ſie
ſtark empfunden wird, ſondern nur daß ſie ein Zeichen der
Vollendung iſt, indem ſie das Bewußtſein des ungehinderten
gewaͤhrt. Woraus deutlich erhellt, daß er die Luſt eigentlich nur
begehrt als Probe und Bewaͤhrung einer zur Vollkommenheit
gediehenen naturgemaͤßen Handlung; ſo wie er den Trieb nach
Ehre zulaͤßt, als Trieb das eigne Urtheil durch Andere zu be—
ſtaͤtigen. Ihm aͤhnlich und ihn erlaͤuternd iſt hierin auch
Spinoza. Denn die Verknuͤpfung des Gefuͤhls mit der Thä=
tigkeit, welche in jenem doch nur willkuͤhrlich und faſt zufaͤl—
lig erſcheint, iſt bei dieſem aufs innigſte verwebt in den Gang
ſeiner Gedanken und das eigenthuͤmliche ſeiner Weltbetrach—
tung. Nicht zu trennen iſt ihm, wie von dem Gedanken die
Veraͤnderung des Leibes, ſo auch der Gedanke von dem Be—
wußtſein deſſelben. Seine Luſt iſt der Uebergang in einen
Zuſtand groͤßerer Kraft und Wirklichkeit, und der Gedanke
daran und das Bewußtſein dieſes Gedankens, alles in Einem
ungetrennt und ungetheilt. Aber dieſes leztere noch zumal
fuͤr den Willen beſonders auszuſcheiden, waͤre fuͤr ihn das
inhaltleerſte geweſen unter allem denkbaren, die nichtige Vor—
43
ſtellung einer bloßen Vorſtellung. Daher ſchließt er auch
von dem ethiſchen Gebiet alles aus, was nur einen Theil des
Mienſchen zu größerer Vollkommenheit foͤrdert oder dieſe anzeigt,
und ſomit den groͤßten Theil der eigentlich ſogenannten und
von den Mehreſten um ihrer ſelbſt willen geſuchten Luſt, von
welcher er ſogar ſagt, ſie koͤnne Mittel oder Art und Weiſe
des Todes ſein. Ja die Art, wie er ohne weiteres aus dem
auf die bloße Selbſterhaltung gerichteten Geſez aufs natürs
lichſte folgert, daß das ethiſche, nemlich die reine Thaͤtigkeit,
um ihrer ſelbſt willen muͤſſe geliebt werden, dieſe zeichnet
gleichſam die ſchaͤrfſte Grenzlinie zwiſchen beiden Syſtemen,
dem der Luſt und dem der Thaͤtigkeit. Aus dieſen Beiſpielen,
mit einander verglichen, offenbart ſich deutlich, daß das Hans
deln und die Beziehung auf daſſelbe im Gefuͤhl ſelbſt da, wo
ſie in der vorſtellenden und erklaͤrenden Anſicht ungetrennt
ſind, doch fuͤr den Willen niemals eins und daſſelbe ſein
koͤnnen, fo daß es, wie diejenigen unter den Neueren behaup—
ten, welche Vollkommenheit und Gluͤkſeligkeit zuſammenſchmel⸗
zen wollen, gleichguͤltig ſei, ob auf dieſes oder jenes der Wille
zunaͤchſt gerichtet werde. Sondern es ſind vielmehr beide
Hinſichten ſittlich durchaus verſchieden, ſo gaͤnzlich, daß jeder
ethiſche Grundſaz ſich entweder auf eine von beiden beziehen,
oder auf der einen Seite leer und auf der andern unrein und
zuſammengeſucht erſcheinen muß. Welche nun rein auf die
Luſt gehen, wobei der Gegenſtand, von dem ſie hergenommen
werden muß, wenigſtens fuͤr die gegenwaͤrtige Beurtheilung
gleichguͤltig iſt, die ſind leicht zu erkennen, wenn man das obige
im Auge behaͤlt. Dagegen haben die, welche die Thaͤtigkeit
zum Ziel genommen, ſo ſehr in anderer Hinſicht von einander
abweichende Geſtalten, daß auch dieſe Aehnlichkeit nicht von
Jedem jederzeit leicht erkannt wird. Zuerſt ſondern ſich ab
diejenigen Grundſaͤze, in denen eine Beziehung auf die Gott—
heit ausgedruͤkt wird, nemlich die auch von einander gleich
unabhaͤngigen wie verſchiedenen des Platon und des Spinoza,
dieſer der Erkenntniß Gottes, jener der Veraͤhnlichung mit
4A 5
ihm. Dann ſind wiederum unter denen, welche bei dem Men—
ſchen allein, ihn nur mit ſich ſelbſt vergleichend, ſtehen blei—
ben, einige zu unterſcheiden, welche mehr vom Platon ausge—
hend ein Zwiefaches im Menſchen annehmen. So behaupten
die Stoiker, daß wenn auch der anfaͤngliche Zuſtand des
Menſchen keinesweges widerſittlich iſt, indem er etwa auf die
Luſt ausginge, ſondern auch da ſchon die Thaͤtigkeit fein Ge⸗
ſchaͤft iſt, nemlich die der Selbſterhaltung, doch hernach erſt
die Vernunft, als ein neues oder neu im Bewußtſein gefun—
denes hinzu kommen muͤſſe, um ein neues, nemlich das ethi—
ſche Leben zu bilden. Mit ihnen ſtimmt am naͤchſten uͤber—
ein, nicht etwa Kant; denn man thut Unrecht ihrem Aus—
drukk, das Sittliche ſei ein uͤbereinſtimmendes Leben, wenn
auch darin urſpruͤnglich von der Uebereinſtimmung mit der
Natur keine Erwaͤhnung geſchehen, doch jenen Sinn beizulegen,
da er offenbar nur auf die Gleichartigkeit alles Ethiſchen geht,
wie genugſam erhellt aus Vergleichung mit der Erklaͤrung,
die Geſinnung ſei die Quelle der Lebensfuͤhrung, aus welcher
die einzelnen Handlungen herfließen. Jedoch aber ſtimmt mit
ihnen ſowol an ſich als auch in der Vielfaͤltigkeit der For-
meln auf vielfache Art uͤberein Fichte, welcher eben ſo, aus—
genommen daß er dem natürlichen Menſchen nur die Luft
anweiſet, einen gedoppelten Trieb ſezt, wovon der lezte, fitte
liche, abhaͤngt von dem Gefundenhaben der Freiheit, oder wel—
ches eins iſt, der Vernunft. Auch wie Jene vergnuͤgt er ſich
an einer natürlichen Geſchichte des Menſchen in der vorſittli-
chen Zeit und feines Ueberganges aus einem Zuftande in den
andern. Die Gleichartigkeit alles Sittlichen aber wird bei
ihm dadurch ausgedruͤkt, daß es alles, als in einer Reihe
liegend geſezt wird. Beſonders aber laͤßt ſich die Vielfaͤltig⸗
keit der ſtoiſchen Formeln nicht beſſer als durch die ſeinigen
erlaͤutern, und bei der mangelhaften Kenntniß jener Schule
der Zuſammenhang mancher ſpaͤteren mit den fruͤheren, und
wie ſich in der einen mehr der gute in der andern der boͤſe
Geiſt des Syſtems offenbart hat, faſt nur aus ihm verſtehen.
45
So, wenn man denkt an des Fichte Erflärung des Gewiſ—
ſens und an ſeine Weltordnung: ſo uͤberraſcht die Formel des
Chryſippos, tugendhaft leben heiße leben in Uebereinſtimmung
mit dem einem Jeden einwohnenden Daͤmon, gemaͤß dem
Willen des allgemeinen Weltordners. Wie nun Archidemos
einen dem Scheine nach beſtimmteren Ausdrukk aufgebracht,
nemlich in jedem Falle das geziemende zu thun, ſo auch Fichte,
in jedem Augenblikk die Beſtimmung zu erfuͤllen; und wie
der ſtoiſche Diogenes ſich noch gehaltreicher und in Beziehung
auf das vorſittliche Leben ſo ausdruͤkt, vernunftmaͤßig han—
deln in der Auswahl des von der Natur angeſtrebten: ſo be—
zeichnet auch Fichte das Geſchaͤft des ſittlichen Triebes, als
ein Auswählen aus dem vom Naturtriebe geforderten, als
ein den Endzwekken gemaͤßes Behandeln der Gegenſtaͤnde, ſo—
nach die praktiſche Wiſſenſchaft als eine Einſicht von den
Endzwekken der Dinge, woraus man ſieht, beſſer als ſonſt,
wie dieſe ſpaͤtere ſtoiſche Formel ſich wieder anſchließt an
jene fruͤhere des Chryſippos von dem Leben nach richtiger
Schaͤzung deſſen, was ſich natuͤrlich ereignet. Daß nun auch
Kant, wenn gleich mehr von weitem ſich dieſen anſchließt, be⸗
darf kaum einer weiteren Ausfuͤhrung. Denn, daß ſein ſittli—
ches ein Thun iſt, wird keiner laͤugnen, auch nicht, daß es
durch eine neue, durch die Betrachtung der Vernunft hinzu—
kommende Kraft, heiße ſie nun Trieb oder Triebfeder oder
wie ſonſt immer, bewirkt wird. Andere, mehr dem Spinoza
gegenuͤberſtehend, der ohne eine ſolche Zwiefachheit den ſittli—
chen Trieb unmittelbar als den Erhaltungstrieb des Ganzen
darſtellt, unterſcheiden nur das Handeln und Leiden, das
Aeußere und Innere, das Eigne und Fremde. Dieſes thaten
die Cyniker, deren wahre Idee wol nicht eine der Bildung
und Geſelligkeit entgegenſtehende Natureinfalt geweſen iſt, ſon—
dern eine Selbſterhaltung und ein Leben aus eigner Kraft,
wobei ſie, nur auf eine andere Art als andere hernach, uͤber—
ſehen, wie auch die Geſelligkeit und ihre Fruͤchte ſchon als
ein durch die eigne Kraft des Menſchen entſtandenes zu be—
46
trachten find. Denn ein folcher Gedanke liegt offenbar in ih⸗
ren urſpruͤnglichen Entgegenſezungen zwiſchen Gluͤkk und
Muth, Geſez und Natur, Leidenſchaft und Vernunft. Eben
hieher werden auch diejenigen unter den Neueren gehoͤren, da—
fern es anders ſolche giebt, denen es rein und unvermiſcht
ein Ernſt geweſen waͤre, um den Grundſaz der Vervollkomm—
nung. Denn eine eigne Stelle gebührt doch dieſem Grunds
ſaz allerdings, und es ſcheint in dem gegenwaͤrtigen Zuſam—
menhange gar nicht leicht zu begreifen, wie Kant es moͤglich
gemacht habe, ihn ebenfalls auf den der Gluͤkkſeligkeit zurüfs
zuführen, und wie er nicht habe verſtehen koͤnnen, daß Voll
kommenheit in praktiſcher Bedeutung etwas anderes ſein ſolle,
als Tauglichkeit zu allerlei Endzwekken, welche ja ihm ſelbſt
zufolge nur den Namen einer pragmatiſchen verdienen wuͤrde.
Haͤtte er auch nur darauf geachtet, wie die Cyniker, denen
gewiſſermaßen die neueren Stoiker ſich wieder naͤher anſchließen,
und eben fo Spinoza alle ethiſchen Unterſchiede aus dem Hans
deln und Leiden, aus der recht oder vergeblich und gar nicht
gebrauchten Kraft entwikkelt hatten: ſo koͤnnte ihm nicht ent⸗
gangen ſein, wie gar wohl jener Begrif der Vollkommenheit,
da unter dem Worte verſtanden wird die Vollſtaͤndigkeit ei⸗
nes Dinges in ſeiner Art, eine anordnende Anwendung finde
auf den Menſchen, als ein, wie er doch ſelbſt will, eigentlich
handelndes Weſen gedacht. Ja ſchon die gemeine Erklaͤrung
von Zuſammenſtimmung des zufaͤlligen mit dem weſentli—
chen, wiewol fie dem Buchſtaben nach ſehr ſchlecht iſt, und
auch die zum Grunde liegende Vorſtellung nicht ruͤhmlich, da
nemlich der Menſch fuͤr ſich und vor dem Handeln mithin
als ein Ding gedacht fuͤr das weſentliche, alles Handeln aber
fuͤr das zufaͤllige genommen wird, haͤtte ihn dennoch von
ſeinem Orte aus an die Bedeutung der aͤcht ſtoiſchen Formeln
erinnern muͤſſen, in denen die ununterbrochene Thaͤtigkeit der
hoͤheren Kraft des Menſchen ſo offenbar und allein die Haupt⸗
ſache iſt. Haͤtte er aber den Gedanken beſſer verſtanden als
die meiſten, welche ihn vorbrachten, und dabei an die Voll⸗
. 47
kommenheit eines Kunſtwerkes gedacht: fo hätte ſich ihm ein
eigenthuͤmlicher und tieferer Sinn enthuͤllen muͤſſen, in Be—
ziehung auf welchen dieſer Ausdrukk leicht der aͤchteſte ethiſche
iſt, weil er der Wahrheit nach ſich unmittelbar auf den Ge—
danken des Ideals bezieht. Was aber diejenigen betrift
welche ſelbſt den Grundſaz der Vollkommenheit anerkennend,
ihn dennoch dem der Gluͤkſeligkeit fuͤr gleichartig oder ganz
gleich erklaͤrt haben, weil nemlich die aͤchte Farbe und Dauer
der Gluͤkſeligkeit am Ende doch wieder von der Vollkommen—
heit abhinge: ſo iſt offenbar, daß ſie entweder ſich ſelbſt ſo—
wol als die andern nicht verſtanden, oder einer ganz unwiſ—
ſenſchaftlichen Friedliebe und Einigungsſucht Raum gegeben,
welche das innere verachtend ſich an einer bloß aͤußerlichen
Uebereinſtimmung ergoͤzt. Zu vergleichen iſt die Sache, als
ob etwa einige ſich ſtritten, welches wol die Bahn der Welt—
koͤrper waͤre, Kreis oder Ellipſe, und wenn es nicht zum Ende
gedeihen wollte, dann endlich die lezteren ſpraͤchen unter ſich
und zu den erſten, daß es gar nicht der Mühe werth wäre
den Streit fortzuſezen, denn der Kreis ließe ſich vollkommen
als eine Ellipſe betrachten, und ſo man nur die Brennpunkte
zuſammenruͤkte, wuͤrden ja alle Ellipſen Kreiſe. Wenn nun
aber Jene nichts wuͤßten von den Brennpunkten, auch ſich
bis zu der Idee einer Function niemals erhoben haͤtten: ſo
waͤren doch weder beide Partheien einig, noch weniger aber
die Sache ſelbſt wirklich auf eine ſolche Art dieſelbe.
Ob aber Kant, nachdem er dieſen Gegenſaz mit Unrecht
aufgehoben, wenigſtens einen andern wahren aufgeſtellt, indem
er unter dem Namen des Formalismus ſeinen Grundſaz nicht
nur von den ſubjectiven, ſondern auch die objectiven, wie er
ſie nennt, eingeſchloſſen, von beiden als dem Materialismus
der Sittenlehre abſondert; dies iſt ſehr zu bezweifeln. Denn
die Beſchuldigung, daß bei jenen allen das Gebotene auf etz
was außerhalb bezogen werde, iſt fuͤr die lezteren ungerecht,
indem bei ihnen dieſes außerhalb nur ein ſolches iſt, wie man
von dem Ganzen ſagen kann, daß es außerhalb des Theils
48
liegt. Vielmehr läßt fie fi) fo auf Kant beſonders zuruͤkk—
werfen, wie ſehr er auch davon frei zu ſein glaube, denn er
erlangt dieſen Schein nur durch die Zweideutigkeit in dem
Ausdrukk ein vernuͤnftiges Weſen, der ſowol bedeuten kann
ein ſolches, welches die Vernunft hat als Vermoͤgen, und
auch ein ſolches, welches von ihr wirklich getrieben, und deſ—
fen uͤbriges alſo von ihr gehabt wird. Kant nun muß vor—
ausſezen, jedes vernünftige Weſen in dem erſteren Sinn wolle
auch eins in dem lezteren ſein, und ſein Grundſaz geht aus
auf die Vollkommenheit eines ſolchen. Warum alſo dies nicht
ebenfalls ein Angeſtrebtes, eine Materie des Wollens zu nens
nen ſei mögen andere beſſer begreifen. Ja es findet ſich lei-
der bei Kant noch ein aͤrgeres außerhalb, indem ſein hoͤchſtes
Gut, als das zulezt und im Ganzen gewollte, einen Be—
ſtandtheil, die wol ausgetheilte Gluͤkſeligkeit in ſich faßt, wo—
von in dem jedesmal und einzeln gewollten nicht ein verhaͤlt—
nißmaͤßiger Theil, ſondern hoͤchſtens in der Wuͤrdigkeit glüf-
lich zu ſein, daß ich ſo ſage, der Logarithme davon enthalten
iſt. Doch dieſes waͤre hier vorweggenommen, und kann nicht
weiter ausgefuͤhrt werden. |
Es iſt aber nicht unbemerkt vorbeizulaſſen, wie fi uns
oben bei Anordnung der verſchiedenen Syſteme, deren Grund—
ſaz Thaͤtigkeit iſt im Gegenſaz gegen die Luſt, ein neuer an—
derer Gegenſaz von ſelbſt aufgedrungen hat, den wir auch bei
den Sittenlehrern der Luſt wiederfinden, nemlich zwiſchen de—
nen, welche einen zwiefachen Trieb annehmen, ſo daß ſie den
ſittlichen dem natuͤrlichen entgegenſtellen, und denen, welche
das ethiſche Leben nicht aus einem beſondern, erſt ſpaͤter er—
wachenden, ſondern nur aus dem allgemeinen das ganze Le⸗
ben umfaſſenden Triebe entwikkeln, ſo daß der ſittliche Menſch
nicht etwas neues und anderes, ſondern nur auf beſſere Art
das nemliche zu thun ſcheint, was auch jeder andere von
ſelbſt thut, und ſeiner Natur gemaͤß thun muß. Wie nun
von denen, welche auf Thaͤtigkeit ausgehn, die meiſten, aber
nicht alle, ein zwiefaches ſezten: ſo wird dieſes von denen,
welche
49
welche die Luft zum Ziel haben, groͤßtentheils geläugnet.
Denn ſchon die Alten beriefen ſich darauf, daß auf die Luſt
der allgemeine Trieb alles lebendigen gehe, und auch die
gallikaniſche Schule laͤugnet, daß aus einem andern Bewe—
gungsgrunde als dem Eigennuz innerhalb der menſchlichen
Natur gehandelt werden koͤnne, ſo daß ſich nur der wohlver—
ſtandene unterſcheiden laſſe von dem andern. Ja ſelbſt die
anglikaniſche, welche eine doppelte Quelle der Luſt annimmt,
die idiopathiſche nemlich, und die ſympathiſche, und ſo, daß
jene, ſo bald ſie ſich ausſchließend ſezt, das unſittliche iſt,
ſucht doch auch oͤfters beide als der eigentlichen und innerſten
Natur nach daſſelbe darzuſtellen. Weſentlich aber iſt es doch
nicht den Syſtemen der Luſt ſich ganz auf dieſe Seite zu be—
geben. Vielmehr koͤnnte es und ſollte auch wol herzhaftere
Vertheidiger derſelben geben, welche den Muth haͤtten, den
entgegengeſezten auf die Thaͤtigkeit ſelbſt gerichteten Trieb
nicht fuͤr eine Taͤuſchung und einen Mißverſtand, ſondern auch
fuͤr einen wirklichen Trieb, naͤmlich fuͤr den unſittlichen Luſt
und Leben vernichtenden, zu erklaͤren, welches erſt die muthige
und der gegenwärtigen Zeit wuͤrdige Vollendung dieſer Den—
kungsart ſein wuͤrde. Dieſer Gegenſaz nun, der ſich eben
dadurch als ein eigner bewaͤhrt, daß auf jeder Seite ſich
Theilhaber von beiden Seiten des vorigen vereinigen, ſcheint
auf den erſten Anblikk ſo beſchaffen, daß der eine ſeiner bei—
den Saͤze die Ethik ihrer eigentlichen Wuͤrde beraubt. Denn
nur da, wo ein zwiefacher Trieb angenommen wird, ſcheint
ein ſcharfer und ſchneidender Unterſchied zu ſein zwiſchen dem
ſittlichen und widerſittlichen; die andere Seite hingegen
Veranlaſſung zu geben, daß das boͤſe nur verwandelt werde
in einen Irrthum, und das gute in eine Einſicht, wodurch
denn die Ethik von der Wuͤrde einer Wiſſenſchaft herabſinken
muͤßte zu dem niedrigeren Range einer techniſchen Anleitung.
So haben es Manche gemeint, welche die Tugend eine Wis
ſenſchaft genannt haben, und noch mehrere, welche einen ſol—
chen Ausſpruch, wo er anders und beſſer gemeint war, nur
Schleierm. Grundl. | D
50
in dieſem Sinne zu erklaͤren gewußt. Allein es duͤrfte dieſes
wol nur ein Schein ſein, daß ein innerhalb einer Wiſſenſchaft
gefundener Gegenſaz auch uͤber ſie hinausgehen koͤnnte. Denn
jene Annaͤherung des ſittlichen und widerſittlichen aneinander |
und die daraus zu folgernde Aufhebung der Ethik als wah—
rer Wiſſenſchaft, dies beides hebt ſich immer ſelbſt wieder auf;
indem doch uͤberall zugegeben wird, daß der Irrthum durch
die bloße Belehrung nicht verſchwindet, mithin als inwoh—
nende Urſach deſſelben doch eine Handlungsweiſe oder Den—
kungsart angenommen werden muß, an welcher dann das
ſittliche einen ihm ähnlichen reellen Gegenſaz erhält. So
haben ja auch die Stoiker ohnerachtet ſie eigentlich ein
zwiefaches Treiben annahmen, dennoch die einzelnen Tugen⸗
den als Wiſſenſchaft erklaͤrt; wir ſehen aber aus den
Bedeutungen, in welchen ſie dieſes Wort genommen, wie
dunkel ſie uns auch Johannes Stobaios aufbehalten hat, das
praktiſche darin ganz deutlich, wodurch denn der Widerſpruch
zwiſchen ihrem übrigen Syſtem und ihrem Begrif vom unfittlis
chen wegfaͤllt. Daher dieſes nur fuͤr eine Verſchiedenheit der
Anſicht zu halten, welche im inneren nichts veraͤndert. So
nemlich, daß die Frage über die Einheit des Triebes, wie fie
auch beantwortet werde, dem Daſein der Sittenlehre keinen
Eintrag thun kann, demnach aber jener Unterſchied, ob auch
an dem ſittlich zu bentheilepdeg Zuſtande zwei verſchiedene
Triebe als wirkſam gedacht werden oder nur einer, wie er
ſich gefunden, auf ſeinem Werthe beruhen muß.
Dieſem aͤhnlich, aber doch wohl von ihm zu unterſcheiden,
ift ein anderer Gegenſaz, welcher ſich bezieht auf das Bere
haͤltniß des ſittlich bewirkten zu dem im vorſittlichen Zuſtande
bewirkbaren; ob nemlich das dem ethiſchen Grundſaz gemaͤße,
es ſei nun Handeln oder Genießen, ein durch ihn ganz und
gar eigenthuͤmlich und neu hervorgebrachtes iſt, oder nur eine
eigne Beſtimmung und Begrenzung eines anderwaͤrts her und
auch ohne ihn vorhandenen. Vielleicht wird dieſer Unterſchied
deutlich durch Vergleichung mit der verſchiedenen Art, wie eine
Raumerfuͤllung in beſtimmter Geſtalt kann hervorgebracht wer⸗
51
den. Naͤmlich wenn eine lebendige und bildende Kraft nach
ihrem Geſez fi) ausdehnend bewegt, und in irgend einem
Zeittheil als feſtgehalten gedacht wird: ſo entſteht auf dieſe Weiſe
dann das Erfuͤllende und ſeine Geſtalt zugleich, und iſt nur aus
demſelben Grunde zu erklaͤren. Wenn hingegen das, was eine
ſolche Kraft bewirkt hat, von außen her nach einer beſtimmten
Vorſchrift abgeſchnitten und begrenzt wird: dann iſt das Ers
fuͤllende und das Einſchraͤnkende jedes ein anderes, und je—
des mit einem ihm fremden in Beruͤhrung geſezt. Das dem
erſten aͤhnliche wuͤrde ein freies oder bildendes ethiſches Prin—
cip fein; das dem lezteren zu vergleichende aber ein beherr—
ſchendes und beſchraͤnkendes. Und von beiderlei Art finden
ſich ſowol in den Syſtemen der Luſt als der Thaͤtigkeit, wie
die Beiſpiele es näher erläutern werden. So iſt das ſitt—
liche des Epikuros lediglich beſchraͤnkend; denn es bildet aus
dem rohen Stoff, dem Streben oder Fliehen des natürlichen
Triebes nach Genuß die tugendhafte Schmerzloſigkeit und rus
hige Luſt des Weiſen, welche, wo jener Trieb ſich nicht ge—
aͤußert hat, auch nicht hervorgebracht werden kann, wonach
alſo das ſittliche nicht ſelbſt erzeugend und bildend iſt.
Wohl aber hat dieſe Eigenſchaften das der aͤlteren Kyrenaiker;
denn ihr ſittliches iſt ſelbſt jener natuͤrliche Trieb nach Luſt,
wie er ſich nach ſeinen eigenen Geſezen bewegt, und nur das
unſittliche iſt beſchraͤnkend und verneinend, nemlich die Traͤg—
heit, welche die Luſt recht auszubilden verhindert, und das
regelloſe Tichten der Unklugheit, welche unbewußt den kuͤnfti⸗
gen Schmerz als verneinende Groͤße mit hervorbringt. Eben
ſo iſt lediglich beſchraͤnkend und an einem andern ſich aͤu—
ßernd die Sittlichkeit der gallikaniſchen Schule, wie ſie am
beſten durch den Helvetius vorgeſtellt wird. Denn die als
das ſittliche vorgeſtellte Einſtimmung zum gemeinen Nuzen
iſt nicht die Quelle eigner Handlungen, ſondern nur an dem⸗
jenigen aͤußert fie ſich, was der allgemeine Trieb der Selbfts
liebe gefordert hat. Selbſtthaͤtig hingegen erſcheint größtene
theils die der anglikaniſchen Schule, weil, wenn auch in vies
D 2
.
52
len Faͤllen die Handlung, die aber nur das zufaͤllige und
nicht gewollte iſt, durch eine andere Kraft hervorgebracht wer—
den koͤnnte, doch nicht eben dies gilt von der eigenthuͤmlichen
Luſt, welche das unmittelbar angeſtrebte iſt, und nur dem
Triebe folgt, der durch eine neue ſonſt nicht denkbare Art von
Handlungen ſich aͤußert. Gleicherweiſe findet ſich derſelbe
Unterſchied in den auf die Thaͤtigkeit gehenden Darſtellungen.
So iſt zuerſt ganz beſchraͤnkend, und alſo in der Ausfuͤhrung
von einem gegebenen abhaͤngig der Grundſaz der Stoiker. Denn
auch nachdem die hoͤhere Natur zum Bewußtſein gekommen, iſt
dadurch nicht eine neue unmittelbar ſelbſt handelnde Kraft gegeben;
ſondern nur eine neue Art uͤber die Forderungen des natuͤrlichen
Selbſterhaltungstriebes zu entſcheiden, nemlich ſo, daß die
Erhaltung der Vernunft überall mit eingeſchloſſen und vorans
geſtellt wird. Dies muͤſſen ſchon ihre Gegner unter den Al—
ten getadelt haben, weil auch Cicero es erfahren hat, und
wiewohl nicht der Sache angemeſſen es ruͤgt, indem er ihnen
vorwirft, fie nähmen den Antrieb zu handeln anders woher
als das Geſez. Naͤmlich, das ethiſche Princip kann bei
ihnen die Thaͤtigkeit, welche jedesmal erfordert wird, nicht
hervorbringen, wenn nicht zuvor durch den blinden Naturtrieb
erſt geſezt worden, daß uͤberhaupt etwas geſchehen ſolle; denn
aus dieſem entſteht immer jede erſte Aufforderung zum Han—
deln. Worin niemand ſich irren laſſen moͤge durch jener oben
ſchon angefuͤhrte Erklaͤrung des ſittlichen als Quelle der
Lebensfuͤhrung; denn dieſe ſagt bloß aus, daß in allen ſitt—
lichen Handlungen das beſtimmende Princip immer eins und
das gleiche ſei. Das nemliche begegnet ferner dem ihnen un—
be wußterweiſe fo ſehr nachtretenden Fichte durch feine, jenen
ganz ähnlich, in allen ſittlichen Handlungen geſezte Verknuͤp⸗
fung des hoͤheren Triebes mit dem natuͤrlichen. Denn auch
dieſe beſteht nicht etwa nur in der Gleichheit des aͤußerlich
dargeſtellten Inhaltes, welche zufaͤllig ſein koͤnnte, wie ſie
Spinoza darſtellt in dem Saz, daß jede Handlung mit jeder
Art von Gedanken koͤnne verbunden ſein. Sondern, wenn⸗
—
53
gleich Fichte auch davon ausgeht, kein Wollen ohne Handeln,
und kein Handeln ohne ein aͤußerlich vorhandenes und behan—
deltes: ſo iſt doch jenes Verhaͤltniß bei ihm ein anderes und
innigeres; fo nemlich, daß der höhere Trieb den Stoff jedes⸗
mal nehmen muß vom Naturtriebe, daß er jedesmal ein von
dieſem grade izt gefordertes ſein muß, und das Geſchaͤft des
reinen Triebes eben wie bei den Stoikern nur beſteht in der
Auswahl desjenigen aus der Geſamtheit jener Forderungen,
was ſeiner Form angemeſſen iſt. Es erhellt dies nicht nur
aus den Ausdruͤkken und dem Gang der Verhandlungen
ſelbſt, ſondern ganz ſonnenklar aus der limitativen Beſchaf—
fenheit aller ſeiner Geſeze, beſonders aber, doch nicht aus—
ſchließend, derer welche ſich beziehen auf die Behandlung des
Leibes. Wollte etwa hier jemand ſagen, das limitative Ge⸗
fe; ſei doch nur eines, und ſchon vorher ſei aufgeſtellt das
poſitive: ſo iſt zu antworten, es werde eben behauptet, daß
dies gar nicht drei Geſeze waͤren, ſondern nur eines, erſt in
ſeinen entgegengeſezten Beſtandtheilen dargeſtellt, und dann
aus denſelben verbunden. Denn wenn der ſittliche Trieb hier
etwas aus und fuͤr ſich ſelbſt hervorzubringen haͤtte: ſo wuͤrde
er ſelbſt auffordern zu Handlungen, welche Beitraͤge waͤren
zur Bildung des Leibes als Werkzeug, ohne alle Hinſicht auf
Genuß. Und da dieſe in ſyſtematiſcher Einheit nach dem Prins
cip der Vervollkommnung koͤnnten fortgeſezt werden: ſo wuͤr⸗
den dann die Anforderungen des Naturtriebes, die auf den
Genuß gerichtet ſind, wenn ſie auch zugleich auf Bildung
koͤnnten hingelenkt werden, dennoch abzuweiſen ſein, als weit
unter jenem Ideal und nicht in der ſyſtematiſchen Reihe ge⸗
legen, und wuͤrden ſaͤmmtlich im voraus unter die Klaſſe von
Handlungen fallen, zu welchen die Zeit fehlt, nicht nur um
fie zu vollbringen, ſondern ſelbſt um nur über fie zu berath⸗
ſchlagen. Ein Bewußtſein dieſes Mangels leuchtet doch her—
vor, wie denn uͤberhaupt ein hoͤherer Grad von Bewußtſein
dieſem Sittenlehrer nicht abzuſprechen iſt, aus dem Saz, man
ſei nicht gehalten, gewiſſe, nur haͤtte er ſagen ſollen alle, Tu⸗
54 | y
genduͤbungen aufzuſuchen, ſondern die Pflicht fei nur fie zu
vollbringen, wenn ſie ſich darbieten. Dieſes Sich darbieten aber
iſt nichts anderes, als ihr Gegebenſein durch den Naturtrieb.
Nicht minder gilt auch das naͤmliche von Kants ethiſchem
Grundſaz, in welchem dieſe Eigenſchaft auf das genaueſte zus
ſammenhaͤngt mit der, fuͤr welche er ihn am meiſten lobt, daß
er nemlich bloß formell fein will. Ja, es iſt wohl nicht noͤ⸗
thig erſt zu zeigen, was ſich Jedem auf den erſten Anblikk
darſtellt, daß dieſer Grundſaz, werde er auch als beſtaͤndig
rege Kraft gedacht, nie etwas durch ſich ſelbſt hervorbringen
kann. Denn wenn ſeine Wirkung nur darin beſteht, daß
beachtet werde, ob die Maxime einer Handlung die Faͤhigkeit
habe, ein allgemeines Geſez zu ſein: ſo muß ja ehe dieſe
Wirkung eintreten kann, die Maxime zuvor gegeben ſein, und
wie anders wollte fie dies, wenn nicht als ein Theil des Na=
turzwekkes. Auch iſt es ganz gleich, ob man ſich an dieſen
Ausdrukk des Grundſazes haͤlt, oder an jenen anderen von
Behandlung der Menſchheit als Zwekk, und von dem zu den⸗
kenden Reich der Zwekke. Sollte indeß Jemand noch Zweifel
haben, der iſt zu verweiſen an die Art, wie Kant ſelbſt ſei⸗
nen Grundſaz anwendet, und durch Beiſpiele bewaͤhrt. So
iſt unter andern die Frage, was die Vernunft zu thun befiehlt
mit niedergelegtem Eigenthum. Wuͤrde nun hier der ſittliche
Trieb durch ſich ſelbſt und das Geſez, welches er vertritt,
auf eine beſtimmte Handlungsweiſe gefuͤhrt: ſo muͤßte dieſes
dargeſtellt werden koͤnnen, durch eine Fortſchreitung vom alle
gemeinen zum beſonderen, und der Trieb wuͤrde dann gedacht
als von dem Augenblikk des Empfangs an ſchon in dem
Beſtreben, auf die beſchriebene Weiſe damit zu verfahren.
Hier aber kann die Regel nicht gefunden werden, als nur
durch Vergleichung der verſchiedenen moͤglichen Faͤlle mit dem
Geſez; und ſo kann auch der ſittliche Trieb nur gedacht wer⸗
den als lediglich leidentlich, bis ihm kommt entweder die un⸗
mittelbare Aufforderung zur Wiedergabe oder die Verſuchung
zum Unterſchlagen. Daher auch in dem Erweis dieſer Regel
55
nicht zugleich die erwieſen iſt, auch alle Fahrlaͤßigkeit mit ſol⸗
chem Eigenthum zu vermeiden, weil nemlich dieſes, von Sei—
ten des Naturtriebes aus angeſehen, eine andere Handlung
iſt, und alſo auch fuͤr den ſittlichen Grundſaz ein anderer Fall
ſein muß, welches, wenn dieſer auf die beſchriebene Art ſelbſt—
thaͤtig waͤre, ſich ganz anders verhalten muͤßte. Damit aber
niemand glaube, es koͤnne etwa, wo das ſittliche als Thaͤ⸗
tigkeit erſcheint, der Grundſaz in keinem andern als dieſem
Verhaͤltniß vorkommen: ſo iſt zu zeigen, wie allerdings bei
Andern das ſittliche ſich als ſelbſtthaͤtig und eignes bildend
darſtelle. Und zwar iſt dieſes am deutlichſten zu ſehen bei
Plato und Spinoza, von denen freilich der leztere das Stre⸗
ben ſein eigenthuͤmliches Daſein zu erhalten als das Weſen
aller beſeelten Dinge und als den lezten Grund alles menſch—
lichen Handelns aufſtellt, wie er denn ſchon oben unter dies
jenigen geſezt iſt, welche von einem zwiefachen Triebe in Eis
ner Seele nicht hoͤren wollen. Aber an ihm zeigt ſich eben
am deutlichſten, wie der Gegenſaz, welchen wir jezt betrach—
ten von jenem unterſchieden iſt. Denn obſchon ein und ders
ſelbe Trieb kann und muß er doch in jedem Falle in einer
von dieſen beiden Geſtalten erſcheinen. Entweder nemlich das
wahrhaft eigenthuͤmliche Daſein des Menſchen, fein im enges
ren Sinne ſogenanntes Handeln, zum Gegenſtande habend,
und was fo entſteht, iſt das ſittliche; oder aber das ges
meinſchaftliche mit andern Dingen verknuͤpfte und von ihnen
abhaͤngige Daſein, und das nur ſcheinbare Handeln, wovon
die Urſache zum Theil außerhalb des Menſchen zu finden iſt,
daher es mit Recht ein Leiden heißt, und das ſo entſtandene
ermangelt der ſittlichen Beſchaffenheit. Von dieſem nun iſt
jenes nicht etwa ein Umbilden und Verbeſſern des lezten oder
ein nur auf das lezte erbautes; ſondern von vorne her ein
eignes. Daher auch Spinoza ausdruͤklich behauptet, daß das
Fliehen des boͤſen, das Vernichten eines etwa ſchon voran
gedachten und angeſtrebten unſittlichen gar kein eignes Ge—
ſchaͤft ſei, ſondern nur mittelbar und von ſelbſt erfolge, in-
56
dem das gute geſucht wird. Hierin zeigt ſich am ſchaͤrfſten
der Unterſchied von Jenem, als bei welchem das Gute nur
dadurch zu Stande kommt, daß das Boͤſe ausgeſchloſſen
wird; und ſo am beſten bewaͤhrt ſich eine Sittenlehre als
wirklich ein freies und eignes Gebiet des Handelns umfaſ—
ſend. Das nemliche erhellt von ſelbſt von der Formel des
Platon, nemlich der Veraͤhnlichung mit Gott. Denn da es
der Gottheit an allem was Naturtrieb genannt werden mag
ermangelt, und die Thaͤtigkeit der hoͤheren Geiſteskraft in ihr
eine rein aus ſich ſelbſt hervorgehende, ſchaffende und bildende
iſt: fo würde offenbar ein gemeinſchaftliches Glied zur Ver-
gleichung nicht zu finden fein, wenn im Menſchen die Ver-
nunft nur beſchraͤnkend auf ſeinen Naturtrieb handelte, und nur
was jener zuerſt hervorgebracht, hernach auf ihre Weiſe geſtaltete;
ſondern es muß auch bei uns das Verhaͤltniß zu dem niedern
Vermoͤgen nicht das weſentliche des hoͤheren ſein, ſondern
nur die Erſcheinung ſeiner ununterbrochenen Thaͤtigkeit. Von
hier aus nun wird auch zu uͤberſehen ſein, in wie fern dem
Ariſtoteles Unrecht geſchehen, wenn er zu denen gerechnet
wird, deren Sittlichkeit nur von jener beſchraͤnkenden Art iſt,
weil er nemlich die Tugend erklaͤrt als eine gemaͤßigte Nei⸗
gung. Denn es ſoll vielleicht dieſe Erklaͤrung ebenfalls nicht
das weſentliche bezeichnen, ſondern nur die Erſcheinung, und
nicht das ſittliche an ſich erſchoͤpfen, ſondern nur ſo wie es
in einzelnen Faͤllen und ſchon in Beziehung auf Gegenſtaͤnde
ſinnlicher Neigungen vorgeſtellt wird; und er mag wol nie
geglaubt haben, daß die Zuͤgelloſigkeit zum Beiſpiel hervor-
ginge aus demſelben Princip, wie die eigenthuͤmliche Beſchaf—
fenheit einer begierdeloſen wolgeordneten Seele, nur daß es
aufgehalten waͤre im lezteren Falle. Schon iſt dieſes wol zu
merken, daß er nicht redet von einzelnen Aeußerungen der Tu—
gend, als ob dieſe entſtaͤnden durch Erhoͤhung des von Natur
zu ſchwachen, oder durch Maͤßigung des zu ſtarken Triebes auf
einen Gegenſtand, ſondern, daß er redet von der Tugend, als
bleibender einwohnender Eigenſchaft. Daß er nun nicht de⸗
BR
ren Weſen und Entſtehung durch jene Erflärung hat bezeich⸗
nen wollen, koͤnnte man hinreichend ſehen aus der Beſchrei—
bung des gerechten, als des Mittels zwiſchen Schaden und
Gewinn, wo jene Auslegung abgeſchmakter waͤre, als daß ſie
auch einem Einfaͤltigen koͤnnte untergeſchoben werden. Noch
deutlicher aber daraus, daß er uͤberall die Tugend als von
der Luſt begleitet vorſtellt, woraus nach ſeiner ſchon erlaͤuter—
ten Anſicht folgt, daß er fie in der Ausübung als eine ein—
zige von innen heraus gleichſam in einem Zuge vollendete
Handlung denkt, nicht als eine aus dem Zuſammenſtoß zweier
Kraͤfte entſtandene, und alſo gleichſam zerbrochene oder unter—
brochene. Denn nur denen, bei welchen die Sittlichkeit lediglich
beſchraͤnkend iſt, und abhängig in ihren Aeußerungen von ans
deren Trieben, ziemt es ihr die Unluſt zur Begleitung zu ges
ben. Wird nun in Hinſicht auf den vorliegenden Gegenſaz
auch noch nach denen gefragt, welche eine handelnde Sittlich—
keit unter dem Namen der Vollkommenheit einfuͤhren: ſo iſt
uͤber dieſe, weil ſie mehr im Wort uͤbereinſtimmen als im
Gedanken, nichts allgemeines zu ſagen. Sondern Einige
ſchließen ſich dem Platon an durch den Begrif der Kunſtbil—
dung, Andere durch den der freien Thaͤtigkeit dem Ariſtoteles,
Andere den Stoikern durch den der Vernunftherrſchaft; wo-
nach denn die Einen hier, die Andern dorthin zu ordnen ſind.
Daß nun dieſes ein wahrer Gegenſaz iſt, und jeder ethiſche
Grundſaz entweder auf die eine oder die andere Seite deſſel⸗
ben gehoͤrt, iſt aus dem Geſagten offenbar.
Noch aber iſt einer übrig, der vielleicht nicht minder bes
deutend als einer unter den vorigen, ausgezeichnet aber da=
durch iſt, daß er ſich ohnerachtet der großen Mannigfaltigkeit
ethiſcher Grundſaͤze, nicht wie die andern nach beiden Seiten
verſchiedentlich ausgebildet ſchon zeigt, ſondern die eine Seite
deſſelben, wie wol in der Natur eben ſo deutlich gezeichnet,
in den Syſtemen faſt uͤberall nur erſt angedeutet iſt. Es
liegt nemlich in dem Begrif des Menſchen als Gattung, daß
Alle einiges mit einander gemein haben, deſſen Inbegrif die
/
58
menſchliche Natur genannt wird, daß aber innerhalb derſel⸗
ben es auch anderes giebt, wodurch Jeder ſich von den uͤbri—
gen eigenthuͤmlich unterſcheidet. Nun kann der ethiſche Grund⸗
ſaz entweder nur eines von beiden zum Gegenſtande haben,
und dieſem das andere es ſei nun ausdruͤklich oder ſtillſchwei—
gend durch Vernachlaͤßigung unbedingt unterordnen; oder aber
er kann beides das allgemeine und das eigenthuͤmliche nach
einer Idee mit einander vereinigen. Das leztere ſcheint noch
nirgends geſchehen zu ſein. Denn, wiewol ſich nicht einſehen
laͤßt, warum dieſe Stelle ſollte leer ſein muͤſſen, duͤrfte doch
Niemand eine Sittenlehre aufzeigen koͤnnen, welche dem ei⸗
genthuͤmlichen entweder ein beſonderes Gebiet anwieſe neben
dem allgemeinen, oder beide durch einander geſezmaͤßig be=
ſchraͤnkte und beſtimmte; ſondern nur darauf iſt fuͤr jezt zu
ſehen, ob dem allgemeinen das eigenthuͤmliche, oder dieſem
jenes unbedingt untergeordnet wird. Was nun diejenigen
Sittenlehren betrift, welche die Luft als das Ziel und Er⸗
zeugniß der Sittlichkeit aufſtellen: ſo iſt offenbar und auch
von je her bemerkt worden, daß einige Quellen der Luſt ſich
auf die gemeine menſchliche Natur zuruͤkkfuͤhren laſſen, daß
aber auch die beſondere Beſchaffenheit eines Jeden einige hin⸗
wegnimmt und neue hinzuſezt. Hier alſo ift der Natur der
Sache nach, und wenn nicht ein anderes willkuͤhrlich bes
ſtimmt wird, das allgemeine dem eigenthuͤmlichen untergeord—
net und von ihm verſchlungen. Denn von dem, was inner⸗
halb der gemeinſchaftlichen Natur moͤglich iſt, erfolgt doch
nur dasjenige wirklich, was die beſondere Beſchaffenheit zu⸗
laͤßt, und Jeder hat doch lediglich auf das zu ſehen, nicht
was im allgemeinen und unbeſtimmten, ſondern was in ihm
und fuͤr ihn moͤglich iſt. In dem Syſtem des Epikuros nun
zeigt ſich dieſe Unterordnung weniger auffallend, weil, wenn
auch auf der einen Seite das hinwegzunehmende, nemlich der
Schmerz und die Begierde, auf der andern das Ueberſchie⸗
ßende, nemlich die poſitive kizelnde Luſt, bei dem Einen an⸗
ders ſein mag, als bei dem Andern, doch das eigentlich her⸗
—
59
vorzubringende, woraus das hoͤchſte Gut allein beſteht, nem⸗
lich die Schmerzloſigkeit, uͤberall als dieſelbe erſcheint, und
die individuellen Verſchiedenheiten darin nicht bemerkt werden.
Deutlich aber iſt die Sache in dem Syſtem des Ariſtippos,
wo alles zu ſuchende und zu waͤhlende dem Inhalt nach 'ſich
nur unter der Geſtalt des fuͤr dieſen und jenen zu ſuchenden
und zu waͤhlenden darſtellt, und das allgemeine Gebot nur
das Weſen der Luſt ohne alle Beziehung auf ihren Inhalt
ausſprechen kann. Ganz anders hingegen iſt in der anglika⸗
niſchen Schule die aus dem wohlwollenden Triebe entſprin⸗
gende Luſt ausſchließend als das ſittliche geſezt durch einen
auf keine Weiſe zu rechtfertigenden Machtſpruch, indem nem⸗
lich im voraus beſchloſſen wird, es ſolle nicht angenommen
werden, wenn einer ſagte, daß bei ihm der wohlwollende
Trieb zu ſchwach waͤre um eine merkliche Luſt hervorzubrin⸗
gen. Daß dieſes nur ein Machtſpruch ſei, erhellt von ſelbſt;
denn wenn ſie etwa ſich, als auf ihren erſten Grundſaz, da⸗
rauf berufen wollten, daß eben dieſe Schwaͤche die Unſittlich⸗
keit ſei, welche hinweggenommen werden ſoll: ſo muͤßten ſie
aufhoͤren, das Wohlwollen um der Luſt willen zu gebieten.
Was aber diejenigen ethiſchen Syſteme betrift, welche das
ſittliche als Thaͤtigkeit ſezen: ſo iſt klar, daß der nemliche
Unterſchied auch bei ihnen Statt finden kann, und daß ſie,
den nicht gefundenen Fall einer geſezmaͤßigen Vereinigung des
allgemeinen und eigenthuͤmlichen ausgenommen, in ihrem
Grundſaze entweder ein beſtimmendes ſezen koͤnnen, als das⸗
jenige, welchem von Allen nachgeſtrebt, und welches alſo ohne
Hinſicht auf die eigenthuͤmliche Beſchaffenheit des allgemeinen
wirklich werden ſolle mit gaͤnzlicher Vernichtung des eigen⸗
thuͤmlichen, oder daß ſie nur ein an ſich unbeſtimmtes, und
nur in Beziehung auf das eigenthuͤmliche beſtimmtes, ſezen,
nemlich eine ſolche oder ſolche Behandlungsweiſe deſſelben mit
Vorbeigehung des gemeinſchaftlichen. Betrachtet man nun
die hieher gehoͤrigen Darſtellungen der Sittenlehre: ſo findet
ſich faſt uͤberall das eigenthuͤmliche gänzlich, vernachlaͤßigt,
60
und eben daher nicht beſſer als unterdruͤkt, und für unſittlich
erklaͤrt. Bei den Stoikern zum Beiſpiel iſt in dem Begrif
der Naturgemaͤßheit von der beſonderen Beſtimmbarkeit der
Natur gar nicht die Rede; und es waͤre nur ein leerer Schein,
wenn Jemand in dem Ausdrukk, durch welchen ſie gewoͤhn—
lich das ſittliche bezeichnen, und der, wie unſer anſtaͤndig
und geziemend, etwas beſonderes in ſich zu ſchließen ſcheint,
einen Gedanken dieſer Art finden wollte. Vielmehr iſt ihr
durch Alle ſich verbreitender richtiger Verſtand das Allen ge—
meinſchaftliche, und auch ſchon der Weiſe, wie er als Mu-
ſterſtuͤk aufgeſtellt wird, deutet auf ein in gleichen Faͤllen für
Alle gleichfoͤrmiges Handeln; ſo daß, wenn mit Hinſicht auf
ihre beſondere Eigenthuͤmlichkeit Zwei in gleichem Falle vers
ſchieden handeln wollten, nur einer oder keiner der Weiſe
wäre, und einer oder beide das Sittliche verlezten. Auf ih-
rer Seite ſteht auch hierin Fichte, ſowol was jenen Schein
als auch was den wahren Befund der Sache betrift. Denn
auch ſein Ausdrukk Beruf ſcheint etwas fuͤr einen Jeden eig⸗
nes und anderes anzuzeigen, und alſo eine gleiche Deutung
zu beguͤnſtigen, wie auch die beſondere Reihe eines Jeden von
einem eignen Punkte aus. Allein dieſes beſondere haͤngt
nicht ab von einer inneren Eigenthuͤmlichkeit des Menſchen,
ſondern nur von dem Punkte, wo jeder ſeine Freiheit zuerſt
findet, und von der Verſchiedenheit der Umgebungen und äus
ßeren Verhaͤltniſſe eines jeden, welche Beziehung auch dem
Schiklichen der Stoiker zum Grunde liegt, ſo daß bei Beiden
das beſondere nur das raͤumliche und zeitliche ſein kann.
Dies beſtaͤtigt ſich deutlicher, wenn man ſieht, wie auch die
Individualitaͤt, welche Fichte unter den Bedingungen der Ich—
heit aufführt, ſich nicht weiter erſtrekt als auf das Verhälts
niß zu einem eigenen Leibe, und auf die Mehrheit der Men—
ſchen⸗Exemplare überhaupt. Ja noch entſcheidender wo moͤg⸗
lich iſt jene Stelle, wo die Aufgabe eintritt, die Vorherbe⸗
ſtimmtheit der freien Handlungen eines jeden fuͤr die Uebris
gen mit der Freiheit zu vereinigen, und wo die beſondere Be⸗
61
ſtimmtheit eines jeden im geiftigen Sinne ganz aufgehoben,
und die ganze geiſtige Maſſe voͤllig gleichartig angenommen
wird. Es liegt fuͤr die geſammte Vernunft da ein unendli—
ches mannigfaltiges von Freiheit und Wahrnehmung, in wel—
ches alle Individuen ſich theilen; und es exiſtiren fuͤr jeden
nicht mehrere beſtimmte Ichs, ſondern nur eine Geſammtheit
von Ichs. Jedoch nicht nur dieſes, ſondern es beſteht auch
die ſittliche Vollendung eben darin, daß jeder aufhoͤre etwas
anderes zu ſein, als ein gleichartiger Theil dieſer Geſammt—
heit. Denn die Vernunft, welche jeden beſtimmen ſoll, iſt
aus dem Individuum herausverſezt in die Gemeinſchaft, und
kann alſo auch keine andere fein, als eine Allen gemeinfchaft-
liche; ſo daß in Allen alles rechte aus demſelben ſich nur
auf das gemeinſchaftliche beziehenden Grunde hervorgeht, je—
der an der Stelle des andern auch das nemliche haͤtte verrich-
ten muͤſſen, und jede Abweichung von der einzigen Norm als
Verlezung des Geſezes erſcheint, weil aller Unterſchied unter
ſittlichen Menſchen nur auf dem Ort beruhen ſoll, wo ſie ſte—
hen. Bei dem fruͤheren Kant aber tritt dieſe nemliche An—
ſicht ſo ſtark hervor, daß ſie zur heftigſten Polemik ausartet
gegen alles, was eine beſondere Beſtimmtheit auch nur von
weitem verraͤth. Von dieſer Art iſt die Forderung, daß die
Erfuͤllung des Geſezes mit Unluſt verbunden ſein ſoll, weil
nemlich die Luft ihm zufolge dasjenige iſt, was vorzüglich
die Perſoͤnlichkeit vertritt; ferner die Pflicht, ſich fremde
Gluͤkkſeligkeit zum Zwekk zu machen, um dadurch die Luſt, in
ſo fern ſie doch ein Gegenſtand des Handelns ſein kann und
muß, von ihrer Verbindung mit der Eigenthuͤmlichkeit moͤg—
lichſt zu befreien, welche Pflicht aus ſeinem Grundſaz allein
nirgends von ihm abgeleitet worden iſt, auch nicht werden
kann, und alſo nur, wie alles der Art, aus dem innern Geiſte
des Syſtems zu erklaͤren iſt. Dieſer nun, kann man ſagen,
iſt durchaus mehr juridiſch als ethiſch, und hat uͤberall das
Anſehn und alle Merkmale einer geſellſchaftlichen Geſezge—
bung; welches auch mit dem vorigen genau zuſammenhaͤngt.
62
Denn wenn der ethiſche Grundſaz immer und allein unter
der Geſtalt eines Geſezes erſcheint, welches bloß in einem
Vielen gemeinſchaftlichen gegruͤndet iſt: ſo kann es nicht an—
ders als ein geſellſchaftliches oder, im ſtrengen Sinne betrach⸗
tet, ein Rechtsgeſez werden. Deshalb hat auch die Fichteſche
Sittenlehre, wie ſchon aus dem obigen zu erſehen, eigentlich
daſſelbe Gepraͤge; nur tritt es bei Kant ſtaͤrker hervor. Denn
bei dieſem iſt es auf das genaueſte herausgearbeitet, und al⸗
les wunderbare darin nur in Verbindung mit dieſen Zuͤgen zu
begreifen. Ganz juridiſch ſind ſchon ſeine fruͤheſten ethiſchen
Aeußerungen, daß zum Beiſpiel das ſittliche muͤſſe angeſe⸗
hen werden koͤnnen als aus einem oberſten Willen entſprun⸗
gen, der alle Privat-Willkuͤhr in oder unter ſich begreift;
wodurch gleichfalls das beſondere und eigenthuͤmliche vernich-
tet wird; denn dieſes, da es ſich unter einander entgegenge=
ſezt iſt, kann jener oberſte Wille nicht mit enthalten. Aus
nichts anderem als hieraus iſt auch zu erklaͤren der ſo ganz
ohne Zuſammenhang aber mit der feſteſten Zuverſicht allges
meiner Billigung hingeſtellte Gedanke von der Strafwuͤrdig⸗
keit und der entgegengeſezten Wuͤrdigkeit gluͤklich zu ſein, weil
nemlich in dem rechtlichen Verhaͤltniß eines buͤrgerlichen Ver—
eins eine ſolche durchgaͤngige Abhaͤngigkeit des Wohlbefindens
von dem geſezmaͤßigen Thun und Leben die hoͤchſte, wiewol
unaufloͤsliche, Aufgabe iſt; ſo daß man ſagen kann, auch ſein
hoͤchſtes Gut ſei nur ein politiſches. Und was anderes ſollte
es ſein als politiſch, die Idee, eines Verpflichteten und Ver⸗
pflichtenden aufzuſtellen, deren Einfuͤhrung in die Ethik ſich
aus feinem hoͤchſten Grundſaz derſelben keines weges erklaͤren
laͤßt? Oder auch die eines innern und heimlichen Krieges
Aller gegen Alle, die er ſogar bei der Freundſchaft, dem rein⸗
ſten ethiſchen Verhaͤltniß, zu Grunde legt; ſo daß ſelbſt ſeine
ſittliche Freundſchaft, die aber eigentlich nur eine dialektiſche
heißen duͤrfte, nur als ein verſtohlener Genuß eines einzelnen
Waffenſtillſtandes erſcheint. Gleichfalls hat ſeine Formel, den
Menſchen als Zweit an fi) zu behandeln, wiewol fie auf
63
etwas anderes geführt haben koͤnnte, denſelben Charakter;
denn von den Menſchen, als ob ſie auf dieſen nicht zu ruhen
vermoͤchte, eben wegen des individuellen, wird ſie gleich uͤber—
getragen auf eine Menſchheit. Auch das Reich der Zwekke iſt
ein buͤrgerliches; jedoch nicht einmal in dem beſſeren Sinne,
dem das kunſtmaͤßige und wohlberechnete Ineinandergreifen
der verſchiedenen Einzelheiten die Hauptſache iſt; ſondern nur
die ſchlechteſte Vorſtellung eines Staates liegt dabei zum
Grunde, wo das Verhaͤltniß des Einzelnen zum Ganzen nur
negativ iſt, jeder eigentlich etwas anderes will, und vom
Geſez allein in Schranken gehalten wird. Kant ſelbſt zwar
meint, er habe ſich uͤberall bei ſeinen Gleichungen die eines
Naturgeſezes zum Vorbilde gewaͤhlt; dieſen Glauben aber
wird er wol keinem andern mittheilen. Denn ein Naturges
ſez iſt nicht zu denken, ohne daß es zu Zerfällung des glei⸗
chen in entgegengeſeztes den Keim enthalte, und mit dem all—
gemeinen zugleich Raum und Umfang fuͤr das beſondere ſeze:
weil nur ſo eine organiſche Verknuͤpfung entſteht, fuͤr welche
es allein ein Naturgeſez geben kann. Wer aber wollte hier
eine ſolche finden, wo lauter gleichartiges bei einander ſteht?
Wie wenig auch Kant im Stande geweſen wäre ein Naturs
geſez ſich zum Vorbilde zu nehmen, erſieht Jeder aus dem
einzigen kleinen Verſuch dieſer Art, da er meint, unter der
Idee einer Natur angeſehen, ſei Liebe die anziehende, Achtung
aber die abſtoßende Grundkraft; ſondern ſein Vorbild kann
kein anderes ſein als das politiſche Geſe. Ob nun der Ethik
beſſer gerathen iſt, wenn fie in eine Rechts- als wenn fie in
eine Gluͤkkſeligkeitslehre verwandelt wird, dieſes wird anders⸗
wo zu unterſuchen ſein; hier war nur die Abſicht, die Sache,
wie fie iſt, aufzudeffen. Das nemliche, nur etwas anders ge⸗
ſtaltet, zeigt ſich in der anglikaniſchen Schule, welche, inſofern
ſie den Schein behauptet es auf Thaͤtigkeit anzulegen, ihren
ethiſchen Grundſaz mehr als einen natuͤrlichen Trieb darſtellt,
und daher mehr eine freie als eine geſezliche Geſelligkeit im
Auge hat. In ſofern nun eine freie Geſelligkeit doch immer
64
ſtrebt geſezlich zu werden, ift fie den vorigen gleich; infofern
aber das Bilden einer ſolchen ethiſcher zu ſein ſcheint, als
das mechaniſche Fortbewegen in einer ſchon gebildeten, moͤchte
ſie Jenen voranzuſtellen ſein. Wie aber auch dieſe Schule
das individuelle gaͤnzlich verwirft, kann man eben ſo gut als
an irgend einem Englaͤnder an dem Deutſchen Garve ſehen,
welcher, das Schwanken zwiſchen Luſt und Thaͤtigkeit mit
eingerechnet, ganz zu derſelben gehoͤrt. Entſcheidend und an—
ſtatt aller übrigen iſt in dieſer Beziehung ein Ausſpruch deſ—
ſelben uͤber das allgemeine Muſterbild der menſchlichen Na—
tur, wo ihm jede Beſonderheit ſchon als eine Abweichung er—
ſcheint, welche durch das regelloſe Handeln in der Zeit vor
dem Finden des ſittlichen Geſezes entſtanden iſt, und daher
durch das geſezmaͤßige und gebildete wieder hinweggeſchaft
werden muß; ſo daß offenbar als hoͤchſte Geſammtwirkung
der ſittlichen Kraft ſich ergeben wuͤrde eine voͤllige innere
Gleichheit aller Menſchen. Gehn wir nun von dieſen Schwan—
kenden zu denen uͤber, welche ſich, ohne geheimes Verkehr mit
der Luſt, die Vollkommenheit zum Ziele ſezen: ſo zeigen ſich
dieſe, wie ſchon ſonſt ſo auch hier, getheilt und uneins, ſo
daß ſich, wie es nur durch die Vieldeutigkeit des Wortes und
die Unbeſtimmtheit des Begriffes geſchehen kann, die verſchie—
denen moͤglichen Faͤlle hier zugleich darſtellen. Denn ſie koͤn—
nen ebenfalls ein allgemeines Muſterbild der menſchlichen Nas
tur zum Grunde legen; und werden dann in Verwerfung des
eigenthuͤmlichen den bisher angeführten nicht nachſtehen. Ans
dere aber koͤnnen auch ausſchließend die beſondere Beſtimmt⸗
heit eines jeden als ein ſchlechthin gegebenes betrachtet zum
Grunde legen, ohne irgend eine Hinſicht auf ein allgemeines;
fo daß ihr ſittliches nur in Beziehung auf dieſe Eigenthuͤm⸗
lichkeit als Erhaltung Entwikkelung und Darſtellung derſel⸗
ben beſtimmt iſt. Dieſes aber iſt in einem wiſſenſchaftlichen
Gebaͤude wenigſtens noch von Keinem verſucht worden; nur
angedeutet hat Fichte etwas aͤhnliches, natuͤrlich aber er als
einen unſittlichen Zuſtand, dem das Finden des Geſezes muͤſſe
ein
—
65
ein Ende machen. Oft aber kommt dieſe Anſicht vor in un⸗
wiſſenſchaftlichen Geſtalten als Regel eines wirklichen Lebens
oder eines in den Werken der Dichtkunſt dargeſtellten, ſo daß
ihr, bis vielleicht zum Erweis ihrer wiſſenſchaftlichen Unmoͤg—
lichkeit, die ohnedies leere Stelle nicht kann geweigert werden.
Noch Andere aber koͤnnten auch unter der Idee der Vollkom—
menheit beides vereinigend die Aufgabe faſſen, jene Annaͤhe—
rung an das gemeinſchaftliche Muſterbild mit der Ausbildung
und Darſtellung des eigenthuͤmlichen nach gewiſſen Grundſaͤzen
zu vereinigen, und beides gegenſeitig durch einander zu beſtim—
men und zu begrenzen; wobei freilich eine Regel gefunden
werden muͤßte um das mannigfaltige des eigenthuͤmlichen
zu ordnen und zu erſchoͤpfen, und um dann einzeln zu beur⸗
theilen, wohin jedes gehoͤre. Zu dieſer Aufgabe fuͤhren auch,
wiewol nur von ferne, Platon und Spinoza. Denn auf der
einen Seite ſcheint zwar jener das Ideal auch nur als ein
einziges darzuſtellen, auf der andern aber iſt theils ſchon
durch ſeine Methode, welche zur Weltbildung hinaufſteigt um
von der herab alles abzuleiten, das beſondere als im goͤttli—
chen Entwurf liegend gegeben, theils ſtellt er ſelbſt feſt eine
natuͤrliche Verſchiedenheit in den Miſchungen der verſchiedenen
Kraͤfte und Groͤßen. Wollte aber vielleicht Jemand ſagen,
dies geſchehe nur auf dem Gebiete der Staatskunſt; und was
da als gefunden vorkomme koͤnne dennoch gar wol in dem
Gebiete der Ethik als umzubildend oder voͤllig hinwegzuneh—
mend aufgegeben ſein: ſo ſteht dieſem zweierlei entgegen.
Zuerſt ſezt er dieſes verſchiedene als durch die Erzeugung ent—
ſtanden, welches, wenn man es auch nur mythiſch auslegt,
dennoch die Idee des urſpruͤnglichen und unabaͤnderlichen in
ſich ſchließt. Dann auch ſtellt er es hin als ein politiſch
ſorgfaͤltig und auf ewige Zeiten aufzubewahrendes; und ein
ſolches kann bei der Verbindung beider Wiſſenſchaften un—
moͤglich ein ethiſch zu vernichtendes ſein. Das nemliche nun
gilt auch von Spinoza, wenngleich er nicht minder von einem
allgemeinen Muſterbilde redet. Wenn man aber bedenkt, wie
Schleierm. Grundl. E
66
er dieſen in der Ethik überall vorkommenden und in ihr vielleicht
unvermeidlichen Gedanken unmoͤglich doch fuͤr das einige noth—
wendige halten konnte; und man verſucht daher mit feinem Aus—
drukk, daß das Annaͤhern an dieſes Urbild das einige wahr—
haft nuͤzliche ſei, den Grundgedanken ſeiner Lehre in Verbin—
dung zu ſezen, daß jedes einzelne Weſen, nicht etwa jede Gattung,
die Grundkraͤfte des Unendlichen auf ſeine beſondere Weiſe
darſtellt: fo erkennt Jeder es leicht für unmöglich, daß nach
ſeinem Sinne dieſes eigenthuͤmliche als ein fehlerhaftes und
hinwegzunehmendes ſolle behandelt werden. Daher iſt offen>
bar genug, daß wer eine Ethik nach den Grundzuͤgen des
Platon oder des Spinoza voͤllig, und ſo genau als es in
andern Syſtemen geſchehen iſt, aufbauen wollte, jener Aufgabe
einer Vereinigung des Allen gemeinſamen und des eigenthuͤmlichen
nicht entgehen koͤnnte. Auf wie mancherlei Art aber und wie
eine ſolche in dieſen ſowol als anderen Syſtemen zu Stande
zu bringen ſei, das gehoͤrt nicht hieher. Hier vielmehr reicht es
hin gezeigt zu haben, wie auch dieſer Gegenſaz uͤberall ſtatt
findet, und wie auch die lezte, wenngleich noch vernachlaͤßigte
Seite deſſelben, faſt von allen verſchiedenen Grundfäzen aus
wenigſtens aufgegeben iſt. Und ſoviel ſei geſagt von den
bedeutenden Verſchiedenheiten der bisherigen ethiſchen Grund—
füge. Nun zur Prüfung ihrer Tauglichkeit, was die k
tung eines Syſtems .
Zweiter Abſchnitt. e
Von der Tauglichkeit der verſchiedenen ethiſchen
Grundfäze zur Errichtung eines Syſtems.
1.
Bedingungen dieſer Tauglichkeit.
We.an aus einem ethiſchen Grundſaze ein Syſtem von
Handlungen ſi ſich ſoll entwikkeln laſſen: ſo muß auch die Ge⸗
ſammtheit dieſer Handlungen oder Zuſtaͤnde, damit auch die
gleich einbegriffen werden, welche nicht auf ein eigentliches
Handeln gehen, ein ganzes und gleichartiges ausmachen,
welches daher auch unter einem Begriff muß dargeſtellt wer⸗
den koͤnnen. Ferner aber iſt auch in Betrachtung zu ziehen
dasjenige, in welchem und durch welches dieſe Geſammtheit
hervorgebracht wird, nemlich die von dem ſittlichen Grundſaz
beherrſchte Seele, welche eben ſo die innere und bleibende
wie jenes die aͤußere und wechſelnde Darſtellung deſſelben iſt,
und als eine und dieſelbe Kraft in allen verſchiedenen Aeuße⸗
rungen, nemlich nicht nur phyſiſch ſondern auch ethiſch eine und
dieſelbige, ebenfalls unter einem Begriff befaßt werden muß.
Hieraus nun entſtehen * beiden Ideen des hoͤchſten Gutes
E 2
68
und des Weiſen, welche gewoͤhnlich als Eigenthuͤmlichkeiten
dieſer oder jener Schule angeſehen werden, der Wahrheit nach
aber allen Schulen auf gleiche Weiſe angehoͤren muͤſſen.
Denn, wird zuerſt betrachtet das Verhaͤltniß des eigentlich
ſogenannten ethiſchen Grundſazes, der in dieſer engeren Be—
deutung, weil er ſich auf das einzelne bezieht, das Geſez zu
nennen iſt, gegen die Idee des hoͤchſten Gutes: ſo zeigt es
ſich ganz als daſſelbe, wie in der Meßkunſt das Verhaͤltniß
der Gleichung oder Formel zu dem anſchaulichen Bilde der
Curve, welche durch jene beſtimmt iſt. Hier nemlich kann,
wenn die unveraͤnderliche Groͤße angenommen iſt, durch auf—
einander folgendes Sezen der einen veraͤnderlichen nach dem
in der Formel angewieſenen Verfahren die dazu gehoͤrige an—
dere und mit ihr ein Ort in der Curve jedesmal gefunden
werden. Eben ſo nun wird auch in der Ethik, wenn die un—
veraͤnderliche Groͤße, es ſei nun dieſes die menſchliche Natur
oder wie ein Jeder es ausdruͤkken will, feſtgeſtellt iſt, ſo oft
dieſer oder jener Punkt unter den geſammten ethiſchen Bezie⸗
hungen des Menſchen gleichſam auf der Linie der Abſciſſen
angenommen wird, durch Ausuͤbung des in dem Grundſaz
angezeigten Verfahrens auch jedesmal die That gefunden,
welche in jener Geſammtheit des ethiſchen Lebens das zu die—
ſem Punkt gehoͤrige Glied darſtellt. Nur aber koͤnnen in dem
ethiſchen ſowol als dem mathematiſchen Verfahren auf dieſe
Art bloß einzelne Punkte der Curve, wie einzelne Theile des
hoͤchſten Gutes gefunden werden, mehrere oder wenigere, je
nachdem die bei einem abgeriſſenen Verfahren unvermeidlichen
Swiſchenraͤume näher oder weiter geruͤkkt werden. Wird da⸗
gegen ein Werkzeug gedacht, welches ſo genau in Beziehung
auf die Formel eingerichtet waͤre, daß es durch ein ſtetiges
Fortruͤkken auf jener Linie zugleich nicht einzelne Orte ſon⸗
dern die ganze Curve als ein ſtetiges und ununterbrochenes
Ganzes verzeichnete, ein ſolches waͤre dann zu vergleichen dem
Weiſen, der ebenfalls durch ſtetige Fortruͤkkung auf der Linie
des Lebens das hoͤchſte Gut im Zuſammenhang und ohne
69
Abweichung hervorbringt. Und fo wie in jenem Werkzeuge
die Formel gleichſam ein mechaniſches ſich ſelbſt darſtellendes
Leben gewonnen hat, ſo iſt auch der Weiſe das lebendige
Geſez, und die das hoͤchſte Gut erzeugende Kraft. Hieraus
nun erhellt ſchon hinlaͤnglich, daß jene Ideen eine ohne die
andere nicht beſtehen koͤnnen. Denn wenn auch die Idee des
Weiſen zu Errichtung des ethiſchen Syſtems, welches aus
einzelnen getrennten Gliedern zuſammengefuͤgt werden muß,
nicht unmittelbar gebraucht werden kann, und gleichſam nur
das Bekenntniß enthaͤlt, wie unzulaͤnglich dieſes iſt, um ein
ſtetiges Ganzes darzuſtellen: ſo muß ſie dennoch in jedem
ebenfalls angedeutet ſein. Sonſt wenn einem ſittlichen Geſez
die ihm entſprechende Idee des Weiſen mangelt, muß mit
Recht ein uͤbler Argwohn entſtehen, daß die nach demſelben
gebildeten Handlungen ſich nicht als ein eigenthuͤmliches in⸗
neres aufdringen, und daß nicht eine gleiche Kraft und Richtung
des Menſchen der beharrliche Grund derſelben iſt, ſondern ihre
Gleichartigkeit, und alſo das eigentliche Weſen des Geſezes,
von irgend etwas aͤußerem abhängt. Fehlt aber gar zu ei=
nem Geſez die Idee des hoͤchſten Gutes: dann läßt ſich ſchlie—
ßen, daß die Aufgabe nicht in ihrer unzertrennlichen Voll-
ſtaͤndigkeit gedacht worden. So zum Beiſpiel, wenn das
Geſez unmittelbar nicht auf ein eignes Hervorbringen ab⸗
zwekkt ſondern nur auf das Zerſtoͤren einer andern Handels—
weiſe, wird die Einheit in dem durch daſſelbe bewirkten ſich
leicht verbergen; und wenn das Geſez für ſich unzureichend
waͤre, was es ſelbſt will und ſoll, hervorzubringen, ſo wuͤrde
das als leztes Ziel gedachte in Abſicht auf daſſelbe als zu⸗
fällig erſcheinen, und alſo mit Recht im Syſtem nicht aufge⸗
ſtellt werden. Eben ſo darf auch zu einem hoͤchſten Gut das
Geſez nicht fehlen, noch auch der Weiſe, weil fonft der Inbe⸗
griff deſſelben als ein zufaͤllig und aͤußerlich nicht aber inner⸗
lich und geſezmaͤßig entſtehendes erſcheint, und alſo weder die
Ethik beſtehen kann, welche nichts anderes iſt, als eine ſyſte—
matiſche und nach der Einheit des Grundſazes unternommene
70
Analyſe des hoͤchſten Gutes, noch auch die Lebensführung,
auf welche ſich die Wiſſenſchaft beziehen ſoll. Denn wie
duͤrfte man Jemanden anmuthen ſich als das Ganze ſeines
Beſtrebens etwas vorzuſezen, wozu ihm nicht eine Einheit der
Handlungsweiſe als hinreichende Kraft um es zu erreichen
koͤnnte angewieſen werden? |
Hieraus darf jedoch nicht folgen, daß alle dieſe drei
Ideen in jedem Syſtem mit gleicher Klarheit und Beſtimmt⸗
heit muͤßten dargelegt ſein, und gleich ſtark hervortreten.
Denn noch iſt es mit der Ethik nicht dahin gediehen, daß die⸗
jenigen, welche ihrer pflegen, von ihrem ganzen Zufammen=
hange und allen ihren Theilen eine gleich klare Vorſtellung
hätten; und andererſeits bringt auch die Verſchiedenheit in der
Abzwekkung der Syſteme es mit ſich, daß in dieſem von der
in jenem von einer andern weniger Gebrauch gemacht wird,
und weniger erleuchtende Strahlen ausgehen, welches ohne
ihnen zum unbedingten Vorwurf zu gereichen nur der Kritik
die Pflicht auflegt dem Mangel der bisherigen Darſtellung
aus ihrer vergleichenden Kenntniß des inneren abzuhelfen,
und auch den verborgenen Elementen derjenigen Ideen nach—
zuſpuͤren, welche dem erſten Anblikk nach zu fehlen ſcheinen, es ſei
nun, daß ſte wirklich uͤberwachſen, oder daß ſie nur unſchein—
bar ſind, und den gehoͤrigen Raum nicht ausfuͤllen. Denn
es kann gar wol geſchehen, daß wo in einem Syſtem eine
von ihnen ganz zu fehlen oder nur erkuͤnſtelter Weiſe und
auf eine mißverſtandene Art nachgebildet zu ſein ſcheint, ſo
daß fie den übrigen nicht entſpricht, dennoch die wahre und
dem Syſtem angemeſſene ebenfalls, nur nicht an der rechten
Stelle und vollkommen entwikkelt, vorhanden iſt. Auch iſt
nicht moͤglich im allgemeinen daruͤber zu entſcheiden, welche
von ihnen die erſte urſpruͤngliche iſt. Nemlich keine iſt ei⸗
gentlich abgeleitet von der andern, und eine Ethik kann eben
fo gut mit dem Grundfaz anfangen, daß alles Handeln ein
Theil des ſo und ſo beſtimmten hoͤchſten Gutes ſein ſoll, als
mit dem, daß in Jedem das fo und fo ausgedrüffte Sitten⸗
71
geſez als der eine Factor enthalten fein fol. Denn eben fo
gut laͤßt ſich aus jenem, dem hoͤchſten Gute, die Regel des
Verfahrens ableiten, wie aus dieſer die Idee der Geſammt⸗
heit des hervorgebrachten; wie denn auch aus Betrachtung
der Curve in dem Körper, dem fie angehört, die Function ſich
entdekken laͤßt. So hat unſtreitig Platon bei ſeiner Weltan⸗
ſchauung zuerſt das hoͤchſte Gut des Menſchen gefunden, nem⸗
lich die Aehnlichkeit mit Gott, und dann erſt nach Anleitung
ſeines Begriffes von der menſchlichen Natur die Regel des
Verfahrens hiezu; Spinoza hingegen bei der ſeinigen zuerſt
das Geſez, nemlich die Angemeſſenheit des jedem Handeln
zugehoͤrigen Gedanken, und hieraus erſt das hoͤchſte Gut,
nemlich die in jedem enthaltene Erkenntniß Gottes. Und ſo
ſtehen beide Ideen in durchgaͤngiger Wechſelbeziehung, und die
fruͤhere Erſcheinung der einen oder andern haͤngt lediglich ab
von der eigenthuͤmlichen Anſicht deſſen, der die Ethik bearbei⸗
tet, oder von dem Zuſammenhang, in welchem diefe Wiſſen—
ſchaft gefunden wird, das heißt, das früher oder ſpaͤter iſt
jezt noch und fuͤr uns durchaus zufaͤllig. Daß aber, dieſe
Einſchraͤnkungen feſtgehalten, die drei aufgezeigten ethiſchen
Ideen, da jede eine eigne keine aber alle Beziehungen des
hoͤchſten Grundſazes darſtellt, und alſo jede als eine eigne
unentbehrliche Geſtalt deſſelben angeſehen werden muß, gleich
nothwendig ſind, wenn eine von ihnen einem Syſtem der
Sittenlehre zum Grunde liegen fol, und dies alſo eine noth⸗
wendige Bedingung der ſyſtematiſchen und architektoniſchen
Tauglichkeit eines ſittlichen Grundſazes iſt, dieſes muß aus
dem Geſagten einem Jeden offenbar ſein. :
Naͤchſt dieſer Mannigfaltigkeit der Geſtalten aber giebt
es ein zwiefaches Verfahren, wodurch jeder Grundſaz ſein
Geſchaͤft verrichtet, und wozu demnach auch jeder geſchikkt ſein
muß, um ſich in ſeiner Eigenſchaft zu bewaͤhren. Er muß
nemlich ſo beſchaffen ſein, daß ſich vermittelſt deſſelben, ſo
weit es in einer nur im allgemeinen gehaltenen Darſtellung
moͤglich iſt, alles ſittliche Thun oder Sein als ein ſolches
aufzeigen laſſe. Daß er ſich dazu eines vermittelnden und
*
72
leitenden Begriffes bedienen dürfe, iſt ſchon oben gegen Eis
nige eingeraͤumt worden, wie auch daß uͤber dieſen Begriff
auf dem Gebiet unſerer Unterſuchung im voraus kein Urtheil
ſtatt finde. Denn obgleich er freilich mit dem Grundſaze
ſelbſt in einem und dem nemlichen gemeinſchaftlichen hoͤheren
gegruͤndet ſein muß: ſo iſt doch, ob ſich dieſes in einem ein—
zelnen Falle alſo verhalte, eine außerhalb unſerer Grenzen ges
legene Frage. Auf dem Gebiete der Ethik ſelbſt aber darf
dieſer Begriff unabhaͤngig ſein von dem Grundſaze; weil er,
wenn dieſer die Geſtalt des Geſezes hat, das Gebiet ſeiner
Anwendung, hat er aber die des hoͤchſten Gutes, den Grund
ſeiner Eintheilung enthalten ſoll. Nur ſoviel iſt von ſelbſt
deutlich, daß, da beide in dieſem Verhaͤltniß zufammengehds
ren ſollen, auch einer den andern gaͤnzlich erſchoͤpfen muß;
ſo daß in dem durch den Huͤlfsbegriff gezeichneten Umriß nichts
übrig bliebe, was nicht durch den Grundſaz ethiſch beſtimm—
bar waͤre, und auch keine Anwendung des Grundſazes, in—
nerhalb der menſchlichen Welt nemlich, gedacht werden koͤnne,
die nicht auch durch die Beziehung des Grundſazes auf je⸗
nen Begriff ſollte zu finden ſein. In wie fern nun, wenn
dieſes nicht geleiſtet wird, die Schuld nicht etwa auf eine
verfehlte Wahl des Huͤlfsbegriffes zu werfen iſt, als ob dieſe
willkuͤhrlich wäre, ſondern allemal auf den Grundſaz ſelbſt,
hieruͤber haben wir im allgemeinen nicht zu entſcheiden, weil
dieſes zur Beurtheilung und Vollſtaͤndigkeit des Syſtems ge—
hoͤrt, welche nur der lezte Theil unſerer Unterſuchung ſein
kann. Sondern jezt haben wir nur zuzuſehen, ob ſich uͤber—
haupt an dem Grundſaz, er werde nun für ſich allein betrach—
tet, wenn er fo beſtehen zu koͤnnen glaubt, oder in Verbin-
dung mit feinem Huͤlfsbegriff, eine Tauglichkeit zu dieſem Bes
huf wahrnehmen läßt, oder nicht vielmehr eine Quelle von Vers
wirrungen, wo nicht gar eine gaͤnzliche Unfaͤhigkeit. Dieſes Vers
fahren aber ſcheint ſelbſt wieder ein zwiefaches zu enthalten.
Denn nicht dieſelbe iſt die Art, wie eine Stelle im Syſtem
ausgefüllt wird, und wie ein Zeittheil im wirklichen Leben. Er⸗
73
ſtere nemlich enthält das ganze des ſittlichen Verfahrens in
Beziehung auf einen beſtimmten Gegenſtand, welches ganze
nur in einer Reihe von Momenten kann dargeſtellt werden;
wird aber gefragt, was in jedem Moment zu thun iſt, ſo
zeigt ſich ein mannigfaltiges von Aufforderungen, welche aus
ganz verſchiedenen Gegenden des Syſtems hergenommen ſind,
und entweder vereinigt, oder in Beziehung auf die Zeit ein—
ander untergeordnet werden muͤſſen. Daher die wirkliche Ans
wendung des Grundſazes in der Ausuͤbung aus zwei Factos
ren beſteht, von denen der eine anzeigt, welcher Gegenſtand
eben jezt, der andere aber wie er uͤberhaupt zu behandeln iſt.
Allein es iſt dies ſcheinbar zwiefache, welches zu dem verkehr—
ten Gedanken von einem Streit des ſittlichen unter ſich die
Veranlaſſung gegeben, dennoch nur ein einfaches. Denn je—
der ſittliche Gegenſtand hat auch als ſolcher eine beſtimmte
Groͤße, uͤber welche hinaus er aufhoͤrt ſittlich zu ſein, ſo daß
auch das Syſtem ihn nicht anders als mit der Beſtimmung
ſeiner Groͤße zugleich aufſtellen kann, und es hat nur die
Bedeutung, daß zur Tauglichkeit des Grundſazes fuͤr dieſes
Verfahren nothwendig gehöre, daß durch ihn mit jedem ſitt—
lichen zugleich auch die Art muͤſſe gefunden werden, wie es
durch das uͤbrige begrenzt wird. Dieſem aufbauenden Ver—
fahren nun ſteht gegenuͤber ein anderes, welches das pruͤfende
genannt werden kann, und dem erſten zur Bewaͤhrung dient.
Der Grundſaz nemlich muß auch fo beſchaffen fein, daß von
jeder gegebenen Handlung durch Vergleichung mit ihm ſo—
gleich beſtimmt werden kann, ob ſie, wenn der Grundſaz die
Geſtalt des hoͤchſten Gutes hat, ein Theil deſſelben ſein, oder
iſt er als Geſez aufgeſtellt, als durch ihn conſtruirt kann ges
dacht werden. Eine ſolche Frage darf niemals weder un—
beantwortet bleiben, noch eine doppelte Antwort zulaſſen, wenn
der Grundſaz wirklich iſt, was er ſein ſoll. Denn das erſte
wuͤrde beweiſen, daß der Grundſaz unzulaͤnglich iſt, und nicht
ſein ganzes Gebiet umfaßt; das andere aber, daß entweder er
ſelbſt vieldeutig iſt, oder daß der Huͤlfsbegriff, vermittelſt deſ—
74
ſen das einzelne ſittliche beſtimmt iſt, nicht in Beziehung auf
den ethiſchen Zwekk und nach feinem Verhaͤltniß zu dem
Grundſaz gliedermaͤßig abgetheilt, ſondern gewaltſam von eis
nem fremden Punkte aus, wo nicht gar willkuͤhrlich aufs
Ohngefaͤhr hin, zerſchnitten worden. Beides kann ſich bei
dem erſten Verfahren leichtlich verbergen, wo nur dasjenige
in Betrachtung kommt, was eben gebaut wird, daher dieſes
zweite die nothwendige Beſtaͤtigung des erſten iſt, ohne wel—
che über den Grundſaz kein ſicheres Urtheil kann gefaͤllt wer—
den. Wobei jedoch bemerkt werden muß, und aus dem obi⸗
gen erhellt, daß die Handlung nur dann beſtimmt gegeben
iſt, wenn auch ihr Verhaͤltniß zu einem Moment ausgedruͤkkt
worden, weil ſonſt nicht geurtheilt werden kann, ob der da⸗
bei angewendete ſittliche Begriff auch in feinem wahren ethi⸗
ſchen Umfang ohne eine fremde und ſcheinbare Vergroͤßerung
aufgefaßt iſt. Denn die Verabſaͤumung hievon hat mancher:
lei ungerechte Verlaͤumdungen uͤber einzelne ethiſche Syſteme
gebracht. Weiter ift noch zu beobachten, daß auch die Hand-
lung als eine ganze muß gegeben werden, wenn ſie nicht
ohne Verſchulden des Grundſazes entweder als ethiſch unbe—
ſtimmbar erſcheinen oder, je nachdem das Fehlende ergaͤnzt
oder das Vielfache gegen einander in Verhaͤltniß geſezt wird,
auch ſo und anders ſoll beurtheilt werden koͤnnen. Hieher
nun gehören die Fragen von dem willkuͤhrlichen und unwill—
kͤͤhrlichen, abſichtlichen und zufälligen, und von Verbindung
mehrerer Handlungen als vermittelnder zu einer als ihrem
Swekk. Dieſe haben ſchon von Anfang der Ethik an die Un-
terſuchung beſchaͤftigt, und, mit dialektiſcher Willkuͤhr außer
ihrem Zuſammenhange behandelt, nicht wenig Schwierigkeiten
verurſacht; fie gehören aber alle zu der Frage von der ethi⸗
ſchen Einheit, und ſo ſcheinen ſie nicht ſchwer zu beantworten.
In der ſittlichen Bedeutung naͤmlich iſt Handeln gleich dem
Wollen; wo ein wirkliches Wollen iſt, da iſt auch gehandelt,
keine That aber iſt eine Handlung als nur durch das Wol⸗
len. Welche Handlung nun ihrer Natur nach mit keinem
75
Wollen verbunden ſein kann, die iſt auch nicht ſittlich, und
in fo fern iſt freilich das willkuͤhrliche die Grenze des ſittli—
chen, aber nur das an ſich unwillkuͤhrliche iſt ausgeſchloſſen.
Scheint aber, was an ſich willkuͤhrlich iſt, nur jezt und hier
mit keinem Wollen verbunden: ſo iſt ja auch das Nichtdaſein
eines aufgegebenen Wollens ethiſch zu beurtheilen. Denn
wenn das Nichtwollen ſchlechthin zufaͤllig und unwillkuͤhrlich
waͤre: ſo waͤre das Wollen, weil es ja in jedem einzelnen
Falle eben auch haͤtte unterbleiben koͤnnen, eben ſo zufaͤllig
und unwillkuͤhrlich, und es hoͤrte alle ethiſche Beurtheilung
des geſchehenen auf. Aber es kann auch eine ſcheinbar uns
willkuͤhrliche Handlung als Theil zuſammenhaͤngen mit einer
andern, und das Wollen in dieſer auch auf jene muͤſſen be⸗
zogen werden. Dieſes findet Statt bei allen ſowol abſichtli⸗
chen Gewoͤhnungen als unabſichtlich entſtehenden Gewohnhei⸗
ten; und ſo wie man Unrecht hat die lezteren zu entſchuldi⸗
gen, weil nichts in ihrer Ausuͤbung gewollt wird, ſo hat man
Unrecht die erſteren eben deshalb ihres gebuͤhrenden Lobes zu
berauben. Denn wer ſich abſichtlich gewoͤhnt, der will in
dieſem Entſchluß auch die folgenden Handlungen mit, zu de—
nen es hernach keines beſonderen Willens mehr bedarf; und dieſe
hangen mit jenem erſten Wollen ſaͤmmtlich eben ſo zuſammen, wie
jede gleichzeitige Ausfuͤhrung mit dem ſie verurſachenden Wil—
len. Wer aber ſich etwas zur Gewohnheit werden laͤßt, in—
dem er vielleicht nur ein anderes will, dem iſt dennoch dieſes
als mitgewollt anzurechnen, weil es auf eine ihm bekannte
Weiſe ein natuͤrlicher Theil nemlich eine Folge ſeines Han⸗
delns werden mußte, und er alſo wenigſtens jenes, auf die
Gefahr daß dieſes mit entſtehen koͤnnte, gewollt hat. Eben
wie man von dem, welcher durch unbedachten Gebrauch ſei—
ner Kraͤfte Schaden anrichtet, nicht ſagt, er habe dieſen Scha⸗
den gewollt, wol aber habe er feinen Zwekk, was er auch ge=
weſen, außerhalb ſeiner ſittlichen Groͤße gewollt, weil er mit
ihm zugleich eine verſtandloſe Anwendung eines phyſiſchen
Vermoͤgens, welche oſſenbar unſittlich iſt, gewollt, oder um es
76
genauer zu ſagen, eine beſonnene und den ethifchen Zwekken
angemeſſene nicht gewollt hat. Denn der unmittelbare Ge—
halt eines Wollens iſt immer nur der Zwekkbegriff, der eines
Nichtwollens aber das unterlaſſene ethiſche Beſtimmen desje⸗
nigen, was ethiſch beſtimmbar geweſen waͤre. Wie alſo,
wenn das aͤußere Handeln von ſeinem Wollen abgetrennt
oder dieſes nicht bis zu dem Zwekkbegriff hinaufgefuͤhrt, und
nicht mit dem Nichtwollen, welches in demſelben geſezt iſt,
zuſammengeſtellt wird, auch die Handlung zerriſſen iſt, und
nur ein Bruchſtuͤkk derſelben zur Beurtheilung kommt, dieſes
muß einleuchten aus dem geſagten. Die Gefahr aber, an—
ſtatt einer mehrere Handlungen in einander verwirrt zur Pruͤ—
fung aufzuſtellen, entſteht nicht nur eben aus jener Zerreißung,
indem natuͤrlich die einzelnen Theile zu andern Handlungen
hinangezogen werden, ſondern noch weit mehr aus einem Ge—
danken von einer höheren Einheit der Handlung, welche nem—
lich auf der Verbindung von Mitteln und Zwekken beruht,
und alle, wie viele es auch waͤren, ſo verbundene Handlun—
gen zu einer machen ſoll. Daß dieſes, ſobald eine an ſich
ethiſch bedeutende und alſo auch fuͤr ſich nach Maaßgabe des
Grundſazes zu beſtimmende Handlung nur als Mittel einer
andern geſezt wird, die Beurtheilung nothwendig verwirren
*
muß, iſt nicht ſchwer einzuſehen. Denn jene hat ihrer Natur
nach einen Anſpruch fuͤr ſich und um ihrer ſelbſt willen ver—
‚richtet, und alſo auch fo beurtheilt zu werden, welches beides
aber nun von der andern verſchlungen wird. Wie nun dieſes
keine Einheit hervorbringen kann, wenn die Mittelhandlung
als ſolche anders und vielleicht auf entgegengeſezte Art iſt
verrichtet worden, als, fuͤr ſich ſelbſt ſie betrachtet, geſchehen
ſein wuͤrde, leuchtet von ſelbſt ein: denn jeder ſieht, wie hier
das beſondere Urtheil uͤber die Mittelhandlung nicht zu ver—
meiden iſt, wiewol die Formel, daß das boͤſe nicht um des
guten willen geſchehen ſolle, nur das groͤbſte davon aus—
druͤkkt. Aber es iſt ganz das nemliche, wenn fie auch gerade
ſo verrichtet worden iſt, wie an und fuͤr ſich waͤre gefordert
77
worden: denn diefe Willensbeſtimmung, fie fo zu verrichten,
ift doch nicht erfolgt, und es muß ſich neben dem Urtheil
uͤber die Zwekkhandlung ein beſonderes bilden uͤber dieſes
Nichtwollen. Beiſpiele dieſer Verwirrung liegen nicht fern.
So iſt es eine ſchrekkliche, wenn, als eine Handlung gedacht,
daß einer ſeine Talente ausbildet um Lebensunterhalt zu erwerben,
oder daß einer einem andern wohl thut um eines dritten Gunſt
zu erlangen, dieſe guͤnſtig beurtheilt wird, weil doch jenes ein
erlaubtes Mittel geweſen. Und nicht etwa darin liegt das
bedenkliche, daß hier ein Menſch als Mittel gebraucht iſt,
welches eine wunderliche und faſt laͤcherliche Formel zu ſein
ſcheint, dort aber das groͤßere geſchehen iſt um des kleine—
ren willen, ſondern unabhaͤngig von dieſer Meſſung in der
Sache ſelbſt. Denn beides als Mittel gedachte haͤtte ſollen
fuͤr ſich gewaͤhlt oder verworfen werden, und das in dieſer
Wahl liegende ſittliche Handeln iſt durch jenes vernichtet. So
daß eine Zwekkhandlung dieſer Art erſcheint wie Kain, der
ſeinen Bruder Habel getoͤdtet, und laͤugnet ſein Huͤter zu
fein; aber jenes Blut ſchreiet doch aus der Erde, und vers
kuͤndet, daß Zwei ſein ſollten, wo nur Einer iſt. Nur alſo
das ethiſche an ſich unbedeutende und unbeſtimmbare darf
ſein ein Mittel fuͤr ein anderes, und nur unter dieſer Bedin—
gung kann der Grundſaz dafuͤr haften, daß er ein einfaches
Urtheil ſtellen wird. Dieſes nun ſind die Bedingungen der
Tauglichkeit, welche ſich für einen ethiſchen Grundſaz aus feis
nen weſentlichen Verrichtungen ergeben; und nun zur Prüs
fung derſelben nach dieſem Maaßſtabe.
2.
Pruͤfung der Grundſaͤze nach den aufgeſtellten Bedingungen.
Was nun zunaͤchſt das Zuſammenbeſtehen der drei Ge⸗
ſtalten des ethiſchen Grundſazes betrift: ſo iſt zuvoͤrderſt zu
bemerken, daß das hoͤchſte Gut nicht beſtimmt ausgebildet
und abgeſchloſſen ſein kann, wo es nur als ein Aggregat
78
nicht aber als eine Reihe oder noch beſſer als eine die Reihe
darſtellende Gleichung gegeben iſt. Denn in einer Reihe iſt
jedes Glied nicht nur durch feine Natur dem Ganzen gleich—
artig und angemeſſen, ſondern auch durch ſeinen Coefficienten
fuͤr ſeine Stelle ausſchließend beſtimmt. Ein Aggregat aber,
welches aus dem Zuſammenfuͤgen einzelner unbeſtimmt ver-
ſchiedener Groͤßen entſteht, iſt vielleicht uͤberhaupt eher zu
ſchließen, wenn fein Umfang gegeben iſt als eine Reihe; hin⸗
gegen kann uͤber jedes Stuͤkk deſſelben Zweifel entſtehen, ob es
recht zuſammengefuͤgt worden, weil fuͤr jedes Glied ein an⸗
deres und groͤßeres haͤtte geſezt werden koͤnnen, um die
Summe entweder zu erhoͤhen oder zu beſchleunigen. In den
Syſtemen der Sittenlehre nun, welche auf Thaͤtigkeit ausge⸗
hen, iſt ein ſolches die Zuſammenſezung beſtimmendes Prin-
tip möglich in der Art, wie es Fichte vielleicht zuerſt aus⸗
druͤkklich gefordert hat. Wie denn ſchon aus dem oben ge⸗
ſagten hervorgeht, daß, wenn eine Handlung, welche im alle
gemeinen gedacht ſittlich ift, gar wol an einer Stelle unſitt⸗
lich ſein kann, auch eben ſo alle Handlungen an einer Stelle,
bis auf eine einzige, unſittlich ſein moͤgen; in welchem Falle
denn kein Theil des hoͤchſten Gutes durch eine andere wenn
auch noch ſo große Thaͤtigkeit erſezt werden koͤnnte. Daher
es auch unter dieſen ethiſchen Darſtellungen nur eine giebt,
welche an dieſem Mangel offenbar leidet, weil es ihr an ei⸗
nem Beſtimmungsgrunde jener Art fehlt, nemlich die des Ari⸗
ſtoteles, der nur die vollkommene Thaͤtigkeit uͤberhaupt im
Auge hat, und dem alſo das hoͤchſte Gut nur als ein Aggre-⸗
gat erſcheinen kann. Daher ihm auch die Bedenklichkeit ent
ſteht, ob alle ſolche Handlungen oder nur die beſten und
vortrefflichſten demſelben als Theile angehören. In den Sy⸗
ſtemen der Luſt aber iſt dieſe Unbeſtimmtheit natuͤrlich und
weſentlich. Zwar koͤnnte man nach Aehnlichkeit jener For⸗
mel auch annehmen, es waͤren alle in einem Moment moͤg⸗
lichen Befriedigungen, bis auf eine, es ſei nun in Vergleich
mit dieſer oder durch ihre Folgen, eigentlich Unluft, wodurch
29
denn das hoͤchſte Gut eines Jeden völlig beſtimmt fein wuͤrde.
Allein ein Jeder muß ſehen, daß der Unterſchied zwiſchen
Handeln und Genießen ein ſolcher iſt, daß ſich dieſe Formel
bei dem lezteren nicht anwenden laͤßt; ſchon deswegen, weil
die Luſt ein veraͤnderliches iſt dem Grade nach, und jede
ſolche Steigerung der einen das Verhaͤltniß gegen alle übrie
gen aͤndert; dann aber auch, weil die Luſt nicht wie die
Handlung ihr natuͤrliches Ende hat, wenige ausgenommen,
und alſo ſelbſt dieſes willkuͤhrlich iſt, wann ein Moment als
beendigt angeſehen und eine neue Selbſtbeſtimmung gefordert
werden ſoll. Auf vielfache Art alſo waͤre der Exponent einer
Reihe eine unendliche und ſelbſt nicht auszumittelnde Groͤße,
und es bleibt nichts uͤbrig als das hoͤchſte Gut nur als ein
Aggregat zu Stande zu bringen. Bei dieſem tritt nun die
obenbemerkte Schwierigkeit ein in Abſicht der Zuſammenſezung
eines jeden Theiles; denn der Geſammtgenuß des Menſchen,
aus der Summe der einzelnen und ihrer Intenſion zuſam—
mengeſezt, kann nicht als ein beſtimmtes endliches angeſehen
werden, wiewol auch ſo die Frage entſtaͤnde, ob es in gleiche
oder ungleiche Theile zu zerfaͤllen ſei, ſondern ſowol wegen
Unbeſtimmbarkeit des Lebens, als auch der aͤußeren und ins
neren hervorbringenden Urſachen ſelbſt, als ein unbeſtimmtes.
Sonach kann bei jeder einzelnen Luſt gefragt werden, warum
nicht eine andere und groͤßere ihre Stelle eingenommen. Das
ganze aber iſt um ſo weniger zu faſſen moͤglich, weil ſowol
die verſchiedenen Verfahrungsarten bei Hervorbringung der
Luſt als auch ihre verſchiedenen Dimenſionen gegeneinander
ſtreiten. Die Verfahrungsarten nemlich, indem immer der
Hang zu der einen Art von Luſt dem zu einer andern ent⸗
gegenſteht, und alſo das Sezen eines Theiles des hoͤchſten
Gutes allemal einen andern, nicht nur der Zeit nach ſondern
auch für die Zukunft, aus ſchließt; die Dimenſionen aber, in⸗
dem die Ausdehnung einer Luſt in die Laͤnge der Staͤrke der
Empfindung Eintrag thut, und beide wiederum die Lebhaf⸗
tigkeit des Wechſels verhindern. Denn wenn einige Spaͤt⸗
80
linge aus der Kyrenaiſchen Schule das leztere Moment fuͤr
das entſcheidende erklaͤren wollen, indem ſie behaupten, nichts
ſei von Natur oder an ſich und fuͤr ſich angenehm oder wi—
drig, ſondern es ſei nur das neue und fremde auf der einen
und die Ueberſaͤttigung auf der andern Seite, wodurch Luſt
und Unluſt beſtimmt werde: fo dient dieſes nur zum deutli—
cheren Erweiſe, wie wenig dieſe oder eine andere einſeitige Be—
hauptung beſtehe, und der Streit alſo nicht aufgehoben wer—
den koͤnne. Was aber das Paradoxon des Ariſtippos ſelbſt
betrifft, daß alle Luſt gleich iſt und ohne Unterſchied: ſo kann
es unmoͤglich dem gegenuͤberſtehenden aber bedeutenderen
ſtoiſchen fo ähnlich fein, daß feine Abſicht wäre jeden Unter-
ſchied des Grades in der Empfindung aufzuheben. Denn auf
der einen Seite wuͤrde dadurch eine Unentſchiedenheit in der
Wahl entſtehen, welche den Grundſaz ganz untauglich machte,
und auf der andern wuͤrde ſich Ariſtippos dadurch zu der Ne—
gativitaͤt des Epikuros hinneigen, die ihm ſo offenbar zuwider
iſt; da ja bei einer gaͤnzlichen Gleichheit aller Luſt das ein—
zige, was auf eine beſtimmte Weiſe verrichtet werden muß,
nur die Entfernung des Schmerzes ſein kann, was aber
hernach weiter zu thun iſt, dem Ohngefaͤhr uͤberlaſſen werden
darf. Vielmehr kann jener Saz nur den entgegengeſezten
Sinn haben, den nemlich, daß der Unterſchied des Grades
der einzige iſt, und von dieſem abgeſehen an ſich keine Luſt
einen größeren Werth hat als die andere. Denn am uͤbel—
ſten ſind allerdings bei Feſtſtellung des hoͤchſten Gutes dieje⸗
nigen berathen, welche wie die von der anglikaniſchen Schule
einen ſolchen Unterſchied des Werthes annehmen, und daher
ein Verhaͤltniß ſuchen muͤſſen in den verſchiedenen Befrtiedi⸗
gungen und ein dieſem Unterſchied angemeſſenes Gleichge⸗
wicht, welches noch ſchwieriger zu finden ſein moͤchte, und
noch nichtiger ſeinem Weſen nach als das politiſche. So
bedarf es zum Beiſpiel nur der Frage, warum nicht, wenn
einmal die wohlwollenden Vergnuͤgungen beſſer ſind, als die
ſelbſtliebigen, jede Stelle, die dieſen eingeraͤumt wird, mit
jenen
Sl
jenen beſezt werde, zu denen es ja an Veranlaſſung niemals
fehlen kann, ſo daß die Selbſterhaltung ohne Luſt getrieben
wuͤrde, nicht als Theil ſondern nur als Bedingung des hoͤch—
ſten Gutes, wie auch Hutcheſon anfaͤnglich ganz richtig ge—
funden hatte. Nur ſpringt das laͤcherlich in die Augen,
daß doch das Wohlwollen am Ende auf die Erhaltung und
die ſelbſtliebige Luſt der Andern geht, und alſo das hoͤchſte |
Gut nur befteht in der Luft an dem, was geringer ift als
das hoͤchſte Gut, und dieſes untergeordnete jeder dem andern
mit hoͤflichem Eigennuz darbietet im Kreiſe herum; aus wel⸗
chem Kreiſe keine andere Erloͤſung zu ſein ſcheint, als durch
eine kekke aber natuͤrliche Erweiterung des Grundſazes, welche
hoͤchſt friedlich die anglikaniſche Sittenlehre zu der gallifanie
ſchen hinuͤberleitet. Iſt nemlich doch das Wohlwollen das
hoͤchſte: warum ſoll es ſeine Befriedigung hernehmen aus der
Luſt an der unmittelbaren eigenliebigen Gluͤkkſeligkeit anderer,
und nicht vielmehr eine hoͤhere Luſt finden an ihrer hoͤheren,
naͤmlich auch wohlwollenden Luſt? Dieſe nun kann ich nicht
anders und ſicherer befördern als durch Bewirkung meiner
eignen ihnen zur Anſchauung dargebotenen Gluͤkkſeligkeit, wel—
che alſo als Pflicht geboten wird, nicht gegen ſich ſondern
gegen andere, ſo daß die Sittlichkeit eines Menſchen zulezt
beſteht aus ſeiner hoͤheren Freude an Anderer Freude uͤber ſeine
niedere Freude. Auf dieſe Art wuͤrde am ſicherſten, wenn es
uͤberall moͤglich iſt, der Forderung Genuͤge geleiſtet werden, daß
das hoͤchſte Gut beſtehe in der groͤßten Summe der aͤchteſten
und nach Art alles dort Landes gearbeiteten auch dauerhafteſten
Naturbefriedigungen, verbunden mit ſo viel kleineren und ge—
ringeren als nur mit jenen beſtehen koͤnnten. Und es leuchtet
ein, welche herrliche Vereinigung aller Neigungen ſelbſt uͤber
jene Formel hinaus entſtehen wuͤrde, wenn nur nicht das
nemliche Geſez der Erweiterung uns wieder hoͤher hinauftriebe;
fo daß ein hoͤchſtes Gut von dieſem Grundſaze aus wol nies
mals kann zu Stande gebracht werden. Aber auch wer mit
Ariſtippos alle Luſt der Art wache an Werthe gleich ſezt, kommt
| Schleierm. Grundl. F
82
nicht hinweg über jene Schwierigkeit. Vermehrt wird dieſelbe
noch, wenn man, wie es doch ſein ſoll, auch auf das zugleich mit
bewirkte ſieht. Denn hier ergiebt ſich zuerſt im allgemeinen,
daß durch den Genuß uͤberhaupt veraͤndert wird die Capacitaͤt
des Menſchen fuͤr den Genuß; ſo daß jeder Genuß Urſach
wird eines Nichtgenuſſes, und jeder Nichtgenuß Befoͤrderung
eines erhoͤhten Genuſſes, und alſo das hoͤchſte Gut, in ſeine
Factoren aufgeloͤſt, jeden einzelnen nur in der bekannten, aber
nie zu realiſirenden Formel des Entbehrens und Genießens
darſtellen kann. Ferner aber auch im beſonderen zeigt ſich,
wie es bei entgegengeſeztem zu ſein pflegt, die Unluſt oft
als Urſach der Luſt und die Luſt wiederum als Urſach der
Unluſt; alſo das zu verwerfende als Bedingung des zu waͤh—
lenden, und dieſes als nach ſich ziehend jenes, welches noth—
wendig in der Lehre vom hoͤchſten Gute große Verwirrungen
verurſachen muß. Zwar dem Ariſtippos weniger als allen
ſpaͤteren Lehrern der Gluͤkkſeligkeit; denn, wo die Unluſt ein
Mittel ſein ſoll die Luſt herbeizufuͤhren, ſtellte ſich ihm als
das folgerechteſte dar entweder die Aufgabe dieſe Verbindung,
als welche nur zufaͤllig ſein kann, zu zerſtoͤren, oder die der nur
ſo zu erwerbenden Luſt eine andere unterzuſchieben. Da aber,
wo die Luſt ſoll Unluſt zur Folge haben, hilft er ſich mit
der ſchon der Luſt gleichzeitig vorhandenen Furcht, um jene
als unrein und nicht das Merkmal des wahren Guten an
ſich tragend zu verwerfen, weshalb eben er dem Weiſen die
Furcht uͤbrig laͤßt, gleichſam als eine Geſchikklichkeit die aͤchte
Luſt zu unterſcheiden von der falſchen. Gleichwohl aber be—
ſcheidet ſich Ariſtippos mit Recht das hoͤchſte Gut als ein
vollendetes und nicht zu uͤbertreffendes Aggregat von Luft lies
ber gaͤnzlich zu laͤugnen und die Realitaͤt ihm abzuſprechen;
auch ſei, meint er, jenes Aggregat nicht das unmittelbar ge⸗
wollte; ſondern Jeder begehre allein die einzelne Luſt, und
hieraus nur entſtehe jenes, wie es eben jedesmal koͤnne.
Wenn nun die Idee eines zuſammenhaͤngenden Lebens, wie es
ſcheint bei dieſem Syſtem ganz aufgehoben wird, und es nur
dadurch gerettet werden kann, daß der naͤchſte Moment allein
*
83
in Betracht gezogen werde: fo ſieht man, wie, ohne aus dem
Syſtem herauszugehen und ohne entſcheidenden Einfluß einer
eigenthuͤmlichen Sinnesart, Hegeſias behaupten durfte, daß
der Tod zu wählen ſei, wenn der Augenblikk keine Luſt mehr
gewaͤhren koͤnne. Und hier zuerſt ſehen wir dieſes Syſtem
ſeinen Kreislauf vollenden. Denn wenn ein ethiſcher Grund—
faz das Leben aufgiebt, dieſes iſt ein ſicheres Zeichen, daß er
ſeine Ohnmacht anerkennt, es zu dem vorgeſezten Ziele hinzu—
leiten. Das naͤmliche findet fi), wenn wir im Eudaͤmonis⸗
mus die Idee des Weiſen aufſuchen; welche freilich gar nicht
mehr angeknuͤpft werden kann, wenn wir nicht auch fuͤr jene des
hoͤchſten Gutes noch eine Art von Rettung finden. Die des Wei—
ſen aber erhaͤlt hier eine ganz eigne Bedeutung, wie folgt. Oben
ſchon hatten wir den Eudaͤmonismus gefunden, wie er mehr das
beſondere im Auge hat als das allgemeine; und nur eben
hat ſich beſtaͤtiget, daß er ein fuͤr Alle guͤltiges hoͤchſtes Gut
nicht zu Stande bringen kann. Wohl aber kann der Streit
zwiſchen den verſchiedenen Arten der Zuſammenſezung und den
verſchiedenen Elementen, welcher dabei entſteht, geſchlichtet
werden durch Theilung. So nemlich, daß der eine ſich fuͤr
dieſe der andere ſich fuͤr jene Unterordnung der Neigungen
entſcheide, und eben ſo der eine die Wiederholung, der andere
den Wechſel, der dritte die Intenſion zur herrſchenden Regel
des Verfahrens mache, wobei denn auch, beilaͤufig zu bemer-
ken, das anglikaniſche Syſtem, als ein ſolches beſonderes fuͤr
eine beſondere Richtung des Gemuͤthes erſcheint, in gleichem
Range mit den verſchiedenen Zweigen des gallikaniſchen, wel⸗
che ſich mehr im Leben ausgedruͤkkt haben als in Lehrſchrif—
ten. Eben ſo demnach, wenn der Weiſe dargeſtellt werden
ſoll, welcher das hoͤchſte. Gut wirklich macht, kann dieſes nicht
geſchehen nur unter einer Geſtalt; ſondern fuͤr jede beſtimmte
und eingeſchraͤnkte Geſtalt des hoͤchſten Gutes bedarf es auch einer
eignen Richtung und Verfaſſung des Gemuͤthes. Wollte nun
Jemand meinen, es muͤſſe doch eine von dieſen beſſer ſein
als die andere und ſo auch von jenen, der bedenke, warum
52
—
84
dieſes im Eudaͤmonismus nicht kann zugegeben werden. Denn
zuerſt muͤßte doch die beſte auch die allgemeine werden, wel—
ches aber mit der Natur einer jeden ſtreitet, da jede nur eine
beſondere iſt, und wodurch auch das lezte verloren gehen
wuͤrde, nemlich, daß, wenn auch von Jedem nur ſtuͤkkweiſe,
doch von allen insgeſammt ganz und vollſtaͤndig das hoͤchſte
Gut erreicht werde. Ferner muͤßte auch dann der Menſch
ſich bilden zu dieſer Geſtalt, wie ſehr er ihr ſich auch entge—
gengeſezt faͤnde, zu der Zeit, wo er anfaͤngt ein nach Grund—
fäzen geordnetes Leben zu führen. Dieſes aber wäre Anſtren—
gung, die Anſtrengung iſt Unluſt, und ſo muͤßte alſo ein
ethiſch verneintes, naͤmlich eine Unluſt angeſehen werden
als Mittel zu dem ethiſch bejahten, welches, wie oben gezeigt
worden, fuͤr ſich hinreicht die Untauglichkeit eines Grundſazes
zu beurkunden. Sonach beſteht die Weisheit darin, daß ein
Jeder gleichfoͤrmig dasjenige bleibe, was er iſt, um ohne Ab—
weichung desjenigen Theiles am hoͤchſten Gute theilhaftig zu
werden, welcher rein und unvermiſcht das groͤßte iſt, was
ſeine Natur aufnehmen kann. Und dann iſt die groͤßte Vollen⸗
dung des Menſchen die hoͤchſte innere Unthaͤtigkeit, die feſteſte
Verknoͤcherung in der Gewoͤhnung. Daß dieſes wirklich dem
Syſtem genau entſpricht, erhellt auch daraus, daß ja uͤberall
das Handeln in demſelben nur das reine Mittel das ethiſch
unbeſtimmbare iſt, und es alſo mit Recht fuͤr keinen beſonde—
ren Gegenſtand gehalten werden und für ſich keine Zeit aus—
fuͤllen darf. Wie in andern Syſtemen dieſe Bewußtloſigkeit
das Ziel iſt fuͤr jedes mechaniſche Handeln, ſo in dieſem fuͤr
jedes uͤberhaupt. Dieſes nun iſt nicht geſagt, als ob vorausgeſezt
wuͤrde, Jedermann ſolle es fuͤr unſittlich halten, nicht zu handeln
ſondern ſich zu mechaniſiren, welche Anmaßung wir einmal
für immer entfernt haben; vielmehr nur deshalb iſt es geſagt, weil
durch ſolche Anſicht der Sache faſt der Begriff der Ethik voͤllig auf-
gehoben wird, nichts zu ſagen von ihren wiſſenſchaftlichen
Anſpruͤchen, welche zur bloßen Naturbeſchreibung herabſinken,
und zwar zu einer ins unbeſtimmte zerfahrenden durch keine
85
feſten Punkte zuſammengehaltenen. Aus dem Geſichtspunkt
jener Theilung zeigt ſich auch die negative Anſicht des Epiku—
ros als ein ſolches Einzelne, welches für eine eigne Beſchaf—
fenheit des Gemuͤthes einen eignen Theil des hoͤchſten Gutes
abſchneidet. In dieſem eigenthuͤmlichen Gebiet iſt fein Grunde
ſaz der der Folgſamkeit gegen die natürlichen Begierden, und
ſein hoͤchſtes Gut der ununterbrochene Kreislauf von deren
Erregung und Befriedigung. Denn ſeine ruhige Schmerzlos
ſigkeit ſoll nicht ſein ein gaͤnzlicher Mangel an Empfindung,
ſondern ein beruhigendes Gefuͤhl in Beziehung auf einen vor—
gebildeten Schmerz. Woraus zugleich erhellt, daß, wie be—
reits geſagt, ſeine Sittlichkeit lediglich beſchraͤnkender Art iſt,
indem ſie nicht aus ſich ſelbſt handeln kann, ſondern nur der
Thaͤtigkeit des natuͤrlichen Triebes folgen muß. Was nun
der eigentliche Grund iſt von der Eigenthuͤmlichkeit ſeiner
Ethik, grade darin findet ſie auch ihre Vernichtung, naͤmlich
in der Uebermacht der Furcht. Denn dieſe allein kann den, wel—
cher die Luſt ſucht, dazu bewegen, daß er den bloß beruhigenden
Genuß dem aufregenden und belebenden vorziehe. Gegen die
Furcht nun hat er als ein Bezauberungsmittel erſonnen jene
Seelen ruhe, welche ſich gründet auf die bekannten Behauptungen
von der Kuͤrze des heftigen und der Ertraͤglichkeit des langen
Schmerzes. Dieſes aber iſt ein Troſt, welcher offenbar auf
die Unzulaͤnglichkeit des ſittlichen Verfahrens gegruͤndet iſt;
denn wovor haͤtte der ſich wohl zu fuͤrchten, welcher durch
Achtſamkeit auf die natuͤrlichen Begierden den Schmerz zu
vertreiben weiß? und dagegen, was würde der thun um den
Schmerz zu vertreiben, der ſeine Herrſchaft ſo geringfuͤgig
vorſtellt? Daher iſt es auch nicht das ſittliche, was ihn
antreibt ihm thaͤtig entgegen zu arbeiten, ſondern nur der
thieriſche Trieb; das ſittliche aber würde auch hier zur voͤl⸗
ligen Unthaͤtigkeit hinfuͤhren, ſo daß nun zum drittenmal die
Gluͤkkſeligkeitslehre ſich endiget in ein leidentliches Erwarten
und Gewaͤhrenlaſſen, und alſo in ihrer eigenen Vernichtung
als Ethik betrachtet.
—
86
Soll nun nach dem bisherigen noch die Anwendbarkeit
der Grundſaͤze der Gluͤkkſeligkeitslehre, es ſei nun in dieſer
oder jener Geſtalt, beſonders gepruͤft werden: ſo iſt daruͤber
nur weniges zu ſagen noͤthig. Denn was zuerſt den Vor—
wurf betrift, welchen Kant als entſcheidend gegen ſie vor—
bringt, daß nemlich durch ſie gar nichts ſpecifiſch beſtimmt
werden koͤnne, indem zwar die Luſt im allgemeinen gefordert
ſei, was aber für Jeden im Ganzen oder in einzelnen Fäls
len Luſt ſein werde, durch den Grundſaz gar nicht ſondern
nur empiriſch jedesmal beurtheilt werden koͤnne: ſo iſt ſchon
aus dem obigen deutlich, wie dieſer Vorwurf muͤſſe beſchraͤnkt und
naͤher beſtimmt werden. So nemlich, daß freilich der Grund—
ſaz des Ariſtippos zum Beiſpiel, Suche eine gelinde Bewe—
gung, welche ſich als Gefuͤhl zu Tage legt, nicht fuͤr ſich
allein beſtimmen kann, was in einem gegebenen Falle zu
waͤhlen oder zu fliehen ſei. Dieſes aber werden auch viele
andere mitnichten eudaͤmoniſtiſche Grundfäze mit ihm gemein
haben, und von einer Seite wenigſtens betrachtet der Kanti—
ſche ebenfalls, wovon weiter unten das naͤhere. Allein kei—
nesweges iſt unbedingt und von vorne herein zu laͤugnen,
wenigſtens iſt dieſes nicht, was Kant geſehen hat, daß auch
mit dem leitenden Begriff, nämlich einem von den vielen Fac—
toren, in welche die Geſammtheit menſchlicher Neigungen und
Genußweiſen zerfaͤllt worden, in Verbindung geſezt, jener
Grundſaz oder andere aͤhnliche etwas genaues und feſtes zu
beſtimmen im Stande ſei. Hierauf nun, als auf die einzige
Art, wie dieſe Syſteme das ihrige leiſten koͤnnen, wollen wir
achten, ſowohl in Beziehung auf das Auffinden eines geſuch—
ten, als auf das Beurtheilen eines gegebenen. Was nun,
zuerſt das lezte betrift, fo iſt offenbar, daß in dem Syſtem
des Epikuros das Unterlaſſen desjenigen, was bei ihm das
ſittliche und gute iſt, nicht kann geſtraft werden, und alſo
auch in fortgeſezter Wiederholung dieſes Urtheils die gaͤnzliche
Leerheit des Lebens, in ethiſchem Sinne naͤmlich, nur als ein
gleichguͤltiges erſcheint, weder zu lobendes noch zu tadelndes.
87
Denn wenn in einem Augenblikk keine beruhigende Luſt her⸗
vorgebracht worden: ſo kann dieſes zwar die Folge ſein von
einer Kraftloſigkeit des ſittlichen Verfahrens; eben ſo leicht
aber auch daher entſtanden, weil das natürliche überall keine
Begierde aufgeregt, noch auch Anzeige gethan von einem bevor—
ſtehenden und abzuwendenden Schmerz. Das leztere nun liegt
ganz außerhalb der ſittlichen Beurtheilung, deren Gebiet erſt
mit und nach der erfolgten Aufregung anfaͤngt; wonach denn
in dieſem Falle ein ethiſches Urtheil nicht gefällt werden kann,
und die Leerheit eines Augenblikks nur als ein Unfall erſcheint.
Weiter aber iſt ſchon oben gezeigt, wie jedes Thun nur in
Vergleich mit dem durch daſſelbe beſtimmten Unterlaſſen, jedes
Wollen nur in Verbindung mit dem ausdruͤkklich mitgeſezten
Nichtwollen kann beurtheilt werden, weil naͤmlich nur nach
Maaßgabe der begleitenden Anregungen und wirklich gegebe—
nen Moͤglichkeiten des Handelns die ſittliche Groͤße von dem
Inhalt des Entſchluſſes ſich abmeſſen laͤßt; ſo daß in dieſem
Syſtem die Angemeſſenheit des beurtheilenden Verfahrens
uͤberhaupt ſich ſelbſt zerſtoͤrt. Dieſer Fehler zeigt ſich auch
ſchon in der Beſtimmung des hoͤchſten Gutes, welches als
ein ſtetiges Ganze nicht anders beſchrieben werden kann, als
daß es ſei ein ununterbrochener Wechſel von Erregung und
HBefriedigung natuͤrlicher Begierden, wo denn ein nicht ethiſcher
Beſtandtheil unvermeidlich eingewebt iſt, naͤmlich die Erregung.
So auch kann der Weiſe nur bezeichnet werden als uner—
ſchuͤttert am Gemuͤth und geſund am Leibe, welches leztere
nicht etwa auf die Abweſenheit der koͤrperlichen Schmerzen
deutet, als die ja dem hoͤchſten Gute unbeſchadet Epikuros
durch die Freuden der Seele zu vernichten verheißet, ſondern
auf die Lebendigkeit der koͤrperlichen Reize und Aufforderun—
gen. Dieſe Unfaͤhigkeit nun iſt denen um den Epikuros eis
genthuͤmlich, und iſt nicht in der Luſt gegruͤndet ſondern in der
Abhaͤngigkeit des ſittlichen Verfahrens vom natuͤrlichen; ge—
mein aber iſt ihnen mit allen eudaͤmoniſtiſchen Sittenlehren
die unvermeidliche Vielfachheit im Urtheil über einzelne Faͤlle.
88 4 »
Bei jenen nemlich entfteht dieſe aus der Uebung, welche er—
fordert wird, um zu jener Furchtloſigkeit zu gelangen, ohne
welche den natuͤrlichen Begierden nicht ungeſtoͤrt kann ge—
horcht werden. Denn thaͤtige Uebung gehört dazu nothwendig,
indem die Vorſchriften nicht anders Bewaͤhrung finden koͤnnen
als in der Erfahrung. Dieſe Uebung aber kann in nichts an—
derem beſtehen, als in Verſuchen mit demſelben Schmerz,
welcher dem Grundſaz zufolge ſoll abgewehrt werden, und in
Hinſicht auf welchen jedes Handeln fuͤr ſich ſittlich beſtimm—
bar ſein muß. Ja ſelbſt abgeſehen von der Uebung, wenn
alles hiebei durch Belehrung zu erreichen wäre: fo entſtaͤnde.
doch in Beziehung auf die Zeit, welche dieſer gewidmet wer⸗
den muß, die Frage, ob nicht in derſelbigen auch etwas
den hoͤchſten Zwekk unmittelbar erfuͤllendes hätte koͤnnen ges
leiſtet werden; ſo daß auf jede Weiſe der Streit unvermeid—
lich iſt zwiſchen dem was als Mittel geſchehen ſoll, und dem
was der Zwekk erfordert. Noch mehrere Beiſpiele hievon aus
der Gedankenreihe dieſer Schule herbeizufuͤhren waͤre uͤber—
fluͤſſig. Daß aber daſſelbige in allen denen eudaͤmoniſtiſchen
Schulen ſtatt finden muß, welche irgend ein nuͤzliches von
dem unmittelbar angenehmen unterſchiedenes zulaſſen, dieſes
iſt einleuchtend. Denn zwiſchen beiden iſt der Krieg immer
lebhaft, und feiner Natur nach ein ewiger; und wie ſie hoͤchſt
gewaltſam und erkuͤnſtelt ſind, ſo ſind dennoch ſehr unzurei—
chend jene Ueberredungen, durch welche Ariſtippos beide zu
verſoͤhnen verſuchen will. Betrachten wir demnaͤchſt das auf—
bauende und ableitende Verfahren: ſo offenbart ſich hierin
ohne Unterſchied bei allen Syſtemen der Luſt die Unzulaͤng⸗
lichkeit des Grundſazes. Denn eines Theils werden in jedem
Moment ſowohl Aufforderungen zu einem mittelbaren zufams
mentreffen mit unmittelbarem, als auch wird jedem Gegen—
ſtande auf dieſe Art eine zwiefache Behandlungsweiſe zukom—
men; anderntheils aber iſt das zufaͤllig mitbewirkte, auch ſo
wie es ſich ſelbſt andeutet und in Betrachtung gezogen wer—
den muß, niemals zu berechnen‘, und eben fo koͤnnen auch
= 89
noch nach dem Entſchluß und waͤhrend der Erfuͤllung, auf
welcher doch bei dieſen alles beruht und nicht auf dem Ent—
ſchluß allein, die ſittlichen Verhaͤltniſſe ſich gaͤnzlich umgeſtal—
ten, ſo daß in vollem Maaße ſich die Andeutung des Platon
bewährt, daß die Sittenlehre auf dieſem Fuß keine Wiſſen—
ſchaft ſein koͤnne noch eine andere feſte Erkenntniß, ſondern
nur Wahrſagung und Eingebung. Auch geſteht Ariſtippos
dieſes unverholen, indem er zugiebt, daß nicht jeder Weiſe,
obſchon der Grundſaz in ihm ſich immer thaͤtig beweiſet, ſich
jederzeit wohlbefinden, noch auch dem Thoren, wiewohl er nie
die Luſt auf eine vernuͤnftige Weiſe hervorbringt, es immer
uͤbel ergehen werde. Ueberlegt nun Jemand weiter, wie alles
dieſes zuſammenhaͤngt mit dem Einfluß der aͤußerlichen Dinge
und der demſelben unterworfenen Ordnung des Bewußtſeins:
ſo dringt ſich die Ueberzeugung auf, daß die hoͤchſte Wohl—
berathenheit des Menſchen darin beſtehen wuͤrde, wenn der
angenehme Fluß ſeiner Empfindungen unabhaͤngig waͤre von
der aͤußerlichen Welt, welches, da die ſinnlichen Genuͤſſe ein
unentbehrlicher Beſtandtheil der Gluͤkkſeligkeit ſind, nicht an—
ders zu erreichen iſt als dadurch, daß ſie alle verwandelt
werden in Erinnerungen und Einbildungen, welche zuſammen—
wachſen muͤſſen in einen feſten Wahn, der durch nichts aͤu—
ßerliches zu ſtoͤren iſt. Auch ſo betrachtet, endet demnach
dieſe Weisheit in das aller Vernunft und Wiſſenſchaft grade
entgegengeſezte, indem ihr zwar nicht willkuͤhrlich erreichbares
aber doch gewuͤnſchtes und beneidetes Ziel kein anderes iſt
als ein froher und gluͤkklicher Wahnſinn; welcher Saz in
der wiſſenſchaftlichen Belehrung zwar nirgends vorgetragen,
wohl aber haͤufig genug von folgerechten Anhaͤngern der
Gluͤkkſeligkeit iſt anerkannt worden. Alles dieſes nun trift,
wenn es auch dem erſten Anblikk nicht ſo erſcheint, ebenfalls
die anglikaniſche Schule, in ſo fern ſie nemlich ihrem Grund—
ſaze getreu bleibt, und auch fuͤr das wohlwollende Handeln,
welches fie gebietet, die Luft als den Beſtimmungsgrund an⸗
giebt. Denn dieſe hat, ſo wie ihre eignen Stoͤrungen und
90
mit der Befriedigung zugleich bewirkten Widerwaͤrtigkeiten,
welche der Gegenſtand empfindſamer Klagen ſind, ſo auch ih—
ren eignen ſchuͤzenden und heilenden Wahn, indem einen beſ—
ſeren Namen wohl ſchwerlich dasjenige verdienen moͤchte, was
dieſe gemeinhin Enthuſiasmus nennen. Auch iſt ihr hoͤchſtes
Gut nicht minder ein veraͤnderliches Aggregat, bei deſſen ein—
zelnen Theilen, wenn fie das mannigfaltige erſchoͤpfen, und
alſo untereinander ungleich ſein ſollen, auch die unbequeme
Frage nach dem intenſiv ſtaͤrkeren nicht zu vermeiden iſt.
Denn es hat unter ihnen noch keinen gegeben, welcher dem
Ariſtippos nach bebauptet hätte, daß alle Gefühle von Hand-
lungen, bei denen die beiden Triebe in dem geforderten Gleich—
gewicht ſtehen, einander gleich waͤren, weil etwa jenes Gleich—
gewicht als eine chemiſche Saͤttigung angeſehen werden muͤßte,
fuͤr die es, anders als bei den koͤrperlichen Dingen, nur Eine
Stufe der Verbindung gaͤbe, und Ein Erzeugniß; oder als
ein Verhaͤltniß, in welchem die Groͤße der Glieder gleichguͤltig
waͤre. Was aber die Ableitung und Beſtimmung des ein—
zelnen nach ihrem Grundſaze betrifft: ſo erliegt dieſe noch unter
beſonderen Schwierigkeiten. Denn bei ihnen hat der Wahr⸗
heit nach das ſittliche die Eigenſchaft, welche man faͤlſchlich
dem des Ariſtoteles zugeſchrieben hat, daß es nemlich im
Uebergang liegt von einem unſittlichen zum andern, und ein
Mittelmaaß iſt zwiſchen zwei aͤußerſten, auch, weil dieſe
nicht beſtimmt werden koͤnnen, ſelbſt unbeſtimmbar. Denn
jede Neigung, welche zu ſchwach iſt um den Gleichgewichts—
punkt zu erreichen, iſt unſittlich, und uͤber denſelben hinaus
verſtaͤrkt wiederum. Will man nun hieraus die angedeutete
Folgerung nicht einraͤumen: ſo muß man behaupten, das
ſittliche entftände auch hier nicht durch das Wachſen derſel⸗
ben Neigung, ſondern durch die Gegenwirkung der andern;
wodurch denn offenbar alles ſittliche eine nur beziehungsmaͤ⸗
ßige Bedeutung erhaͤlt, indem jeder Trieb fuͤr den andern der
ſittliche wird, keiner aber es für ſich ſelbſt iſt. Wie aber auf
diefe Art, indem einem Uebel ausgewichen werden ſoll, das
i
91
andere gewählt wird, leuchtet ein; denn es kann niemanden ent⸗
gehen, daß der Fehler des Epikuros unvermeidlich iſt, ſobald
das ſittliche nur als Beſchraͤnkung erſcheint. Oder wie
ſollte es unſittlich gefunden werden, wenn einer der beiden
Triebe nicht ſtark genug geweſen, um von dem andern, der
dann keinen Stoff wahrgenommen, an der rechten Stelle ber
ſchraͤnkt zu werden? Ferner ſcheint auch hier eine doppelte
Beurtheilung zu entſtehen, indem jede Veranlaſſung ſowohl
auf die ſelbſtiſche als auf die wohlwollende Neigung zus
naͤchſt kann bezogen werden. Hier aber iſt es das eigentliche
Kunſtſtuͤkk jenes Gleichgewichts, daß, von welcher Seite auch
jemand ausgehe, der Durchſchnittspunkt immer der nemliche
fein muß. Nur findet es freilich ſchon die gemeine Beurtheis
lung wunderbar, daß beides ſoll für dieſelbe Handlung ges
halten werden, eine die von der Selbſtliebe und eine die vom
Wohlwollen ausgegangen; und wiſſenſchaftlich betrachtet
wuͤrde, wie leicht zu zeigen waͤre, die gaͤnzliche Verwerfung
einer Allen gemeinſchaftlichen Sittlichkeit daraus folgen. Wie
es ihnen aber ergeht, in ſo fern ſie ſchwankend von der Seite
der Luſt ſich auch an die der Thaͤtigkeit anſchließen wollen,
davon zu reden wird bald weiter unten der Ort ſich finden.
Gehen wir nun überhaupt zu denen über, deren ſittli⸗
ches reine Thaͤtigkeit iſt: fo zeigt ſich zuerſt, daß, was bei Je⸗
nen der gemeinſchaftliche und groͤßte Fehler war, dieſen nicht
kann beigelegt werden; denn bei ihnen iſt das hoͤchſte Gut
nicht, wuͤrde auch, haͤtte er ſich recht verſtanden, nicht beim
Ariſtoteles geweſen ſein, ein geſezlos zuſammengefuͤgtes und
veraͤnderliches, indem ja nicht die bloße Thaͤtigkeit als Ele⸗
ment deſſelben genannt wird, ſondern eine nach einem Geſez
ſo beſtimmte, daß eine Wahl zwiſchen Wechſel und Wieder—
holung, oder zwiſchen einer ftärferen und ſchwaͤcheren Thaͤtig⸗
keit nicht gedacht werden kann, und ſonach als ein Ganzes
betrachtet das hoͤchſte Gut überall nur eines iſt und ein bes
ſtimmtes. Oder wuͤrde es vielleicht nicht Jeder fuͤr Unſinn
erklaͤren, wenn jemand Bedenken aͤußern wollte, ob nicht das
92
hoͤchſte Gut ein größeres und vollendeteres fein würde, wenn es,
anſtatt auch einige tapfere Handlungen zu enthalten, aus lauter
Uebungen der Gerechtigkeit oder umgekehrt zuſammengefuͤgt
waͤre? oder wenn, da einige nur auf ſich ſelbſt oder eine geringe
Anzahl gerichtet ift, alle Thaͤtigkeit geſellig und bürgerlich wäre?
Auch verfehlen die Schulen dieſer Art nicht, einen fo wichti—
gen und ihnen guͤnſtigen Unterſchied dieſe ſo jene anders zu
bezeichnen. So Fichte, gleichſam mit einem Strich, durch
die geforderte gaͤnzliche Beſtimmtheit eines jeden Punktes im
der Reihe; die Stoiker aber minder vollkommen auf eine dop—
pelte Art, indem ſie zuerſt jeden Unterſchied der Groͤße, in
dem was ſittlich iſt, aufheben, und alle Tugenden einander
gleich machen, dann aber indem ſie laͤugnen, daß das hoͤchſte
Gut wachſen koͤnne durch die Laͤnge der Zeit. Beides nun
iſt unmittelbar nur gerichtet gegen den Mißverſtand des Ari—
ſtoteles, welcher unterſcheidet zwiſchen ſchoͤnen Handlungen
und den ſchoͤnſten, und keine Eudaͤmonie anerkennt ohne ein
vollſtaͤndiges Leben. Mithin iſt aus dem lezteren nicht zu
folgern, als ob ſie wie Ariſtippos nur das Element aner—
kannt, das Ganze aber gelaͤugnet haͤtten; ſondern was damit
in ihrem Syſtem gemeint iſt, erhellt nur durch Verglei—
chung mit ihren Ausdruͤkken uͤber das hoͤchſte Gut, welches
ſie ſezten in der ununterbrochenen Thaͤtigkeit deſſen, was ih—
nen die Quelle des ſittlichen iſt, oder, wie ſie es nennen, in
dem ungehinderten Fluß des Lebens, wobei, wie weit es
fließe, nicht in Betrachtung zu ziehen. So daß das hoͤchſte Gut
einer Hyperbel zu vergleichen iſt, welche gleich ſehr eine ſolche
bleibt, wie weit ſie auch zu beiden Seiten des Scheitelpunktes
fortgefuͤhrt worden. Daß aber auch eine ſolche Einheit und
Vollſtaͤndigkeit deſſelben in den Syſtemen der Luſt nicht zu
erreichen ſei, iſt genugſam gezeigt worden. Eben ſo wenig
kann die Aehnlichkeit mit Gott, welche beim Platon das hoͤchſte
Gut ausmacht, als ein veraͤnderliches angeſehen werden, da
alles, was nur zur Groͤße des Maaßſtabes gehoͤrt, in dem
Begriff nicht eingeſchloſſen iſt; noch auch des Spinoza Er⸗
|
1
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kenntniß Gottes in allen Dingen, wobei freilich die Stelle,
an welcher eine jede ſoll gegeben werden, als gleichguͤltig und
unbeſtimmt erſcheint, der Inhalt aber im Ganzen fuͤr die
Welt eines Jeden voͤllig beſtimmt iſt, weil dieſe Erkenntniß
als die einzige angemeſſene und wahre gewiß auch nur Eine ſein
kann. Daß dieſes weniger von dem Begriff der Vollkom—
menheit geſagt werden koͤnne, iſt nur ſcheinbar. Denn frei—
lich iſt das Ganze hier ein unendliches, aber doch nicht in
dem Sinne der Unbeſtimmbarkeit; ſondern wie das Ganze der
Form nach voͤllig beſtimmt iſt, ſo ſind es auch alle Theile
deſſelben in Beziehung auf ihr Ganzes, wenn gleich in Be—
ziehung auf das wirkliche ſelbſt unendlich. Soll aber von
dem hoͤchſten Gute der neueren Stoiſirenden, des Kant nem⸗
lich und Fichte, die Rede ſein: ſo muß dieſen erſt die Kritik
zu Huͤlfe kommen, und aus ihren Grundſaͤzen das dazu ge—
hörige hoͤchſte Gut bilden und aufſtellen, weil fie ſelbſt deſſen
für die Aufführung ihres Syſtems nicht zu bedürfen glaub
ten, und es daher unterlaſſen haben. Strenger iſt von Fichte
wenigſtens nicht noͤthig zu urtheilen, bei welchem auch das
unterlaſſene leichter iſt zu ergaͤnzen. Nemlich dasjenige, was
er bisweilen als das Hoͤchſte anfuͤhrt, die gaͤnzliche Unabhaͤn⸗
gigkeit des Ich, dieſes zwar iſt nicht in dem von uns aufge—
ſtellten Sinne fuͤr ſein hoͤchſtes Gut zu halten. Denn mit
demjenigen Ich, dafern es erlaubt iſt ſeine Sprache zu reden,
welches der Gegenſtand der Ethik iſt, ſteht die gaͤnzliche Un-
abhaͤngigkeit im Widerſpruche ſogar, und dieſer Gedanke iſt
ein die Ethik weit uͤberſteigender. Aber es iſt leicht zu ſe⸗
hen, daß ſein hoͤchſtes Gut kein anderes ſein kann als die
vollſtaͤndige Erfuͤllung des Berufs in Beziehung auf alle
Bedingungen der Ichheit; und es iſt von ſelbſt offenbar, daß
dieſe ein unveraͤnderliches und völlig abgeſchloſſenes Ganze
ausmacht. Eben ſo ergiebt ſich bei naͤherer Betrachtung des
Kantiſchen Grundſazes fuͤr dieſen als das Ganze ſeiner Wir⸗
kung die unbeſchraͤnkte Herrſchaft aller Maximen, welche, in
die Potenz der allgemeinen Gefeggebung erhoben, eine möge
94
liche Größe darſtellen. Dieſes nun ſcheint freilich nur eln
Zuſammengefuͤgtes zu fein, weil aus dem Ausdrukk ſelbſt nicht
hervorgeht, wie dieſe Maximen unter einander zu ſammenhaͤn⸗
gen: wird aber erwogen, daß eine Maxime nichts anders iſt,
als der Ausdrukk eines Vorzuges, welcher einem praktiſch
moͤglichen vor dem andern beigelegt wird, ſo zeigt ſich bald,
wie hierin allerdings ein ſyſtematiſcher Keim verborgen liegt.
Nicht ſo guͤnſtig aber kann man davon urtheilen, wie Kant
den Begriff des hoͤchſten Gutes angeſehen hat. Denn er laͤßt
ihn nicht etwa, wie Fichte, bei Seite liegen, ſondern ſtellt
unter ſeinem Namen etwas auf, was dieſem Namen gar nicht
entſpricht; ſo daß es das Anſehn gewinnt, als habe er die
wahre Bedeutung deſſelben auch bei Andern nicht verſtanden,
welches auch durch die Art, wie er andere Formeln auslegt
und beurtheilt, leider noch beſtaͤtiget wird. Haͤtte er nemlich
das hoͤchſte Gut vorgeſtellt als das Ganze, welches durch das
Sittengeſez in ſeiner Thaͤtigkeit gedacht moͤglich wird: ſo
hätte er weder vom Epikuros ſagen koͤnnen, ſein hoͤchſtes Gut
ſei die Tugend als Bewußtſein der Gluͤkkſeligkeit gedacht,
noch von den Stoikern, das ihrige beſtehe in der Gluͤkkſelig—
keit, ſofern ſie als Bewußtſein und Gefuͤhl der Tugend vor⸗
geſtellt werde. Denn dieſes waͤren Erzeugniſſe, welche, unge—
rechnet daß beide Schulen gar nicht darnach ſtreben, aus den
von ihnen aufgeſtellten Grundſaͤzen auch nicht hervorgehen
koͤnnen. Eben ſo nun iſt jene Vereinigung von Vollkommen⸗
heit und Gluͤkkſeligkeit, welche Kant als hoͤchſtes Gut des
Menſchen aufſtellt, durch menſchliche Thaͤtigkeit dem Grund—
ſaz gemaͤß gar nicht zu erreichen, und in ſo fern ebenfalls
eine kosmiſche und das Gebiet der Ethik weit hinter ſich laſ—
ſende Idee. Wie aber gerechtfertiget werden kann, daß eine
ſolche unter der Form eines Wunſches aufgeſtellt wird, wel⸗
ches doch ein wenn gleich nur leerer Wille iſt, der alſo aus
Gruͤnden innerhalb der Ethik muß vertheidigt werden koͤnnen:
dieſes mag wohl noch niemand, eingeſchloſſen den Urheber
ſelbſt, begriffen haben; ſondern nur die Urſach des Irrthums
N
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1 derſtanden werden, ſo wie ſie oben if verſtaͤndlich ge⸗
macht worden.
Sieht man ferner bei dieſen Syſtemen auf die Art, wie aus
dem Grundſaze das einzele ſowol im Leben hervorgebracht und
im Syſtem gefunden und dargeſtellt, als auch, wo es gege—
ben iſt, auf den Grundſaz bezogen werden kann: fo iſt zu bea
merken, daß die beiden leztgenannten und ihre Vorgaͤnger die
Stoiker wie den Grund, daß nemlich die ſittliche Thaͤtigkeit
bei ihnen von einer andern vorhergehenden ahhaͤngt, und dieſe
nur beſchraͤnkt und beſtimmt, ſo auch die Folge mit einander
gemein haben, daß fie nemlich die Unterlaſſung nicht als wis
derſittlich bezeichnen koͤnnen, und was, wie bereits erwaͤhnt,
hievon weiter abhaͤngt. Denn bei den Stoikern hat, wenn
keine erſte Aufregung und Forderung der Natur ergangen iſt,
auch die Vernunft nichts zu verbeſſern und zu regieren. Nun
deuten ſie zwar an, daß auch dieſes ſolle ſittlich beſtimmt
werden, indem ſie zum Beiſpiel ſagen, der Weiſe mache alles
wohl, was er thue ſowohl, als was er nicht thue; aber eben
dadurch, daß ſie nur an die Idee des Weiſen dieſes anzu—
knuͤpfen wiſſen, geſtehen ſie, daß in ihrem Syſtem keine Stelle
dafuͤr zu finden iſt. Auch muß auf dieſe Art der Beſchrei—
bung des Weiſen, wie auch beim Epikuros geſchah, ein Merk—
mal einverleibt werden, welches in der Beſchreibung des ſitt—
lichen Grundſazes ſowol als des hoͤchſten Gutes nichts ents
ſprechendes hat. Eben fo findet bei Fichte, wenn das Ges
wiſſen nicht gebietend geſprochen hat, weil der Naturtrieb nicht
auf dasjenige ging, was es als der Form des ſittlichen em⸗
pfaͤnglich hätte billigen koͤnnen, hierüber keine ethiſche Ver⸗
urtheilung ſtatt. Denn jedes Handeln ohne Ausſpruch des
Gewiſſens iſt zwar widerſittlich und verdammlich; hat aber
der Menſch ſich des Handelns ohne einen ſolchen begeben,
und mit Freiheit inne gehalten, damit mehr Naturtrieb ſich
entwikkeln moͤge: ſo iſt es lediglich die Sache der Natur in
ihm, und außer dem Gebiete der ſittlichen Kraft, ob ſich auch
zu . Zeit alles entwikkelt, worüber das Gewiſſen bejahend
96
zu fprechen hätte, oder ob manches unangeregt vorbeigeht;
und weder auf die Verlezung irgend einer einzelnen beſtimm—
ten Pflicht noch auf eines von jenen allgemeinen Grundla—
ſtern der menſchlichen Natur laͤßt dieſer Mangel ſich zuruͤkk—
fuͤhren. Daher auch dem Weiſen des Fichte, wenn er nicht
nur ohne Abweichung ſondern auch ohne jemals zu verſagen,
wie ein ſchlechter Griffel thut, die Reihe ſeines Berufs als
ein ſtetiges vollenden ſoll, außer der ſittlichen Kraft noch
eine Beſtimmung der Natur muß beigelegt werden, und jene
nicht minder huͤlflos und unzureichend iſt, als ſie beim Epi—
kuros ſich zeigte. So wird auch bei Kant ohne Tadel eine
leere Stelle entſtehn, ſo oft diejenige Maxime, welche der
Form der allgemeinen Geſezgebung entſprochen haͤtte, nicht iſt
ins Bewußtſein gekommen. Welchen Einfluß nun dieſes auf
das wirkliche Thun haben muß, iſt ebenfalls ſchon bei Gele—
genheit des Epikuros bemerkt worden; es zeigt ſich aber auf dem
Gebiete der Thaͤtigkeit nirgends beſſer als an den Kantiſchen
Formeln. So iſt es, ein Beiſpiel ſtatt aller, eine ungeſez—
maͤßige Maxime, daß einer der ſinnlichen Vergnuͤgungen pflege,
indeß er bei irgend einer allgemeinen Noth zu Aufrechthal—
tung oͤffentlicher Ordnung und Wohlergehens thaͤtig ſein
koͤnnte; wohl aber iſt es, fo ſpricht Kant, erlaubt ſich der
Gluͤkkſeligkeit zu befleißigen, als eines Mittels um den Ver—
ſuchungen zu Vernachlaͤßigung des oͤffentlichen Wohls zu ent—
gehen. Wenn nun Jemand jenes Stuͤkk feiner Pflicht nicht
wahrgenommen: ſo iſt dieſes Nichtwahrnehmen gar kein Han—
deln nach einer Maxime, alſo kein Gegenſtand ethiſcher Beur—
theilung, indem der Thaͤter nur nach der erlaubten Maxime
gehandelt hat, und dennoch iſt die Pflicht wirklich verſaͤumt und
eine ſittliche Luͤkke entſtanden. Die Nachfrage aber nach der
Verſchuldung jenes Nichtwahrnehmens findet weder in Kants
Ethik einen Ort, noch auch in Fichte's, wenn, was in der
ſittlichen Handlung aͤußerlich und materiel geweſen wäre, ſich
nicht unter den wirklichen Forderungen des Naturtriebes ges
funden hat; ſondern es muͤßte die Antwort genuͤgen, daß ſich
ihm
97
ihm jene Tugenduͤbung nicht dargeboten. Wogegen in einem
Syſtem, nach welchem die ſittliche Kraft nicht erſt eine andere
Thaͤtigkeit um die ihrige zu erwekken erfordert, ſondern als
urſpruͤnglich und ſelbſthandelnd geſezt wird, eben dieſes Nicht⸗
wahrnehmen als eine Wirkung ihrer Schwäche und unters
drüfften Reizbarkeit wäre getadelt worden. Betrachten wir
aber naͤchſt dieſem beurtheilenden und pruͤfenden nun auch
das Verfahren der Ableitung und Beſtimmung des einzel⸗
nen: ſo iſt zuerſt zu bemerken, wie eben dieſe drei, welche
ſich immer wieder zuſammenfinden, Kant nemlich die Stoiker
und Fichte, auch darin uͤbereinſtimmen, daß fie aus ihrem
Grundſaz allein, weil er bloß ein Verhaͤltniß ausdruͤkkt, nichts
beſtimmen und aufbauen koͤnnen ohne Dazwiſchenkunft eines
anderen Begrifs, welcher erſt dieſem Verhaͤltniß ſeinen Gehalt
giebt. Denn es betrachte Jemand von allen Seiten alle drei
Kantiſchen Formeln von der Schikklichkeit zur Geſezgebung,
oder von Behandlung der Menſchheit als Zwekk, oder auch
vom Reich der Zwekke: ſo wird es ſich als unmoͤglich zeigen,
hieraus allein irgend ein reales Geſez oder eine Tugend oder
Pflicht abzuleiten; ſondern fuͤr ſich, in dieſer Geſtalt, kann
der Grundſaz nur zur Pruͤfung eines gegebenen dienen, wenn
anders auch dieſes ihm kann zugeſtanden werden. Denn uͤber⸗
all, wo er ſelbſt Beiſpiele anfuͤhrt um ihn auch nur in dies
fer Hinſicht zu bewähren, zeigen ſich merkliche Mängel;
Zuerſt uͤberall, wo die Frage ſo geſtellt werden muß, ob wol
Jemand wollen koͤnne, daß dieſe und jene Maxime ein allge
meines Geſez werde, und das heißt nichts geringeres als bei
allem eigentlich ſittlichen im Gegenſaze des rechtlichen, zeigt
ſi ch der Grundſaz als unzureichend, weil jenem pruͤfenden
Willen doch auch ein Beſtimmungsgrund erſt muͤßte unterge⸗
legt werden, der alſo außerhalb des Grundſazes liegen würde; |
Aber auch ſelbſt da, wo ein Widerſpruch gradezu ſich ergiebt,
koͤnnen Zweifel entſtehen. Beim niedergelegten Gute zum
Beiſpiel, koͤnnte leicht Jemand den Widerſpruch von dem Ver⸗
fahren auf die Bedingung zuruͤkkwerfen und ſagen, es duͤrfe
Face Grundl. G
98
wol ein Erlaubnißgeſez ſein, aͤhnlich dem Lykurgiſchen des
Stehlens, dasjenige unterzuſchlagen, was auf ſolche Weiſe
niedergelegt worden, damit nicht die Traͤgheit, auf ein truͤgli⸗
ches Vertrauen geftüzt, ſich immer mit einer ſchlechten Form
begnuͤge, vielmehr eine beſſere deſto eher erfunden werde. So
daß auf der einen Seite zwar die Kantiſche Ethik dem Gehalt
und der Groͤße nach ganz buͤrgerlich und rechtlich zu ſein ſcheint,
auf der andern aber durch die noch uͤbrigen geringen ethiſchen
Anſpruͤche auch des rechtlichen Zuſtandes gründliche Ver⸗
beſſerung nur verzoͤgert. Doch dieſes, da es mit einem
Fehler zuſammenhaͤngt, von welchem hier nicht die Rede iſt,
nur im Vorbeigehen. Die Unfaͤhigkeit dieſes Grundſazes aber
aus ſich allein das einzelne abzuleiten, wird jeder eingeſte⸗
hen, weil auch eine Art wie es anzufangen wäre, nicht aufzu⸗
finden iſt. Eben ſo offenbar iſt dies an den Stoikern. Denn
die Naturgemaͤßheit fuͤr ſich iſt ein reiner Verhaͤltnißbegrif,
und kann nichts beſtimmen, bevor nicht die Natur beſtimmt
worden. Daß aber auch Fichte, wiewol er den Anſpruch
macht, von dem hoͤchſten Begriff der Selbſtthaͤtigkeit aus
durch regelmaͤßiges allmaͤhliges Fortſchreiten zu einer reellen
und anwendbaren Sittenlehre zu gelangen, ſich dennoch in
dem nemlichen Falle befinde, iſt nicht ſchwer zu ſehen. Denn
alle jene verſchiedenen Ausdruͤkke, welche bei ihm wie bei
Kant einen ſolchen Uebergang von dem bloß formellen zu dem
realen bilden ſollen, vermögen dieſe Aufgabe nicht zu loͤſen;
auch nicht der lezte, daß nur dasjenige im Naturtriebe mit den
Forderungen des reinen Triebes uͤbereinſtimme, worin ein Be⸗
handeln der Objecte nach ihren Endzwekken enthalten ſei. Von
hieraus zwar kommt er unmittelbar auf die weſentlichen Be⸗
dingungen der Ichheit, welche ihm wirklich das Mittel wer⸗
den den formalen Grundſaz in reale Gebote umzuſezen. Aber
der Schein, als ob er ſeinen Endzwekk erreicht habe, ver⸗
ſchwindet bald, wenn man erwaͤgt, daß die weſentlichſte unter
dieſen Bedingungen, auf welcher am Ende die ganze Ethik
beruht, gerade diejenige iſt, welche nicht als nothwendig ſon⸗
.
99
dern nur als eine bloße Möglichfeit abgeleitet und eingeſehen
werden konnte, nemlich die Mehrheit der Individuen. Merk⸗
wuͤrdig und wahrhaft magiſch, nichts weniger aber als all—
maͤhlig und regelmaͤßig, iſt in der That die Art, wie die als
nothwendig geforderte einmalige Aufforderung des Ich ſich
verwandelt in die Gemeinheit der Vernunftweſen. Denn,
moͤchte einer fragen, waͤre es nicht hinreichend und warlich
ein kleineres Wunder geweſen, wenn, worauf doch als auf ein
moͤgliches Fichte anderwaͤrts hindeutet, ein hoͤheres Weſen
ſich des Ichs mitleidig erbarmt haͤtte, und ihm ein Geiſt,
nach der Weiſe ſeiner Beſtimmung, erſchienen waͤre? Und
waͤre, wenn einmal das mythiſche unentbehrlich iſt, ein ſol—
ches nicht beſſer? Oder woher iſt denn das Ich gewiß, daß
was als ein Kunſtwerk erſcheint, ein ſolches auch wirklich iſt?
und ſollte dieſe Meinung einen andern Urſprung haben, als
jene Furcht, welche vom verſtuͤmmelten Daumen den Namen
fuͤhrt, weil ſie geneigt iſt, ſich ſelbſt uͤbles zuzufuͤgen, wie ſie
denn auch hier ohne Grund ſich die Freiheit verſtuͤmmelt?
Denn eine ſolche Furcht vor dem eignen Schatten toͤnt auch
gewaltig laut in dem von Fichte angefuͤhrten praͤchtigen Aus⸗
ſpruch eines andern, welcher ſchaudernd ſtill ſteht, wo es ihm
zuruft, hier iſt Menſchheit. Ja koͤnnte wol ſelbſt das An⸗
nehmen eines Geiſtes der ganzen Lehre des Fichte ſo nachthei—
lig ſein, als wenn etwa einer aus allem dieſen die Folgerung
zoͤge, das als unentbehrlich geſuchte Supplement der Ver-
nunft um die Ichheit zu ergaͤnzen, ſei doch vielleicht am Ende
nirgends anders zu finden, als in jenen, aus ihr fo nachdrüffs
lich verwieſenen Kräften, in der Liebe nemlich und der Fanta⸗
ſie? Nun iſt freilich wahr, daß Fichte ſelbſt geſteht, von hier
an, nemlich von der Mehrheit der Individuen, werde die Sit⸗
tenlehre eine bedingte Wiſſenſchaft, die auf einer Voraus ſe⸗
zung beruht: aber nicht ſo ausdruͤkklich geſteht er, daß dieſes
von hier an ihr Alles iſt, ſondern gedenkt ſich doch noch et⸗
was zuruͤkkzubehalten von dem falſchen Ruhme, den er nur
gar nicht haͤtte verkuͤndigen ſollen. Deshalb nun ſind die
ER . G 2
100
Stoiker vorzuziehen, welche denſelben Verbindungsbegriff ganz
frei und offen als eine willkuͤhrlich angenommene Erklaͤrung
hinſtellen. Denn daß es bei beiden derſelbige iſt, kann nie⸗
mand bezweifeln, es muͤßte einer in des Fichte Bedingungen
der Ichheit, dem Leibe, der Intelligenz, und dem Zuſammen⸗
hange mit mehreren, die ſtoiſchen Merkmale der menſchlichen
Natur verkennen wollen, nemlich das Thier, die Vernunft
und die Geſelligkeit. Wie aber Fichte mit den Stoikern zuſam⸗
menſtimmt, ſo iſt wiederum in der Art, wie Kant die Vermittlung
zwiſchen dem Grundſaz und dem einzelnen ethiſchen einrich—
tet, ſein natuͤrlicher Hang zur anglikaniſchen Schule, wie we—
nig auch er ſelbſt ſich deſſen bewußt geweſen ſei, auf keine
Weiſe zu verkennen; und man kann ſagen, ſeine Sittenlehre
endige in dem Verſuch jenem politiſchen Eudaͤmonismus eine,
wie es eben gehen will, wiſſenſchaftliche Geſtalt zu geben.
Denn was eigentlich haͤtte ſein Verbindungsbegriff ſein ſollen,
eine reale Bezeichnung der Totalitaͤt menſchlicher Maximen, aus
welcher dann die einzelnen hätten hergeleitet und ihr Verhälts
niß zur allgemeinen Geſezgebung beſtimmt werden koͤnnen,
das wuͤrde zulezt doch immer nur ein etwas anders geſtalteter
Begriff der menſchlichen Natur geworden ſein, eben wie bei
jenen. Wie anders nun als vom Drange natürlicher Neigung
geleitet, kann er dahin gediehen fein, den Umfang aller Maris
men im voraus einzuſchraͤnken auf die beiden der eignen Voll-
kommenheit und fremden Gluͤkkſeligkeit? Denn was er dar—
über erlaͤuternd und rechtfertigend beibringt, wird niemand für
einen Erweis halten. Daß aber dieſe Neigung ganz anglifas
niſch iſt, erhellt daraus, daß auch die Vollkommenheit ihm
nur Zwekk iſt als Mittel zu andern Zwekken, und daß fo=
nach kein Zwekk, der zugleich Pflicht waͤre, uͤbrig bleibt als
eben die fremde Gluͤkkſeligkeit, alſo auch keine ſittliche Kraft
als das Wohlwollen. Dieſes beilaͤufig von dem Geiſt und
der Ableitung der Verbindungsbegriffe in dieſen Schulen.
Worauf es aber hier bei Pruͤfung ihrer Tauglichkeit ankommt,
iſt nicht dieſes, ſondern eine Eigenſchaft, welche allen dreien
101
gemein iſt, daß nemlich der Verbindungsbegriff eine unver⸗
bundene Mehrheit von Merkmalen enthaͤlt, welches eine fichere
Ableitung unmoͤglich macht. Denn es laͤßt ſich zwar im Sy⸗
ſtem darſtellen, was nun ſittlich ſei in Beziehung auf den
Leib oder die Intelligenz oder die Gemeinſchaft mit den vore
handenen Individuen; aber das Verhaͤltniß iſt nicht beſtimmt,
in welchem dieſe einzelnen ethiſchen Realitaͤten gegen eins
ander ſtehen, welche Unbeſtimmheit denn die Anwendung im
Leben gaͤnzlich verhindert. Will nemlich angenommen werden,
es duͤrften einzelne Handlungen ausſchließend eine auf den
Leib und eine andere auf den Geiſt oder die Geſellſchaft bezo⸗
gen werden: ſo ergiebt ſich fuͤr jeden Moment eine Mehrheit,
aus welcher gewaͤhlt werden muß, weil die Anſpruͤche dieſer
Gegenftände ftetig fortlaufen, und in jedem Moment für jeden
einiges zu thun bleibet, fo daß zum Beiſpiel, einer ſich une
unterbrochen mit ſeinem Leibe beſchaͤftigen koͤnnte, ohne doch
etwas anderes zu thun, als ihn zum Werkzeuge des Sitten:
geſezes moͤglichſt auszubilden. Daß alſo dieſe Methode nicht
anzunehmen iſt, leuchtet ein. Will man aber ſagen, welches
das einzige uͤbrige waͤre, es muͤßte jede Handlung ſich auf
alle dieſe Gegenſtaͤnde zugleich beziehen: ſo fehlt jede Regel
des Verfahrens bei dieſer gegenſeitigen Beſtimmung und Bes
grenzung, kann auch aus dem Begriff, in welchem ſie ſelbſt
nicht geſezmaͤßig verbunden ſind, unmoͤglich hergenommen wer⸗
den. Am eheſten waͤre dieſes zu erwarten geweſen von Fichte,
der ſich eine ſolche Methode der gegenfeitigen Beſtimmung
und Begrenzung eines Gebietes durch das andere beſonders
zu eigen gemacht; und es iſt merkwuͤrdig für die Schaͤzung
ſeiner ethiſchen Eigenthuͤmlichkeit, daß er ſich ihrer grade hier
nicht bedient, ſondern an dem unvollſtaͤndigen Verfahren der
Fruͤheren Genuͤge gefunden. So lange aber dieſes Hülfsmits
tel nicht gefunden iſt, bleibt bei einer ſolchen Anlage der
Streit einer Pflicht mit der andern nicht nur hie und da
5 ſondern fuͤr jeden Augenblikk unvermeidlich. Dem gleichen
Tadel iſt, ſo wenigſtens wie ſie bis jezt bearbeitet worden,
102
diejenige Ethik unterworfen, welche von dem Begriff der Voll⸗
kommenheit ausgeht, in welchem nicht nur eine unbeſtimmte,
und in dieſem Sinne unendliche Groͤße der Kraft, ſondern
auch ein Verhaͤltniß ihrer verſchiedenen Aeußerungen geſezt
iſt. Denn da dieſes zu beſtimmen ebenfalls noch kein Geſez
aufgeſtellt iſt: ſo muͤßte entweder ganz willkuͤhrlich jenes ſchon
erwaͤhnte allgemeine Muſterbild vorgezeichnet, oder eine unbe⸗
ſtimmte Mehrheit ſolcher Verhaͤltniſſe angenommen, und nur
von jedem Einzelnen die Gleicherhaltung irgend eines davon
gefordert werden. Welches von beiden aber auch geſchehe,
ſo entſteht immer eine doppelte Aufgabe, theils das angenom⸗ a
mene Verhaͤltniß hervorzubringen, theils in den Beſtimmun⸗
gen deſſelben die Größe der einzelnen Factoren zu erhöhen,
Nun kann freilich die lezterwaͤhnte Behandlung, welche einem
Jeden ſein eignes Ideal anweiſet, ſich der erſten Aufgabe ent⸗
ziehen, und gleichmaͤßig mit der dieſer Anſicht gegenuͤberſte⸗
henden folgerechten Behandlung der Gluͤkkſeligkeitslehre vor⸗
ſchreiben, es ſolle kein Verhaͤltniß hervorgebracht, ſondern nur
dasjenige feſtgehalten und ausgebildet werden, in welchem ein
jeder zuerſt ſich ſelbſt findet. Allein auch dieſes vorausgeſezt,
finden wir doch hier den obigen Streit wieder zwiſchen den
Anſpruͤchen der einzelnen Factoren, indem jeder die ſeinigen
auf jeden Zeittheil ohne Ausnahme richten kann. Daher wir
hier nicht nur einen Streit zwiſchen zwei Partheien, ſondern
einen allgemeinen Aufruhr erblikken unter einer unbeſtimmten
Menge, je nachdem die natuͤrliche Seelenkunde, mehr oder
minder mannigfaltiges in der menſchlichen Natur annimmt;
ſo daß man ſagen kann, hier zeige ſich die aͤußerſte Hoͤhe der
Verwirrung, die aus einer ſolchen unverbundenen Mehrheit
entſteht, und werde alſo auch hier am lauteſten eine Einheit
des Begriffs gefordert, welcher den Umfang alles ethiſch be⸗
ſtimmbaren bezeichnen ſoll. Ehe wir aber dies Syſtem der
Vollkommenheit verlaſſen, iſt daſſelbe noch zu betrachten in
Beziehung auf die erſte Frage von dem Zugleichſein und der
Uebereinſtimmung der verſchiedenen Ausdruͤkke der hoͤchſten
103
ethiſchen Idee. Hier zeigt fih nun, daß fo wie offenbar dies
ſes Syſtem mit der Idee des hoͤchſten Gutes anfängt; fo im
Gegentheil das Geſez nach demſelben gar nicht auszudruͤkken
iſt. Denn die Vollkommenheit iſt offenbar das Ganze des 90
bewirkenden, und die Formel, Vervollkommne Dich ſelbſt,
heißt nur, dieſes hoͤchſte Gut ſoll wirklich gemacht werden,
und bezieht ſich keinesweges auf das einzelne, da in keinem
Falle aus ihr unmittelbar das unter gegebenen Umſtaͤnden
zu thuende kann beſtimmt werden. Daß aber überall ein fols
ches Geſez fuͤr dieſe Idee nicht zu finden iſt, erhellt aus dem
vorigen. Denn es muͤßte die Regel des Verfahrens fuͤr das
Einzelne aus dem Ausdrukk des hoͤchſten Gutes abgeleitet
werden, vermoͤge desjenigen Begriffes, der den Eintheilungs⸗
grund deſſelben enthaͤlt, dieſe Eintheilung aber iſt dem obigen
zufolge unbeſtimmt, und eigentlich ohne Grund. Ferner aber,
wie ſollte auch, ſo lange jene Einheit noch nicht gefunden iſt,
eine ſolche Regel moͤglich ſein, da die eine Forderung dieſes
Syſtems, nemlich die intenſive Erhoͤhung, mit der andern,
wenn auch dieſe nur die Feſthaltung eines beſtimmten Nor⸗
malverhaͤltniſſes, nicht erſt die Hervorbringung deſſelben, ſein
ſollte, im graden Widerſpruche ſteht. Denn ſo lange noch
das Subjekt der Vervollkommnung als ein mannigfaltiges
gedacht wird, kann auch die Erhöhung nicht anders als theil⸗
weiſe geboten werden; eine jede ſolche aber verruͤkkt das Ver⸗
haͤltniß unvermeidlich. Eben wie wann eine als Aggregat aus⸗
gedrüffte Größe potenzirt oder auch nur vervielfacht werden
ſoll, wo auch bis zur Vollendung jedes Glied, mit welchem
die Handlung vorgenommen wird, ein der Form und Abſicht
des Ganzen zuwiderlaufendes Uebergewicht erhaͤlt. So daß man
ſagen kann, dieſes Syſtem endige, wiewol aus einer andern Ur⸗
ſache als das der Gluͤkkſeligkeit, ebenfalls in Unthätigfeit,
weil nemlich das ſittliche nicht anders als durch einen un⸗
unterbrochenen Wechſel des unſittlichen hervorgebracht werden
kann. Aufs Hoͤchſte gebracht aber wird dieſer Widerſpruch,
104
wenn noch mit der Vollkommenheit in Verbindung gebracht
werden ſoll die Gluͤkkſeligkeit. Denn dieſe, wenn ſie wirkliche
Luſt fein fol, entſteht vorzuͤglich aus einer theilweiſen Thaͤ⸗
tigkeit, wie ſchon der Name zeigt, den jede von dem Theile
erhaͤlt, auf welchen ſie ſich bezieht, und widerſpricht alſo dem
Gleichgewicht, welches zur Vollkommenheit gehoͤrt; ſoll ſie
aber nur Schmerzloſigkeit ſein duͤrfen, ſo mag ſie wol dieſem
Gleichgewicht entſprechen, wuͤrde aber geſtoͤrt werden durch die
Vervollkommnung, und auch gegenſeitig dieſe verhindern, in
dem fie vor der Zeit ein Gefühl von Selbſtgenuͤgen hervor—
braͤchte. Aufs deutlichſte alſo erhellt auch hieraus, wie keine
andere Verbindung von Luſt und Thaͤtigkeit moͤglich iſt, als
diejenige, welche Spinoza aufſtellt, wo nemlich die Thaͤtigkeit
nur eine iſt, und die Luſt nur eine, und beide zwar unzer⸗
trennlich verbunden, doch ſo, daß der Wille unmittelbar nur
auf jene darf gerichtet werden. Wie denn uͤberhaupt die jezt
geruͤgten Fehler auf die Nothwendigkeit fuͤhren, eine ſolche
Einheit des menſchlichen Thuns und Strebens in der Ethik
überall zum Grunde zu legen, wie Fichte fie zwar gefordert,
nicht aber gefunden hat, und Spinoza ſie zwar aufſtellt, aber
ohne ſie durch die That, nemlich die vollſtaͤndige Ausfuͤhrung des
Syſtems, erwieſen zu haben. Allein es endiget noch auf eine an⸗
dere Weiſe die Sittenlehre der Vervollkommnung in Unthaͤtig⸗
keit, in ſo fern ſie nemlich ein natuͤrliches Streben iſt nach
jener Muße, deren ſich die Goͤtter des Epikuros und Ariſto⸗
teles erfreuen. Denn ganz das Gegentheil von andern, wel⸗
che ein Bilden des Menſchen an ſich ſelbſt gebieten, als Mit⸗
tel um ſo und ſo handeln zu koͤnnen, wird hier alles Han⸗
—
deln eigentlich nur gefordert, als Mittel zum Werden, und
genau genommen jede ſogenannte Tugend aufgehoben, welche
mehr unter als uͤber der bereits erworbenen Fertigkeit liegt,
als welche keine Uebung mehr ſein kann, und die Zeit nur
vergebens ausfällt. Je mehr nun die Vollkommenheit waͤchſt,
um deſto weniger bleibt über ihr zuruͤkk, und wenn fie er⸗
103
reicht wäre, wäre auch der Grund des Handelns erſchoͤpft,
und in einer beſchaulichen Ruhe alles ſittliche geendigt.
Vielleicht auch koͤnnte jemand, einen noch ſchaͤrferen Gegen—
ſaz der Ausführung gegen die Abſicht ſuchend, noch lieber fas
gen wollen, ihr Bewirktes ſei nur Rohheit, weil ſie die all—
feitige Bildung nur in einem regelloſen Wechſel abſichtlicher
Einſeitigkeit darzuſtellen wiſſe. Von dieſer Seite nun fuͤhrt
ſie auf die Idee des Platon, als auf die Rettung deren ſie
benoͤthiget iſt, welcher nemlich einen andern handelnden Gott,
und die Aehnlichkeit mit dieſem als den hoͤchſten Zwekk ein=
führt, Denn fo iſt eines Theils das Handeln in einem ans
dern Sinne unentbehrlich, nemlich als das Bilden und Dar
ſtellen, welches Eins iſt mit dem Sein und Beſtehen des
Geiſtes, und daher der hoͤchſten Vollkommenheit nur am mei⸗
ſten eigen; anderntheils auch iſt ſo der Streit uͤber die Zeit
zwiſchen dem einzelnen geſchlichtet, weil ein göttliche Hans
deln mit einer ewigen Ordnung auch eine beſtimmte Reihe
alles deſſen, was erfolgen ſoll, ſeiner Natur nach enthaͤlt.
Wie alſo alle Fehler, welche in den Syſtemen der Thaͤtigkeit
aus der beſchraͤnkenden Natur der Sittlichkeit, und aus der
unguͤnſtigen Beſchaffenheit des die Anwendung vermittelnden
Begriffs entſtehen, in den Darſtellungen des Platon und des
Spinoza am beſten vermieden werden, dieſes erhellt aus dem
bisherigen zur Genuͤge.
Zwei Gegenfäze von Beſtimmungen der höchften ethiſchen
Idee ſind aber noch zu betrachten uͤbrig, welche, als der
Wirkung nach zuſammengehoͤrig, auch hier neben einander ſol⸗
ken geſtellt werden. Zuerſt nemlich kann, auch wenn der ſitt⸗
liche Trieb nicht als abhaͤngig und bloß beſchraͤnkend, ſondern
als ſelbſtthaͤtig und unabhaͤngig geſezt wird, dennoch entwe⸗
der er allein als im ſittlichen Zuſtande alles beſtimmend, und
ausſchließlich thaͤtig angenommen werden, oder neben ihm noch
ein anderer zugelaſſen, wäre es auch nur um dasjenige zu verrich⸗
ten, was des erſteren unwuͤrdig zu ſein ſcheint. Offenbar nun
*
106
iſt, daß nur in dem erſten Falle alles menſchliche Handeln
einen beſtimmten ſittlichen Werth haben kann, in dem lezten
aber dasjenige, was dem ſittlichen Triebe zwar nicht wider⸗
ſpricht, aber was auch nicht durch ihn hervorgebracht worden,
als außerhalb feines Gebietes gelegen und als ethiſch gleich-
guͤltig erſcheinen muß. Dieſes nun iſt der wahre Umkreis
des Begriffs der ſogenannten Mitteldinge. Denn was einige
Neuere noch ſonſt ſo nennen, verdient nicht mit hieher gezogen
zu werden, iſt auch ethiſch betrachtet nichts beſonderes, ſon⸗
dern nur die Aus ſage, daß eine Frage nicht vollſtaͤndig auf⸗
geworfen worden iſt, auf welche dann auch natuͤrlich keine be⸗
ſtimmte Antwort erfolgen kann. Die Alten unterſchieden bei⸗
des ſehr richtig, und bezeichneten das leztere als das nicht an
ſich ſondern nur zufaͤllig gute oder boͤſe. Dieſelbige Folge
nun ergiebt ſich auch da, wo der ſittliche Trieb nur beſchraͤn⸗
kend iſt, ſo daß er jedesmal durch den andern muß aufgeregt
werden, und wo zugleich die Regel fehlt, um alles ſittliche
Handeln, als eine beſtimmte Reihe ausmachend, vorzuſtellen.
Denn in dieſem Falle muß alles, was in dem natuͤrlichen
Triebe diesſeits ſeines Durchſchnittspunktes mit dem ſittlichen
liegt, als in gleichem Grade ethiſch moͤglich, das heißt, als
gleichguͤltig und nur erlaubt ſich darſtellen. Dagegen, wo
eine beſtimmte Reihe geſezt wird, nur dem Durchſchnittspunkt
ſelbſt die ethiſche Moͤglichkeit, und eben deshalb mit ihr zu⸗
gleich die Nothwendigkeit zukommt. Daher auch finden wir
in dem Syſtem des Fichte, welches jene Beſtimmtheit der
Reihe ſo feſt zu halten beſtrebt iſt, den Begriff der Mittel⸗
dinge nicht unvermeidlich, noch ausdruͤkklich gebilliget. Wol
aber tritt er ſtark hervor bei den Stoikern und beim Epikuros.
Denn die vorzuziehenden Dinge bei jenen, und bei dieſem die
poſitive, in der Bewegung ſich erweiſende Luſt, ſo weit ſie
nemlich aus den natürlichen Begierden entſteht, nehmen die
gleiche Stelle ein im Syſtem, und ſtehen ſich genau gegen⸗
über, als dasjenige, was, man beſtimme es fo oder anders,
107
die Sittlichkeit weder vermehrt noch vermindert, fondern nur
die Oberflaͤche ihrer Erſcheinung gleichſam faͤrbt und veraͤn⸗
dert. Bei Kant ſinden ſich dieſe Mitteldinge nicht nur we⸗
gen der mangelhaften Natur der Sittlichkeit und der Unbe⸗
ſtimmtheit der Reihe, ſondern auch weil er ſelbſt im ſittli⸗
chen Zuſtande neben dem auf dieſen gerichteten Triebe auch
den die eigne Luſt ſuchenden noch, wiewol nur im Dunkeln,
fortwirken laͤßt, welches wol keinem mit ſeiner Darſtellung
bekannten erſt erwieſen zu werden braucht. Jedoch gebraucht
auch er zuweilen den Begriff, auch wohin er nicht gehoͤrt, als
ein Huͤlfsmittel der faulen Vernunft. Nicht minder muͤßte
er in der anglikaniſchen Schule bei denen angetroffen werden,
welche den wohlwollenden Trieb vorzugsweiſe als den ſittli⸗
chen anſehen. Daß nun dieſe Mitteldinge ein in der wiſſen⸗
ſchaftlichen Ethik ganz unſtatthafter Begriff ſind, dieſes iſt
leicht zu ſehen; denn offenbar begrenzt dieſer Begriff den Um⸗
fang der ſittlichen Beſtimmbarkeit auf eine hoͤchſt willkuͤhrliche
Art, indem er nur einen Schein des natuͤrlichen hat, wenn
man ſieht auf die gegebene Entſtehung einer That. Betrach⸗
tet man dagegen den Inhalt derſelben, ſo wird man unter
allen dieſen Mitteldingen kein einziges finden, wie klein ſie
auch oft des Beiſpiels wegen ausgepraͤgt werden, welches
nicht auch von dem ſittlichen Triebe aus haͤtte koͤnnen entwe⸗
der gefordert oder auch verworfen werden. Daher ſtoͤren ſie
ſowol die Stetigkeit des ſittlichen Handelns im Leben, als
auch den Zuſammenhang in der Darſtellung, und machen die
Wahrheit der ethiſchen Ideen uͤberhaupt verdaͤchtig, indem ſie
hindern, daß dieſe ſich nicht durchgaͤngig bewaͤhren koͤnnen.
Auf alle Weiſe alſo waͤre es eine Verbeſſerung geweſen in
der Lehre ſeines Meiſters, welche Ariſton von Chios einfuͤhren
wollte, indem er behauptete, es duͤrfe, wo das Gute ſein
ſolle, auch gar kein Trieb ſtatt finden und keine Bewegung
des Gemuͤthes auf dasjenige, was zwiſchen der Tugend liegt
und dem Laſter. Denn daß er dieſes allein ſollte als den
=
108
hoͤchſten Zwekk, und daswerfchöpfende Merkmal des ſittlichen
aufgeſtellt haben, iſt gewiß nur ein thoͤrigtes Mißverſtaͤndniß
der ſpaͤteren Erzaͤhler. Offenbar richtig aber iſt der Grund⸗
ſaz, daß Ethik als Wiſſenſchaft nicht beſtehen kann, wenn ſie
nicht das Recht ſowol als die Pflicht hat, das Ganze des
menſchlichen Handelns zu umfaſſen, und daß in einem als
vollſtaͤndig gedachten ſittlichen Leben alles Thun ſich in ein
ſittliches und folglich ethiſch zu beurtheilendes verwandeln,
was aber noch auf eine andere Weiſe entſteht, als aufzuhe—
bend und jener Vollſtaͤndigkeit Abbruch thuend muß angefes
hen werden. Nur auf eine ſolche Art nun erſcheint alles,
was aus einem andern Triebe hervorgegangen iſt, im Platon
ſowol als im Spinoza. Denn jener, wenn er auch den
Grundſaz ſelbſt nirgends ausdruͤkklich anerkannt haͤtte, ſtellt,
ſo lange dergleichen vorhanden iſt, auch die Sittlichkeit noch
dar als im Streite begriffen, und alſo unvollkommen. Die⸗
ſer aber, wenn gleich er die vollſtaͤndige Sittlichkeit fuͤr un⸗
moͤglich der menſchlichen Natur erklaͤrt, zeigt nur deſto ſtaͤrker
die Reinheit ſeiner wiſſenſchaftlichen Anſicht, wenn ſelbſt die
geglaubte Unvermeidlichkeit ihn nicht bewegen kann für gleich⸗
guͤltig zu erklaͤren, was nicht unmittelbar aus der Thaͤtigkeit
des reinen in feiner Vollſtaͤndigkeit aufgefaßten Triebes her⸗
vorgegangen iſt. Was er aber bisweilen aͤußert, daß die
nicht durch die Vernunft erzeugten Handlungen ſowol gut
ſein koͤnnten als boͤſe, kann keinesweges als ein Gegenerweis
gelten. Denn es iſt nur theils in dem eingeſchraͤnkten Sinn
zu verſtehen, den er ſelbſt von dem wiſſenſchaftlichen untere
ſcheidet, ja auch in dieſem nur zufaͤllig; theils iſt es nur ge⸗
ſagt im Streit gegen die vielgehoͤrte und mit feiner Voraus—
ſezung unvertraͤgliche Behauptung, daß von dem boͤſen aus
auch in ununterbrochener Reihe nur boͤſes koͤnne angeknuͤpft
werden.
Derſelbe Grundſaz der Beurtheilung nun entſcheidet auch
uͤber den lezten Gegenſaz, den nemlich, ob nur in dem ge⸗
109
meinſchaftlichen der menſchlichen Natur, oder in dem eigens
thuͤmlichen eines Jeden das ſittliche ſoll anzutreffen ſein, und
ob eins das andere ausſchließen darf, oder beides mit einan⸗
der zu verknuͤpfen iſt. Wie nun das eigenthuͤmliche allein,
wenn ihm das gemeinſchaftliche untergeordnet, und alſo die—
ſes als ſolches ausgeſchloſſen wird, in ein unbeſtimmtes und
unbeſtimmbares mannigfaltiges nothwendig zerfaͤhrt, dieſes
hat ſich ſchon oben an den eudaͤmoniſtiſchen Sittenlehren ges
zeigt. Und daß auch in den praktiſchen nichts anderes zu ers
warten iſt, kann man ebenfalls aus jenen erſehen, wenn man
denjenigen Theil, welcher dort freilich faͤlſchlich nur als Mit—
tel, dennoch bildend und thaͤtig iſt, betrachtet, ſo wie dieſe
mit Verachtung aller Hinſicht auf das gemeinſchaftliche ges
forderte Bildung und Vollendung irgend einer gleichviel wel—
cher Gemuͤthsart, weniger in wiſſenſchaftlichen Vortraͤgen als
im Leben und deſſen Vertheidigung, von denen der gallifanis
ſchen Schule iſt als hoͤchſter Zwekk aufgeſtellt worden. Soll
aber das ſittliche nur in dem gemeinſchaftlichen zu finden ſein,
alles eigenthuͤmliche aber als aufzuhebend gaͤnzlich ausge—
ſchloſſen: ſo iſt offenbar, daß, wenn auch nicht ganze Gebiete
von Handlungen doch in allen irgend etwas, nicht kann ethiſch
beſtimmt werden; ſondern uͤberall wird in der Art und Weiſe,
wie etwas kann verrichtet werden, noch vieles frei bleiben.
Beſtimmt aber muß doch durchgaͤngig ſein, was wirklich ge—
ſchehen ſoll, und ſo tritt auf einmal entweder eine unbedingte
Willkuͤhr oder irgend ein Mechanismus, es ſei nun ein
aͤußerer der Gewohnheiten und Sitten, oder ein innerer der
Neigungen in das ethiſche Gebiet ein. Man ſehe nur wie
Kant bisweilen unter dem lezteren ſeufzt, und ſich dafuͤr den
erſteren herwuͤnſcht. Ein ſolcher Mechanismus aber kann nicht
entſtehen, wenn nicht die Geſeze deſſelben ſchon eine Menge
von Handlungen beſtimmt haben, welches nicht ohne Voruͤber⸗
gehung des ſittlichen Geſezes geſchehen konnte, ſo daß auch
hier das Zuſtandekommen des ſittlichen abhaͤngig wird von
6
110
einem fruͤheren unſittlichen. Aber auch ganze Handlungen
ſelbſt giebt es, welche bloß von dem gemeinſchaftlichen aus
nicht koͤnnen beſtimmt werden. Woher zum Beiſpiel ſollte
ein allgemeiner Beſtimmungsgrund genommen werden, nach
welchem der Menſch ſeinen Stand und Beruf waͤhlen, oder
feſtſezen koͤnnte, ob er in eine gewiſſe Geſellſchaft, die eheliche
zum Beiſpiel, jezt treten ſollte oder ſpaͤter oder gar nicht.
Denn wo, wenn ſie nicht in dem eigenthuͤmlichen eines je⸗
den liegen ſollen, waͤren die Momente jener beſten Ueberzeu⸗
gung, nach der und nicht nach Neigung wir uns, wie Fichte
denkt, in dieſen Dingen entſcheiden ſollen? Auch iſt Fichte
faſt der einzige unter den Neueren, welcher dieſer Gegenſtaͤnde
erwaͤhnt. Die Alten aber fuͤhlten die Unmoͤglichkeit ſehr wol,
ſie gut begruͤndet in das Syſtem hineinzubringen, und ſtellen
daher die Frage immer fo, ob wol der Weiſe dieſes oder jes
nes thun werde oder nicht, durch deren Beantwortung fie freis
lich die Sache, wie ja der Weiſe ein allgemeines Muſterbild
fein ſollte, auch allgemein entſchieden, doch aber mit dem Be⸗
wußtſein, daß ſie dies in der Ordnung und nach der Weiſe
des Syſtems nicht bewerkſtelligen koͤnnten. Wie nun die
Aufgabe, in welche dieſes zu endigen ſcheint, die Verbindung
nemlich des allgemeinen mit dem eigenthuͤmlichen, und des
einen Beſtimmung durch das andere, noch am erſten geloͤſt
werden kann nach den Ideen des Spinoza und Platon, iſt
auch ſchon erwaͤhnt. Ja unmittelbar beruͤhrt, und von einer
Seite nicht uͤbel geloͤſt, kann man ſagen, daß ſie ſchon ſei
durch die gewiß nicht platoniſche und der Idee der Aehnlich⸗
keit mit Gott angemeſſene Eintheilung des ganzen ſittlichen
Geſchaͤfts in die Entwerfung der Lebensweiſe und die Fuͤh⸗
rung des Lebens. Denn in jenem Theile wird das eigens
thuͤmliche feſtgeſtellt, und nur durch das gemeinſchaftliche bes
grenzt, in dieſem aber walten die allgemeinen Geſeze vor, ſo
jedoch, daß alles durch jenes Eigenthuͤmliche 15 und
darauf bezogen wird. |
111
Dieſes nun ſei genug von den bemerkten Verſchiedenhei⸗
ten der Grundſaͤze. Denn es reicht hin, ſowol den wiſſen⸗
ſchaftlichen Werth der bisherigen Ethik in dieſer Hinſicht zu
pruͤfen, als auch die Aufgabe zu bezeichnen, welche derjenige
ſich vorzulegen hat, der einen genuͤgenden Grundſaz der Sit
tenlehre aufſtellen will. Und nun zur Pruͤfung der einzelnen
ſittlichen Begriffe, welche wir in den verſchiedenen Syſtemen
antreffen werden.
112
n hb a n
Erlaͤuterungen zu dem, was von einigen Schulen
geſagt worden.
J. Daz Ariſtoteles noch in einem beſonderen Sinne vor
Andern die Sittenlehre der Staatslehre untergeordnet, und
jene vornemlich als Vorbereitung und Elementarlehre zu dieſer
bearbeitet hat, dies erhellt fuͤr diejenigen, welche alles mit
ausdruͤkklichen Worten vernehmen muͤſſen, aus der Einleitung
und dem Ende der Nikomachiſchen Ethik. Dieſe aber demje—
nigen, von welchem ſie den Namen traͤgt, als ihrem Urheber
zuzuſchreiben, weil doch nicht einzuſehen ſei, warum wol der
Sohn nicht ſollte dem Vater gleich haben denken und fihreis
ben gekonnt, dieſes, wenn es nicht etwa eine ſchielende Er:
mahnung ſein ſoll an ſeinen Sohn Marcus, iſt vielleicht das
aͤrgſte unter allem unkritiſchen, was Marcus Tullius ausge⸗
geſprochen. Denn wenn auch Jemand, eben wegen der Mehr⸗
heit derſelben und dem Grade von Aehnlichkeit, geneigt ſein
ſollte, die Abfaſſung aller drei ethiſchen Werke des Ariſtoteles
eben ſo viel Schuͤlern deſſelben beizulegen, welche jeder ſeine
Erinnerungen aus den Vorträgen des Lehrers zuſammengetra⸗
gen: fo widerſpricht doch dieſer Meinung in Hinſicht der Nis
komachiſchen eben jenes Ende zu deutlich. Wenn man nem⸗
lich nicht entweder auch demſelben auf gleiche Weiſe die Pos
| litik
*
113
litik verdanken wollte, wovon ſich aber keine Spur eines
Zeugniſſes findet, oder den Sohn fuͤr unverſtaͤndig genug hal⸗
ten, das abgeſonderte Werk mit einer ſo ausdruͤkklichen Hin⸗
weiſung zu beſchließen; in welchem Falle jedoch dieſe Ver⸗
knuͤpfung gleichmaͤßig auf den Vater muͤßte zuruͤkkgefuͤhrt wer⸗
den. Diejenigen aber, welche etwas tiefer eindringen, werden
aus den Anſichten, von welchen Ariſtoteles ausgeht, ſchon
nichts anderes erwarten. Denn indem er der Ethik nur das
Gebiet anweiſet, die Tugenden des unvernuͤnftigen Theiles im
Menſchen zu verzeichnen: ſo kann ſie ſchon deshalb ihren
Zwekk nicht in ſich ſelbſt haben, welcher kein anderer ſein
koͤnnte, als das rein genießende Leben; ſondern muß demjeni⸗
gen dienen, was ein Zwekk des vernünftigen Theiles iſt, ents
weder alſo nach ſeiner Anſicht dem bloß beſchaulichen und
wiſſenſchaftlichen, oder dem geſelligen und den Staat bilden—
den. Von jenem finden ſich mehrere Spuren in der Eudemi⸗
ſchen Ethik, in welcher die Verbindung mit der Politik bei-
nahe verwiſcht iſt; das leztere aber iſt die herrſchende Bezie-
hung in der Nikomachiſchen ſowol als der großen.
Demohnerachtet aber iſt Ariſtoteles, hiſtoriſch betrachtet,
der Mittelpunkt der alten Sittenlehre, aus welchem auf der
einen Seite die Stoiker ſich genaͤhrt und gebildet, auf der an—
dern aber Epikuros, und zwar ſo, daß jene gleichſam die eine
Haͤlfte ſeiner Darſtellung mit dem Geiſt und Leben der Cy⸗
niker verbinden, dieſer aber die andere mit dem der Kyrenai⸗
ker, und er alſo, ohne daß man ihn ſelbſt dieſer Eigenſchaft be⸗
ſchuldigen koͤnnte, dennoch die Quelle des negativen und beſchraͤn⸗
kenden Charakters der Ethik geworden zu ſein ſcheint ſowol in
dem Syſtem der Luſt als in dem der Thaͤtigkeit. Denn die Na⸗
turgemaͤßheit der Stoiker beſagt ganz das nemliche, was ſeine
Formel, daß die Eudaͤmonie darin beſtehe, wenn fuͤr einen
insbeſondere dasjenige gut iſt, was an ſich und im allgemei⸗
nen muß dafuͤr gehalten werden; und ihre Herrſchaft der
Vernunft uͤber den natuͤrlichen Trieb der Selbſterhaltung iſt
genau daſſelbe mit ſeinem Gehorſam des unvernuͤnftigen Thei⸗
Schleierm. Grundl.
—
114
les gegen den vernünftigen, fo daß jener dieſen nicht beein⸗
traͤchtige in ſeinem eignen Werk und Leben. Ja auch ihre
dem Streit gegen die Anhaͤnger der Luſt zum Grunde gelegte
Anſicht von dieſer, daß ſie nur ein Mit- und Nacherzeugniß
der Handlung fei, iſt offenbar genug aus ihm entlehnt. Dar
gegen hat Epikuros gleichfalls von ihm den ſeine ganze Lehre
umfaſſenden Unterſchied, wodurch er die des Ariſtippos zu
verbeſſern glaubte, den nemlich zwiſchen der beruhigenden Luſt
und der reizenden, und den natürlichen und unnatuͤrlichen Bes
gierden. Wie nun dieſe beiden mit einander entzweiet ſind,
und alſo ſeine verſchiedenen Elemente in Widerſtreit geſezt ba;
ben, iſt bekannt. Wollte aber jemand aus dem Zufammens
hange feiner Ideen, und auch ausdruͤkklich aus dem Schluß
der Eudemiſchen Ethik, wenn dieſer grade ſo von ihm ſollte
herruͤhren koͤnnen, die Folgerung ziehn, daß wenn man feine
Ethik in Verbindung ſeze mit dem beſchaulichen Leben, ſie in
die Lehre und Anſicht des Spinoza hinuͤberſpiele: fo wäre
auch dieſes allerdings eine fruchtbare Betrachtung. Dieſe
Theilbarkeit aber daraus vollſtaͤndig zu begreifen, daß es ihm
an Sinn gefehlt fuͤr den eigenthuͤmlichen Weg des Platon,
wird einem jeden aus dem bisherigen leicht genug ſein.
II. Richtig iſt demnach in dieſer Hinſicht was den Stoi—
kern ſo oft, und ſchon vor Alters vorgeworfen worden, daß
ſie nichts neues erfunden; und den Peripatetikern war nicht
zu verargen, daß fie im Streite der Schulen dieſe Beſchuldi⸗
gung vorbrachten. Nicht zu rechtfertigen aber iſt die Art, wie
jener ſonſt preiswuͤrdige Roͤmer ſie nachſpricht, ohne weder auf
das Verhaͤltniß der Stoiker zu der Cyniſchen Schule die ges
buͤhrende Ruͤkkſicht zu nehmen, noch auch, wie es von dem
zu fordern iſt, der uͤber den Schulen zu ſtehen ſich anmaaßt,
den Geiſt des ganzen von den hiſtoriſchen Beziehungen des
einzelnen zu unterſcheiden. Doch wie wenig er uͤberall von
der Philoſophie der Hellenen verſtand, dieſes zu beweiſen ſind
gleichſam alle ſeine Werke dieſer Art im Wettſtreit begriffen.
Man ſehe nur, wie er alle die verſchiedenen ſtoiſchen Formeln
ß 18
|
frühere und fpätere durch einander wirft, ohne auch nur eine
Ahndung weder von ihrer Verſchiedenheit noch von der Art wie
ſie doch wieder eins ſind, ſondern als haͤtte er etwa mit ſchlech—
ten Tautologien zu thun oder mit redneriſchen Erklaͤrungen,
deren man, weil keine genau iſt, mehrere zuſammenſtellt. Oder
wie er ſelbſt den Epikuros, ſo ſtolz er auch das Gegentheil
betheuert, mißverſtanden, und wie ſchlecht und gegen den
Geiſt des Syſtems er ſeinen Torquatus den Ahnherrn ver—
theidigen laͤßt uͤber die Hinrichtung des Sohnes; oder wie er
in der Stoa ſowol als in der Lehre des Platon und Ariſto—
teles die ganz ausgearteten Nachfolger mit den erſten Mei—
ſtern zuſammenwirft, und uͤber den Unterſchied der Syſteme
ohne alle Einſicht in den Geiſt unbefangen hinredet. So daß
jeder andere Bericht ſelbſt aus den Sammlungen des unver—
ſtaͤndigen Diogenes, wenn ſie nur mit Verſtand geleſen wer—
den, ein ſicherer Wegweiſer iſt, und daß wer aus dem Cicero
die Ethik der Aeltern wollte kennen lernen, gewiß nicht beſſer
berathen waͤre, als wer irgend ein Syſtem der Sittenlehre
aus der neueſten allgemeinen und kritiſchen Geſchichte dieſer
Wiſſenſchaft beurtheilen wollte.
III. Ein Gegenſtuͤkk zu der erwaͤhnten Vieldeutigkeit des
Ariſtoteles iſt die anglikaniſche Schule mit ihrem Hinuͤberſpie—
len in die verſchiedenſten Anſichten. Niemand aber wird hof—
fentlich die ſehr verſchiedene Urſache dieſer Erſcheinung bei die—
ſer und bei jenem mit einander verwechſeln. Eher koͤnnte es
villeicht unbillig erſcheinen, das, was von ſo verſchiedenen
Schriftſtellern herruͤhrt, gefliſſentlich zuſammenzuſtellen, und
wol gar erſt dadurch den Schein der Unbeſtimmtheit und des
Widerſpruches hervorzubringen. Allein keinem, der ſie genau
kennt, wird die Gleichheit entgehen, wenn gleich Shaftesbury
ſich mehr dem Platon zu naͤhern ſcheint, Hume dagegen das
Ariſtippiſche Element aufgefaßt hat, und Ferguſon gar von
vielen fuͤr einen Stoiker iſt gehalten worden. Denn wie im
Shaftesbury das Gleichgewicht beider Triebe die Hauptſache
iſt, leuchtet für ſich ein. Vom Hutcheſon aber kann man far
| 92 |
116
gen, fein ſittlicher Sinn ſei nur für den Durchſchnittspunkt
beider daſſelbe Gefuͤhl, welches bei Fichte das Gewiſſen iſt
für die Uebereinſtimmung des wirklichen Ich mit dem ur—
ſpruͤnglichen. Smith hingegen hat mit feinem Grundfaz, wels
cher die Sympathie der Menſchen zum Kennzeichen des Sitt—
lichen macht, alles uͤberboten, was oben geſagt worden iſt
uͤber die Art, wie das Wohlwollen wieder in die Selbſtliebe
zuruͤkkehrt; denn gewiß werden die Beobachtenden nicht ſym—
pathiſiren mit demjenigen, deſſen ſelbſtliebige Triebe zu ſchwach
find, weil fonft auch feine wohlwollenden ſich ſelbſt zerftören,
und ſeine Erhaltung dann ihnen vergeblich zur Laſt fiele. Ja
auch andere, die gewoͤhnlich von dieſen getrennt werden, wie
Clarke und Wollaſton, gehoͤren nicht minder zu derſelbigen
Schule. Denn des erſteren angemeſſene Behandlung der
Dinge iſt nichts als eine uͤber den Menſchen hinaus erwei⸗
terte Sympathie. Wollaſton aber ſezt bei den Saͤzen, welche
er aus den Handlungen zieht, uͤberall das Wohlwollen vor—
aus, und einer Vorausſezung von der Anſicht, nach welcher
gehandelt worden, bedarf er, weil ſonſt aus einer Handlung
unzaͤhlige Saͤze koͤnnten gezogen werden. Und auch nur in
Abſicht auf dieſe Einrichtung und Form des pruͤfenden Vers
fahrens kann man ſagen, daß er dem Kant vorangegangen.
Wie wenig Werth auch daher das den Englaͤndern gemein—
ſchaftliche haben mag, wie denn, wer einigen wiſſenſchaftlichen
Sinn in ſich hat, noch die gallikaniſche Darſtellung vorziehen
muß: ſo bleibt ihnen doch der Ruhm faſt ausſchließend unter
den Neueren, eine Art von Schule zu bilden, welche ſich noch
mehr durch die Angemeſſenheit zur ganzen Denkart des Vole
kes als ein in wiſſenſchaftliche Form gebrachtes Erzeugniß
ihres gemeinſchaftlichen Verſtandes bewaͤhrt.
IV. um aber im Zuſammenhange zu uͤberſehen, wie jene
drei verſchiedenen Geſtalten der oberſten ethiſchen Idee auch
von den Alten ſind wahrgenommen und unterſchieden worden,
iſt folgendes zu bemerken. Zuerſt nemlich, daß das Wort,
welches wir durch Glüfffeligfeit zu übertragen pflegen, wie
117
es auch ſchon in der gewöhnlichen Rede, aus der es heruͤber
genommen iſt, halb gemein war und halb myſtiſch, ſo auch
im Gebrauch der Schule leicht von jedem ſich konnte angeeig—
net werden. Daher keinesweges derſelbe Inhalt uͤberall un—
terzulegen iſt, ſondern das gleichfoͤrmige iſt nur die Stelle des
Begriffs im Syſtem. Wie denn offenbar der ſchwerſchei—
nende Saz der Stoiker und des Epikuros, von der Eudaimo—
nie des Weiſen auch unter allen Martern, zwar der Form
nach bei beiden daſſelbe bedeutet, dem Inhalt nach aber et—
was ganz verſchiedenes. Weshalb auch Epikuros zwar die—
ſes behaupten konnte, Ariſtippos aber es mit Ariſtoteles laͤug—
nen mußte. Hier nun ſind die meiſten, und unter ihnen auch
Kant durch das Wort getaͤuſcht worden, und haben die Stoi—
ker beſchuldigt, als haͤtten ſie eine Summe von angenehmen
Empfindungen in ihrem hoͤchſten Gut. Dann erdichteten ſie
ſich weiter, wol der Zuſammenſtimmung wegen, einen noch
weniger veranlaßten Vorwurf gegen den Epikuros, als habe
auch er eine Tugend, in praktiſchem Sinne nemlich, in dem
ſeinigen. Ferner, was die Alten den Zwekk nannten, auf den
alles bezogen und um deswillen alles gewaͤhlt wird, dieſer
Ausdrukk wird nur bisweilen uneigentlich fuͤr das hoͤchſte
Gut gebraucht, und ſoll eigentlich dasjenige bezeichnen, was
fuͤr alle Handlungen gemeinſchaftlich der naͤchſte Beſtimmungs—
grund iſt bei der Wahl. Alſo daſſelbe was in unſrer Sprache
das Geſez genannt wird; nur daß die Alten ſelten den In
halt diefer Formel unabhängig darſiellen, ſondern zurüffges
fuͤhrt auf den Begriff der Guͤter oder der Tugend. Hieraus
ſind mehrere theils ſchwer zu vereinigende Aeußerungen, theils
offenbare Mißverſtaͤndniſſe ſpaͤterer Berichterſtatter am beſten
zu verſtehen. Wer aber aus der Uebertragung des Marcus
Cicero dieſes widerlegen wollte, der erinnere ſich an mehrere
ſolche Unſchikklichkeiten, wie er zum Beiſpiel das, was die
Stoiker die mittlere Pflicht nennen im Gegenſaz der vollende—
ten, ganz ohne Sinn als die angefangene dollmetſcht. End⸗
lich indem die Alten die Frage aufwerfen und beantworten,
118
was denn um ſein ſelbſt, und was um eines anderen willen
gewaͤhlt werde, ſo uͤberſehen ſie den großen Unterſchied zwi—
ſchen dem Zuſammenhange des Theils mit dem Ganzen, und
dem des Mittels mit dem Zwekk, und ſagen auch von dem Theil,
in Beziehung auf fein Ganzes, er werde um eines andern.
willen gewaͤhlt, ohne zu bedenken, daß bei einer ſolchen Fort—
ſchreitung kein Uebergang des Willens Statt finde von einem
Gegenſtand zum andern, ſondern vielmehr ein ſtandhaftes
Verharren bei einem und demſelbigen. Daher ſo manche
Saͤze, die uns wunderlich erſcheinen, zum Beiſpiel, daß die
Tugend um ihrer ſelbſt, aber auch um des hoͤchſten Gutes
willen gewaͤhlt werde. Daß ſie aber die Idee des Weiſen
ganz ſo gebrauchen, wie es der obigen Ableitung gemaͤß iſt,
dies erhellt faſt aus allen Spruͤchen, die in allen Syſtemen
von ihm vorkommen, und waͤre unnoͤthig ausfuͤhrlicher zu
beweiſen. |
Zweites Buch.
Kritik det ethiſchen Begriffe.
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85
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72
Einleitung.
RAN Kea ah
Von der Methode die ethiſchen Begriffe zu bilden, und
von der Art wie die vorhandenen erſcheinen.
Di. untergeordneten Begriffe, wie verfchieden fie auch fein
mögen, ſowol dem Umfange nach als in der Geſtalt, koͤn—
nen in ihrer Beziehung auf das Syſtem nicht anders gedacht
werden, als daß ſie durch Ableitung hervorgegangen ſind aus
der hoͤchſten Idee. Deshalb auch war es nothwendig, die
Pruͤfung von dieſer anzufangen, und dann erſt zu den Be⸗
griffen, als dem niedrigeren, herabzuſteigen. Da es jedoch
eine Dialektik giebt, welche fuͤr alle Wiſſenſchaften, und ſo
auch fuͤr die Ethik das Gegentheil behaupten moͤchte: ſo iſt
dieſe zuvor mit wenigem zurecht zu weiſen. Die Behaup⸗
tung nemlich geht in Beziehung auf unſern Gegenſtand dahin,
daß die ſittliche Idee ſelbſt nur auf dem Wege der Abſonde⸗
rung gefunden worden, nachdem man an verſchiedenen Arten
der Handlungen den Gegenſaz zwiſchen dem einige derſelben
begleitenden Beifall und dem den andern nachfolgenden
Mißfallen beobachtet. Dieſes aber ſelbſt vorausgeſezt, da es
eines Theils eine lediglich geſchichtliche Frage iſt, und als
ſolche in unſern Zwekk nicht eingreift, in einem andern Sinne
aber genommen hoͤher liegt als die jezige Unterſuchung: ſo
ergiebt ſich doch daraus keinesweges das gefolgerte. Denn
122
wenn auch die ethiſche Idee erſt fo haͤtte muͤſſen gefunden
werden, ſo entſteht daraus ein Schein freilich, als ob jene
Begriffe muͤßten fruͤher vorhanden ſein, welcher jedoch ſelbſt
die Sache ſo weit erleuchtet, daß Jeder ſieht, ſie ſind nicht
ethiſche Begriffe geweſen, und ethiſche Begriffe vor der Idee
muͤſſen auch bei dieſer Anſicht fuͤr Unſinn gehalten werden.
Was nemlich jene Begriffe des Beifalls und der Mißbilligung
anbetrifft, ſo koͤnnen ſie freilich, in ſo fern ſie zur Entwiffes
lung der ethiſchen Idee hingefuͤhrt, ebenfalls ethiſche geweſen
ſein: allein eben inſofern koͤnnen ſie auch nur angeſehen wer—
den als Anwendungen dieſer Idee, und als, wenn gleich un—
entwikkelt, ſie in ſich enthaltend und ſich auf ſie beziehend.
Was aber die Arten und Abtheilungen menſchlicher Handlun—
gen betrifft, welche vor Beobachtung jener Merkmale gemacht
worden: ſo koͤnnen dieſe nicht ethiſche geweſen ſein, und es
muͤſſen vielmehr in ihnen ſittliche und unſittliche Handlungen
mit einander vermiſcht gefunden werden. Wenn man zum
Beiſpiel abgetheilt hatte nach den Kraͤften, in Handlungen
des Verſtandes und Willens, oder nach der Anſchaulichkeit,
in innere und aͤußere, oder nach der Wirkung, in ſolche die
nur den Handelnden ſelbſt und ſolche die auch Andere an—
gehn, oder wie irgend ſonſt vor Auffindung der ſittlichen Be—
griffe: ſo iſt weder einzuſehn, wie dieſe Begriffe eher in jenen
kleineren Haufen haͤtten gefunden werden koͤnnen, als in der
großen geſammten Maſſe, und wie alſo in Beziehung auf ſie
die Abtheilungen anders als ganz zufaͤllig ſein koͤnnen, noch
auch dem gemaͤß, wie bei dieſer Zufaͤlligkeit ſolche Abtheilun—
gen uͤbergetragen werden koͤnnen in das Syſtem der Ethik,
fo daß es richtig wäre in dieſer zu unterſcheiden zwiſchen beis
faͤlligen und mißfaͤlligen Handlungen des Verſtandes und
Willens, oder gegen ſich ſelbſt und andere. Vielmehr wäre
von vorn herein das Gegentheil zu vermuthen, daß nemlich
auf ſolche Art die ſittliche Idee nicht gliedermaͤßig, wie fie
gewachſen iſt, zerlegt, ſondern widernatuͤrlich müßte zerhakkt
und zerbrochen fein; indem ja das dialektiſche Verfahren mit
123
Bewußtſein gar nicht von ihr fondern von einem fremden
Gebiet ausgegangen iſt. Sollte es ſich aber demohnerachtet
entgegengeſezt verhalten: ſo koͤnnte doch dies nicht anders be—
waͤhrt und anerkannt werden, als indem das Verhaͤltniß die—
ſer Begriffe zur hoͤchſten Idee der Ethik dargelegt, und ſie da—
durch aufs neue und regelmaͤßig gebildet wuͤrden. Und nur
dann wäre ihre Stelle im Syſtem keiner Anfechtung ausge-
ſezt, wenn ſich hieraus ergaͤbe, daß ſie durch reine Ableitung
ebenfalls haͤtten koͤnnen gefunden werden. Welchen etwa die—
ſes noch zweifelhaft ſein ſollte, die moͤgen bedenken, wie es
ſelbſt mit den natuͤrlichen und ſichtbaren Gegenſtaͤnden ſich
nicht anders verhaͤlt. So moͤchte Jemand behaupten, man
habe lange zuvor ehe die naturwiſſenſchaftliche Idee eines
thieriſchen Koͤrperbaues vorhanden geweſen, ſchon einzelne dar—
unter gehoͤrige Begriffe gefunden, und unter mancherlei Ab—
theilungen die lebenden Weſen geordnet und zuſammengeſtellt.
Sweierlei aber wird dennoch muͤſſen zugegeben werden, einmal
daß auch die roheren Verſuche dieſer Art nicht im Geiſt einer
ächten Naturbeſchreibung geweſen, wie denn viele derſelben,
ſo wie die Behandlung ſich naͤher an jene Idee angeſchloſſen
hat, wieder haben zerſtoͤrt werden muͤſſen, und das gleiche
Schikkſal noch mehreren bevorſteht, je genauer in Zukunft die
Naturkenntniß alles fuͤr die hoͤhere Wiſſenſchaft bearbeiten
wird. Anderntheils aber, daß anderen, obgleich in unvollen—
deter Geſtalt, jene Idee zum Grunde gelegen, und ſie nur,
indem dieſes vollkommner dargeſtellt worden, in der Wiſſen—
ſchaft mit Recht ihren Plaz eingenommen haben. Eben ſo
nun werden auch in der Ethik die Begriffe ihre wiſſenſchaft—
lichen Anſpruͤche nur behaupten koͤnnen, wenn ſie als aus der
Idee abgeleitet und ihr entſprechend anzuſehen ſind; und die—
ſes alſo iſt der Maaßſtab, nach welchem ſie in unſerer Unter—
ſuchung muͤſſen gepruͤft werden. Wenn nun bei Betrachtung
der verſchiedenen Syſteme eine Mehrheit von Begriffen ſich
darſtellt: fo werden dieſe entweder alle gegen einander ſich
verhalten, wie obere und untere und gleichen untergeordnete;
124
oder es werden einige zu andern in dieſem Verhaͤltniß nicht
ſtehen, ſo daß nicht nur von Begriffen, ſondern auch von
Reihen eine Mehrheit zu entdekken iſt. Was zuerſt diejenigen
betrifft, welche untereinander eine Reihe bilden, ſo iſt zuvoͤr—
derſt der Eintheilungsgrund zu betrachten, welcher Gehalt und
Umfang eines jeden beſtimmt, ob er aus der ethiſchen Idee
oder dem mit ihr zugleich gegebenen Gebiet ihrer Anwendung
hergenommen iſt. Ferner aber iſt zu bemerken, daß es in je—
der Reihe zwei Arten von Begriffen geben muß, wenn ſie als
geſchloſſen ſoll angeſehen werden, von welchen die einen moͤchten
formale zu nennen ſein, die anderen aber reale. Jene naͤmlich
ſagen bloß eine Beziehung aus auf die ſittliche Idee, es ſei
nun allgemein oder mit Bezeichnung eines beſchraͤnkten um-
fangs, und tragen eben in Hinſicht auf dieſen Umfang das
Merkmal der weiteren Theilbarkeit an ſich. Soll nun dieſe
nicht ins Unendliche fortgehn: ſo muß zulezt der Raum die—
ſer Begriffe ausgefuͤllt werden durch reale, ſolche nemlich,
welche nicht weiter als theilbar gedacht werden, und ein
Princip der Einheit in ſich ſelbſt haben. Und dieſes eben
muͤßte bei ihnen beſonders noch gepruͤft werden, ob es ein
ſittliches iſt oder ein fremdartiges. So zum Beiſpiel waͤre
der Begriff der Tugend im allgemeinen ſowol als auch be—
ſonders der geſelligen Tugend, ein formaler und in Abſicht
auf ſeinen Umfang noch weiter hin theilbar. Als ein realer
hingegen und untheilbar wird gedacht der Begriff der Wohl—
thaͤtigkeit oder jeder andern beſtimmten Tugend. Getheilt
freilich kann auch dieſer werden, wie man ſich denn denken
kann eine Wohlthaͤtigkeit durch Mittheilung und eine durch
Handlung, oder eine, welche ſich auf das aͤußere, und eine
andere, welche ſich auf das innere bezieht. Indem er aber
aufgeſtellt wird als ein realer Begriff: ſo wird behauptet,
daß jede ſolche Theilung, wie nuͤzlich ſie auch ſein moͤge zu
irgend einem Behuf, dennoch den Vorbehalt mit ſich fuͤhre,
daß das eigentlich ſittliche durch ſie nicht weiter getheilt werde.
Denn es wird vorausgeſezt, daß wer dieſe Tugend beſizt, ſie
125
auch ganz befize, und daß nicht wieder Theile von ihr gedacht
werden koͤnnen, die als Tugenden in der Wirklichkeit koͤnnen
abgeſondert erſcheinen; welches zum Beiſpiel in dem obigen
Begriff der geſelligen Tugend, als einem formalen, nicht war
gedacht worden. Demnaͤchſt aber iſt offenbar, daß in einem
Syſtem der Ethik mehrere Reihen von Begriffen koͤnnen und
vielleicht ſollen gefunden werden, indem aus jeder von den
verſchiedenen Geſtalten, unter denen die oberſte Idee angetrofs
fen wird, auch eine eigene Reihe von Begriffen muß abzulei—
ten ſein. Weshalb auch darauf zu merken iſt, auf welche
von dieſen Geſtalten eine jede Reihe ſich bezieht, und ob al—
les, was unter derſelben enthalten iſt, auch dieſer Beziehung
treu bleibt, ohne zu verwildern und durch Vermiſchung aus—
zuarten. Wird nun dieſes angewendet auf die verſchiedenen
Syſteme, welche vorhanden ſind: ſo ergiebt ſich zuerſt, daß
die formalen Begriffe ſelbſt, um fo mehr, je weiter fie hinab—
ſteigen, in einem jeden verſchieden ſein muͤſſen von denen in
allen uͤbrigen, und ſo auch noch mehr die realen. Denn wie
waͤre es, was die lezten betrifft, moͤglich, daß aus Ideen, die
im Inhalt ganz verſchieden find, das einzelne ſollte gleich
und aͤhnlich koͤnnen entwikkelt werden. Was aber die erſten
anbelangt, ſo iſt ebenfalls klar genug, daß der verſchiedene
Inhalt der Idee auch einen ganz verſchiedenen Eintheilungs—
grund geben muß, und daß in verſchiedenen Syſtemen nur
etwa die allgemeinen Ausdruͤkke des ſittlichen Bejahens und
Verneinens koͤnnen dieſelbigen ſein. Vielleicht moͤchte Jemand
hiegegen einwenden, daß nicht die Idee ſelbſt duͤrfte getheilt
werden, ſondern vielmehr das ihr angewieſene Gebiet, und
dieſes koͤnnte ja in mehreren das nemliche ſein, wie denn fuͤr
daſſelbe mehrere den allgemeinen Ausdrukk menſchliche Natur
mit einander gemein haben. Aber auch dieſe wird ja, wenn
die Idee anders iſt, nach einem anderen Grunde muͤſſen ges
theilt werden; und gewiß wird, dafern es folgerecht ſein will,
ein Syſtem, welches auf die bloße Empfindung ausgeht,
eine andere Theilung vornehmen, als dasjenige, welches die
J
126
Thaͤtigkeit ſelbſt ſich zum Biel ſezt. Noch weniger etwa würde
der Einwurf beſagen, es koͤnne ja der allgemeine Begriff der
Angemeſſenheit zur ſittlichen Idee, ohne Hinſicht auf den Ge—
halt von dieſer, getheilt werden nach einem logiſchen Princip,
ſo wie etwa Kant uns aufſtellt das Verzeichniß der Katego—
rien der Freiheit in Anſehung der Begriffe des guten und boͤ—
ſen, woraus denn offenbar formale Begriffe entſtehen, welche
in allen Syſtemen ohne Unterſchied des Gehaltes ihrer For—
derungen muͤßten zu brauchen ſein. Denn die Tafel ſelbſt
zeigt genugſam das Gegentheil, indem darin bald unter einer
Abtheilung vereinigt iſt, was ſtattfinden kann in der Ethik,
und was nicht; bald Theilungen gemacht ſind, welche ethiſch
gar keine Bedeutung haben, bald durch einander geworfen,
was getrennt ſein ſollte; ſo daß nicht Noth iſt in Beziehung
auf ſie viel gegen diejenigen zu ſagen, welche meinen, das
Heil muͤſſe uͤberall zu finden ſein bei einem ſolchen Verfah⸗
ren. Ja Kant ſelbſt erklaͤret woͤrtlich ſowol als durch die
That, daß ſeine Abſicht damit mehr auf eine Annaͤherung der
ethiſchen Begriffe von außen her gegangen, als auf derſelben
Erfindung und Anordnung. Ferner aber, was die von ein⸗
ander unabhaͤngigen Begriffe betrifft, welche die verſchiedenen
Reihen anfangen: ſo waͤre zu unterſuchen, wie vollſtaͤndig
eine jede ausgeführt worden, noch mehr aber, ob auch wirfs
lich eine richtige Beziehung auf die entſprechende Geſtalt der
hoͤchſten Idee zum Grunde gelegen. Dem zu Folge alſo
muͤßte jedes Syſtem ſeinen eignen geſchloſſenen Kreis ethi—
ſcher Begriffe haben, durch welche der geſammte Umfang des
ſittlichen Gebietes anders als bei andern getheilt, und durch
andre reale Einheiten ausgefuͤllt wuͤrde. Ja in der vollſtaͤn—
digſten Ausführung müßte dieſer Kreis ein dreifacher fein,
und wenigſtens müßte die Prüfung das unvollſtaͤndige er—
gaͤnzen, entweder darſtellend oder nur divinirend; indem von
dem Geiſt und Werth einzelner Bruchſtuͤkke einer unvollende—
ten Reihe auf das uͤbrige geſchloſſen wuͤrde. |
Daß aber dieſes ausführliche und muͤhſame SBeefaßeen -
127
mit dem Werthe deſſen, was bisher in dieſem Theil der Sit—
tenlehre geleiſtet worden iſt, in keinem Verhaͤltniß ſtehen
würde, muß theils ſchon aus den Schlußſaͤzen, welche das
erſte Buch angedeutet, erhellen, theils wird jede auch nur
flüchtige Betrachtung der eingeführten Begriffe ſelbſt in ihrer
Verbindung ohne Zweifel darauf hinfuͤhren. Denn jenes muß
gezeigt haben, um wieviel weniger, als gewoͤhnlich gedacht
wird, die ethiſchen Syſteme in ihren Grundideen ſich von ein—
ander ſcheiden, und wie faſt keines ohne ein tadelnswerthes
Hinſchielen auf die andern zu finden iſt; welcher Vorwurf
noch zum Ueberfluß grade die ausgefuͤhrteſten auch am ſchaͤrf—
ſten zeichnet. Wer aber dieſe anſtellen will, dem kann es
nicht entgehen, wie in der That die Verwirrung noch groͤßer
iſt, als ſie im voraus ſich erwarten ließ. Ueberall bis zum
Widerwillen zeigen ſich dieſelben Eintheilungen und Begriffe;
auch die Darſtellungen, welche am meiſten von einander ab—
weichen ſollten, borgen eine von der andern; und anſtatt eig—
nes zu entwikkeln, iſt das ſyſtematiſche Beſtreben ſo traͤge,
daß es ſich nur begnuͤgt, gegen einiges von dem vorhandenen
zu ſtreiten, indem es das uͤbrige ſich aneignet. Kurz, alles
iſt Allen ſo gemein, daß, wenn die hiſtoriſchen Spuren ver—
wiſcht werden, niemand mehr einen Grund haben kann, eini—
ges mehr dieſem anderes mehr einem andern Syſtem zuzu—
ſchreiben, und daß ganz von ſelbſt der Verdacht entſteht, daß
allen dieſen Anſichten und Begriffen ein anderer als ethiſcher
Urſprung zukommen moͤge. Da nun die Verwirrung weiter
herabwaͤrts immer zunimmt, und in den fuͤr real gehaltenen
Begriffen ſo groß iſt, daß nicht ſelten derſelbe unter mehrere
ganz verſchiedene formale gezogen wird: ſo ſcheint die ſicherſte
Art der Behandlung dieſe, daß beide Klaſſen gaͤnzlich von
einander geſondert, und zuerſt die formalen Begriffe gepruͤft,
dann aber mit dem Licht, welches von hier aus auf ſie fal—
len muß, auch die realen beleuchtet werden.
— — — —
Erſter Abſchnitt.
h
Von den formalen ethiſchen Begriffen.
2
Gehen wir nun uͤber zur Pruͤfung der formalen Begriffe
der Ethik, ſo treten deren drei heraus vor allen uͤbrigen, jeder
eine Reihe von andern unter ſich, keiner aber dem andern un—
tergeordnet; die Begriffe nemlich der Pflichten der Tugenden
und der Guͤter, mit ihren Gegenſaͤzen von Uebertretungen La—
ſtern und Uebeln, und den ſich auf ſie und ihre Verhaͤltniſſe
beziehenden Nebenbegriffen. So nemlich wie angedeutet iſt,
erſcheinen ſie im ganzen: denn im einzelnen fehlt es auch
hier nicht an Abweichungen und an Verworrenheit. Wie zum
Beiſpiel die Stoiker zwar im allgemeinen Tugenden und Guͤ—
ter unterſcheiden, und als getrennte Abſchnitte der Sittenlehre
behandeln; dann aber doch auch die Guͤter eintheilen in Tu—
genden, und in ſolche die es nicht ſind, ſo daß zu ſchließen
iſt, das nemliche Merkmal, wodurch etwas als Tugend ges
dacht wird, noͤthige auch es zu denken als ein Gut. Oder
wie die neueren mit den ihnen gelaͤufigeren Begriffen der Tu—
gend und der pflicht verfahren, welche ſie zwar unterſcheiden
in allgemeinen Erklaͤrungen ſowol als in der Art, wie ſie
ganz anders jeden zu theilen pflegen: geht man aber weiter
ins einzelne hinab, ſo findet man nicht ſelten ganz das nem⸗
liche als Pflicht und auch als Tugend aufgeführt, Sonach
ſchiene
| 129
ſchiene es wieviel Pflichten zu geben fo viel auch Tugenden,
in beiden Begriffen gleiches zuſammengefaßt, und durch beide
das ſittliche auf gleiche und genau entſprechende Weiſe ges
theilt. Ja hoͤchſt ſeltſam und verworren werden oft beide
durch einander geworfen, wenn zum Beiſpiel Garve, nachdem
er gelehrt die Klugheit ſei eine Tugend, dann zu vernehmen
giebt, es ſei die erſte Pflicht des klugen Mannes, daß er zu—
gleich tapfer ſei und beſonnen, welches doch ſelbſt wieder an—
dere Tugenden ſind; ſo daß auf ſolche Art beide Begriffe
ganz in einander geſchoben werden. Doch dieſe Verwirrung
zeigt ſich erſt in den realen Begriffen, und koͤnnte alſo leicht
nur ein Fehler der Ableitung ſein, welche zur Ungebuͤhr ge—
naͤhert haͤtte, was entfernt bleiben ſollte. Allgemeiner aber und
hoͤher hinauf findet man dieſes Ineinanderſchieben bei Kant,
welcher die Frage aufſtellt, in wie fern einer dieſer Begriffe
vom andern koͤnne ausgeſagt werden, und ſich darin mannig—
faltig und hoͤchſt undialektiſch verwikkelt. So hat er Pflich⸗
ten, welche Tugendpflichten ſind, und ſolche die es nicht ſind
doch aber ethiſche, dann auch allerlei was zu thun Tugend
ſei, aber nicht Tugendpflicht; und bald meint er, man koͤnne
ſagen, der Menſch ſei zur Tugend verpflichtet, bald wiederum,
man koͤnne nicht ſagen, es ſei Pflicht die Tugend zu beſizen.
Indeß wird weder dieſe Verwirrung noch die oben angefuͤhrte
der Stoiker Jemanden bewegen, es müßte denn aus Traͤgheit
zur Unterſuchung geſchehen, zu glauben, weder daß beide Be—
griffe gleich oder einer dem andern untergeordnet wären, noch
auch daß einer oder beide, wie fie denn freilich aus dem ge-
meinen Redegebrauch heruͤbergenommen ſind, etwas gar nicht
in die Wiſſenſchaft gehoͤriges bezeichneten. Vielmehr wird
Jeder uͤberall, er gehe nun der Mehrheit der Andeutungen
nach oder dem eignen Gefuͤhl, von dem weſentlichen Unter—
ſchied ſowol, als der gleichen Unentbehrlichkeit beider uͤber—
zeugt bleiben, und den Fehler nur in einer ſich ſelbſt mißver—
ſtehenden Dialektik ſuchen, welche eben pruͤfend ſoll zurecht—
gewieſen werden. Ferner erhellt, daß keiner von ihnen dem
Schleierm. Grundl.
130 | \
andern untergeordnet ift, auch ſchon daraus, weil es Darſtel⸗
lungen der Sittenlehre giebt, in denen einer von beiden gänzs
lich fehlt, indem es undenkbar und der Natur zuwider iſt,
daß eine Wiſſenſchaft mitten in der Reihe der ihr zugehoͤrigen
Begriffe ſollte anfangen oder aufhoͤren koͤnnen. Ihren we⸗
ſentlichen Unterſchied nun und ihre gleiche Urſpruͤnglichkeit
vorausgeſezt, entſteht um ſo mehr, da ſich kein vierter Begriff
findet, welcher den gleichen Rang behaupten wollte, der Ge⸗
danke, daß jeder von ihnen einer andern Form der ethiſchen
Idee entſpricht, und als oberſter ſeiner Art das ſittliche uͤber—
haupt bezeichne, inſofern es auf jene Form ſich bezieht. Dem⸗
nach muͤßte in allen ethiſchen Syſtemen ihr Verhaͤltniß gegen
einander dieſes ſein, daß keiner dem andern mit Recht unter⸗
geordnet wäre; noch auch fo beigeordnet, daß fie unter ſich
den Umfang des ſittlichen Gebietes theilten, und auf dieſe
Weiſe einer den andern ergaͤnzte. Denn in dieſem Falle
müßten fie ſaͤmmtlich einem andern, nur nicht ausgefproches
nen, als feine Theile untergeordnet fein. Sondern fo viels
mehr, daß jeder das ſittliche uͤberhaupt und im allgemeinen
bezeichnet, und es in ſeinen Unterabtheilungen ganz aber
nach einem andern Princip ſo theilt, daß, wie weit auch die
Theilung fortgeſezt werde, die Theile des einen nie zuſammen⸗
fallen mit denen des andern. Wie etwa der Geometer eine
Kreisflaͤche theilen kann, wenn er auf die Theilbarkeit des
Halbmeſſers ſieht, in concentriſche Ringe, ſieht er aber auf
die Theilbarkeit der bildenden Bewegung, in Ausſchnitte; und
bei keiner von dieſen Theilungen koͤnnen jemals durch Conſtruction
nach ihrem Geſez dieſelben Theile herauskommen als bei der
andern. Ob nun jene Beziehung auf eine beſtimmte Form
der oberſten Idee feſtgehalten worden, ob ferner dieſes Vers
haͤltniß nicht verlezt iſt, und ob die weiteren Theilungen der Be—
griffe ihrer urſpruͤnglichen Bildung entſprechen, dieſes ſind die
Gegenſtaͤnde der mit ihnen vorzunehmenden Pruͤfung.
131
1. |
Vo m Pflichtbegriff.
Von dem Begriffe der Pflicht zuerſt ergiebt ſi 9 aus al⸗
len Erklaͤrungen, welche einigen Beſtand haben, daß er das
ſittliche bezeichnet in Beziehung auf das Geſez. Das 6 Geſez
bezieht ſich unmittelbar auf die That, und jede Frage nach
der Pflicht iſt eine Frage nach dem ſittlichen in einer be—
ſtimmten That. Was alſo in dieſem Sinn irgendwo vor—
kommt, das iſt unter dieſen Begriff gehoͤrig und hier mit in
Unterſuchung zu ziehen. So erklaͤrt Kant die Pflicht als
die durch das Geſez beſtimmte Nothwendigkeit einer Hand—
lung. So auch wird Pflicht ſein, was die Stoiker ſehr ver—
ſtaͤndig erflären als dasjenige, was, wie es im Zuſammen—
hange des Lebens gehandelt wird, eine vernunftmaͤßige Vers
theidigung zulaͤßt. Das vernunftmaͤßige naͤmlich iſt, was
durch Beziehung auf das Geſez gefunden wird; das erſtere
Merkmal aber deutet ſehr vortrefflich die Art an, wie uͤberall
allein die Pflicht kann ans Licht gebracht und beſtimmt wer—
den. Eben ſo iſt es eine Frage nach der Pflicht, wenn ge⸗
fragt wird, ob in der Schlacht den Freund zu verlaſſen ſchoͤn
ſei oder ſchaͤndlich, wie die Alten ſagten, recht aber oder un—
recht, wie wir ſagen wuͤrden, denn auch dieſes Wort druͤkkt in
unſerm Gebrauch nicht eine rechtliche Beziehung aus, ſondern
eine ſittliche. Daß nun dieſer Begriff ein rein formaler iſt,
und ſeinen Inhalt erſt erwartet, auf der einen Seite von dem
Inhalt des Geſezes, auf der andern aber von dem Inhalte
des Gebietes der Handlungen, worauf es ſoll angewendet
werden, dieſes iſt deutlich. Und wenn Kant nur das fuͤr
heilig haͤlt, was dem Geſez, wie es von ihm aufgeſtellt und
erkannt worden, entſpricht: ſo hat er nicht Urſach, alſo be—
geiſtert, wie er thut, den Namen der heiligen Pflicht anzuru—
fen. Denn wenn gleich in den Darſtellungen der auf die
Empfindung und den Genuß ausgehenden Sittenlehre wenig
132
die Rede ift von der Pflicht: fo hat dennoch dieſer Begriff
auch dort ſeine Stelle, weil ja der Gegenſtand des Triebes
auf eine auch der Idee jener Ethik angemeſſene oder widers
ſtreitende Art kann behandelt, und jeder Augenblikk auf dieſe
oder jene Art ausgefuͤllt werden. Weiter aber als dieſe
moͤchte wol keine Sittenlehre von dem Begriff der Pflicht ent—
fernt fein, fo daß hieraus feine allgemeine Gultigkeit hinlaͤng⸗
lich erhellt. Was aber das Verhaͤltniß deſſelben zum Begriff
der Tugend betrifft, dieſes bezeichnen die Stoiker ſehr beſtimmt,
indem ſie ſagen, daß in jeder pflichtmaͤßigen Handlung alle
Tugenden muͤſſen vereinigt ſein, woraus auch umgekehrt folgt,
daß dieſelbe Tugend bei ſehr verſchiedenen Pflichten geſchaͤftig
iſt; welches beides zuſammen die Verſchiedenheit der Bezie⸗
hung und des Inhalts beider Begriffe in dem hellſten Lichte
darſtellt. Unter den Neueren hingegen pflegt dieſer Unterſchied
dadurch bezeichnet zu werden, daß dem ſittlichen, inſofern es
auf die Pflicht bezogen wird, Geſezmaͤßigkeit, inſofern es aber
der Tugend angehoͤrt, Sittlichkeit zugeſchrieben wird in ei—
nem engeren Sinne. Welches bei weitem nicht ſo deutlich
iſt, ſondern vielmehr eine verderbliche Mißdeutung zulaͤßt.
Denn nicht wenige verſtehen dieſes fo, als koͤnnte eine Hands
lung geſezmaͤßig ſein in ethiſchem Sinne, alſo entſprechend
dem Begriff der Pflicht, dennoch aber nicht hervorgegangen
aus der ſittlichen Geſinnung; woraus folgen muͤßte, daß dem
Pflichtbegriff noch ein außerhalb des ſittlichen gelegenes Ges
biet unterworfen waͤre, und er alſo kein ethiſcher ſein koͤnnte.
Vielmehr koͤnnte eine ſolche Handlung nur durch einen fal—
ſchen Schein mit dem Geſez zuſammentreffend gefunden wer⸗
den, welcher ſogleich verſchwinden muͤßte, wenn ſie wirklich
ethiſch bezeichnet wuͤrde, nemlich nach den Maximen, welche
dabei in Vergleichung gekommen. Sezet etwa, um eines von
jenen abgetragenen Beiſpielen zu waͤhlen, es habe einer ein
anvertrautes Gut, ſo er ohne Gefahr haͤtte zuruͤkkbehalten
moͤgen, dennoch erſtattet, um hernach durch Darlegung deſſen,
was in ſeiner Gewalt geſtanden, ſich im Beſiz des Vertrauens
133
zu befeſtigen: fo iſt dieſe Handlung ethiſch nicht anders aus⸗
zudrüffen, als er habe den größeren, wenn gleich entfernteren
Vortheil dem geringeren vorgezogen. Wo nun, wie in mans
chen eudaͤmoniſtiſchen Sittenlehren, der Vortheil das Geſez ift,
und die Enthaltſamkeit eine ſittliche Geſinnung, da iſt fie ſo⸗
wol geſezmaͤßig, als auch ſittlich; wo aber wie in den rein⸗
thaͤtigen Sittenlehren der Vortheil kein ethiſcher Zwekk iſt,
da wird ſie auch nicht mehr geſezmaͤßig ſein, als ſie tugend⸗
haft iſt, denn es iſt nach einer Regel gehandelt, welche gar
keine Stelle einnimmt, und der ſcheinbar ethiſche Ausgang
beruht nur auf einem veraͤnderlichen Verhaͤltniß. Daher iſt
offenbar, daß wenn dem Pflichtbegriff die Geſezmaͤßigkeit, dem
Tugendbegriff aber die Sittlichkeit im engeren Sinne zur
Seite geſtellt wird, dieſes kein Gegenſaz ſein ſoll, als ob
beide in der Wirklichkeit koͤnnten getrennt ſein, ſondern nur
ein Hinwegſehen in der Betrachtung. Denn bei gleicher Be⸗
ziehung auf das Geſez, welche nur ſein kann Bejahung oder
Verneinung, findet Statt eine verſchiedene Beziehung auf die
Kraft, welche kann groͤßer geweſen ſein oder geringer, um die
entgegenſtehenden Antriebe zu überwinden, Auch dieſes be=
zeichnen die Stoiker, ohnerachtet ſie keine Grade der ſittlichen
Kraft annehmen wollen, wie denn oftmals ihre Dialektik beſ⸗
fer iſt als ihre Grundſaͤze. Nemlich dieſelbe Handlung, wel⸗
che ſie in Beziehung auf das Geſez Pflicht nennen, nennen
ſie in Beziehung auf die Kraft und Geſinnung, je nachdem
der Weiſe ſie verrichtet hat oder der andere, in jenem Falle
eine richtige oder vollendete That, in dieſem ein Schikkliches,
im niedrigen oder zweideutigen Sinne. Daß dies der Sinn
iſt von den beiden hier gemeinten und oft mißverſtandenen
Ausdruͤkken, muß jedem einleuchten; wiewol der leztere von
einigen noch in einer andern verwandten Bedeutung gebraucht
worden, um nemlich Beſtimmungen anzudeuten, welche gefaßt
werden in Beziehung auf diejenigen Dinge, von denen die volle
kommene ſittliche Geſinnung ihrer Behauptung nach nicht ſoll bes
wegt werden. Wenn aber Garve hiemit die ehemaligen Tugenden
134
der Heiden vergleicht, ſo iſt ihm dieſes zu verzeihen, da er
dem Marcus Cicero folgt, welcher hier alles verwirrt hat, weil
er, zur ungluͤkklichen Stunde wie immer, vom Panaitios ab⸗
ſizend ſein eignes ungelerntes Roß beſtiegen hat. Kant in⸗
deß hat offenbar von dem richtigen Wege weit abweichend
und, wie es ihm leicht und oft begegnet, das juridiſche mit
dem ethiſchen verwechſelnd, die Geſezmaͤßigkeit und die Sitt⸗
lichkeit als Gegenſaz genommen, und ſich dadurch, wovon
auch die Spuren ſich überall offenbaren, den ganzen Pflicht-
begriff, den einzigen mit dem er noch umzugehen weiß, ebens
falls verdorben. So zum Beiſpiel wird es ihm nun zu einer
beſondern Pflicht, daß alles aus Pflicht geſchehen muͤſſe, und
noch zu einer anderen beſonderen, daß man ſich auch die Erz
fuͤllung aller Pflichten zum Zwekk mache, und zwar um die
Verwirrung recht groß zu machen, und die juridiſche Beſchaf—
fenheit ſeiner Ethik ganz aufzudekken, beide zu ſolchen, bei de=
nen wir nur zur Maxime verbunden ſind, jede wirkliche Aus—
uͤbung aber verdienſtlich iſt, welches heißt, uͤber die Noͤthi—
gung des Geſezes hinausgeht. Wie nun dieſes, wenn an—
ders die ethiſche Geſezmaͤßigkeit entſprechen muß der ethiſchen
Geſezgebung, mit ſeinem Begriff von der lezteren zu vereini—
gen iſt, daß ſie nemlich die ſei, welche die Pflicht zugleich
zur Triebfeder macht, das mag er ſelbſt rechtfertigen. Ans
dern aber muß hieraus klar ſein, wie der Begriff der Pflicht
bei ihm ein ſolcher iſt, welcher der Sittenlehre vorangeht,
heruͤber genommen nemlich aus der ganz unbefugt abgeſon⸗
derten Theorie des Rechtes. Eben ſo unnatuͤrlich ſondert
Fichte beides ab, und ſcheint auf dem gleichen Irrwege zu
ſein, indem er ſagt, es koͤnne bei der freien, nemlich nicht
nur formal ſondern auch material freien Handlung gefragt
werden nach dem Was und nach dem Wie oder nach der
Form und nach der Materie, welches wechſelnd ins Unend—
liche ſpielen zu wollen ſcheint. Unnatuͤrlich aber iſt es bei
ihm; denn was nicht auf die rechte Art gehandelt worden
iſt, das liegt auch nicht in ſeiner Reihe der ſittlichen Annas
135
herung, und es kann nicht auf die rechte Art fein gehandelt
worden, wenn nicht nach ihr gefragt worden iſt. Eigentlich
alſo iſt, wie es auch ſein muß, das Was und das Wie un⸗
zertrennlich verbunden, fo daß, wenn nur das erſte richtig bes
zeichnet iſt, uͤber das lezte keine Frage mehr Statt findet,
und auch aus dem Wie, wenn nur die Momente der Hande
lung bekannt ſind, das Was ſich von ſelbſt ergeben muß.
Wie aber uͤberhaupt bei Fichte der juridiſche Character nicht
ſo ſtark und kenntlich ausgepraͤgt, und uͤberall auf der Ober—
flaͤche verbreitet iſt: ſo hat auch dieſer falſche Zug bei ihm
nicht ſo viel verwirrende Folgen.
Wenn nun der Pflichtbegriff ferner feine Stelle als er—
ſter ſeiner Art und als allgemeine Bezeichnung des ſittlichen
wuͤrdig behaupten ſoll: ſo muß er es auch ganz umfaſſen,
und auf jede Handlung ſeine Anwendung finden. Denn daß
dieſe Allgemeinheit gewiß der Idee zukommen muß, und ihr
bald nichts uͤbrig bleibt, wenn erſt einiges ihr entzogen iſt,
dieſes iſt ſchon oben mit wenigem erwaͤhnt; hier aber muß
davon mit Beziehung auf den Begriff auf andere Weiſe ger
handelt werden; indem der Fall ſich denken laͤßt, daß der
Grundſaz ſelbſt in ſeinem Inhalt eine ſolche Beſchraͤnkung
nicht bei ſich fuͤhre, und ſie ihm nur bei der Anwendung aus
Schuld der Begriffe aufgelegt werde. Derjenige Begriff nun,
welcher uͤberall, wo er als ein wirklicher und poſitiver in die
Ethik eingefuͤhrt wird, eine ſolche fehlerhafte Beſchaffenheit des
Pflichtbegriffs anzeigt, iſt der Begriff des erlaubten. Daß
dieſer, ſo gedacht wie jezt beſtimmt worden, ein widerſprechen⸗
der ſei, iſt nicht ſchwer einzuſehen. Denn er geht in Abſicht
auf ſeinen Inhalt doch immer auf dasjenige, was innerhalb
des ſittlichen Gebietes liegt; — oder würde es etwa nicht laͤ⸗
cherlich, und als eine falſche Anwendung des Begriffs erſchei—
nen, wenn Jemand zum Beiſpiel fragen wollte, ob es erlaubt
ſei zu verdauen? — von dieſem aber ſagt er aus, daß es ſitt⸗
lich nicht beſtimmbar ſei, fo daß offenbar die Beſtimmung
und das Beſtimmte darin einander aufheben. Wie er nun
136
dennoch in die meiſten Darſtellungen der Sittenlehre Eingang
gefunden, dieſes iſt auf eine zwiefache Art zu erklaͤren. Zu—
erſt daraus, daß er allerdings in der Anwendung der Ethit
im Leben ſeine Bedeutung hat; aber nicht als ein poſitiver,
ſondern nur als ein negativer Begriff. So nemlich daß er
beſagt, eine Handlung ſei noch nicht ſo in ihrem Umfang und
mit ihren Grenzen vollſtaͤndig aufgefaßt, daß ihr ſittlicher
Werth koͤnne beſtimmt werden. Denn zu Folge des oben
ſchon geſagten ſteht die ethiſche Idee, gleichviel welchen Ge—
halt man ihr unterlege, mit einer Handlung, inſofern dieſe
nur entweder eine Bewegung des Gemuͤthes oder eine Ver—
aͤnderung in der Sinnenwelt iſt, unmittelbar in gar keinem
Verhaͤltniß; und von jeder Handlung, ſo lange ſie nur ſo
ausgedruͤkkt iſt, muß geſagt werden, daß ſie erlaubt iſt, das
heißt, daß es Beſtimmungen geben koͤnne, unter welchen ſie
dem Geſez gemäß, und andere unter denen fie demſelben zu—
wider ſein wird. Ja dieſes gilt von dem Vernichten eines
menſchlichen Lebens nicht minder als von dem Eſſen einer
Auſter. Denn daß im gemeinen Leben auch ſolche noch nicht
geſchloſſene Formeln bald erlaubt bald unerlaubt genannt wer—
den, je nachdem ſich dem Gemuͤth mehrere verneinende oder
bejahende Beſtimmungen darbieten, dieſes hat auf den wiſſen—
ſchaftlichen Werth des Begriffs keinen Einfluß. Wogegen
zum Beiſpiel in der Formel, der Luft nachgehn mit Ver-
abſaͤumung des Berufs, eine für die praktiſche Ethik wenige
ſtens hinreichende Beſtimmung liegt, oder in der ganz einfach
ſcheinenden des Stehlens ſchon enthalten iſt die Vernichtung
der vorhergegangenen Anerkennung des Eigenthums, und hier
alſo iſt der Begriff des erlaubten nicht mehr anwendbar.
Woraus ſich ergiebt, daß er in wiſſenſchaftlichem Sinn nur
beſagt, die Bezeichnung einer Handlung ſei, zum Behuf nem—
lich ihrer ſittlichen Schäzung, noch nicht vollendet, und ſtehe
alſo auf einem Punkt, auf welchem ſie nicht koͤnne ſtehen
bleiben, fo daß dieſer Begriff keinesweges eine Beſtimmung
enthaͤlt, ſondern nur eine Aufgabe. Wird er aber ſo ver⸗
137
kannt, daß beides verwechſelt, und geglaubt wird, er fünne
wirklich etwas ethiſch beſtimmen: ſo iſt zu vermuthen, daß
die Begriffe des rechten und unrechten, denen er faͤlſchlich
beigeordnet und zwiſchengeſchoben wird, eben ſo verkannt ſind,
und daß ſich in den Formeln, welche das pflichtmaͤßige an⸗
geben ſollen, Vernachlaͤßigungen der ſittlichen Grenz- und
Groͤßen-Beſtimmung finden, welche es rechtfertigen, daß ne—
ben dieſem Begriff der ganz leere des erlaubten hingeſtellt
werde. Wer zum Beiſpiel nicht nur wie jeder behauptet,
es ſei erlaubt Auſtern zu eſſen, ſondern auch ſich einbildet
hiemit ethiſch etwas beſtimmt zu haben, ſo daß nun uber die
Frage nichts mehr zu ſagen waͤre, von dem iſt zu glauben,
daß auch ſeine Formeln zu Bezeichnung des pflichtmaͤßigen
in der Ernährung des Koͤrpers und im Gebrauch der Natur⸗
dinge muͤſſen unzureichend ſein. Denn waͤren ſie beſtimmt,
ſo koͤnnte ihm nicht entgehn, daß jene Handlung in jedem
einzelnen Fall unter eine von dieſen Beſtimmungen fallen
muͤſſe, bald unter die bejahende, dann unter die verneinende,
und daß ſie demnach muͤſſe weiter conſtruirt werden.
Wollte aber Jemand ſagen, der Begriff des erlaubten ſei
einzuſchraͤnken auf diejenigen Gegenſtaͤnde, welche zu gering⸗
fuͤgig waͤren um jedesmal dieſe weitere Beſtimmung vorzu—
nehmen: ſo waͤre dieſes ja offenbar ſehr unwiſſenſchaftlich,
weil vor dieſer Beſtimmung niemand uͤber die ſittliche Groͤße
und Bedeutſamkeit der Handlung etwas behaupten kann.
Dieſes haben beſonders die Stoiker, deren gleichguͤltige Dinge
nicht an dieſen Ort gehören, vortrefflich eingeſehen, und jedes
Mittel zwiſchen Pflicht und Uebertretung verworfen. Ja ins
dem fie denſelben Ausdrukk, durch welchen fie die vollkom—
menſte ſittliche Handlung bezeichnen, auch mit den unbedeus
tendſten Erfolgen zuſammengeſellen, und ein vollkommen ſitt⸗
liches Spazierengehen oder Fragen und Antworten und mehr
ſolches annehmen: ſo bezeugen ſie vortrefflich, daß die An-
wendung des Geſezes auf eine Handlung mit der ſcheinbaren
Groͤße derſelben in keiner Verbindung ſtehe. Denn wenn
138
doch auch fie fagen, es gebe Handlungen, die weder Pflichten
waͤren noch Uebertretungen: ſo haben ſie nur dialektiſch die
leere Stelle bezeichnen gewollt. Wie ſie denn auch ſelbſt ſa⸗
gen, daß ſie ſie nur mit dem unbeſtimmten ausfuͤllen; denn
das einzelne, welches ſie hinſezen, iſt daſſelbe, worin ſie auch
ein vollkommen ſittliches annehmen, das Fragen nemlich, das
Antworten und dergleichen. Daß alſo die erſte Entſtehung
des mißverſtandenen Begriffs des erlaubten von uͤbler Vor—
bedeutung ſei fuͤr den Pflichtbegriff uͤberhaupt, iſt deutlich aus
dem geſagten. Die zweite aber iſt die ſchon als verderblich
anerkannte Verwechſelung des ſittlichen mit dem rechtlichen.
Denn dieſes leztere nimmt ſich nicht heraus eine Sphaͤre des
menſchlichen Handelns auszufüllen, ſondern vielmehr nur ei—
niges aus derſelben auszuſchließen; und fo muß natürlich
dort, eben weil der Begriff der Pflicht ein negativer iſt, der
des erlaubten ein poſitiver ſein. Wird nun dieſes leztere
auf das ſittliche uͤbergetragen, fo wird auch das erſte müfs
ſen mitgenommen werden; und wer, wie Kant unſtreitig
abermals aus Schuld dieſer Verwechſelung, ſogar ein Er-
laubnißgeſez auf dem Gebiet der Ethik aufſtellen will, von
dem iſt zu beſorgen, daß er auch den Begriff der Pflicht ſei—
nes wahren Gehaltes berauben, und ihn in einen beſchraͤn—
kenden und negativen verwandeln werde. Doch dieſes ſchließt
ſich an die Art den Pflichtbegriff einzutheilen, welche jezt ſoll
unterſucht werden.
Zuerſt faͤllt in Beziehung auf die geahndeten Maͤngel
in die Augen die bei den Neueren faſt allgemeine Eintheilung
der Pflicht in die vollkommene und unvollkommene; welcher,
wiewol ſie von Verſchiedenen verſchieden erklaͤrt wird, doch
überall derſelbe Begriff zum Grunde liegt, und dieſelben Vers
faͤlſchungen des Pflichtbegriffes nachfolgen. Denn einerſeits
wird die unvollkommene Pflicht erklaͤrt als diejenige, welche
ſich durch andere einſchraͤnken laͤßt, die vollkommene aber als
die, welche dies nicht erleidet; womit jene andere Erklaͤrung
in Verbindung zu ſezen iſt, die unvollkommene Pflicht ſei die,
139
in Anſehung deren ein jeder, nicht wie bei der vollkommnen
unmittelbar zur Handlung, ſondern nur die Maxime zu haben
verbunden ſei, offenbar jener möglichen Beſchraͤnkung wegen.
Hier unn iſt zuvoͤrderſt die Nichtigkeit der Eintheilung leicht
zu erkennen, wie auch das damit verbundene Mißverſtaͤndniß
des Pflichtbegriffs. Denn aus dem bisher gefagten muß je=
dem deutlich ſein, daß jede Pflichtformel mit einem Handeln
auch zugleich ſeine Grenzbeſtimmung ausdruͤkken muß. Pflicht
nemlich iſt Bezeichnung des ſittlichen in einer That, in dieſer
aber iſt es nicht unmittelbar, ſondern nur durch Beziehung
auf die Geſinnung zu erkennen, welche Beziehung wiederum
nur erſcheinen kann in der Beſchraͤnkung und Bedingung, die
daraus entſteht, daß nicht das Thun ſelbſt ſondern das ſitt—
liche in demſelben angeſtrebt ward. Weſentlich alſo iſt jeder
pflichtbegriff Conſtruction des ſittlichen durch Grenzbeftims
mung des Handelns; und eine Formel, die ein bloßes Han—
deln ausdruͤkkt ohne ſolche Grenzbeſtimmung, iſt keine For—
mel fuͤr eine Pflicht. Eine ſolche zum Beiſpiel iſt die, wenn
geſagt wird, es ſei Pflicht das Leben zu erhalten; denn un—
ter dieſe Formel laͤßt ſich, wenn nicht das Wie, Wodurch
und Wenn beſtimmt iſt, viel unſittliches unterbringen. Hie—
gegen freilich erhebt ſich ein Schein aus den Rechtspflichten,
bei denen dieſes nicht Statt findet, und welche uͤberall mehr
als ſonſt irgend etwas die Abtheilung der vollkommenen
Pflichten ausfuͤllen. Dieſe aber im ethiſchen Sinne beſonders
zu betrachten, und ihnen den Namen eigener Pflichten zuzu—
geſtehen, moͤchte ſehr bedenklich ſein, da nichts ſittliches
durch fie geſezt und beſtimmt, ſondern nur ein unſittliches be=
zeichnet wird. Ja ſie ſind ethiſch angeſehen gar nichts fuͤr
ſich beſtehendes, ſondern nur Theile der Analyſe irgend einer
ihnen in Hinſicht auf dieſen Character unaͤhnlichen Pflicht,
ſo daß man ſagen kann, ſie haben nur den Werth von tech—
niſchen Regeln fuͤr die richtige Ausfuͤhrung eines anderweitig
beſchloſſenen. So wenn die Pflicht erwieſen und anerkannt
iſt, ein Eigenthum zu ſtiften, iſt es nur eine techniſche Be⸗
140
merkung für den Unverftändigen und Unbedachtſamen, daß er
nicht durch einzelne Handlungen, ohne zu merken daß fie je⸗
ner Pflicht angehoͤren, die Einrichtung verleze, und das
pflichtmaͤßig gehandelte wiederum aufhebe. Auf ähnliche Art
nun weiſen ſie alle hin auf eine andere Pflicht, und zwar
groͤßtentheils auf die, einen Rechtszuſtand hervorzubringen,
oder, welches gleichviel iſt, durch fortgeſezte Hervorbringung
zu erhalten. Deshalb wird auch bei den Alten dieſer Pfliche
ten in der Ethik ſo gut als gar nicht erwaͤhnt, weil bei ihrer
mehr. öffentlichen und thaͤtig buͤrgerlichen Lebensweiſe das Bes
wußtſein von der fortgeſezten Hervorbringung des geſellſchaft—
lichen Zuſtandes zu lebhaft war, um ſolcher Vorſichtsregeln
zu beduͤrfen. Dieſe Pflicht aber, den Rechtszuſtand wirklich
zu machen, iſt ebenfalls eine ſolche, die nur durch Grenzbe—
ſtimmung als Pflicht auszudruͤkken iſt, indem es auch in Ber
ziehung auf ſie ein Wenn giebt, und Wie, und mit Wem.
Und nach eben der Regel müßte eine große Menge anderer
Handlungen abgeſondert werden, welche Ariſtoteles zuſammen⸗
faßt unter dem Titel ſolcher, über welche nicht mehr berath—
ſchlagt wird, weil ſie nicht ein neues und frei beginnendes
Thun ſind, ſondern nur ein nothwendiges Fortſezen eines an⸗
dern, in welchem die Seele noch begriffen iſt. So, ſagt er,
wird keiner, der ſich einmal als Arzt geſezt hat, noch darüber
berathſchlagen, oh er einen Kranken heilen ſolle; denn dieſes
iſt mit geſezt in jener That. Auch haben hierauf einige Alte,
wie der Peripatetiſche Eudoros, eine Eintheilung gegruͤndet
in zuſammengeſezte und nicht zuſammengeſezte Pflichten, und
den ganzen Ort vom Beruf und der Lebens weiſe unter die
erſten gebracht. Dieſe Eintheilung nun iſt freilich folgerech—
ter als die der Neueren: dennoch aber iſt es ethiſch genommen
kein weſentlicher Unterſchied, ob die Vollbringung einer Hand—
lung in einem ungetheilten Moment geſchieht oder nicht, und
ob ſie ſich in gleiche Theile zerfaͤllen laͤßt oder nicht, ſondern
nur ein willkuͤhrlich angenommener zwiſchen Anfang und
Fortſezung. Wenn alſo, was von der Einſchraͤnkung geſagt
141
wird, welche die unvollkommenen Pflichten erleiden, ſich hier
auf beziehen ſoll, und andeuten, daß es ihnen, wie ſie im
Syſtem aufgeſtellt ſind, an dieſer Grenzbeſtimmung fehle,
welche erſt fuͤr jeden einzelnen Fall beſonders muͤſſe gefunden
und hinzugethan werden, gleichſam wie ein fluͤchtiger Beſtand⸗
theil, welcher einer Zuſammenſezung beſſer erſt im Augenblikk
des Gebrauches beigemiſcht wird: ſo iſt nach dem obigen
grade dieſer Beſtandtheil der eigentlich ethiſche, und Formeln,
denen er fehlt, ſind gar keine Pflichtformeln. Ja, da ſich nun
auch die ſogenannten vollkommenen laſſen auf jene zurüfffühs
ren, fo würde durch die fo verſtandene und erklaͤrte Eintheis
lung am Ende geſagt, daß gar keine Pflichtformel koͤnne auf—
geſtellt werden. Iſt es damit aber anders und buchſtaͤblich
ſo gemeint, daß eine Pflicht durch die andere ſoll eingeſchraͤnkt
werden: ſo iſt ja klar, daß die Formel, welche die Einſchraͤnkung
erleidet, keine Pflichtformel kann geweſen ſein. Denn es wird
der abgeſtoßene und ausgeſonderte Theil ihres Gebietes geſezt
als der einſchraͤnkenden Pflicht entgegen, und alſo als pflicht—
widrig, und die Formel enthaͤlt demnach ſittliches und un—
ſittliches vermiſcht. Noch auffallender auf eine andere Art
iſt der Widerſpruch, wenn Kant behauptet, daß dennoch nur
die unvollkommnen Pflichten den eigentlichen Inhalt der Ethik
ausmachen. Denn, ſollen nun die einſchraͤnkenden Pflichten
Rechtspflichten ſein: ſo geraͤth er auf eine im Kreiſe herum—
gehende Unterordnung der Ethik unter eine andere Diſciplin,
wogegen jene ſich immer ſtraͤubt; ſollen ſie aber auch unvoll—
kommene ſein: ſo entſteht ein Unbeſtimmtes, welches beſtimmt
werden ſoll, durch ein anderes in gleicher Hinſicht Unbeſtimm—
tes, auf welche Weiſe denn nichts moͤchte beſtimmt werden.
Es waͤre auch dieſes Beſchraͤnktſein einer Pflicht durch die
andere nichts anders als ein Widerſtreit der Pflichten gegen
einander; wie denn auch faſt ausſchließend diejenigen, welche
eine Eintheilung in vollkommene und unvollkommene Pflich—
ten zulaſſen, einen ſolchen einfuͤhren in die Sittenlehre, andere
aber nicht. Ein Widerſtreit der Pflichten aber waͤre wider⸗
.
142
ſinnig, und nur zu denken, wenn die Pflichtformeln auf jene
Art unbeſtimmt ihrem Begriff nicht Genuͤge leiſten. Denn es.
koͤnnen zwar die rohen Stoffe des ſittlichen, die Zwekke
nemlich und Verhaͤltniſſe, in Streit gerathen, welche auch
deshalb als ethiſch veraͤnderlich und bildſam geſezt werden;
die Pflicht aber als die Formel der Anwendung einer und
derſelben Regel des Veraͤnderns und Bildens kann auch nur
eine ſein und dieſelbige. Wird nun dieſes Beſchraͤnken der
Pflichten hinweggenommen: ſo kann es auch nicht ferner
Pflichten geben, in Anſehung deren jeder nur zur Maxime
verbunden waͤre, nicht aber zu irgend einer beſtimmten That.
Denn eben dieſes wird alsdann das Merkmal der Pflicht,
daß die Handlung an ihrer Stelle nicht kann uͤbergangen
werden ohne zugleich die Maxime aufzugeben. Auch waͤre
eine ſolche Behauptung ein Beiſpiel, an welchem ſich zeigen
ließe, wie in der Ethik ein Hauptbegriff dem andern und der
Behandlung nach demſelben kann zum Pruͤfſtein dienen. Denn
ſezet eine ſolche beſchraͤnkbare Pflicht, und ſuchet die Geſin—
nung, welche das Bewußtſein der Verbindlichkeit dazu enthaͤlt.
Dieſe, wenn ſie der Maxime entſpricht, wird nicht ſittlich
ſein, weil ſie mit derſelben auch auf das jenſeits der Schran—
ken gelegene unſittliche gehen wuͤrde; wenn ſie aber in den
Schranken nothwendig feſt gehalten wird, ſo bezieht ſie ſich
auch eigentlich auf das Princip der Beſchraͤnkung, mit wels
chem ja ſie anfaͤngt und aufhoͤrt, auf die Maxime aber nur
zufaͤllig und nicht unbedingt. Und ſo muß allemal ein unrichtiger
Pflichtbegriff auch den Tugendbegriff verderben, ein richtiger Tu
gendbegriff aber auch den Pflichtbegriff erretten und verbeſſern.
Andererſeits wird von vielen der Unterſchied zwiſchen den vollkom—
menen und unvollkommenen Pflichten darin geſezt, daß bei den
erſteren ein jeder die Verbindlichkeit zu beurtheilen im Stande
ſei, bei den lezteren aber nur der Handelnde ſelbſt. Hiebei
nun haben offenbar als vollkommene Pflichten ebenfalls die
Rechtspflichten vorgeſchwebt, bei welchen freilich einem jeden
die Handlung vor Augen liegt, welche widerſprochen und auf-
gehoben wird durch deren Verlezung. Bei den unvollkomme⸗
3
143
nen aber ebenfalls die Unbeſtimmtheit der Formeln. Denn
wenn einer dem andern nur eine ſolche vorlegt, die Angaben
aber, welche ſich auf den vorliegenden Fall beziehen, zurüffs
haͤlt: ſo iſt dieſer nicht im Stande die Beſchraͤnkung nach
dem ethiſchen Princip wirklich zu vollziehen. Wogegen, wenn
dieſe mit vorgelegt werden, ein jeder eben ſo gut als der
Handelnde ſelbſt muß entſcheiden koͤnnen, wenn nicht etwa,
wie Kant bisweilen zu wollen ſcheint, ein Erlaubnißgeſez an—
genommen wird, welchem zufolge auch andern der ethiſchen
Idee fremden Beweggruͤnden ein Spielraum vergoͤnnt wird.
Woraus aber nur erhellt, wie wenig dieſer Sittenlehrer ſich
auf dem von ihm ſelbſt als ethiſch abgeſtekkten Gebiet, dem
rein praktiſchen nemlich, zu behaupten weiß, ſondern ſich faſt
nur abwechſelnd bald auf dem mechaniſchen des bloßen Rechts,
bald auf dem, in ſeinem Sinne nur pragmatiſchen der Gluͤkk—
ſeligkeit und Klugheit befindet. Garve aber, welcher logiſchen
Sinn genug hatte, um ſich da, wo uͤberall nichts beſtimmtes
und geſundes kann geſagt werden, wenigſtens nicht mit ei—
nem Merkmal zu begnuͤgen, und ſo eben durch das Anhaͤufen
die Verwirrung kund thut, dieſer fuͤgt dem angefuͤhrten Merk—
mal noch ein anderes als unterſcheidend bei, nemlich die Nuͤz—
lichkeit der Maxime fuͤr die Geſellſchaft. Wie nun dieſes im
Kreiſe herumgehe, und den Eintheilungsgrund auf eine einzelne
Pflicht zurüffführe, iſt nicht Noth zu erwähnen. Ueberdies
aber verwandelt ſich auf dieſe Art der Unterſchied nur in eis
nen des Grades, ſo daß es willkuͤhrlich ſein muß, welche
Pflichten vollkommene ſein ſollen und welche nicht, wodurch
gleichfalls der wiſſenſchaftliche Werth der Eintheilung gaͤnzlich
aufgehoben wird. Denn das willkuͤhrliche darf in der Wiſ⸗
ſenſchaft keinen Raum finden. Daß alſo dieſe Eintheilung
ſich mit dem richtig aufgefaßten Pflichtbegriff nicht vereinigen
laͤßt, und theils auf einer nicht ethiſchen Anſicht des rechtli—
chen, theils auf einer gaͤnzlichen Unbeſtimmtheit des ſittli⸗
chen beruht, muß aus dem geſagten genugſam erhellen.
Ob es nun beſſer beſchaffen ſei mit einer andern unter
4
ee,
144
den Neueren nicht minder allgemeinen Eintheilung der Pflich—
ten, nemlich in ſolche gegen ſich ſelbſt, und in ſolche gegen
Andere, dieſes wäre demnaͤchſt zu unterſuchen. Um aber dieſe
recht zu verſtehen, muß auch das ehemalige jezt faſt nicht
mehr genannte dritte Glied derſelben, nemlich die Pflicht ge—
gen Gott, mit in Betrachtung gezogen werden. Dieſe nem—
lich iſt neuerlich ihres Ranges beraubt worden, zuerſt aus
andern Gruͤnden von anderen, von Kant aber, weil der Wille
Gottes, auf welchem doch die Pflichten gegen ihn beruhen
muͤßten, nicht koͤnne in der Erfahrung gegeben werden. Die—
ſer Grund nun konnte die Aelteren von Einfuͤhrung eines
ſolchen Abſchnittes nicht zuruͤkkhalten, weil fie allerdings vers
meinten, der Wille Gottes ſei als ein wahrnehmbares gege-
ben, und er vor allen als verpflichtende Perſon ſich offenba⸗
rend und erkennbar. Es fuͤhrt aber dieſes auf die Frage, was
es denn heiße, eine Pflicht gegen Jemand? Von welcher
nicht leicht verſtaͤndlichen Redensart die ſtrengſte Bedeutung
unſtreitig die iſt, es ſei diejenige, welche zur Pflicht werde
vermittelſt einer Noͤthigung durch den Willen eines Andern,
nemlich des verpflichtenden. Wird nun dieſe Bedeutung ans
genommen, ſo iſt von denen, welche Pflichten gegen Gott
zulaſſen, offenbar, daß, da der goͤttliche Wille nothwendig auf
alles gerichtet iſt, was die Menſchen ſich ſelbſt ſowol als
andern lobenswuͤrdiges leiſten koͤnnen, und da er das ſittliche
vollkommen erſchoͤpft, ſie unrecht handeln, und dem Meere noch
den Eimer voll zugießen, wenn ſie neben dem hoͤchſten und
unendlichen Willen noch einen andern, ſei es nun der eigne
oder fremde, als noͤthigend annehmen. Sonach waͤrde die
Pflicht gegen Gott in dieſem Sinne die beiden andern Abthei—
lungen der Pflichten gegen ſich und gegen andere verſchlingen,
fo daß nichts getheilt wäre. Diejenigen aber, welche Pflich⸗
ten gegen Gott in einem ſolchen Sinne laͤugnen, werden auch
nicht leicht dahin gelangen, die Pflichten gegen Andere ſich zu
erhalten. Denn thun ſie jenes, weil Gott als verpflichtende
Perſon nicht kann gegeben werden: ſo begehren ſie als Grund
der
—
145
der Verpflichtung nicht einen Willen, wie er in der Idee con⸗
ſtruirt wird, ſondern einen wirklich gegebenen; wonach, wenn
dies auf die Menſchen angewendet wird, auch von den Pflichs
ten gegen Andere nichts uͤbrig bleiben duͤrfte, als die wirklich
geforderten des geſchriebenen Rechtes. Laͤugnen ſie aber die
Pflichten gegen Gott, weil es unnoͤthig waͤre und den Geſezen
der Sparſamkeit zuwider, einen entfernteren Willen herbeizu—
holen, um durch deſſen Noͤthigung zu bewirken, was auch ein
naͤherer ſchon ausrichtet, indem dem Inhalt nach die Pflichten
gegen Gott nichts andres waͤren, als die gegen ſich ſelbſt und
die Anderen: dann wuͤrde daſſelbe auch von dem Willen der
Anderen gelten im Vergleich mit dem eignen. Denn welcher
ethiſchen Idee auch jemand folge, er kann nichts aufnehmen
als Pflicht gegen Andere, wozu nicht ſchon der eigne Wille ihn noͤ—
thige, es ſei nun unter der Form der Vernunftmaͤßigkeit oder
der Gluͤkkſeligkeit oder welcher ſonſt. Woraus denn zulezt
ſich ergiebt, daß der Begriff dieſer Noͤthigung durch einen
fremden Willen nichts iſt als eine leere Erſcheinung. Und
woher kaͤme wol auch dem Willen eines Andern die verpflich-
tende Kraft, wenn fie ihm nicht eingeräumt wird zufolge eis
ner Idee, deren Anwendung und Herrſchaft immer wiederum
von dem eignen Willen abhaͤngt? Kant jedoch hat eine
ſchlaue Erfindung gemacht um darzuthun, wie dieſe verpflich-
tende Kraft ſich erwerben laſſe, nemlich durch Ausuͤbung ſol⸗
cher Pflichten, welche den Andern verpflichten; bei welcher Ver⸗
wirrung von Verpflichtungen man in Verſuchung waͤre, in
einem ganz andern als er nemlich dem altroͤmiſchen Sinne,
die Pflicht als einen heiligen Namen zu verrufen. So koͤnnte
gefragt werden, ob dieſe verpflichtenden Pflichten auch Pflich⸗
ten gegen Andere waͤren, und derjenige hart beſchuldigt, der
zuerſt das bedenkliche Spiel angefangen, durch feine Pflicht⸗
erfüllung Andere zu verpflichten zu Pflichten, durch welche er
wieder verpflichtet wird. Ja, man koͤnnte darin einen tiefen
Grund finden zu der Hoͤflichkeit des gemeinen Lebens, welche,
wenn ſie dem Andern eine Dienſtleiſtung erweiſen will, denn
Schleierm. Grundl. K
*
146
Dienftleiftungen find doch die verpflichtenden Pflichten, erft
die Erlaubniß dazu nachſucht. Doch es iſt zu wunderlich
und leer, um mehr daruͤber zu ſagen. Sonach muͤßte, dieſes
abgemacht, den Pflichten gegen Andere die gelindere Bedeu—
tung beigelegt werden, daß ſie ſind Pflichten in Anſehung
Anderer. In dieſem Sinne nun will auch Kant Pflichten ge—
gen Gott zulaſſen, findet aber als ſolche bloß die Pflicht, die
ſittlichen Gebote als goͤttliche anzuerkennen. Inſofern zwar
iſt der Verſuch mit dieſen Pflichten verungluͤkkt: denn es kann
keine Pflicht geben etwas einzuſehen, weil dieſes, ſo fuͤr ſich
betrachtet, weder etwas ſittliches iſt noch der Willkuͤhr un—
terworfen. Nothwendig aber iſt er immer: denn wenn Pflich—
ten abgetheilt werden ſollen, nach dem was dabei der Gegen—
ſtand iſt, ſo kann nichts davon ausgeſchloſſen ſein, weil ja
alles ein Gegenſtand des ſittlichen Handelns ſein ſoll. Eben
deshalb aber moͤchte es unmoͤglich ſein, den Gegenſtand zu
beſtimmen, weil dieſer jedesmal mannigfaltig koͤnnte angegeben
werden. Und zwar am wenigſten moͤchten zu unterſcheiden
ſein Pflichten gegen ſich ſelbſt und gegen Andere. Denn ſind
aus der Idee der Gluͤkkſeligkeit dieſe Pflichten abgeleitet: fo
iſt ja offenbar, wie der Handelnde ſelbſt der Gegenſtand iſt.
Steht ihnen aber die der Naturgemaͤßheit voran: ſo iſt es ja
ebenfalls des Handelnden Natur, welche wuͤrde verlezt werden.
Nicht weniger auch ließe ſich zeigen, wie die Pflichten gegen
ſich ſelbſt zugleich erſcheinen muͤſſen als Pflichten gegen Anz
dere, in jedem Syſtem der Sittenlehre in der Bedeutung
worin es ſolche Pflichten zulaͤßt, welches weiter auszuführen
eines jeden Belieben überlaffen bleibt. Soviel aber wird je—
dem angemuthet aus dem vorigen einzugeſtehen, daß nichts we—
ſentliches im Pflichtbegriff dieſer Eintheilung zum Grunde liegt,
und daß auch fuͤr ſie, wie fuͤr die vorige, keine beſſere Ent—
ſtehung nachzuweiſen iſt, als aus dem falſchen Schein, wel⸗
chen die Rechtspflichten verbreiten. 6
Von ſolchem allgemeinen Urtheil iſt jedoch einigermaßen
auszunehmen die Art, wie dieſelbige Eintheilung erſcheint in
147
der Sittenlehre von Fichte, wo fie ebenfalls, nicht zwar den
Worten wol aber der That nach, vorhanden iſt, und verftefft
unter einer andern, welche, da ſie als eine neue Behandlung
ſich anfündigt, ohnedies näher geprüft werden muß. Hiebei nun
zeigt ſich zuerſt, daß von der doppelten ſich durchſchneidenden
Eintheilung, welche in dieſem Syſtem die Pflichtenlehre um—
faßt, die eine, nemlich die in allgemeine Pflichten und beſon—
dere, als eine Haupeintheilung nicht beſtehen kann, da der
Eintheilungsgrund, nemlich die Nothwendigkeit alle menſchliche
Thaͤtigkeit in mehrere und immer kleinere Theile eigenthuͤmlich
abzuſchneiden, nur aus der Pflicht in Gemeinſchaft die Natur
zu beherrſchen kann begriffen werden, welche Pflicht hier zwar
dem Beduͤrfniß gemaͤß offenbar aber widernatuͤrlich aus der
Reihe einzelner Pflichten herausgeruͤkkt worden. Und auch
nicht einmal aus dem Weſen von dieſer geht die Eintheilung
hervor, ſondern nur aus einer zu deren beſſeren Erfuͤllung ge—
nommenen, wer weiß ob unter allen Umſtaͤnden zu lobenden,
Maaßregel. Unmoͤglich aber kann eine allgemeine Eintheilung
der Pflichten die richtige ſein, welche ſich auf einen nicht all—
gemeinen und durch den einzelnen nicht bewirkbaren Zuſtand
bezieht. Daher auch auf der einen Seite die Willkuͤhrlichkeit
in den Eintheilungen des Berufs, auf der andern die unna—
tuͤrliche Art wie zu dieſem zufaͤlligen und veraͤnderlichen das
weſentliche und unveraͤnderliche, nemlich die natuͤrlichen Staͤnde
des Menſchen, hingeſtellt iſt als ein gleichartiges Glied, die
Unrichtigkeit hinlaͤnglich bezeugt. Die andere Eintheilung aber,
nemlich die in bedingte und unbedingte Pflichten, iſt unter
einem andern Namen dem Inhalt nach ganz dieſelbe mit je—
ner alten in Pflichten gegen ſich und Andere. Denn auf
dieſe Weiſe ſcheidet ſich unter beide Theile alles, was ſonſt
daſſelbe ſein wuͤrde. Nun aber erhellt die Unſtatthaftigkeit
dieſer Eintheilung mehr als irgendwo her aus dem Grund—
ſaz, welchen Fichte bekennt, und zwar nicht voranſtellt, wie es
ſich gebuͤhrt hätte, ſondern faſt beiläufig nachſchikkt, daß nem—
lich der eigentliche Gegenſtand des Vernunftzwekkes und Ger
5 K 2
©
148 |
botes immer die Gemeinheit der vernünftigen Weſen fein muß.
Denn fo kann es keinen weſentlichen und das Ganze theis
lenden Unterſchied machen, ob ich dieſen an mir oder an An⸗
dern erfuͤlle; ſondern hoͤchſtens nur kann dadurch ein fuͤr dieſe
beiden Faͤlle verſchiedenes Maaß geſezt werden desjenigen,
was im Gebiete einer jeden Pflicht von jedem wird zu lei⸗
ſten ſein. Dem zufolge erſcheint auch aus dem Geſichtspunkt
jenes Grundſazes betrachtet, je eine bedingte und unbedingte
Pflicht immer als dieſelbe, wie jeder gleich ſehen wird, der
die Vergleichung ausfuͤhrlich anſtellen will; denn wo eine
Verſchiedenheit der Grenzbeſtimmung ſich zeigt, iſt auch ſicher
eine Haͤlfte aus der andern zu berichtigen, und einzelne Verſe⸗
zungen, welche erſt einzurichten ſind, werden jedem in die
Augen fallen. Der Vorzug aber, welcher dieſem Sittenlehrer
in Betracht jener Eintheilung zuzuſchreiben iſt, beſteht eben
darin, daß bei ihm ihre Nichtigkeit fo deutlich aus dem Ges
brauch ſelbſt ans Licht kommt, und die Gebrechen unbefangen
aufgezeigt werden.
Daher findet ſich auch, wie ſchon hieraus allein konnte
vermuthet werden, bei ihm der Keim einer andern und beſſern
Eintheilung. Denn wer genauer auf das einzelne ſieht, der
findet unter jeder Abtheilung Pflichten, welche ſich beziehen
die eine auf dieſe die andere auf jene von ſeinen ſubjektiven
Bedingungen der Ichheit; ſo daß alle ſeine allgemeinen ſowol
als beſondern, bedingten und unbedingten Pflichten ſich bes
ziehen theils auf den Leib, theils auf die Intelligenz, theils
auf das Bewußtſein der Individualität, welches heißt, auß
die Anerkennung einer Mehrheit freier Weſen. Die leztere
Abtheilung iſt freilich theils vernachlaͤßigt, theils unnatuͤrlich
zerſtuͤkkt; welches aber lediglich daher rührt, weil ein Theil
derſelben als Grund jener hoͤchſten Eintheilung iſt heraus ge⸗
riſſen worden. Fallen nun jene oberen Eintheilungen als
unſtatthaft hinweg: ſo erhebt ſich dieſe von ſelbſt zu der hoͤch⸗
ſten. Und dieſes moͤchte die einzige Spur des richtigen ſein,
welche in den bisherigen Eintheilungen der Pflicht anzutreffen
149
iſt. Denn hier wird doch dasjenige ſelbſt, worin das Geſez
ſich aͤußern ſoll, getheilt nach den gleichviel fuͤr uns woher
gefundenen weſentlichen Merkmalen deſſelben. Dieſe folglich
hat einen weſentlichen Grund, und kann nicht nur den Begriff
der Pflicht auf keine Weife vernichten oder verſtuͤmmeln, fons
dern vorausgeſezt, daß das gefundene richtig gefunden iſt,
auch dereinſt durch den Zuſammenhang der Ethik mit der
hoͤchſten Wiſſenſchaft bewaͤhrt werden. Merkwuͤrdig aber iſt,
wie auch hier die Aehnlichkeit mit der alten ſtoiſchen Schule
die Fichteſche Ethik nicht verlaͤßt. Duͤrfen wir nemlich aus
dem von dem Roͤmer uns ziemlich entſtellt wiedergegebenen
Panaitios auf die Schule uͤberhaupt ſchließen, wenigſtens in
allem was mit dem Unterſchiede zwiſchen den fruͤheren und
ſpaͤteren Stoikern nicht in Verbindung ſteht: ſo findet ſich
auch bei ihnen der gleiche beſſere Keim unter dem gleichen
Fehler verſtekkt. Denn wie es ſcheint, theilten ſie die Pflicht
zunaͤchſt ein nach den vier Haupttugenden, in Pflichten der
Klugheit und der Maͤßigung, der Tapferkeit und der Gerech⸗
tigkeit; eine unſtreitig bösartige und ſchon oben bei einer
andern Gelegenheit getadelte Verwirrung. Hinter dieſer Ein—
theilung aber findet ſich bald eine andere, welche ſich auf die
drei Stüffe bezieht, in denen, wie Cicero die Verwirrung vers
mehrend ſagt, alle Tugend, er haͤtte aber ſagen ſollen alle
Pflicht und Naturgemaͤßheit, beſteht, nemlich die Ausbildung
der Erkenntniß, die Unterwerfung des Leibes und der Naturtrie⸗
be unter die Vernunft, und die Aufrechthaltung der Gemein⸗
ſchaft. Daß dieſes nun, ſowol was den Inhalt als was
das Verhaͤltniß zum Pflichtbegriff anbetrifft, ganz daſſelbe iſt
wie das eben bei Fichte gefundene, darf aus dem fruͤher ſchon
geſagten nicht erſt wiederholt werden. Iſt nun diefer Standort
einmal genommen: fo kann endlich, wer gutmuͤthig und nach⸗
ſichtig pruͤft, auch bei Kant eine ähnliche Spur finden der
Form nach, jedoch in jeder Hinſicht weit unter jenen beiden.
Denn ihm, da er die menſchliche Natur auf keine Weiſe will
in Betrachtung ziehen, bleibt, wie ſchon gezeigt iſt, als das,
150
was dem ſittlichen zur Bearbeitung vorliegt, nichts übrig
als die Geſammtheit aller Maximen, und dieſe natuͤrlich nicht
als wirklicher Inhalt, der nur duͤrfte getheilt werden, ſondern
vielmehr als roher Stoff, von welchem einiges ausgewaͤhlt,
anderes aber hinweggeworfen wird. Die Geſammtheit der
Maximen aber weiß er nicht anders zu theilen, als nach den
beiden Zwekken, welche er, ſofern ſie die Sittlichkeit ausdruͤk—
ken ſollen, verwirft, zu Bezeichnung des rohen Stoffes derſel—
ben aber ganz tauglich findet, nach Gluͤkkſeligkeit nemlich und
Vollkommenheit. Jedoch iſt freilich nichts darin zu loben,
als die Spur eines richtigen Gedanken. Wie willkuͤhrlich
aber und unrichtig nun die eigne Gluͤkkſeligkeit und die fremde
Vollkommenheit ausgeſchieden werden, muß jedem von ſelbſt
deutlich ſein. Denn wenn man aus dem Element das Ganze
conſtruirt, fo erſcheint doch die geſammte Gluͤkkſeligkeit als
Vernunftzwekk und Gebot, und wendet man ſo die Fichteſche
Vorſchrift von Theilung der Geſchaͤfte an, ſo moͤchte nichts
vortheilhafteres gefunden werden, als ein Tauſch der alles in
die alte vorkantiſche Ordnung zuruͤkkverſezte. Eben ſo ließe
ſich, zumal fuͤr Kant in ſeiner abſpringenden Weiſe und mit
Huͤlfe ſeiner eignen Anſicht von der menſchlichen Natur, in
Abſicht der Vollkommenheit das umgekehrte erweiſen. Auch
zeigt ſich in ſeinen Unterabtheilungen genug, ſowol der ſchie—
lende Begriff der Vollkommenheit, als der innere Widerſtreit
zwiſchen Zuneigung uud Abneigung gegen die Glüfffeligfeit,
welches alles in Verbindung mit dem bisher geſagten zu of—
fenbar iſt, um mehr als angedeutet zu werden.
Dieſes nun ſind die bisherigen Eintheilungen des Pflicht—
begriffs, aus denen ein jeder, wie weit dieſer Begriff bisher
verſtanden worden ſei, beurtheilen moͤge. Jezt aber iſt eben
ſo der Tugendbegriff, was er ſei, und ob ihm ein beſſeres
Schikkſal zu Theil worden, zu betrachten.
151
Bi
Vom Tugendbegriff.
Diaß dieſer Begriff dem Begriff der Pflicht dem Range nach
gleich zuſtellen iſt, und auch in allen Darſtellungen der Sittenlehre
ſo erſcheint, wird wol niemand laͤugnen. Denn in einigen Syſte—
men iſt er offenbar der gemeinſchaftliche Urſprung mehrerer un—
tergeordneter einzelner Begriffe; in allen aber erſcheint er als un—
abhaͤngig und urſpruͤnglich, keinen neben ſich habend, mit wel—
chem er etwa zu gleichen Theilen die Sphaͤre eines andern
hoͤheren ausfuͤllte. Daß aber die Stoiker ihn als ein ein—
zelnes, darunter befaßtes, dem Begriff des Gutes unterord—
nen, welches wol die einzige Ausnahme dieſer Art ſein mag,
wird ſich bei naͤherer Betrachtung, als wol vertraͤglich mit
dieſer Behauptung zeigen. Alle Erklaͤrungen der Tugend nun
ſtimmen zuerſt darin uͤberein, daß das Wort etwas ganz innerliches
bedeutet, eine Beſchaffenheit der Seele, eine Beſtimmtheit der
Geſinnung. Ferner auch darin, daß dieſe Beſtimmtheit die
ſittliche iſt, von jedem auf dasjenige bezogen, was ihm den
Inhalt der ethiſchen Idee ausmacht; wobei vorlaͤufig mehr
auf das allgemeine zu ſehen iſt, als auf das beſondere.
Denn dieſer Begriff war allgemein im Umlauf, die beſondere
Form aber, welcher er zunaͤchſt angehoͤrt, nicht uͤberall gleich
anerkannt und gelaͤufig. So ergiebt ſich dieſelbe Bedeutung,
wenn nur im allgemeinen geſagt wird, die Tugend ſei die
beſte Beſchaffenheit der Seele; oder wenn es beſtimmter
heißt, diejenige, durch welche alle Pflichten erfuͤllt werden;
oder aber, diejenige, welche das hoͤchſte Gut ihrer Natur nach
hervorbringt. Denn deshalb gehört der Tugendbegriff im eis
gentlichſten Verſtande weder zu der erſten noch zu der lezten
beſonderen Geſtalt der ethiſchen Idee. Wie man eben ſo auch
den Pflichtbegriff auf das Ideal des Weiſen oder des hoͤch⸗
ſten Gutes, und den Begriff eines Gutes auf jenes und auf
das Geſez beziehen koͤnnte, ohne daß deshalb die naͤheren Be⸗
ziehungen, wie fie aufgeſtellt worden find, wieder aufgelöfet
1
192
würden. Bezeichnet nun der Tugendbegriff die Kraft und
Geſinnung, und zwar ganz, durch welche die richtigen Thaten oder
Werke hervorgebracht werden: ſo iſt er alſo der allgemeinſte
ſittliche Begriff, entſprechend dem Ideal des Weiſen. Denn
der Weiſe iſt derjenige, in welchem die ſittliche Kraft und
Geſinnung ununterbrochen und ausſchließend wirkſam iſt, und
welcher alles hervorbringt, was durch ſie kann gewirkt wer⸗
den, anderes aber nichts. Daß aber auf der andern Seite die Tu-
gend auch ein Gut genannt wird, kann mit Recht nicht an⸗
ders geſchehen, als inſofern ſie zugleich ein hervorgebrachtes
iſt, geſtaͤrkt und befeſtiget durch die Thaͤtigkeit ſelbſt, und ein
anſchauliches, welches ſich durch Thaten oder Werke als
durch Zeichen offenbart. Wovon jedoch erſt bei dem Begriff
der Guͤter und Uebel weiter kann gehandelt werden. Sonach
verhaͤlt ſich die Tugend zur Pflicht, oder die Geſinnung zur
That, wie die Idee des Weiſen zu der des Geſezes, das
heißt, wie die Kraft zu der Formel, durch welche ihre Aeuße⸗
rungen muͤſſen bezeichnet werden. Wie nun oben, um die
Pflicht von der Tugend zu unterfcheiden, für das, was unter
jenen Begriff gehoͤrt, das Merkmal der Geſezmaͤßigkeit aufge⸗
ſtellt wurde, fuͤr dieſen aber das der Sittlichkeit, und gezeigt,
wie meiſtentheils die wahre Bedeutung uͤberſchritten, und auch
das getrennt werde, was vereinigt bleiben ſollte; eben ſo iſt
auch hier ein aͤhnliches Mißverſtaͤndniß aufzuloͤſen. Viele
nemlich haben, um die Innerlichkeit des Begriffs am ſtaͤrk⸗
ſten anzudeuten, ihn der Aeußerung ganz entgegengeſezt, und
dieſe nicht nur fuͤr das Denken davon abgeſondert, ſondern
auch beide als in der Wirklichkeit trennbar vorgeſtellt; als ob
die Aeußerung nur ein zufaͤlliges wäre für die Geſinnung
und ein gleichguͤltiges, da doch beide unzertrennlich find in
der Wirklichkeit. Denn um die Geſinnung als ein inneres
von der That als einem aͤußeren zu unterſcheiden, kann
zwar von jeder beſtimmten Wirkung hinweggeſehen und ge⸗
ſagt werden, die Geſinnung wuͤrde doch die nemliche geweſen
ſein und von gleichem Werthe, wenn auch der Fall nicht
| 153
vorgekommen wäre, wo fie eine ſolche That haͤtte verrichten
koͤnnen. Niemals aber laͤßt ſich von jeder Wirkung uͤberhaupt
hinwegſehen und annehmen, die Geſinnung koͤnne wol inners
lich vorhanden ſein, doch aber, ohnerachtet ſie wollte und
ſtrebte, nicht vermoͤgend etwas zu wirken und hervorzubringen.
Denn dieſes behaupten, heißt den Begriff nicht etwa unters
ſcheiden und auszeichnen, ſondern vielmehr vernichten, indem
ja eine Thaͤtigkeit, welche nichts thut, auch gar nicht vorhan—
den iſt. Wenigſtens grade in dieſem Falle, und von der ſitt⸗
lichen Geſinnung uͤberhaupt kann dies mit Zuverſicht geſagt
werden. Denn fie ſoll ja nicht von einem beſtimmten Ges
genſtande abhaͤngen, welchem allein oblaͤge ſie aufzufordern;
ſondern auf die Idee ſoll ſie ſich beziehen, fuͤr welche alles
ein Gegenſtand iſt. Ja nicht nur von der ſittlichen Geſin—
nung als Einer im ganzen betrachtet, ſondern auch von jeder
einzelnen muß es gelten, und ſogar das Zeichen ſein, ob der
Begriff richtig gebildet, und ein wahrer Theil des Ganzen
dadurch bezeichnet wird oder nicht, daß jede Tugend in jedem
Augenblikk etwas bewirken muß. Daher bewaͤhrt ſich auch
von dieſem Orte aus als richtige Bezeichnung des Unterſchie—
des ſowol als der Verbindung zwiſchen Pflicht und Tugend
jener Spruch der Stoiker, daß in jeder vollkommenen Hands
lung alle Tugenden wirkſam ſind. Denn was von dem
Weiſen in jedem Augenblikk gethan ſowol als nicht gethan
und ausgeſchloſſen wird, das allein iſt die Pflicht und die
vollkommene Handlung dieſes Augenblikks. Es giebt alſo
fuͤr jeden Augenblikk eine ſolche, und alſo kann auch immer
und muß jede Tugend wirkſam fein, und hat nicht noͤthig
aus Mangel an Gegenſtand und Gelegenheit fi) unthaͤtig zu
verbergen und gleichſam zu verſchwinden. Ferner, wenn der
Begriff der Tugend das ſittliche allgemein bezeichnen ſoll: ſo
muß auch, wie in Beziehung auf die Pflicht jede wirkliche
That ihr gemaͤß war oder zuwider, ſo auch hier jede Kraft
und Geſinnung, aus welcher eine That hervorgeht, entweder
gut ſein oder boͤſe, welches heißt, der Tugend entweder ge⸗
154
maͤß oder zuwider. Denn wie kein wirkliches Handeln, wenn
nicht die Ethik als Wiſſenſchaft fol zerſtoͤrt werden, außer-
halb des ſittlichen Gebietes darf angenommen werden: ſo auch
keine Quelle des Handelns. Hiegegen aber wird von den
meiſten zwiefach gefehlt, indem ſie zuerſt innere und han-
delnde Kraͤfte annehmen, welche doch weder gut ſein ſollen
noch boͤſe, weil ſie nemlich in keiner Beziehung ſtaͤnden mit
dem ſittlichenz dann aber auch ſezen ſie ſittliches und auf das
ſittliche ſich beziehendes in der Seele, welches doch weder Tu—
gend ſein ſoll noch Laſter, weil es nemlich keine Kraft waͤre
und keine Geſinnung. Was nun das erſte betrifft, ſo be—
haupten viele, es koͤnne geben Luſt und Liebe, Neigung oder
Abneigung, welche Bewegungen des Gemuͤthes doch allerdings
und uͤberall auf den Willen bezogen werden, die deshalb nicht
ſittlich ſein koͤnnten, weil ihre Gegenſtaͤnde zu unbedeutend
waͤren. Wie aber oben bei der Pflicht geſagt wurde, daß
kein unmittelbares Verhaͤltniß Statt findet zwiſchen der ſittli—
chen Idee und einer aͤußeren That: ſo auch nicht zwiſchen ihr
und einem aͤußeren Gegenſtande; ſondern nur vermittelſt eines
inneren, worauf dieſer bezogen wird. Daher uͤberall von
der Groͤße des Gegenſtandes nicht kann die Rede ſein; ſondern
die ſittliche Bedeutſamkeit der Neigung zu ihm oder Abnei—
gung von ihm haͤngt ab von dem inneren, worauf er bezogen wird,
welches innere immer nur kann gedacht werden entweder in
Einſtimmung oder in Abweichung von der ethiſchen Idee.
Andere aber wollen handelnde Kraͤfte von der ſittlichen Beur—
theilung ausſchließen, weil fie nicht Kraͤfte des Willens waͤ—
ren, ſondern des Verſtandes oder eines anderen Vermoͤgens.
Dieſes nun iſt ein Mißverſtand, welcher die Frage uͤber das
ſittliche wiederum hinuͤber zu ſpielen ſcheint in die von unſe—
rer Unterſuchung ausgeſchloſſene Frage von der Freiheit; ins
dem naͤmlich der Grund darin vorzuͤglich geſezt wird, daß
dieſe Kraͤfte angeborne waͤren oder Naturgaben, und wie es
ſonſt ausgedruͤkkt wird, kurz unabhaͤngig vom Willen. Es
iſt aber ſehr leicht ihn aufzuloͤſen, und jenem verſchloſſenen
155
Gebiet auszuweichen, wenn nur erwogen wird, daß derlirs
ſprung des groͤßeren oder geringeren Umfangs und der ſo oder
anders beſtimmten Richtung eines Vermoͤgens hier unmittel—
bar gar nicht in Betrachtung kommt. Denn es iſt hier gar
nicht vom Vermoͤgen die Rede, ſondern von der thaͤtigen
Kraft. Dieſe aber iſt der Wille allein. Denn jedes Vermoͤ—
gen wird nur in Uebung und Thaͤtigkeit geſezt durch den
Willen, und der Art, wie dieſes geſchieht, liegt zum Grunde
eine Richtung und Beſtimmung des Willens. Auf dieſe nur
wird geſehen, ob ſie mit der ethiſchen Idee uͤbereinſtimmt oder
nicht; denn nur die Richtung des Willens iſt das ethiſche
reale. Denn der Umfang des ausfuͤhrenden Vermoͤgens be—
ſtimmt nur den Erfolg, nach welchem zunaͤchſt nicht gefragt
wird: die Richtung aber deſſelben iſt nichts für ſich, fondern
nur abhaͤngig von der des Willens. Was etwa hiegegen
noch zu ſagen waͤre, widerlegt ſich durch die Ruͤkkweiſung auf
das, was im vorigen Buche geſagt iſt, von den Gewoͤhnun—
gen und Gewohnheiten, wie auch von dem an ſich und von
dem nur beziehungsweiſe unwillkuͤhrlichen; woraus die einfa—
chen hieher gehoͤrigen Folgerungen ein jeder ſelbſt ziehen
moͤge. Dieſelbe Bewandtniß nun hat es, nur daß ſie noch
deutlicher hervortritt, mit der zweiten Anſicht, daß nemlich ei—
niges unmittelbar auf das ſittliche ſich beziehend ſein koͤnne
im Gemuͤth, ohne doch Tugend zu ſein oder Untugend. Denn
hieher gehoͤrt, was Kant wunderbar genug die aͤſthetiſchen Vor—
begriffe der Sittlichkeit nennt, und was, auf ein gemeinſchaft—
liches zuruͤkkgefuͤhrt, nichts anders iſt als die groͤßere oder
geringere Uebung des Verſtandes das ſittliche zum Gegen—
ſtande zu machen, und eben ſo die Lebhaftigkeit oder Stumpf—
heit des Gefuͤhls im Unterſcheiden deſſelben und im Bewegt—
werden davon. Hiezu nun muß ein Vermoͤgen uͤberhaupt
jedem zugeſchrieben werden, welcher der ſittlichen Beurtheilung.
ſoll unterworfen ſein. Denn kein ſittliches kann zu Stande
kommen, weder ein inneres noch aͤußeres, wenn nicht Ver—
ſtand und Gefuͤhl dabei geſchaͤftig ſind und darauf gerichtet;
156
welche Meinung eben zum Grunde liegt, wenn geſagt wird,
die Tugend ſei eine Erkenntniß. Iſt aber von einem Grade,
das heißt einer Kraft, die Rede und von einer Thaͤtigkeit:
ſo iſt ja deutlich, wie dieſe, es ſei nun zunaͤchſt und unmit—
telbar, oder zufolge des vorigen mittelbar und im ganzen von
der Richtung des Willens abhaͤngt. Denn wenn geſagt
wird, daß der Wille einer Idee entſpreche: was iſt damit an⸗
ders geſagt, als daß dieſe die immer gegenwaͤrtige und vor—
waltende ſei, und die, auf welche alles bezogen wird? Und
wenn eine Idee dieſe Gewalt ausuͤbt: ſo heißt eben dieſes,
der Wille entſpricht ihr, und iſt auf ſie gerichtet. Sonach
iſt deutlich, daß, ob Verſtand und Gefuͤhl in demjenigen, was
der Wahrnehmung gegeben wird, das ſittliche vornemlich auf—
ſuchen und genau unterſcheiden oder nicht, keinesweges ab—
hängt von einer eigenthuͤmlichen Beſchaffenheit dieſer Vermoͤ⸗
gen, ſondern lediglich von dem Verhaͤltniß des Willens zur
ethiſchen Idee, und von der Gewalt, welche dieſe uͤber ihn
ausübt. Und dieſes iſt der gegenuͤberſtehende und entſpre⸗
chende Fall, in welchem geſagt werden kann, die Erkenntniß
des ſittlichen, nemlich gleichviel ob durch den Verſtand oder
durch das Gefuͤhl, ſei ſelbſt Tugend.
Dieſes alſo ſind die Beſtimmungen, unter welchen der
Begriff der Tugend muß gedacht werden, wenn er die Stelle
in der Sittenlehre einnehmen ſoll, welche fuͤr ihn allein die
ſchikkliche iſt. Daß er aber, nur unter dieſen Beſtimmungen
gedacht, immer noch ein formaler bleibt, und ſeinen Inhalt
erſt erwartet von dem Inhalt der ethiſchen Idee, dies bedarf
keines Beweiſes. Wie denn auch deshalb alles bisherige nur
in nakten Worten hat koͤnnen ausgefuͤhrt werden, ohne Bei⸗
ſpiele. Da nun auf keinen Inhalt bis jezt iſt Beziehung ge⸗
nommen worden: ſo folgt, daß jede Ethik, der ihrige ſei wel⸗
cher er wolle, etwas muß als Tugend aufſtellen koͤnnen.
Denn daran haͤngt ihre Wahrheit und Anwendbarkeit, daß
ein Wille kann gedacht werden als allein und durchaus der
oberſten Idee derſelben entſprechend. Und dieſer Idee wird
157
in jedem Syſtem etwas anderes unter der Formel des bloßen
Naturtriebes entgegengeſezt, auf welchen alſo, es ſei nun auf
einfache oder vielfache Art, ein anderer als der ſittliche Wille
ſich beziehen kann. So wird dem Epikuros zufolge jeder
Wille unſittlich ſein, welcher die poſitive Luſt anſtrebt, und
nur derjenige ſittlich, welcher ausſchließend auf die beruhigende
gerichtet iſt. Nach dem Ariſtippos aber unſittlich jeder, wel—
cher fähig wäre, fi) auch für die bloße Thaͤtigkeit zu beſtim—
men, oder irgend einer Idee zu Liebe ſich zu bewegen, ohne
auf die leiſe Bewegung zu achten, oder auf die ruͤkkehrende
Empfindung; ſittlich aber jeder, der nur die wahre Luſt und
dieſe immer und uͤberall zu bilden und zu beſizen ſtrebt. Of—
fenbar aber iſt ohne weitere Erinnerung, daß in den wenig⸗
ſten Darſtellungen der Ethik auf dieſe Art der Begriff der
Tugend der eigenthuͤmlichen Idee angebildet iſt, und ſo das
ſittliche einzeln ausfuͤhrlich verzeichnet. Wie denn gleich die
angefuͤhrten eudaͤmoniſtiſchen Syſteme ſich damit begnuͤgen,
daß ſie, anſtatt die eigne Tugend vorzuzeigen, nur die fremden
nach ihren Grundſaͤzen ſichten. Dieſes aber heißt den Begriff
gar nicht aufſtellen. Denn was fo von anderwaͤrts her aufs
genommen wird, kann nur zufällig mit dem eigenen uͤberein—
ſtimmen; und nicht als ein vielfaches zufällig zufammenges
rafftes, ſondern als eine und ein weſentliches ſoll die Geſin—
nung ſich zeigen. Was nun die einfache und reine Darſtel⸗
lung des Ariſtippos betrifft: ſo liegt hievon die Schuld nicht
an dem eigenthuͤmlichen Inhalt ſeiner Idee, ſondern nur an
einem faſt für ihn ſelbſt laſterhaften Ueberreſt unwiſſenſchaft⸗
licher Schaam, welche ſich weigerte das ſo gefundene ſittliche
in Widerſpruch zu ſezen mit dem allgemein geltenden recht⸗
lichen; wiewol hierin ſchon vor ihm nicht wenig geſchehen war,
und auch er im einzelnen deutlich genug feine Meinung offen=
bart hat. Epikuros aber hat nur die eine mittelbare Darſtellung
mit der andern verwechſelt. Denn, wie ſchon erwähnt, gehört
er zu denjenigen, deren Sittlichkeit nur beſchraͤnkender Art iſt,
und in dieſen freilich iſt es ſchwer den Begriff der Tugend
158
unabhängig für ſich darzuſtellen. Denn wenn die ethiſche
Idee ſelbſt nicht rein aus ſich auf eigne Weiſe das Leben
bildet, ſondern nur einen negativen Charakter hat: ſo kann
auch die ihr angemeſſene Geſinnung nicht fuͤr ſich dargeſtellt
werden als ſelbſtthaͤtig, ſondern nur vermittelſt desjenigen,
was ſie zuruͤkkhalten und beherrſchen ſoll. Daher auch jeder
ſo beſchaffenen Sittenlehre die Behandlung nach dem Tugend—
begriff fremd, und vornehmlich nur die nach dem Pflichtbe—
griff natürlich iſt, welches deutlich gefühlt und ſtreng beobach—
tet zu haben von Fichte allein als ein großer Vorzug kann
gerühmt werden. Kant hingegen hat ſeine Darſtellung zur
Ungebuͤhr Tugendlehre genannt, da alles reale darin nur
Pflichtbegriffe ſind, und er von der Tugend nur den Gegen—
ſaz nemlich das Laſter hat gebrauchen koͤnnen: welches zwar
den Pflichten gegenüber ſtehend ſich wunderlich ausnimmt,
doch aber, indem uͤberall viele einer, oder eines vielen ents
ſpricht, Gelegenheit giebt die Ungleichartigkeit der Begriffe zu
bemerken. Mit der Tugend ſelbſt aber befindet er ſich übers
all im Gedraͤnge, und ſie iſt bei ihm und bei allen dieſer Art
im Kampf in jedem Sinne. Nicht nur ſo nemlich, daß da—
durch eine Unvollkommenheit der ſittlichen Geſinnung ausge—
druͤkkt wird, oder das Vorhandenſein anderer neben ihr, welche
ſie uͤberwinden muß: ſondern es iſt ihr etwas weſentliches, daß
ſie gar nicht gedacht werden kann ohne andere Antriebe,
welche theils ganz theils zum Theil zu zerſtoͤren, ihr einziges
Geſchaͤft ausmacht. Daß aber die Stoiker, welche ſich doch,
wie oben gezeigt worden, in demſelben Falle befinden, faſt
am ausfuͤhrlichſten unter allen Alten den Tugendbegriff abge—
handelt haben, iſt mehr ihrem philologiſchen und dialektiſchen
Sinn zuzuſchreiben, als der Natur ihrer Sittenlehre. Wel⸗
ches auch hinlaͤnglich dadurch ſich beſtaͤtiget, daß alles wahre
und richtige, was bei ihnen gefunden wird, mehr in demjes
nigen liegt, was ſie Andere beſtreitend, als in dem, was ſie
ſelbſt aufbauend vortragen. Schon, wenn ſie die der Tugend
entgegengeſezte Geſinnung beſchreiben als ein nicht im Ges
159
horſam der Vernunft ſtehendes Begehren, die Tugend ſelbſt
aber als ein Erkennen, muß ohnerachtet deſſen, was oben
hierüber geſagt worden, Jeder einſehen, daß ihnen der eigent—
liche Gegenſaz zwiſchen beiden Geſinnungen entgangen iſt,
und ſie nur um ein und daſſelbe Begehren wiſſen, bald mit,
bald ohne Kenntniß, praktiſche freilich, der Regeln, welche die
Vernunft daruͤber aufſtellt. Daher auch ſehr wol zu unter—
ſcheiden iſt die Bedeutung, in welcher fie die Tugend Erkennt—
niß nennen, von der, in welcher Platon das nemliche behaup—
tet. Denn dieſer hat nach ſeiner mittelbaren Lehrweiſe da—
durch nur anzeigen wollen, daß die ſittliche Geſinnung auf
eine Idee geht, und alſo von dem Bewußtſein derſelben un—
zertrennlich iſt, es ſei nun unentwikkelt als richtige Meinung,
oder entwikkelt als wirkliche Erkenntniß; jene aber wollen andeuten,
daß die Geſinnung, um ſich zu aͤußern, eines vorher gegebenen und
ihr fremden Begehrens bedarf, welches ſie einer Regel gemaͤß
behandelt. Daher auch ihre Erklaͤrungen der Tugend theils
auf das zu waͤhlende oder das Gute ſich zuruͤkkbeziehn, wel—
ches wiederum die Tugend iſt oder doch nicht ohne ſie, und
alſo im Kreiſe herumgehn, theils aber ganz formal ſind, und
nur einen polemiſchen Werth haben, wie die von der Ueber—
einſtimmung im ganzen Leben, oder die gegen den Ariſtoteles
gerichtete, die ſittliche Geſinnung ſei eine ſolche, welche ihrer
Natur nach kein Uebermaaß zulaͤßt. Denn die von dieſem
gegebene Erklaͤrung, wenn ſie auch nicht in dem Grade, wie
Kant es gethan hat, und aus ſeinen Gruͤnden zu verwerfen
iſt, kann doch nicht gelobt werden, weil ſie ebenfalls nur eine
mittelbare iſt, auf die aͤußere Erſcheinung gegruͤndet. Nem—
lich jede Handlung, welche aus der ſittlichen Geſinnung her—
vorgeht, hat einen Gegenſtand, welcher zugleich auch Gegen=
ftand iſt irgend einer Neigung. Daher muß jene Gefinnung
dem aͤußeren Erfolge nach zuſammenſtimmen mit dem, was
ein beſtimmter Grad von dieſer Neigung wuͤrde hervorgebracht
haben; und daß dieſer Grad immer in der Mitte liegen wird,
zwiſchen dem was zu beiden Seiten als das aͤußerſte der
\
160
Neigung ins Auge fällt, dies zu bemerken, und für etwas zu
achten, war eines Empirikers, wie Ariſtoteles, ganz wuͤrdig.
Daſſelbige beſagt feine andere Erklaͤrung von lebereinſtimmung
der Vernunft und des unvernuͤnftigen Triebes, welche ebenfalls
das, was er in ſich wol als Einheit erkannte, ſo darſtellt,
wie es in der Erſcheinung als ein zwiefaches zerfaͤllt. Welche
Folgen nun dieſe ganz unwiſſenſchaftliche Erklaͤrung und Con—
ſtruction des Begriffes fuͤr die einzelnen Begriffe und ihre
Beſtimmtheit haben muß, dieſes wird ſich unten zeigen; denn
formal getheilt hat Ariſtoteles die Tugend nicht, wenigſtens
nicht nach dieſem Princip. Hier iſt nur zu zeigen, wie er ſich,
wiewol kaum zu denen gehörig, welchen die Sittlichkeit übers
haupt ein negatives iſt, ihnen dennoch in ſeiner Erklaͤrung der
ſittlichen Geſinnung annaͤhert, weil nemlich das innere Weſen
derſelben ihm immer eine unbekannte Größe geweſen iſt, wor⸗
uͤber auch, wer ihn aufmerkſam verfolgt, viel unſchuldige
Winke antreffen wird, ja deutliche Geſtaͤndniſſe. Sonach ſchei—
nen unter den vorhandenen nur diejenigen eines reinen und
reellen Begriffs der Tugend faͤhig zu ſein, welchen, gleichviel
ob Luſt oder Thaͤtigkeit, das ſittliche ein einfaches reales und
für ſich ſelbſt begreifliches vorſtellt; welche, da den gewoͤhn⸗
lichen neuen Bekennern der Vollkommenheit das einfache nicht
zuzugeſtehen iſt, ſich auch hier auf Ariſtippos, Platon und
Spinoza werden zuruͤkkfuͤhren laſſen. |
Was nun bisher von der Art den Begriff der Tugend
zu beſtimmen geſagt worden, dem fehlt noch Beſtaͤtigung
durch naͤhere Anſicht der Art, wie er von verſchiedenen pflegt
eingetheilt zu werden. Sehen wir hiebei zuerſt auf diejeni⸗
gen, bei denen die Tugend ſich auf ein anderes und vorher
gegebenes Begehren bezieht: ſo iſt deutlich, daß ihnen kaum
etwas anderes uͤbrig bleibt zur Regel, um die untergeordne⸗
ten und einzelnen Begriffe zu bilden, als die Betrachtung des⸗
jenigen, worauf die Tugend ſich bezieht; und ſie muͤßte ſonach
getheilt werden, wie die rohen Begehrungen, welche erſt durch
das Hinzukommen der Tugend koͤnnen ſittlich werden oder
| unſitt⸗
U
161
unſittlich auch erft werden durch ihr Ausbleiben. Auch hier zwar
kann ſchon nicht geſagt werden, daß auf ſolche Weiſe die Tugend
eingetheilt iſt; denn nur das beſchraͤnkte wäre fo als ein viele
faches dargeſtellt, nicht aber das beſchraͤnkende, und es kann
nicht gezeigt werden, daß irgend eine Art oder auch ein Theil der
Tugend daſſelbe verrichtet in dieſem, eine andere Art aber daſſelbe
in einem anderen Falle. Allein von dieſer Eintheilung finden
fi wenig Spuren bei denen, welchen fie angemeſſen wäre,
ſondern mehr bei Anderen, bei denen dieſe ertraͤglichere Beſtim⸗
mung nicht einmal angewendet werden kann, ſondern es ganz
das Anſehn gewinnt, als ſollte die ſittliche Geſinnung getheilt
werden gemäß der unſittlichen, die ihr entgegengeſezt wird, ſei
es nun unter dem Namen der Begierde, oder des Aſfſektes, oder
der Leidenſchaft. Welches nur bei dem Verfahren des Ariſto⸗
teles nicht ganz widerſinnig iſt; jedoch auch dieſes genugſam
in ſeiner Bloͤße darſtellt. Werden nun jene Neigungen ſelbſt
nicht getheilt nach der verſchiedenen Art, wie uͤberhaupt das
Begehren oder Verabſcheuen auf einen Gegenſtand kann bezo⸗
gen werden, wozu Spinoza weit mehr noch und regelmaͤßiger
als die Stoiker wiewol ihnen aͤhnlich, einen lobenswerthen
Verſuch gemacht hat, ſondern nach beſtimmten Gegenſtaͤnden,
wie zum Beiſpiel die drei bekannten und gemeinen, Vergnuͤ—
gen, Reichthum und Ehre: ſo ſind diefe ſchon fuͤr die Nei⸗
gungen ſelbſt nicht jedes eins und ein beſtimmtes; und das,
wodurch ſie ſich unterſcheiden, ſteht gar nicht in Verbindung
mit dem Begehren und Verabſcheuen. Nicht anders als ob
jemand, nachdem ein prismatiſcher Koͤrper erklaͤrt worden
als durch gleichmaͤßige Bewegung einer Flaͤche laͤngſt einer
Linie entſtanden, nun dieſe Körper eintheilen wollte, je nach⸗
dem die Flaͤche ein Dreiekk waͤre oder Vierekk, oder ſonſt
eine Geſtalt haͤtte, welches fuͤr die Eigenſchaften des entſtandenen
in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung auch nicht im mindeſten
weſentlich wäre; ebenſo würden auch hier Verſchiedenheiten aufs
geſtellt, die ſchon für eine wiſſenſchaftliche Betrachtung der natuͤr⸗
lichen Neigungen nicht weſentliche waͤren, ſondern nur zufaͤllige;
Schleierm. Grundl. 2
162
wieviel mehr noch zufällig für die Betrachtung der Tugend.
Denn felbft wenn die Neigungen auf eine vernünftigere Art
getheilt würden, koͤnnte doch nicht die Tugend ihnen gemäß,
auch getheilt werden. Nemlich betrachtet man ſie zunaͤchſt
als die Abweſenheit der Neigungen, welche auf etwas ande—
res, als die ſittliche Idee, gerichtet ſind: ſo kann ſie inſofern
unmöglich getheilt werden nach dem mannigfaltigen und ei-
genthuͤmlichen, worauf dieſe gerichtet ſind. Oder moͤchte es
Beifall finden, die Finſterniß, ſofern ſie eine Abweſenheit des
Lichtes iſt, deshalb weil das Licht in der Erſcheinung nicht,
daſſelbige iſt, einzutheilen in Beraubung des rothes Lichtes
oder des blauen und wie fonft die pris matiſchen Strahlen
geſchieden werden? Betrachtet man aber die Tugend als im
Kampf mit den entgegenſtehenden Neigungen: ſo iſt theils
auch dieſes nicht ihr Weſen ſondern vielmehr ein voruͤberge⸗
hender Zuſtand, denn in ihrer Vollkommenheit im Weiſen
gedacht muß ſie vorgeſtellt werden ohne Kampf; theils aber
ſind auch ſo die verſchiedenen Neigungen fuͤr ſie nicht der Art
nach verſchieden, ſondern nur der Groͤße nach. Denn daß in
dem einen Gemuͤth die ſittliche Geſinnung leichter und ſtaͤrker
dieſe Neigung uͤberwindet, in einem andern aber jene, dieſes
iſt nicht daher abzuleiten, weil etwa jenes diejenige Art oder
Geſtalt der Tugend beſaͤße, welche dem Streit mit der einen,
das andere aber die, welche dem Streit mit der andern ent
ſpraͤche, ſondern nur daher, weil in jenem die eine, in dieſem
die andere die ſchwaͤchere iſt. Dieſes iſt ſo deutlich, daß es
verſchwenderiſch waͤre, es daraus zu erweiſen, weil ſonſt nicht
nur jeder Neigung, ſondern auch jedem Gegenſtande derfelben.
eine eigne Art der Tugend entſprechen muͤßte, ſo daß nicht,
nnr eine gemeinſchaftliche Tugend entgegengeſezt waͤre der
Neigung zum Wohlgeſchmakk, ſondern jedem reizenden, ge—
nießbaren eine beſondere, und fo in allen übrigen. Wird dies
ſes immer weiter fortgeſezt, ſo ergiebt ſich gewiß ein Punkt,
wo es jedem ungereimt erſcheint; und willigt er dann in die
Vernichtung des Verfahrens, fo wird durch denſelben Aus-
5 ö 163
ſpruch auch jedes vorige Glied vernichtet, bis die Tugend nur
als Eine daſteht im Verhaͤltniß gegen alle Neigungen, wie
mannigfaltig dieſe auch fein mögen. Auch ergiebt fi ö int
großen betrachtet die Unſtatthaftigkeit dieſer Eintheilung dar
raus, daß, ohnerachtet ſie keinesweges auf irgend einem be⸗
ſonderen Inhalt der ethiſchen Idee beruht, ſie dennoch, von
jedem entgegengeſezten Syſtem aus betrachtet, ungereimt er⸗
ſcheint für das andere. Denn ſezet, es fer im Eudaͤmonis⸗
mus die Conſequenz des Ariſtippos auf die mehrmals ers
waͤhnte Weiſe vollendet: ſo iſt dann in dieſem Syſtem und
dem rein thaͤtigen ſi ttliches und unſt ittliches mit vertauſchter
Ueberſchrift ganz daſſelbe. Soll nun die Tugend nicht anders
koͤnnen eingetheilt werden, als nach der Art, wie die Untu⸗
gend ſich von ſelbſt eintheilt: ſo muß in dem einen die thaͤ⸗
tige Geſinnung ihre Eintheilung borgen von der Luſt, in dem
andern aber gegenfeitig die Luft von der thaͤtigen Gefinnung!
So daß entweder keine von beiden getheilt werden kann durch die
andere, oder, wenn dieſes, auch jede muß fähig fein, ſich ſelbſt
nach einem inneren Grunde zu theilen. Kein Ethiker aber iſt
wegen der Reinheit von dieſem Fehler ſo ſehr zu loben, als
Spinoza, welcher, wiewol er die ſitt liche Kraft und die an—
dere nur als Vollkommenheit und Unvollkommenheit unter⸗
ſcheidet und beſſer als irgend ein anderer die unſitt lichen Nei⸗
gungen getheilt hatte, dennoch ſich verſtaͤndig enthielt, dieſelbe
Theilung auch auf das ſittliche zu verpflanzen, und ſo ſitt—
liches und unſittliches einzeln gegenuͤber zu ſtellen. Sehen
wir ferner auf diejenigen Eintheilungen, welchen ein voraus—
geſezter Gehalt des ſittlichen zum Grunde liegt, und zwar,
weil die anderen nichts eigenthuͤmlich und vollſtaͤndig ausge:
fuͤhrt haben, auf die, welche das ſittliche in das Handeln
und Sein ſezen im Gegenſaz des habens und genießens:
ſo zeigt ſi ſich weit verbreitet bei allen, welche die Vollkommen⸗
heit zu ihrer Formel gewaͤhlt haben, eine Eintheilung der
Tugend, nach der Art wie uͤberhaupt die geiſtige Kraft eins
getheilt wird, in Luhenden des Verſtandes und des Willens,
L 2
164
oder des Vorſtellungs⸗ und Begehrungsvermoͤgens, oder wie
ſonſt in der Lehre von der Seele dieſer Unterſchied pflegt an⸗
gedeutet zu werden. Was nun dieſe betrifft, ſo iſt Beziehung
zu nehmen auf das bereits gefagte von dem Verhaͤltniß des
Willens zu allem übrigen in der Seele, was von ihm unter⸗
ſchieden wird, und wie in der Ethik alles nur kann auf den
Willen bezogen werden und als deſſen Tugend erſcheinen.
Daher haben auch mit Recht Aristoteles und andere Alte den
beſſeren oder ſchlechteren Zuſtand des Erkenntnißvermoͤgens,
ſofern er ſich abgeſondert vom Willen betrachten ließ, außer⸗
halb der Sittenlehre geſtellt. Wenn nun, dem obigen ge⸗
maͤß, die Geſinnung es iſt, die fittliche oder unfi etliche, welche,
was wir Vermoͤgen der Seele nennen, in Thaͤtigkeit fest, und
ihnen umfang und Richtung beſtimmt: ſo waͤre nicht nut
zuerſt der Name der Eintheilung widerſinnig gewaͤhlt, fone
dern auch der Grund derſelben waͤre nichtig, als ob jemand
das Licht eintheilen wollte nach den leitenden Stoffen, durch
welche es ſich bewegt, oder eine Kunſt nach den Werkzeugen,
deren fie ſich bedient. Wird aber jene Zurüffführung alles
andern auf die Einheit des Willens verabſaͤumt, und auf die
Geſinnung nicht geſehen, welche irgend ein Vermoͤgen des
Geiſtes ſo beſtimmt hat, wie es beſtimmt ift: fo entſtehen
dann Tugenden, welche mit Laſtern zuſammenhaͤngen und
aus einem Grunde mit ihnen herruͤhren, welches, wenn die
Sittlichkeit und ihr Gegenſtand überall etwas fein ſoll, wo
moͤglich noch aͤrger iſt, als der oben geruͤgte Widerſtreit der
Pflichten, und auf jede Weiſe ein Zeichen einer tiefgehenden
Verwirrung der Begriffe. So hoͤrt man bisweilen reden von
einem vollkommnen Verſtande, der ſich mit boshaften Geſin⸗
nungen vertraͤgt, und von einer Guͤte des Herzens, welche
mit Schwachheit des Verſtandes verbunden iſt. Wenn aber
die ſittliche Geſinnung den Verſtand nicht treiben kann, wo
ſie ihn braucht: ſo muß ſie ſchwach ſein, und ſich auch ſo
zeigen in der ſogenannten Guͤte des Herzens, welche ſich alſo
nicht als ſittlich bewaͤhren wird. Und wenn im unmittelba⸗
165
ren handeln die unſittliche Geſinnung ſich herrſchend zeigt: ſo
wird ſie auch diejenige Reihe von Wollungen beherrſcht ha⸗
ben, welche der Uebung und Thaͤtigkeit des Verſtandes zum
Grunde lag, fo daß die ſogenannte Vollkommenheit, ethiſch
betrachtet, nichts anders iſt, als eine Staͤrke und Vollkom⸗
menheit der unſittlichen Geſinnung. Und es iſt nichts geſagt,
wenn jemand einwendet, derſelbe Verſtand werde doch auch
um ſo beſſer das ſittliche vollbringen, und der Tugend dienen
koͤnnen: denn er vollbringt ja nichts, als durch den Willen
und für den Willen, durch welchen, und für welchen er iſt.
Ja, es ließe ſich als ein ſchwerſcheinender Saz behaupten,
daß, angenommen die Geſinnung koͤnne ſich umkehren, dann auch
eine neue Uebung und Geſtaltung des Erkenntnißvermoͤgens
vorangehen muͤſſe, ehe es der neuen Geſinnung mit gleichem
Geſchikk werde dienen koͤnnen, welches jedoch nicht hieher ge⸗
hoͤrt. Die Sache ſelbſt aber haben die Stoiker, wiewol ſelbſt
von dem Fehler nicht frei, ſehr gut ausgedruͤkkt durch die
Behauptung, daß nur der Weiſe in Wahrheit Freund und
Meiſter ſein koͤnne irgend einer Kunſt oder Wiſſenſchaft; wel⸗
ches ſagen will, daß dieſe Vollkommenheiten, ethiſch betrach⸗
tet nur in ſo fern des Namens genießen, als ſie durch die
ſittliche Geſinnung in ihrem wahren Umfange aufgegeben und
hervorgebracht und alſo auch innerhalb derſelben beſchloſſen
find. Weiter auch wird in denſelben Darſtellungen die Tu⸗
gend eingetheilt, wie die Pflicht, ſowol nach den Zwekken, als
nach den Gegenſtaͤnden. Das erſte behauptet, ohne es jedoch
genau auszufuͤhren, Kant mit einer Verwirrung, in der jede
Spur ſeines dialektiſchen Verſtandes verſchwindet, indem er
ſagt, es ſei zwar nur Eine Tugend, man koͤnne aber mehrere
Tugenden unterſcheiden nach Maaßgabe der Zwekke, welche
die Vernunft vorſchreibt. Denn foviek fehlt, daß jedem Zwekk
eine andere und eigne Geſinnung muͤßte untergelegt werden,
daß vielmehr nur durch die Mehrheit der Zwekke, indem vie⸗
lem aͤußeren daſſelbe innere als zum Grunde liegend ſich offen⸗
bart, die Geſinnung kann erkannt werden. Nicht beſſer aber
166
iſt es mit dem zweiten, wenn die Tugenden, wie vorher die
Pflichten, eingetheilt werden in geſellige und in auf ſich ſelbſt
bedachte. Denn im ſympathetiſchen Syſtem iſt weder der
wolwollende Trieb fuͤr ſich ſittlich noch der ſelbſtiſche, ſon—
dern nur das Gleichgewicht, und alſo die Geſinnung nur ins
ſofern ſittlich, als dieſer Unterſchied aufgehoben wird; im
praktiſchen aber iſt jede Perſon nur inſofern Gegenſtand des
ſittlichen, als ſie ein Mitglied iſt von der Gemeinheit der
Vernunftweſen, alſo die Geſinnung nur inſofern ſittlich, als.
der Unterſchied gar nicht gemacht wird. In beiden wäre das
her dieſe Theilung nur der des Ariſtoteles aͤhnlich nach dem
Schein, oder der andern nach dem Gegenſaz: denn von Nei—
gungen, welche ſelbſtiſch ſind und geſellig, werden wol beide
reden. Auch koͤnnte jemand fragen, wie wol der Menſch da—
zu gelange, die Mehrheit von Menſchen zu finden und anzu—
erkennen, wenn nicht durch einen Trieb welcher ſie ſucht, und
ob es alſo eine geſellige Tugend gebe vor den Gegenſtaͤnden
der Geſelligkeit, wodurch ebenfalls beide ſich wieder in eine
und dieſelbe verwandeln wuͤrden. Daß aber auch Spinoza
dieſen Unterſchied auffaßt und ſeine Tugend eintheilt in
Starkmuͤthigkeit und Edelmuͤthigkeit, geſchieht wenigſtens mit
deutlichem Bewußtſein, daß die Eintheilung nur eine aͤußere
iſt, und daß die Tugend nicht auf dieſe Weiſe in zwei an
fi) unterſchiedene Geſinnungen zerfällt, fo daß man von ihm
nicht ſagen kann, er werde durch einen Mangel an ethiſchem |
Sinn dazu getrieben, fondern nur durch eine rhetorifche Abs
fit. Dieſe jedoch würde er nicht nöthig gehabt haben zu
verfolgen, wenn er die zulezt aufgeworfene Frage beantwortet,
und der Wurzel der ethiſchen Geſinnung bis dahin nachgegra—
ben haͤtte, wo auch der Trieb gleiche Weſen zu ſuchen in ſie
eingewachſen iſt, wozu fein Syſtem einen gar nicht beſchwer⸗
lichen Weg deutlich anzeigte. Platon hingegen hat uͤberall
ſo ſtark als möglich gegen dieſe Unterſcheidung ſich erklaͤrt, in
dem er ſogar in der Gerechtigkeit, welche doch immer an die
Spize der geſelligen Tugenden geſtellt wird, die gleiche auf
167
den Handelnden ſelbſt ſich beziehende Geſinnung aufſucht. Zu
welchem Verſuch, um die Untheilbarkeit der Tugend auf die—
ſem Wege anſchaulich genug zu zeigen, noch die andere Haͤlfte
mangelt, nemlich, auch die am meiſten auf den Handelnden
ſelbſt ſich beziehende Geſinnung zu einer geſelligen und zwar
in der groͤßten Allgemeinheit zu erweitern. Endlich noch ha—
ben einige, an den neueren Eintheilungen verzweifelnd, denjes
nigen Theilungsgrund zu erforſchen geſucht, auf welchem die
vier Haupttugenden der gemeinen helleniſchen Sittenlehre be—
ruhten, welches doch nur dann von Nuzen für die Wiſſen—
ſchaft ſein koͤnnte, wenn zuvor die Bedeutung dieſer Tugen—
den ſelbſt genauer als bisher waͤre gepruͤft worden. So
meint Garve zuerſt, es habe dabei die Wahrnehmung der vier
natuͤrlichen Gemuͤthsarten zum Grunde gelegen, welches denn
auf die bereits betrachtete Eintheilung der Tugend nach den
rohen Begehrungen und Antrieben zuruͤkkwieſe. Dann wie—
der, ſie bezoͤgen ſich auf die verſchiedenen Stufen des Da—
ſeins, welche der Menſch als die hoͤchſte Potenz in ſich vers
einigte, welches zwar gar nicht helleniſch, in gewiſſer Hinſicht
aber ſpinoziſtiſcher iſt, als man von dieſem vermuthen ſollte.
Ethiſch indeſſen iſt es wol gar nicht. Denn unmoͤglich koͤnn—
ten diejenigen Geſinnungen, welche den niedrigeren Stufen
des Daſeins entſprechen, als fuͤr ſich allein thaͤtig gedacht,
den Charakter der Vollkommenheit an ſich tragen; und wer
jemals nur einer ſolchen gemaͤß handelte, koͤnnte nicht der
Weiſe ſein. So daß alle uͤbrigen nicht fuͤr ſich Tugenden
ſein würden, ſondern nur entweder Theile der hoͤchſten Tu—
gend waͤren, oder dieſer untergeordnete und an ſich gar nicht
ſittliche Eigenſchaften.
Was alſo den Begriff der Tugend anbetrifft: ſo ergiebt
ſich aus dem geſagten, daß auch dieſer meiſtentheils weder
gehoͤrig entwikkelt, noch auch immer auf die rechte Weiſe ge⸗
braucht iſt; beſonders aber, daß er ſich bis jezt jeder Einthei—
lung zu verweigern ſcheint, welches im voraus von den vie—
168
len überall vorkommenden einzelnen und beſonderen Tugen⸗
den keine guͤnſtige Meinung erregt.
3.
Vom Begriff der Güter und Nebel,
Am ſchhwierigſten aber unter allen ethiſchen Begriffen iſt
fuͤr die Unterſuchung der Begriff der Guͤter und Uebel, weil
nicht nur die neuere Sittenlehre ihn gaͤnzlich vernachlaͤßigt,
und kaum hie und da, gleichſam nur weil er doch einmal
vorhanden iſt, ſeiner Erwaͤhnung thut; ſondern auch in der
alten die Klarheit, worin er ſich darſtellt, gar nicht in Ver⸗
haͤltniß ſteht zu den vielen Verſuchen, welche damit ſind ge⸗
macht worden. So viel indeß iſt fuͤr ſich deutlich, daß, wenn
er weder ein leerer Name ſein ſoll fuͤr daſſelbe, was unter
den vorigen Begriffen zuſammengefaßt wurde, noch auch et⸗
was außerhalb der Ethik gelegenes bedeuten, nemlich dasje⸗
nige, was nur ein Mittel iſt, um das ſittliche als ſeinen
Zwekk hervorzubringen, oder zu erhalten; ſondern wenn er
in der Wiſſenſchaft ſelbſt feinen Ort, wie er ihm vor Alters
angewieſen worden, behaupten ſoll, muß er ſich, wie bei uns
auch ſchon der Name andeutet, auf die noch uͤbrige dritte Ge⸗
ſtalt der ethiſchen Idee, nemlich das hoͤchſte Gut beziehn, und
zwar eben ſo wie die beiden vorigen auf die ihrige, wie das
Element auf das Ganze, oder wie das einzelne auf die To⸗
talitaͤt, unter welcher es befaßt iſt. Das hoͤchſte Gut aber
hatte ſich gezeigt als Geſammtheit deſſen, was durch die ethis -
ſche Idee kann hervorgebracht werden, welches Hervorbringen
freilich nur eine allgemeine Bezeichnung iſt und der näheren
Beſtimmung nach in jedem Syſtem verſchieden ſein kann, in
dem einen ſich verhaltend zum hervorbringenden wie die
Welt zur Gottheit, in dem andern wie die Sprache zum Ge⸗
danken oder wie die Frucht zur Pflanze. Was alſo ein Gut
ſein ſoll, muß ſich wie ein einzelnes auf jene Art hervorge⸗
brachtes verhalten, und wiederum eine andere ethiſche Einheit
ſein, als die Pflicht war oder die Tugend. Und daß in die⸗
169
ſem Sinn der Begriff der Güter gemeint war, ift nicht ſchwer
zu ſehen. Denn jener Fall, wo auch die Tugend ein Gut
genannt wird, iſt oben ſchon vorläufig eroͤrtert, und der ans
dere Begriff der Pflicht iſt niemals mit dieſem verwechſelt
worden. Wie aber nun zu jenen beiden dieſe neue Einheit
ſich verhalten ſoll, und ob noch eine dritte zu den vorigen
ſtatt haben kann, dies muß jezt naͤher betrachtet werden.
Denn an ſich zwar ſcheint uͤberall das hervorgebrachte ein
drittes zu ſein zu der hervorbringenden Kraft und der Hand—
lung des hervorbringens; und fo wie einer Kraft viele Hands
lungen gehoͤren, ſo auch koͤnnen viele Handlungen erfordert
werden, damit ein hervorgebrachtes entſtehe. Oder auch,
wie eine Handlung kann zuruͤkkgefuͤhrt werden muͤſſen auf
viele Kraͤfte, als zugleich und im Verein wirkend: ſo auch
kann jede Handlung zu erklaͤren ſein aus einer zuſammenge—
festen Abzwekkung auf mehreres hervorzubringende. In Bes
ziehung aber auf das ſittliche ſcheint dieſes eignen Schwierig—
keiten unterworfen zu fein und uns ploͤzlich wieder zurüffzus
werfen in den alten Streit uͤber die Form des ſittlichen und
ſeine Materie. Um nun ſogleich dieſen Schein zu entfernen,
iſt zuerſt im allgemeinen zu erinnern, daß keinesweges das
Verhaͤltniß der Pflicht zum Gut ſo gedacht werden ſolle, daß
die That nur Mittel ſei, das Werk aber oder das hervorges
brachte der Endzwekk, welches ja ſchon oben als nicht vertraͤglich
iſt erklaͤrt worden mit der Natur der Sittenlehre, als in der
alles unmittelbar und um ſein ſelbſtwillen beſtehen muß.
Vielmehr iſt dieſes ein ſicheres Merkmal, daß eine Ethik nicht
frei iſt von Widerſpruͤchen, wenn ſie nicht auf eine andere
eigne Weiſe dieſe beiden Begriffe auf einander zu beziehen
vermag; oder vermag ſie es zwar, hat es aber nicht geleiſtet,
ſo geht hervor, daß ſie ſich ſelbſt nicht gehoͤrig verſtanden und
ausgebildet habe. Welchergeſtalt alſo auch die formaliſtiſche
Sittenlehre, wenigſtens von dieſem Punkt aus, den Begriff
nicht beſtreiten kann. Eben ſo wenig aber darf die Pflicht
gedacht werden als unzureichend um das Gut hervorzubrin⸗
170
gen, wie grade die formaliftifche Sittenlehre hat behaupten
wollen; denn durch ein ſolches Verhaͤltniß wuͤrde eben ſo ſehr,
als durch jenes, einer von beiden Begriffen aufhoͤren, ethiſch zu
ſein. Dieſes nun ſei im allgemeinen verwahrend vorausge⸗
ſezt; die wahre Beſchaffenheit dieſes Verhaͤltniſſes aber und
der Sinn des zu betrachtenden Begriffs laͤßt ſich nur genauer
betrachten in Beziehung auf die einzelnen von einander abwei—
chenden Darſtellungen der Sittenlehre.
Was nun zuerſt die eudaͤmoniſtiſche Ethik betrifft, ſo iſt
ſchon im vorigen Buche gezeigt worden, daß ſie eines vorbe—
reitenden und bloß vermittelnden handelns kaum entbehren
kann, und was fuͤr nicht zu hebende Nachtheile ihr hieraus
entſtehen. Ferner auch iſt noch erinnerlich, wie fuͤr ſie das
hoͤchſte Gut nichts ſein kann als nur ein Aggregat, ſo daß
keinesweges nach dieſer Anſicht die einzelnen Guͤter fuͤr jene
Idee ſo organiſche Elemente ſind, wie etwa fuͤr die Idee des
Geſezes die Pflichten, und daß ſie auch nicht vollſtaͤndig, ſon—
dern nur durch Annaͤherung der Idee entſprechen, deren Moͤg—
lichkeit daher auch in dieſem Sinne von den beſten eudaͤmo—
niſtiſchen Schulen iſt gelaͤugnet worden. Hievon aber muͤſſen
wir eben deshalb hinwegſehn, wenn die Frage nur die iſt, ob
der Begriff der Guͤter in ſeinem wahren Sinne iſt aufgeſtellt
worden; denn ſeine Beziehung auf die Idee wird durch deren
beſchraͤnkte Beſchaffenheit nicht hinweggenommen. Wenn man
nun nur dasjenige handeln betrachtet, welches nicht erſt Vor—
bereitungen trifft und Mittel herbeiſchafft, ſondern unmittelbar
mit dem hervorbringen der Luſt beſchaͤftigt iſt: ſo zeigt ſich
dieſes, wie nahe es auch an ſeiner Vollendung beobachtet
wird, immer unterſcheidbar von der Luſt ſelbſt, als dem her—
vorgebrachten. Niemals aber erſcheint es doch gegen ſie als
ein ganz fremdes, oder nur als Mittel; ſondern es zeigt ſich
uͤberall ſo mit ihr verbunden, daß eins ohne das andere nicht
kann gedacht werden. Denn nicht nur wird die Luſt hervor—
gebracht in einer Zeitfolge, durch ein in gleicher Zeitfolge fort⸗
laufendes handeln; ſondern das handeln ſelbſt enthaͤlt ſchon
171
feiner Natur nach die Luft im Vorbilde, welches, mit dem
Fortgange von jenem ſich ſteigernd, faſt ſtetig in die Wirk—
lichkeit uͤbergeht. So daß das handeln und das als ein
leiden gedachte entſtehen der Luft, zwei in umgekehrter Ord—
nung, eine wachſend die andere abnehmend, verbundenen Reis
hen zu vergleichen ſind. Womit auch die Verſchiedenheit der
Einheiten nicht ſtreitet, ſondern gar wol einer Luſt ein man—
nigfaltiges handeln entſprechen, und ein und daſſelbe hans
deln auf ein vielfaches der Luſt kann gerichtet ſein; denn nach
einem andern Grunde wird das Handeln, nach einem andern
das Genießen getheilt und zuſammengefaßt. Sehen wir wei—
ter auf die praktiſche Ethik, ſo entſpricht hier noch weit of—
fenbarer jedem handeln, als ſeine eigentliche Vollendung, ein
Werk. Denn jedes ſittliche handeln iſt das hervorbringen,
oder, welches gleichviel gilt, das erhalten eines Verhaͤltniſſes,
entweder der Theile des Menſchen untereinander, oder des ei—
nen zu den Andern, welches Verhaͤltniß dann für ſich betrach—
tet, das Werk iſt, welches ein Gut muͤßte genannt werden.
Und zwar iſt es ſeiner Natur nach allezeit ein ſolches, wel—
ches nur im handeln und aus Handlungen beſteht, indem ja-
von dem Standpunkt dieſer Ethik nichts anders geſehen wird,
als handeln. Sonach erſcheint das handeln nicht als Mittel
zu dem Werk als Zwekk, ſondern es iſt ſelbſt ein Theil deſſel⸗
ben; und wiederum iſt in dem Werke nichts anderes als ſolches
Handeln enthalten, ſo daß offenbar das pflichtmaͤßige Han⸗
deln zureichend ſein muß zum hervorbringen des Werkes, und
alſo genau dasjenige Verhaͤltniß entſteht zwiſchen Pflicht und
Gut, welches die Natur der Begriffe und ihr Urſprung er-
fordern. Weil nemlich demnach die Handlung nicht bloß als
Theil dem Werk untergeordnet iſt, ſondern auch wieder das
Werk der Handlung. Denn von dem handeln fuͤr ſich iſt
der Entſchluß das Weſen; und bei dieſem iſt nicht nur auf
dasjenige Werk allein geſehen, welches unmittelbar durch die
That gefoͤrdert wird, ſondern auch auf alle uͤbrigen, die als
Guͤter und als Theile des hoͤchſten Gutes aufgegeben ſind;
172
wie dieſes ſchon oben gezeigt worden. Vielleicht aber möchte
jemand gegen die behauptete Zulaͤnglichkeit der That zur Voll⸗
bringung des Werkes einwenden, daß doch in beiden, ſowol
der eudaͤmoniſtiſchen Ethik als der praktiſchen, das Werk nicht
rein aus der That hervorgehe, ſondern in der erſteren auch ab⸗
hange von der Natur, in der leztern aber meiſtentheils von
den Handlungen Anderer, welche doch in Beziehung auf jeden
einzelnen Fall ebenfalls Natur ſind oder Zufall. Hier nun iſt
eine andere in Betrachtung zu ziehn von den Verſchiedenheiten
der Grundſaͤze, ob nemlich nur das gemeinſchaftliche der
menſchlichen Natur gedacht iſt als Gegenſtand der Sittlich⸗
keit, oder auch das beſondere und eigenthuͤmliche; denn von
dieſen Faͤllen fuͤhrt jeder ſeine eigne Antwort herbei. Wird
nemlich, wie in den Syſtemen der Thaͤtigkeit faſt durchgaͤngig
geſchieht, der erſte geſezt: fo find für dieſe Anſicht, bei wels
cher die Perſoͤnlichkeit nicht in Betracht kommt, die verſchie⸗
denen Handlungen des Einzelnen nicht beſſer verbunden und
minder zufaͤllig eine fuͤr die andere, als die einzelnen Hand⸗
lungen Verſchiedener. Und ſonach wuͤrde entweder auch durch
dieſe, oder auch nicht einmal durch jene, ein Werk koͤnnen ſo
hervorgebracht werden, daß man ſagen duͤrfte, es ſei das ſitt⸗
liche handeln ohne Zufall dazu hinreichend geweſen. Wer
nun das lezte behaupten wollte, der muͤßte, wie mit den ein⸗
zelnen Handlungen, ſo auch mit den Bruchſtuͤkken des Wer⸗
kes ſich genuͤgen laſſen, welche er dann rein ſittlich finden
wuͤrde, wie in der Luſt ſo auch in der Thaͤtigkeit. Wird
aber, wie in der Sittenlehre des Genuſſes am allgemeinſten
und auch am richtigſten geſchieht, das beſondere und eigen⸗
thuͤmliche als Gegenſtand der Sittlichkeit geſezt: ſo verſchwin⸗
det, ſie gehe nun auf Thaͤtigkeit oder auf Luſt, mit dem ge⸗
meinſchaftlichen der Kraft oder des Stoffes auch der allge—
meinguͤltige Maaßſtab fuͤr die Vollendung des Werkes ſowol
dem Begriff als dem Grade nach, und auch das wird muͤſſen
fuͤr ein Werk gelten, was ohne Beihuͤlfe der Natur aus eig⸗
ner Kraft iſt vollbracht worden, wenn es gleich aͤußerlich nur
173
als ein Bruchſtuͤkk erſcheint oder als ein Theil, oder auch als
eine Verminderung eines entgegengeſezten.
Auf dieſe Art alſo ſcheint dem Begriff ſeine Stelle in
allen Darſtellungen der Sittenlehre geſichert, und ſeine Bedeu⸗
tung fuͤr das Ganze außer Streit geſezt. Worauf nun zu
unterſuchen iſt, ob er auch dieſem Sinne gemaͤß und an der
rechten Stelle iſt aufgeſtellt worden; welches hier, wie auch
bei den vorigen geſchehen, ohne durch Beiſpiele des einzelnen
und realen dem folgenden Abſchnitt vorzugreifen, vermittelt
der dem Begriff anhangenden, gleichfalls formalen Nebenbe⸗
griffe ſowol, als auch der Art ihn zu theilen, muß geprüft
werden.
und hier iſt zuerſt von der Ethik, welche fich die Luſt
zum Ziel geſezt hat, zu bemerken, daß ſie ſich dieſen Begriff,
ohnerachtet der erwaͤhnten Schwierigkeiten, moͤglichſt rein hat
zu erhalten gewußt. Denn Atiſtippos wenigſtens ſchließt da⸗
von alles dasjenige aus, was nur ein Erzeugniß des vermit⸗
telnden und vorbereitenden handelns iſt, und nur erſt durch
den Gebrauch ſeinen beſtimmten Werth erhaͤlt. Auch kommt
der Mittelbegriff zwiſchen Gut und Uebel bei ihm nicht vor
als etwas wirkliches und ſittlich hervorgebrachtes, ſondern
nur als eine leere Stelle. Denn ein Zuſtand, welcher weder
Luſt noch Schmerz in ſich enthaͤlt, iſt entweder gar nicht
moͤglich, oder nur dadurch, daß das Selbſtbewußtſein aufge⸗
hoben iſt, welches, wenn nicht ein Theil der Handlung für
die ganze genommen wird, durch ein ſittlich zu beurtheilendes,
das heißt willkuͤhrliches handeln, dieſem Syſtem zufolge un⸗
moͤglich geſchehen kann. Dieſe verhaͤltnißmaͤßig groͤßte Rein⸗
heit nun ſcheint zu beweiſen, daß dieſer Begriff mehr als ei⸗
ner von den vorigen geeignet iſt, das Geruͤſt einer ſolchen
Sittenlehre zu bilden. Zugleich aber offenbart ſich doch auch
in ihm die chaotiſche Natur derſelben. Denn ſie kann nicht
fuͤglich anders, als jede Eintheiluug dieſes Begriffs verwerfen,
weil entweder Guͤter und Uebel, das ſittliche und unſittliche,
auf gleiche Weiſe muͤßten getheilt werden, welches bisher alle⸗
174
zeit falfch iſt befunden worden, wenn nemlich die Theilung
ſich gründet auf die Merkmale, welche im Begriffe der Em⸗
pfindung verbunden ſind. Oder wenn nach den Gegenſtaͤnden
getheilt wuͤrde, deren Beruͤhrung und Behandlung die Luſt
hervorbringt, ſo bezoͤge ſich die Theilung auf nichts weſentli⸗
ches, welches Werth und Art des eingetheilten verſchieden be—
ſtimmte. Denn die Urſachen der Luſt ſind bei dieſer Anſicht
ganz gleichgültig, wie auch Ariſtippos ausdruͤkklich behauptet;
und ſie erkennt, genau zu reden, keinen andern Unterſchied
zwiſchen einem Gut und dem andern, als den des Grades,
wenigſtens muß ſie dieſem alle andere unterordnen. Da nun
aus dieſem keine wiſſenſchaftliche, ſondern nur eine höͤchſt
willkuͤhrliche Eintheilung hervorgehen kann, ſo verſchwindet zu
jener jede Moͤglichkeit; ſo daß das einzelne reale, welches dem
Begriff des Gutes angehoͤrt, nur eben ſo grob empiriſch und
regellos kann aneinander gereiht werden, wie hier die Idee
des hoͤchſten Gutes ſelbſt nur als ein ſolches zuſammenge⸗
reihtes gedacht wird. |
Was aber zweitens die Sittenlehre des Handelns be⸗
trifft, ſo hat der Begriff von Guͤtern, wenn gleich nirgends
haͤufiger gebraucht, doch nirgends in groͤßerer Verwirrung
gelegen, und zwar groͤßtentheils deswegen, weil fie das for—
male deſſelben nicht rein aufgefaßt, ſondern was in der Site
tenlehre der Luft feinen Inhalt bezeichnet, mit darin aufges
nommen haben. Von Ariſtoteles zwar kann man das leztere
weniger ſagen, und muß davon, daß er dieſen Begriff gaͤnz⸗
lich verdorben, den Grund vielmehr ſuchen in der eigenthuͤm—
lichen Art, wie er der Luſt eine Stelle einraͤumt neben dem
Handeln. Denn er begleitete die eigenthuͤmliche Luſt nicht
durch das allmaͤhlige Fortſchreiten einer jeden Handlung, ſon—
dern erblikkte fie nur am Ende, und bezog fie auf das wohl—
gerathen, auf die gaͤnzliche Erreichung des aͤußerlichen End-
zwekkes der That. Hiezu nun fand er mit Recht, um es je⸗
desmal zu bewirken, die ſittliche Ktaft nicht hinreichend, ſon⸗
dern bedurfte ebenfalls eines vorbereitenden und vermittelnden
175
handelns nicht nur, ſondern auch einer unmittelbaren Hülfe
und Beiſtimmung der Natur und des Zufalls; und hievon
die Erzeugniſſe Guͤter zu nennen, dieſer Taͤuſchung, gegen
welche Ariſtippos ſich zu verwahren gewußt, hat er unterges
legen. Denn nun beziehen ſich ein Theil ſeiner Guͤter nicht
auf die Idee des hoͤchſten Gutes, und er geſteht ſelbſt, es
gebe einige Guͤter, die kein Beſtandtheil von dieſer ſein
koͤnnten; weil er nemlich, auf die Thaͤtigkeit ausgehend, nur
die Lebensweiſe, als ein innerliches betrachtet, fuͤr dasjenige
erkannte, was rein ſittlich kann hervorgebracht werden. Auch
fehlt es an einem Vereinigungspunkt fuͤr ſeine verſchiedenen
Arten von Gütern, wie er fie dem Platon oder vielmehr, eis
ner alten und gemeinen Vorſtellung nachſprechend, eintheilt;
und es moͤchte ſchwer ſein, den allgemeinen Begriff, unter
welchem ſie ſollen befaßt ſein, als einen ethiſchen aufzuſtellen
und zu beſtimmen. Denn einige, nemlich alle aͤußerliche, und
auch von den koͤrperlichen und geiſtigen ein Theil, ſind nur
Ergaͤnzungen und Erleichterungen des handelns, andere aber,
nemlich von den beiden lezteren Arten die uͤbrigen, ſind or—
dentlich ein bewirktes durch das handeln; beide alſo ſcheinen
ethiſch gaͤnzlich von einander getrennt zu ſein und die Ein⸗
heit des Begriffes demnach außer den Grenzen dieſer Wiſſen—
ſchaft zu liegen. Noch eigentlicher aber laͤßt ſich das oben
geſagte, daß nemlich eudaͤmoniſtiſche Beſtandtheile auch die
bloß formale Anſicht des Begriffes verdarben, von den Stois
kern behaupten. In der Sittenlehre der Luſt nemlich kann na⸗
tuͤrlich nur das ein Gut ſein, was ſich auf den perſoͤnlichen
Zuſtand eines Menſchen bezieht; und der Begriff des Beſizes
iſt mit dem Begriff des Gutes unzertrennlich verbunden.
Dieſes materiale Merkmal nun nahmen die Stoiker mit auf
in den formalen Begriff, und weil ſie mit Recht gegen die
Eudaͤmoniſten ſowol als gegen den Ariſtoteles, die Hinlaͤnglichkeit
der ſittlichen Kraft zu Hervorbringung eines jeden Gutes be—
haupten wollten, welches der Sinn iſt von jener Formel,
daß nur das ein Gut ſein koͤnne, was von uns abhaͤngt: ſo
176
blieb ihnen, als zum perfönlichen Zuſtande gehörig und als
ſittlicher Beſiz, nichts uͤbrig als die Tugenden. Daher kann
man ſagen, daß der Begriff von ihnen nur polemiſch aufge⸗
nommen und angewendet iſt, und nur ſo einen Werth hat.
Denn ſehr gut haben ſie gegen die Peripatetiker gelaͤugnet,
daß aͤußerliche Beguͤnſtigungen zur Vollendung der Tugend
nothwendig waͤren, oder daß irgend etwas ein Gut ſein
koͤnne, was nicht als Beſtandtheil zum hoͤchſten Gut gehoͤre.
Fuͤr ſie ſelbſt iſt aber der Begriff urſpruͤnglich ganz leer geblieben,
und hat nur aus Furcht vor dieſer Leere hernach, anſtatt das
Syſtem zu vollenden, zum Verderben deſſelben gereicht. Denn
wegen jenes aufgenommenen Merkmals mußte ihnen der Be⸗
griff der Darſtellung des ſittlichen, als das unterſcheidende
Merkmal der Güter, entgehen, und mit dieſem auch die ver⸗
ſchiedene Beziehung der Tugend, inſofern ſie einen unabhaͤn⸗
gigen und urſpruͤnglichen Begriff bildet, und wiederum inſo⸗
fern ſie dem der Guͤter als ein reales untergeordnet iſt. Da
ſie aber dennoch, durch ihre dialektiſche Neigung getrieben,
beides unterſcheiden wollten: fo find fie in jene dem Ariſto—
teles aͤhnliche Verwirrung hineingerathen. Daß nun dieſes
wirklich die Geſchichte des Begriffs der Guͤter in ihrem Lehr⸗
gebäude geweſen iſt, muß die ganze Behandlung deſſelben
einem jeden beweiſen. Denn zuerſt offenbart ſich die Bezie⸗
hung auf den perſoͤnlichen Zuſtand und den Beſiz in dem
Verfahren mit dem Begriff der gleichguͤltigen Dinge, der ganz
darauf beruht, daß es etwas giebt, deſſen Beſiz aus ſittlichen
Gründen weder geſucht werden darf noch vermieden; keines-
weges aber darauf, daß einiges uͤberall kein Werk iſt, und
alfo weder die ſittliche Geſinnung darſtelltf noch die entgegen⸗
geſezte. Wie denn auch die große Ausdehnung des Begriffs
der Guͤter uͤberhaupt und die Eintheilung alles deſſen, was
iſt, in Güter und Uebel und keines von beiden nur ein dia⸗
lektiſches Wageſtuͤkk ſein mag, aus der Verlegenheit, den ihnen
fremden Begriff irgendwo anzuknuͤpfen, entſtanden; die Auf⸗
gabe aber, welche fuͤr denjenigen darin liegt, der die Guͤter
als
177
als Darſtellungen anſieht, und als Werke, iſt von ihnen gar
nicht gedacht worden. Ferner erhellt das nemliche aus allen
ihren Eintheilungen, welche genau betrachtet keine andern
ſind als die des Ariſtoteles, in ihrer mehr dialektiſchen Spra⸗
che ausgedräfft. Nur daß in der einen, in Güter in der
Seele und außer der Seele und keines von beiden, den Wi—
derſinn der Dreitheilung abgerechnet, der Gedanke des Beſizes
mehr hervorſticht: in der andern aber, in Guͤter, welche das
ſittliche in ſich haben, und in ſolche, welche es hervorbringen,
und ſolche, von denen beides gilt, die gaͤnzliche Unbeſtimmt—
heit der ſittlichen Beziehung. Nicht leicht aber zeigt ſich ir—
gendwo deutlicher als hier die Vortrefflichkeit der Dialektik,
welche ſie, wenn ſie ihr treu geblieben waͤren, nothwendig auf
das richtige haͤtte fuͤhren muͤſſen. Denn was weder in der
Seele iſt noch außer ihr, welchen Sinn koͤnnte dieſe Formel
haben, wenn nicht dasjenige ihr entſprechen ſoll, was uͤberall
nicht in Beziehung auf Einen und als Beſiz kann gedacht
werden; und wenn nur irgend Güter ſollen außer dieſe Abe
theilungen gehören, muͤſſen auch die vorigen hierauf zurüffges
fuͤhrt werden, und auch die in der Seele nur Guͤter ſein, weil
ſie nicht außer ihr, und die außer ihr, weil ſie nicht in ihr
ſind. Eben ſo muͤßte ſich aus der erſten Abtheilung ergeben,
daß, wenn es Guͤter giebt, die auf ſo verſchiedene Weiſe ſich
auf das ſittliche beziehen, das weſentliche des Begriffs nicht
liegen kann in dem, wodurch dieſe Beziehungen einander ente
gegengeſezt find, ſondern in einem gemeinſchaftlichen, wel⸗
ches aber auch nicht bloße Unbeſtimmtheit ſein darf, ſondern
ein beſtimmtes. Dieſes aber iſt nichts anderes als der Be—
griff des Werkes und der Darſtellung, welche aus der Gefins
nung hervorgegangen auch wieder die Geſinnung erwefft, ins
dem ſie ſie verkuͤndigt, und welche ſittlich hervorgebracht auch
wieder die Kraft hat in einer anderen Reihe ſittlicher Thaͤtig⸗
keit mitzuwirken. Ferner haͤtte ſich, wenn ſie den Unterſchied
nicht vernachlaͤßigt haͤtten, daß im Eudaͤmonismus alles auf
28 Grundl. NM
178
die Einzelheit, bei ihnen aber alles auf die gemeinſchaftliche
Natur bezieht, auch der Gedanke des Beſizes erweitern muͤſ⸗
ſen zu dem eines Gemeinbeſizes, welcher in ſeiner groͤßten
Aus dehnung gedacht nichts übrig läßt, als dasjenige, was da
iſt für die Anſchauung. Von ſelbſt hätte ſich dann nach ders
ſelben Regel erweitert die Formel der Zulänglichfeit der ſitt⸗
lichen Kraft, nemlich es muͤſſe zureichen diejenige ſittliche
Kraft und Größe, für welche auch das Gut ein Gut iſt,
nemlich die geſammte. Und auch hier zeichnet ſich wiedes
rum aus Spinoza, welcher, obgleich er ebenfalls nicht viel
Gebrauch macht von dem Begriff der Guͤter, doch bei glei—
chen ja ſtaͤrkeren Veranlaſſungen, als die des Ariſtoteles und
der Stoiker, dieſelben Fehler vermeidet und den Fehler des
Richtgebrauchs nicht vermehrt durch den Mißbrauch. Denn
bei der Art, wie er den Menſchen abhaͤngig macht von der
Natur, waͤre es keinem verzeihlicher geweſen als ihm, die
Beguͤnſtigungen derſelben als etwas ſittliches unter dem Na⸗
men der Guͤter aufzunehmen. Hievon aber entfernt er ſich
gänzlich durch die Erklaͤrung, daß alle wahren Güter der
Wirklichkeit nach allen Weiſen, der Natur nach aber allen
Menſchen muͤßten gemein ſein; welches zugleich auch in der
andern Hinſicht der Aufſchluß iſt und die Vermittlung fuͤr
die den Andern gemeinſamen Irrthuͤmer. Am reinſten aber
nicht nur von Fehlern, ſondern auch am vollſtaͤndigſten findet
ſich dieſer Begriff, wenn gleich auch nur unentwikkelt, in der
Sittenlehre des Platon. Denn fo dachte er ſich die Gott—
aͤhnlichkeit des Menſchen als das hoͤchſte Gut, daß, fo. wie
alles ſeiende ein Abbild iſt und eine Darſtellung des goͤtt—
lichen Weſens, ſo auch der Menſch zuerſt zwar innerlich ſich
ſelbſt, dann aber auch aͤußerlich, was von der Welt ſeiner
Gewalt uͤbergeben iſt, den Ideen gemaͤß geſtalten ſolle, und
ſo uͤberall das ſittliche darſtellen. Hier alſo tritt das unter⸗
ſcheidende Merkmal des Begriffs deutlich heraus, und die
Beziehung deſſelben ſondert ſich ab von der That ſowol als
179
der Geſinnung. Und wer kann beurtheilen, wie weit dieſes
iſt ausgefuhrt geweſen in feinen Gedanken, und wieviel wir
davon erblikken wuͤrden, wenn wir jenes große Werk ganz
vor uns haͤtten, welches das goͤttliche Weſen, wiewol des
Neides unfaͤhig, entweder ihm auszufͤͤhren, oder uns zu bes
ſizen, nicht erlaubt hat.
Zweiter Abſchnitt.
Von den einzelnen realen ethiſchen Begriffen.
D. nun von der Abſonderung der einzelnen realen Begriffe
von den allgemeinen formalen, unter welche ſie dennoch ge—
hoͤren, die Urſach keine andere war, als die Nothwendigkeit,
leztere fo genau zu unterſch eiden als moͤglich, worin die oͤf—
ters zweifelhafte Beziehung eines realen Begriffes bald auf
dieſen bald auf jenen formalen ein ſehr erſchwerendes Hinder—
niß wuͤrde geweſen ſein: ſo iſt nun auch natuͤrlich bei den
realen der Anfang der Unterſuchung von demjenigen Gebiete
zu machen welches am meiſten abgeſondert und in jene
Grenzſtreitigkeiten nicht verwikkelt iſt. Dieſes aber iſt das
der Guͤter, theils aus andern Urſachen, theils ſchon wegen
des weniger ausgebreiteten Gebrauches, der davon iſt gemacht
worden. Um nun nad) eiger von den gegebenen Abtheilun—
gen, ohne daß ſie jedoch dadurch fuͤr richtig ſollte anerkannt
werden, die Ueberſicht zu ordnen: fo mögen zuerſt zur Bes
trachtung kommen die aͤußerlichen Guͤter, wie ſie am zahl⸗
reichſten erſcheinen in den Darſte llungen der Nachfolger des
Ariſtoteles; denn den größten Theil von ihnen haben ſowol
die Kyrenaiker verworfen als auch die Stoiker. So haben
die Peripatetiker den Reichthum und die buͤrgerliche Gewalt
ja ſogar den fortdauernd günftigen Zufall als Güter aufge-
181
fuͤhrt; im Verfolg nemlich jener unrichtigen Anſicht, dasje⸗
nige, was den gluͤkklichen Erfolg der ſittlichen That beguͤn⸗
ſtigt, nicht aber das, was das naturliche und nothwendige
Werk derſelben iſt, ein Gut zu nennen, und zwar jedes nut
fuͤr denjenigen, welchem es dient. Daher auch offenbar iſt,
daß dieſen Guͤtern das Merkmal der Allgemeinheit abgeht,
welches allem ethiſchen beiwohnen muß: denn folchergeftalt
auf den Beſizer bezogen haben ſie auch fuͤr dieſen einen Werth
nur in dem Maaße, in welchem andere ihrer entbehren. Dies
jenigen nun, welche ſich die Luft zum Endzwekk machten, has
ben ſehr richtig dieſe Güter nicht als ſolche anerkennen gee
wollt, weil nemlich keinesweges in ihnen nur ſittliches nem⸗
kich Luft gedacht wird, ſondern vielmehr, wenn die Luft
an ihnen, ſofern fie Mittel find, als nicht fittlich mit Recht
iſt ausgeſchloſſen worden, unmittelbar gar keine Luſt in ih⸗
nen enthalten iſt. Weniger aber haben diejenigen, deren ſitt⸗
liches Thaͤtigkeit iſt, ein Recht, dieſe Gegenſtaͤnde aus dem
Verzeichniß der Guͤter zu loͤſchen. Denn wiewol dieſes von
den meiſten mit allgemeinem Beifall iſt behauptet worden,
ſo iſt doch dies nur eine unuͤberlegte Nachahmung der Stoi⸗
fer, welche wie erwähnt nicht aus der Idee einer prakti⸗
ſchen Ethik den Begriff der Guͤter gebildet, ſondern ihn nur
aus der genießenden mit Merkmalen, welche ihm dort eigen
find, aufgenommen haben, und alfo immer auf einen einzelnen
Beſizer und eines ſolchen Zulaͤnglichkeit zum Hervorbringen
zuruͤkkſehen. Sie hätten aber, wie doch ihre Sittenlehre ganz
auf Gemeinſchaft und gemeinſchaftliche Natur gerichtet iſt,
auch diefe Güter betrachten ſollen in Beziehung auf ein ges
fammted von Menſchen, für welche fie gemeinſchaftlich und
ausſchließend ihren Werth haben. Und dann waͤre allerdings
der Reichthum, zuerſt zwar der unmittelbare, nemlich die
Menge der Erzeugniſſe und Verarbeitungen, dann aber auch
mittelbar der bezeichnende, ein Gut, ein ſittlich hervorgebrach⸗
tes und Darſtellung eines ſittlichen, nemlich der bildenden
Herrſchaft des Menſchen über die Erde. Nicht aber in Bes
182
ziehung auf den Beſizer, denn der Beſiz wäre hiebei nur ein
zufaͤlliges und voruͤbergehendes, ſondern auf alle, ſoweit ſich
die Theilnahme daran ausdehnen laͤßt in der Idee. Eben ſo
auch die buͤrgerliche Gewalt iſt ein hervorgebrachtes durch
alle die offenbar ſittlichen Handlungen, aus welchen Erhals
tung nicht minder als Stiftung der groͤßten und zureichenden
menſchlichen Geſellſchaft beſteht, und eine Darſtellung dieſer
Gemeinſchaft ſelbſt. Alſo ein Gut, nemlich wie es ſich ge⸗
buͤhrt, ein gemeinſchaftliches fuͤr Alle, durch deren Handeln
es hervorgebracht worden. Denn da die buͤrgerliche Gewalt
ein gemeinſamer und durch das gemeinſame beſtimmter Wille
ſein ſoll: ſo hat ſie nach der Idee dieſer Sittenlehre auf den⸗
jenigen, der ſie verwaltet, keine naͤhere und andere Beziehung
als auf alle anderen. Ja, man kann ſagen, daß in der
praktiſchen Ethik ſelbſt der guͤnſtige Zufall als ein Ideal ge⸗
dacht unter den Guͤtern muͤßte aufgefuͤhrt werden, inſofern
aus der natuͤrlichen Uebereinſtimmung aller ſittlichen Zwekke
von ſelbſt erfolgt, ohne Abſicht oder Mitwiſſenſchaft, eine
Tauglichkeit und Angemeſſenheit der Handlungen des einen
fuͤr die Endzwekke des andern, welche Uebereinſtimmung dar⸗
ſtellend dieſes Zuſammentreffen in ſeiner Regelmaͤßigkeit ein
Gut iſt. Dieſes alles nun iſt ohne Zweifel von den Peripa⸗
tetikern nicht in ſolchem Sinne gemeint geweſen, ſondern nur
als Mittel zum Handeln, und deshalb im Streit gegen ſie
von den Stoikern mit Recht verworfen worden, welche nur
ihre Dialektik nicht weit genug gefuͤhrt hat, um den Begriffen
die Beziehung auf ihre eigne Idee abzugewinnen, und der
Vernichtung des falſchen die Erfindung des fuͤr ſie wenig⸗
ſtens richtigen beizufuͤgen. Anders aber und leichter iſt es
mit der Freundſchaft bewandt, welche auch die Stoiker mit
Recht unter die Guͤter aufgenommen, indem anſchaulicher in
ihr jene Merkmale deſſen zuſammentreffen, was in der han⸗
delnden Sittenlehre ein Gut ſein ſoll. Denn daß ſie nur im
Handeln und durch Handeln beſteht, iſt von allen anerkannt,
ſo daß das bloße Wohlwollen den Namen der Freundſchaft
183
nicht erhielt. Und daß nur ein ſittliches Handeln die Freund⸗
ſchaft erzeugen koͤnne, fuͤr die unſittlichen ſie aber gar nicht
vorhanden waͤre, war ein gemeiner Saz der alten Sittenlehre.
Einige zwar von denen der Luſt zugethanen haben die Freund⸗
ſchaft verworfen; aber nur ſofern ſie ein Mittel ſein ſoll um
Luſt hervorzubringen. Denn in dieſem Sinne gilt, was ſie
ſagen, daß der Weiſe ſich ſelbſt muͤſſe genug ſein um das
ſittliche herbeizuſchaffen. Sonſt aber iſt auch fuͤr ſie die
Freundſchaft ein Gut, inſofern ſie ſelbſt unmittelbar Luſt iſt,
und zwar ein Zuſtand fortdauernder und ſich von ſelbſt im⸗
mer wieder erzeugender Luft, in welchem, wenn er nur für
ſich betrachtet wird, nichts anderes gedacht werden kann, als
Luſt. Denn ſo muß und kann auch in jeder genießenden
Sittenlehre nach Maaßgabe des Umfanges, welchen ſie ſich
geſtekkt hat, die Freundſchaft gebildet werden. In dem nem⸗
lichen Sinne nun koͤnnen auch andere Gegenſtaͤnde, welche
von anderen zum Reichthum gerechnet werden, in der eudaͤ⸗
moniſtiſchen Ethik Guͤter ſein, inſofern ſie nemlich ein feſtes
auf die beſonderen Beſtimmungen des einzelnen berechnetes
Verhaͤltniß aus druͤkken, in welchem eben deshalb gleichfalls
an ſich nur Luſt kann enthalten ſein. Welches auch leicht
die Urſach ſein mag, warum in der gemeinen Rede das reale,
und der Vorausſezung nach dem Beſtzer beſonders angeeig⸗
nete und angebildete Beſizthum ſein Gut genannt wird, das
andere aber nur ſein Vermoͤgen. Steigen wir nun von der
Freundſchaft der engſten und feſteſten Verbindung einzelner
Menſchen als ſolcher herab zu aͤhnlichem wenn gleich gerin⸗
gerem: fo muͤſſen auch loſere und weniger umfaſſende Verbin⸗
dungen Guͤter ſein. Fuͤr die einen als Erzeugniſſe eines ge⸗
meinſchaftlichen und zwar ſittlichen Handelns, in denen ſich
ein ſittliches vollendet darſtellt und fortdauernd erzeugt. Fuͤr
die anderen aber, inſofern irgend eine der Verbindung eigen⸗
thuͤmliche Luſt in dem geſtifteten Verhaͤltniß gleichſam feſtge⸗
halten und zur wechſelſeitigen Erneuerung voraus beſtimmt
iſt. Selbſt die Gaſtfreundſchaft nahmen ſo die Stoiker un⸗
184
ter die Güter auf, in welcher wir jezt nur die unvollkom⸗
menſte Stufe eines Gutes erblikken, nemlich die theilweiſe
Linderung eines von der Hinwegſchaffung noch entfernten
Uebels. Eben fo, wenn fie ſagen der weiſe allein verſtehe
ſich im Gaſtmahl recht zu verhalten, geben ſie zu erkennen,
daß auch dieſes, um ſeinem Begriff zu entſprechen, muͤſſe aus
ſittlichen Handlungen gemeinſchaftlich hervorgegangen ſein und
alſo auch das ſittliche darſtellen und den Namen eines Gutes
verdienen. Welches freilich eine ganz andere Anſicht gewaͤhrt,
als die Kant zu nehmen niemand weiß wodurch gezwungen
wurde, welcher den Schmaus als eine foͤrmliche Einladung
zur Unmaͤßigkeit unter den ſtreitigen Gegenſtaͤnden in ſeinen
caſuiſtiſchen Fragen aufſtellt und wie mit luͤſternem Zweifel
uͤber deſſen Zulaͤſſigkeit berathſchlagt. Wie nun auch dieſes,
wenn gleich dem Anſcheine nach eine Kleinigkeit, den Geiſt
jeder Sittenlehre unterſcheidend bezeichnet, ſei als hieher nicht
gehörig einem jeden zu unterſuchen anheimgeſtellt. Aufwärts
ſteigend aber zu denjenigen Verbindungen, welche die Men-
ſchen nicht mehr als einzelne zuſammenfaſſen, ſondern ſie
gleichſam von der Einzelheit hinwegſehend in Theile eines ges
meinſchaftlichen ganzen verwandeln: ſo wurden die buͤrger⸗
liche ſowol als die haͤusliche Geſellſchaft von allen, welche
eine thaͤtige Sittenlehre bearbeiteten, unter die Güter gezählt,
Denn die Frage, ob der weiſe den Staat wuͤrde verwalten
helfen, kann dieſes nicht widerlegen, ſondern vielmehr nur bes
weiſen, wenn man hinzunimmt, daß jede hieher gehoͤrige
Schule, wie wir ſelbſt von der des Antiſthenes wiſſen, das
Ideal eines Staates aufzuſtellen pflegte. Woraus hinlaͤng⸗
lich erhellt, daß jene Frage den Staat nur betraf, inſofern
er vielleicht ein Nothſtaat, wie es ein neuerer genannt, oder
wolgar ganz unſittlich entſtanden und gebildet den Sittlichen
zum Widerſtreit gegen ſich ſelbſt und ſeine Ideen noͤthigte.
Denſelben Unterſchied haben die Stoiker in Beziehung auf
die häusliche Geſellſchaft auf die entgegengeſezte Weiſe aus»
gedruͤkkt, indem ſie ſagen, nur der weiſe liebe die ſeinigen,
185
nemlich nur er mit derjenigen Geſinnung, welche ein Haus⸗
weſen als ein ſittliches oder ein Gut ſtiften koͤnne und erhal⸗
ten. Wie nun auch in einer eudaͤmoniſtiſchen Ethik die Ehe
ein Gut ſein kann oder nicht, je nachdem darin den geſelligen
Empfindungen Raum gelaſſen wird, der Staat aber wol im⸗
mer nur als ein nothwendiges Uebel erſcheinen wird; imglei⸗
chen auf welche Seite ſich dem zu Folge jede Behauptung
neige, von der Art, daß der Staat ſtreben muͤſſe ſich ſelbſt
entbehrlich zu machen, dies mag ein jeder fuͤr ſich entſcheiden.
Für die thaͤtige Sittenlehre aber müßte nach dem Beiſpiel
des Staates und der häuslichen Geſellſchaft auch die wiſſen⸗
ſchaftliche, wie ſie damals beſtand in Geſtalt einer Schule,
und wie wir ſie jezt kennen in andern Geſtalten, ein Gut
ſein; ja auch die Kirche, wie Fichte ſie in ſeiner Sittenlehre
ableitet, und, möchte vielleicht einer hinzuſezen, die Freimau—
rerei, wie ſie ihm immer gleichſam auf der Zunge ſchwebt,
ohne ganz hervorzutreten, wuͤrden nach ſeinen Vorſtellungen
hieher gehoͤren, ſchwerlich aber die Zuͤnfte und geſchloſſenen
Staͤnde des von ihm vorgezeichneten Staates. Welches als
Beiſpiel hier ſtehen mag von der noch nicht beantworteten ja
wol nicht aufgeworfenen Frage, wie überhaupt die Einheit jes
des ein Gut bezeichnenden Begriffs zu beſtimmen iſt. Denn
nicht nur fuͤr dasjenige unter dem angefuͤhrten, was der
neueren Sittenlehre angehoͤrt, dringt ſie ſich auf, ſondern auch
ſchon für das alte. So iſt es eine gemeine Erklaͤrung der
alten, daß der Staat nicht eine Verbindung von einzelnen
ſei, ſondern von Hausweſen, welche alſo eigentlich deſſen Theile
ſind, und ſo iſt zu fragen, ob, was Theil eines ganzen iſt,
neben dieſem auch als ein eignes Gut koͤnne angeſehen wer⸗
den. Eben ſo erklaͤren fie den Staat für die zur Hervorbrin⸗
gung des hoͤchſten Gutes hinreichende Verbindung, welche alſo
in ihrer Vollkommenheit gedacht alle Guͤter muͤßte in ſich
ſchließen, wonach zu unterfuchen wäre, ob auch die Freund—
ſchaft, die eigentlich ethiſche und die wiſſenſchaftliche, anzufes
hen waͤren als Theile des Staates, in ihm und durch ihn
186
hervorgebracht. Daß die Beantwortung dieſer Fragen ſich
von ſelbſt ergeben muͤßte in jeder Sittenlehre, welche ihre
Vorſtellungen von einzelnen Guͤtern nicht aus der Erfahrung
herbeizoͤſe, ſondern ſyſtematiſch erzeugte und ordnete, wie
auch, daß ſie einen großen Einfluß haben muͤßte auf die
wichtigſten und beſtrittenſten Gegenſtaͤnde der Ethik, dies
leuchtet ein. Dieſes wird noch deutlicher, wenn man erwaͤgt,
daß nach Maaßgabe des bisherigen eben ſo auch jedes
Werk wenigſtens der ſchoͤnen und bildenden Kunſt muß ein
Gut ſein. Auch fuͤr die Sittenlehre der Luſt, als ein ſich
erneuernder Wechſel von Befriedigung und Erregung eines
beſtimmten Triebes, nicht nur im Anſchaun, ſondern auch
in der Verfertigung, welche zu denken iſt als annaͤherndes
Herbeiſchaffen des Gegenſtandes der vorgebildeten Luſt. Noch
mehr aber fuͤr die Sittenlehre der Thaͤtigkeit, indem es auch
entſtanden iſt aus ſittlichen nemlich eine Idee darſtellenden
Handlungen, und ſelbſt den Geiſt derſelben nemlich die Re-
gel und das Urbild im ſinnlichen darſtellt. So daß zwi⸗
ſchen dieſen Werken und jenen aus reinem Handeln beſtehen⸗
den kein anderer Unterſchied obwaltet, als der zwiſchen dem
bloßen Handeln und dem Hervorbringen, welches doch auch
ethiſch angeſehen immer ein Handeln iſt. Wer nun uͤber⸗
legt, wie wunderlich in neueren nur nach dem Pflichtbegriff
die Sittenlehre abhandelnden Darſtellungen die meiſten der
hier als Güter aufgeführten ſittlichen Gegenſtaͤnde und Vers
haͤltniſſe erſcheinen, beſonders aber der Staat ſammt dem
was ihm anhaͤngt, und die Kunſt mit ihren Werken, als um
welche ſich alles bewegt, ohne doch daß ſie ſelbſt ihren Plaz
beurkunden und mit dem wiſſenſchaftlichen Kleide angethan
ſind, der wird geneigt ſein zu vermuthen, daß nur unter dem
— Begriff von Guͤtern alle dieſe recht koͤnnen dargeſtellt werden.
Was ferner die fogenannten Güter des Leibes anbetrifft, des
ren die alten vornemlich viere zaͤhlen, Geſundheit Schoͤnheit
Starke und Wohlgebautheit: fo iſt leicht zu ſehen, daß auch
ſie urſpruͤglich zwar nur als Mittel und Bedingungen, wenn
187
auch nicht ſowol der Luft als der vollbringenden Thaͤtigkeit,
alſo immer mit Unrecht, dieſen Namen erhalten haben, den—
noch aber in anderer Bedeutung, eben ſo wie die vorigen,
wirklich Guͤter ſind. Fuͤr die Eudaͤmoniſten nemlich, inſofern
ſie nichts anders ſind fuͤr den Menſchen als ein im Koͤrper
gleichſam befeſtigtes angenehmes Bewußtſein, welches ſich zu
jeder andern voruͤbergehenden Luſt als ein erhoͤhender Factor
hinzugeſellt. Fuͤr die thaͤtige Sittenlehre aber, inſofern ſie
gedacht werden nicht als Naturerzeugniſſe vom Zufall gege⸗
ben oder verſagt, ſondern als hervorgebracht durch das ge—
meinſchaftliche naturgemaͤße Leben, und darſtellend die fort—
geſezte allſeitige Sittlichkeit der Geſchlechter und Voͤlker, wel-
chen ſie einwohnen. Denn daß in einer auf Handeln und
Bilden ausgehenden Sittenlehre auch die Schoͤnheit und
Wohlgebautheit, als auf dieſem Wege erlangt, unter der
Idee des hoͤchſten Gutes mit begriffen ſind, wird wol keiner
bezweifeln. Nur aber moͤchte die Art ſehr willkuͤhrlich ſein,
wie dieſe Guͤter vereinzelt ſind. Denn wenn auch die Schoͤn—
heit ſich, worauf man auch ſehe, von den uͤbrigen leicht ab—
ſondert: ſo moͤchten doch dieſe unter einander ſo genau zu—
ſammenhaͤngen, daß nichts fuͤr die Sittenlehre weſentliches zu
unterſcheiden iſt, weder wenn ſie als Luſt oder Unluſt, noch
wenn ſie als Werk und Darſtellung des ſittlichen betrachtet
werden. Dagegen haben die neueren, vielleicht vom Gefühl
ihrer Maͤngel dazu getrieben, oder vom Neide gegen die beſſer
begabten Staͤmme der Barbaren, richtiger von der Geſund—
heit abgeſondert die Schaͤrfe und Feinheit der Sinne, und
duͤrften immer, bis ſie dahin wieder gelangen, die Linderun—
gen dieſer Uebel, nemlich alle kuͤnſtliche aͤußerliche Vorrich⸗
tungen und Werkzeuge, welche ethiſch betrachtet als erwei—
ternde Fortſezungen der Sinnglieder anzuſehen find, imglei—
chen die kuͤnſtliche Staͤrke der Waffen und was dem aͤhnlich
iſt den Guͤtern dieſer Art beigeſellen. Es ſcheint aber jene
vierfache Zahl nur geſucht zu ſein, damit den vier Tugenden,
188 | 2
als Hauptguͤtern det Seele, auch eben fo viele Vollkommen⸗
beiten und Güter des Leibes entſptaͤchen.
Daß nun jene vier Haupttugenden die erſte Stelle ein⸗
nehmen unter den Guͤtern der Seele bei den Peripatetikern
ſowol als Stoikern, und ſo die Begriffe von Tugenden und
Guͤtern im einzelnen ſcheinen unter einander geworfen zu ſein,
davon iſt ſchon oben Erwaͤhnung geſchehen. Die Urſache aber
hievon iſt eine zwiefache Anſicht deſſelben Gegenſtandes, welche
nicht deutlich genug unterſchieden wurde. Daß nemlich die
Geſinnung an ſich zwar als das wirkſame und hervorbrin⸗
gende betrachtet Tugend iſt und unter die Idee des weiſen
gehort; wird fie aber als eine beſtimmte Groͤße gedacht, her⸗
vorgegangen aus dem Handeln und durch die Uebung und
wiederum ſich offenbarend und der Anſchauung hingebend
durch Handeln und Ausuͤbung, ſo erſcheint ſie auf der andern
Seite als ein Werk, als die Darſtellung des vorbergeganges
nen fie hervorbringenden Handelns, und alſo für die praktiſche
Ethik als ein Theil deſſen, was bewirkt werden ſoll, nemlich
des hoͤchſten Gutes. Und auch hier wiederum erfreuen ſich
die Stoiker einer richtigen wenn gleich nicht voͤllig verſtande⸗
nen Ahndung. Denn die Peripatetiker verwiſchen dieſen Un⸗
terſchied gaͤnzlich, und Schoͤnheit und Staͤrke der Seele find
ihnen nur verſchiedene Namen fuͤr Tapferkeit und Gerechtig⸗
keit, ſo wie fuͤr Klugheit und Maͤßigung, wie dieſe helleni⸗
ſchen Tugenden unrichtig genug uͤberſezt werden, der Seele,
Geſundheit und Wohlgebautheit; da doch die lezten Namen
offenbar einen beſtehenden und anſchaulichen Zuſtand der
Seele, die erſten hingegen eine auf beftimmte Weiſe hervor⸗
bringende Kraft anzudeuten ſich eignen. So aber unterſchei⸗
den die Stoiker zwiſchen Tugenden, welche Kuͤnſte ſind, alſo
jede ihr beſtimmtes Werk zu vollbringen ſtreben, unter wel⸗
cher Abtheilung die vier bekannten Namen aufgeſtellt zu wer⸗
den pflegen, und zwiſchen ſolchen, die gleichſam von ſelbſt
und nebenbei durch die Uebung entſtehen, wie von jeder Ges
ſinnung, als beſtimmte Größe betrachtet, kann geſagt werden,
; 189
daher auch hier die Geſinnungen unter jenen Namen vorfome
men, welche Zuſtaͤnde und Beſchaffenheiten der Seele anzei⸗
gen. Dieſer richtigen Spur jedoch ſind ſie nicht bis zu Ende
gefolgt, ſondern haben auch die Tugenden in jener Hinſicht
unter die Guͤter gerechnet. Ob aber die Geſinnungen, ſofern
ſie Guͤter ſind, eben ſo muͤßten geordnet und getheilt werden,
wie jeder ſie als Tugenden aufſtellt, ſchon dies koͤnnte im
allgemeinen bezweifelt werden, noch mehr aber, ob jenen vier
Tugenden uͤberhaupt die genannten Eigenſchaften der Seele
entſprechen und wie viele von ihnen als wirklich verſchieden
und nach Gründen von einander getrennt moͤchten übrig. bleis
den. Allein es verlohnt nicht hieruͤber ein mehreres zu ſagen,
da ſolche bildliche Bezeichnungen des geiſtigen durch das
koͤrperliche der Wiſſenſchaft uͤberall nicht wohl anſtehn, und
dieſe durchaus nur ſchlecht und mangelhaft ſind erklaͤrt wor—
den. Offenbar aber iſt, und auch von den Stoikern aner—
kannt und bezeugt worden, daß nach derſelben Regel nicht
nur jene vier Tugenden und andre eigentlich ſo genannte fuͤr
Guͤter zu halten ſind, ſondern jede andere ethiſch beſtimmte
Vollkommenheit des Geiſtes, ſowol die des Verſtandes, welche
ihm zu Wiſſenſchaft und Einſicht werden, als auch die der
andern Seelenkraͤfte, welche zu Fertigkeiten in bildenden oder
geſelligen Künften gedeihen. Alle nemlich, in fo fern fie das
Werk ſittlicher Thaͤtigkeit ſind, und nur, wie ſchon oben ers
waͤhnt, in und mit dieſen Schranken gedacht werden; denn
dieſe alle ſind, ſo wie ihre Werke eine aͤußere, ſo ſie ſelbſt
eine innere Darftellung eines beſtimmten ſittlichen. Vorzuͤg—
lich aber find hicher zu rechnen jene Eigenſchaften, welche
von vielen zwar als ſittlicher Natur erkannt, doch aber nicht
unter die Reihe der Tugenden zugelaſſen werden, wie zum
Beiſpiel die Staͤrke und Feinheit des ſittlichen Gefuͤhles und
was dem aͤhnlich iſt. Denn dieſe ſind ebenfalls als Anlagen
uͤberhaupt zwar von Natur vorhanden, beſtimmt aber nach
ihrer Staͤrke und Richtung ſind ſie ein Erzeugniß theils des
einzelnen ſittlichen Willens, theils des geſammten in Gemein⸗
190
ſchaft und Wechſelwirkung ſtehenden menſchlichen Handelns,
und alſo in ihren Fortſchritten und Veraͤnderungen ein ge—
meinſames und gemeinſam hervorgebrachtes Gut. Ja, wenn
Kant meint, die theilnehmenden Empfindungen und ihre Werke
waͤren nicht ſowol fuͤr pflichtmaͤßig zu achten, als nur fuͤr
Zierden der Welt und des Menſchen, um erſtere als ein ſchoͤ⸗
nes ſittliches ganzes darzuſtellen: ſo hat er nur entgegenge⸗
ſezt, was fuͤglich neben einander beſtehen kann. In dieſelbe
Stelle wuͤrden auch dann noch gehoͤren die Werke der von
ihm ſogenannten Pflichten gegen oder in Anſehung der leblo⸗
ſen Natur und zur Erhaltung des ſchoͤnen uͤberhaupt. Wie
denn im ganzen bei ihm jene Formel, die Welt als ein fitts
liches ganzes darzuſtellen, einer ihres Namens wuͤrdigen Idee
des hoͤchſten Gutes noch am naͤchſten zu kommen ſcheint.
Außer den Tugenden aber, wird auch noch geſagt, daß jeder
tugendhafte und weiſe, als ſolcher an ſich betrachtet, ein
Gut iſt, worin auch Spinoza mit den Stoikern zuſammen⸗
ſtimmt. Zu laͤugnen nun iſt dieſes nach den allgemeinen
Merkmalen des Begriffes fuͤr jede praktiſche Ethik freilich nicht.
Denn der weiſe ift aus dem natürlichen Menſchen hervorge—
gangen durch Handeln, und ſtellt der Vorausſezung nach
durch ſein Daſein und Handeln das ſittliche und ſonſt nichts,
dieſes aber im ganzen Umfange dar. Wie aber auch hier die
Einheiten zu beſtimmen und aus einander zu halten waͤren,
da doch die einzelnen Geſinnungen ſich im weiſen befinden
und gleichſam ſeine Theile ſind, dies wuͤrde eine eigene Unter⸗
ſuchung erfordern und aus dem vorhandenen durch Verglei—
chung nicht koͤnnen angegeben werden. Naͤchſt dem weiſen
endlich und ſeinen Geſinnungen wird auch noch ſein den
Stoikern zufolge dreifaches ſittliches Wohlbefinden zu den
Guͤtern gerechnet. Nicht als Luſt natuͤrlich, ſondern als ein
durch ſittliche Geſinnung und Handlung entſtandenes inneres
Verhaͤltniß, in welchem fein Urſprung ſich darſtellt, und wel⸗
ches ſich wiederum aͤußert nicht ſowol durch ein beſtimmtes
Thun, als durch die Weiſe des Denkens und den Ton des
191
Handelns überhaupt. Nur die Scheu freilich, oder das be—
ſonnene Umſehn nach moͤglichen bevorſtehenden Uebeln muͤßte
ausgeſtrichen werden, welches auch Spinoza eingeſehen und
ſie deshalb nicht mit aufgenommen hat, weil ſie ja doch in
Beziehung auf den weiſen nur ein Uebel ſein kann. Denn
dieſer Zuſtand kann nur aus der Erinnerung eines unſittli⸗
chen Handels entſtehen, aus dem Bewußtſein des ſittlichen
aber muß Sicherheit hervorgehn. Wie aber beide Syſteme,
das der Thaͤtigkeit und das der Luſt, natuͤrlich da am meiſten
ſich nähern, wo das zuruͤkkſehende Bewußtſein mit in Rech⸗
nung zu bringen iſt: ſo iſt auch dieſes das einzige unter den
Gütern der Seele, welches mit der thaͤtigen auch die genies
ßende Sittenlehre gemein hat. Wiewol, was den Inhalt
betrifft, ihrer Idee gemaͤß anders beſtimmt, und auch in der
entgegengeſezten Beziehung, als Luſt nemlich, welche mit dem
vergangenen das kuͤnftige im Selbſtbewußtſein weiſſagend
zuſammenknuͤpft. Dieſes nemlich iſt jene Unerſchrokkenheit
oder Furchtloſigkeit, infofern fie nicht als wirkende Kraft, fons
dern als Zuſtand und Gefühl betrachtet ein Gut kann ges
nannt werden. Was aber ſonſt noch in Sittenlehren dieſer
Art als Tugend zu denken iſt, kann nicht zugleich auch ein
Gut ſein. Denn die ſittliche Kraft ſtellt fuͤr ſich allein noch
nicht das ſittliche dar, ſondern muß in Wechſelwirkung ge—
dacht werden mit den Aufforderungen von außen; und nichts,
was neuere Eudaͤmoniſten hiegegen ſcheinbares vorgetragen
haben, moͤchte eine ſtrenge Pruͤfung beſtehen. Doch dieſes ſei
genug von einzelnen Guͤtern zur Bewaͤhrung deſſen, was uͤber
den Werth und Gebrauch dieſes Begriffes oben iſt geſagt
worden.
Von den Pflichten aber werde ebenfalls, um noch laͤnger
die Verwirrung zuruͤrkzuhalten, der Anfang mit denen ges
macht, welche noch am wenigſten der Verwechſelung mit Tu⸗
genden ausgeſezt find, vielmehr ſchon durch die Art der Bes
nennung ſich entſchieden zu jenem Begriff bekennen; und
zuerſt zwar mit der, welche vielen als die vornehmſte er⸗
192
ſcheint, von allen abet als die erfte aufgeführt wird, nemlich
der Pflicht der Selbſterhaltung. Daß nun dieſe ſchlechthin
in keinem ethiſchen Syſteme Pflicht ſein koͤnne, ſondern uͤber—
all durch irgend etwas muͤſſe bedingt ſein, leuchtet ein. Denn
die Ethik beſchreibt nur eine Weiſe des Lebens, und ſo kann
in ihr keine Art vorkommen es zu erhalten außer jener Weiſe,
weil dieſes ein Hinausgehn waͤre aus ihrem Inhalt. Noch
auch iſt es überhaupt moͤglich eine beſtimmte Weiſe des Les
bens im Handeln feſtzuhalten, wenn das Leben ſelbſt um je—
den Preis ſoll geſchont werden, weil keine allgemeine Regel
beſtimmen koͤnnte, wo nun die Gefahr anginge. So daß of⸗
fenbar auch zur Erhaltung des Lebens keine Handlung vor—
kommen darf, welche nicht den ſittlichen Charakter, wie er eben
in jedem Syſtem iſt, an ſich truͤge, und der entgegenſtehende
Saz, daß etwas unſittliches duͤrfe gethan werden, um das
Leben zu erhalten, jede Ethik umſtuͤrzen muß. Dennoch ſind
die meiſten neueren in dieſen Widerſpruch gerathen. Und
zwar einige ganz grob, indem ſie mit klaren Worten auch das
verbotenfte freiſtellen zu dieſem Endzwekk. Kant aber ſtill⸗
ſchweigend, indem er ſie zu einer vollkommnen Pflicht erhebt,
welche alſo jedesmal zur Handlung ſelbſt verbindet und nicht
wegen irgend einer unvollkommnen darf verlezt werden. Eben
ſo auch Fichte auf eine verſtekktere Art, indem er doch das
Leben uͤberhaupt von dem ſittlichen Leben trennt, und dann
nur wieder auf eine kuͤnſtliche Art das erſte dem lezteren un⸗
terwirſt. Denn wenn das ſittliche Beſtreben das Leben zu
erhalten von Anfang an nur auf das ſittliche Leben iſt ge=
richtet geweſen, ſo giebt es nichts zu vergeſſen, und von nichts
hinwegzuſehen. Iſt aber jenes pflichtmaͤßige Beſtreben ur⸗
ſpruͤnglich auf das Leben an ſich gerichtet geweſen: ſo iſt ja
die Pflicht unbedingt, und hat ihre Grenzen nicht in ſich
ſelbſt, ſondern muß ſie erſt im Streit mit andern Pflichten
erhalten, ſo daß jenes Vergeſſen und Hinwegſehen nur ein
ſchlecht gefuͤhrter Krieg iſt, der mit der Flucht anfaͤngt, ein
Krieg aber dech auf alle Weiſe. Welches aber nun der eis
gent⸗
En 193
gentliche reale Inhalt der Pflicht der Selbsterhaltung ſei, und
die mit demſelben zugleich gegebenen Grenzen, das haben
ſelbſt von denen, welche Grenzen derſelben auf irgend eine
Art anerkennen, die meiſten gradezu zu beſtimmen unterlaſſen,
und nur mittelbar muß es daraus geſchloſſen werden, in wie
fern ſie eingeſtehen, daß irgend etwas gethan werden duͤrfe,
um das Leben zu endigen, fo daß das Sterbenwollen die ef»
gentliche Formel der Handlung wäre. Dergleichen nun ber
ſtimmt nicht nur ein Zweig der kyrenaiſchen Schule, ſondern
auch die ſtoiſche; ja ſelbſt Spinoza, wiewol Selbſterhaltung
bei ihm die allgemeine Formel des ſittlichen iſt, ſcheint einen
Fall anzunehmen, in welchem es natuͤrlich waͤre das Leben
zu enden. Was alſo die erſten betrifft: fo ſcheint ihre Fors
mel eigentlich die zu ſein, daß es recht iſt das Leben zu en⸗
digen, wenn nicht anders als mit demſelben zugleich die Uns
luſt kann hinweggeſchafft werden. Wonach alſo dieſes das
unbedingte ſein wuͤrde, das Leben ſelbſt aber bedingt durch
ſeinen ſittlichen Gehalt, naͤmlich die Luſt; denn ein mittleres
wollen ſie nicht anerkennen als ein beharrlich reales, ſondern
nur als einen Uebergang. So beſtimmt aber und richtig die⸗
ſes zu ſein ſcheint, ſo ſehr iſt es doch unbeſtimmt und unzu⸗
reichend. Denn muß die Unluſt, welche allein auf Koſten
des Lebens darf hinweggeſchafft werden, eine abſolute ſein, ſo
daß kein Element von Luſt zugleich mit aufgehoben und zer⸗
ſtoͤrt würde, und der Fall nur bei einer gaͤnzlichen Beraubung
aller Güter des Lebens einträtes fo würden hier Luft und
Unluſt in einer andern Bedeutung genommen als im Geſez,
und in einer ſolchen, aus welcher die uͤbrigen Pflichten und
Tugenden nicht koͤnnten hergeleitet werden. Soll aber im
Gegentheil auch die relative Unluſt gemeint ſein, die nur im
Uebergewicht beſteht, und alſo jeder Moment des heftigen
Schmerzes gerechte Urſach geben zur Selbſttoͤdtung: ſo iſt jede
Hinſicht auf die Guͤter aufgehoben, und der Begriff verliert
feine Bedeutung. So daß hier ein ungeloͤſter Widerſpruch
obwaltet zwiſchen dem, was aus dem Begriff der Guͤter, und
Schleierm, Grundl. N
194 5
dem, was aus dem Begriff der Pflicht hervorgeht. Bei den
Stoikern hingegen ſcheint jeder ethiſch reale Grund zu fehlen
zur Selbſttoͤdtung, und dieſe Erlaubniß nur die dialektiſche
Spize zu ſein zu dem polemiſchen Saz, daß das hoͤchſte Gut
nicht durch die Laͤnge der Zeit waͤchſt und gewinnt. Denn
es iſt gar nicht die Unmoͤglichkeit eines ſittlichen, oder die Uns
vermeidlichkeit eines unſittlichen, was dabei den Beſtimmungs⸗
grund ausmacht. So daß hienach zu urtheilen es gar keine
Pflicht der Selbſterhaltung bei ihnen geben wuͤrde, wie ſie
denn auch das Leben und den Tod unter die gleichguͤltigen
Dinge zaͤhlen, welches jedoch theils mit andern Aeußerungen
der naͤmlichen Schule ſtreitet, theils auch ſonſt ſchwer moͤchte
durchzuführen fein. Fichte aber, welcher nicht durch einen
ſolchen Grenzpunkt, jenſeits deſſen das Gegentheil Pflicht
würde, welches er vielmehr laͤugnet, ſondern gradezu den Ine
halt dieſer Pflicht beſtimmt, iſt dabei auf ſeine eigne Art in
Widerſpruͤche gerathen. Auf der einen Seite nemlich «geht
ſeine Abſicht dahin ſie real zu beſtimmen, ſo daß das Be—
ſtreben das Leben zu erhalten nicht etwa anders woher ſoll
entſtanden ſein, und nur ſittlich begrenzt, wie andere voraus⸗
ſezen, ſondern unmittelbar ein ſittliches fein, auf einem ſittli⸗
chen Grunde beruhend; ſo aber bringt er ſie nicht zu Stande.
Denn da er jede bedingte Pflicht den unbedingten unterordnet,
welche das einzige nothwendige enthalten: ſo kann der Menſch,
ſo lange noch eine unbedingte Pflicht zu erfuͤllen uͤbrig iſt,
auf rein ſittlichem Wege niemals dazu kommen irgend etwas
ausdruͤkklich zu thun, um der bedingten Pflicht der Selbſter⸗
haltung Genuͤge zu leiſten, wie ſehr leicht ein jeder ganz nach
der Methode dieſes Syſtems finden wird, indem ſelbſt, wenn
die phyſiſchen Kraͤfte ſchon zu ſehr geſchwaͤcht waͤren um die
eine zu erfüllen, fie doch noch hinreichen würden zu einer ans
dern, oder zu einem immer unvollkommneren Grade von je⸗
der; bis durch ein unendlich kleines der Pflichterfuͤllung und
der Exiſtenz das natuͤrliche und das ſittliche Leben zugleich in
Null uͤberginge, wenn nicht vorher das Herz, oder wie es ge⸗
195
nannt wird, was in jedem Augenblikk aus den Forderungen
des Naturtriebes das ſittliche auswaͤhlt, einem rein natuͤrli⸗
chen Triebe Raum gaͤbe, um das Leben zu erhalten. Auf
der andern Seite aber will Fichte dieſe Pflicht auch ethiſch
bedingen, und fie geraͤth ihm dennoch in der That unbedingt,
und iſt alſo zugleich nichts und alles. Denn wenn, da der
eigentliche lezte Zwekk im unendlichen liegt, jedes Handeln den
ſeinigen nur in dem naͤchſten Handeln als Annaͤherung ſu⸗
chen muß: ſo darf ja wiederum das Herz oder die Einſicht
oder wie vielfach dasjenige heißt, was in Ermangelung eines
feſten Princips und einer allgemeinen beſtimmten Formel den
Beruf jedes Moments beſtimmt, unmoͤglich aus den verſchie⸗
denen an ſich ſittlichen grade dasjenige auswählen, welches
als Leben zerftörend ſchon den naͤchſten Zwekk unmoͤglich macht.
Sondern anſtatt mit Gefahr des eigenen Lebens etwa ein
fremdes zu retten, würde es ohne Zweifel ſittlicher fein eiligſt
etwas zu produciren oder zu verarbeiten oder zu erforſchen
oder was ſonſt die beſondere und unbedingte Pflicht dem Her⸗
zen ans Herz legte. Aus welchem Widerſpruch nach dieſem
Syſtem wol ſchwerlich eine andere Erloͤſung moͤchte zu fin⸗
den fein, als bis jedes moͤgliche Handeln, auf daß irgend eis
ner keine Entſchuldigung habe, in Beruf verwandelt, das Herz
aber uͤberall in Ruheſtand verſezt wird. In dieſer Hinſicht
nun iſt dem Widerſpruch und der Unbeſtimmtheit niemand
beſſer ausgewichen als Spinoza. Denn dieſer trennt auf der
einen Seite das Leben gar nicht von feiner ethiſchen Bedeu⸗
tung, und es iſt ihm als Gegenſtand der Erhaltung nichts
anders, als theils das fortgeſezte wahre Handeln, wiewol der
Reinheit deſſelben nur kann angenaͤhert werden, theils aber
die Identitaͤt des Seins, welche abſolut iſt. Koͤnnte nun
dieſe nicht erhalten werden, ſo waͤre das Leben in ethiſcher
Bedeutung ſchon geendigt, und es findet keine Frage mehr
ftatt über das, was im Zuſammenhange mit dem vorigen zu
thun iſt. Auf der andern Seite koͤnnen bei ſeiner Anſicht des
Lebens ſowol als der Sittlichkeit die ſpizigen Fragen, welche
| N 2
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ſich auf den Gegenſaz eines Moments mit den übrigen bes
Rehen, gar nicht ſtatt finden. Was aber die Einheit des Be,
griffs der Selbſterhaltung betrifft, in ſo fern naͤmlich alles,
was dazu gehoͤrt, nur eine einzige Pflicht ausmacht, und alſo
ethiſch als ein gleichartiges Handeln erſcheinen ſoll: ſo loͤſt
auch ſie ſich in eine unbeſtimmte Vielheit auf. Denn wird
ſie nur auf das phyſiſche Leben bezogen: fo hat dieſes zwar
feinen Siz im Leibe, der Leib felbft aber iſt ein theilbares
von der Art, daß feine verſchiedenen Theile auch eine verſchier
dene Beziehung haben auf das Leben, weshalb denn nicht al⸗
les Handeln zu dieſem Zwekk ſeinem ethiſchen Werthe nach
gleich iſt, ſondern eins den andern untergeordnet, welches denn
der Einheit der Pflicht widerſtreitet. In dieſem phyſiſchen
und materiellen Sinne hat Kant den Begriff am weiteſten
verfolgt, und was gegen die Erhaltung einzelner das Leben
nicht unmittelbar enthaltender Theile geſchehen koͤnnte als
partiellen Selbſtmord aufgeſtellt. Daß aber dieſe Pflicht ei⸗
nen ganz andern Rang hat, als jene, und alſo unter dem ge⸗
meinſchaftlichen Namen zwei ganz verſchiedene Dinge zuſam⸗
mengefaßt ſind, iſt offenbar. Denn bei dem partiellen Selbſt⸗
morde unterſcheidet er ſowol das ganz pflichtmaͤßige, als von
dem abweichenden die verſchiedenen Grade der Verſchuldung
nach Maaßgabe der Abſicht, fo daß hier die Pflicht der Ers
haltung bedingt iſt durch irgend eine Beziehung, die unmit⸗
telbare und gaͤnzliche Erhaltung aber iſt unbedingt. Eben ſo
ließe ſich eine andere Eintheilung denken, nicht nach den Thei⸗
len und Bedingungen des Lebens, ſondern nach der Art und
dem Grade der Gefahr, aus welcher ſich ganz daſſelbige er⸗
geben wuͤrde. Nun aber iſt weder der bedingende Grund auf⸗
geſtellt, welcher die eine Pflicht von der andern trennt, noch
der beide vereinigende Grund beſtimmt, ſo daß ſie weder ganz
eins ſind, noch ganz geſchieden, und auch die erſte in die Un⸗
beſtimmtheit der lezteren mit hineingezogen wird. Dieſes er⸗
bellt nicht nur aus den von Kant aufgeſtellten caſuiſtiſchen
Fragen, welche faſt immer der Beweis von der Unklarheit
197
und Unzulaͤnglichkeit ſeiner Beſtimmungen ſind, ſondern die
gleiche Verwirrung hat auch die Stoiker getrieben, vorzuͤglich
ſelbſt die unbedeutendſte Verlezung des Koͤrpers zur Urſache
des Selbſtmordes zu machen, als ob das Leben und die Glie⸗
der gleich waͤren, oder wenigſtens der Unterſchied zwiſchen bei⸗
den nicht zu beſtimmen. Wird aber im Gegentheil die Selbfte
erhaltung auf das ganze empiriſche Selbſt bezogen, und auf
deffen Qualität als Werkzeug des Sittengeſezes: fo gehört,
was ſehr ethiſch zu fein ſcheint, das Entwikkeln aller Kräfte
und Naturvollkommenheiten, welches bei Kant zum Beiſpiel
eine beſondere Pflicht ausmacht, und zwar eine unvollkom⸗
mene, der Naͤhrung des Leibes als einer vollkommenen weit
nachſtehend, dieſes gehoͤrt dann hier als das eigentlich poſitive
und reale der Selbſterhaltung zu. Allein indem doch das po⸗
ſitive vom negativen unterſchieden wird, bleiben es zwei Ele⸗
mente, die mit einander koͤnnen in Widerſtreit gerathen, ohne
daß zu entſcheiden waͤre, wie weit alsdann das bloß koͤrper⸗
lich erhaltende und erſezende Verfahren duͤrfe hintangeſezt
werden zum beſten des geiſtig entwikkelnden, oder umgekehrt,
fo daß der Langfchläfer und der Langwacher, oder was ſonſt
fuͤr groͤßere Gegenſaͤze hier vorkommen moͤgen, lediglich ihrem
Herzen uͤberlaſſen ſind. Ja es gilt nun, was oben von der
Unmoͤglichkeit geſagt worden nach Fichte etwas beſonderes
zur Erhaltung zu thun, natuͤrlich nicht minder von der mit
darunter begriffenen Entwikkelung des Leibes ſowol als des
Geiſtes, indem beide wol immer zu unbedingten Pflichten wer—
den zu gebrauchen ſein. Ferner auch ſtoͤßt ſich dieſe Pflicht
mit jener andern bedingten beſonderen, daß jeder ſolle ſeinen
Stand waͤhlen. Denn dieſes nach Einſicht zu vollbringende
Geſchaͤft ſezt Entwikkelung und Ausbildung voraus, und es
iſt nicht zu ſehen, wie weit dieſe ſchon muͤſſen gediehen ſein,
ehe jene kann eintreten. Welches vielleicht Fichte geahndet zu
haben ſcheint, wenn es anders mit Bewußtſein geſchieht, daß
er Ausbildung und Entwikkelung vornaͤmlich in demjenigen
ſezt, was an Kindern zu geſchehen pflegt, und dasjenige ver⸗
198 | .
bietet, was dieſe oͤfters erleiden muͤſſen. Ueberdies aber iſt
bei Fichte ſowol das negative des geiſtigen Theils der Selbſt⸗
erhaltung, als auch das geſammte pofitive dieſer Pflicht, gleiche
ſam wie ein veraͤchtlicher abgelegener Ort, ein unordentliches
Behaͤltniß alles deſſen, was zwar ſittlich zu ſein ſchien, die
folgenden Stellen des Syſtems aber hätte verunzieren mögen.
Denn ſie enthaͤlt ein hoͤchſt unbeſtimmtes mannigfaltiges von
Vorſchriften ohne Geſez und Ordnung, und die, was noch
aͤrger iſt, ein faſt ins unendliche ſich zerſpaltendes mittelbares
Verfahren bilden, welches, wie oben zur Genuͤge erwieſen wor-
den, in der Ethik ganz unzulaͤſſig iſt. So wird um den Leib
zu naͤhren Sparſamkeit und Ordnung geboten, und um den
Geiſt zu entwikkeln werden die ſchoͤnen Kuͤnſte empfohlen, jede
offenbare und geheime Unthaͤtigkeit aber, wie die leere Bes
ſchaͤftigung mit Zeichen, und das leidentliche Aufnehmen frem⸗
der Gedanken wird verboten. Hier nun wird wol jedem un—
begreiflich ſein, theils warum dieſes irgendwo ein Ende nimmt,
und warum nicht auch Fichte, wie Spinoza, alle Pflichten
und Tugenden aus der Selbſterhaltung ableitet. Wobei der
Unterſchied immer wuͤrde geblieben ſein, daß ſie bei Spinoza
neben einander aus ihrem gemeinſchaftlichen Grunde hervor⸗
gehn, wie es ſich in der Ethik geziemt, bei Fichte aber gar
nicht ethiſch eine immer zum Behuf der andern als Mittel zu
ihrem Zwekk wuͤrden erfunden werden. Theils auch, je unbe⸗
ſtimmter alle dieſe Vorſchriften hier ſind, und, ihre Gegen⸗
ſtaͤnde aus der Erfahrung vorausgeſezt, ohne jede Spur von
Ableitung, deſto lebhafter wird ſich jedem aufdringen, daß ſie
entweder gar kein Anſehn haben in der Sittenlehre, oder daß
ſie auf andern Gruͤnden beruhen muͤſſen, und nur an einer
andern Stelle ihre Guͤltigkeit erlangen koͤnnen. Theilen wlr
daher das ſo wunderlich verbundene mannigfaltige, ſo iſt
zuerſt in Betracht zu ziehen, wie als Theil oder Mittel der
Selbſterhaltung geboten wird die Maͤßigkeit im aſſimilirenden
und ausleerenden Genuß, oder wie koͤnnte jemand anders den
Ernaͤhrungs⸗ und Geſchlechtstrieb in Beziehung auf die Selbſt⸗
199
erhaltung zuſammenfaſſen und fondern? Dieſes findet ſich bei
Fichte und bei Kant, zwar bei dem lezteren nicht unter der
Selbſterhaltung ſondern neben ihr als eine andere Pflicht des
Menſchen gegen ſich ſelbſt in der Eigenſchaft als animaliſches
Weſen, welche Abſonderung aber feinen eignen Begriffen ges
maͤß grundlos ſein moͤchte. Daß nun die Maͤßigkeit im Ge⸗
brauch der Nahrungsmittel als eine eigne Pflicht aufgefuͤhrt
wird, iſt in einer Hinſicht dem älteren dieſer beiden noch eher
zu verzeihen, weil er was zur Selbſtliebe gehoͤrt, es ſei nun
in Beziehung auf Erhaltung oder Genuß, nicht ſittlich her—
vorzubringen begehrt, ſondern ſich nur begnuͤgt es ſittlich zu
beſchraͤnken, und alſo was ihm als ein eigner Trieb erſcheint
auch eine eigne Pflicht erfordert. Gar nicht aber auch in die—
ſer Hinſicht dem juͤngeren. Denn nach dieſem ſoll, wie es
auch recht waͤre, was fuͤr die Selbſterhaltung gethan wird
nicht nur durch ſeine Begrenzung, ſondern auch an ſich ein
ſittliches ſein. Wenn nun alſo nur um das Leben zu erhal⸗
ten die Nahrungsmittel genommen werden: ſo iſt ja mit dem
Swekke zugleich die Grenze der Handlung geſezt; und fo. wie
jenes als Gebot gegeben iſt, bedarf es nicht mehr eines Ver⸗
bots, daß nicht mehr geſchehen ſolle, welches vielmehr einen
andern unſittlichen Antrieb zur Handlung vorausſezt, bei wel⸗
chem auch das nicht zu viele ſchon unſittlich waͤre. Dieſes in
ſeiner ganzen Aus dehnung gedacht giebt den Schluß, daß die
Maͤßigkeit als ſittliche Beſtimmung der Grenzen einer ſolchen
Handlung, welche bis zu dieſen Grenzen hin aus einem an⸗
deren Princip gelangt iſt, gar kein Begriff einer einzelnen Tu⸗
gend fein kann. Denn in einer realen und poſitiven Sittens
lehre wäre auch das innerhalb dieſer Grenzen beſchloſſene ent=
weder nicht ſittlich, oder die Grenzbeſtimmung beruhte auf ei⸗
nem Streite der Pflichten, oder haͤtte hoͤchſtens Einheit und
Guͤltigkeit als Pflicht, nicht aber als Tugend. In einer ne=
gativen und beſchraͤnkenden aber iſt dieſes die ganze Tugend,
und es giebt keine andere. Daher auch geht hieraus zugleich
die Unmoͤglichkeit hervor, wie bei Fichte, denn Kant wird von
1
200
dieſem Vorwurf nicht getroffen, ein beſtimmtes Verhalten in
Anfeyung des Ernaͤhrungstriebes und ein aͤhnliches in Anſe⸗
hung des Geſchlechtstriebes aus dem Grunde der Selbſterhal⸗
tung kann geboten werden. Denn ſoll um ihrentwillen nur
was anderwaͤrts her gegeben iſt eingeſchraͤnkt werden: ſo hat
das Gebot den Charakter verloren, unter welchem es aufge⸗
ſtellt iſt. Soll es aber nur dasjenige begrenzen, was es auch
ſelbſt hervorgebracht hat, ſo kann vom Geſchlechtstriebe an
dieſer Stelle gar nicht die Rede ſein; abgerechnet noch, daß
es ganz unwiſſenſchaftlich waͤre, zumal in der Ethik, daß die
Grenze fuͤr eine Realitaͤt eher ſollte gegeben werden, als die
Realitaͤt ſelbſt. Wir wollen indeß den Ort nicht achten, da
von der Behandlung dieſes Triebes unter den unbedingten
Pflichten beim ehelichen Stande wieder die Rede iſt, ſondern
aus allem zuſammen genommen unterſuchen, was in Abſicht
deſſelben Pflicht oder Tugend ſein mag. Vorausgeſezt nun,
er habe dort dieſen Trieb in einen ſittlichen verwandelt oder
mit einem ſittlichen verbunden, ſo daß Handlungen, durch
welche der natuͤrliche Geſchlechtstrieb befriediget wird, nicht
ſowol aus demſelben, als vielmehr ſittlich aus der gemein⸗
ſchaftlichen Kraft hervorgehen, welche die Quelle aller fittlis
chen Handlungen iſt: ſo iſt gewiß, daß eben dort mit dem
Grunde des Handelns auch die Grenze deſſelben muͤßte gege⸗
ben ſein, weil ſonſt in der That keine Pflicht aufgeſtellt waͤre.
Dann aber muͤßte ferner alles innerhalb dieſer Grenze gele⸗
gene als Pflicht geboten ſein, und zwar dem Orte gemaͤß als
unbedingte. So daß, wenn es etwa Pflicht erfunden wuͤrde,
alles was der Natur nach zur Fortpflanzung des Geſchlechtes
zu thun moͤglich iſt, es ſei nun in dem engeren Umfang der
einweibigen oder in dem weiteren der vielweibigen Ehe, ſich
zum Zwekk zu machen, alsdann auch bei der Erfuͤllung dieſer
Pflicht auf die Selbſterhaltung gar keine Ruͤckſicht duͤrfte ge⸗
nommen werden. Allein es iſt auch dort keines weges bewerk⸗
ſtelligt worden, dieſen Trieb eben ſo zu ethiſiren, wie bei der
Selbſterhaltung mit dem der Ernährung geſchieht. Denn es
201
wird zwar den Frauen zuerſt und unmittelbar der Vorzug
eingeraͤumt, dieſen Trieb nur als einen ſittlichen zu haben, ſo
daß er fleiſchlich noch vor der Geburt, denn er darf nie zum
Bewußtſein kommen, getoͤdtet wird, und geiſtig als Liebe wie⸗
der auferſteht, ja ſogar bei dem Manne verwandelt ſich durch
des Weibes Ergebung dieſer Trieb in Gegenliebe, wobei er
zur billigen Entſchaͤdigung fuͤr dieſe abgeleitete Sittlichkeit das
Recht erhält, ſich ihn auch vor dem und außer dem wol ges
ſtehen zu duͤrfen. Was fuͤr ein loſes und nichtiges Spiel
aber dieſes alles iſt, vornaͤmlich nach den Grundfäzen des Sys
ſtems, wird jeder einſehn. Denn hoͤchſtens waͤre dieſe Ablei⸗
tung eines Englaͤnders wuͤrdig, da ſie genau betrachtet nichts
anders leiſtet, als zuerſt den ſelbſtiſchen Trieb des Weibes in
einen ſympathetiſchen zu verwandeln mit dem ſelbſtiſchen des
Mannes, und dann auch den ſelbſtiſchen des Mannes in ei⸗
nen ſympathetiſchen ſowol mit dem ſelbſtiſchen der Frau, als
auch mit ihrem auf feinen ſelbſtiſchen gerichteten ſympatheti⸗
ſchen. Aus welchem allen, ohnerachtet es der Gipfel dieſer
ſympathetiſchen Ethik iſt, und daher auch bei ihren Anhaͤngern
dieſe Tugend die ſymboliſche und die Beglaubigung fuͤr alle
uͤbrigen, doch nichts ſittliches im Sinne des Fichte entſtehen
kann. Alles uͤbrige ganz unwiſſenſchaftliche und mehr als
verworrene, wie naͤmlich die Einwilligung der Frau, die fuͤr
ſich, aus allem angefuͤhrten naͤmlich, nichts anders ſein wuͤrde
als eine Handlung der Gefaͤlligkeit eine wohlthaͤtige Befrie⸗
digung eines fremden Beduͤrfniſſes, vielmehr eine ganze und
ewige Hingebung iſt, aus welcher erfolgt eine gaͤnzliche Ver—
ſchmelzung zweier Individuen, und zwar ſolcher, welche nun
eine ganz verſchiedene Quelle ihrer Sittlichkeit haben, ferner
wie dann doch auch die Sittlichkeit des Mannes gleichſam
durchdrungen und grfättiget wird mit dem Waſſer dieſer frem⸗
den Quelle, und die Sittlichkeit uͤberhaupt, welche vorher aus
dem innerſten der Intelligenz hervorging, nun am Ende in ei—
ner andern vielleicht noch ſchoͤneren Geſtalt aus dem Ge—
ſchlechts triebe hervorſprießt, dieſes alles iſt zu ſehr hervor⸗
202
ſpringend, um mehr als angedeutet zu werden. Daß alfo
bei Fichte der Geſchlechtstrieb noch keinesweges ethiſirt iſt,
mag aus dem geſagten erhellen. Noch viel weniger aber iſt
er es anderswo. Denn Kant hat die Ehe nur in der Rechts⸗
lehre als einen rechtmaͤßig erlaubten, und wenn uͤberhaupt
der Geſchlechtstrieb ſoll befriedigt werden, nothwendigen Ver⸗
trag aufgeführt, jenes Sollen ſelbſt aber in der Ethik nir⸗
gends erwieſen. Faſt alle anderen aber, die alten aus den
praktiſchen Schulen an der Spize, ethiſiren dieſen Trieb nur
in ſo fern, daß der Menſch den Endzwekk der Natur bei dem⸗
ſelben, naͤmlich die Fortpflanzung adoptiren ſoll, woraus aber
weder ein Maaß dieſer Verpflichtung hervorgeht, noch auch
die Ehe einen andern als untergeordneten Werth hat, indem
jeder Ehegatte dem andern nur Nebenſache iſt und Mittel,
die Kinder aber der Zwekk und die Hauptſache. Soll nun
die Keuſchheit als die auf dieſen Gegenſtand ſich beziehende
Tugend etwas von der Maͤßigkeit unterſchiedenes fein, und
nicht nur in einem Maaße der Befriedigungen ſich aͤußern,
ſondern in einem eignen Charakter derſelben und einer Ma⸗
xime, die ihnen zum Grunde liegt: ſo wuͤrde ſie bei Fichte
darin beſtehen, daß die Befriedigungen allemal hervorgingen
aus der Liebe und der Gegenliebe, dann aber muͤßten dieſe
auch das Maaß derſelben fein, und es koͤnnte von einer Maͤ⸗
ßigkeit darin außer der Keuſchheit nicht geredet werden. Daß
aber dasjenige, worauf ſie nach dieſer Erklaͤrung beruht, in
demſelben Syſtem noch nicht als ein ethiſcher Begriff vorhan—
den iſt, geht hervor aus dem vorigen. Bei den alten hinge—
gen und denen, die ihnen folgen, wuͤrde ſie darin beſtehen,
daß ihnen immer die Abſicht zum Grunde läge den Natur:
zwekk zu erreichen. Warum aber nun dieſe Abſicht den gans
zen Trieb einnehmen ſoll, der mit dem Naturzwekk nicht von
Natur gleichlaufend iſt, zumal da das uͤberſchießende deſſelben
als ein ſtoͤrender Reiz animaliſch wirkt, dieſes wuͤrde eines
eignen Erweiſes beduͤrfen. Daher auch viele von den alten,
ohnerachtet fie auf dem Naturzwekk die Ehe erbauen, theils
diefe nicht als einen ſittlichen nothwendigen Zuſtand, oder we⸗
nigſtens als ein ſolches Beſtreben ſezen, wie Fichte thut, theils
auch außer derſelben der zwekkloſen und unnatuͤrlichen Luſt
einen Raum laſſen als dem leichteſten Mittel den phyſiſchen
Reiz zu beſeitigen. Ja, ſo ſcheint ſelbſt im allgemeinen die
Befriedigung des Triebes angeſehen zu werden von denen,
welche wie Epiktetos lehren, ſie muͤſſe nur im Vorbeigehn ge⸗
ſchehn, gleichſam ohne wo moͤglich eine eigne Zeit auszufüls
len und das Gemuͤth beſonders zu beſchaͤftigen. Das un—
ſittliche aber in dem vom Naturzwekk abweichenden darin zu
ſuchen, daß ſtatt des belebten Gegenſtandes nur ein Bild das
Gemuͤth beſchaͤftigt, dieſes hängt an gar nichts und iſt völlig
unverſtaͤndlich. Wie gaͤnzlich alſo dieſer für. die Ethik hoͤchſt
wichtige Gegenſtand in den praktiſchen Syſtemen noch in der
Verwirrung liegt und den erſten klaren Begriff erwartet, dies
muß jedem einleuchten. Denn in der genießenden Sittenlehre
iſt er ſehr leicht aufs reine gebracht. Fuͤr die naͤmlich, welche
auf die beruhigende Luſt ausgeht, beſteht die Keuſchheit darin,
daß jede Befriedigung wirklich nur beruhigend ſei, das heißt,
der ungereizten Aufforderung der Natur folge, welche Regel
von ſelbſt auf dasjenige Maaß fuͤhrt, bei dem der Trieb ſelbſt
immer erhalten wird. Auch iſt es ganz der Sache angemeſ—
ſen, daß die ſo wie jezt geſchehen beſtimmte Keuſchheit fuͤr
dies Syſtem eben ſo die ſymboliſche Tugend iſt, wie die ſym—
pathetiſche Keuſchheit für das anglikaniſche. Im reinen Eu—
daͤmonismus aber wuͤrde die Keuſchheit zu erklaͤren ſein durch
die Bedingung, daß jede Befriedigung auch wirklich Genuß
ſein muͤſſe, und um des Genuſſes willen unternommen, und
ſo ebenfalls ihren Charakter haben und ihr Maaß. Auch
kommt in der Sittenlehre der Luſt nirgends vor der Begriff
der der Keuſchheit untergeordneten und auf ſie ſich beziehen—
den Tugend der Schaamhaftigkeit, welcher ſonſt in der neue—
ren rein praktiſchen ſowol als vermiſchten Sittenlehre ſich
eine Stelle mit Huͤlfe der Schaam wie es ſcheint erworben
hat. Daß er aber leer und ſchwankend iſt, iſt leicht zu zei⸗
204
gen. Denn ſein Gehalt ſoll fein das Nichtaͤußern gewiſſer
auf jenen Trieb ſich beziehender Gedanken und Empfindungen.
Sind nun dieſe unſittlich: ſo iſt nicht zu ſehen, wie eine Tu⸗
gend ſich gruͤnden ſoll gradezu auf das unſittliche, ohne daß,
welches hier offenbar nicht mit gedacht wird, deſſen Hinweg⸗
ſchaffung ihr Geſchaͤft waͤre. Sollen ſie aber an ſich nicht
unſittlich ſein, ſo iſt uͤberhaupt nicht einzuſehn, daß eine ſolche
Gemuͤthsbewegung, wie dennoch Kant vom Neide behauptet,
dadurch nur koͤnne unſittlich werden, daß ſie ausbricht, am
wenigſten aber hier, wo das Ausbrechen die bloße Mitthei⸗
lung iſt, durch welche in dem hoͤrenden nichts anders koͤnnte
hervorgebracht werden, als was in dem mittheilenden ſelbſt
zuvor geweſen iſt, nämlich das nicht unſittliche. Was aber
nicht die Mittheilung der Gedanken betrifft, ſondern das kund⸗
bare Verrichten der Handlungen des Triebes: ſo muͤßte ſich,
nach der Analogie des Ernährungstriebes zu urtheilen, auch
pon dieſem die Verwerflichkeit auf eine andere Anſicht gruͤn⸗
den, als auf die des Naturtriebes, alſo auf eine, wenn dem
bisherigen zu glauben iſt, ethiſch noch nicht vorhandene. Aus
welchem Geſichtspunkt betrachtet daher auch die freilich etwas
rohe Polemik der Kyniker und aͤlteren Stoiker gegen dieſen
Begriff ſich moͤchte dem Weſen und der Abſicht nach verthei⸗
digen laſſen. Soviel von dieſen Pflichten und Tugenden und
ihrem Orte. So wie nun die Selbſterhaltung und das ihr
beigeordnete nach Kant die Pflicht war des Menſchen gegen
ſich ſelbſt als animaliſches Weſen: fo ſteht dieſer gegenuͤber
eine andere auch vollkommene gegen ſich ſelbſt als moraliſches
Weſen. Von dieſer aber wird nirgends der Inhalt nach ſei⸗
nem ganzen Umfang und ſeiner Einheit beſtimmt angegeben,
ſondern nur mittelbar bezeichnet auf eine dreifache Art. Zuerſt
namlich durch den Zwekk, auf welchen fie gerichtet iſt, welcher
fein fol, daß der Menſch ſich ſelbſt erkenne. Dieſer aber
baͤngt mit dem größten Theile des Inhaltes, namlich mit der
Wahrhaftigkeit in Mittheilungen und der Vollſtaͤndigkeit des
nothwendigen Genuſſes, nicht ſichtbar zuſammen, wenigſtens
205
nicht genauer, als man von jedem unſittlichen fagen kann,
daß es im Mangel der Erkenntniß feinen Grund habe. Zwei⸗
tens aber durch das Princip ihrer Erfuͤllung, ſo wie drittens
durch die Laſter, welche der Uebertretung derſelben zum Grunde
liegen. Dieſe beiden Erkenntnißmittel nun ſollten eigentlich
nicht verſchieden ſein, ſondern nur eins und daſſelbe. Denn
das Princip der Erfuͤllung einer Pflicht beſonders betrachtet
kann kein anderes ſein, als die Tugend, welche dabei vorzugs⸗
weiſe wirkſam iſt; die Laſter aber, welche die Erfuͤllung hin⸗
dern, koͤnnen fuͤr die Pflicht nicht anders ein Erkenntnißmittel
werden, als durch die Zuruͤkkfuͤhrung auf die ihnen entgegen⸗
geſezten Tugenden. Hier indeß iſt das Princip viel zu weit
angegeben, um die einzelne Pflicht daraus zu erkennen. Denn
der Ehrliebe ſind alle Laſter gleich ſehr entgegengeſezt, wie die
drei hier angefuͤhrten, und niemand wird einſehn, warum nicht
die Traͤgheit zum Beiſpiel den Menſchen eben ſo veraͤchtlich
mache, als die Falſchheit oder die Selbſtverachtung und das
Selbſtpeinigen. Ja, wenn die Ehrliebe darauf beruht, daß
der Menſch ſich des Vorzugs nach Principien zu handeln
nicht begeben duͤrfe, und wenn dieſes die hoͤchſte und gemein⸗
ſchaftliche Formel fuͤr die hier behandelte Pflicht ſein ſoll, ſo
iſt hier wieder eine vollkommene Pflicht, welche alle anderen
in ſich begreift, und namentlich den Begriff der unvollkomme⸗
nen Pflichten ſeiner Realitaͤt gaͤnzlich beraubt. Denn es ſte⸗
hen auf dieſe Art alle Handlungen unter der Maxime, daß
ſie nach Principien muͤſſen beſtimmt werden, alſo auch dieje⸗
nigen, welche in den freien Spielraum der unvollkommenen
Pflichtmaximen fallen wuͤrden, welches in die Widerſinnigkeit
dieſer Eintheilung und ihrer Gründe eine neue Ausſicht eröffs
net. Laſſen wir aber die Einheit und ſehen auf die einzel⸗
nen ſehr verſchiedenen Beſtandtheile dieſer Pflicht, ſo wird ſich
gewiß zuerſt jeder wundern, in dieſem antieudaͤmoniſtiſchen
Syſtem den Genuß des Wohllebens, wenn gleich innerhalb
des Maaßes des Beduͤrfniſſes, als eine vollkommene Pflicht
von dem moraliſchen Weſen gefordert zu finden, und zwar
206
abgeſondert von der Erhaltung. Denn als ein reizendes Mit⸗
tel moͤchte der Gebrauch der Luſt auch nach Fichte nicht zu
verweigern ſein. Nun wird ſie freilich nicht um des Genuſſes
willen gefordert, ſondern um ſich mit Sicherheit der liberalen
Denkungsart bewußt zu werden, nämlich der Freiheit von der
Anhaͤnglichkeit an den bloßen Beſiz. Dieſes aber waͤre dem
Grundſaz und Geiſt des Syſtems weit angemeſſener zu errei⸗
chen durch Verwendung fuͤr die fremde Gluͤkkſeligkeit. So
daß der beſondere Grund dieſer Pflicht nicht zu erſehen iſt,
und wenn ſich ſonſt ſchon oͤfters eine Pflicht gegen ſich ſelbſt
gezeigt hat als einerlei mit einer gegen andere: ſo ſcheint
hier eine von der erſtern Art ſich vielmehr ganz verwandeln
zu müffen in eine von der lezten. Als Gegenſaz aber von
dieſer Pflicht und um ſie zu begrenzen ſtellt Kant wenn gleich
problematiſch eine andere auf, naͤmlich die Pflicht oder Tugend
der Sparſamkeit. So unbeſtimmt nun wie dieſer Begriff aus
ſeinen Haͤnden kommt ohne Beziehung auf das Geſez als blo—
ßes Verſagen des Genuſſes ohne Beiſaz einer Abſicht, kann
er kein ethiſcher ſein. Ergaͤnzt man aber dieſe Abſicht, wel⸗
ches denn nur identiſch geſchehen kann, daß naͤmlich der Ge⸗
nuß ſolle verſagt werden, in ſo fern er nur an ſich ſelbſt als
Genuß gefordert wird: ſo iſt er zwar ethiſch, ſtimmt aber
nicht mehr mit feiner Bezeichnung uͤberein, welche ausſchlie—
ßend das Eigenthum zu ſeinem Gegenſtande macht. Spaͤter⸗
hin aber kommt dieſer Begriff noch einmal vor als eine Maaß⸗
regel der Klugheit, um ſich die zu Erhaltung der innern
Wuͤrde noͤthige Unabhaͤngigkeit zu ſichern, alſo als eine tech⸗
niſche Regel, nicht aber unmittelbar als Pflicht. Eben ſo
wird ſie auch von andern zur Klugheit gerechnet. Allein ſoll
dieſe gedacht werden als ein Voraus ſehen des beſtimmten: fo
kann ſie eben ſowol das Gegentheil der Sparſamkeit gebieten,
als dieſe ſelbſt, welche alſo wiederum nur ſittlich waͤre, in ſo
fern ihr Gegentheil es auch iſt. Soll aber die Klugheit nur
beſtehen in dem Bewußtſein des Nichtvorausſehens: ſo wuͤrde
die Sittlichkeit der Sparſamkeit beruhen auf der Frage, wie
207
weit man einen gegebenen Zwekk aufopfern dürfe einem noch
nicht bekannten, welche dann verneinend beantwortet wird
durch denjenigen Theil der Klugheit, den die alten erklaͤren als
die Fertigkeit einen Ausweg zu finden, und der als weſent⸗
lich auch von den praktiſchen Syſtemen anerkannt iſt, im ky⸗
renaiſchen aber faſt den ganzen Inhalt dieſer Haupttugend
ausmacht. Auch unter den Pflichten gegen andere oder den
unbedingten allgemeinen kommt die Sparſamkeit bei Fichte
vor als Mittel das Eigenthum allgemein zu machen, und
würde in dieſer Hinſicht als Tugend zur Gerechtigkeit gehoͤren.
Aus welcher Unbeſtimmtheit des Verpflichtungsgrundes ſowol
und des Ortes im Syſtem als des Umfangs hinlaͤnglich er⸗
hellt, daß, wenn man die Bezeichnung des Begriffes feſt haͤlt,
die Sparſamkeit nichts iſt als eine gewiſſe Weiſe etwas zu
verrichten, deren ethiſcher Werth ganz unbeſtimmt iſt, und die
alſo auch nicht ethiſch dem Begriffe nach entſtanden iſt, deſſen
Einheit vielmehr auf einem andern Gebiete liegen muß. Wenn
man aber das ethiſche aufſucht, an welches ſie ſich anſchlie⸗
ßen konnte: ſo muß man über, die Bezeichnung hinaus gehen,
und die Einheit des Begriffs verſchwindet. So daß es kaum
noch eines andern Beiſpiels beduͤrfte, um zu erweiſen, daß
unmoͤglich ein feſter ethiſcher Begriff enthalten ſein kann in
einer Bezeichnung, welche auf einen aͤußeren Gegenſtand. ge⸗
richtet iſt. Der zweite Theil aber jener vollkommnen Pflicht
gegen ſich ſelbſt, iſt die Wahrhaftigkeit, unter welchem Namen
aber Kant von allen andern abweichend vielleicht durch das
Beduͤrfniß des Raums verführt, gewiß aber dem Syſteme
nicht nur ſondern auch der Sprache Gewalt anthuend, zwei
ganz verſchiedene Begriffe zuſammengefaßt hat. Oder wer
koͤnnte wol was er die innere Luͤge nennt fuͤr einerlei halten
mit der unwahrheit in Ausſagen? oder ſie überhaupt erklaͤren
für eine vorſezliche Unwahrheit, welche jemand ſich ſelbſt ſagt?
Denn hiezu gehört nothwendig das wiſſentliche; und wie kann
einer das eine zwar wiſſen, das Gegentheil aber glauben oder
glauben wollen. Vielmehr muß entweder das Wiſſen kein
208
Wiſſen ſein, oder das Glauben kein Glauben, oder beides.
Und die lezteren beiden Fälle find unſtreitig dasjenige, was
Kant gemeint hat. Denn der Mangel des Wiſſens mit einem
wirklichen Glauben verbunden wäre wenigſtens ein redlichet
Beſiz einer unvollkommnen oder unrichtigen Erkenntniß, und
gar nicht mit dem Namen der Unwahrheit zu brandmarken,
ſondern der Fehler nur ein nicht genug fortgeſeztes Forſchen,
der Grund deſſelben aber in der Gkſinnung ein zu ſchwaches
Wollen der Selbſterkenntniß. Was Kant abet andeutet iſt
ein unredlicher Beſiz, ſo daß, wenn auch das Wiſſen mangel⸗
haft iſt, es angeſehen werden muß als ein abſichtlich abge⸗
brochenes Nachforſchen, um nicht handeln zu durfen dem ge⸗
maͤß, was ſich als Wahrheit ergeben wuͤrde. Die ſittliche
Geſinnung alſo waͤre, wie es auch um das Wiſſen ſtehe, das
nicht handeln wollen nach der Wahrheit, ſie ſei nun geſehen
oder nur vorausgeſehen. Und dieſes iſt eine und zwar wie
Kant fie nennen ſollte, qualificirte Unluſt dir moraliſche Voll⸗
kommenheit zu erhoͤhn, gegen welche das Gebot unter der ſo
uͤberſchriebenen Pflicht haͤtte muͤſſen vorkommen. Was aber
nun die aͤußere Wahrhaftigkeit betrifft: ſo iſt zu fragen, zuerſt
ob wol die Aufrichtigkeit in Ausſagen und die Treue in Ver⸗
ſprechungen wirklich eins ſind. Denn das Ausfuhren der
Vertraͤge iſt, wie bereits oben ausgefuͤhrt worden, keine eigne
Handlung, weil es dazu keines neuen Entſchluſſes bedarf,
ſondern dieſer ſchon begriffen iſt in demjenigen, welcher die
Gemeinſchaft des Rechtes und der Sprache geftiftet hat. Denn
durch die erſtere wird einmal für immer die Willenshandlung
an ihre Ausfuͤhrung gebunden, durch die leztere aber die Rede
unter beſtimmten Formen und Bedingungen in eine Willens⸗
handlung verwandelt. Der Entſchluß iſt ethiſch betrachtet
die Handlung, und indem ich dieſen einem andern uͤbergebe
mit ſeinem und meinem Wiſſen, habe ich ihm die Handlung
uͤbergeben, von welcher ich nun das äußere, was noch fehlt,
nicht mehr trennen darf. Dieſes nicht deutlich genug auffaſ⸗
ſend verdirbt ſich auch Fichte gegen ſeine ſonſtige Tugend die
Klar⸗
Klarheit dieſes Begriffs, und muß einen unbeſtimmten Unter⸗
ſchied einfuͤhren zwiſchen dem, was der Sittlichkeit abſolut
widerſpricht, und dem, was ihr zwar auch aber nicht abſolut
widerſpricht, indem ich dieſes zwar, nicht aber jenes, um ſei⸗
netwillen thun muͤſſe. So gruͤndet ſich nun freilich die Treue
in Vertraͤgen auf die Gemeinſchaft der Sprache, nicht aber
gilt dies von der Aufrichtigkeit in Ausſagen. Denn wer ſich
hiebei hinter die Vieldeutigkeit der Worte verbirgt, will nur
ſeinem Unrecht eine andere Geſtalt geben, das eigentliche un-
recht aber iſt allemal die Abſicht den andern glauben zu ma—
chen, was nicht iſt. Dieſes aber kann von der Untreue in
Verſprechungen nur in dem beſonderen Falle geſagt werden,
wenn ſchon anfaͤnglich der Wille nicht da iſt ſie zu halten,
nicht aber wenn der Wille als wirklich vorausgeſezt wird.
Da nun die Pflicht oder Tugend der Treue beide Fälle ume
faßt: fo muß der Grund derſelben ein anderer und gemeine
ſchaftlicher fein. Ferner erhellt daſſelbe daraus, weil Wahre
heit in Ausſagen und Treue in Verſprechungen koͤnnen in
Widerſtreit gerathen, da es ja Verſprechungen giebt und ge—
ben kann etwas nicht auszuſagen, welche oft, wenn gefragt
wird, auch durch das bloße Nichtausſagen ſchon wuͤrden ver⸗
lezt werden. Hieraus aber folgt von ſelbſt, daß eine oder
beide noch muͤſſen bedingt werden, es muͤßte denn das Nicht⸗
ausſagen als eine abſolute Unſittlichkeit angeſehen werden, ſo
daß ein Vertrag daruͤber unſittlich waͤre, was aber noch
ſchwieriger ſein moͤchte, indem jenes ſich noch von andern
Seiten als der Bedingung beduͤrftig einem jeden darſtellen
muß. Denn wie Fichte dieſe Pflicht bedingt hat, daß ſie nur
auf dasjenige gehe, was fuͤr den andern unmittelbar praktiſch
iſt, iſt die Bedingung weder beſtimmt, weil die Regel der
Beurtheilung erſt feine Eröffnung vorausſezt über etwas, was
fuͤr mich auch nicht unmittelbar praktiſch waͤre; noch iſt ſie
vollſtaͤndig, weil Fichte dabei nur einen beſonderen Fall nicht
aber den hier angefuͤhrten und andere im Auge gehabt hat.
Dann auch waͤre zu fragen, ob die Wahrhaftigkeit, nachdem
Schleierm. Grundl. O
210
ſo auch die Treue in Verſprechungen von ihr abgeſondert wor—
den, als Pflicht eins iſt oder als Tugend. Denn als leztere
ſcheint ſie auf der einen Seite nur eine natuͤrliche und zwar
die niedrigſte Aeußerung des Wohlwollens zu ſein, indem al—
lemal eine befondere eigne Abſicht dazu gehört, um von der
Wahrheit abzuweichen, oder doch, wo dieſes eine fuͤr ſich be—
ſtehende Handlungsweiſe waͤre, wir ſie immer auf das Uebel—
wollen zuruͤkkfuͤhren wuͤrden, und auf die Abſicht den wenn
gleich unbekannten Swekk des andern zu vernichten. Auf der
andern Seite wird aber doch, wer um ſeines Vortheils wil⸗
len die Wahrheit in Ausſagen verlezt, ganz anders beurtheilt,
als ein eigennuͤziger. Waͤre ſie hingegen das erſtere, ſo
muͤßte das Gebot, welches der Ausdrukk derſelben ſein ſollte,
einen Zwekk entweder ausdruͤkklich oder durch Vorausſezung
angeben, und nach demſelben ſich ihre Grenzen beſtimmen,
welche der Pflicht nothwendige Form ſie bis jezt noch nir—
gends zu haben ſcheint. Ueberdies vermiſcht Kant auf eine
wunderliche Art mit der Wahrhafkigkeit in Geſchaͤften und
ernſthaften Angelegenheiten die im Umgange, und kann die
Frage pedantiſch aufwerfen, ob dieſer Tugend nicht zuwider
waͤre der Gebrauch ſolcher Redensarten, welche in der geſelli—
gen Sprache eine andere Bedeutung haben als in den Woͤr—
terbüchern, da doch jene Bedeutung gemeinſchaftlich iſt und
keinen Irrthum veranlaßt. Daher auch keinesweges der Ge—
brauch dieſer Sitten aus dem Grunde der Wahrhaftigkeit zu
tadeln iſt; eher vielleicht ihre Erfindung aus andern Gruͤnden
als ein vergebliches und ſich ſelbſt aufhebendes Unternehmen.
Gewiß aber hat wegen dieſer entſchiedenen Ungleichheit der
Beziehungen Ariſtoteles beſſer gethan, die Wahrhaftigkeit des
Umganges, wiewol er ſie in einem groͤßeren Umfange ver—
ſtand, ganz abzuſondern von der Wahrhaftigkeit der Geſchaͤfte.
Bei Fichte findet ſich fuͤr dieſe Abſonderung freilich kein
Grund, aber auch uͤberall keine Veranlaſſung die Wahrhaftig—
keit auch auf das bloß erheiternde Geſpraͤch auszudehnen.
Denn er gruͤndet die Verpflichtung dazu nicht wie Kant auf
211
ein Verhaͤltniß des Menſchen gegen ſich ſelbſt, ſondern auf
die Befoͤrderung des Freiheitsgebrauches anderer. Welche Ver—
ſchiedenheit des Verpflichtungsgrundes bei Syſtemen gleicher
Art nicht geringen Verdacht erregt. Wenn aber Fichte die
Wahrhaftigkeit auf denſelben Grund baut wie die Wohlthaͤ—
tigkeit, und alſo als Geſinnung beide fuͤr eins erklaͤrt: ſo hat
dagegen Kant, als Pflicht betrachtet, die Wahrhaftigkeit in
Streit geſezt mit der Wohlthaͤtigkeit, wie er dieſe in ihrem
eigentlich ſittlichen Charakter beſchreibt. Denn nachdem er die
Pflichten gegen andere eingetheilt hat in ſolche, wodurch der
ausuͤbende andere verpflichtet, und ſolche, wo dies nicht ge=
ſchieht, die Wohlthaͤtigkeit aber unter die erſteren verſezt, ſo
will er doch, daß der Schein, als daͤchte der Wohlthaͤter den
andern dadurch zu verpflichten, ſorgfaͤltig ſolle vermieden were
den, welches doch offenbar heißt den andern glaubend machen,
was nicht iſt. Oder es muͤßte der Wohlthaͤter ſich ſelbſt,
ohnerachtet er die Wahrheit jener Eintheilung eingeſehen, dafs
ſelbe uͤberreden wollen, und um die aͤußere zu vermeiden zur
innern Luͤge ſeine Zuflucht nehmen. Dieſe auch anderwaͤrts
geruͤhmte und beliebte Tugend oder Pflicht, den Werth fittlis
cher Handlungen, es ſei nun nur aͤußerlich gegen andere, oder
auch im eignen Bewußtſein, ſofern dieſes möglich iſt, zu vers
ringern, haͤngt auch zuſammen mit dem dritten Theile der
in Prüfung ſeienden kantiſchen Pflicht, welcher naͤmlich vers
bietet dem Anſpruch auf eignen moraliſchen Werth zu entſa⸗
gen. Kant fuͤgt dieſem noch den Bewegungsgrund hinzu, es
ſolle naͤmlich nicht geſchehen in der Meinung eben durch dieſe
Entſagung einen andern Werth zu erwerben; als ob dieſes
eine eigne Pflicht waͤre, eine andere aber wieder, das naͤmliche
nicht zu thun um jemandes Gunſt zu erwerben. Dieſes nun
iſt ſchon in der Form falſch, denn die Feſthaltung des mora⸗
liſchen Werthes iſt ſchon eine ſittliche Realitaͤt, und ſo iſt es
immer nur dieſelbe Pflicht, dieſe feſtzuhalten gegen jeden uns
ſittlichen Antrieb; die Verſchiedenheit des unſittlichen aber kann
nicht ein Grund ſein zur Theilung des ſittlichen. Ueberdies
| | IR
248
aber ift jener Bewegungsgrund eine ſchlechte Formel. Denn
iſt der vermeinte Werth als ein nicht ſittlicher gemeint, ſo
ſchließt ſie ja alle uͤbrigen in ſich, und der Unterſchied iſt auch
von dieſer Seite betrachtet nichts; iſt er aber gemeint als ein
ſittlicher, fo würde fie ſich aufloͤſen in die, nicht etwas nicht
ſittliches zu halten fuͤr ein ſittliches, welches, wenn es eben
ſo fuͤr jeden beſonderen Fall als eine eigne Pflicht aufgefuͤhrt
wuͤrde, neben der eigentlichen Reihe der Pflichten noch eine
andere gleichlaufende hervorbringen muͤßte, welche nur aus—
ſagte den Irrthum zu vermeiden uͤber die Pflicht. Was aber
die Sache ſelbſt betrifft, ſo findet noch der Doppelſinn ſtatt,
ob der ſittliche Werth des Subjects, welcher auf ſeinen wirk—
lichen Geſinnungen und Thaten beruht, der Gegenſtand der
Schaͤzung ſein ſoll, oder der allgemeine Werth der Menſchheit
in ſeiner Perſon, oder ob beides nicht zu unterſcheiden iſt.
Wie dem aber auch ſei, ſo ergiebt ſich im folgenden eine an—
dere Pflicht dieſe Selbſtſchaͤzung zu beſchraͤnken durch die Red—
lichkeit andere zu fihäzen, fo daß beide Pflichten einander auf-
zuheben trachten, und alſo, den aufgeſtellten Grundfäzen ge—
maͤß, noch keinesweges als Pflichten geſezt ſind, ſondern nur
als ſittlich unbeſtimmte Handlungsweiſen, welche um Pflich—
ten zu werden auf ein gemeinſchaftliches Princip muͤßten be—
zogen, und durch daſſelbe entweder jede in ſich ſelbſt mit Auf—
hebung alles Streites gegen die andere begrenzt und beſtimmt,
oder vielleicht mit Aufhebung der Ruͤkkſicht auf das eigne
und fremde beide nur als eine und dieſelbe dargeſtellt werden.
Oieſes aber fehlt nicht nur bei Kant, ſondern uͤberall; denn
überall liegt die Beſcheidenheit mit der Selbſtſchaͤgung im
Streit, indem bald jener ſoviel eingeräumt wird, daß für
dieſe kein Raum bleibt, bald dieſe ſo weit ausgedehnt, daß
jene keine Anwendung behaͤlt, und ſo einigen die Beſcheiden—
heit als Kriecherei, anderen aber die Selbſtſchaͤzung als Hoch—
muth erſcheint. Und noch mehr iſt der Inhalt ganz ſchwan—
kend und verſchwindet bei der genaueren Betrachtung. Denn
das eigne Anerkennen der ſittlichen Natur kann keine beſondere
*.
130 5 213
Pflicht ſein, weil es uͤberhaupt der Unterwerfung unter alle
Pflichten zum Grunde liegt, und es wuͤrde in dieſer Hinſicht
nicht beſſer fein, als jene beſondere Pflicht ſich die Pflicht zur
Triebfeder zu machen. Daß aber andere dieſe Natur aner—
kannten, iſt vorauszuſezen in Beziehung auf jeden, mit wel⸗
chem ſie in Gemeinſchaft treten oder verharren, und was ſie
auch jener Vorausſezung dem Anſchein nach widerſtreitendes
thun koͤnnten, kann niemals dieſe bleibende Buͤrgſchaft übere
wiegen. Daher auch ſchwerlich irgend eine Aeußerung oder
That eines Menſchen gegen den andern ſo auszulegen iſt, als
entftände fie aus einem bleibenden Verkennen feiner ſittlichen
Natur. Denn was gewoͤhnlich als ein folches angeführt wird,
wenn naͤmlich einer den andern als Sklaven hat oder als
bloßes Werkzeug des Scherzes, welches zur Beluſtigung des
andern jede beliebige Kraft des Gemuͤthes bewegen muß, auch
dieſe Zuſtaͤnde ſind doch weder von der Art, daß jede Spur
von Gemeinſchaft dabei verſchwaͤnde, noch auch läßt ſich laͤug⸗
nen, daß fie von andern, welche jeder als zulaͤſſig anerkennt,
nur dem Grade nach verſchieden find. Soll aber die Schaͤ⸗
zung nicht auf die gemeinſchaftliche Natur gehen, ſondern auf
die beſondere Sittlichkeit eines jeden, ſo kann dieſe richtig zu
erkennen und zu wuͤrdigen nicht einmal fuͤr jeden ſelbſt Pflicht
ſein, weil die unrichtige Angabe, wenn ſie bloß aus einem
Rechnungsfehler während der Geſchaͤftigkeit des prüfenden
Verſtandes hervorgegangen iſt, nicht kann als unſittlich ange
ſehen werden. Sondern Pflicht koͤnnte bloß fein die Unterz
ſuchung nach einer ſolchen Methode anzuſtellen, welcher keine
unſittliche Vorausſezung zum Grunde liegt, welches aber von
keinem iſt als die Hauptſache angeſehen worden, und auch
nur mit Unrecht eine Pflicht der Selbſtſchaͤzung konnte ge—
nannt werden. Daß es nun gar eine eigne Pflicht geben
ſollte, andere zu richtiger Anerkennung unſerer eigentlichen
Sittlichkeit zu bewegen, dieſes iſt, wenn naͤmlich die Freund—
ſchaft ſo ganz verkannt wird, wie Fichte, oder ſo enge einge—
ſchraͤnkt, wie Kant es thut, kaum zu denken. Denn eine
214
Pflicht uns Handlungen zu widerſezen, die auf einem unrich⸗
tigen Urtheile zu beruhen ſcheinen, koͤnnte ſich dennoch auf
dieſen Bewegungsgrund nicht beziehen, ſondern muͤßte in der
Beſchaffenheit jener Handlungen ihren Grund haben; fuͤr den
Wunſch aber ihre Erkenntniß zu berichtigen muͤßte ihr Urtheil
uͤber andere eben ſowol ein Gegenſtand ſein, als das uͤber
uns. So daß dieſer Theil der vermeinten Pflicht zur erwei⸗
ternden Wahrheitsliebe gehoͤren wuͤrde, fuͤr jenen aber, wenn
er anders etwas reales ſein ſoll, ein anderer Ort muͤßte ge—
ſucht werden. Es ſcheint aber die Urſache der Verwirrung
die zu ſein, daß der ſittliche Werth und deſſen Anerkennung
derwechſelt worden iſt mit dem buͤrgerlichen, welches auch
überall auf die Behandlung des guten Rufes von nachtheili—
gem Einfluß geweſen iſt. Dieſes nun bezog ſich auf die prafs
tiſche Sittenlehre. In der eudaͤmoniſtiſchen aber iſt die Wahr⸗
heit gar nichts an ſich, und nur die Wahrheit des natuͤrlichen
und zufaͤlligen, ſofern ihm noch ein Einfluß bevorſteht auf
das Hervorbringen der Luſt und Unluſt, hat einen beſtimmten
Werth. Nach der Wahrheit des gegenwaͤrtigen aber kann
keine Frage entſtehen, und noch weniger die des vergangenen
einen Werth haben. Vielmehr muß die ſittliche Selbſtſchaͤ⸗
zung an Sittlichkeit nämlich an Luft gewinnen durch die na—
türliche Taͤuſchung des Urtheils, welche oft als hervorgebracht
angiebt, was nur zufällig erreicht war, und durch die Falſch—⸗
heit der Erinnerung, welche aus der Vergangenheit allemal
mehr die Luft herausholet als den Schmerz, fo daß es ſogar
zur Aufgabe wuͤrde dieſe Taͤuſchung hervorzubringen und zur
Gewohnheit zu machen. Noch weniger aber kann die Wahr⸗
heit in andern einen Werth haben, ſondern oft iſt aus ihrer
nachtheiligen Meinung mehr Luſt hervorzubringen, als aus
der richtigeren und guͤnſtigen. Daher es auch von den wahs
ren Meiſtern dieſer Lebensweiſe fuͤr eine Tugend, das heißt
Heine Maaßregel der Klugheit gehalten wird, ſelbſt wenn man
der Wahrheit und der Ehre eine eigenthuͤmliche Luſt zuſchrei⸗
den wollte, dieſer doch ihrer Wandelbarkeit wegen feinen une
215
bedingten Werth beizulegen. Daſſelbe aber wuͤrde auch gel«
ten von der ſympathetiſchen Ethik, fuͤr welche unter andern
jene Verringerung des Werthes eigner Handlungen zur Scho—
nung des fremden Gefuͤhls eine natürliche Grenze der Wahr—
haftigkeit wäre, und von welcher alle Vorſtellungen von wohl⸗
thätigen Taͤuſchungen glüfflichen Irrthuͤmern und dergleichen
ausgegangen find, Diefe nun nach ihrer Sittlichkeit zu beur⸗
theilen, iſt nicht dieſes Ortes; daß aber die Wahrheit dabei
gaͤnzlich verſchwindet, iſt klar; und wenn einige unter dieſen
Sittenlehtern ihren Haß gegen die Gerechtigkeit fo offenbar
bekannt haben, fo iſt zu verwundern, warum fle nicht auch
ſagen, die Wahrheit anzuzeigen ſei mehr die Eigenſchaft einer
Uhr als eines Menſchen. Auch die Regel um die Selbſtſchaͤ⸗
zung und die Beſcheidenheit zu vereinigen, welches allerdings
in dieſem Syſtem gefordert wird, kann nicht die Wahrheit
ſein, ſondern das Abwaͤgen der gegenſeitigen Luſt und Un⸗
luſt, deren Veraͤnderlichkeit dann auch jenen Begriffen keine
Sicherheit ihres Inhaltes zuruͤkklaͤßt. Aus einem andern
Grunde aber fehlt bei Fichte die Pflicht der Selbſtſchaͤzung
ſowol als der Selbſterkenntniß, weil er naͤmlich es ſich zum
Geſez ſcheint gemacht zu haben, keinem bloß innern Handeln
eine Stelle einzuraͤumen in der eigentlichen Pflichtlehre. Da⸗
her auch die Berichtigung des Urtheils anderer uͤber unſere
Sittlichkeit keine eigne Pflicht ſein kann: denn unmittelbar
erfolgt ſie aus Liebe zu ihrer Freiheit in jedem Falle, wo ihr
Urtheil unmittelbar praktiſch für fie fein würde; mittelbar
aber kann nichts dazu geſchehen, als daß jeder feine Sittlich—
keit handelnd darſtellt, wo denn die Beziehung auf jenen
Zwekk nur ein begleitendes Bewußtſein wäre. Eben ſo er—
geht es ferner der von Kant aufgefuͤhrten beſondern Pflicht
der Erhoͤhung der ſittlichen Vollkommenheit. Denn ſo wie
dieſe Maxime als hoͤchſte ethiſche Idee vorgeſtellt, welches
ſchon im erſten Buche erwaͤhnt worden, jeder bloß ausuͤben—
den Pflicht widerſtreitet: ſo widerſtreitet ſie als einzelne Pflicht
gedacht der Idee von einem fuͤr jeden Augenblikk beſtimmten
216
Beruf. Nach dieſer nämlich ift das eigentlich ſittliche Bes
ſtreben nur dieſes, die Pflicht in jedem Augenblikk ganz zu
vollbringen, welches wenn es gelingt keiner weiteren Forde—
rung einer Vervollkommnung Raum laͤßt. Daß aber dieſes
in Beziehung auf das vergangene jedesmal beſſer gelinge, ſezt
theils die Selbſterkenntniß voraus, welche ebenfalls aufgeloͤſt
iſt und unnoͤthig gemacht durch die Pflichterkenntniß, theils
kann es ſich doch nicht in eignen Handlungen aͤußern, ſon⸗
dern bleibt ebenfalls nur ein inneres, ein die beſtimmte Pflicht⸗
erfuͤllung begleitendes reflectirendes Bewußtſein. Nur iſt auf
der andern Seite auch Fichte jenem Geſez das bloß innere
Handeln gaͤnzlich auszuſchließen nicht treu geblieben. Denn
er ſtellt doch auf eine Pflicht die Sittlichkeit im allgemeinen
zu befoͤrdern, von welcher er ebenfalls einſieht, daß ſie keine
eigenen Handlungen veranlaſſen kann, ſondern erfuͤllt wird,
indem jeder das ihm obliegende gute vollbringt, welche Pflicht
alſo entweder gar nichts if, oder auch ein dieſe Vollbringung
begleitendes Bewußtſein jener Abſicht. Worin alſo ein Irr—
thum liegt, welcher Bedenken erregen muß auch uͤber die for⸗
male Richtigkeit jener Auslaſſungen und uͤberhaupt uͤber ſeine
Anſicht von dieſer Sphaͤre der Pflichten. Nicht mindere Un⸗
beſtimmtheit und Verwirrung findet ſich auch in ſeinen unbe⸗
dingten beſonderen Pflichten, wenn man fie vergleicht mit den
gleichen bedingten. Zuerſt naͤmlich entſteht Zweifel, ob und
wie die allgemeine Regel, ſeinen Stand nicht nach Neigung,
ſondern nach Einſicht zu waͤhlen, ſich auch erſtrekke auf die
naturlichen Stände, in welchen doch auch die Wahl nicht
ganz kann ausgeſchloſſen werden. Denn wenn auch die Liebe
nicht von der Freiheit abhängt. inſofern ihr ein Naturtrieb
Veigedniſchr iſt: ſo zeigt doch. eben dieſe Erklaͤrung, daß es
noch etwas anders in ihr giebt, welches allerdings von der
Freiheit abhängt. Sonach iſt ganz unentſchieden, ob dieſes
andere in Beziehung auf eine beſtimmte Perſon mit dem Na⸗
turtriebe zu verbinden, oder nicht, eine Sache der Wahl ſei;
und ob bei dieſer Wahl die Einſicht entſcheiden dürfe oder
Yet, 217
was ſonſt. Eben fo, wenn auch die Handlung, welche den
Trieb befriedigt und die Fortpflanzung bewirkt, allemal aus
dem Triebe hervorgehen muß: ſo iſt doch nicht geſagt, daß
ſie jedes Mal geſchehen muͤſſe, wenn der Trieb ſie fordert,
und ſonach unentſchieden, ob die Beurtheilung, welche dabei
Statt findet, ſich auch beziehen duͤrfe auf eine freie Wahl in
Abſicht der Vervielfaͤltigung des elterlichen Verhaͤltniſſes. In
welcher Hinſicht denn die alten Sittenlehrer weit beſtimmter
ſind, welche, indem ſie die Ehe bloß um der Kinder willen
ſezen, fuͤr die Gattin die Gruͤnde der Wahl, fuͤr die Anzahl
der Kinder aber ein zutraͤgliches Maaß anzugeben nicht un—
terlaſſen, und vieles war bei ihnen ſchaͤndlich in dieſer Hin—
ſicht, was bei und überall nicht pflegt zur ſittlichen Beurthei—
lung gezogen zu werden. Eine ſolche Beſtimmtheit aber muß
fuͤr die Wiſſenſchaft gefordert werden, und kann weder durch
die Selbſtſtaͤndigkeit der Ehe noch durch die Vermiſchung des
freien und unfreien unmoͤglich gemacht ſein. Ferner auch
ſcheint die Beſtimmung und Eintheilung des Berufs theils
nicht nach Grundſaͤzen, ſondern nach Maaßgabe des vorhan—
denen gemacht zu ſein, und zwar ſo einſeitig, daß kaum ir—
gendwo von Verbindung der verſchiedenen Einheiten in einer
Perſon die Rede iſt. Theils auch ſcheint ſie jener Regel von
der freien Wahl des Berufs nach beſſerer Einſicht zu wider—
ſtreiten. Denn die verſchiedenen Arten ſind hier ſo conſtruirt,
daß eine der andern in ethiſchem nicht etwa nur in buͤrgerli—
chem Verſtande ſich untergeordnet zeigt; zur Wahl nach Ein—
ſicht aber gehoͤrt vornaͤmlich die Kenntniß des weſentlichen
Unterſchiedes, woraus denn hervorgeht, daß einer freiwillig
feinem Anſpruch zu den höher gebildeten Menſchen zu gehören
entſagen muß, welches, wenn nicht ein natürlicher und ange—
borner Unterſchied an Geiſteskraͤften ſogar der Art nach ans
genommen wird, für jeden Fall eine unſittliche Handlungs-
weiſe entweder des waͤhlenden ſelbſt vorausſezt, oder derer,
welche ihn vorläufig zur Wahl nach Einſicht bilden ſollten,
oder endlich der Gemeinheit, welcher beide angehoͤren; ſo daß,
218
welcher auch gelten möge, die Möglichkeit einer ſolchen Eins
theilung unter der Vorausſezung jener Regel auf dem unſitt—
lichen beruht. Deshalb auch hier uͤber die einzelnen Begriffe,
uͤber die Art wie ſie gefaßt ſind, und wie ihnen durch die
ertheilten Vorſchriften Genuͤge geſchieht, nichts weiter zu ſa—
gen iſt.
Gehen wir nun zu den gewoͤhnlich ſogenannten allge—
meinen Pflichten gegen andere: ſo iſt es eben hier, wo die
Verwechſelung des Pflicht- und Tugendbegriffes nicht mehr in
einzelnen Faͤllen, ſondern faſt allgemein vorkommt. So daß
dieſe Verwirrung der Form nicht mehr einzeln wird ange—
merkt werden, ſondern nur hier wird noch, einmal fuͤr alle,
zuruͤkkgewieſen auf dasjenige, was vom Verhaͤltniß dieſer Be—
griffe iſt geſagt worden, und wie eine Formel, welche als fuͤr
die Pflicht berechnet unzulaͤnglich und unbeſtimmt noch weni⸗
ger eine Tugend bezeichnen kann, und umgekehrt. Nach die—
fer Erklaͤrung nun knuͤpfe ſich zunaͤchſt an das vorige an ein
Verhaͤltniß, in welchem gemeinhin ebenfalls eine freiwillige
ethiſche Selbſtunterwerfung gedacht wird, naͤmlich das der
Wohlthaͤtigkeit und Dankbarkeit. Bei Fichte zwar iſt die
Wohlthaͤtigkeit am folgerechteſten fuͤr jede praktiſche Ethik gar
nicht auf das Wohlbefinden des beduͤrftigen bezogen, ſondern
lediglich auf dasjenige, was fuͤr alle als die gemeinſchaftliche
Bedingung der Freiheit und des ſittlichen Handelns in der
Sinnenwelt aufgeſtellt if. So daß auch der duͤrftige we—
nigſtens von allen gemeinſchaftlich, wenn auch nicht von je—
dem einzelnen die Ausuͤbung der Wohlthaͤtigkeit fordern kann
als ſein Recht, und daher die Dankbarkeit wenn nicht ganz
verſchwindet doch ihren Siz veraͤndert und nicht mehr eine
Pflicht waͤre des beduͤrftigen gegen den Wohlthaͤter, ſondern
vielmehr der Gemeinheit gegen den einzelnen, welcher als ein
ſich ſelbſt dazu aufwerfender Bevollmaͤchtigter ihre Pflicht hat
erfuͤllen wollen. Hiebei aber iſt zu bemerken, eines Theils,
daß auf dieſe Art auch die Wohlthaͤtigkeit keine reine Pflicht
ſein kann, ſondern nur auf einem Zuſtande beruht, und mit
F
219
ihm ſelbſt in einer beſſeren Zeit verſchwinden muß, deſſen Auf⸗
hebung als ſittlich nothwendig angezeigt iſt. Auf welche
Weiſe denn grade in der Hinſicht, in welcher Kant ſie zu
wuͤnſchen ſcheint, die Verwandlung der Liebespflicht in Rechts—
pflicht eintreten wuͤrde, ohne doch die Darſtellung der Welt
als eines ſittlich ſchoͤnen ganzen zu behindern. Andern Theild
aber, daß die Wohlthaͤtigkeit, wie Fichte ſie angiebt, den ge—
woͤhnlichen Begriff nicht ausfuͤllt, ſondern in dieſem auch mit
enthalten iſt ſeine Dienſtfertigkeit. Und in dieſen abgeſonder—
ten Begriff ſcheint ſich bei ihm jene Unſtatthaftigkeit zuruͤkk—
gezogen zu haben, welche ſonſt dem ganzen einwohnt. Denn
ſobald ein Beruf geſezt iſt, hat auch jeder in jedem Augen—
blikke für einen eignen Zwekk, welcher gewiß ſittlich iſt, etwas
zu verrichten, und jeder Verſuch die Zwekke anderer zu befoͤr—
dern waͤre einerſeits ein verbotenes abenteuerliches Aufſuchen
einer Tugenduͤbung, weil er naͤmlich ein Hinwegſehen iſt von
der aufgegebenen beſtimmten und ununterbrochen fortgehenden
Pflicht, andererſeits aber eine Kluͤgelei, oder die Anmaßung,
etwas das ich nicht weiß demjenigen vorzuziehen, was ich
weiß. Welchergeſtalt denn von der Dienſtfertigkeit nichts uͤbrig
bleiben würde, als das natürliche Ineinandergreifen der vers
ſchiedenen Berufsarten, in deſſen Bewußtſein und der daraus
entſtehenden Verehrung der niedern Staͤnde gegen die hoͤheren
auch die Dankbarkeit ganz im kantiſchen Sinne als Vereh—
rung des Wohlthaͤters und Beſtreben nach Gegendienſten ver-
borgen liegt, und auch ganz auf einem eingeſchlichenen unſitt—
lichen beruht. Dieſes aber iſt bei Kant ſelbſt noch weit of—
fenbarer der Fall mit der Dankbarkeit und Wohlthaͤtigkeit, ſo
wie beide zuſammengehoͤren, und uͤberall, wo auf dem Grunde
einer praktiſchen Idee eine auf Gluͤkkſeligkeit gleichviel ob eigne
oder fremde ſich beziehende Pflicht aufgebaut wird. Bei Kant
beſonders beruht die Wohlthaͤtigkeit auf der Vorausſezung,
daß jeder wolle, ihm ſolle aus der Noth geholfen werden.
Dieſer Wille aber iſt ſo unbedingt kein ſittliches Wollen in
der praktiſchen Ethik. Sondern, da auch in der Noth noch
220
Tugenduͤbungen und Pflichterfuͤllungen möglich find, und dies
fer Zuſtand das ſittliche Daſein nicht ſchlechthin aufhebt: fo
wird der Wille ihn zu veraͤndern ſittlich oder unſittlich, je
nachdem der Preis es iſt, welcher gegeben werden ſoll. Ohn—
ſtreitig aber iſt der Preis einer ſolchen Selbſtunterwerfung,
wie fie in der Dankbarkeit geſezt iſt, durch welche eine im
merwaͤhrende ſittliche Ungleichheit geſtiftet wird, welche noch
uͤberdies nur auf dem Zufall beruht, naͤmlich auf der Gele—
genheit wohlzuthun, und nicht auf der Geſinnung, in Hinſicht
auf welche gar wol der beduͤrftige dem Wohlthaͤter gleich
ſein kann und uͤberlegen; ein ſolcher Preis iſt auf jeden Fall
unſittlich, und das Verhaͤltniß eine Herabwuͤrdigung des fitts
lichen Werthes wegen eines ſinnlichen Zwekkes. Ja ſchon
indem dem Wohlthaͤter Anſpruͤche auf wenigſtens gleiche ei—
gentlich aber auf unendliche Gegendienſte zugeſtanden werden,
müßte mit der Möglichkeit der Wohlthaten auch die Moͤg—
lichkeit einer ſittlichen Sclaverei ethiſch geſezt werden, und die
Erloͤſung aus der Noth waͤre der Preis, um welchen die Freis
heit geſezmaͤßig dürfte verkauft werden. So daß die Dank—
barkeit vorausgeſezt der Verpflichtungsgrund zur Wohlthaͤtig—
keit unmoͤglich wird, auf welcher doch wiederum die Dank—
barkeit beruht, und das Syſtem von Pflichten in ſeiner Wech—
ſelbeziehung als ganz unzulaͤſſig erſcheint. Wenn aber auch
die Wohlthaͤtigkeit auf einem andern Grunde beruhte und
alſo fuͤr ſich beſtehen koͤnnte: ſo bliebe doch die Dankbarkeit,
wie man auch den Begriff einſchraͤnke, ſobald ſie ſich nur auf
ſelbſtgenoſſene Wohlthaten beziehen ſollte, fuͤr die praktiſche
Ethik ganz unzulaͤſſig. Denn wenn auch uͤber die Sittlich—
keit in den Beweggruͤnden einer genoſſenen Wohlthat die
groͤßte Gewißheit zu erlangen waͤre, ſo koͤnnte doch aus die—
fer perſoͤnlichen Beziehung keine Verehrung entſtehen, fondern
dieſe müßte ſich ausdehnen auf alle auch gegen andere aus-
geuͤbte Wohlthaten, wie ſie als ſittlich einem jeden bekannt
werden, ja auch auf die Geſinnung, welche nur durch aͤußere
Umſtaͤnde in den thaͤtigen Erweiſen iſt gehindert worden. Die
221
Verpflichtung aber zu gleichen Dienften wärde noch außerdem
entweder auf dem Verpflichtungsgrunde zur Wohlthaͤtigkeit
uͤberhaupt beruhen muͤſſen, und alſo der vorhergegangenen em⸗
pfangenen Wohlthat nicht beduͤrfen, oder mit dieſer im Streit
ſein, und alſo noch eine neue und andere Beſtimmung beider
Begriffe nothwendig machen. Im Eudaͤmonismus wiederum
kann die Dankbarkeit keinen andern Sinn haben, als entwe—
der, ſofern ſie Vergeltung iſt, die Verbindung aufzuloͤſen, wel—
ches vorausſezt, daß dieſe Unluſt macht, daß alſo der Wohl—
thaͤter entweder gar nicht in Beziehung auf den Empfaͤnger
gehandelt hat, welches ohnedies nicht gedacht werden kann,
ſondern nur deſſen vorausgeſehene Unluſt als Mittel gebraucht,
um fuͤr ſich die Luſt zu gewinnen, die ihm aus der Vergel—
tung entſteht; oder daß er, wenn fein Zwekk auf eine ange⸗
nommene eigenthuͤmliche Luſt des Wohlthuns gerichtet war,
dieſen uͤberſchritten hat, wofuͤr er eine Gegenluſt gewiß nicht
verdient. Oder es ſoll die Dankbarkeit ein Reizmittel ſein,
um zu neuen Wohlthaten aufzumuntern; dann aber verliert
ſie theils die Beziehung auf eine empfangene Wohlthat, und
muͤßte aus gleichem Grunde gegen alle bewieſen werden, welche
in dem Fall wohlthun zu koͤnnen eines ſolchen Reizmittels
empfaͤnglich und beduͤrftig ſind; in welcher Hinſicht ſie dann
ganz identiſch waͤre mit jener Wohlthaͤtigkeit, und das we—
ſentliche Merkmal des Begriffs, in wie fern er ſittlich ſein
ſoll, anderwaͤrts muͤßte aufgeſucht werden; theils ließe ſich
doch kein ſittlicher Grund aufſtellen fuͤr die Erwartung, daß
die Luſt den Empfaͤnger bewegen wuͤrde dem Urheber wieder
Luſt zu machen, außer wenn eine damit verbundene Unluſt
vorausgeſehen wird, welche abgeſchuͤttelt werden muß, in wel—
chem Falle dann zwiſchen Wohlthat und Beleidigung ſo wie
zwiſchen Dankbarkeit und Rache oder Schadenerſazforderung
eine wunderbare und hoͤchſt verwirrte Identitaͤt entſtehen
muͤßte. Ueberdies aber muͤßten doch beide Begriffe ſo begrenzt
werden, daß nur das auf einen andern verwendet wuͤrde, was
dem Beſizer felbſt in Beziehung auf die eigenthuͤmlich damit
222
verbundene Luft wieder brauchbar ift, wodurch beide Begriffe
in den eines liberalen Tauſches uͤbergehn, und gar kein eigen—
thuͤmliches Verhaͤltniß übrig bleibt. Wie aber in der ſympa⸗
thetiſchen Ethik etwas ganz aͤhnliches erfolgt, darf wol kaum
noch ausgefuͤhrt werden. Eben ſo wird jeder einſehn, daß
auch die Wohlthaͤtigkeit fuͤr ſich betrachtet in der praktiſchen
Ethik noch genauerer Beſtimmungen beduͤrfte, um als Pflicht
aufgeſtellt zu werden oder als Tugend, wie ſelbſt nach der
fichteſchen Erklaͤrung, welche doch die beſtimmteſte und be—
gruͤndetſte iſt, aus den unbeſtimmten Vorſchriften erhellt, daß
einerſeits auch zur Wohlthaͤtigkeit die Veranlaſſung ſich dar—
bieten muͤſſe, andererſeits aber jeder ſolle ihrentwegen haus—
haͤlteriſch ſein und ſparſam, und was ſonſt noch zu leſen iſt.
Was aber uͤber dieſen Gegenſtand die alten und vornaͤmlich
die Stoiker in dem Abſchnitte von den Pflichten genauer be—
ſtimmt gehabt, davon iſt wenig uͤbrig geblieben, welches,
theils mehr in das Gebiet der Staatsverwaltung hinuͤberge—
zogen als das ſittliche Leben uͤberhaupt umfaſſend, theils auch
ſeiner Natur nach nicht beſſer als das bisher erwaͤhnte, nur
dasjenige beruͤhrt, was auch Kant unter ſeinen Gewiſſensfra—
gen aufgeworfen, die Grenzen nämlich zwiſchen der Wohlthäs
tigkeit und der Selbſtliebe. So daß auch hier troz dem
Grundſaz von der Unmoͤglichkeit eines Uebermaaßes im wahr—
haft ſittlichen nur ein unbeſtimmter Begriff geherrſcht hat.
Als Tugend betrachtet aber haben ſie ebenfalls die Wohlthaͤ—
tigkeit unter die Gerechtigkeit geſezt und als eine Aeußerung
derſelben aufgeſtellt: ſo jedoch, daß in allen Abtheilungen der
Gerechtigkeit, in der Widerſezung gegen das Unrecht, in dem
Beſtreben jedem gleiche Vortheile aus der Gemeinſchaft zuzu—
ſichern, in dem Wohlverhalten bei Vertraͤgen, uͤberall das
rechtliche mit dem über die ſtrenge Rechtspflicht hinausgehen⸗
den ſo vermiſcht iſt, daß weder eine Abſonderung ſich zeigt,
noch auch zu ſehen ift, was wol als der Inhalt der eigent⸗
lich ſogenannten Guͤtigkeit zuruͤkkbleibe. Außer der thaͤtigen
Huͤlfleiſtung aber iſt auch faſt uͤberall geredet worden von eis
228
ner Pflicht durch die Empfindung Theil zu nehmen an dem,
was andern begegnet. Welche Forderung wol auf dem ge—
woͤhnlichen Wege der praktiſchen Sittenlehre nicht iſt wahrge⸗
nommen worden, ſondern nur in der eudaͤmoniſtiſchen Ethik
theils, noch mehr aber in der ſympathetiſchen ſcheint einhei—
miſch zu ſein. In der lezteren nun muͤßte die Theilnehmung
als ſittlich auch ein ſelbſtiſches Gefuͤhl enthalten, und nirgends
iſt beſtimmt, ob dieſes ſein ſollte die Unluſt, welche aus der
Gleichheit der Individuen entſteht, und der Erwartung des
aͤhnlichen, oder die Luft aus ihrem Gegenſaz und aus der ges
genwaͤrtigen Befreiung. Im reinen Eudaͤmonismus aber
koͤnnte ſie nur ſittlich ſein entweder als unvermiſchte Luſt,
alſo ohne allen Charakter der Theilnehmung als Freude uͤber
das eigne verglichene Wohlergehen, oder als eigenthuͤmliche
uͤberwiegende Luſt, woher auch immer die Rede geweſen iſt
von dem beſonderen Reiz der vermiſchten Empfindungen. So
betrachtet indeß wuͤrde aus der Aufgabe dieſen Genuß theils
mehr in die Gewalt der Willkuͤhr zu bringen, theils von al—
lem, was uͤber ihn hinausgeht und ihn verunreiniget, zu be—
freien die Vorſchrift entſtehn, ſeine Befriedigung nicht ſowol
aus der Wirklichkeit zu ſchoͤpfen, als vielmehr aus den Wer—
ken der nachahmenden Darſtellung; wonach dern die Realitaͤt
der Theilnehmung wieder verſchwindet. Wird aber die Sache,
dieſes alles abgeſondert, aus dem Standpunkt der praktiſchen
Sittenlehre betrachtet, ſo erſcheint faſt noch groͤßere Unge—
wißheit und Verwirrung. Denn was zuerſt den ſtoiſchen
Saz betrifft, daß das Mitgefuͤhl muͤſſe vermieden werden, da—
mit nicht zweie leiden mögen ſtatt eines, dieſer iſt ſchlecht bes
gruͤndet, weil eben wenn der Schmerz kein Uebel iſt auch
ſeine Verbreitung nicht dafuͤr kann gehalten werden. Wiewol
auf der andern Seite aus dieſer Vorausſezung auch keine Ur—
ſach entſteht Schmerz zu haben uͤber den Schmerz, vielmehr
wenn ja dieſes Mitgefuͤhl ſeinen Grund haben ſollte in der
geſelligen Natur des Menſchen, es doch ein ſittlich unbe—
ſtimmtes waͤre, und nicht aus allgemeinen Gruͤnden ſondern
224
aus der Sache fremden in jedem Fall zu ſuchen wäre oder
zu vermeiden. Wird ferner auf das oben ausgefuͤhrte Bezug
genommen, daß doch alles Leiden im allgemeinen betrachtet
ein Uebel iſt: ſo wird zwar ein Gefuͤhl deſſelben entſtehen,
dieſes aber wird keine Theilnehmung ſein, weil in dieſer Be—
ziehung das fremde Leiden und das eigne auf ganz gleiche
Weiſe muͤßte betrachtet und behandelt werden. Wollte end⸗
lich jemand dles alles bei Seite ſezen, und fuͤr die praktiſche
Ethik bloß die Frage uͤbrig laſſen, ob nicht Schmerz muͤſſe
empfunden werden uͤber die Unſittlichkeit anderer als uͤber iht
wahrſtes und eigenſtes Uebel: fo ſcheint es zwar unſtttlich
das unſittliche nicht zu empfinden, bedenklich doch aber auch
das Gefühl, als ob es willkuͤhrlich koͤnne hervorgebracht wer—
den, als eine Pflicht zu fordern. Den Spinoza aber, nach
deſſen Anſicht aus dem reinſittlichen Zuſtande mit jeder an⸗
dern auch die theilnehmende Traurigkeit verbannt wird, weil
die ſittliche Betrachtung auf einer ſolchen Hoͤhe ſteht, wo der
Begriff des unvollkommenen und boͤſen uͤberhaupt verſchwin⸗
det, dieſen moͤchte man fragen, wie denn bei ſeiner Identitaͤt
des Gedankens und Gefuͤhls von dem nachbildenden Gedan⸗
ken an fremde Verſchlimmerung ſich trennen laſſe ein nachbil⸗
dendes Gefühl, und ob nicht die Aufgabe entſtaͤnde ein fol
ches anzunehmen nicht nur, ſondern auch mit der dem Sy—
ſtem unentbehrlichen durchgaͤngigen Freude des frommen zu
vereinigen. Ariſtoteles endlich, wie er nichts weiß von der
Wohlthaͤtigkeit insbeſondere; denn ſeine Freigebigkeit bezieht
ſich nicht auf eine beſtimmte Beſchaffenheit der Zwekke, ſon⸗
dern nur auf eine Art ſie auszufuͤhren: eben ſo wenig auch
weiß er von Theilnehmung, ſondern dem Neide und der Scha⸗
denfreude ſezt er entgegen die Nemeſis, welche nur auf die
Einſtimmung des Ergehens mit der Sittlichkeit ſich bezieht,
und ſonſt führt er kein Gefühl an weder für jene noch für
dieſe allein. Wie unrichtig aber dieſe Nemeſis gezeichnet iſt,
indem ja Neid und Schadenfreude einander nicht entgegenge⸗
ſezt ſind, ſondern eins und daſſelbe, leuchtet ein. Dieſes von
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225
der Wohlthaͤtigkeit und Theilnehmung. Nun auch von der
Uebelthätigfeit, wiefern fie ſittlich fein kann, und von dem
nicht ſchmerzhaften ſondern unwilligen Gefuͤhl uͤber andere,
beides naͤmlich in Beziehung auf unſittliche Thaten und Be⸗
leidigungen, ob vielleicht hieruͤber etwas gewiſſeres irgendwo
zu finden iſt. In der Sittenlehre der Luſt nun iſt offenbar
weder die Rache an ſich ſittlich oder unſittlich, noch auch die
Nachſicht; und eben ſo beides weder der Zorn noch auch die
Sanftmuth; ſondern wie jeder glaubt in jedem Falle am
beſten den Gegner unſchaͤdlich zu machen, ſich ſelbſt aber den
Stachel aus der Wunde zu ziehen, ſo iſt es ihm ſittlich und
recht. In der ſympathetiſchen Ethik aber muͤßte die Sanft⸗
muth eine Vermiſchung ſein aus dem eignen Unwillen und
aus der Sympathie mit dem Beleidiger. Dieſer nun hat in
dem Augenblikk der Beleidigung kein anderes Gefuͤhl als ein
ſelbſtiſches, alſo einen Mangel an Sympathie, mit welchem
ſonach zu ſympathiſiren eine Aufgabe waͤre, welche das Princip
mit ſich ſelbſt in Streit bringt. Soll aber nur ſympathiſirt
werden mit dem vorausgeſehenen Zuſtande der Reue: ſo waͤre
dieſe Regel theils ohne Grund, theils wuͤrde ſie in ihrer wei—
teren Anwendung unausbleiblich die Theilnehmung aufheben.
Die praktiſche Ethik endlich hat hierin dieſelben Schwierigkei—
ten zu uͤberwinden, wie oben bei der Theilnehmung. Und wie
auch die Frage dem Inhalt nach moͤchte entſchieden werden,
ſo muͤßte hernach noch die beſondere Pruͤfung angeſtellt wer⸗
den, da die Gemuͤthsbewegungen an ſich und ohne Beziehung
auf ihre Urſachen oder Folgen einer Regel unterworfen ſind,
ob auch das auf jene Art gefundene uͤbereinſtimmte mit dem
allgemeinen Geſez der Schikklichkeit in den Bewegungen, Wels
ches auch mit Recht der einzige Ort iſt, unter welchem dieſes
alles bei den Stoikern angetroffen wird. Wie denn uͤberhaupt
die Vorſchrift uͤber das Gefuͤhl fuͤr das unſittliche nicht nur
ohne Unterſchied das eigne und fremde betreffen muß, fons
dern auch dem Verpflichtungsgrunde nach eine und dieſelbe
fein muß, welche auch das Gefühl für das poſitiv ſittliche
Schleierm. Grundl. P
226
beſtimmt, worauf aber keiner geſehen hat. Was aber das
Verfahren betrifft gegen Beleidigungen: ſo wird von einigen
Sittenlehrern dieſer Art die Nachſicht und die Verſoͤhnlichkeit
gelobt, von andern aber verworfen, und die Bewandniß wird
ganz dieſelbe ſein, wie oben bei der Dankbarkeit in Beziehung
auf die Wohlthaten. Denn auch hier muͤßte unterſchieden
werden die Geſinnung gegen den Thaͤter, und dann deſſen
Behandlung, und in der lezten wiederum was unmittelbar in
Beziehung auf ihn geſchieht von dem, was die That demje⸗
nigen, gegen welchen ſie ausgeuͤbt worden, in Beziehung auf
ſich ſelbſt zur Pflicht machte, wovon lezteres auf Vertheidi⸗
gung und Erſaz abzwekkt, erſteres aber auf Strafe und De,
lehrung. Die Vertheidigung nun kann ſich nur beziehn auf
die ſittliche Wirkſamkeit, und der Begriff iſt unbeſtimmt, wenn
nicht erklaͤrt iſt, welches denn eine wirkliche Behinderung der-
ſelben iſt oder nur eine ſcheinbare. Eben dieſes aber wird
von den meiſten ganz vernachlaͤſſigt, von andern aber, wie
von Fichte, verfehlt. Denn daß die Gefahr des Lebens die
Verlezung des Eigenthums und die Kraͤnkung des guten Ru⸗
fes, wie er ihn erklaͤrt, den ganzen Umfang des zu vertheidi⸗
genden erſchoͤpften, moͤchte keiner glauben, der das ſittliche
von dem rechtlichen unterſcheidet, und auf der andern Seite
moͤchte eine Verpflichtung den guten Ruf gegen falſche Ge⸗
ruͤchte zu vertheidigen zu groß fein, welches ſchon daraus er—
hellt, weil ſonſt die unſittlichen es in ihrer Gewalt haben
wuͤrden, den ſittlichen immer auf dem Wege ſeines eigentli⸗
chen Berufes aufzuhalten und zu einem Handeln auf ſie zu
zwingen. Was aber die Strafe betrifft, fo iſt nicht nöthig
die verworrenen Vorſtellungen zu widerlegen, welche ſich dars
uͤber zum Beiſpiel bei Kant vorfinden, welcher auf die Straf⸗
wuͤrdigkeit des Menſchen vor Gott das Verbot gruͤndet, daß
keiner duͤrfe Strafe verhaͤngen uͤber den andern. Sondern
als zugeſtanden wird vorausgeſezt, daß ethiſch betrachtet Strafe
und Belehrung eins und daſſelbige find, und nur der Me-
thode nach unterſchieden, und die Aufgabe waͤre nur zu be⸗
997
ſtimmen die Anwendbarkeit einer jeden. Denn die Strafe
uͤberall auszuſchließen, die Belehrung aber ins unendliche zu
fordern, wuͤrde den unſittlichen eben wie das geruͤgte eine
unbedingte Uebermacht geben, welches alſo mit der Vertheidi—
gung der eignen nicht nur, ſondern auch der gemeinſchaftli⸗
chen Wirkſamkeit ſtritte. Auf der andern Seite aber die
Strafe uͤberall zu handhaben, wie die Stoiker, welche dem
weiſen die Nachſicht verbieten, dieſes wird entweder die Sache
in den engeren Umkreis des bloß rechtlichen zuruͤkkweiſen, oder
unbedingt dem, welcher unrechtes gethan hat, die Empfängs
lichkeit fuͤr die Belehrung abſprechen. Daß alſo beides muß
vereiniget werden, iſt eben ſo offenbar, als daß noch nirgends
dieſer Punkt aufgezeigt iſt, ſondern die Verſoͤhnlichkeit und
Gelindigkeit ſowol, als die Strenge und Haͤrte ſaͤmmtlich
ethiſch betrachtet ganz unbeſtimmte Begriffe ſind, die zu der
genaueren Beſtimmung, welche gefordert wird, auch nicht die
Elemente enthalten. An die Pflicht aber, die gemeinſchaftliche
Wirkſamkeit der guten zu vertheidigen, ſchließt ſich an die
Frage von der Pflichtmaͤßigkeit oder Pflichtwidrigkeit der Bes
kanntmachung des unſittlichen, deren Entſcheidung wo nicht
abgeleitet doch in weſentliche Uebereinſtimmung gebracht ſein
muß mit der Pflicht der Vermehrung fremder Erkenntniß, wels
ches jedoch mit der von Fichte angegebenen Grenzbeſtimmung
nach dem unmittelbar praktiſchen ſehr zweifelhaft ſein moͤchte.
Bei Kant aber findet ſich gar anſtatt der Uebereinſtimmung
ein Widerſpruch, indem es nicht ſchwer ſein moͤchte von ſei—
ner Antwort zu zeigen, daß ſie auf eine Luͤge hinauslaufe.
Eben derſelbige deutet außer den ſich auf Liebe und auf Ach⸗
tung gruͤndenden Pflichten noch auf beſondere Pflichten oder
Tugenden des Umgangs, jedoch nur unter dem verdaͤchtigen
Namen von Außenwerken, welche unmittelbar nur einen tu—
gendhaften Schein hervorbringen. Wie nun dieſes der gan—
zen Form der Ethik zuwiderlaufe, muß jedem einleuchten. Denn
welches Verhaͤltniß einen tugendhaften Schein anzunehmen
3 „ das iſt nothwendig auch der Tugend ſelbſt fähig.
P 2
228
Daher auch die Stoiker dieſe Vollkommenheiten als Tugenden
betrachtet dem weiſen allein zuſchreiben, und ſie als einen Theil
derjenigen anſehn, welche uͤberhaupt die ſittliche Richtung des
Gefuͤhls bezeichnet. Wie aber was hieher gehoͤrt als Pflicht
von den andern ganz koͤnne abgeſondert werden, iſt ſchwer zu
begreifen. Denn eines Theils iſt klar, daß die Behandlung
aller freien geſelligen Verhaͤltniſſe ſich ebenfalls auf Liebe gruͤn⸗
den muͤſſe und auf Achtung; wo alſo was aus dieſen Ge⸗
ſinnungen folgt vollſtaͤndig aufgezeichnet iſt, da muͤſſen die
Vorſchriften für jene mit darin enthalten fein; theils auch iſt
jedes Geſchaͤft zugleich Umgang und Geſpraͤch, und jedes auch
ernſte und beſtimmte Verhaͤltniß zugleich ein freies geſelliges,
und ſteht unter den Geſezen von dieſen, wenn nicht der voll⸗
ſtaͤndigen Sittlichkeit etwas in der Ausfuͤhrung ſoll vergeben
werden. f
Wie nun uͤberall die einzelnen Pflichtbegriffe entweder
unbeſtimmt ſind, und das Betragen nicht gehoͤrig ordnen koͤn⸗
nen, oder mit andern, mit denen ſie zuſammentreffen ſollten,
im Widerſpruch, ferner von den bloß formalen Abtheilungs⸗
begriffen nicht gehoͤrig geſchieden, daß oft zweifelhaft bleibt,
wo verſchiedene Pflichten oder nur einzelne Anwendungen der⸗
ſelben Pflicht aufgefuͤhrt werden; endlich auch, weil ſie bald
als Pflichten auf die Zwekke und hervorzubringenden Guͤter
bezogen werden, bald wieder als Tugenden einer andern Ein⸗
heit unterworfen, zerſtuͤkkt, und dann uͤbel zuſammenfuͤgbar
an verſchiedenen Stellen des Syſtems angetroffen werden,
dieſes mag aus den durchgefuͤhrten Beiſpielen zur Genuͤge er⸗
hellen. Jezt aber waͤre noch zu ſehen, ob ein beſſeres Schikk⸗
ſal die Tugendbegriff, ſofern fie der Verwechſelung mit den
Pflichten weniger unterworfen ſind, getroffen habe, welches
vornaͤmlich an den Darſtellungen der alten zu unterſuchen iſt,
wo ſie am meiſten in ihrer formellen Reinheit ſich erhalten
haben. Unter ihnen nun ſei der erſte Ariſtoteles mit ſeinen
Haufen, denn anders verdienen ſie nicht genannt zu werden,
von Tugenden, weder nach irgend einer Regel geordnet, noch
229
fonft eine Vermuthung für ſich habend, als ob fie das ganze
der ſittlichen Geſinnung umfaßten, eben deshalb aber jedem,
der die wiſſenſchaftliche Genauigkeit ſucht, auch im einzelnen
ſchon verdaͤchtig. Daher auch, was eben zur Vertheidigung
ſeiner Art die Tugenden zu beſchreiben iſt geſagt worden,
hier zwar wieder anerkannt wird, daß er nicht etwa die Tu—
genden in einem mittleren Grade ſinnlicher, alſo in ſedem
andern unſittlicher Neigungen geſezt habe, ſondern hiedurch
nur die Erſcheinung habe bezeichnen wollen, wie es ſeiner
Weiſe die natuͤrlichen Dinge zu betrachten gemaͤß iſt: den⸗
noch aber nicht ſoll gelaͤugnet werden, daß er hiebei ſeines
Endzwekkes, wenn dieſer auf etwas beſſeres geſtellt war, als
auf eine dunkle Vorſtellung, nothwendig verfehlen mußte.
Denn eines Theils, wie bereits gelegentlich angefuͤhrt worden,
iſt die Bezeichnungsart nicht immer dieſelbe, ſondern die Tu⸗
gend bald in die Mitte geſezt zwiſchen dem Uebermaaß und
der Abweſenheit Einer Neigung, bald eben ſo in Beziehung
auf zwei verſchiedene Neigungen, bald wiederum in die Mitte
zwiſchen zwei Erfolgen ohne allen Bezug auf Neigung. Wie
zum Beiſpiel das gerechte die Mitte zwiſchen Schaden und
Gewinn, welches auch nicht zutreffen wird, wenn nicht wie⸗
der im Kreiſe Schaden und Gewinn nach dem Begriff des
gerechten beſtimmt werden. Oder die Freigebigkeit das Mit⸗
tel zwiſchen zu viel und zu wenig geben und nehmen; wonach
ſich nicht einſehen laͤßt, warum ſie nicht das naͤmliche ſein
ſollte mit der Gerechtigkeit. So daß es an einem Princip
fuͤr die Anwendung der allgemeinen Formel gaͤnzlich fehlt,
und ſomit auch an jeder gegruͤndeten Zuverſicht, daß irgend⸗
wo das rechte getroffen ſei. Ferner geſteht er ſelbſt, daß nicht
jede Mitte einer Neigung die Erſcheinung einer Tugend gebe,
wenn naͤmlich die Neigung ſchon an ſich ſelbſt das unſittliche
enthalte, welches alſo um es zu beſtimmen eine andere und
tiefer gehende Erklaͤrung vorausſezt. Auch hat nicht mit Un⸗
recht Garve ihm vorgeworfen, er ſelbſt habe hier nicht Vor⸗
ſicht genug gebraucht, und die Furcht zum Beiſpiel, in deren
230
eittelmaaß die Tapferkeit fich zeigen ſolle, koͤnne an ſich
ſchon als etwas unſittliches betrachtet werden; welches ſich
gewiß von mehreren Faͤllen behaupten ließe, wenn dies nicht
beſſer jedem ſelbſt uͤberlaſſen wuͤrde, indem die anerkannte Un⸗
tauglichkeit fuͤr die Wiſſenſchaft und der beſchraͤnkte Zwekk
der Formel hier keine genauere Betrachtung verdient. Ferner
find auch zu dieſem beſchraͤnkten Zwekk die gegebenen Erklaͤ—
rungen nicht ſelten unbrauchbar, wie zum Beiſpiel bei der
Tapferkeit ſelbſt erhellt. Denn wird eine ſolche Aeußerung
derſelben geſezt, wo ſie als Furcht erſcheint, ſo iſt nicht zu
erkennen, ob dies in dem wie es ſich gebuͤhrt und wovon es
ſich gebuͤhrt ſeinen Grund habe, oder in der Neigung, welcher
dieſes Maaß fremd iſt, und eben fo wenn fie als Zuverficht
erſcheint. Auch laufen vielfaͤltig die Tugenden in einander,
wenn man jener rechtfertigenden Vorausſezung zufolge nicht
annimmt, daß die Neigungen oder die Gegenſtaͤnde den we—
ſentlichen Unterſchied bilden ſollen. Denn wie ſollte die Ne—
meſis oder die Freude an der Gerechtigkeit des Gluͤkks, und
die Seelengroͤße, welche nach allem ſtrebt, was ſie werth iſt,
etwas anderes fein als Gerechtigkeit; ja ſelbſt die Freund»
ſchaft, wenn anders das Wohlwollen als ein Gut angeſehen
wird, bei welchem Gewinn und Verluſt ſtatt findet, fiele zu—
ſammen mit der Gerechtigkeit, und was fuͤr andere Beiſpiele
noch koͤnnten angefuͤhrt werden. So daß hier auf beſtimmte
und richtige Begriffe gar nicht zu hoffen iſt. Naͤchſtdem aber
iſt zu ſehen auf die von den meiſten alten Sittenlehrern an—
genommene Darſtellung aller ſittlichen Geſinnungen unter den
vier Tugenden der Klugheit der Maͤßigung der Tapferkeit und
der Gerechtigkeit. Wenn nur was der Inhalt und das We—
ſen einer jeden unter ihnen eigentlich ſein ſoll beſtimmt zu
erſehen waͤre, welches leider die allgemeinen Erklaͤrungen der
Stoiker nicht leiſten, von welcher Schule unter allen, die nach
dieſer Anlage die Sittenlehre behandelt haben, nicht nur uns
das meiſte und am meiſten zuſammenhaͤngende uͤbrig geblieben
iſt, ſondern auch uͤberhaupt die groͤßte dialektiſche Genauigkeit
231
zu erwarten wäre. Ihnen zufolge nun iſt zuerſt weder die
Maͤßigung, welche ſich auf das Waͤhlen, noch die Gerechtig—
keit, welche ſich auf das Austheilen bezieht, vorausgeſezt
naͤmlich, daß der Ausdrukk Erkenntniß bei allen die gleiche
Bedeutung habe, zu unterſcheiden von der Klugheit als der
Erkenntniß deſſen, was zu thun iſt. Denn das Waͤhlen iſt
ja das eigentliche Handeln, und jedes Austheilen wiederum
iſt ein Wählen. Wollte man aber die Klugheit nur auf das
mittelbare Handeln beziehn, wodurch das gewaͤhlte zu Stande
kommt, und das im Entſchluß ausgetheilte wirklich eingehaͤn—
digt wird: ſo widerſtreitet dem nicht nur im allgemeinen der
gleiche ja höhere Rang dieſer Tugend, ſondern auch die Bes
ſchreibung einzelner Theile derſelben, wo ſie offenbar auf die
Pflicht bezogen wird. Eben fo iſt die Tapferkeit als Erkennt
niß deſſen, was zu erdulden iſt, theils nur halb und einſeitig
beſchrieben, theils aber auch nicht als eigne Tugend darge⸗
ſtellt, ſondern nur als die hinreichende Staͤrke einer jeden an—
dern. Denn zu erdulden giebt es im Waͤhlen ſowol als im
Handeln und Vertheilen; und es wuͤrde gleichguͤltig ſein,
wenn nicht zur Wirklichkeit gelangt was eine jede beſchloſſen
hat, dieſes dem Mangel der Tapferkeit zuzuſchreiben, oder auch
dem Mangel an Staͤrke der jedesmal aufgeforderten Tugend.
Welches alſo ein gaͤnzliches Zuſammenſchmelzen in Eine Tu⸗
gend ankuͤndigt, ſo daß die verſchieden benannten nicht nur
in der Wirklichkeit nicht gaͤnzlich getrennt fein koͤnnen, wels
ches allerdings nicht die richtige Forderung waͤre, ſondern
daß ſie auch nicht einmal in Gedanken abzuſondern ſind.
Daſſelbe ergiebt ſich auch, wenn man die bei den Stoikern
ihnen untergeordneten Tugenden betrachtet. Denn die Getroſt⸗
heit, welche zur Tapferkeit gehoͤrt, als die Erkenntniß, daß
wir in kein Uebel gerathen werden, was iſt ſie anders als
das Bewußtſein der zur Klugheit gehoͤrigen Gewandtheit, der
Erkenntniß naͤmlich, welche in allen Handlungen einen Aus⸗
gang findet. Eben ſo die Wohlgemuthheit, das Bewußtſein
von der Unuͤberwindlichkeit der Seele, und die Muͤhſamkeit,
232
welche das vorliegende verrichtet ohne fi) von den Beſchwer⸗
den hindern zu laſſen, find nichts anders als die zur ſoge—
nannten Maͤßigung gehoͤrige Beharrlichkeit oder Wiſſenſchaft
bei dem zu bleiben, was einmal richtig geurtheilt ift, und Maͤ⸗
ßigkeit, welche das was der Vernunft gemäß iſt nicht übers
ſchreitet. Ferner die rechte Anordnung des Handelns, wann
ein jedes zu verrichten iſt, welche zu eben der Maͤßigung ge⸗
hoͤrt, wie ſollte ſie zu unterſcheiden ſein von der zur Klugheit
gerechneten Wohlberathenheit, welche einſieht, wie jedes muß
gethan werden, um nuͤzlich zu fein. Aber dieſe untergeordne⸗
ten Tugenden erregen uͤberdies den Zweifel, ob jene vier
Haupttugenden reale Begriffe ſind, oder nur formale, und dem
gemaͤß, ob die untergeordneten real verſchieden ſind, oder nur
als Anwendungen derſelben Geſinnung und Fertigkeit auf vers
ſchiedene Faͤlle. Denn einiges beguͤnſtigt die eine Meinung,
anderes die andere. So kann die Getroſtheit von der Groß—
herzigkeit, welche uͤber das erhebt, was dem guten ſowol als
dem boͤſen begegnet, gar wohl getrennt gedacht werden als
Fertigkeit, keinesweges aber die Muͤhſamkeit von der Ge—
ſchikklichkeit, welche den jedesmal vorgeſezten Endzwekk wirk⸗
lich zu erreichen weiß. Und dergleichen widerſprechende An—
zeigen wird jeder noch mehrere finden, der das Verzeichniß
der ſtoiſchen Tugenden zur Hand nimmt, beſonders wenn noch
damit verglichen werden diejenigen Geſinnungen und Voll⸗
kommenheiten, welche fie, weil fie in das Verzeichniß der Tu⸗
genden ſich nicht fuͤgen wollten, noch als einzelne Eigenſchaf⸗
ten des weiſen auffuͤhren. Dieſe Ungewißheit aber, ob dies
und jenes eine einzelne Tugend ſei, das heißt, demſelben Men⸗
ſchen auch unzertrennt ihrem ganzen Umfange nach als Fer⸗
tigkeit in gleichem Grade und als wirklich Eine beiwohnen
muß, oder umgekehrt, muß auf die Anwendung der Sitten⸗
lehre von entſchiedenem Einfluß ſein. Wenn nun dieſelben
Tugenden auch in der eudaͤmoniſtiſchen Sittenlehre aufgefuͤhrt
werden, ſo iſt wol zu unterſcheiden, ob ſie dem Inhalt nach
dieſelben ſind, oder nur dem Namen nach. Denn die Namen
233
find ihrer Natur nach nur formal, welches die Stoiker ſelbſt
anerkennen, und uͤberall den Beiſaz Gemaͤß der Natur eines
vernuͤnftigen und geſelligen Weſens wollen verſtanden haben,
als welcher erſt den ihrem Syſtem eigenthuͤmlichen Inhalt
hervorbringt. Nun ſollte freilich auch ſchon die Eintheilung
des geſammten Begriffs der Geſinnung fuͤr jede andere oberſte
ethiſche Idee anders ausfallen, und auch die niederen und
abgeleiteten formalen Begriffe nicht zweien Syſtemen gemein
ſein; welcher Vorwurf aber hier zwiſchen beiden ſchwankt, da
auch jene ſich die Eintheilung nicht durch Verbindung mit ih—
rer hoͤchſten Idee ausſchließend angeeignet haben. Wenn aber
nicht nur dem Namen fondern auch dem Inhalt nach prakti⸗
ſche Tugenden ſich einſchleichen in eine Lehre der Gluͤkkſelig⸗
keit, ſo iſt die innere Unhaltbarkeit ſogleich einleuchtend und
entſchieden. Daher eben der beſondere Widerwille dieſer Sit—
tenlehrer gegen die Gerechtigkeit, welche ihnen uͤberall zu viel
ſein muß und zu wenig, weil ſie am wenigſten als aͤchte Tu—
gend mit einem eudaͤmoniſtiſchen Gehalt kann dargeſtellt wer=
den. Denn die Ordnung, in welcher ein jeder wegen des
Nebeneinanderſtehens der Menſchen ſeine Gluͤkkſeligkeit ſuchen
darf, iſt immer nur ein nothwendiges Uebel, auch die hervor—
bringende Eigenſchaft derſelben nicht eine eigne Tugend, ſon—
dern nur eine Anwendung der Klugheit. Worin ob der Eu—
daͤmonismus folgerecht ſei, ſich am beſten zeigen muß in der
Beſtimmung der Billigkeit als des einem jeden innerhalb ſei⸗
nes Gebietes uͤberlaſſenen Theils dieſer Hervorbringung. Denn
dieſe kann, ganz dem praktiſchen entgegengeſezt, nichts anderes
ſein als die geſchikkte Uebertretung des gemeinſchaftlich feſt⸗
geſtellten. Eben ſo darf zur Tapferkeit nur gehoͤren der Wi—
derſtand gegen die Hinderniſſe der Luſt, nicht aber unmittelbar
gegen die des Handelns. Wo es aber anders iſt, und es
findet ſich gewoͤhnlich anders, wie denn leicht Ariſtippos faſt
der einzige in dieſer Hinſicht folgerechte unter denen feiner Art
bleiben möchte, da find die Eudaͤmoniſten in Abſicht der Tu⸗
genden in denſelben Fehler gerathen, wie die Stoiker gegen
234
ſie in Abſicht der Guͤter, und zwar eben auch im Verwerfen
ſowol als im Uebertragen.
Gaͤnzlich aber haben ſich von dieſen vier Formen une
allen, welche die Sittenlehre nach dem Begriff der Tugend
behandelt haben, nur zweie losgemacht, Platon naͤmlich und
Spinoza jeder auf feine eigne Art. Und zwar der erſte, ins
dem er wiederholt den Verſuch macht zu zeigen, daß ſich die
ganze Tugend unter jeder dieſer Formen darſtellen laſſe, wel—
ches ihm auch ohne andere Huͤlfsmittel als die dialektiſche
Kunſtfertigkeit, und ganz abgeſondert von der kosmiſchen und
myſtiſchen Abzwekkung feiner Sittenlehre fo vollkommen ges
lingt, daß diejenige Tugend, welche ſich am meiſten auf die
Berhältniffe gegen andere zu beziehen ſcheint, ſich als dieje⸗
nige zeigt, welche der Menſch am meiſten in und gegen ſich
ſelbſt zu uͤben hat, und welche allein ihn in ſich ſelbſt zu er⸗
halten vermag. Eben fo die Maͤßigung, welche für die in—
nerlichſte gehalten wird, als die, welche das ganze aͤußere Le—
ben durchdringt nicht nur ſondern auch hervorbringt. Endlich
auch die Tapferkeit, welche ſich auf den erſten Blikk am ent⸗
ſchiedenſten von den andern abſondert, und in ein einzelnes
beſchraͤnktes Gebiet zuruͤkkzieht, als eine allgemeine jedem Ver⸗
haͤltniß und jeder That unentbehrliche. Daher das Berufen
auf dieſe Darſtellungen aller weitern Pruͤfung uͤber den wiſ—
ſenſchaftlichen Werth der vier Begriffe uͤberhebt. Denn was
bisher zu ihrer näheren Beſtimmung gethan worden, wider
ſteht dieſer ſo lange ſchon vorhandenen Polemik nicht; andere
Unterſchiede aber auffuchen, oder die innere Veranlaſſung die
ſer Abſonderung und das wahre, was derſelben unbewußt
zum Grunde liegt, darlegen, hieße die Grenzen einer Pruͤfung
des vorhandenen uͤberſchreiten. Spinoza hingegen bewirkt das
naͤmliche dadurch, daß er mit dem Namen einer einzigen von
dieſen, naͤmlich der Tapferkeit, die ganze Tugend bezeichnet;
welches auch mit feinen Grundideen aufs genaueſte zuſammen⸗
haͤngt. Denn da die Tugend das moͤglichſt reine Handeln
iſt, fo läßt ſich ihr unterſcheidendes Weſen nicht beſſer bes
235
zeichnen als durch die Kraft des Widerſtandes, welche den
aͤußeren Einfluß zuruͤkktreibend beherrſcht, und ſo das Leiden
abhaͤlt. Die einzige Eintheilung aber, welche er zulaͤßt, iſt
mit jener vierfachen nicht zu vergleichen; denn jede von dieſen
wuͤrde bald ſo bald anders unter jede von den ſeinigen fallen.
Auch iſt ſie uͤberhaupt nicht als eine ſolche zu betrachten,
welche zwei verſchiedene Tugenden feſtſezen ſollte, welche auch
nur dem Grade nach in der Wirklichkeit von einander koͤnn—
ten verſchieden ſein. Vielmehr giebt es bei ihm keine andere
Trennung, als welche auf der Macht undeutlicher Vorſtellun—
gen beruht, deren keine ausſchließend an eine von dieſen Aeu—
ßerungen der Tugend gebunden iſt; ſondern dieſelbe Urſach,
welche jezt den Edelſinn in ſeiner Wirkſamkeit ſchwaͤcht, wird
in einem andern auch der Beherztheit im Wege ſtehen. Viel—
mehr iſt es nur eine verdeutlichende und vertheidigende Maaß⸗
regel, um deſto auffallender zu zeigen, wie auch nach ſeinem
Syſtem der Geiſt aus der Sphaͤre der Beſchauung, welche
ihn allein feſtzuhalten ſcheinen koͤnnte, in die einer gemeinfa=
men beſtimmten Thaͤtigkeit heraustritt. Die Tugend ſelbſt
aber ift bei ihm nur eine, und untheilbar nicht nur der Wirk⸗
lichkeit nach, ſondern auch für den Gedanken und die Unter-
ſuchung, und kann als ein mannigfaltiges nicht anders be⸗
ſchrieben werden als im Gegenſaz gegen die Mißverſtaͤndniſſe
und Thorheiten, aus denen das ſeiner Natur nach unbeſtimmte
und mannigfaltige Leiden der Menſchen beſteht, auf deren
Verzeichniß daher auch mit Recht ein ſeltener Fleiß von ihm
ift verwendet worden. Von einer Mehrheit einzelner Tugen⸗
den alſo iſt in Beziehung auf ihn nichts weiter zu ſagen.
An hann g.
J. Wes Beiſpiels wegen nur von wenigen in den ver⸗
ſchiedenen Syſtemen der Ethik aufgenommenen Tugenden iſt
gezeigt worden, daſſelbe wäre leicht geweſen von allen zu ers
weiſen, ſowol welche uͤberall, als welche nur irgendwo gel⸗
ten, daß ſie naͤmlich ethiſch betrachtet theils ganz unbeſtimmte
Bezeichnungen ſind, theils von keinem Grundſaze aus, ſobald
man fie unter einander vergleicht, eine mit der andern befte-
hen koͤnnen, ſondern vielmehr jede irgend einer andern ihre
Stelle als ergaͤnzender und unentbehrlicher Theil des Syſtems
beſtreitet. Hieraus nun ergiebt ſich als unvermeidliche Fol⸗
gerung, wenn nämlich alle dieſe Fehler nicht überall bloß dia>
lektiſch ſind, und auf unvollkommnen Erklaͤrungen beruhen,
an welche Uebereinſtimmung und Vollſtaͤndigkeit des Irrthums
wol niemand glauben wird, daß jene Begriffe, ſo wie ſie
nicht durch die Ethik und in ihr entſtanden, ſondern nur aus
dem Gebrauch des gemeinen Lebens in die Wiſſenſchaft heruͤ⸗
bergenommen worden, ſo auch gewiß nicht kraft einer unent⸗
wikkelten nur dunkel gedachten ethiſchen Idee ſind gebildet
worden, ſondern in anderer Hinſicht und in einem andern
Geiſte. Denn waͤre jenes, ſo muͤßten ſie auch leichter irgend
einer deutlich gedachten ethiſchen Idee unterzuordnen ſein, und
die dialektiſche Ausbildung, welche dieſer zu Theil geworden,
auch leichter auf die einzelnen Begriffe uͤbergehen. Liegt nun
237
den im Geiſte des gemeinen Lebens gedachten und gebildeten
Begriffen auch nicht unentwikkelt eine ethiſche Idee zum
Grunde: ſo folgt weiter, daß auch der Geiſt des gemeinen
Lebens noch nirgends ein ſittlicher geweſen, und zwar eudaͤ⸗
moniſtiſch ſo wenig als praktiſch, weil ſonſt doch wenigſtens
in jene Darſtellungen der Sittenlehre die insgemein dafuͤr ge⸗
haltenen Tugenden ſich fuͤgen wuͤrden. Offenbar aber war
bei den alten der Geiſt des Lebens zum größten Theile polis
tiſch, indem ſelbſt die freieren auf den Genuß des Daſeins
unmittelbar berechneten geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe jenem
größeren untergeordnet waren, welches daher auch als hinrei⸗
chend um das hoͤchſte Gut hervorzubringen von den meiſten
gedacht wurde. Ja ſelbſt Ariſtippos, welcher mehr als irgend
einer die hergebrachten Vorſtellungen der Einſtimmigkeit des
Syſtems aufzuopfern geneigt war, konnte vom herrſchenden
Geiſte hingeriſſen behaupten, daß auch nach dem Untergang
aller Geſeze und Verfaſſungen die Philoſophen doch immer⸗
fort leben wuͤrden, als waͤren ſie noch vorhanden. Daſſelbe
alſo wird auch bei ihnen der urſpruͤngliche Gehalt der fuͤr
ethiſch geltenden Begriffe ſein muͤſſen. Welches auch zunaͤchſt
aus den vom Ariſtoteles aufgezaͤhlten Tugenden erhellt, in de⸗
nen bis auf wenige, die ſich auf die kleineren geſelligen Ver⸗
haͤltniſſe beziehen, die politiſche Bedeutung nicht zu verkennen
iſt. Ja dieſer, dem es auch am meiſten ziemt dem gemein⸗
geltenden zu dienen, hat einige bloß buͤrgerliche Eigenſchaften,
welche ſittlich gedacht und beſtimmt mit andern zuſammenge⸗
fallen wären, oder in weiterem Umfange gezeichnet worden,
geradezu und ohne irgend einiges daran zu aͤndern und zu
beſſern in die Reihe der Tugenden aufgenommen. Eben ſo
wenig aber iſt auch daſſelbe zu verkennen an den vier helles
niſchen Haupttugenden, ſowol wie ſie von den meiſten darge⸗
ſtellt werden, als wie die Stoiker ſie in ihre untergeordneten
Theile genauer zerlegen. Wobei, wie man auch aus dem ſieht,
was von der gemeinen Bedeutung in der dialektiſchen Unter⸗
ſuchung des Platon vorkommt, alles was ſich auf die kleine⸗
*
238
ten Verhaͤltniſſe des Lebens bezieht nur einen kleinen Theil
von derjenigen ausmacht, welche von den neueren gewoͤhnlich
durch Maͤßigung uͤberſezt wird, und deren wahre Einheit auch
nur aus dieſem Geſichtspunkt moͤchte zu finden ſein. Endlich
kann auch keinem entgehen, wie in der neuſtoiſchen Behand—
lung der Pflichten nach dem zu urtheilen, was wir durch Ci—
cero erhalten haben, das politiſche vorleuchtet. Schwerlich
aber moͤchte dieſe ganze Neigung nur dem Dollmetſcher zuzu⸗
ſchreiben fein, deſſen Unfaͤhigkeit fo vieles zu verwiſchen fo=
wol als hinzuzufuͤgen niemand bezweifeln wird. Bei den
neueren nun hat dieſer politiſche Geiſt ſich ganz aus dem Tu⸗
gendbegriff herausgezogen und in den Pflichtbegriff geflüchtet.
Offenbar naͤmlich weil jener zu ſehr das ſelbſtthaͤtige Hervor⸗
bringen bezeichnet, das politiſche aber unter uns von der
Selbſtthaͤtigkeit wenig Spuren traͤgt, daher auch auf die Tu⸗
gend, welche ausſchließend und gradezu dieſem Verhaͤltniß ge⸗
widmet iſt, der Name der Gerechtigkeit nicht mehr allgemein
ſich ſchikkt, ſondern nur fuͤr die Geſezgeber Richter oder fuͤr
die herrſchenden Theile in ungleichen Verbindungen, im allge:
meinen aber der leidentlichere Name der Rechtlichkeit eine rich-
tigere Bezeichnung gewährt. Sehr gut hingegen iſt der Pflicht:
begriff, der auch an ein aufgegebenes erinnert, jenem leident⸗
lichen Nachbilden angemeſſen, und vielleicht daraus vornaͤmlich
der Vorzug zu erklaͤren, der ihm uͤberall vor den Begriffen
der Tugenden und Guͤter in den neueren Darſtellungen der
Sittenlehre gegeben wird. Daher auch theils was im gemei⸗
nen Leben als Pflicht dargeſtellt wird uͤber das Gebiet des
Rechtes wenig hinausgeht, und nur mit dem Vorbehalt alles
mit darunter zu begreifen, woruͤber vernuͤnftiger Weiſe Geſeze
koͤnnten gegeben werden, oder was ſchon irgendwo mit in das
Gebiet derſelben gezogen iſt, wie etwa die Kindererziehung
oder die Wohlthaͤtigkeit, welchen Umfang ſchon Ariſtoteles
der Gerechtigkeit angewieſen hat; theils ſuchen ja die Sitten⸗
lehrer ſelbſt was dem politiſchen Verhaͤltniß zu fremde iſt
wenigſtens in die Geſtalt deſſelben zu kleiden, als ob es ſonſt
239
in die Verſammlung der Pflichten nicht dürfte eingelaſſen wer⸗
den. Denn dieſes iſt unſtreitig der Grund, warum die Idee
eines goͤttlichen Reiches, die doch als religioͤs und chriſtlich
dem Geiſte des Zeitalters ganz fremd iſt, ſo viel Eingang
finden konnte in der Sittenlehre. Wie denn auch einzelnes
noch vieles anzufuͤhren waͤre, um dieſe Anſicht zu beſtaͤtigen,
wenn nicht ſchon das allgemeine jeden uͤberzeugen muͤßte. Die
fogenannten Tugenden aber beziehen ſich bei den neueren ei—
gentlich und faſt allgemein auf die verſchiedenen Gewerbe und
Beſchaͤftigungen in dem Leben eines jeden fuͤr ſich, welche
anſtatt des faſt verſchwundenen oͤffentlichen Lebens zu Ehren
gekommen, und ihre Bedeutung iſt, um das rechte Wort zu
ſagen, kaufmaͤnniſch oder haushaͤlteriſch; hindeutend nämlich
auf die verſchiedene Brauchbarkeit der Menſchen zu verſchiede—
nen Endzwekken, auf den Kraftaufwand, durch den fie zu ges
wiſſen Thaͤtigkeiten zu bewegen ſind, und die Art wie gewiſſe
Eindruͤkke auf ſie erregend oder beruhigend zu wirken pflegen,
kurz und uͤberhaupt auf das, was Kant nicht unſchikklich den
Marktpreis der Menſchen genannt hat. Nur ſo wird jeder
in den Begriffen von Wohlthaͤtigkeit Dankbarkeit Befcheiden-
heit Großmuth Gutmuͤthigkeit und den meiſten andern die
Einheit finden, die aus dem ethiſchen Standpunkt gar nicht
zu entdekken iſt. Daher auch ſo wie Garve die vollkomme—
nen Pflichten und die unvollkommenen unterſcheidet nach dem
Grade der Nuͤzlichkeit der Maxime, ſo kann man ſagen, daß
bei der innern ethiſchen Gleichheit aller dieſer Begriffe die
Tugenden ſich von den Laſtern nur unterſcheiden durch die
ſichere und vielſeitige Brauchbarkeit der Eigenſchaft, und daß
auf der einen Seite nur dieſe Taͤuſchung von der Einſtimmig—
keit zu eignem und fremdem Wohl den ethiſchen Schein her—
vorbringt, auf der andern aber auch der Gegenſaz zwiſchen
Tugenden und Laſtern eben ſo unſicher iſt, als jener zwiſchen
Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit. Wem aber dieſes alles
noch nicht genuͤgen wollte, der würde vielleicht die augen—
ſcheinlichſte Ueberzeugung finden in den Erklaͤrungen, welche
240
Spinoza von den Affecten gegeben. Denn indem er alles aus
der Selbſterhaltung in dem ſinnlichen gemeinen Sinne herleis
tet, und von dem Beſtreben ſich mit Gegenſtaͤnden zu umge⸗
ben, welche das Gefuͤhl des Daſeins beleben, ſo findet er auf
dieſem Wege theils in dem was unmittelbar zur Begierde ge⸗
hoͤrt, theils in dem was ſich auf Freude und Traurigkeit bes
zieht, wenn man es auf bleibende Thaͤtigkeiten oder Eigen⸗
ſchaften zuruͤkkfuͤhrt, alles Wohlwollen in ſeinen verſchiedenen
Stufen und Umkreiſen, ohne es jedoch wie die gallikaniſchen
Sittenlehrer thaten zu verunſtalten oder gaͤnzlich zu zerſtoͤren.
Denn hier findet jeder die unentwikkelten Ideen, welche allen
dieſen Eigenſchaften zum Grunde liegen, und ſieht ſich gezwun—
gen zu geſtehen, daß es nicht ſittliche ſind. Von denjenigen
Begriffen aber, welche die neueren als Vollkommenheiten ge—
wiſſer Theile oder Kräfte der Seele von den Tugenden abge=
ſondert, welche Abſonderung nach dem Sinn des neuen Be—
griffs von Tugend eben ſo folgerecht iſt, als zufolge des alten
Begriffs die Vereinigung beider, von dieſen konnte der Ur⸗
ſprung gleichguͤltiger ſein, weil jene Eintheilung der Seele in N
verſchiedene Kräfte aus dem ſittlichen Standpunkt ſchon im
allgemeinen iſt verworfen, und alles auf die eine Kraft des |
Willens zurüffgeführt worden. Auch hängt die Bildungsre⸗
gel und der Eintheilungsgrund dieſer Begriffe von keinem In⸗
tereſſe ab, ſondern gehoͤrt der Seelenlehre an, in welcher zuerſt
die Eintheilung in Denken und Handeln hoͤchſt wunderbar
iſt, und nur etwa im erſten Unterricht fuͤr Kinder konnte ent⸗
ſchuldigt werden, dann aber auch die weitere Eintheilung in
oberes und unteres Vermögen, oder nach den logiſchen Po-
tenzen der Vorftellung, noch wenig tuͤchtiges hat zu Tage fürs
dern laſſen. Es hat aber von jeher die Seelenlehre in einem
Zuſammenhange mit der Sittenlehre geſtanden, uͤber welchen
an ſich ſowol als in Abſicht auf die richtige Unterordnung
beider hier nichts kann entſchieden werden, indem die Frage
davon abhängt, wie jeder beide Wiſſenſchaften von der ge⸗
meinſchaftlichen hoͤchſten Erkenntniß ableitet. Jedoch muß ſo⸗
viel
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241
viel hier beiläufig zu aͤußern vergönnt fein, daß die Seelen:
lehre für ſich betrachtet ſich noch gar nicht in einem ſolchen
Zuſtande befindet der Sittenlehre nuͤzlich ſein zu koͤnnen. Da—
her auch gewiß diejenige Ethik die beſte iſt, welche entweder
ſo wenig als moͤglich aus ihr entlehnt, worin unſtreitig
Fichte bis jezt alle andern uͤbertroffen hat, oder welche ſich
ihre eigne Art die Erſcheinungen des Gemuͤths zu betrachten
nach ihren eignen Grundſaͤzen erſchafft, wovon Spinoza ein
vortreffliches Beiſpiel gegeben. Denn zuerſt muß die Aerm—
lichkeit jeder bisherigen Seelenlehre jedem einleuchten, die
große Mangelhaftigkeit und Gemeinheit ihres Fachwerkes,
welche was nur irgend uͤber das mechaniſche hinausgeht we—
der begreifen noch conſtruiren kann. Dann aber erhellt auch
die Unnatuͤrlichkeit ihrer Begriffe daraus, daß ſie weit ent—
fernt bis zur verwikkelten Conſtruction der Charaktere fortzu—
ſchreiten nicht im Stande iſt ein Individuum zu begreifen,
ſondern gemeinhin in demſelben Eigenſchaften verknuͤpft fin—
det, welche nach ihrer Conſtruction einander widerſtreiten.
Liegt nun wie zu vermuthen das Princip ihrer Natuͤrlichkeit
in demjenigen Begriff, mit welchem ſie ſich an die hoͤchſte
Wiſſenſchaft anfnüpft, fo koͤnnte vor der Hand das richtige
in ihr nur zufallig gefunden werden, und nur nachdem fie
weit vielfeitiger als bisher nicht nur aus einem logiſchen Ge⸗
ſichtspunkt, ſondern auch aus einem ſpekulativen und einem
praktiſchen, aus einem phyſiſchen und einem poetiſchen bear—
beitet wuͤrde. Welches abzuwarten, um dann einiges immer
noch fremde und unſichere zu entlehnen, fuͤr die Ethik gewiß
ein allzuweiter Weg waͤre, da ſie nahe genug daran iſt ihre
Begriffe aus ihrem eignen innern zu vervollkommnen.
II. Von den ethiſchen Reflexionsbegriffen aber, denn fo
wären wol Lob und Tadel, Selbſtſchaͤzung und Gewiſſen,
und was ihnen aͤhnlich iſt, am beſten zu nennen, von dieſen
konnte in dem vorigen Abſchnitt ſelbſt nicht die Rede ſein,
weil ſie nicht unentbehrliche Theile des Syſtems der Sitten—
Schleierm. Grundl. m
*
242 ;
lehre find, ſondern eigentlich außerhalb deſſelben liegen. Hier
indeß muß ihrer erwaͤhnt werden in Beziehung auf das eben
geſagte. Denn um dieſes in ſeinem ganzen Zuſammenhange
zu verſtehen, und entweder zu beſtaͤtigen oder zu widerlegen,
entſteht die Frage, worauf eigentlich dieſe Begriffe in der ger
woͤhnlichen Anwendung bezogen werden, und ob die Urtheile
und Gefuͤhle, welche ſie bezeichnen ſollen, das wirklich ſittliche
anzeigen, oder nur dasjenige, wie man es auch nennen moͤge,
was den Gehalt der fuͤr ethiſch geltenden Begriffe ausmacht.
Das erſte nun zu behaupten waͤre wunderlich von jedem,
welcher der oben aufgeſtellten Erklaͤrung dieſer Begriffe ſeine
Zuſtimmung gegeben. Denn wenn dieſe ſo wenig ſittliches,
und auch das wenige nur zufaͤllig enthalten: ſo muͤßte ent⸗
weder niemals und nur durch Irrthum Lob ausgetheilt wers
den, gewoͤhnlich aber, und dann auch beſonders über das
falſche Lob, nur Tadel, und das ſittliche Gefuͤhl alſo immer
in einem widrig erregten Zuſtande ſich befinden, oder es
muͤßte von allen, die jene Begriffe noch anerkennen, gar nicht
empfunden werden, welches heißen wuͤrde, in ihnen gar nicht
vorhanden ſein. Denn daß es bloß auf die Erſcheinung ſei⸗
nes wirklichen Gegenſtandes warten, durch ſein Gegentheil
aber gar nicht erregt werden ſollte, dieſes widerſpricht der
E
Natur der Sache, und der Aehnlichkeit mit allem was der
Menſch bildend hervorbringt. Auch erhellt es ohne auf einie
ges andere zu ſehn aus der deutlichen Beziehung und haͤufi—
gen Anwendung verwerfender Urtheile und Gefuͤhle. Soll
aber, um es beſchraͤnkend zu rechtfertigen, dieſe Erkenntniß des
ſittlichen und unſittlichen eine ſolche ſein, welche Spinoza die
Erkenntniß der zweiten Art nennt: ſo iſt zu bemerken, daß
in dieſen Dingen, wo die Elemente ſich vom zuſammengeſez⸗
ten nicht ſo ſchneidend unterſcheiden als etwa in der Groͤßen⸗
lehre, auch das einfache und leichte, worauf eine ſolche Er⸗
kenntniß ſich mit Untruͤglichkeit bezieht, nur relativ iſt. Be⸗
denkt man nun theils uͤberhaupt die ſittlichen Verhaͤltniſſe,
|
243
theils den Pflichtbegriff insbeſondere, auf welchen unmittelbar
die reflectirenden Begriffe am meiſten angewendet werden, und
der dem obigen zufolge immer ein zuſammengeſeztes iſt: ſo
moͤchte mit Recht bezweifelt werden koͤnnen, ob uͤberhaupt in
der Wirklichkeit ein einfaches und leichtes ſich dem Urtheil
darbietet. Auch muͤßte gewiß von denjenigen, die das ſittliche
zum Gegenſtand einer Erkenntniß der dritten Art zu erheben
ſuchen, das eigentliche Weſen jener Begriffe und Gefuͤhle in
wiſſenſchaftlichen Formeln laͤngſt zu Tage gefoͤrdert, und dar⸗
aus die realen Begriffe berichtiget ſein, wodurch denn auch
das Gefuͤhl ſelbſt ſich erweitern, und die Erkenntniß der zwei⸗
ten Art zu mehrerer Vollkommenheit haͤtte gelangen muͤſſen.
So daß offenbar die bisher entwikkelte Vorſtellung von dem
Zuſtande der Ethik als Wiſſenſchaft, wie auch jeder ſonſt und
im allgemeinen vom Verhaͤltniß der Theorie zur Praxis den⸗
ken möge, mit der Annahme aͤcht ethiſcher reflectirender Bes
griffe und eines durch dieſelben dargeſtellten untruͤglichen Ge⸗
fuͤhls des ſittlichen nicht beſtehen kann. An ſich aber und
ohne Bezug auf die bisherigen Ergebniſſe unſerer Pruͤfung
betrachtet ſind zuerſt die insgemein angefuͤhrten Gruͤnde einer
ſolchen Annahme zu verwerfen. Denn weit entfernt, daß die
Wuͤrde der Sittlichkeit Gefahr liefe, wenn ein ſolches untruͤg⸗
liches Gefuͤhl als wirklich und allgemein vorhanden gelaͤugnet
wuͤrde, als ob naͤmlich alsdann dieſelbe als etwas in der Na⸗
tur nicht gegruͤndetes ſondern willkuͤhrlich ausgedachtes er⸗
ſcheinen koͤnnte: ſo ſind ja alle daruͤber einig, daß auch das
natürliche und weſentliche, wie es auch nach dem Begriff ei⸗
ner ſelbſtthaͤtigen Natur nicht anders fein kann, ſich nur all⸗
maͤhlich entwikkelt, und fo, daß Gedanke und Gefühl einan⸗
der wechſelſeitig ausbilden und erregen, nicht aber ſo, daß ein
einfaches und untruͤgliches Gefühl für das vollkommene vor⸗
handen iſt, indem noch der Gedanke theils offenbar falſch iſt,
theils überall dem Streit unterworfen. Vielmehr wuͤrde es
der menſchlichen Natur zur Unehre gereichen, wenn ein ſoiches
N | 2 2
244
Gefühl den Gedanken noch nicht weiter gebracht, und auch
ſeinen Gegenſtand nicht ſo vielfach und kenntlich hervorge—
bracht haͤtte, um abweichende und widerſtreitende Anſichten
davon unmoͤglich zu machen. Und warum ſollte auch das
ſittliche Gefühl urſpruͤnglich vollkommner fein, als das logi⸗
ſche oder mathematiſche? Doch von dieſen fremdartigen Gruͤn⸗
den hinweggeſehen, muͤßte anderntheils, wenn ein ſolches Ge⸗
fühl angenommen wird, durch ein verſtaͤndiges verſuchendes,
Verfahren mit demſelben allein der Streit uͤber die ethiſchen
Grundſaͤze geſchlichtet und die vollkommene Tonleiter gefunden
werden koͤnnen, in welche ſich alle uͤbrigen aufloͤſen muͤſſen.
Welches unter den wiſſenſchaftlichen Behandlern der Ethik
auch die loſeſten, und dem Gefuͤhl am meiſten einraͤumenden
aus der anglikaniſchen Schule ſelbſt nicht einraͤumen, noch
weniger aber durch ihr Beiſpiel andere locken werden denſel⸗
ben Weg einzuſchlagen. Ferner entſtehen noch andere Zweifel
über die Aechtheit dieſer Begriffe als ethiſcher aus der Bes
trachtung ihres Verhaͤltniſſes gegen einander. Denn Lob und
Tadel verbreiten ſich ungleich weiter als das Gewiſſen auf
Gegenſtaͤnde, uͤber welche dem lezteren weder Vorwuͤrfe zuge⸗
muthet werden, noch Billigung, wovon erſt Beiſpiele anzu⸗
fuͤhren nur uͤberfluͤſſig waͤre; wogegen aber dem Lobe und
Tadel dieſelbe Untruͤglichkeit nicht beigemeſſen wird, als dem
Gewiſſen. Vergleicht man nun dieſes mit dem was oben ge⸗
ſagt worden theils von der Befugniß auch das fremde ſitt⸗
liche zu beurtheilen, theils von der fittlichen Natur alles Han-
delns uͤberhaupt, ſo ergiebt ſich fuͤr jeden zuerſt, wie wenig
das ein ethiſcher Begriff ſein kann, und alſo auch nicht das
Gefuͤhl, welches er bezeichnet, ein rein ſittliches, der auf gleiche
Weiſe ein ethiſches Urtheil und ein anderes ausdruͤkkt, ſo daß
er mehr nur auf das Bejahen und Verneinen ſich zu beziehen
ſcheint, als auf die Grundſaͤze, nach denen es erfolgt. Dann
auch noch, wie unzulaͤſſig ein ſo unbeſtimmter Uebergang ſein
muß aus dem gewiſſen in das ungewiſſe, und aus dem ſitt⸗
lichen in das nichtſittliche; welches die Stoiker richtig beur⸗
245
theilend das Lob und das ſittlich gute zu unzertrennlichen
Wechſelbegriffen zu machen ſuchten. Wollte man aber Lob
und Tadel und das uͤbrige fahren laſſend nur bei dem Ge—
wiſſen ſtehen bleiben, wie es noch neuerlich Fichte als noth—
wendig und untruͤglich will abgeleitet haben: ſo kann uͤber
dieſe mit dem gewohnten Scharfſinn ausgeführte Ableitung
hier keine vollſtaͤndige und gruͤndliche Eroͤrterung Raum fin—
den, weil ſie groͤßtentheils außerhalb des ethiſchen Gebietes
auf dem tranſcendentalen liegt, indem das abgeleitete auf eine
Uebereinſtimmung des wirklichen Ichs mit dem urfprünglichen
hinauslaͤuft. Was jedoch von dem ethiſchen Standpunkt aus
hieher gehoͤriges daruͤber kann geſagt werden iſt folgendes.
Zuerſt iſt bei Fichte das Gewiſſen, in wiefern er ihm jene
beiden Eigenſchaften beilegt, keinesweges das Gefühl oder Bez
wußtſein des ſittlichen, und feines Gegenſtandes überhaupt,
ſondern nur ein Theil desjenigen, was die Stoiker die ſittliche
Geiſtesgegenwart oder Schnelligkeit nannten, des Vermoͤgens
naͤmlich die Pflicht in jedem Augenblikk zu finden. Auf dieſe
Weiſe nun müßte erſt beſtimmt werden, was es heiße nach
der Pflicht fragen, wenn nicht zur Vereinigung dieſer Untruͤg⸗
lichkeit mit jener Falſchheit der geltenden Begriffe der Aus⸗
weg offen bleiben ſoll zu ſagen, daß alle jene nach der Pflicht
nicht gefragt haben. Auf jeden Fall aber, wenn es etwa laͤ⸗
cherlich ſcheinen ſollte, daß derjenige nicht nach der Pflicht
gefragt habe, der ein Syſtem von ethiſchen Begriffen aufftel=
len will, erhellt ſchon aus der Natur des Pflichtbegriffs, daß
mit einem die Pflicht untruͤglich fuͤr jeden beſtimmten Mo⸗
ment anzeigenden Gefühl gar wol ein im ganzen ſehr unvolls
kommnes Bewußtſein der Sittlichkeit koͤnne verbunden ſein.
Denn die Pflicht zu erkennen iſt jedesmal eine beſtimmte und
durch die vorhandenen Umſtaͤnde und die gegebenen Moͤglich—
keiten des Handelns bedingte Aufgabe, welche richtig geloͤſt
werden kann, ohne daß dennoch die Unſittlichkeit oder unvolls
kommene Sittlichkeit wahrgenommen und gefuͤhlt werde, welche
ſchon in den Bedingungen liegt. Welches Nichtwahrnehmen
246
dennoch nicht minder eine Unvollkommenheit und Fehlbarkeit
des ſittlichen Gefühle überhaupt anzeigt. Ferner koͤnnte ſich
der Forderung eines ſolchen untruͤglichen Gefuͤhls als eines
nothwendigen Zeichens, daß nun die Ueberlegung geſchloſſen
ſei und das Handeln angehn ſolle, an die Stelle ſezen laſſen
die Forderung eines vollendeten Syſtems es ſei nun der
Pflicht oder der Tugend, in welchem jeder jeden ihm gegebe⸗
nen Fall leicht auffinden koͤnnte ohne dazu eines andern Ge⸗
fuͤhls zu beduͤrfen, als des Gefuͤhls derjenigen Gewißheit,
welche unter allen am leichteſten zu erlangen iſt, und faſt nur
auf der Identitaͤt des Bewußtſeins beruht, naͤmlich von der
Gleichheit oder Verſchiedenheit zweier Formeln. Daß nun
demjenigen, der ein Syſtem der Pflichten aufſtellen will, dieſe
Forderung beſſet anſtehe als jene, darüber kann kein Streit
ſein. Aber auch die Art der Ableitung ſelbſt deutet mehr auf
dieſe als jene. Denn die Uebereinſtimmung des wirklichen
Ichs mit dem urſpruͤnglichen iſt wol nicht als ein voruͤberge⸗
bendes und einzelnes zu denken, ſondern als ein bleibendes
und ganzes. Als ein ſolches aber muͤßte ſie entſtehen nicht
aus der Erkenntniß des in einem beſtimmten Augenblikk ges
forderten, ſondern des geſammten ſittlichen, und das aus je=
ner entſtehende Gefühl koͤnnte nur dann Sicherheit und Wahr⸗
heit haben, wenn es zugleich ausſagte, daß jene ſich auf dieſe
gruͤnde. So daß die zweite Forderung vorausgeſezt wird,
welche doch ſobald ſie erfuͤllt iſt die erſte uͤberfluͤſſig machte.
Daß es auch an Fichte nicht zu loben iſt, daß er dem Ge⸗
wiſſen einen anſehnlichen Theil von dem Geſchaͤft der Wife
ſenſchaft uͤberlaͤßt, und dieſe im einzelnen überall von jenem
ſoll vertreten werden, dies kann man ihm aus ihm ſelbſt er⸗
weiſen. Denn er geſteht ja, daß es fuͤr die Urtheilskraft theo⸗
retiſche Regeln geben muß, wie ſie ſuchen ſoll, und dieſe muß
ja wer an ein untruͤgliches Gewiſſen glaubt nur um fo feiche
ter finden und in ihrer ganzen Vollſtaͤndigkeit aufſtellen koͤn⸗
nen, um ſo wie es ſich geziemt vermittelſt ſeines Gewiſſens
geſczgebend zu werden für andere. Nicht aber durfte ein ſol⸗
247
cher mit Berufung auf das Gewiſſen die ganze Hälfte der
Wiſſenſchaft leer laſſen, ſo daß auch entweder das uͤbrige,
weil es doch fuͤr ſich nicht kann angewendet werden, nicht
einmal praktiſch gemeint zu ſein ſcheint, oder die Principien
um das ganze zu Ende zu fuͤhren nicht zugereicht haben.
III. Wenn alſo die Nothwendigkeit eines in allen Men⸗
ſchen gleichen, und in jedem untruͤglichen ſittlichen Gefuͤbls
nicht kann erwieſen werden, ſo iſt es recht zu dem zuruͤlkzu⸗
kehren, was die Natur der Sache andeutet, daß naͤmlich das
Gefühl und die Einſſicht eines jeden ſich unter einander br»
ſtimmen, und in ihrer Fortſchreitung ſich gegenſeitig zum Maaß
dienen koͤnnen. Hieraus nun wuͤrde fuͤr die unwiſſenſchaftli⸗
chen Menſchen zwar folgen, daß auch ihre Selbſtſchaͤzung
und ihr Gewiſſen nur auf dasjenige koͤnnen gerichtet ſein,
was den Gehalt ihrer für ſittlich angenommenen Vorſtellun⸗
gen ausmacht, naͤmlich auf der einen Seite nur in den engen
Kreis des rechtlichen beſchraͤnkt, auf der andern aber uͤber das
ſittliche hinaus auf das kaufmaͤnniſche und haushaͤlteriſche.
Welches ſich auch dadurch hinlaͤnglich beſtaͤtigt, daß ihre Art
zu billigen ſowol als zu tadeln und zu bereuen eben fo gt»
nau mit dem uͤbereinſtimmt, was Spinoza als aus dem Af⸗
fekt der Freude und Traurigkeit hervorgehend bezeichnet, wie
gleichfalls ihre Tugenden mit dem zuſammentrafen, was bei
ihm in jeder Art dem Affect der Begierde zugehoͤrt. Was
aber ſoll daraus geſchloſſen werden fuͤr die wiſſenſchaftlichen
Schuͤler ſowol als Meiſter der Sittenlehre, deren ſittlichem
Gefuͤhl noch das dialektiſche ſollte zu Huͤlfe gekommen ſein,
und ihnen den Mangel innerer Wahrheit und Uebereinſtim⸗
mung in ihren Begriffen angezeigt haben? Was aber an—
ders, als daß, da beides zuſammen nicht hingereicht hat ſie
uͤber das gemeine zu erheben, in dem Maaß naͤmlich, in wel⸗
chem ſich dieſes fo verhält, auch ihr ethiſcher Sinn und Ber«
ſtand nicht genugſam hervorrage, um eine hoͤhere Stufe ſelbſt
zu erſteigen, und dann auch die andern zu ſich heraufzuheben;
ſondern ſie mehr den Merkzeichen gleichen, welche nur den
*
248
Stand der Waſſerflaͤche anzeigen, als den kuͤnſtlichen Vorrich—
tungen, welche ihn erhoͤhen. Wovon wiederum, was die ein—
zelnen Begriffe betrifft, nur Platon und Spinoza durch ihre
kraͤftige und durchgeführte Polemik gegen die eingeführte ethi=
ſche Sprache ſich als preiswuͤrdige Ausnahmen ſogleich an—
kuͤndigen. Dem Fichte hingegen kann auf dieſem Gebiet nur
das indirekte Verdienſt zugeſchrieben werden, dadurch, daß er
ſich ſtreng an den Pflichtbegriff gehalten hat, zur Verminde—
rung der bisherigen Verworrenheit eine Anleitung gegeben zu
haben. Was aber das ganze betrifft, fo geht aus dem obi⸗
gen hervor, welchen Maͤngeln er ſelbſt bei einer vollkommnen
Richtigkeit des Pflichtgefuͤhls dennoch unterworfen ſein kann,
wenn auf der einen Seite nur dieſes das Maaß feiner Sitt⸗
lichkeit iſt, und auf der andern nicht die Dialektik ihm beſſer,
als bisher ſich gelegentlich gezeigt hat, zu Huͤlfe kommt. Wie⸗
viel nun von ihm ſowol als den andern in Abſicht auf die
Vollſtaͤndigkeit des Syſtems iſt geleiſtet worden, dieſes iſt
was dem folgenden Buche noch uͤbrig bleibt zu unterſuchen.
Drittes Buch.“
Kritik der ethiſchen Syſteme.
\ 4
een eau
5 naten |
e e — aa
N hir |
be e,,
1
RK:
Einleitung.
— —
1.
Bon ber Anwendung der Idee eines Syſtems auf die
Ethik.
Di. Idee eines Syſtems, vielleicht uͤberdies noch in Abe
ſicht auf ihren Inhalt ſtreitig, iſt in jedem Falle eine ſolche,
die zwar als Forderung der Vernunft im allgemeinen von
jedem, welcher uͤber die Natur der menſchlichen Erkenntniß
nachdenkt, muß zugegeben werden, deren Anwendbarkeit fuͤr
einen einzelnen Fall aber gegen die Einwendungen des Skep⸗
tikers nur entweder durch ihre unmittelbare wirkliche Ausfuͤh⸗
rung kann ſicher geſtellt werden, oder mittelbar durch Bezie⸗
hung auf eine ähnliche bereits gegebene, und als richtig aner⸗
kannte Anwendung. Daher freilich, wenn die Ethik als Sy⸗
ſtem vorhanden waͤre, die Frage nur laͤcherlich ſein wuͤrde, ob
ſie als ein ſolches exiſtiren ſolle; daſſelbige aber, da wir je⸗
nes muͤſſen unentſchieden laſſen, nicht kann geſagt werden,
vielmehr uns allerdings obliegt die Forderung zu rechtfertigen.
Waͤre nun auch nur das ganze der menſchlichen Erkenntniß,
ſollte es gleich bloß im Umriß ſein, als Syſtem gegeben, und
dabei zugeſtanden, daß die Ethik einen weſentlichen Theil je⸗
med ganzen ausmache: fo würde dann leicht fein zu zeigen,
252
daß auch ſie ſchon deshalb ſyſtematiſch muͤſſe gebildet werden.
Jezt hingegen wird dieſes von einigen, jenes von anderen ge—
laͤugnet, und auch wenn eine der Ethik aͤhnliche Erkenntniß
als Syſtem vorgezeigt wuͤrde, moͤchte Streit entſtehn uͤber
den Grund der Aehnlichkeit, indem man dabei entweder aus-
gehen muͤßte von irgend einer einzelnen alſo beſtrittenen Vor—
ſtellung der Ethik, oder von jener eigentlich noch gar nicht
vorhandenen Idee eines Syſtems der ganzen Erkenntniß,
worin denn freilich einzelne Theile andern entſprechen muͤßten.
Weshalb die ganze Forderung nicht hinlaͤnglichen Grund zu
haben ſcheinen, und vielmehr aufgegeben werden muͤßte, wenn
ſich nicht der Gedanke aufdraͤnge, daß ſie nicht unmittelbar
das ideale der Ethik betrifft, ſondern vielmehr ihr reales, oder
um es anders zu ſagen nicht die Erkenntniß, ſondern den
Gegenſtand. In zweierlei Faͤllen naͤmlich pflegt ein reales,
es ſei nun gegeben oder erſt hervorzubringen, ein Syſtem ge—
nannt zu werden; zuerſt in ſofern es betrachtet wird als ein
in ſich beſchloſſenes ganzes, deſſen Theile nur aus dem ganz
zen und durch daſſelbe koͤnnen verſtanden werden, dann auch
in ſofern es betrachtet wird als die Geſammtheit es ſei nun
der Aeußerungen einer Kraft, die ſich nur in einer Mannig—
faltigkeit des einzelnen offenbart, oder ſonſt eines allgemeinen,
welches ſich vereinzelnd darſtellt. So wird in dem erſten
Sinne das ganze von Weltkoͤrpern, welchem unſere Erde zu—
naͤchſt angehoͤrt, ein Syſtem genannt, mit dem Vorbehalt je—
doch es noch aus einem andern Geſichtspunkt zu betrachten,
auf welchem es ſelbſt wiederum als Theil eines andern er—
ſcheint; und wiederum in dem andern Sinne heißt das Welts
ganze ein Syſtem als Geſammtheit der Aeußerungen eben
jener phyſiſch architektoniſchen Kraft, welche ſich durch ſolche
einzelne offenbart, die in ihrer Verſchiedenheit den ganzen
Umfang derſelben erſchoͤpfen, jedoch ebenfalls mit dem Einge—
ſtaͤndniß, daß wir die Regel, nach welcher die Geſammtheit
des einzelnen das ganze erſchoͤpft, noch nicht gefunden haben.
Eben fo nennen wir in der erſten Bedeutung jeden organi-
20
ſchen Körper ein Syſtem, in der andern aber auch zuſammen—
genommen die geſammten Erſcheinungen des Organismus,
wiewol ebenfalls unter jenem Vorbehalt. Woraus zugleich
am beſten erhellt, wie der Unterſchied zwiſchen einem ſchon
vorhandenen und einem erſt hervorzubringenden ganzen hier
nicht in Betrachtung kommt. Denn niemand wird ſich auch
weigern zu geſtehen, daß ein Kunſtwerk ein Syſtem iſt in
dem erſten Sinne; und eben ſo auch daß alle Kuͤnſte und
ihre Productionen, in ſo fern jede von der andern weſentlich
verſchieden iſt, ein Syſtem bilden ſollen. Von einem ſolchen
ſyſtematiſchen realen muß nun unfehlbar auch die ideale Dar—
ſtellung ſyſtematiſch ausfallen, wenn ſie anders getreu ſein,
und die Idee nicht verlaſſen will, unter welcher das reale,
worauf ſie ſich bezieht, wenn gleich nur problematiſch iſt an—
geſchaut worden. Ob aber uͤberall eine Wiſſenſchaft oder Erz
kenntniß noch aus einem andern Grunde, als weil ſie eines
ſolchen Darſtellung iſt, als ein Syſtem muͤſſe betrachtet wer—
den, und den Forderungen, welche daraus entſpringen, genü=
gen, dies iſt eine Frage, welche wol bezweifelt werden duͤrfte,
ja vielleicht gar bis auf weiteres im voraus verneint, wenn
einer auf das Beiſpiel der Groͤßenlehre ſehen will, oder der
ſogenannten Vernunftlehre. Denn dieſe beiden ſind in dem
aͤlteſten und anerkannteſten Beſiz des Namens der Wiſſen—
ſchaft; niemand aber hat eine von ihnen je ein Syſtem ge—
nannt, oder Forderungen der Art an fie gemacht. Weil naͤm—
lich die erſte außerhalb ſich immer mehr erweitert, und neue
Zweige derſelben erfunden werden, ohne daß in den fruͤheren
und ihrem Zuſammenhange irgend eine Luͤkke wahrgenommen
würde; die andere aber, wenn gleich fie keine Fortſchritte der
Art machen kann, dennoch weder Anfang und Ende noch ir—
gend eine ſichere Grenze aufzeigt, und der eigentlichen realen
Wiſſenſchaftslehre zwar zum Grunde liegend dennoch auf al—
len Seiten von ihr abhaͤngig iſt. Ja auch eine falſche Annaͤ—
herung an die ſyſtematiſche Geſtalt erlangen beide Wiſſenſchaf—
ten alsdann nur, wenn ſie auf ihr ungemeſſnes ideales Ge—
254
biet Verzicht leiſtend den Schein annehmen ſich nur auf ein
beſtimmtes reales zu beziehn. So etwa wenn die Groͤßen—
lehre die Saͤze irgend eines ihrer weſentlichen Zweige nur auf—
ſtellt als Bedingungen zur Aufloͤſung einer einzelnen Auf⸗
gabe; oder die Vernunftlehre ſich beſcheidet nichts anders ſein
zu wollen als die Analyſe des Syllogismus, der als ein
ideales Kunſtwerk kann betrachtet werden. Doch wie es ſich
auch mit dieſer nur im Vorbeigehen aufgeworfenen Frage ver⸗
halten möge, die Forderung, welche an die Sittenlehre ges
macht wird, daß ſie ein Syſtem ſein ſolle, iſt von ihr nicht
abhaͤngig, ſondern lediglich davon, daß ſchon das reale, auf
welches die Ethik ſich bezieht, von jedem als ein Syſtem muß
vorgeſtellt werden.
Denn man gehe zuerſt aus von dem Geſichtspunkt der
praktiſchen Ethik, und betrachte das reale, was den Inhalt
derſelben ausmacht, ſo wie es in der gewoͤhnlichen Behand⸗
lung nach dem Pflichtbegriff vorkommt. Hier nun wird aus
allem uͤber dieſen Begriff geſagten, beſonders in Hinſicht deſ—
fen, daß die Pflicht immer nur durch Begrenzung kann ges
funden werden, offenbar ſein, daß, wie es einem Syſtem ge⸗
buͤhrt, das einzelne jedesmal nur kann aus dem ganzen ver—
ſtanden werden. Denn wenn das pflichtmaͤßige in jedem Ent⸗
ſchluß nur kann beurtheilt werden, indem das gewollte zus
ſammen genommen wird mit dem nichtgewollten, naͤmlich nicht
etwa dem unſittlichen, ſondern nur das unmittelbar ange⸗
ſtrebte ſittliche mit dem nicht unmittelbar befoͤrderten, vielmehr
in ſeinen Anſpruͤchen zuruͤkkgeſezten: ſo iſt ja deutlich, daß
das einzelne nicht abgeleitet wird als ein niederes von einem
hoͤheren allgemeinen, oder von einem andern einzelnen, ſondern
nur aus dem ganzen, und der Geſammtheit alles einzelnen.
Naͤmlich in jedem Moment, oder auch ſo viel ſich davon ſa⸗
gen laͤßt im allgemeinen, iſt etwas nur pflichtmaͤßig, weil
nur nach dieſer Formel die Geſammtheit der ſittlichen Zwekke
kann befoͤrdert werden, durch jede andere aber ein Theil den
andern ſtoͤren, und alſo das gehandelte nur ein zum Theil
255
unſittliches unter dem Schein eines ſittlichen fein koͤnnte.
Wird nun hiebei noch dieſes in Betrachtung gezogen, daß
nach einer allgemein anerkannten Forderung die Darſtellung
der Ethik nach dem Pflichtbegriff auch ſo muß eingerichtet ſein,
daß nach derſelben jede wenn nur vollſtaͤndig gegebene Hand⸗
lung muß koͤnnen gepruͤft werden, ob ſie fuͤr die angegebene
Stelle ſei eine ſittliche geweſen, oder nicht: fo ſieht man, es
wird gefordert, daß aus derſelben Idee des ganzen, durch
welche jedes einzelne beſtimmt wird, auch ſolle folgen koͤnnen
die Erkenntniß deſſen, was nicht ein ſolches einzelne iſt, und
nicht in der Annaͤherung zum Vollbringen der geſammten
Aufgabe des Handelns liegen kann. Ein ganzes von dieſer
Art aber muß offenbar ein vollkommen in ſich ſelbſt beſchloſ⸗
ſenes fein, in welchem für gar kein zufaͤlliges ein Raum übrig
bleibt. Dieſes nun kann die Groͤßenlehre zum Beiſpiel, welche
kein Syſtem iſt in dem angegebenen Sinne, eben deshalb
auch nicht leiſten; ſondern es koͤnnen Fragen dieſer Art auf⸗
geworfen werden, fuͤr welche die Antwort noch gar nicht vor⸗
handen iſt, und erſt durch Vergleichung mit mehrerem einzel⸗
nen gegebenen muß geſucht werden. Denn ſolche Fragen zum
Beifpiel, wie die nach einem gleichſeitigen Vielekk im Kreiſe
mit ungleichen Winkeln, ſind freilich ſchon beantwortet, aber
nur, weil das gefragte an ſich unmoͤglich iſt, und den erſten
nothwendigen Saͤzen widerſtreitet, zu vergleichen etwa in der
Sittenlehre dem, was die ſogenannten vollkommenen Pflich⸗
ten verlezt, worüber auch keine Frage aufzuſtellen iſt. Solche
Fragen aber, die an ſich eine bedingte Moͤglichkeit enthalten,
wie zum Beiſpiel, unter welchen Bedingungen auch ein durch
ungleiche Flaͤchen begraͤnzter Koͤrper von einer Kugel koͤnne
umſpannt werden, finden ſich nicht durch nothwendige Saͤze
der Wiſſenſchaft beantwortet, ſondern muͤſſen jede durch Vers
gleichung mehreres einzelnen beſonders unterſucht werden. Be⸗
trachtet man demnaͤchſt das reale der praktiſchen Ethik, wie
es in der Behandlung nach dem Begriff der Guͤter vorkommt,
fo fol, wie alle verlangen, der Inbegriff derſelben oder das
U
256
hoͤchſte Gut nicht ſo wirklich gemacht werden, daß nach ein—
ander jedes einzelne Gut, wie ſie eben nach jedem Syſtem
auf verſchiedene Weiſe zerfallen, vollendet werde, ſondern viel⸗
mehr durch allmaͤhlige Annaͤherung, ſo daß an allen zugleich
gearbeitet wird. Denn nur ſo kann dieſe Behandlung mit
der nach dem Pflichtbegriff in Uebereinſtimmung ſein. Indem
nun jenes vereinzelnde Verfahren fuͤr ethiſch unmoͤglich erklaͤrt
wird, fo iſt zugleich geſagt, daß jedes dieſer Güter die uͤbri—
gen bedingt, folglich auch daß ſie unter einander ein ganzes
ausmachen, und zwar ſo, daß in dem Beſtreben nach ihnen
ſowol, als in der Aufzeichnung derſelben keines fehlen darf,
weil ſonſt auch die uͤbrigen nicht koͤnnten richtig zu Stande
gebracht und dargeſtellt werden. Sonach muß auch von die—
ſer Seite betrachtet die Ethik als ein Syſtem erſcheinen. Daß
aber die Handlungen eines Menſchen, auch wenn ſie alle als
ſittlich gedacht werden, weder in der natürlichen Ordnung der
Zeit, noch auch nach der Ordnung der Zwekke betrachtet, ein
ganzes ausmachen, ſondern ihrer Folge nach zufällig erſchei—
nen, und ihrer Wirkung nach fragmentariſch, dies kann dem⸗
jenigen, der das obige im Sinne hat, keinen Einwand abge⸗
ben. Denn das eigentlich reale der Handlung iſt nur der
Entſchluß, die verſchiedenen Entſchluͤſſe aber bilden allerdings
unter einander ein ganzes, ſo gewiß als die Pflichtenlehre
eins bildet, in welche ſie ſich ja fuͤgen. In Abſicht auf die
Wirkung aber muß den aufgeſtellten Begriffen von Guͤtern
gemaͤß, wie ſie ihrer Natur nach gemeinſchaftliche Werke ſind
in der Ethik, auch die Geſammtheit deſſen, was der einzelne
hervorbringt, als Element betrachtet werden, in welchem je—
doch ebenfalls, wenn es integrirt wird, der ſyſtematiſche Zu—
ſammenhang der Guͤter nicht wird koͤnnen verkannt werden.
Geht man aber zweitens aus von dem Geſichtspunkt der
genießenden Ethik, ſo iſt oben hinlaͤnglich gezeigt, daß auch
die Gluͤkkſeligkeit zu denken iſt als ein ganzes, wenn gleich
als ein ſolches, das niemals in ſeiner Vollſtaͤndigkeit als eis
nes erſcheint, ſondern nur in einer Mehrheit einzelner Geſtalten
ſich
257
fi) ganz offenbart. Wie denn auch dieſes alle ihre Verthei⸗
diger mehr oder minder deutlich eingeſehen. Denn keiner
glaubt, daß irgend jemand die ganze Gluͤkkſeligkeit haben
koͤnne. Und nicht etwa nur der unvermeidlichen Unluſt we⸗
gen, die in jedem Leben angetroffen wird, oder weil es zu
jeder Art der Luſt einigen an Gelegenheit fehlt; ſondern weil
es mehrere unvereinbare Arten giebt dieſelbe Luft zu genie⸗
ßen, und daſſelbe Verhaͤltniß zu einem verſchiedenen Element
der Gluͤkkſeligkeit zu verarbeiten. Sind nun dieſe verſchiede⸗
nen Geſtalten, in denen zuſammen genommen die Gluͤkkſelig⸗
keit enthalten iſt, nur willkuͤhrlich beſtimmt: ſo iſt fuͤr keinen
ein Weg zu zeichnen zu ſeiner Gluͤkkſeligkeit, und keiner weiß
nach einer Regel, was er ſuchen ſoll, und weſſen ſich enthals
ten. Wodurch offenbar die ganze Ethik aufgehoben wuͤrde.
Sind ſie aber weſentlich und der Natur nach von einander
abgeſondert, ſo daß es beſtimmte Gruͤnde giebt, warum jedes
Element nur der einen, und nicht irgend einer andern eigen
ſein kann, unter welcher Bedingung allein dieſe Ethik beſteht:
dann muͤſſen auch theils alle unter einander ein Syſtem der
zweiten Art ausmachen, indem ſie ein Inbegriff ſind der Er⸗
ſcheinungen, unter denen ſich ein allgemeines offenbart. Theils
auch muß in jeder einzelnen das fuͤr ſie moͤgliche durch ein
gemeinſchaftliches Merkmal verknuͤpft und unter einer Formel
befaßt ſein, welche es erſchoͤpft, ſo daß wiederum jede auch
ein Syſtem der erſten Art ausmacht. Da nun jede Sitten⸗
lehre zu einer von dieſen Abtheilungen gehoͤrt, der thaͤtigen
oder genießenden, ſo iſt offenbar, daß jede als ein Syſtem
muß betrachtet und gepruͤft werden. Daſſelbe haͤtte auch
koͤnnen gezeigt werden aus jeder andern von den oben be⸗
merkten Verſchiedenheiten der ethiſchen Grundideen; es teicht
aber hin, daß es durch eine iſt entwikkelt worden, zumal
durch die leichteſte und verſtaͤndlichſte.
f
Schleierm. Grundt.
*
258
6; 2. a
Von den Momenten der Prüfung nach dieſer Idee.
Soll nun ferner unterſucht werden, wie denn zu entſchei⸗
den iſt, ob eine Darſtellung der zu pruͤfenden Wiſſenſchaft
dieſer Idee angemeſſen iſt, oder nicht, ſo kann dieſes erſehen
werden theils aus dem Gehalte derſelben, theils auch aus
ihrer Geſtalt. Denn beide ſtehen in einem ſo genauen Zu⸗
ſammenhange, daß die Vollkommenheit der Geſtalt allemal
Buͤrgſchaft leiſtet fuͤr die Gleichartigkeit und Vollſtaͤndigkeit
des Inhaltes, und wiederum dieſe nicht vorhanden ſein kann,
ohne ſich von ſelbſt in eine ſchoͤne und genuͤgende Geſtalt zu
ordnen, welches beſonders zu erweiſen uͤberfluͤſſig ſein wuͤrde.
Es iſt aber dieſer Zuſammenhang nicht von der Art, daß wo
Unvollkommenheit ſtatt findet jedem Mangel des Inhaltes
auch ein gleicher und aͤhnlicher der Geſtalt, es ſei nun als
Urſach oder als Wirkung, entſpreche und umgekehrt; in wel⸗
chem Falle, der ſich aber mit der Verſchiedenheit beider Ge⸗
genſtaͤnde nicht vertraͤgt, es genug ſein wuͤrde nur einen und
gleichviel welchen pruͤfend zu betrachten. Vielmehr koͤnnen
als Wirkungen einer gemeinſchaftlichen Urſach, naͤmlich eines
Fehlers in der zum Grunde liegenden Idee, beide ſich auf
mannigfaltige Weiſe auf einander beziehen, und was im Ge⸗
halt als ein einzelner Mangel erſcheint die ganze Geſtalt ver⸗
derben oder umgekehrt. So wie auch im menſchlichen Koͤr⸗
per die Mißgeſtalt eines Gefaͤßes mehrere ganz verſchiedene
Saͤfte verderben, und die ſchlechte Beſchaffenheit oder der Man⸗
gel einer Fluͤſſigkeit eine Verunſtaltung des ganzen Gebildes
verurſachen kann. Und eben deshalb iſt es nothwendig bei⸗
des Geſtaltung und Inhalt abgeſondert zu betrachten, um
theils deſto ſicherer an dem einen zu entdekken, was bei Be⸗
trachtung des andern vielleicht der Aufmerkſamkeit entgeht,
theils auch das Auffinden der Urſachen einem jeden zu er⸗
leichtern, ſo weit es die 1 des e Bhf
tes geſtatten. |
259
Was nun zuvoͤrderſt den Inhalt einer Ethik betrifft, fo
entſteht aus der Idee eines Syſtems an denſelben die dop⸗
pelte Forderung, daß alles einzelne, was darin aufgefuͤhrt
iſt, auch weſentlich hineingehoͤre, und das Merkmal an ſich
trage, wodurch das ganze verbunden iſt. Dann auch ferner,
daß alles, was dem ganzen angehoͤrt, wirklich darin zu fin—
den ſein muß, und jede Frage dieſer Art aus demſelben muß
koͤnnen entſchieden werden, wenn ſie nur mit Verſtand und
auf die rechte Weiſe iſt aufgeworfen worden. Ueber die erſte
dieſer Forderungen aber enthalten ſchon die Ergebniſſe des
zweiten Buches eine unguͤnſtige Entſcheidung. Denn wenn,
wie dort gezeigt worden, in faſt jeder Darſtellung der Ethik
die Elemente in ſolche Begriffe zuſammengefaßt ſind, welche
nach keiner Idee ſich als reinſittlich bewaͤhren, ſondern ſittli⸗
ches und unſittliches vermiſcht enthalten, und wenn ferner in
den verſchiedenſten Darſtellungen, deren Grundideen gänzlich
von einander abweichen, dennoch dieſelben Begriffe angetroffen
werden: ſo iſt offenbar genug, daß nirgends alles im Sy⸗
ſtem aufgefuͤhrte demſelben angehoͤrt, ſondern fremdartiges
uͤberall eingemiſcht iſt. Und was hieraus folgt fuͤr den ge⸗
genwaͤrtigen Zuſtand der Wiſſenſchaft uͤberhaupt, und fuͤr die
ethiſche wie auch ſyſtematiſche Faͤhigkeit derjenigen, welche
dieſe Darſtellungen aufgeführt haben, und durch ſie befriedi⸗
get werden, dies iſt ebenfalls dort hinreichend angedeutet. Es
trifft aber dieſer Vorwurf nur die Darſtellungen der Sitten⸗
lehre, wie fie gegenwärtig find, nicht aber kann hiedurch ent»
ſchieden werden, daß ſie nicht beſſer ſein koͤnnten, und daß
es unmoglich wäre auf demſelben Grund, auf welchem fie
aufgefuͤhrt ſind, beſſere und tadelloſe Grenzen zu erbauen.
Denn um dieſes zu erweiſen muͤßte gezeigt werden, daß auch
mit dem richtigſten ſittlichen und wiſſenſchaftlichen Sinn we⸗
gen Verkehrtheit der erſten Idee in Uebereinſtimmung derſel⸗
ben richtige und in ſich beſtehende Begriſſe nicht koͤnnten ges
bildet werden. Eine ſolche Behauptung aber kann nur von
einer polemiſchen Abſicht aus entſtehen, und auch ſchwerlich
g R 2
260
mit bloß kritiſchen Huͤlfsmitteln durchgeführt werden. Biel:
mehr muß die Kritik, welche ſich durch keine vorgefaßte Meis
nung verunreinigen darf, ſi ch hinneigen zu Verſuchen ſolche
zufaͤllige Fehler zu verbeſſern, und muß ein Urtheil uͤber das
ganze, ſofern es auf dieſen Gruͤnden beruhen ſoll, verſchieben,
bis jedes auf die moͤglich beſte Art iſt vollendet worden.
Deshalb nun iſt die Aufmerkſamkeit vorzuͤglich zu lenken auf
die zweite Forderung, naͤmlich auf des Inhaltes Vollſtaͤndig—
keit. Dieſe aber iſt nicht ſo zu verſtehen, als ob in jeder
ODarſtellung alles ihrer Idee zufolge ethiſch mögliche auch aus⸗
druͤkklich mußte aufgefuͤhrt ſein. Vielmehr muß in dieſer
Hinſicht jede Darſtellung eines Syſtems unvollkommen ſein,
ſchon weil das reale für das Geſchaͤft der Abſonderung im⸗
mer ein unendliches darbietet, und alſo einzelnes kann heraus
gegriffen werden, welches in einer gegebenen Darſtellung nur
unter einem andern befaßt iſt. Noch mehr aber, wenn das
teale wie hier unmittelbar ein geiſtiges iſt, fuͤr welches ja
durch alles, was erfolgt, allmaͤhlig die Bedingungen ſich aͤn—
dern, und folglich mit ihnen auch die Geſtalt des bedingten.
So muß beſonders in Abſicht auf den Pflichtbegriff einleuch⸗
tend ſein, wie unmoͤglich eine Vollſtaͤndigkeit waͤre, welche
alles genau enthielte, was irgend einer aus dem ihm vorlie—
genden ſich als Pflicht berechnet. Ueberhaupt aber muß es
bei dem Fortſchritt und der weiteren Bildung und Realifi-
rung des ſittlichen unmoͤglich erſcheinen, daß eine Sittenlebre
aus der alten Zeit alles ausdruͤkklich enthalten koͤnnte, was
von den Genoſſen der jezigen zu fordern iſt, und eben fo we—
nig in einer jezigen für eine ferne Zukunft. Sondern es iſt
nur gemeint, daß nichts ſittliches ſo ganz fehlen darf, daß
nicht der Ort aufzuzeigen waͤre, an welchem es unter einem
andern ausdruͤkklich benannten mit enthalten waͤre; und eben
ſo, daß fuͤr jedes geforderte Urtheil die Gruͤnde in einem
wirklich aufgeſtellten muͤſſen zu finden ſein. Auch in dieſer
Bedeutung nun ſind bereits oben einige Maͤngel angefuͤhrt
worden, welche aus der beſondern Beſchaffenheit dieſer oder
261
jener ethiſchen Idee nothwendig zu folgen fcheinen. Wenn
nun hier nicht nur aus Betrachtung des vorhandenen dieſe
beſtaͤtigt, ſondern eben ſo mehrere neue hinzugefuͤgt werden,
vielleicht ohne eine nothwendige Urſach davon in irgend eis
nem Merkmal der zum Grunde liegenden Idee aufzuzeigen:
ſo koͤnnte es ſcheinen, als ob die lezteren ebenfalls nur den
zufaͤlligen veraͤnderlichen Zuſtand eines jeden Syſtems anzeig⸗
ten, nicht aber ein Urtheil über feine weſentliche Beſchraͤnkt⸗
heit und Untauglichkeit begruͤnden koͤnnten. Es verhaͤlt ſich
aber hiemit anders, als mit dem, was an der Richtigkeit des
einzelnen auszuſtellen war, und zwar aus dieſen Gruͤnden.
Zuerſt naͤmlich kann der weſentliche Grund ſolcher Maͤngel,
wenn er nicht in der Hauptidee des Syſtems zu finden iſt,
in demjenigen Begriff der menſchlichen Natur liegen, welcher
dabei als Bezeichnung des Umfanges und als Grund der Ein⸗
theilung angenommen iſt, und daß zwiſchen beiden wiederum
ein nothwendiger Zuſammenhang Statt findet, iſt bereits an⸗
faͤnglich erinnert. Dann aber iſt auch ein anderes ſelbſt er—
finden und aufbauen, ein anderes nur das vorhandene vers
gleichend bemerken und anreihen. Jenes naͤmlich kann auch
bei einer richtigen Idee mißlingen, wenn der ſittliche Sinn
von dem wiſſenſchaftlichen nicht gehoͤrig geleitet wird, da denn
die Darſtellung zwar unrichtig ſein wird, im Handeln aber
vielleicht das Gefuͤhl berichtigt, was die Begriffe verworren
haben, ohne daß dieſes auch ſogleich auf die Darſtellung vor-
theilhaft zuruͤkkwirkt. Wenn aber ein im Syſtem gar nicht
beruͤhrter und unſtreitig ethiſcher Gegenſtand in der Erfah⸗
rung wirklich vorkommt, gleichviel ob auf eine richtige oder
unrichtige Art behandelt: fo muß doch nothwendig der ſitt⸗
liche Sinn, wo er vorhanden iſt, die in der Thatſache liegende
Aufgabe wahrnehmen, und der Idee angemeſſen was recht iſt
uͤber den Gegenſtand beſtimmen. Ja auch wenn jener ſchwiege,
muͤßte doch der wiſſenſchaftliche Sinn bemerken, daß ihm ein
Ort entgangen iſt, und ausfuͤllend auf die erſte Quelle des
Mangels zuruͤftgehn. Je weniger aber bei einer ſolchen Auf⸗
262
forderung die Luͤkke wahrgenommen wird, um deſto ſicheret
fehlt es auch der Idee an irgend einer noͤthigen Eigenſchaft,
um das ganze aus ihr abzuleiten. Ja uͤberhaupt, wenn man⸗
gelhaft iſt die ſittliche ſowol als die wiſſenſchaftliche Faͤhig⸗
keit berer, welche eine Idee hervorgebracht und angenommen
haben, was für ein Grund bleibt noch uͤbrig, um fie für die
richtige zu halten? Darum nun find weſentliche Mängel
dieſer Art jederzeit entſcheidend e die e e i eines
Syſtems.
Was aber auf der andern Seite die Geſtalt des ganzen
betrifft fo iſt hier ebenfalls die erſte Forderung die der durchs
gängigen Richtigkeit und Uebereinſtimmung des inneren Glie⸗
derbaues. Ueber dieſe jedoch iſt ebenfalls zu dem im zweiten
Buche bereits abgehandelten nichts hinzuzuſezen. Denn die
unſtatthafte Eintheilung der formalen Begriffe, welche ſich
faſt durchgaͤngig offenbarte, und der Mißverſtand in ihren er⸗
ſten Verhaͤltniſſen zu einander giebt genugſam zu erkennen,
daß an eine richtige Gliederung noch nirgends am wenigſten
aber in den am weiteſten ausgefuͤhrten Syſtemen zu denken
iſt, ſondern ſie meiſtentheils widernatuͤrlich theils fremdartiges
verknuͤpfen, theils das zuſammengehoͤrige auseinander werfen.
Dennoch aber koͤnnte durch geſchikkte Auseinanderlegung viel⸗
leicht auch ein ſo verunſtaltetes in ein wohlgeordnetes und
richtiges Syſtem ſich verwandeln laſſen. So daß auch hier
entſcheidender iſt die zweite Forderung, die der Vollſtaͤndig⸗
keit. Welche jedoch auch nicht ſo zu verſtehen iſt, daß alle
verſchiedenen Beziehungen der einzelnen Theile oder der Be⸗
handlungsarten auf einander muͤßten aufgezeichnet ſein. Viel⸗
mehr iſt natuͤrlich, daß eben das wahrſte und ſchoͤnſte ganze
hierin am unerſchoͤpflichſten iſt, und alſo in der Darſtellung
das meiſte dem Betrachter ſelbſt aufzuſuchen uͤberlaſſen muß;
nur daß mit den wichtigſten dieſer Beziehungen auch die Re⸗
geln um die übrigen aufzufinden muͤſſen gegeben fein. Die
Vollſtaͤndigkeit aber, welche in einem ſtrengeren Sinne gefor⸗
dert wird, iſt auf der einen Seite das Ebenmaaß der aͤuße⸗
263
ren umriſſe, auf der andern aber die Beſtimmtheit und Ver⸗
ſtaͤndlichkeit der Grenzen der Wiſſenſchaft gegen die uͤbrigen
nahe gelegenen und verwandten, ohne welche die urſpruͤngliche
Idee unmoͤglich eine richtige ſein kann. Dies alſo iſt es,
was in Hinſicht auf den Inhalt und die Geſtalt der bisher
aufgeſtellten ethiſchen Syſteme wird zu pruͤfen ſein.
Erſter Abſchnitt.
Von des Bollftändigfeit der ethiſchen Syſteme
in Abſicht auf den Inhalt.
Das erſte nun, was in Beziehung auf dieſe Frage unter⸗
ſucht wird, ſei dieſes, ob dasjenige, was in den bisherigen
Darſtellungen der Sittenlehre wirklich aufgeführt wird, auch
ſo durchgaͤngig beſtimmt iſt, daß es mit Recht als das tref⸗
fende Bild eines der angenommenen Idee gemaͤßen menſchli⸗
chen Handelns kann angeſehen werden. Und hier wird jeder
ſogleich geſtehen muͤſſen, daß von allem faſt, wovon das Was
iſt beſtimmt worden, das Wie wenigſtens faſt uͤberall hat
unbeſtimmt bleiben muͤſſen. Alle ſittlichen Vorſchriften naͤm⸗
lich ſind ſo weit, daß ohne ihnen zuwiderzulaufen dieſelbe
Pflicht auf ſehr verſchiedene Arten kann ausgeuͤbt werden,
und zwar ſo, daß die Aehnlichkeit der Handlungen in ihrem
innern Weſen ganz verſchwindet, und nur die aͤußere des be⸗
wirkten uͤbrig bleibt, oder die allgemeine des Endzwekks. So
zum Beiſpiel koͤnnen mehrere dieſelbe Pflicht der vergeltenden
Gerechtigkeit ausüben nach gleichen Grundfäzen mit gleicher
Hinſicht auf das gemeine Wohl oder das perſoͤnliche Verdienſt
und gleichen Vorſtellungen von dem zu beobachtenden Maaß,
dennoch aber mit ſo verſchiedenen Abſtufungen des begleiten⸗
*
265
den Gefuͤhls von der entſchiedenſten Kaͤlte an bis zur beweg⸗
teſten Theilnehmung, daß die aͤußerſten Enden mehr entgegen⸗
geſezt erſcheinen durch dieſe Verſchiedenheit als gleich durch
jene Uebereinſtimmung mit der gleichen Vorſchrift. Eben ſo
koͤnnen mehrere die Verbindlichkeit erfuͤllen ihre Ueberzeugung
mitzutheilen gegen eine ihr zuwiderlaufende; der eine aber mit
begeiſtertem Eifer, der andere mit bedachtſamer Gelaſſenheit,
und der eine nur ſich vertheidigend, und nicht mehr als uns
mittelbar zum Zwekk gehoͤrig iſt ausfuͤhrend, der andere aber
tiefer in den Zuſammenhang eindringend, und mehr im gro⸗
ßen um Bahn zu machen der kuͤnftigen Eroͤrterung aͤhnlicher
Verſchiedenheiten. Andere Ungleichheiten gaͤbe es in der Art
den Beruf auszuuͤben und zu vervollkommnen, und dabei das
Nachdenken mit der Ausuͤbung zu verbinden. Denn wie bei
einem einzelnen Werk andere nach anderer Ordnung verfah⸗
ten, der eine namlich erſt einen Theil vollendet, der andere
gleichmaͤßig alle bearbeitet: fo kann auch das ganze gefchäfs
tige oder bildende Leben verſchieden eingerichtet ſein. Und viele
andere Beiſpiele koͤnnten von allen Seiten an dieſe angeknuͤpft
werden; es koͤnnen aber auch die angeführten ſchon hinreichen,
um jedem bemerklich zu machen, wie dieſe Unbeſtimmtheit
uͤber das ganze Gebiet der Pflicht ſich verbreitet. Vielleicht
nun koͤnnte jemand hierauf vertheidigend anwenden, was
Kant irgendwo ſagt, daß in jeder Handlung mehrere Pflich⸗
ten zuſammenkommen, und daß alſo der Aufſchluß uͤber das
Wie unter einem andern Abſchnitt koͤnne zu finden ſein, als
jener uͤber das Was. Allein dieſes iſt zuvoͤrderſt zufolge des⸗
jenigen, was oben im Zuſammenhange zur Eroͤrterung des
Pflichtbegriffs iſt durchgefuͤhrt worden, eine gaͤnzliche Verdre⸗
hung deſſelben, und auf ſolche Weiſe ließen ſich die Maͤngel
des Syſtems der Reihe nach einem Theile nach dem andern
zuſchieben, ohne irgendwo wirklich erlediget zu werden. Denn
das Weſen des Pflichtbegriffs beſteht eben darin zu beſtim⸗
men, was das ganze fittliche iſt für ein gegebenes Handeln
oder einen gegebenen Moment, und dieſe Beſtimmung alſo
266
muß vermittelft deſſelben an Einer Stelle ganz und unges
theilt koͤnnen gefunden werden. Wie es mit dieſer Entſchul⸗
digung beſchaffen iſt, erhellt aber auch daraus, wenn man
nur auf den Gedanken achtend, und die unrichtige Bezeich⸗
nung uͤberſehend, die richtigere ſtoiſche an die Stelle ſezt von
der Gegenwart mehrerer oder aller Tugenden in einer Hand⸗
lung. Denn alle jene Beſonderheiten der Art und Weiſe
kann man, wenn ſie das Maaß nicht uͤberſchreiten, unter den
Namen einer Tugend bringen. Nun aber kann es unmoͤglich
gleichguͤltig ſein, ob nur auf eine Weiſe oder auf verſchiedene
die verſchiedenen Tugenden in jedem Falle duͤrfen verknuͤpft
ſein. Alſo wird die Forderung anerkannt nicht nur, ſondern
auch nothwendig auf den Pflichtbegriff zurüffgeworfen. Und
eben ſo wuͤrde ſie auf ihn zuruͤkkkommen, wenn man die
Frage urſpruͤnglich aus dem Geſichtspunkt der Guͤter betrach⸗
ten wollte. Es iſt aber wohl zu merken, daß was die Kritik
fordert, um dem Mangel abzuhelfen, nicht dieſes iſt, daß fuͤr
jeden Fall eine einzig moͤgliche Handlungsweiſe als ſittlich
aufgeſtellt werde: denn ſie kann im voraus nicht entſcheiden,
ob es nur eine giebt oder viele. Sondern nur, daß eben dieſe
durch die Erfahrung aufgegebene Frage wiſſenſchaftlich beant⸗
wortet, und im lezten Falle Umfang und Bedingungen der
angenommenen Mehrheit beſtimmt werde, damit jeder das
ſittliche unterſcheiden koͤnne von dem unſittlichen. Denn die⸗
ſes in der Ethik voruͤberzugehen iſt nicht leichter zu entſchul⸗
digen, als wenn eine Anweiſung zur bildenden Kunſt mit all⸗
gemeinen Vorſchriften ſich begnuͤgend den Umſtand gar nicht
wahrnehmen wollte, daß es und zwar fuͤr jeden Gegenſtand
ſehr verſchiedene Arten giebt ihn zu behandeln in der Dar⸗
ſtellung, welche doch alle jenen allgemeinen Vorſchriften nicht
widerſtreiten. So wie nun die Kunſtlehre ſich daruͤber ent⸗
ſcheiden muß, ob alle dieſe bis auf eine jedesmal nur koͤnnen
fehlerhafte Manieren ſein, oder welche und welche nicht; ſo
auch die Sittenlehre. Wollte aber jemand ſagen, es ſeien
dieſe Verſchiedenheiten weniger bedeutend als auf dem Gebiete
267
der Kunſt auf dem der Sittenlehre, wo fie daher willig und
billig vernachlaͤſſigt wuͤrden, der hat die Aehnlichkeit des Bei⸗
ſpiels nicht verſtanden, noch bedenkt er, wie weit dieſe Ab⸗
weichungen ſich erſtrekken, und in welcher Geſtalt ſie im gro⸗
ßen betrachtet erſcheinen. Denn ſie beruhen am Ende auf der
beſondern Art, wie die Gedanken ſich an einander reihen, und
wie die Gefühle ſich unter einander und gegen jene verbale
ten, worin faſt jeder ſeine eigne Weiſe hat, durch alle Theile
des Lebens hindurchgehend, und in allen Handlungen wieder
zu erkennen. Welche natürliche Beſtaͤndigkeit auch die Urſach
ſein mag, warum theils bei einzelnen Vorſchriften hieruͤber
nichts beſtimmt iſt, theils auch im ganzen dieſes eigenthuͤm⸗
liche einer wenn gleich nur ſtillſchweigenden und eben darum
unwiſſenſchaftlichen Unverlezlichkeit genießt. Denn das ges
meine Urtheil wenigſtens erkennt dieſe an, indem es die Hand⸗
lung, welche dem einen als aus ſeiner feſtſtehenden Regel her⸗
vorgegangen ungetadelt hingeht, einem anderen in gleichem
Falle als mit der ſeinigen nicht uͤbereinſtimmend zum Vor⸗
wurf rechnet. Im großen betrachtet alfo, wo ſich doch über
den Werth eines jeden ſittlichen am beſten urtheilen laͤßt, iſt
dieſes der wichtige und ſchwierige Ort von der Verſchieden⸗
heit der Gemuͤthsſtimmung, oder um es fuͤr den Fall, daß
dieſe Verſchiedenheit ſittlich moͤglich iſt, mit dem wuͤrdigſten
Namen zu nennen, von der Verſchiedenheit des Charakters.
Welcher gewiß fuͤr die Sittenlehre nicht unbedeutender ſein
kann, als der von der Mannigfaltigkeit des Styls für die
Kunſtlehre; ihn aber dennoch dafuͤr auszugeben, waͤre das
unverſtaͤndigſte und der deutlichſte Beweis, daß das eigent⸗
liche Weſen der Sittlichkeit ganz iſt verkannt worden. Denn
nur derjenige, welchem es lediglich um die aͤußere That zu
thun waͤre, duͤrfte von dieſer Mannigfaltigkeit keine Kenntniß
nehmen; wer aber unter dem ſittlichen verſteht den ganzen
Inbegriff deſſen, was in einem gegebenen Falle im Gemuͤth
vorgegangen iſt, von dem muß ſie wohl betrachtet und eine
Entſcheidung darüber gefaßt werden. Um nun das ganze in
268 ö
wenige Worte zu vereinigen, fo iſt die Frage dieſe, ob das
Ideal des weiſen ein einfaches iſt, oder ein vielfaches, und
gefordert wird, daß jede Ethik dieſe Frage, auf welche Weiſe
es auch ſei, entſcheiden ſolle. Denn bei der Unbeſtimmtheit
der ſittlichen Vorſchriften in allen Syſtemen koͤnnen mehrere
Menſchen denſelben fortſchreitend in gleichem Maaße Genuͤge
leiſten; und werden alſo angeſehen werden als dem Ideal
des weiſen gleichmaͤßig annaͤhernd, dennoch aber koͤnnen ſie
in ihrem Handeln und Sein ſich weſentlich verſchieden zeigen.
Soll daher die Ethik ihren Gegenſtand beſtimmen, ſo muß
ſie auch entſcheiden, ob mehrere ſolche ohne dieſen Unterſchied
aufzuheben das Ideal erreichen koͤnnten, in welchem Falle es
für jeden in gewiſſer Hinſicht ein anderes fein würde, oder
ob es ſchlechthin fuͤr alle durchaus daſſelbe iſt, und alſo der
Unterſchied bei allen entweder allmaͤhlig verſchwinden, oder
einer in die Weiſe des andern uͤbergehen muͤſſe. Es iſt aber
auch der Ausweg abgeſchnitten, daß dieſes zuſammenhange
mit einer unerklaͤrlichen und jenſeit des Gebietes der Ethik |
gelegenen natürlichen und angebornen Verſchiedenheit der Men⸗
ſchen. Denn nichts, was das wirkliche menſchliche Handeln |
betrifft, liegt jenſeit des Gebietes der Ethik, weil alles ange⸗
ſehen wird als, wenn auch nicht der Anlage wenigſtens der
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Kraft nach, durch die Uebung und das zufällige willkuͤhrliche
Handeln ſelbſt entſtanden, und alſo auch ſittlich zu beurthei⸗
len. Iſt alſo jene Verſchiedenheit anzuſehen als der einen
und untheilbaren Geſtalt des guten zuwider, ſo wird ſie auch
geſezt als ſittlich zu vernichten, und dies muß eine Aufgabe ö
der Ethik ſein. Wo aber nicht: ſo muß ſie anerkannt wer⸗
den als ein ſittlich hervorzubringendes oder auszubildendes,
und alſo auf jeden Fall ihren Plaz finden in der Ethik, weil
der Begriff des gleichguͤltigen fuͤr dieſe Wiſſenſchaft gaͤnzlich
aufgehoben iſt. Dieſes nun iſt es, woruͤber in den meiſten
Sittenlehren gar nichts, und in keiner etwas genuͤgendes be⸗
ſtimmt wird. Denn wo das Ideal des weiſen nicht aus⸗
druͤkklich als Eins geſezt wird, da wird doch auch die Man⸗
D u
269,
nigfaltigfeit des ſittlichen nicht gehörig anerkannt und bes
ſtimmt; noch, wo jenes geſchieht, die Einfoͤrmigkeit ausdrüffs
lich feſtgeſezt und deutlich vorgezeichnet. Soviel aber wird
jeder ſehen, daß die Entſcheidung der Frage ſelbſt zunaͤchſt
abhängt von jener bereits erwähnten Verſchiedenheit der Ans
ſicht, ob naͤmlich das ſittliche nur ein allen gemeinſchaftliches
ſein ſoll, oder auch ein beſonderes und eigenthuͤmliches, und
es ſcheint aus dieſem Erfolg, als ob jener Unterſchied nicht
waͤre deutlich genug ins Bewußtſein gekommen. Wird nun
auf dasjenige zuruͤkkgeſehen, was oben ſchon hieruͤber beige—
bracht worden, daß naͤmlich, was zuerſt die Sittenlehre des
Genuſſes anbetrifft, dieſe um ſich ſelbſt zu erhalten nothwen⸗
dig ein eigenthuͤmliches der Sittlichkeit annehmen muß, weil
die Gluͤkkſeligkeit nicht anders als in vielfachen Geſtalten ganz
und wirklich vorhanden fein, und nur getheilt, beides in Bes
ziehung auf die Gegenſtaͤnde ſowol, als auf die Art ſie zu
behandeln, von verſchiedenen auf verſchiedene Weiſe kann her—
vorgebracht werden: ſo iſt von dieſen Syſtemen die ausge—
breitetfte Behandlung des beſonderen und vielfachen in dern
Sittlichkeit, und Aufzeichnung der verſchiedenen Arten, wie
—
die Menſchen koͤnnen weiſe werden, mit Recht zu erwarten. |
Dem ganz entgegen findet fi) das wenige, was der Eudäs
monismus von dieſer Art aufzuweiſen hat, und was keinem
anders als fragmentariſch und unzureichend erſcheinen wird,
faſt nur in den nicht wiſſenſchaftlichen Darſtellungen zerſtreut;
die zuſammenhaͤngenden aber halten ſich alle vornaͤmlich nur
an das gemeinſchaftliche, welches, da es kein allgemeines ſein
kann, ein unbeſtimmtes ſein muß. Schon dieſes nun kann
unmoglich ein vortheilhaftes Anzeichen fein für ein Syſtem,
wenn das richtige und nothwendige mehr in anderer Geſtalt
vorhanden ift, als in der wiſſenſchaftlichen, weil naͤmlich mit
Recht die Vermuthung entſteht, daß der Inhalt der wiſſen⸗
ſchaftlichen Geſtalt widerſpricht, und eins das andere zerftört.
Wie denn auch die Urſachen dieſes Mangels darin vornaͤmlich
möchten zu finden fein, daß feinem Geifte treu bleibend das
\
270
Syſtem das gemeinſchaftliche ganz müßte vernachlaͤſſigen, fo
daß es nicht einmal dem beſonderen zur beſchraͤnkenden Be⸗
dingung dienen koͤnnte, und dieſes alſo gar nicht zu baͤndigen
und zuſammenzuhalten waͤre, ſondern ins unbeſtimmte und
unendliche zerfahren muͤßte. Daher denn die furchtſame Un⸗
vollſtaͤndigkeit und Ungruͤndlichkeit, welche jedem in jeder Sit⸗
tenlehre dieſer Art auffallen muß. Was aber zweitens die
Sittenlehre der Thaͤtigkeit anbetrifft, fo folgt aus dem ges
meinſchaftlichen Geiſte derſelben keinesweges eine ſolche vor⸗
zuͤgliche Hinneigung zum Anerkennen und Darſtellen eines be⸗
ſonderen und eigenthuͤmlichen ſittlichen. Denn wenn gleich
oben geſagt worden, daß auch in dieſen Syſtemen recht ver⸗
ſtanden das hoͤchſte Gut ebenfalls nicht von jedem ganz ſon⸗
dern nur von allen gemeinſchaftlich kann hervorgebracht wer⸗
den: fo bezieht ſich doch dieſe Theilung nur auf das Bes
wirkte, nicht aber auf das innere Handeln, welches, wenn
kein anderer Beſtimmungsgrund eintritt, in allen das naͤm⸗
liche ſein kann. Nirgends alſo liegt in dem, was allen Sy⸗
ſtemen dieſer Art gemein iſt, eine Nothwendigkeit, daß die der
Weisheit ſich annaͤhernden nicht nur der Lage nach ſondern
auch an ſich muͤßten verſchieden ſein. Daher zu erwarten
waͤre, daß andere Verſchiedenheiten der Anſicht eine Mannig⸗
faltigkeit der Denkart uͤber dieſen Gegenſtand ſollten hervor⸗
gebracht, und einige auf dieſe andere auf jene Seite ſollten
hingeneigt haben, beſtimmt aber muͤßte ein jeder ſein. Allein
faft gänzlich iſt von allen das eigenthuͤmliche nicht ſowol vers
worfen als uͤberſehen worden, und die Unvollkommenheiten
ſind vielfach, welche man in dem ganzen erblikkt, wenn dieſer
Geſichtspunkt einmal gefaßt iſt. Zuerſt als Einwurf moͤchten
manchem hier einfallen als ein Verſuch die Schilderungen,
welche die Peripatetiker zu machen pflegten, welche aber nicht
hieher gehoͤren, da ſie nur auf die aͤußeren Erſcheinungen ein⸗
zelner vornaͤmlich zu tadelnder Eigenſchaften ſich erſtrekken.
Dagegen iſt der Mangel um ſo offenbarer, daß derſelbe Beob⸗
achtungsgeiſt fie nicht auch auf jene größeren Eigenthuͤmlich⸗
271
keiten geführt hat, um fo mehr da nach ihren Grundſaͤzen
jede Abweichung von Einem gemeinſchaftlichen Urbilde ihnen
ebenfalls als verwerflich haͤtte erſcheinen muͤſſen. Denn da
die Unbeſtimmtheit des einzelnen ſittlichen und der gaͤnzliche
Mangel der Idee eines Berufs den Ariſtoteles veranlaſſen
konnte, auch das unbeſtreitbar ſittliche in Vergleich mit ein⸗
ander zu ſezen, und die ſchoͤnſten Handlungen den ſchoͤnen
vorzuziehen, wieviel mehr haͤtte ihm auch Eine beſtimmte Ge⸗
muͤthsverfaſſung als die ſchoͤnſte, alle uͤbrigen aber als Un⸗
vollkommenheiten erſcheinen muͤſſen. Von andern Schulen des
Alterthums waͤre aus andern Gruͤnden die Annahme eines
gleichfoͤrmig beſtimmten ſittlichen zu erwarten. Theils naͤm⸗
lich, weil der groͤßere Werth, den ſie auf das politiſche ganze
legen, von dem der einzelne nur ein Theil iſt, ſie mehr auf
die Ausbildung des gemeinſchaftlichen als des beſonderen fühs
ren mußte. Theils auch, weil fie ſelbſt ſchon von einem be⸗
ſonderen ausgehend, und eigentlich nur Theile und Zweige ei⸗
nes groͤßeren Syſtems, ſich faͤlſchlich fuͤr das ganze hielten.
Denn dieſes, wie es oben von den beiden eudaͤmoniſtiſchen
Syſtemen geſagt iſt, koͤnnte eben ſo auch von dem ſtoiſchen
und kyniſchen in Vergleich mit dem platoniſchen geſagt wer⸗
den. Bei den Stoikern muß dieſer Mißverſtand, einen bes
ſonderen Charakter für die ganze Sittlichkeit zu nehmen, jes
dem einleuchten, da hingegen den Kynikern vielleicht das Zeug⸗
niß gebuͤhrt ihn weniger gemacht zu haben. Demnach aber
haͤtten die lezteren die Mannigfaltigkeit durchfuͤhren, und der
ihrigen beigeordnete Geſtalten aufzeigen ſollen, wovon jedoch
keine Spur ſich findet. Eben ſo haͤtten die Stoiker nichts
ſeſter halten ſollen, als das Eine Urbild des weiſen, und die
auf alle inneren Verhaͤltniſſe ſich erſtrekkende Einheit einer voll⸗
kommnen Handlung fuͤr jeden Fall. Dagegen finden ſich im
Panaitios, ſo wie im Epiktet und andern aͤhnlichen, Spuren
genug von einer beim Handeln zu nehmenden Ruͤkkſicht auf
die Eigenthuͤmlichkeit des handelnden, und ſolche, daß es ſchwer
iſt dabei nur an die aͤußere Verſchiedenheit der Lage zu den⸗
—
272
ken. Ja, wenn auch dieſe als ſpaͤtere und unreine ſollten zu⸗
rüffgewiefen werden, fo iſt ſchon genug an dem bekannten
Spruch der Stoiker uͤber die Kyniker. Denn wenn es einen
abgekuͤrzten und doch nicht allen gebotenen Weg zur Weide
heit giebt, und zwar einen ſolchen, fuͤr oder gegen welchen
äußere Veranlaſſungen uud Beruf nicht entſcheiden koͤnnen, fo
giebt es wol ſchwerlich hiezu einen andern Grund, obgleich er
ein beſonderer ſein ſoll, als einen inneren. Unlaͤugbar alſo
und deutlich find hier Spuren und Anfänge, welche nicht fort—
geſezt ſind, und daher Unbeſtimmtheit des ganzen, welche wie
nirgends ſo auch hier nicht ohne Widerſpruͤche beſteht. Unter
den neueren ſtoiſirenden ſchwankt Kant auf aͤhnliche Art.
Denn er redet zwar ausdruͤkklich von einer beſtimmten Ge⸗
muͤthsſtimmung, naͤmlich der wakkern und froͤhlichen, als von
einem nicht etwa beliebigen ſondern nothwendigen Mittel zur
Sittlichkeit: allein eben daraus, daß ſie nur ein Mittel ja
das eine Element gar nur die Bedingung eines anderen Mit⸗
tels iſt, ſcheint hervorzugehn, daß fie dem beizugefellen iſt,
was bei vollendeter Sittlichkeit wieder kann aufgegeben wer⸗
den, und alſo der Sittlichkeit nicht als Beſtandtheil nothwen⸗
dig angehoͤrt. Dies beſtaͤrkt ſich noch, wenn man erwaͤgt,
wie Kant anderwaͤrts als von einer natuͤrlichen und gar nicht
zu tadelnden Anſicht und Stimmung von der redet, die Men⸗
ſchen unliebenswuͤrdig und widrig zu finden, welches doch
weder wakker noch froͤhlich lautet. Kann nun diefe Stims
mung, die ihrem Inhalt nach doch offenbar etwas ſittliches
iſt, vorhanden ſein ohne der Tugenduͤbung zu ſchaden: ſo
kann auch andern als der ſchwermuͤthigen und elegiſchen, und
was fuͤr welche ſich aus andern Geſichtspunkten darſtellen
moͤchten, das gleiche Recht nicht entgehn. Weder aber ſind
dieſe angedeutet und conſtruirt, noch in Abſi cht auf ihren Ein⸗
fluß gewuͤrdigt. Mehr ſcheint Fichte der Idee eines ganz
gleichfoͤrmig beftimmten fi ſittlichen treu geblieben zu fein. Denn
wenn man Acht giebt, wie bei ihm die ſittlichen Handlungen
zu Stande kommen, ſo iſt alles der Ueberlegung eingeraͤumt,
und
- 273
und es zeigt ſich auf den erſten Anblikk keine Verſchiedenheit,
als die der Angaben, nach denen die Rechnung angelegt wird,
und hoͤchſtens unter dieſe, alſo unter das nach einer und dere
ſelben Regel fuͤr alle zu modificirende, koͤnnte die Stimmung
mitgerechnet werden. Allein auch er iſt ein Beweis, daß dieſe
Gleichfoͤrmigkeit ſich leichter mit Worten ausſprechen, als
wirklich in ihrer Geſtalt zeichnen und darſtellen laͤßt. Denn
ſteigt man etwas weiter hinauf zu der Art wie die Ueber—
zeugung oder das jedesmalige Pflichtgefuͤhl zu Stande kommt,
mit Zuziehung deſſen, was oben von der Handlungsweiſe des
Gewiſſens geſagt worden: ſo wird man finden, daß wenn
dieſes nicht ein ganz blindes ahndendes Vermoͤgen ſein ſoll,
alsdann grade das, was der Grund des ſittlich unbeſtimmt
gelaſſenen mannigfaltigen iſt, naͤmlich die beſondere Art Ges
danken und Gefuͤhle an einander zu reihen und zu beziehen,
den entſchiedenſten Einfluß haben muß zur Beſtimmung deſ⸗
ſen, was in jedem Falle als Pflicht gefunden wird. Naͤmlich
nicht nur, da keiner wol das Gebiet des moͤglichen Handelns
dem Umfang und Inhalt nach vollkommen uͤberſieht, wird
naturlich jeder nach Maaßgabe ſeiner Eigenthuͤmlichkeit hierin
auch einen andern Theil beachten und vernachlaͤſſigen, welches
freilich allen fuͤr eine aufzuhebende Unvollkommenheit muͤßte
angerechnet werden: ſondern auch unter Vorausſezung voll⸗
ſtaͤndiger Ueberſicht hat gewiß jeder ſeine eigne Art im ein⸗
zelnen eines dem andern der Zeit ſowol als dem Werthe nach
unterzuordnen, von welcher Verſchiedenheit denn nicht daſſelbe
mit Zuverſicht im allgemeinen kann geſagt werden. Auch
findet ſich bei Fichte ein Wort, welches unter dem Scheine
gemeingeltender Verſtaͤndlichkeit dieſe ganze Unbeſtimmtheit
verbirgt, wenn er naͤmlich einen jeden an ſein Herz verweiſet.
Offenbar iſt dieſes Herz der Siz des geruͤgten Uebels, und
es haͤtte, um folgerecht zu ſein, entweder ganz muͤſſen ausge⸗
riſſen werden in einer Sittenlehre, die den groͤßten Theil ſei⸗
ner Functionen ohnedies aufhebt, ſo daß nur die Urtheils⸗
kraft und das gleich unbegreifliche Gewiſſen übrig geblieben
Schleierm. Grundl. S
274
wäre; oder es haͤtte muͤſſen ſelbſt weiter beſtimmt werden,
damit nicht mit dem Herzen uͤberhaupt auch allerlei böͤſe Her—
zen geſezt wuͤrden, oder ſolche, die der ſittlichen Urtheilskraft
das Gebiet verlezten. So aber wie jezt verfahren worden, iſt
mit dem Herzen unſtreitig ein unbeſtimmtes ohne Princip der
Beſtimmbarkeit durch das ganze Gebiet des ſittlichen Han⸗
delns hindurchgehendes geſezt. Auf eine andere Weiſe verfehs
len ferner ihres Zwekks einige Lehrer der Vollkommenheit,
welche auch einen einzig möglichen ſittlichen Charakter behaup⸗
tend ſich mehr als andere bemuͤhen ihn genau zu verzeichnen.
Ihr Verfahren dabei beſteht aber darin, daß ſie etwas unfein
die Verſchiedenheiten nur da bemerken, wo fie durch Uebers
maaß ſich von der ſittlichen Regel entfernen, und daß ſie nun
glauben ſie durch Maͤßigung gaͤnzlich aufzuheben, wodurch ſie
ja vielmehr erſt ſittlich conſtituirt werden. Denn die Gleich⸗
foͤrmigkeit iſt auf dieſe Art nur die aͤußere der Erſcheinung,
das innere Princip aber bleibt immer verſchieden, und wer
zum Beiſpiel in einem ſanftmuͤthigen Geiſte handelt, welcher
ſittlich iſt, und eben daher gemaͤßigt erſcheint, weil ſich nie
eine ſtillſchweigende Billigung des Unrechts oder etwas dem
aͤhnliches darin zeigt, der hat doch anders gehandelt als der,
welcher in einem eifrigen und auf dieſelbe Art ſittlichen Geiſte
handelte, ſollten auch aͤußerlich beide nicht zu unterſcheiden
ſein. So ergehet es alſo denen, welche ihrem Grundſaz nach
von der Gleichfoͤrmigkeit alles ſittlichen ausgehn, daß ſie
nämlich dennoch in der Ausführung dem indirecten Anerken⸗
nen einer Verſchiedenheit nicht ausweichen, und ſo zwiſchen
entgegengeſeztem ſchwankend eben fo wenig die Gleichfoͤrmig⸗
keit wirklich zu behaupten vermoͤgen, als die Verſchiedenheit
zu beſtimmen. Derer aber, welche von einer Ausbildung des
eigenthuͤmlichen zur Sittlichkeit, und alſo von einem beſonde⸗
ren und vielgeſtalteten ſittlichen ausgegangen ſind, giebt es,
abgeſehen von den Eudaͤmoniſten, deren ſchon erwaͤhnt wor⸗
den, nur wenige, und zu nennen ſind nur die beiden, Platon
naͤmlich und Spinoza. Von dem lezten iſt ſchon oben ger
Di" ME
ſagt, wie ihm die Annahme eines ſolchen beſonderen natürlich
ſein mußte, er befindet ſich aber in demſelben Falle, ſich deſ—
ſen nicht recht deutlich bewußt geworden zu ſein, und nur
der aufmerkſame Leſer deſſelben wird wenige Stellen finden,
wo ihm ſo etwas vorgeſchwebt hat. Wie denn auch nur,
ſofern der Menſch ein Gegenſtand der Betrachtung und Be—
handlung iſt nach feinen Grundſaͤzen, ein ſolches eigenthuͤm⸗
liches als nothwendig erſcheint; von der Seite des Handelns
aber angeſehen moͤchte auch wol ſein Ideal des weiſen nur
ein einfaches ſein, weil die durchgaͤngige Erkenntniß Gottes
in allen Dingen als reine Wiſſenſchaft nur eine und durchs
aus dieſelbe ſein kann, und auch der daraus hervorgehende
Affekt der Liebe zu Gott nur einer iſt. So daß leicht dieſes
eine von den Stellen ſein moͤchte, wo auch er weniger mit
ſich ſelbſt uͤbereinſtimmt. Nur Platon iſt offenbar und übers
all auf dieſer Seite. Denn er unterſcheidet ſehr ſorgfaͤltig
das Gebiet des gemeinſchaftlichen von dem des beſonderen,
und ſezt auch das lezte auf die Art, wie er bei allem zu
thun pflegt, was über das Gebiet dialektiſcher Erweiſe hin—
ausgeht, naͤmlich durch mythiſche und myſtiſche Behandlung,
als ein urſpruͤngliches und ewiges. Ja dem aufmerkſamen
wird auch das Beſtreben einer kosmiſchen, und alſo gewiß
ſyſtematiſchen Zuſammenſtellung dieſes mannigfaltigen nicht
entgehen. Woraus genugſam erhellt, wie weit er auch in
Beziehung auf dieſen Gegenſtand an ſicherer und uͤbereinſtim⸗
mender Anſchauung allen denen vorangeht, welche, obſchon
zugleich von dem Beduͤrfniß ein ganzes der Form nach dar⸗
zuſtellen getrieben, dennoch den Ausweg aus dem unbeſtimm⸗
ten nicht zu finden gewußt, in welches ſie ſich verwikkelt hat⸗
ten. Die Zuſammenſtellung dieſer beiden aber wird auch
demjenigen, der ihre Eigenthuͤmlichkeiten kennt, am beſten den
entſcheidenden Wink geben, welches eigentlich die Urſach iſt
von dieſer ganzen Verwirrung, daß einige das beſondere im
ſittlichen in ihrer ausdruͤkklichen Lehre laut verneinen, und es
dann 0 ſtillſchweigend und verftefft wieder Mehmen, an⸗
S2
276
dere aber es zwar dialektiſch auf ihrem Wege finden, es aber
doch weder gruͤndlich verſtehen, noch gehoͤrig herauszubringen
vermoͤgen. Denn wenn Platon ſich eines Vorzuges ruͤhmt,
und denſelben Spinoza entbehren muß: ſo iſt die Urſach leicht
zu finden, und vielleicht nirgends fo deutlich als hier beftäs
tigt fie ſich durch Vergleichung der übrigen, von denen zu res
den der Muͤhe verlohnt. Doch was ſo ſehr an den Grenzen
der Unterſuchung liegt, weil es ſo genau mit der phyſiſchen
Theorie der Ethiker zuſammenhaͤngt, kann fuͤr die, welche es
noch nicht verſtanden haben, nur mit wenigen Worten ange⸗
deutet werden. Dieſes naͤmlich ſcheint der Grund des Uebels
zu ſein, daß alle faſt das geiſtige Vermoͤgen des Menſchen
nur anſehen als Vernunft, die andere Anſicht dieſer Grund⸗
kraft aber als freies Verknuͤpfungs- und Hervorbringungs—
vermoͤgen, oder als Fantaſie, ganz vernachlaͤſſigen, welches
doch die eigentlich ethiſche Anſicht ſein muͤßte, und ſich eben
deshalb auch in der Ausfuͤhrung nicht ganz uͤberſehen laͤßt.
Denn die Vernunft freilich iſt in allen dieſelbe, und das
durchaus gemeinſchaftliche und gleichfoͤrmige, fo daß es ei
gentlich ſinnlos iſt, von einer individuellen Vernunft zu res
den, wenn naͤmlich dieſes mehr bedeuten ſoll, als die bloße
numeriſche Verſchiedenheit der Organiſation und der aͤußeren
Bedingungen von Raum und Zeit. Die Fantaſie aber iſt
das eigentlich individuelle und beſondere eines jeden, und zu
ihr offenbar gehoͤrt auch, was ſich oben als das gemeinſchaft⸗
liche Merkmal des unbeſtimmt gelaſſenen gezeigt hat. Und
wie wuͤrde ſich Kant zum Beiſpiel, welcher ſo gern geſteht
ſeine Sittenlehre ſei nur fuͤr diejenigen guͤltig, welche vernuͤnf⸗
tig ſein wollen, wie wuͤrde er ſich verwundern und gar nicht
vernehmen was geſagt waͤre, wenn einer noch den zweiten
Theil der Sittenlehre forderte fuͤr diejenigen, welche Vernunft
freilich aber nicht nur ſie haben wollten, ſondern auch Fan⸗
taſie, indem fie ſonſt glauben möchten. nichts weder zu fein
noch zu haben. Denn jener begreift nicht, daß er durch die⸗
ſelbe Kraft, welcher er nur verſtatten möchte aus dem umher⸗
277
ziehenden Rauch Bilder zu dichten, auch alles andere bilden
und geſtalten muß, und daß eben dieſe nicht nur alle kuͤnfti⸗
gen Handlungen vorbildet, welche die Vernunft beſtaͤtigt oder
verwirft, ſondern auch die gewaͤhlten erſt belebend ausbilden
muß. Nicht anders ja iſt es auch bei Fichte, welchem nur
folgerechter als jenem auch das wenige noch verſchwindet, und
alle Funktionen der Fantaſie, ausgenommen wenn ſie wieder
ruͤkkwaͤrts von der Vernunft gefordert werden, in die nicht
genug zu beachtende Rubrik der Dinge gehoͤren, zu denen die
Zeit nicht vorhanden iſt. Wie er denn auch außer dem ganz
richtig in die Gemeinheit aus dem Individuo heraus verſezten
Sittengeſez nichts anerkennt als Verſtand und Leib, welche
Werkzeuge des Sittengeſezes ſein ſollen, alles uͤbrige aber
ihm zu dem aͤußeren gehoͤren muß, durch welches der Punkt
beſtimmt wird, auf dem der Menſch ſich findet, unter welchem
zufälligen dann auch die Fantaſie ſchlaͤft zu großer Ueberein⸗
ſtimmung mit ſeiner Lehre vom Daſein. Indeß zeiget auch
=
hier das Gleichniß vom Werkzeuge hinkend und verraͤtheriſch
auf die Wahrheit, und auf den Zuſammenhang jenes Fehlers
mit einem andern ſchon erwaͤhnten, naͤmlich der Unbeſtimmt⸗
heit in der Methode den Stand und Beruf zu erwaͤhlen.
Denn die eigenthuͤmliche Art Gedanken und Gefühle hervor⸗
zubringen muß entweder von dem Augenblikk an, wo der
Menſch ſich findet, ganz unter eine gleichfoͤrmige und allge⸗
mein geltende Vorſchrift gebracht werden, wozu jede Anwei⸗
ſung fehlt, oder ſie muß als ein bleibendes nothwendigen
Einfluß haben auf die Art, wie jeder Werkzeug iſt, und auf
die Regeln, nach welchen er die Gegenſtaͤnde ſeiner Bearbei⸗
tung waͤhlt, welche Regeln nicht nur gleichfalls fehlen, ſon⸗
dern auch im Widerſpruch ſtehen wuͤrden mit dem der Geſell⸗
ſchaft eingeraͤumten Rechte des Verbotes.
Ob aus demſelben Grunde entſtehend, das bleibe eines
jeden Beurtheilung anheimgeſtellt, offenbar aber im genauen
Zuſammenhange mit dem bisher geruͤgten ſteht der zweite
Fehler, daß naͤmlich vieles, was ethiſch beſtimmt ſein müßte,
278
fo gut als ganz uͤbergangen iſt in den Darſtellungen der
Sittenlehre. Und zuerſt zwar zeigt ſich dieſes natuͤrlich in
demjenigen Theile des menſchlichen Lebens, wo das bisher als
eigenthuͤmliche Art und Weiſe in pflichtmaͤßigen Handlungen
beſchriebene zugleich den eigentlichen Gehalt der Handlungen
ausmacht. Daß es aber einen ſolchen giebt, und daß er von
großer Wichtigkeit iſt fuͤr das ganze, wird wol niemand
laͤugnen. Denn offenbar beſchaͤftiget einerſeits bei den meiſten
Menſchen ihr eigentliches Handeln gar nicht die ganze Kraft
des Gemuͤthes, ſondern wo die mechaniſche Ausführung an—
geht, da macht Uebung und Gewoͤhnung ſelbſt einen hohen
Grad von Vollkommenheit moͤglich, ohne die Aufmerkſamkeit
mehr als in einzelnen Augenblikken fuͤr den Gegenſtand zu
binden. Und eine ſolche Reihe von Gedanken und Gefuͤhlen,
welche mit der Handlung gar nicht anders als durch die Iden
titaͤt der Zeit verbunden ſind, wird mit Recht als ein eigner
Gegenſtand der ſittlichen Beſtimmung und Beurtheilung an⸗
geſehn. Daß aber hier alle Verſchiedenheit beruht nicht etwa
auf den aͤußern veranlaſſenden und auffordernden Gegenſtaͤn⸗
den, ſondern auf der eigenthuͤmlichen Art die Gedanken anzus
knuͤpfen und zu verbinden, dieſes muß einleuchten, da ja bei
Gelegenheit der naͤmlichen Gegenſtaͤnde ganz verſchiedene Be⸗
trachtungen entſtehen koͤnnen, und umgekehrt. So daß ein
jeder geſtehen muß, es gebe ſchon innerhalb dieſes Gebietes
eine große Maſſe inneren und idealen Handelns der angezeig⸗
ten Art. Gewiß auch moͤchte es nicht angehn, dieſes etwa
unter dem Vorwande des unwillkuͤhrlichen oder geringfuͤgigen
auszuſchließen aus dem Gebiete der Sittlichkeit. Denn uͤber
beides iſt ſchon oben, und ſo auch uͤber ſeine Anwendung auf
das ſogenannte ideale Handeln das noͤthige geſagt: hier aber
befonders iſt nicht zu laͤugnen, daß es eines Theils denjeni⸗
gen ſittlichen Zuſtand, mit welchem es als Zeichen und Aus⸗
drukk zuſammenhaͤngt, auch als Uebung und Gewoͤhnung be⸗
feſtigt, und daß es andern Theils bei einiger abſichtlichen Lei⸗
tung auch durch Pruͤfung und Betrachtung des gegenwaͤrti⸗
279
gen vorbereitend und beſſernd auf das kuͤnftige zu wirken vers
mag Wie denn auch offenbar nicht nur die Sittlichkeit des
weiblichen Geſchlechtes vorzuͤglich von dieſem Theile ihres Le—
bens abhaͤngt, ſondern auch die mannigfaltigen befonderen
ſittlichen Erſcheinungen unter der mechaniſch arbeitenden Ab—
theilung der Geſellſchaft hieraus zu erklaͤren ſind. Ja der
traurigſte und am meiſten zu verbannende Zuſtand der menſch—
lichen Seele, der Wahnſinn naͤmlich, kann unmoͤglich anders
anfangen, als durch unbeherrſchte Verkehrtheit dieſes innern
Spieles der Vorſtellungen. Andererſeits aber muͤſſen eben ſo
gewiß diejenigen, deren Handeln wenig oder nichts mechani—
ſches beigemiſcht iſt, einen abgeſonderten Zuſtand der freien
und inneren Thaͤtigkeit haben nicht etwa nur aus Beduͤrfniß,
von welchem ja erſt müßte unterſucht werden, ob es zu bee
friedigen iſt oder abzuweiſen, ſondern ſchon weil alles vor—
handen ſein ſoll im menſchlichen Leben, was darin gegeben
iſt, nur auf die rechte Art, und noch mehr, weil ein großer
Theil der weſentlichſten ſittlichen Endzwekke nicht etwa nach
einem, ſondern nach allen verſchiedenen Syſtemen gar nicht
anders kann erreicht werden als durch freie und innere Thaͤ—
tigkeit. Auch fuͤhlt jeder wol, wie durch dieſer Thaͤtigkeit
Gehalt Beſchraͤnkung und Ausdehnung Sittlichkeit oder Uns
ſittlichkeit ſich ausdruͤkkt und entſteht, und wie ſowol in den
Gegenſtaͤnden derſelben, als in der Art ſie zu behandeln,
ſchikkliches und unſchikkliches liegt fuͤr andere auf andere
Weiſe; Anweiſungen aber hierüber wird keiner in irgend ei—
ner Darſtellung der Sittenlehre aufzuzeigen haben, oder nur
ſolche koͤnnten es ſein, uͤber deren Leerheit und Duͤrftigkeit
nicht erſt noͤthig iſt etwas zu erinnern. Weiter verbreitet ſich
ferner dieſer Fehler ſehr natuͤrlich uͤber die Art eben dieſes im
innern vorgehende auch anderen mitzutheilen, woruͤber gleich—
falls ſittliche Vorſtellungen von einiger Bedeutung an den mei—
ſten Orten vergeblich moͤchten gefucht werden. Denn die Ges
ſeze des Umganges überhaupt find faft überall nur negativ in
Beziehung auf irgend eine entweder angenommene, oder wenn
—
\
280
N
es hoch kommt ſelbſt conſtruirte aͤußere Wohlanſtaͤndigkeit.
Sogar verbreitet ſich nicht weiter die ſcheinbare aber nur aus
dem dialektiſchen Intereſſe entſtandene Vollſtaͤndigkeit der Stoi—
ker, welche mehr den leeren Titel einer ſich hierauf beziehenden
Tugend aufſtellt als ihn wirklich ausfuͤllt, wozu auch in dem
Geiſte des Syſtems keine Veranlaſſung war. An die Benu⸗
zung der freien Mittheilung zur Beförderung weſentlicher ethi—
ſcher Zwekke iſt bei ihnen eben ſo wenig als bei andern zu
denken, und die Tugenden der freien Geſelligkeit, welche ſie
aufſtellen, weiſen auf nichts zuruͤkk in dem Verzeichniß ihrer
Güter. Und was vielleicht jemand ſagen möchte, die Hand⸗
lungsweiſe muͤſſe in dieſer Hinſicht beurtheilt werden nach den
allgemeinen Vorſchriften der Menſchenliebe, wie ſie eben in
jedem Syſtem iſt, und der Wahrhaftigkeit, dies heißt nur den
Streitpunkt verſchieben, und hoͤchſtens dieſen Fehler in einen
der vorigen Art verwandeln. Denn jene Vorſchriften ſind ja
auch uͤberall nur allgemein, in der freien Mittheilung aber
beruht das meiſte, wo nicht alles, nicht nur dem Inhalt ſon—
dern auch der Weiſe nach gleichfalls auf dem eigenthuͤmlichen,
ſo daß gewiß das Princip der Beurtheilung fehlte, wenn
auch der Ort dazu da waͤre, wiewol auch das lezte nur mit
großer Einſchraͤnkung koͤnnte zugeſtanden werden. Und wie
wenig namentlich den neueren praktiſchen Ethikern der Ges
danke gekommen iſt, etwas uͤber dieſe Gegenſtaͤnde beſtimmen
und die Mittheilung dieſer Art eigentlich ſittlich conſtruiren
zu wollen, dies ſieht jeder. Denn wie laͤſſig ohne eigentli=
chen Ort und Zuſammenhang ſteht bei Kant die Maxime,
daß der Menſch ſich nicht vereinzeln ſolle mit ſeinen Kennt⸗
niſſen und Gedanken, und wie wenig kann ſie auch zu ſagen
haben bei dem Grundſaz, daß der Sittlichkeit nicht zugehoͤre
fremde Vollkommenheit zu befoͤrdern. Dieſen nun hat Fichte
zwar nicht in derſelben Art aufgeſtellt, allein bei ihm bezieht
ſich jede Mittheilung, welche nicht ſtreng wiſſenſchaftlich iſt,
oder zum Geſchaͤft des Berufs gehoͤrt, nur auf eine Auffor⸗ |
derung, und ſittliches giebt es nur in Hinſicht derfelben, wenn
281
diefe Aufforderung etwas unmittelbar praftifches zum Gegen:
ftande hat. Vergleicht man nun hiemit gar jene denkwuͤrdige
Aeußerung, daß es dem Menſchen gar nicht obliege Geſell⸗
ſchaft zu ſtiften, ſondern er gar wohl in der Wuͤſte bleiben
duͤrfte, wenn er ſich da faͤnde: ſo ſieht man, wie wenig auch
er bedacht ſein konnte dieſen Theil des Lebens, wie es ſein
muͤßte, ethiſch zu conſtruiren. Beſonders offenbart ſich auch
bei ihm, eben weil er folgerechter und genauer iſt auch noch
deutlicher als bei Kant, dieſer Mangel an Beſtimmtheit uͤber
die freie ſittliche Einwirkung durch die ſchroffe und harte Art,
wie die Erziehung ſich abſondern und begrenzen ſoll, ohne
daß das Problem, den rechten Punkt zu finden, wirklich konnte
geloͤſt werden. Doch dieſes ſei nur beilaͤufig angedeutet. Es
gilt aber dieſer Vorwurf, daß vernachlaͤſſiget wird die freie
Mittheilung als ein ſittlich gefordertes aufzuſtellen und aus⸗
zubilden, nicht nur die praktiſchen Sittenlehren, ſondern nicht
minder auch die auf Luſt und Genuß ausgehenden, fuͤr welche
doch eben dieſes, wofern ſie ſich nur einigermaßen uͤber das
organiſche ausdehnen wollen, das wichtigſte und der Siz der
groͤßten Guͤter ſein muͤßte. So daß zu verwundern iſt, wie
ſo viele ſich dennoch laͤnger bei der Gerechtigkeit verweilen,
die ihnen doch eigentlich ein Uebel duͤnken muß, und lieber
einen Staat aufbauen, als ein Gaſtmahl, oder ſonſt einen
gemeinſamen Genuß loͤblicher und edlerer Vergnuͤgungen.
Vorzuͤglich nun wäre für fie wichtig den Scherz und den
Wiz abzuleiten und zu beſtimmen; aber auch fuͤr die prakti⸗
ſchen Sittenlehrer iſt es vieler Beziehungen wegen offenbar
eine bedeutende Aufgabe, Umfang und eigenthuͤmliche Grenzen
des ſittlichen dieſer Art zu finden. Wie wenig aber hievon
die Rede iſt, weiß jeder. Denn ſelbſt denen, welche ſonſt
wohl zu ſcherzen wiſſen, geht der Scherz in der Sittenlehre
ganz aus, und iſt ihnen ſo fremd, daß er gar nicht zur Er⸗
innerung kommt. Bei andern wird er zunaͤchſt nur als Er⸗
ſchuͤtterungsmittel auf das Zwerchfell bezogen, oder als Reiz
auf die Nerven, und gehoͤrt dem Koͤrper an, ſo daß er eigent⸗
282
lich vom Arzt muß verordnet werden. Auch die Stoiker,
wiſſen ſie gleich dieſes eine, daß der weiſe ſich nicht betrinken
werde, noch beſtimmter als Kant, fuͤhren doch von ſeinem
Verhalten in dieſer Hinſicht gar wenig aus. Ariſtoteles
moͤchte faſt der einzige ſein, der dem Scherz ganz ernſthaft
einen eben ſo breiten Plaz einraͤumt, als jedem andern ethi—
ſchen Element; wiewol auch nur aus Beduͤrfniß, der Ruhe
wegen, alſo als Mittel. Davon aber, daß er, wenn er uͤber—
haupt ſein ſoll, da er die Zeit ausfuͤllt, auch an ſich ſelbſt
Zwekk und Bedeutung haben muß, und von der befonderen
Anſicht der Welt, wovon er gleichſam die Wurzel iſt, davon
iſt nirgends die Rede, obgleich die Kunſt nicht weniger als
das Leben ſich beſtrebt hat es zur Anſchauung zu bringen.
Und hier tritt freilich noch hinzu eine natuͤrliche Wirkung von
der beſchraͤnkenden Natur der meiſten Sittenlehren, denen es
gar nicht in den Sinn kommen kann, den Scherz zum Bei—
ſpiel urſpruͤnglich auf ſittlichem Wege erzeugen zu wollen;
ſondern ihnen genuͤgt, daß ſie ihn annehmen, wie er gegeben
iſt, als eine natuͤrliche unſchuldige Neigung, und ihn nur
durch irgend eine fremdartige ſittliche Vorſchrift begrenzen und
im Zaum halten. Woraus freilich nichts feſtes und beſtimm⸗
tes entſtehen kann, fo daß ſchon dieſe faſt allgemeine Befchafs
fenheit die Nothwendigkeit von Maͤngeln dieſer ſowol als der
vorigen Art verbuͤrget. Ferner iſt auch eben ſo wenig be⸗
ſtimmt über die ernſteren und wichtigeren menſchlichen Ver⸗
haͤltniſſe, von denen Gemeinſchaft des innern wo nicht das
eigentliche Weſen doch eine unentbehrliche Bedingung iſt.
Denn wenn wir von dieſen das beſte zuſammenfaſſen unter
den beiden Namen der Liebe, im engeren Sinne des Wortes
naͤmlich, und der Freundſchaft, ſo wird gleich jeder wiſſen,
wie unbeſtimmt beide überall gelaſſen werden. So ſehr naͤm⸗
lich, daß fie auch noch nicht die Spur einer wiſſenſchaftlichen
Bearbeitung tragen, und daß, weil faſt nirgends auszumit⸗
teln iſt, ob und wie beide genau unterſchieden werden, gar
nicht würde davon zu reden fein, wenn es nicht erlaubt wäre
233
fie nur problematisch dem gemeinen Gebrauch nach zu trens
nen, und darauf zu verweiſen, daß die Sache ſelbſt zeigen
werde, fie ſei noch nicht weiter gediehen. Daß nun dieſe beis
den Verhaͤltniſſe für jede Ethik unter die wichtigſten Gegen-
ſtaͤnde gehören, iſt offenbar. Denn für die Gluͤkkſeligkeit zuerſt
verurſachen ſie eine gaͤnzliche Veraͤnderung, indem ſie die Luſt
ſowol als den Schmerz vervielfachen, und zu einer hoͤheren
Potenz gleichſam erheben, uͤberdies auch, ſobald fie geſezt wer
den, eine ganz andere Unterordnung und Abwaͤgung der Dinge
entſteht, als ſonſt muͤßte Statt haben. Ferner auch fuͤr die
praktiſche Sittenlehre ſind die Aufgaben ſelbſt ſeltſam und
merkwuͤrdig, und nicht minder groß ihr Einfluß auf das
uͤbrige. In beiden aber ſind Liebe und Freundſchaft immer
der Siz eines blendenden und verfuͤhreriſchen Scheines gewe⸗
fen, indem unter ihrem Vorwande gegen die mehrere Gluͤkk—
ſeligkeit ſowol als gegen das richtige Handeln von jeher viels
fach iſt gefehlt worden. So daß auf alle Weiſe fuͤr beide
nothwendig iſt, dieſe Verhaͤltniſſe zuerſt in ihrem nothwendi⸗
gen Zuſammenhange, wenn es einen giebt, mit den weſentli⸗
chen ſittlichen Zwekken aufzuſtellen, dann aber hieraus genau
ihren Umfang und ihre Grenzen zu beſtimmen. Hierin nun
ſcheinen im ganzen die Sittenlehrer der Gluͤkkſeligkeit den Vor⸗
zug wenigſtens des Beſtrebens zu haben. Denn zu allen
Zeiten haben ſie ſich bemuͤht durch genaue Beſtimmung des
Begriffs und Ausfonderung alles desjenigen, was offenbar
ihren Grundſaͤzen widerſpricht, die Freundſchaft als ein auch
nach ihren Ideen ſittliches Verhaͤltniß darzuſtellen. Naͤher bes
trachtet aber iſt deutlich genug, daß die Selbſtvertheidigung
gegen die praktiſchen Sittenlehrer, welche behaupten wollten,
alles Wohlwollen werde aufgehoben durch das alles beherr—
ſchende Streben nach Luſt, hieran den meiſten Antheil gehabt,
und daß auch fie den Begriff mehr als einen ſchon vorhan—
denen mit ihrem Syſtem zu vereinigen geſucht, als daß ſie
ihn aus den innerſten Grundſaͤzen ſelbſt erzeugt haͤtten. Wie
denn auch an eine nur einigermaßen durchgefuͤhrte Lehre von
284
der Freundſchaft in keiner eudaͤmoniſtiſchen Ethik zu denken
iſt. Sondern es wollen die einen immer zu viel beweiſen, in—
dem fie die Freundſchaft auch zum Grunde der größeren buͤr—
gerlichen Vereinigung machen wollen, welches dem in dieſer
Ethik unvermeidlichen Vorrange des beſonderen vor dem ge—
meinſchaftlichen zuwiderlaͤuft; die andern aber zu wenig, in—
dem ſie die Freundſchaft nicht aufrichten als ein feſtes und
ſelbſtſtaͤndiges Verhaͤltniß, ſondern nur als ein zufaͤlliges Zu⸗
ſammentreffen des eignen Beſtrebens und Gelingens mit dem
fremden. Was nun gar die Liebe anbetrifft, ſo iſt weder von
denen, welche die Geſchlechtsluſt allein fuͤr eines der groͤßten
Güter annehmen, die Abſonderung derſelben von jeder auf et—
was anderes gerichteten Freundſchaft als das beſſere erwie⸗
ſen, und die Art bezeichnet worden, wie jener Gegenſtand in
ſolcher Abſonderung zu behandeln ſei; noch auch von den uns
ter den neueren nicht ſeltenen Vertheidigern einer hoͤheren Liebe
der Grund zu der Vereinigung zwei ſo verſchiedener Elemente
aufgezeigt und fie in ihrem Weſen und ihren Wirkungen dar⸗
geſtellt worden. Gewiß aber nicht beſſer ſtimmen die Sitten⸗
lehrer des Handelns mit ſich ſelbſt uͤberein, oder loͤſen bis
zur Vollendung die Aufgabe. Wobei fuͤr die aͤlteren noch
dieſes den Vorwurf erſchwert, daß ſie ſich der Faͤhigkeit
Freundſchaft hervorzubringen gegen die Eudaͤmoniſten ſo be⸗
ſonders geruͤhmt, und dieſen Ort als die Haupt- und Pracht⸗
ſtelle ihres Gebaͤudes alſo auch vorzuͤglich haͤtten beleuchten
und verzieren geſollt. Den neueren aber, welche mehr aus
hiſtoriſchen als ſyſtematiſchen Gruͤnden dieſen Streitpunkt
aufgegeben, iſt dagegen nachzuſagen, daß ſie in der Sache
ſelbſt noch ſchlechter erfunden werden als jene. Denn was
zuerſt die Liebe betrifft als ein beſonderes und zwar das ale.
lergenaueſte auf Gemeinſchaft des inneren angelegte Verhaͤlt⸗
niß, ſo waͤren die alten bei dem angenommenen und auch aͤu⸗
erlich dargeſtellten Verhaͤltniß ſittlicher Ungleichheit zwiſchen
beiden Geſchlechtern ſehr zu entſchuldigen, wenn dieſes gaͤnz⸗
lich bei ihnen uͤbergangen waͤre. Viel mehr alſo wird man
4
285
ſich begnügen muͤſſen, wenn das, was dem ähnlich in dem
Ort von der edleren Knabenliebe vorkommt, auch unvollſtaͤn⸗
dig dargeſtellt, und wie die Verkehrtheit der Sache ſelbſt nicht
anders erwarten laͤßt, ſehr mangelhaft abgeleitet iſt. Wie
denn auch das Verhaͤltniß, wie zum Beiſpiel die Stoiker es
erklaͤren, als das aus der Schoͤnheit eines anderen entſtandene
Beſtreben nach ſeiner Verbeſſerung ſich nicht gehoͤrig begreifen
laͤßt. Denn da ihnen die Idee des ſymboliſchen gaͤnzlich fehlt,
ſind ſie auch nicht im Stande einen Zuſammenhang zwiſchen
dem phyſiſchen und ethiſchen anzugeben, und der Vorzug,
welcher der Schoͤnheit ertheilt wird, erſcheint rein willkuͤhrlich
und unſittlich. Auf der andern Seite aber iſt die ethiſche
Aufgabe, ſelbſt ſo beſchraͤnkt aufgefaßt, wenigſtens klar und
verſtaͤndlich. Bei den neueren aber iſt faſt alles in dieſem
Gegenſtande dunkel und unbeſtimmt, und ſie ſcheinen nicht zu
wiſſen, wie ſie dieſes Erzeugniß ihres Zuſtandes und ihrer
- Denfart verarbeiten ſollen. Denn es ganz abzulaͤugnen hat
faſt Kant allein den Muth, welcher keine andere ſittliche Liebe
anerkennt, als die, welche er die praktiſche nennt, naͤmlich die
Behandlung nach dem Geſez, welche ſich jedoch weniger auf
das behandelte Subjekt bezieht, als auf das Geſez, und alſo
den Namen der Liebe kaum verdient. Etwas beſonderes aber
und hoͤheres dieſer Art anzuerkennen iſt er ſo weit entfernt,
daß er auch das eheliche und aͤlterliche Verhaͤltniß ganz ohne
die Spur eines ſolchen behandelt. Wenn nun dieſes als fols
gerecht und in ſich zuſammenhaͤngend zu loben waͤre aus un⸗
ſerm kritiſchen Standpunkte, ſo iſt dagegen aus demſelben
zweierlei ſehr zu tadeln. Einmal iſt ihm doch, was er die
pathologiſche Liebe nennt, als ein wirkliches von großem Ein⸗
fluß auf das geſellige Verhalten gegeben; will er ſie alſo
nicht als ein ſittliches anerkennen, ſo muß er ſie als ein un⸗
ſittliches verwerfen. Dieſes nun duͤrfte freilich jeder andere
nur ſtillſchweigend thun, indem ja alles verworfen iſt, was
nicht mit aufgebaut wird, nur ihm gerade kann dieſe Huͤlfe
nicht zu Statten kommen, da er den entgegengeſezten Weg
286
einſchlaͤgt, und die Tugenden am meiſten durch die ihnen ent⸗
gegenſtehenden Laſter beſchreibt. Denn ſo muͤßte auch die pa⸗
thologiſche Liebe als ein beſonderes einer Tugend entgegenſte—⸗
hendes Laſter erſcheinen; nun aber ſieht man vielmehr, wie
ganz mit Unrecht durch eigne Feigherzigkeit geſchlagen er ſich
quaͤlt mit der Ungewißheit, ob ſie anzunehmen ſei oder zu
verwerfen. Haͤtte ſich ihm aber aus dieſen Zweifeln verras
then, daß ſich unter jenem Namen noch etwas anderes nicht
fo wie die eigentlich pathologiſche Liebe unbedenklich zu vers
werfendes mit verbirgt, weil er eben weder Ort noch Namen
dafür weiß: fo haͤtte er weiter ſchließend auf die Vermu⸗
thung kommen koͤnnen, daß dieſe ſich auf ein wenigen ges
meinſchaftliches, nicht aber als Neigung unſittliches, ſondern
als reine Eigenthuͤmlichkeit ſittliches gruͤnden, und daß es alſo
ein ſolches geben muͤſſe. Zweitens fehlt es nun, die Liebe
hinweggenommen, dem ehelichen und aͤlterlichen Verhaͤltniß
ganz an einem Entſtehungsgrunde und an einem feſthaltenden
Bande. Denn der Gehorſam gegen die Natur, durch den er
ſie nun allein erklaͤren muß, giebt weder einen Grund der
Wahl noch eine laͤngere Dauer und weitere Ausbildung, als
bis die Abſicht der Natur erreicht iſt, und man kann ſagen,
daß dieſe Verhaͤltniſſe nun nicht ſowol ein beſonderes und ge⸗
ſchloſſenes ganze bilden, ſondern nur eine Reihe zufaͤllig ver⸗
knuͤpfter gleichartiger Anwendungen des Geſezes, und daß die
ethiſche Aufgabe vielmehr dahin gehen muͤſſe, ihren Einfluß
auf die uͤbrigen Theile des Lebens, wie von allem was bloß
die Natur auflegt, moͤglichſt einzuſchraͤnken. Worin ſich denn
mehr als irgendwo die Haͤrte und der Unzuſammenhang die⸗
ſer bloß das rechtliche abzirkelnden Sittenlehre offenbart. Bei
Fichte hingegen faͤngt zum deutlichen Beweiſe, wie wenig die
beſſere Tendenz, die er im einzelnen verraͤth, in dem inneren
des Syſtems gegründet iſt, der Unzuſammenhang noch früher
an. Denn er ſezt zwar eine hoͤhere und ſittliche Liebe als
nothwendig; zuerſt aber iſt ſchon nicht klar, wie er ſie unter⸗
ſcheidet von der Freundſchaft, welche er eben wie jene auf die
287
Ehe einſchraͤnkt, und ob nicht eine von beiden nur ein leeres
Wort iſt, oder was eigentlich jeder zukommt in dem durch
beide beſtimmten Verhaͤltniß. Ferner, inſofern nun die Liebe
dasjenige Gefuͤhl iſt, welches das weſentliche in dem Zuſtande
der Ehe, naͤmlich die gaͤnzliche Hingebung bezeichnet: ſo iſt
die hohe Aufgabe, welche er ihr anweiſet, naͤmlich das Vers
ſchmelzen der Individuen, auch nicht im geringſten als wüns
ſchenswerth oder nothwendig erwieſen, und eben ſo wenig in
ihren Grenzen beſtimmt: ſo daß es ſcheint, als habe er uͤber
der Freude des erſten Findens zur klaren Einſicht nicht ge⸗
langen koͤnnen. Denn wie aus dem koͤrperlichen Hingeben,
welches die Befriedigung des Geſchlechtstriebes bezeichnet, ein
ſo gaͤnzliches geiſtiges erfolge, und grade dieſem Theile des
organiſchen Syſtems eine ſo viel groͤßere Bedeutung zukomme
als jedem andern, dies iſt aus dem, was geſagt wird, ethiſch
gar nicht zu begreifen, und nicht zu ſehen, wie der kyniſchen
Gleichguͤltigkeit gegen dieſes Geſchaͤft zu entkommen iſt; da
ja der Untuͤchtigkeit des einen Grundes durch Hinzufuͤgung
eines andern abhelfen zu wollen, welcher ſich mit jenem nicht
vereinigt, und für ſich das ganze doch auch nicht erflärt,
ebenfalls ein ganz unwiſſenſchaftliches und unbefriedigendes
Verfahren ſein wuͤrde. Was aber am meiſten zu tadeln iſt,
beſteht hierin. Erſtlich, wenn wie Fichte annimmt der fürs
perlichen Verſchiedenheit der Geſchlechter auch eine geiſtige
aͤhnliche entſpricht: ſo liegt ja die Aufgabe da, etwas uͤber
dieſe zu beſtimmen, welche aber, als gehoͤre ſie der Ethik nicht
an, gaͤnzlich vorbeigelaſſen iſt. Denn theils mußte geſagt
werden, wie ſie vor der Ehe recht ſcharf ausgebildet werden
muͤßte, damit die Ehe ſelbſt das Geſchaͤft der Vereinigung
auch recht vollkommen vollbringen koͤnne. Anderntheils auch,
wie diejenigen damit zu verfahren haͤtten, denen nun ohne
Schuld die Verſchmelzung unmoͤglich gemacht worden iſt. Und
ſo muͤßte eine Grenze gezogen ſein zwiſchen dem gemein menſch⸗
lichen und dem geſchlechtlich eigentbuͤmlichen. Welche aner⸗
kannte Eigenthuͤmlichkeit dann offenbar mehrere Arten und
288
Stufen derfelben nach ſich ziehen müßte; fo daß entweder
jene Anerkennung etwas fremdartiges und ungehoͤriges fein
muß, oder dieſe Ethik hat ſich bis auf eine kleine Spur um
die ganze Haͤlfte faſt ihres Stammes verkruͤppelt. Zweitens,
indem er auch den Beſtimmungsgrund der Liebe nicht ange—
ben oder nicht erweiſen kann, und alſo etwas unfreies in
derſelben anerkennt, ſo verdirbt er ſich den innerſten Grund
ſeiner Sittenlehre, naͤmlich die Lehre vom Gewiſſen. Denn
ohne deſſen Genehmigung darf doch nicht die Liebe, nachdem
ſie unwiſſend wie entſtanden iſt, handelnd weiter verfolgt, und
die Ehe als die größte und ſittlichſte Angelegenheit des Le⸗
bens geſtiftet werden: wie aber kann das Gewiſſen ſprechen
über das unfreie, und zwiſchen unfreien, nämlich einer richti—
gen und einer doch auch moͤglichen falſchen Wahl, entſcheiden,
wohin doch die ſittliche Urtheilskraft es nicht gefuͤhrt hat?
Auch erſcheinen, wenn man auf dieſem Punkt ſtehen bleibt,
alle Maximen, nach welchen ſonſt in dieſem Syſtem das ſitt⸗
liche in ſchwierigen Fällen conſtruirt, oder vielmehr tumultua⸗
riſch ergriffen wird, das nicht Zeit haben, die ſcharfe und ein⸗
zige Linie des Berufs, und was dem aͤhnlich iſt, gleichſam
auf den Kopf geſtellt, und die Unfaͤhigkeit der Idee ein wirk⸗
liches Syſtem zu begruͤnden dem allgemeinen Anblikk bloß
gegeben. Daſſelbe zeigt ſich auch, wenn man verbeſſernd un-
terſuchen wollte, wie wol Fichte auf richtigem Wege von ſei—
ner Idee aus ſowol zu derjenigen Liebe, welche ſich auf die
Geſchlechtsverſchiedenheit und die Ehe bezieht, als auch zu je⸗
der andern genaueren und geiſtigen Verbindung hatte gelan-
gen koͤnnen. Naͤmlich davon ausgehend, daß die Individua⸗
litaͤt unter die weſentlichen Bedingungen der Ichheit gehoͤrt,
waͤre es der ſynthetiſchen Methode leicht ja ſogar angemeſſen
geweſen, einen Trieb aufzuſtellen, welcher darauf gerichtet
waͤre Individuen zu ſuchen. Dieſer wuͤrde nicht nur, durch
des reinen Triebes Durchdringung zu einem ſittlichen gemacht,
zu mannigfaltiger Freundſchaft hingefuͤhrt haben, ſondern haͤtte
auch allein das nothwendige und jezt ſo wunderbare Auffin⸗
den
289
den der Kunſtwerke erklaͤren koͤnnen. Ja es laͤßt ſich denken,
daß dies wuͤrde bis zu den Sternen, jenem groͤßten Gegen⸗
ſtande des kritiſchen Enthuſiasmus, hingewieſen haben. In⸗
deß ſieht ein jeder, daß, um auch auf dieſem Wege zum vor⸗
geſtekkten Zwekke zu gelangen, jenes Princip nicht muͤßte in
Fichte geweſen fein, welches das Erlaubnißgeſez begründet, ge-
gebenen Falls in der Wuͤſte zu bleiben, und daß auch Indi⸗
vidualitaͤt ihm etwas mehr bedeuten mußte, als nur Perſoͤn⸗
lichkeit und numeriſche Verſchiedenheit des Leibes nebſt dem
bloß materialen Unterſchied des geiſtigen, der daraus folgt.
So daß demnach ohne eine gaͤnzliche Umwandlung des inne⸗
ren dieſes Syſtems dasjenige nicht zu vollbringen moͤglich iſt,
welches anzufangen und einzufuͤhren doch ein unuͤberwindlicher
Trieb vorhanden war. Bei noch mehreren neueren aber zu
fragen, was ihnen die Liebe ſei, ſcheint uͤberfluͤſſig. Denn
wer auch nur den Hauptknoten der Aufgabe aufſuchen will,
naͤmlich die Verbindung des natuͤrlichen Geſchlechtstriebes mit
einem beſonderen geiſtigen Beduͤrfniß, oder wo dieſe gelaͤugnet
wird, die Nachweiſung es ſei nun eines anderen Unterſchiedes
zwiſchen Freundſchaft und Liebe, oder eines anderen Grundes,
das aus dem Naturtriebe entſtehende Verhaͤltniß zugleich zu
einem intellectuellen zu machen: der wird uͤberall dieſen Kno⸗
ten noch ungeloͤſt ja auch die Verſuche dazu ſchwaͤcher finden,
und von ſelbſt ſchließen, daß alſo in noch ſeichteren und un⸗
faͤhigeren Syſtemen auch die Unbeſtimmtheit noch haͤßlicher,
und die Verwirrung der ſchlechteren Anlage des ganzen ge⸗
maͤß noch ſchreiender fein muß. Was daher, um weiter forts
zugehen, die eigentliche Freundſchaft anbetrifft, ſo mag von
ihr beſonders in der Kuͤrze nur noch dieſes hinzugefuͤgt wer⸗
den. Zuerſt naͤmlich ſezt ſchon der gemeine Begriff mehrere
Arten derſelben, worunter nicht etwa die alten Abtheilungen
um des nuͤzlichen des angenehmen und des guten willen ſol⸗
len verſtanden werden, welches nur eine Beſtimmung des Bes
griffs angemeſſen dem Geiſt eines jeden Syſtems waͤre, ſon⸗
dern wie jede dieſer Ideen ihre verſchiedenen Theile hat, von
Schleierm. Grundl. 2
290
denen bald der bald jener der Gegenſtand der Verbindung
und das gemeinſchaftliche Streben ihrer Genoſſen ſein kann.
In den Darſtellungen der Sittenlehre aber ſcheint weder das
gemeinſchaftliche Weſen, noch die Verſchiedenheit der Arten
der Freundſchaft gehoͤrig bemerkt zu ſein. Denn wenn Kant
hieran auch nur gedacht haͤtte: ſo wuͤrde er gefunden haben,
daß die dialektiſche Freundſchaft, welches doch wol der anges
meſſenſte Name ſein moͤchte fuͤr das, was er von der Freund⸗
ſchaft übrig läßt, nur eine einzelne und untergeordnete Art
ſein koͤnne. Oder wenn Fichte ſich die Freundſchaft auf die
rechte Art getheilt haͤtte: ſo wuͤrde er nicht noͤthig gehabt ha⸗
ben, indem er die ganze Freundſchaft nur in der Ehe ſucht,
die theilweiſen Verbindungen ſtillſchweigend ganz zu verwer⸗
fen, ſondern den Ort wol gefunden haben, wo auch er bei
ſeiner luͤkkenhaften Darſtellung menſchlicher Verhaͤltniſſe die
eine oder andere Art gar wohl haͤtte gebrauchen koͤnnen, wie
zum Beiſpiel bei der unbegreiflich vorausgeſezten Ueberzeugung
des Biedermannes von dem uͤbereinſtimmenden Willen der
Gemeine, den Nothſtaat umzuſtoßen. Was aber gegen die
ganze und ſo gar nicht erwieſene Freundſchaft in der Ehe zu
ſagen waͤre, welche doch gewiß bei der Ausſchließung des
andern Geſchlechts von ſo manchen Zweigen menſchlicher Thaͤ—
tigkeit eines feſten Grundes bedurft haͤtte, das mag als fuͤr
ſich einleuchtend uͤbergangen werden. Ja auch vom Ariſtote—
les, welcher dieſe Sache genauer nimmt als die meiſten, und
Fragen aufwirft und beantwortet, die andern auch nicht in
den Sinn gekommen, kann man ſagen, daß aus Ueberfluß
ſeine Theorie mangelhaft geworden. Denn da er Freundſchaft
als den ſtiftenden Grund aller Verbindungen ſezt, ja in allen
haͤuslichen, ganz das Gegenſtuͤkk von Kant, gar kein Recht
fondern nur Liebe ſehen will: fo iſt ihm über dem Unter⸗
ſchiede, den er auf dieſe Art zwiſchen der haͤuslichen und der
bürgerlichen Geſellſchaft feſtſtellt, der vielleicht größere zwi⸗
ſchen der Freundſchaft, welche von jener den Grund aus—
macht, und der eigentlich ſogenannten faſt entgangen, ſo daß
- 291
man was er darüber noch ſagt kaum auf etwas anderes als
die politiſchen Freundſchaften beziehen kann. Noch weiter
surüff aber kann man behaupten, daß auch die Freundſchaft
wie die Liebe noch nirgends aus den Grundſaͤzen eines Sy⸗
ſtems als nothwendig herfließend iſt abgeleitet worden, daher
fie auch wol unter dem Verzeichniß der Güter ſteht, in wel-
ches noch niemand einen nothwendigen Zuſammenhang ge⸗
bracht hat, von einer Pflicht aber Freunde zu haben nirgends
die Rede iſt. Sondern ſie ſteht immer nur als aus einem
fremden niemand weiß welchem Gebiet aufgenommen da, und
muß eben deshalb von den Anſpruͤchen, mit welchen ſie ur⸗
ſpruͤnglich auftritt, vieles zuruͤkknehmen, und ſich auf mans
cherlei Weiſe einzwaͤngen laſſen, um in die Ordnung des Sy⸗
ſtems eingekleidet zu werden. Dergleichen aber in der Ethik
zu dulden ſtreitet gegen die erſten Grundſaͤze, und beweiſet
deutlich die Unfaͤhigkeit des Syſtems den fo behandelten Ge—
genſtand ſich anzueignen. So erſcheint aber die Sache der
Freundſchaft gerade da am deutlichſten, wo am meiſten von
ihr die Rede iſt. Denn worauf anders laͤuft es hinaus,
wenn ſie als urſpruͤnglich im Streit mit andern Pflichten
und Verhaͤltniſſen aufgefuͤhrt, und berathſchlagt wird, wieviel
jeder Theil nachlaſſen muͤſſe? Wie denn Marcus Tullius
meint, einiges duͤrfe um der Freundſchaft willen ſchon vom
ſtrengen Rechte abgewichen werden, nur zu arg dürfe die Zu⸗
muthung nicht fein. Oder wenn fie im Ariſtoteles als fterb-
lich vorgeſtellt, und Maaßregeln fuͤr den Fall vorgeſchlagen
werden; da doch nichts aus ethiſchen Principien entſtandenes
ſich aufloͤſen kann. Oder wenn die Stoiker, bei denen doch
nichts wahrhaft ſittliches ſich auf die bloße Empfindung be⸗
ziehen kann, fragen, ob zum Mitleiden oder zum Mitgenuß
der Freund herbeizurufen ſei, und durch ihre Entſcheidung die
ſchlecht herbeigerufene Freundſchaft eben fo ſchlecht wieder ent«
fernen. Denn wollte man auch ſagen, zu dieſem Mißgriff
haͤtte ſie nur die Polemik ihrer Gegner verleitet, welche ſie,
von der Selbſtgenuͤgſamkeit des weiſen ausgehend, in das
2
292
Geſtaͤndniß hineinzwangen, daß er zu feinen weſentlichen
Zwekken des Freundes nicht beduͤrfe: ſo iſt doch gewiß, daß
ſie durch dieſen Schein nicht haͤtten koͤnnen geblendet werden,
wenn die Freundſchaft in ihrem Syſtem wirklich wäre ge—
gruͤndet geweſen. In allen dieſen Beiſpielen alſo erſcheint ſie
als etwas urſpruͤnglich nicht ſittliches, das erſt durch Begren⸗
zung ſittlich ſoll gemacht werden, und ſo iſt es natuͤrlich, daß
ſie kein ganzes ausmachen, noch beſtimmt in ihrem ſittlichen
Werth und Einfluß kann dargeſtellt werden. Weit allen an⸗
dern voraus iſt alſo auch hier wieder Platon, welcher von
Freundſchaft und Liebe, ob uͤberall richtig und in jeder Hin⸗
ſicht genuͤgend, dies kann hier nicht eroͤrtert werden, gewiß
aber ſo zuſammenhaͤngend redet, daß es leicht waͤre, aus al—
lem was zerſtreut daruͤber vorkommt in dialektiſcher und my—
thiſcher Form ein ganzes zu machen. Es darf nur erinnert
werden, wie er ſymboliſirend den Geſchlechtstrieb mit dem
Beſtreben nach gemeinſamer Ideenerzeugung verbindet, und
auf die Unvollkommenheit des perſoͤnlichen Daſeins und ſeine
Unzulaͤnglichkeit zur Hervorbringung eines hoͤchſten Gutes
dieſe Aufgaben gruͤndet, ſo muß jeder einſehen, daß hier wenn
auch nur durch leiſe Andeutungen Fragen beantwortet ſind,
an die andere nicht dachten, und daß hier Freundſchaft und
Liebe nicht von außen angeknuͤpft oder aufgeklebt, ſondern
durch die eignen Kraͤfte ſeiner ethiſchen Grundideen aus dem
inneren ſeines Syſtems hervorgetrieben ſind. Noch ein dritter
ethiſcher Stoff aber, der uͤberall faſt gaͤnzlich vernachlaͤſſigt
wird, iſt Wiſſenſchaft und Kunſt. Denn da beide nur durch
willkuͤhrliche Handlungen entſtehen koͤnnen, welche der ſittli⸗
chen Beurtheilung unterworfen ſind: ſo muß auch uͤber dieſe
Handlungen und ihr hervorgebrachtes, deſſen vorgefaßte Idee
der Grund des Handelns war, die Ethik entſcheiden, und aus
dem Grunde, welcher dieſe Handlungen loͤblich macht oder
verwerflich, muß ſich ergeben der Geiſt, in welchem Wiſſen⸗
ſchaft und Kunſt allein koͤnnen ſittlich geuͤbt werden, auch ob
und welche Grenzen derſelben es giebt. Was nun zuerſt die
203
Wiſſenſchaft beteifft, fo muß, um die hier gemachte Forde—
rung zu verſtehen, der Unterſchied wohl betrachtet werden zwi—
ſchen der Erkenntniß, welche Theil oder Bedingung irgend ei⸗
nes andern ethiſch ſchon aufgegebenen Handelns iſt, und der—
jenigen, welche fuͤr ſich ſelbſt und nicht in und mit einem
andern Handeln geſucht und hervorgebracht wird. Denn jene
bedarf natuͤrlich keiner beſondern Rechtfertigung und Ablei—
tung, ſobald das Handeln gerechtfertigt iſt, dem ſie angehört.
So daß zum Beiſpiel das Erlernen der Sprache oder der na—
tuͤrlichen Mechanik körperlicher Bewegungen gerechtfertiget iſt,
ſofern es immer zugleich Theil eines andern unmittelbaren
Handelns iſt, und an demſelben erfolgt; eben ſo auch jedes
nach der Wahl eines ſelbſt gerechtfertigten Berufs erfolgende
und auf ihn ſich bezlehende Lernen und Sammeln von Er⸗
kenntniſſen. Das eigentliche Wiſſen aber, welches nur das
Haben der Erkenntniß iſt, und mit demſelben fein Ziel er—
reicht hat, alſo ein beſonderes Handeln fuͤr ſich ausmacht,
bedarf auch wie jedes andere ſeiner eignen Ableitung, und wo
dieſe fehlt muͤßte man glauben, es ſei in einem ſolchen Sy⸗
ſtem der Ethik ſtillſchweigend ausgeſchloſſen aus dem Zuſam⸗
menhange des ſittlichen Lebens und verworfen. Welches dem
gemaͤß faſt in allen Sittenlehren muͤßte der Fall ſein, weil
eine ethiſche Conſtruction des Wiſſens oder des wiſſenſchaftli⸗
chen Beſtrebens faſt nirgends gefunden wird. Denn die Er⸗
kenntniß der zweiten Art oder die Wiſſenſchaft auf jene der
erſten zurüffzuführen, damit würde dem Uebel nicht abgehol—
fen fein. Eines Theils naͤmlich giebt es ganze Wiſſenſchaf⸗
ten, und zwar diejenigen am meiſten, welche als ſolche den
hoͤchſten Rang einnehmen, denen gar kein Einfluß als Mittel
auf das unmittelbare und eigentlich ſogenannte Handeln zu⸗
zuſchreiben iſt, worunter derjenige, welcher den Saz beſtreiten
moͤchte, zunaͤchſt nur unentbehrliche Mittel denken mag, wel⸗
ches bei einer ethiſchen Frage hinreicht, es ließe ſich aber ge⸗
wiß noch mehr erweiſen. Andern Theils aber gehoͤrt von
denjenigen Wiſſenſchaften, denen ein ſolcher Einfluß kann bei⸗
294
gelegt werden, wenigſtens die wiſſenſchaftliche Form nicht das
zu, ſondern nur die einzelnen am meiſten auch der Geſchichte
nach im Gebrauch ſelbſt gefundenen Saͤze. Ferner auch, wenn
auf dieſem Zuſammenhange die Sittlichkiit des Wiſſens be⸗
ruhen ſollte, ſo wuͤrde jeder, der ſich einer wenn gleich nuͤz—
lichen Wiſſenſchaft als Wiſſenſchaft widmet, es werde nun
dieſes im großen als gewählter Beruf oder auch nur als eins
zelne That betrachtet, unſittlich handeln, weil er offenbar und
ſelbſtgeſtaͤndig ſeine Handlung nicht auf dieſe Zwekke bezieht.
Sonach iſt deutlich, daß die Frage von der Nuͤzlichkeit der
Wiſſenſchaften, wenn fie auch in das Gebiet der Ethik gezo=
gen wuͤrde, den bezeichneten Punkt nicht trifft, ſondern es
muß das Wiſſen ſelbſt als ein ſittlicher Zwekk oder als ein
Gut aufgeſtellt werden, um hernach auch als Pflicht betrach—
tet gehörig beſtimmt und begrenzt werden zu koͤnnen. Wie
viele einzelne Aufgaben nun hieraus beſonders fuͤr die lezte
Behandlung entſpringen, ſieht jeder, wie auch daß fie nir⸗
gends beruͤhrt ſind. So wird auch jedem leicht ſein die Ver⸗
kehrtheit wahrzunehmen, welche in beiden entgegengeſezten
Staͤmmen der ethiſchen Syſteme in dieſer Hinſicht obwaltet.
Denn die eudaͤmoniſtiſchen neigen ſich zu einer Verachtung
des Wiſſens, da es ihnen doch am leichteſten waͤre, nicht nur
das Haben der Erkenntniß ſondern auch ſchon das Hervor⸗
bringen derſelben als einen Zuſtand eigenthuͤmlicher Luſt auf⸗
zuſtellen, ſo daß ſie nicht einmal das leztere auf eine unwuͤr⸗
dige Art bloß als Mittel durchſchleichen duͤrften. Die prak⸗
tiſchen hingegen, denen dies wegen der ihnen faſt allen ge⸗
meinen ſo ſehr beſchraͤnkten Anſicht des Handelns ſchwer ſein
muͤßte, lieben vielmehr das Wiſſen, und ſtellen ſich an, als
verſtaͤnde es ſich von ſelbſt. Dieſes unverſtaͤndige ſich von
ſelbſt verſtehen, wobei immer nur etwa von den. Pflichten
deſſen die Rede iſt, der da weiß oder wiſſen will, verbinde
man mit dem Gegenſtuͤkk, das Ariſtoteles dazu hergiebt, wel⸗
cher, bis auf einen gewiſſen Punkt hin klarer in der Verwir⸗
rung, das geſammte Wiſſen mit allem was dazu gehoͤrt als
295
ein eignes Gebiet von dem ſittlichen gänzlich trennt, und fo.
in einem umfaſſenderen Sinn und folgerechter freilich der Vor⸗
laͤufer derer iſt, welche das Philoſophiren eben fo vom Leben
obſondern: fo ergiebt ſich der ganze Umfang der Unbeſtimmt⸗
beit, welche nicht auf einem Verkennen der Aufgabe beruht,
ſondern auf der Unfaͤhigkeit ſie zu loͤſen. Das beſte Beiſpiel,
wie in dieſer Verlegenheit bald alles vorausgeſezt bald alles
hinweggenommen wird, giebt Fichte, welcher zuerſt das For—
ſchen als eine nur durch die Form zu bedingende Pflicht ſezt,
naͤmlich nur, daß es muͤſſe geſchehen um der Pflicht willen.
Dann aber wird dieſe Pflicht eine uͤbertragbare, ſo daß alſo
nicht jedem obliegt wiſſend zu ſein, wie ſittlich zu ſein, ſon—
dern daß nur im allgemeinen, damit das Sittengeſez herrſche,
gewußt werden muß, gleichviel wie bei jedem aͤußeren Ge⸗
ſchaͤft, ob jeder es fuͤr ſich ſelbſt vollbringe, oder wenige fuͤr
alle. Und da nun das lezte nach einer allgemeinen Maxime
das beſſere iſt, ſo wiſſen nun nur die gelehrten. Was ſie
aber wiſſen, iſt theils das ſinnliche zum Behuf der Natur-
bearbeitung, wozu nach dem obigen das ſtrenge Wiſſen kei⸗
nesweges gehoͤrt; theils aber das uͤberſinnliche, um das Mei⸗
nen der Gemeine zum Behuf der Anerkennung des Sittenge—
ſezes zu verbeſſern, und um die Ethik als Wiſſenſchaft her⸗
vorzubringen. Welcher Kreislauf auf das zierlichſte vollendet
wird, wenn man fragt, warum die Ethik muͤſſe gewußt wer⸗
den, da doch dieſes zur Herrſchaft des Geſezes gar nicht er=
fordert wird. Denn ſo iſt die Ethik da fuͤr das Wiſſen und
das Wiſſen fuͤr die Ethik, beide aber zu nichts, alſo zum
Spiel, welches aber auch verboten iſt, weil die Sittlichkeit
beide die Ethik und das Wiſſen verſchmaͤht. So daß auch
hier wieder nur platon und Spinoza mit einigen richtigen
Andeutungen übrig bleiben. Der erſte, indem er bei dem
Beſtreben in jeder einzelnen wahren Vollkommenheit die ganze
Sittlichkeit darzuſtellen ſie auch darſtellt im Wiſſen; der lezte
aber, indem bei ihm die Sittlichkeit uͤberall im genaueſten
Verhaͤltniß ſteht mit dem wahren Wiſſen, und zwar nicht
296
etwa irgend eines einzelnen unmittelbar praktiſchen, ſondern
mit dem Wiſſen des ganzen. Daher es moͤglich ſein muß,
wiewol er ſelbſt es vernachlaͤſſiget hat, das geſammte Wiſſen
ſowol als auch die rechte Art ſeiner Erwerbung und Gemein—
ſchaft aus ſeinen Grundſaͤzen abzuleiten, und er hier noch den
Vorzug vor Platon verdient. Wogegen in Abſicht der Kunſt
das Verhaͤltniß zwiſchen beiden ganz anders iſt. Denn Pla—
ton iſt faſt der einzige, der die Kunſt ohnerachtet des Haſſes,
deſſen er im einzelnen gegen ſie beſchuldiget wird, im ganzen
ordentlich ableitet, und als ein Glied in ſein ethiſches Sy⸗
ſtem verwebt, wenn gleich die Art und Weiſe etwas unfoͤrm⸗
lich iſt, und nicht fo hell und bündig, als feine erſten Grund⸗
fäze es wol zuließen. Beim Spinoza hingegen iſt das voll—
kommenſte Stillſchweigen hieruͤber, und ſchwerlich moͤchte,
wenn man ihn ergaͤnzen wollte, die Kunſt unter einer beſſeren
Aufſchrift geltend zu machen ſein, als der eines doch nur zu—
faͤlligen und unſichern Befoͤrderungsmittels der Weisheit bei
andern. So daß man ſagen muß, ſie werde von ihm herz⸗
haft und im ganzen verworfen, und daß ſelbſt das Leben
des Spinoza als eine ſymboliſche Andeutung erſcheint, wie
er den geringſten Dienſt irgend einer Wiſſenſchaft fuͤr wichti⸗
ger und ſittlicher gehalten. Gegen eine ſolche Verwerfung
nun, der nichts weder mittelbar noch gradehin widerſpricht,
hat auch die Kritik nichts einzuwenden, und muß ſelbſt den
Mangel aller Polemik gegen das verworfene nur als hoͤhere
Vollkommenheit achten. So aber iſt es keinesweges bei den
uͤbrigen, welche im Gegentheil die Kunſt fordern, jeder auf
feine Art, alle aber ohne genuͤgende Darlegung der Gründe,
wodurch die Forderung beſtimmt wird, und der Handlungen,
welche ſie ſelbſt wiederum beſtimmt. Der unſtreitig am mei⸗
ſten dafuͤr gethan hat, iſt Fichte, und doch iſt auch bei ibm —
nur Verwirrung zu ſuchen in dem vielerlei angefangenen und
wieder aufgegebenen. Naͤmlich zunaͤchſt iſt ſie ihm ethiſch be⸗
trachtet auch nur ein Mittel um der Sittlichkeit den Boden
zu bereiten, ſelbſt alſo kein Theil derſelben. Woraus wenn
297
weiter gefolgert wird eines Theils ſich ergiebt, daß ſie auf—
hören muß ſobald auch nur die Empfänglichkeit für das ei—
gentlich ſittliche feſt gegruͤndet iſt, und daß ſie alſo in einer
Ethik als Darſtellung des wahrhaft ſittlichen in ſeinem gan—
zen Umfange keinen Raum findet; andern Theils auch Zwei—
fel entſtehen koͤnnten, zumal Unentbehrlichkeit des Mittels nicht
mit erwieſen iſt, uͤber deſſen Zwekkmaͤßigkeit und Zulaͤſſigkeit,
indem ſich gar nicht abwaͤgen laͤßt das Verhaͤltniß des er—
reichten zu dem großen und der Sittlichkeit unmittelbar ent—
zogenen Aufwand menſchlicher Kraͤfte. Was aber Fichte wei—
ter ſagt von der Kunſt, gleichſam um jenem Mangel abzu—
helfen, davon moͤchte einiges wunderlich ſcheinen. Denn was
bedeutet wol der Verband zwiſchen dem Verſtand und dem
Willen, und wie iſt es mit dem aͤſthetiſchen Sinn, der zwar
von ſelbſt kommen muß, von dem aber nicht geſagt iſt, daß
er von ſelbſt kommt? Oder wenn er ein eigenthuͤmliches Vers
moͤgen des Geiſtes iſt, und zwar von ſolcher Wichtigkeit, wie
mag doch die Ausbildung deſſelben zur Vollkommenheit ein
uͤbertragbares Geſchaͤft ſein? Oder wenn der Genuß der
Kunſtwerke eine eben ſo vollkommene Ausbildung deſſelben
iſt, als deren Verfertigung, weshalb ſoll dieſe einen beſondern
Beruf bilden? Das andere aber, daß fie nämlich den trans
ſcendentalen Geſichtspunkt gemein mache, ſchwebt in einer ſol⸗
chen Dunkelheit, daß nun der Kuͤnſtler entgegengeſezt ſcheint
dem Weisheitslehrer, und daß der, welcher keines von beiden
iſt, ſchwanken muß zwiſchen ihnen ohne ein Geſez, das ihn
entweder ganz zu einem von beiden hinttiebe, oder ihre For=
derungen beſtimmte. So daß hier alles unbeſtimmt iſt und
ohne Haltung. Von Kant aber, der nur wie von ohngefaͤhr
an der Kunſt vorbeiſtreift, oder gar von andern zu reden,
waͤre unbelohnend, indem die Unbeſtimmtheit der Folgerungen
die naͤmliche iſt, die Flachheit und Dunkelheit der Gruͤnde
aber noch ärger. Die alten nun haben hier eine leidliche Ente
ſchuldigung, welche den Fehler mildert und zuruͤkkwirft. Denn
die nähere Beſtimmung alles Wiſſens und Bildens, worauf
298
es gehen und wie vertheilt fein ſoll, iſt bei ihnen anheimge⸗
ſtellt dem Staate. Daß aber und wie das Wiſſen und die
Kunſt mit des Staates, der bei ihnen alles in allem war,
Endzwekken zuſammenhaͤngt, dieſes beſonders abzuleiten unter:
ließen ſie als von ſelbſt einleuchtend, indem die Verbindung
der Staatskunſt mit dem Wiſſen, und der Kunſt mit der
Ehrfurcht vor den Goͤttern von keinem Syſtem beſtritten
wurde. Welcher Mangel freilich auch bei ihnen unwiſſen⸗
ſchaftlich bleibt, doch aber mehr die Schuld der Ausfuͤhrung
ſein kann, als der herrſchenden Ideen. Die neueren hingegen
koͤnnen dergleichen nichts ſagen; denn theils haͤngt die Kunſt
bei ihnen mit nichts beſonderem beſonders zuſammen, und ſie
haͤtte nur koͤnnen durch ihren allgemeinen Zuſammenhang mit
allem gerechtfertigt werden; theils kann bei ihnen der Staat
weder ſolche Befugniß haben noch ſolche Dienſte leiſten we⸗
gen feiner in den meiſten Darſtellungen der Sittenlehre fo,
hoͤchſt beſchraͤnkten Zwekke. Doch dieſes iſt ein neuer Gegen
ſtand fuͤr die jezige Anklage, welcher fuͤr ſich verdient betrach⸗
tet zu werden. Denn wunderlicheres giebt es nicht als die
loſe Art, wie die buͤrgerliche Verbindung gekittet und gehal⸗
ten wird, zumal in den neueren Darſtellungen der Sittens
lehre. Bedenken wir nämlich nur die beiden Gründe, auf ei-
nem von welchen ſie faſt uͤberall ruht, ſo ſieht man leicht,
daß die allgemeine Gluͤkkſeligkeit, welche der Staat beſchaffen
ſoll, nur in einer Sittenlehre des Genuſſes Statt finden kann.
Oder wie koͤnnte die entgegengeſezte einem fuͤr ſie gar nicht
ethiſchen Zwekk eine Stelle einraͤumen, und zwar eine ſolche,
auf welche bei jedem ſittlichen Handeln faſt muß bingeſehen
werden? Aber auch in der genießenden Ethik hat, wie hin-
laͤnglich gezeigt iſt, das beſondere den Vorrang vor dem all⸗
gemeinen, und es fehlt ganz an einer Rechtfertigung dieſer
Idee einer allgemeinen Gluͤkkſeligkeit, welche die beſondere ei⸗
nes jeden uͤberall zu beſchraͤnken, und die beſten Huͤlfsmittel
ihr zu entziehen ſcheint. Ja bei einer ſo kuͤnſtlichen und ver⸗
wikkelten Aufgabe wuͤrden ſie ſich vergeblich der Forderung
5
299
entziehen, entweder Ein beſtimmtes Ideal der Verfaſſung zu
zeichnen, oder den wohlbegruͤndeten Entwurf einer moͤglichen
Mehrheit. Die gewoͤhnliche Ausflucht aber, als liege der Un—
terſchied nur in der Verwaltung, mag wol hinreichen denje—
nigen abzuweiſen, der keine andere Verſchiedenheit ſieht, als
in der Zuſammenſezung der Gewaltzweige, muß aber dem
nichtig erſcheinen, der eben aus dem ethiſchen Standpunkt
ganz andere wahrnimmt. Eben das laͤßt ſich ſagen, wenn
etwa auch Sittenlehren dieſer Art wollten den andern Grund
des buͤrgerlichen Vereins geltend machen, naͤmlich den Schuz
gegen das Unrecht. Oder giebt es etwa ſchon eine Ableitung
des Rechts nach eudaͤmoniſtiſchen Grundſaͤzen, und weiß nicht
vielmehr jeder, wie ſich die Lehrer der Gluͤkkſeligkeit von ei—
ner dieſer Ideen in die andere zuruͤkkziehen? Wie viel wenis
ger alſo wuͤrden ſie im Stande ſein vollſtaͤndig und zuſam⸗
menhaͤngend zu beſtimmen, was nun aus dem Gebot den
Staat zu ſtiften in dem ganzen Umfang der Sittlichkeit fol—
gen muß, und wie nun die eigene Gluͤkkſeligkeit durch die
Idee der allgemeinen oder des Rechtes genauer beſtimmt, oder
anders gewendet wird? Daher auch bei faſt allen die ganz
fremdartige Behandlung dieſer Gegenſtaͤnde. Legt man im
Gegentheil dieſe Idee, der Staat ſei da zu Abwehrung des
Unrechts, der praktiſchen Sittenlehre bei: ſo iſt offenbar, daß,
da das Unrecht ein unſittliches iſt, der Staat mit dem An⸗
fang der allgemeinen Sittlichkeit aufhoͤren muͤſſe. Welches
auch vielen neueren nicht entgangen iſt, wie der merkwuͤrdige
Aus ſpruch bezeugt, ein guter Staat ſei daran zu erkennen,
daß er ſich neige, und ſtrebe ſich ſelbſt entbehrlich zu machen.
Weniger aber iſt die natuͤrliche Folge bemerkt worden, daß
auf dieſe Weiſe auch dem Staat nichts duͤrfe zugeſchoben
werden, was auch im Zuſtande der allgemeinen Sittlichkeit
muß gedacht werden. Denn ſofern die Sittenlehre eigentlich
dieſen ſeinem ganzen Umfang nach darſtellen ſoll, iſt ſchon
der Staat ausgeſchloſſen, und es darf mit ihm nicht das Mit⸗
tel fehlen zur Conſtruction irgend eines weſentlichen Theiles
300
jener Darſtellung. So iſt es auch zum Beiſpiel beim Spi⸗
noza, welcher den Staat ebenfalls nur als ein Verwahrungs⸗
und Verbeſſerungsmittel aufſtellt, dagegen aber auch h wenn
man einzelne leicht zu beſſernde Irrungen nicht rechnen will,
nichts wahrhaft und vollkommen ſittliches von ihm ausſchlie—
ßend ableitet. Beurtheilt man hingegen nach demſelben Maaß⸗
ſtabe, um die andern mit Stillſchweigen zu uͤbergehen, den
vorzuͤglichſten der heutigen Sittenlehrer, und fuͤgt hinzu, wie
ſeine Kirche und ſeine gelehrte Gemeinſchaft nicht minder hin—
fällig find: fo iſt zu verwundern, wie ſehr er hiegegen gefehlt
hat. Und von hieraus iſt es am leichteſten uͤber den Um—
fang der Ethik nach dieſem Syſtem eine Muſterung anzuſtel⸗
len. Denn wenn nun der Staat wegfaͤllt als geſezgebende
Macht, ſo bleibt allerdings die freie Einſicht in die Art, wie
jeder will behandelt ſein, und die freie Enthaltung aller dem
zuwiderlaufenden Handlungen. Eben fo, wenn die Kirche wege
faͤllt, bleibt dennoch die Uebereinſtimmung in Hinſicht der auf
das uͤberſinnliche gegruͤndeten ſittlichen Ueberzeugung. Aber
fragt man nun weiter, was denn, nachdem alles was bloß
Zuruͤſtung war, hinweggenommen worden, als der eigentliche
und lezte Gegenſtand dieſer einſtimmigen Ueberzeugung und
jener frei geſezlichen Behandlung uͤbrig bleibt: dann moͤchte
ſchwerlich etwas anderes aufzuzeigen fein, als die Beherr⸗
ſchung der Erde und die Verarbeitung ihrer Erzeugniſſe. So
daß eine gleichſam phyſiokratiſche Sittenlehre herauskommt,
in welcher der Akkerbau das Eins und Alles iſt dem Inhalt
nach, die Form aber nicht beſſer beſchrieben werden kann, als
die freilich moͤglichſt ſtrenge und ausgedehnte Rechtlichkeit in
Form der Formloſigkeit. Nur nicht zu vergeſſen, daß ſich
wiewol ſehr ſchlecht hinzufuͤgen zwei myſtiſche Anhaͤnge, die
Kunſt naͤmlich und die Ehe, in welchen beiden alles zuſam⸗
mengepreßt iſt, was ſich außer jenem großen Gegenſtande
und unmittelbarer auf den Menſchen ſelbſt bezieht, dergleichen
Kleinigkeiten naͤmlich, wie die Erhoͤhung ſeines Geſichtspunk⸗
tes für das ganze der Welt, die Ausbildung der liebenswuͤr⸗
301
digſten Eigenſchaften ſeiner Natut, die endliche Verknuͤpfung
ſeines Verſtandes und Willens, und was ſonſt an dieſen Or—
ten zu leſen iſt, auch wol ſelbſt bezeichnet wird als das hoͤ—
here der Sittlichkeit. Welch ein ſchlechtes ganzes nun dieſes
bildet, von jeder Seite angeſehen, zu viel entweder oder zu
wenig, das iſt klar, und es deutet hin auf die Nothwendig-
keit, die propaͤdeutiſche Ethik, die es nur mit den Voruͤbun⸗
gen zur Sittlichkeit zu thun hat, entweder ganz aufzugeben,
wie denn die alten nichts davon wiſſen, oder ganz abzuſon⸗
dern, wie Spinoza gethan, oder auf eine andere Weiſe mit
der wahren Ethik zu verbinden, und den Einrichtungen der
erſten einen ſolchen Grund unterzulegen und ſolche Geſtalt zu
geben, daß ſie auch dem wahren und vollendeten ſittlichen zu
dienen vermoͤgen. Und wie die alten die ganze Staͤrke ihrer
Ethik ſezten in den Staat allein, in einen ſolchen aber, der
nicht etwa wenn alle ſittlich waͤren zu Ende ginge, ſondern
dann erſt ſeine ganze Vortrefflichkeit anfinge zu entwikkeln,
und den Endzwekk der groͤßten gemeinſchaftlichen Thaͤtigkeit
zu erreichen, in dieſem Sinne ſollten auch die neueren einen
Staat nicht nur haben, ſondern eine Kirche, und was ſonſt
noch dieſer Art ſich darbietet. Denn ob die verſchiedenen
Guͤter, welche hievon der Zwekk ſind, auch durch eine und
dieſelbe Verbindung zu erreichen waͤren, dieſes erfordert eine
eigne nicht hieher gehoͤrige Unterſuchung, daher ſie beſſer pro⸗
blematiſch als Mehrheit zu denken ſind.
Einen dritten Fehler endlich hätte aus allem bisher eins
zeln angefuͤhrten jeder von ſelbſt entdekken koͤnnen, und er
darf deshalb nur mit kurzem beruͤhrt werden. Es iſt der
naͤmlich, daß auch mit demjenigen, was ſie beſtimmen, die
Sittenlehrer nicht weit genug zuruͤkkgehn, ſondern von ſolchen
Bedingungen anfangen, welche doch kein Anfang ſind, weil
ſie ſelbſt nur koͤnnen ethiſch entſtanden ſein, ſo daß auch von
ihnen erſt muß gefragt werden, ob ſie ſittlich ſind oder nicht.
Oder um den naͤchſten und gemeinſten Fall zu bezeichnen, daß
ſie jedesmal den ihnen gegebenen Zuſtand der Dinge zum
302
Grunde legen, ohne ihn ſelbſt der Prüfung zu unterwerfen.
Beiſpiele ſind aus allen Theilen des ethiſchen Gebietes nicht
ſchwer zu finden. So dürfen wir nur bei dem ſtehen blei⸗
ben, wovon zulezt geredet worden, der Verfaſſung des Stans
tes. Denn mehr oder minder geht jeder aus von den Fors
men, welche er kennt, ohne fie ſelbſt ethiſch entſtehen zu laf-.
ſen, oder zu fragen, ob nicht ganz andere eben ſo auf dieſem
Wege möglich find. So beziehen ſich die Ideale der Gries
chen uͤberall auf ein kleines Gebiet, auf die Vorausſezung der
Sklaverei, und auch der Einfluß ihrer beſchraͤnkten Begriffe
von Voͤlkerverwandtſchaft und ihres Gegenſazes von Hellenen
und Barbaren iſt uͤberall dem kundigen leicht zu ſpuͤren.
Waͤre eine Ethik vorhanden von einem Volke, bei welchem
die Erblichkeit der Geſchaͤfte und Zünfte eingeführt geweſen,
ſo wuͤrde auch dieſe gewiß darin vorausgeſezt ſein, und die
Frage von der Wahl des Berufs keinen Raum haben. Eben
fo iſt bei den alten allgemein die Vorausſezung eines unter⸗
geordneten und zuruͤkkgezogenen Zuſtandes fuͤr das weibliche
Geſchlecht, bei den neueren hingegen die der Einheit und Une
zertrennlichkeit der Ehe, ohne auch nur zu denken, es koͤnne
jemand einen Beweis davon verlangen, daß jede andere Ge—
ſtaltung dieſes Verhaͤltniſſes muͤßte unſittlich ſein. Nicht an⸗
ders aber würde der Morgenlaͤnder von der Vielweiberei aus—
gehn, und der nairiſche Sittenlehrer die Natuͤrlichkeit und
Sicherheit ſeiner Einrichtungen anpreiſen. Denn wenn auch
bisweilen die Fragen aufgeworfen wurden, ob wol der weiſe
duͤrfe den Staat verwalten, oder Kinder erzeugen und ehelich
werden, ſo hatten dieſe gar nicht den Sinn, ob ſolche Ver—
haͤltniſſe überhaupt dürften vorhanden fein, ſondern fie bezo⸗
gen ſich nur auf diejenige Form derſelben, von welcher allein
konnte die Rede ſein. Ferner, wenn von den Pflichten der
verſchiedenen Stände gehandelt wird, bringen die neueren je⸗
desmal die eben vorhandene Einrichtung derſelben mit. Und
in dem Abſchnitte von der ſittlichen Anſicht der aͤußeren Guͤ⸗
ter wird faſt immer vorausgeſezt, daß fie dem Zufall unter⸗
303
worfen find, ohnerachtet doch diefer Zufall beruht theils auf
den willkuͤhrlichen Handlungen der Menſchen, theils auf der
Art wie ſie gemeinſchaftlich die Natur beherrſchen, und alſo
ebenfalls ethiſch muͤßte gebildet und berichtiget werden. Auch
die Stoiker in ihren Troſtgruͤnden bei Unfaͤllen und in ihren
Vorſchriften, um ſich über das Ungluͤkk zu erheben, ſezen im⸗
mer die damalige Ohnmacht des Menſchen voraus, und den»
ken an nichts anderes. Ja auch in der fichteſchen Sitten—
lehre, welche weiter als andere zuruͤkkgeht in ihren Ableitun⸗
gen, ſieht nicht jeder an dem Unzuſammenhange der Folge—
rungen, daß ſie das dem gegenwaͤrtigen aͤhnliche nicht gefun—
den, ſondern ſich mit Gewalt einen Weg dahin gebahnt hat,
weil ſie eben nirgends anders anzukommen gewußt? Denn
wie gewaltſam und durch welche Mißdeutungen iſt nicht der
Begriff des Symbols in das Syſtem gezogen, um die Kirche
aufzurichten? Und das Prinzip der Theilung der Staͤnde
haͤtte es nicht eben fo leicht auf eine Erblichkeit aller Ge—
ſchaͤfte fuͤhren koͤnnen, als auf jene Einrichtung, aus welcher
dennoch kein vollſtaͤndiger Beſtimmungsgrund hervorgeht?
Selbſt von dem erſten Punkt an, wo die Ableitung der Ehe
angeht, haͤtte gar leicht ſtatt ihrer der Weg gefunden werden
koͤnnen zu einer vollkommnen Gemeinſchaft der Weiber. Dies
ſes jedoch mag jeder ſelbſt herausfinden, dem Nachrechnungen
ſolcher Art gelaͤufig ſind; ſo wie auch jedem uͤberlaſſen bleibt,
von hieher gehörigen Fehlern aller Syſteme noch eine grös
ßere Anzahl aufzuſuchen in allen Theilen des ethiſchen Gebie—
tes, welches beſonders in den bis jezt vorhandenen eudaͤmo—
niſtiſchen Sittenlehren ein ſchwer zu beendigendes Geſchaͤft
ſein wuͤrde. Die Folge aber von dieſem Anfangen auf hal-
bem Wege iſt die, daß niemals das vollkommene ſittliche dar⸗
geſtellt wird, welches der Grundidee eines jeden Syſtems an⸗
gemeſſen waͤre, ſondern daß vielmehr das unſittliche feſtgehal—
ten wird. Denn wenn ein Zuſtand, der den Keim deſſelben
enthaͤlt, unbedingt geſezt wird als ein Moment, welches bei
304
Beſtimmung des fittlihen muß in Anſchlag gebracht werden:
ſo muß ja alles auf dieſe Art beſtimmte noch unſittlich ſein,
und kann nur ſittlich werden, wenn zugleich die Aufgabe je⸗
nes zu berichtigen ein anderes Moment iſt in derſelben Bes
rechnung. Sezet zum Beiſpiel die Tapferkeit, wie ſie von
vielen eingeſchraͤnkt wird, bloß als den pflichtmaͤßigen Krie⸗
gesmuth: fo iſt fie eine Tugend, welche lediglich auf der Vors
aus ſezung eines unſittlichen beruht, denn niemand wird laͤug⸗
nen, daß ein Krieg nur beginnen kann durch eine unſittliche
Handlung. Wird ihr nun nicht beigelegt das Bewußtſein
dieſer Bedingtheit, ſondern vielmehr ein ſolches Beſtreben ſich
immerfort thaͤtig zu erweiſen, wie es in jeder wahren Tugend
muß gedacht werden, ſo iſt ſie offenbar unſittlich. Kommt
nun etwa anderwaͤrts zum Erſaz eine Geſinnung vor, welche
den Ausbruch der Gewalt hindern ſoll: ſo entſteht zwiſchen
beiden, es ſei nun offenbar oder verſtekkt, unfehlbar eine Art
von Widerſtreit. Daſſelbe wird ſich auch ergeben bei ſolchen
Maͤngeln, welche allgemeiner durch das Handeln eines jeden
koͤnnen und ſollen hinweggenommen werden; wie wenn die
Rede iſt vom Verhalten gegen Vorurtheile, oder von dem
Werthe, welcher zu legen iſt auf eine herrſchende aber unge—
gruͤndete oͤffentliche Meinung. So daß uͤberall dieſes Anfan⸗
gen auf halbem Wege und bei dem ſchon verdorbenen eine
neue und reichliche Quelle fein muß von ſogenannten Collis
ſionen eines ſittlichen mit dem anderen; und ſo lange noch
irgend etwas ſelbſt von menſchlichem Handeln abhaͤngiges als
unbewegliche Bedingung des ſittlichen geſezt wird, fehlt es in
der Sittenlehre an Zuverſicht des Inhaltes und an vollftäns
diger Haltung. Ja wo ein offenbarer Widerſpruch in einem
ethiſchen Syſtem angetroffen wird, da iſt gewiß auch in Ver⸗
bindung damit ein Mangel dieſer Art anzutreffen. Was zum
Beiſpiel iſt widerſprechender, als daß Kant eine Pflicht an⸗
nimmt fuͤr ſeine Gluͤkkſeligkeit zu ſorgen? Haͤtte er aber nur
den Grundſaz feſtgehalten, daß auf dem Gebiet der Ethik
nichts
305
nichts gegeben iſt, ſondern alles erft muß gemacht werden,
welcher aber freilich demjenigen ſchwerlich recht klar ſein kann,
fuͤr den die Sittlichkeit nur eine beſchraͤnkende Natur hat: ſo
wuͤrde er anſtatt jener widerſinnigen Pflicht nur die Aufgabe
gefunden haben die geſezliche Geſelligkeit ſo zu geſtalten, daß
das zur fortgeſezten Thaͤtigkeit noͤthige Wohlbefinden aus der
vorigen Thaͤtigkeit regelmaͤßig erfolgt, welche Aufgabe, wenn
ſie vollſtaͤndig geloͤſt wird, keine Nothwendigkeit mehr uͤbrig
laͤßt auf dieſem Gebiet etwas eignes und beſonderes zu thun
der Gluͤkkſeligkeit wegen. Auch von dem Selbſtmorde der
Stoiker moͤchte der Grund groͤßtentheils in einem Mangel
dieſer Art zu ſuchen ſein. Unter den neueren zwar hat Fichte
in einer Stelle ſehr deutlich geſagt, daß es fuͤr die Sittlich—
keit nicht genug ſei den vorhandenen Bedingungen zu genuͤ—
gen, ſondern daß es auch darauf ankomme ſie zu verbeſſern.
Allein theils iſt dieſes bei ihm nur eine leere Formel, indem
nichts in feinem Syſtem danach wirklich ausgeführt iſt, viele
mehr an den wenigen Stellen, wo er wirklich auf Verbeſſe—
rung des vorhandenen ausgeht, wie zum Beiſpiel bei der Um—
ſtuͤrzung des Nothſtaates durch erſtwelchen Biedermann und
bei der Veränderung des Symbols, erlaubt er ſich ein hoͤchſt
tumultuariſches Verfahren, und an andern Stellen, wo die
Verbeſſerung eben ſo dringend waͤre, wie bei der Eintheilung
der Staͤnde, uͤberſieht er ſie gaͤnzlich. Theils auch, wenn er
dieſe Maxime uͤberall richtig befolgt haͤtte, iſt ſie doch viel zu
beſchraͤnkt, um der Ethik die Vollſtaͤndigkeit ihres Inhaltes
von dieſer Seite zu ſichern. Denn jeder ſieht, daß die Sit—
tenlehre, wenn ſie bei ihren Beſtimmungen von vorhandenen
Bedingungen ausgeht, entweder ihre Anwendbarkeit beſchraͤnkt,
ſofern fie uͤber den beſonderen Fall das allgemeine verabs
ſaͤumt, oder daß ſie ſich eine unendliche Aufgabe ſezt, wenn
ſie durch die Aufzaͤhlung alles beſonderen das allgemeine her—
beiſchaffen will. Sondern, indem ſie das vollendet ſittliche
darſtellen will in ſeinem Sein, muß es in ſolchen Formeln
Schleierm. Grundl. 11
306
geſchehen, daß darin auch, wie ſein annaͤherndes Werden fuͤr
jede angenommene Bedingung zu conſtruiren ſei, muß koͤnnen
gefunden werden. Doch dieſes haͤngt ſo genau zuſammen mit
dem, was den Gegenſtand des zweiten Abſchnittes ausmacht,
daß es hier mag zur Seite gelegt werden, um es dort unter
einer andern Geſtalt wieder aufzunehmen.
Zweiter Abſchnitt.
Von der Vollkommenheit Ber ethiſchen Syſtene
in Abſicht auf deren Geſtalt.
Den Anfang dieſes lezten Theiles unſerer Unterſuchung
moͤge gemacht werden von einer Mißgeſtaltung, welche ſich
dem erſten Anblikk nicht als ein Mangel ankuͤndigt ſondern
als ein Ueberfluß, nämlich von dem Anſezen einer Caſuiſtik
und Affetif an die eigentliche und unmittelbare ſyſtematiſche
Abhandlung der Ethik. Nicht mit Unrecht freilich koͤnnte es
manchem vielleicht ſcheinen, als ob zu wenige Sittenlehrer
dieſe Faͤcher angebaut haͤtten, um ihrer zu erwaͤhnen bei ei—
ner nur das große betreffenden Unterſuchung. Denn unter
den rein philoſophiſchen Sittenlehrern, von welchen doch mit
Ausſchluß der religioͤſen hier allein geredet wird, möchte leicht
Kant der einzige ſein von Bedeutung, der beides ausdruͤkklich
auffuͤhrt. Und auch, koͤnnte einer hinzufuͤgen, ſein Beiſpiel
hinreichend, um die Sache in ihrer Nichtigkeit darzuſtellen.
Denn die ganze Eintheilung in Elementarlehre und Metho—
denlehre, durch welche allein der Plaz ausgemittelt wird fuͤr
die Aſketik, iſt ja der Sittenlehre gar nicht angemeſſen, und
ſcheint nur aus Anhaͤnglichkeit entſtanden zu fein an die längfts
gewohnte Geſtalt feiner kritiſchen Werke. So daß man ſa⸗
u 2
308
gen möchte, die Afketik fei mehr hingeſtellt, um den Plaz
auszufüllen, als der Plaz erſonnen ihres Inhaltes wegen.
Zumal auch dieſe Aſketik eigentlich leer gelaſſen iſt, weil ja
nirgends Mittel und Wege aufgezeigt ſind, um die wakkere
und fröhliche Gemuͤthsſtimmung zu erwerben, noch auch ers
wieſen, daß etwa jeder ſie von ſelbſt haben muͤſſe, und ſich
nur erhalten duͤrfe. Nicht beſſer iſt es mit der Didaktik be⸗
ſtellt, welche theils nur ein Abſchnitt iſt aus der Erziehungs⸗
kunſt, die doch, wenn fie zugegeben wird, eine beſondere Wiſ⸗
ſenſchaft ſein muͤßte wenn gleich von der Ethik abgeleitet,
theils aber bei Kant eigentlich gar nicht in Betracht kommen
darf, deſſen erſter Grundſaz ja die Befoͤrderung fremder Voll⸗
kommenheit laͤugnet. Seine Aſketik iſt alſo ſchon ihrer Nachs
barſchaft und ihres Ortes wegen verdächtig; feine Caſuiſtik
aber, welche keinen eignen Ort hat und keine Nachbarſchaft,
theilt wenigſtens mit jener den Vorwurf der Leerheit: da ſie
ſich faſt ausſchließend mit muͤßigen und kindiſchen Fragen be⸗
ſchaͤftiget, oder mit ſolchen, welche des Urhebers Abneigung
beurkunden gegen ſein eigenes Werk. Allein es mag Kant
uns hier nur gelten als irgend ein gleich viel welches Bei⸗
ſpiel, nur vorzuͤglich wegen der Ausfuͤhrlichkeit, womit er dieſe
Gegenſtaͤnde vor Augen ſtellt, um ohne auf ſein eigenthuͤm⸗
liches dabei zu ſehen durch genauere Betrachtung der Sache
ſelbſt zu zeigen, daß auch andere, wenn gleich weniger aus⸗
geführt und noch geſtaltloſer, daſſelbe mit ihm gemein haben.
Denn wenn wir fragen, was die Caſuiſtik eigentlich ſei, ſo
iſt es nicht etwa, wie auf den erſten Anblikk ſcheinen moͤchte,
eine Anweiſung ſchwierige einzelne Faͤlle unter die ethiſchen
Vorſchriften oder die in der Ethik angegebenen Begriffe rich⸗
tig zu befaſſen. Sondern vielmehr aus dem Geſichtspunkt
muß man ſie anſehn, daß ſie durch Vergleichung mit ſolchen
Faͤllen, welche gleichſam an der Grenze liegen, erſt den Sinn
und Umfang der Formeln genauer feſtzuſezen ſucht. Denn
die aufgeworfenen Fragen ſind immer darauf geſtellt, als
Verſuche die Grenzen der ethiſchen Formeln zu beſtimmen, es
309
ſei nun einer an ſich oder mehrerer gegen einander, wie zum
Beiſpiel bei Kant, in wie weit man muͤſſe ſich ſelbſt abbre⸗
chen um wohlthaͤtig zu ſein, oder die Frage, wo nun im Ge—
brauch der Sprachzeichen die Unwahrheit angehe, ob bei dem
buchſtaͤblichen Sinn, oder bei der durch ſtillſchweigende Ueber-
einkunft feſtgeſezten Bedeutung; oder was eigentlich ſeine
groͤßte caſuiſtiſche Frage iſt, ob nicht etwa das Wohlwollen
ſolle unter die gleichguͤltigen Dinge gezaͤhlt werden. Das
naͤmliche wuͤrden alle Beiſpiele aus der religioͤſen Sittenlehre
ausweiſen, wo es auch immer darauf angelegt iſt, den Um—
fang der Heiligkeit eines Gegenſtandes zu beſtimmen, oder die
Grenzen eines goͤttlichen Gebotes. Auch die Vergleichung wie
Marcus Cicero ſie anſtellt zwiſchen einem pflichtmaͤßigen und
dem andern, welches das groͤßere ſei, iſt in gleichem Sinne
eine Caſuiſtik, nur daß fie ſich vor andern dem erſten Anblikk
dadurch empfiehlt, daß ſie nur das Verhaͤltniß mehrerer For—
meln gegen einander beſtimmen ſoll. Welcher Vorzug jedoch
nur ein Schein if. Denn wenn nicht jedes kleinere pflicht—
maͤßige gaͤnzlich verſchwinden ſoll gegen jedes groͤßere: ſo
entſteht hier die Frage, wo doch die Vergleichung anhebe,
naͤmlich wie klein in jedem einzelnen Falle das wichtigere ſein
duͤrfe, um dem groͤßeren unwichtigen voranzugehen, welches
doch immer die Frage iſt uͤber den Sinn und die Grenzen
jeder Formel fuͤr ſich. Daß aber dieſe Beſtimmung kein be—
ſonderer Theil der Wiſſenſchaft ſein koͤnne, leuchtet ein. Denn
wie ſollte wol ein Theil das Sezen der Formeln in ſich ent—
halten, ein anderer aber die Beſtimmung ihrer Grenzen, da
ja ohne dieſe auch im erſten nichts geſezt iſt, und keine Ord—
nung kann geweſen fein, nach welcher dabei zu Werke ges
gangen worden. Allein auch wie Kant gethan hat ſie gleich
hie und dort oder auch uͤberall dem Haupttheil einzuſtreuen,
kann nicht fuͤr beſſer gelten: denn ſo wird doch die Grenze
einer jeden nur nach einer Seite hin beſtimmt in Beziehung
auf das bereits feſtgeſtellte, jedes folgende aber muß auch
wieder neue caſuiſtiſche Fragen veranlaſſen im Gebiete des vo-
310
rigen. Auch iſt Kants rechtfertigende Ableitung der Caſuiſtik
der offenherzigſte Fingerzeig uͤber ihren eigentlichen Urſprung.
Denn es erhellt daraus ganz deutlich, daß die Unbeſtimmt⸗
heit der Formeln das Beduͤrfniß derſelben veranlaßt, dieſelbe,
welche oben von uns iſt getadelt worden bei Ueberſicht der
gewoͤhnlichen Behandlung des Pflichtbegriffs. Daher auch bei
jeder Behandlung der Ethik nach dem Pflichtbegriff bis jezt
die Caſuiſtik iſt am deutlichſten ans Licht getreten. Wiewol
wenn man bedenkt, wie im einzelnen Tugend und Pflicht faſt
uͤberall verwechſelt werden, und wie ſchlecht auch alle Ein—
theilungen des Tugendbegriffs uns erſchienen ſind, man nicht
zweifeln kann, daß auch in einer ſolchen Behandlung dieſer
Auswuchs nicht fehlen werde. Am wenigſten ſcheint demſel—
ben ausgeſezt zu ſein diejenige Ethik, welche dem Begriff der
Guͤter nachginge, bei welchem die Unbeſtimmtheit ſich ſo groß
und vielfach nicht gezeigt hat. Jedoch mag auch dieſes leicht
nur der ſparſamen Bearbeitung nach dieſer Methode zu ver—
danken ſein; und der mangelhafte ſyſtematiſche ſowol als ethi—
ſche Sinn würde auch wol den klarſten und leichteſten Be—
griff, wenn er ſich deſſen bemaͤchtiget haͤtte, verdunkelt und
verdorben haben. Indeß geben die Begriffe der Guͤter und
der Tugend noch eine andere entſchuldigende Vorſtellung von
der Moͤglichkeit eines ſolchen Mißgriffs. Naͤmlich wenn nach
dieſen Begriffen und ihren abgeleiteten Formeln die That fuͤr
einen gegebenen Fall ſoll beſtimmt werden: ſo kann es, weil
jene Begriffe dieſem Geſchaͤft nicht angemeſſen find, nicht an-
ders geſchehen als vermittelſt eines ſolchen Verſuchmachens,
wie es die Caſuiſtik uns darſtellt. Denn wie man auch die
Frage loͤſe, ſo wird immer ſcheinen nur Ein Gut befoͤrdert zu
fein, und Eine Tugend geübt, die andere aber zuruͤkkgeſezt,
verſteht ſich in ſo fern die Sittlichkeit eines Syſtems jenen
faſt uͤberall gefundenen Charakter des negativen an ſich traͤgt,
bei welchem ſich an dem einzelnen durch Eine Beſchraͤnkung
gebildeten die Fuͤlle unmoͤglich wahrnehmen laͤßt, welche auch
der Forderung von Verbindung aller Guͤter und aller Tugen⸗
311
den Genuͤge leiſtet. So daß unter jener Vorausſezung die
Caſuiſtik allen Syſtemen der Ethik natuͤrlich iſt, in ſo fern
darin entweder aus den Begriffen der Guͤter und Tugenden
die einzelne That ſoll gefunden, oder die nach der Pflichtfor-
mel gefundene mit den Forderungen jener Begriffe verglichen
werden. Eine aͤhnliche Bewandniß nun hat es mit der Affes
tik. Dieſe naͤmlich ſoll vorſtellen eine Technik der Sittenlehre,
eine Methode, gleichſam um ſich ſittlich zu machen oder ſitt—
licher, oder um ſich im einzelnen die Ausuͤbung des pflicht
mäßigen zu erleichtern. So daß auch ſie zunaͤchſt nur in Bee
ziehung auf den Pflicht- und Tugendbegriff ſtatt findet, der
Begriff der Guͤter aber weniger auf ſie hinfuͤhrt. Daß nun
eine ſolche Uebung, ſofern ſie aus einer eignen Reihe beſtimm⸗
ter Handlungen beſtehen ſoll, in der Ethik nicht kann gefors
dert und aufgeſtellt werden, davon ſind ſchon oben die Gruͤnde
auseinander geſezt worden, da naͤmlich, wo gezeigt wurde,
wie unſtatthaft es waͤre in der Ethik etwas als Mittel zu
ſezen. Denn bei einer Behandlung der Ethik nach dem Pflicht⸗
begriff kann die Aſketik nur angefihen werden als der Inbe⸗
griff aller inneren Mittel. Da nun dem obigen zufolge in
jedem Augenblikk die ſchon erworbene Tugend ſoll in Thaͤtig⸗
keit geſezt werden, um die Pflichten des Berufes zu uͤben, eben
fo aber in jedem Augenblikk etwas zu thun wäre zu Erhoͤ—
hung der Tugend, ſo wuͤrden dieſe Reihen in der Ausuͤbung
einander widerſtreiten, und ſelbſt wenn das geforderte jedes⸗
mal zuſammentraͤfe, wäre ohne die Ueberzeugung von der Noth⸗
wendigkeit dieſes Zuſammentreffens doch eine von beiden For⸗
derungen in der Abſicht des handelnden unerfuͤllt geblieben.
Wird aber die Ethik nach dem Tugendbegriff behandelt, ſo
daß die Tugend als eine wachſende Fertigkeit dargeſtellt wird,
welches das eigenthuͤmliche ausmacht in dem Syſtem der Ver⸗
vollkommnung: fo entſteht der naͤmliche Gegenſaz, nur um⸗
gekehrt. Hier naͤmlich wird die Aſketik alles, und dagegen
wird die eigentliche Ethik mit ihren Forderungen nur zufällig
befriedigt. Nur aus dem Begriff der Guͤter angeſehn koͤnnen
312
beide in dieſer Hinſicht neben einander beſtehen, indem die Tu:
gend als Fertigkeit angeſehen ſelbſt ein Gut iſt, und ihr Her⸗
vorbringen alſo ein Theil der allgemeinen Forderung. Doch
dieſes betrifft das reale der Sache, und ſei nur beilaͤufig ges
ſagt, da hier ja zunaͤchſt die Rede iſt von dem formalen.
Ueber dieſes aber iſt folgendes zu bemerken. Zuerſt naͤmlich
wenn man den leztgedachten Fall annimmt: ſo iſt freilich
nicht zu ſehn, wie die Anweiſung dieſes Gut hervorzubringen
mehr im Streit ſein ſollte mit dem ganzen der Ethik, als die
uͤber irgend ein anderes; eben ſo wenig aber, warum ſie ei⸗
nen eignen Theil oder Anhang der Wiſſenſchaft ausmachen
ſollte mehr als irgend eine, und nicht zum Beiſpiel die Kunſt
den Reichthum ethiſch zu vermehren, oder die Oekonomik und
tauſend andere eben ſo muͤßten behandelt werden. Dann aber
auch koͤnnte unter allen dieſen keine uns Vorſchriften geben
zu irgend einem beſtimmten Handeln, weil ja in jedem alle
Guͤter muͤſſen befoͤrdert werden, ſo daß ſie eben ſo wenig als
die Caſuiſtik die rechte Verbindung fein kann zwiſchen der Bes
handlung der Ethik nach einem andern und der nach dem
Pflichtbegriff. Ferner aber wenn man von dieſer lezten Bes
handlung ausgeht, und zwar ſo unvollkommen wie da, wo
ſie auch eine Caſuiſtik hervorbringt, und wenn man ſich die
Aſketik neben dieſer Caſuiſtik denkt, fo verflechten ſich beide
wunderbarlich in einander. Nämlich die Caſuiſtik in der Aus⸗
uͤbung als Fertigkeit gedacht muͤßte eben ſo gut ihre beſon⸗
dere Aſketik haben als die Ethik ſelbſt, und fo auch die Affes
tik auf jene unvollſtaͤndigen und unbeſtimmten Begriffe von
Pflichten und Tugenden bezogen ihre Caſuiſtik. So daß beide
als ein kuͤnſtliches Nez die ſo geſtaltete Ethik ohne Ausweg
beſtrikken und ihren verbotenen Umgang mit dem Unverſtande
offenbaren zur belachenswerthen Schau. Allein außerdem, wie
ſollte wol die Affetif irgend eine wiſſenſchaftliche Geſtalt has
ben koͤnnen? Denn zweierlei laͤßt ſich nur thun, um ſie zu
theilen und zu gliedern. Entweder die Tugend wird getheilt,
und es wird geſezt, es fehle Dem an dieſem, Jenem an ei⸗
313
nem andern. Dann aber kann Staͤrkungsmittel für den ſchwa⸗
chen Theil nur fein entweder ein anderer, wodurch die Theis
lung wieder aufgehoben wuͤrde, indem was als Wirkung und
Urſach verbunden iſt nicht zugleich kann gedacht werden in
der Verbindung, welche ſtatt findet zwiſchen Theilen deſſelbi⸗
gen ganzen. Oder fuͤr alle daſſelbe, naͤmlich Uebung durch
Handeln und Voruͤbung durch Denken. Dann aber beſtaͤnde
die Affetif aus zwei ganz ungleichartigen Theilen, deren jeder
ſchon anders wohin gehört, nämlich die Theilung des Tugend⸗
begriffs in die Behandlung der Ethik nach demſelben, der all⸗
gemeine Saz aber, daß fie nur geſtaͤrkt wird durch ſittliches
Handeln und Denken, dahin, wo jeder die Uebereinſtimmung
jedes erſten Begriffs mit den uͤbrigen und dem ganzen aus⸗
einander zu ſezen gedenkt. Woraus genugſam erhellt, daß ſie
der Wahrheit nach nichts anderes iſt als ein einzelnes Bei—
ſpiel jener Uebereinſtimmung, welches nur fragmentariſch und
unwiſſenſchaftlich zu einem eignen ausgedehnten ganzen kann
verarbeitet werden. Daher bewaͤhrt ſich ſehr verſtaͤndig die
Eintheilung der alten in die wiſſenſchaftliche Sittenlehre und
die parainetiſche als eine auf die Ethik gemachte Anwendung
von jener allgemeinen aller Erkenntniß in die eſoteriſche und
exoteriſche. Denn hierin liegt ja deutlich das Eingeſtaͤndniß,
daß nicht im Gegenſtande etwas ſoll unterſchieden werden,
ſondern nur in der Behandlung, alſo der Gegenſtand ganz
derſelbe ſein muß. Wenn nun gewiß keiner bezweifeln kann,
daß die parainetiſche Ethik ganz gleich iſt der Affetif, und
daß auch dieſe nichts anders iſt als die Ethik ſelbſt, nur, wie
es ſich fuͤrs Volk geziemt, vom einzelnen ausgehend und durch
dargeſtellte Uebereinſtimmung des einzelnen ſich erſt als gan—
zes bewaͤhrend: ſo haͤtte ja jene Eintheilung billig zur War—
nungstafel dienen muͤſſen für jeden ſpaͤteren wiſſenſchaftlichen
Bearbeiter, nicht wie Kant grade der wiſſenſchaftlichſten Form
der Sittenlehre jene nicht etwa als Anhang beizufuͤgen, ſon—
dern als einen weſentlichen Theil einzuverleiben. Auch von
dieſer Verirrung alfo iſt ein ſubjectiver Grund aufzuſuchen in
314
dem Geift der verfchiedenen Syſteme, und wird gewiß gefun⸗
den werden in eben jener ſchon geruͤgten Vorſtellung der Sitt⸗
lichkeit als eines nur beſchraͤnkenden und nicht urſpruͤnglichen.
Und zwar in den praktiſchen beſonders, ſofern dieſe uͤberall
nur die Rechtlichkeit hervortreten laſſen, und daher immer den
Stachel des Bewußtſeins fuͤhlen, daß kein einzelnes der gan⸗
zen ethiſchen Forderung entſpreche. In den eudaͤmoniſtiſchen
aber, in ſofern das zu beſchraͤnkende gleichartig iſt dem ſittli⸗
chen und nur dem Maaße nach verſchieden, ſo daß durch die⸗
ſes immer auch jenes mit genaͤhrt wird, wogegen ein beſon⸗
deres Huͤlfsmittel außer dem jedesmaligen ſittlichen ſcheint er⸗
fordert zu werden. Dieſe Vorſtellungen von dem Sinne der
Caſuiſtik und Affetif und ihren Urſachen feſthaltend werden
wir beide auch unangekuͤndigt uͤberall finden, wo jene Veran⸗
laſſungen vorhanden ſind. Bei Ariſtoteles zum Beiſpiel iſt
die Caſuiſtik nur ein Ausbruch der Dialektik wegen der Un—
beſtimmtheit der einzelnen Begriffe, die bei der Beſchaffenheit
ſeines Begriffes von Tugend unvermeidlich war, und er ent—
ſchuldigt ſie ſich leicht nach ſeiner vorklagenden Ueberzeugung
von der Unwiſſenſchaftlichkeit der Ethik. Doch beziehen ſich
ſeine zerſtreuten Fragen dieſer Art weniger auf die rohe Un—
beſtimmtheit der realen Begriffe, wodurch ſie bei Kant haupt—
ſaͤchlich bewirkt werden, ſondern mehr theils auf die Unbe⸗
ſtimmtheit der metaphyſiſchen Vorbegriffe, theils auf den Wi—
derſtreit des rein ſittlichen mit den nicht ſelbſt auch ethiſch
conſtruirten Bedingungen, unter denen es ſoll wirklich ge—
macht werden. Epikuros bedarf einer ausgefuͤhrten Caſuiſtik,
um die Begriffe von der Luſt der Beruhigung und der Luſt
des Reizes zu ſondern, und fie würde ausführlicher fein muͤſ⸗
ſen als jemals eine iſt vorgetragen worden, wenn es nicht im
Geiſte des Eudaͤmonismus uͤberfluͤſſig ja faſt laͤcherlich waͤre,
die gebietende Darſtellung des ſittlichen zu derjenigen Schaͤrfe
zu treiben, welche doch die Wiſſenſchaft fordert. Eben ſo be⸗
darf er einer Affetif, um den Schmerz und die Furcht zu
verhuͤten, unter welchen lezteren Titel, weil er den Trieb nach
315
Erkenntniß als eine natürliche Aufforderung nicht genug in
Anſchlag bringt, bei ihm faſt alles gehoͤrt, was ſich auf die
Reinigung und Verbeſſerung des Verſtandes bezieht. Und
eben dieſes iſt eine ſonderbare Mißbildung ſeiner Ethik, welche
faſt mit allem fehlerhaften derſelben zuſammenhaͤngt, daß der
Schmerz zwar, ſofern er ein Erzeugniß des willkuͤhrlichen
Handelns ſein kann oder doch unter deſſen Einfluß ſteht,
durch das ſittliche ſelbſt ohne fremde Veranſtaltung aufgeho—
ben wird, die Furcht aber, welche immer aus der Thaͤtigkeit
der geiſtigen Kraft hervorgeht, einer andern an und fuͤr ſich
nicht ſittlichen Huͤlfe bedarf, und alſo einer Aſketik mit einem
eignen der Ethik fremden Inhalte. Hiezu nun bildet Spinoza
den vollkommenſten Gegenſaz. Denn man kann freilich ſagen,
daß auch bei ihm alles, was zur Verbeſſerung des Verſtan—
des angerathen wird, affetifch ſei: allein wie bei ihm die
Tugend eigenthuͤmlich erſcheint als ein lebendiges Wiſſen, und
als ſolches vollendet dargeſtellt wird in der Ethik, ſo iſt auch
jene Aſketik nichts anders als daſſelbige Wiſſen in feinem
Werden dargeſtellt, als Loͤſung der Aufgabe des Verſtandes.
Daher ſie auch keinesweges ein Anhang der Ethik iſt, und in
dieſer nichts von jener vermißt wird; außer wenn jemand
das in des Spinoza anſchaulicher Darſtellung verbundene erſt
trennen, und die ſittliche Geſinnung oder das ſittliche Han—
deln in Beziehung auf einzelne Faͤlle einſeitig betrachten wollte,
und fo, daß er das was ſich nicht unmittelbar auf den vors
handenen Gegenſtand bezieht nicht abgeſondert daͤchte, ſondern
vernichtet, welches eben die Quelle ſo vieler Fehler iſt bei den
andern. Eben ſo aber muͤßte auch bei denen, welche die Tu—
gend als ein Handeln und Wirken darſtellen, einleuchtend ge—
macht werden, wie ſie durch ſich ſelbſt ſich erweitert und ver—
vollkommnet, und wie die Methode ſie hervorzubringen nichts
anders enthalten koͤnne als was auch die Darſtellung ihres
Weſens enthaͤlt. Dieſem Urbilde aber moͤchte unter allen, die
es anerkennen muͤßten, nur Platon entſprechen, fuͤr den es
leicht waͤre eine ſolche Probe anzufertigen; wie denn bei ihm
316
ſelbſt von einer beſonderen Aſketik mit einem eignen Inhalt
auch nicht die leiſeſten Spuren ſich zeigen, nicht einmal, wo
es am eheſten zu erwarten wäre, in feiner Politik und Er-
ziehungslehre. Bei dem beſten hingegen unter den neueren,
bei Fichte, zeigen ſich zerſtreut gleichfalls Caſuiſtik ſowol als
Aſketik, ſich ankuͤndigend durch formlofen Troz und Verzagt⸗
heit. Aber nur zerſtreut; und keiner bilde ſich ein, daß etwa
ſeine mittelbaren Pflichten ein aſketiſches Syſtem bildeten ne⸗
ben der Ethik, weil er naͤmlich ſagt, ſie bezoͤgen ſich auf die
Zuruͤſtung des Menſchen zum Werkzeuge des Geſezes, wel:
ches bei ihm, der ſich ſo ſtreng an den Pflichtbegriff haͤlt,
daſſelbe ſei, wie bei andern die Voruͤbung zur Tugend. Denn
dieſe gehn unmittelbar nicht darauf aus die Tuͤchtigkeit des
Menſchen zu erhoͤhen, und was von dieſer Art vorkommt iſt
entweder nicht ſittlich, naͤmlich die bloße Uebung, oder es be⸗
ruht auf einem anderen nicht hieher gehoͤrigen auch ſonſt
ſchon geruͤgten Mißverſtand. Sondern ſie ſtellen nur dar die
Beſiznehmung und Erhaltung eines eigenen Raumes fuͤr ſein
beſtimmtes Handeln, und ihre Abſonderung iſt nur jene ſchon
geruͤgte gar nicht ethiſche Trennung des Anfangs der Hand—
lung von ihrem natuͤrlichen Fortſchreiten. Vielmehr in der
andern Abtheilung wird der ſuchende finden vieles, was nicht
fuͤr ſich als ſittlich aufgeſtellt iſt, dennoch gefordert als Mit⸗
tel, um die Ausuͤbung eines ſittlichen zu erleichtern, und er
wird eine ganze aſketiſche Reihe entdekken vom kleineren zum
größeren fortſchreitend, von einzelnen Vorſchriften, wie die der
Sparſamkeit unbeſtimmt wie ſie iſt als Mittel zur gleichfalls
unbeſtimmten Wohlthaͤtigkeit, bis zu großen und zuſammen⸗
geſezten Anſtalten wie die Kirche und das gelehrte Publikum,
denn beide gehören doch bei ihm faſt nur zum afketifchen Ges
triebe. Caſuiſtiſch aber ſind offenbar alle jene formalen Ma⸗
ximen vom nicht Zeit haben zu dem und jenem, vom War⸗
ten auf das Darbieten der Pflicht und Tugend, von dem Eins
fluß des erſten Punktes, auf welchem der Menſch ſich findet.
Denn was iſt anders ihr Geſchaͤft, als die Verwandlung der
317
für ſich unbeſtimmten realen Vorſchriften in beſtimmte an⸗
zuordnen und zu bewirken. So daß auch hier in dem feh—
lerhaften dennoch Fichte ſich auszeichnet vor den andern durch
eine hoͤhere wiſſenſchaftliche Wuͤrde, indem er nicht einzelne
Fragen aufwirft und beantwortet, ſondern Regeln giebt, um
alle gleichartigen im allgemeinen zu entſcheiden. Wie es
aber dieſen Regeln ſelbſt an feſter Begruͤndung mangelt, wie
ſie keinen feſten Ort haben noch auch haben koͤnnen, wo ihre
Rechte eingetragen waͤren, und wie ſie ebenfalls mit jenen
Fehlern zuſammenhaͤngen, aus denen anch anderwaͤrts die Ca-
ſuiſtik entſpringt, dieſes kann nun aus vielen bereits gegebenen
Andeutungen jeder ſich ſelbſt wiederholend zuſammenfuͤgen.
Ferner indem in beiden jezt geruͤgten Fehlern ſich das
Beduͤrfniß offenbart, einer Darſtellung der Ethik nach Einem
der drei Hauptbegriffe etwas hinzuzufuͤgen, das einer andern
angehoͤrt: ſo entſteht die Frage, ob ein ſolches verdaͤchtiges
Seduͤrfniß jeder nicht alle jene Begriffe umfaſſenden Darſtellung
natuͤrlich iſt, oder welcher von ihnen der Vorzug gebuͤhrt ſich
hierin ſelbſtgenuͤgſamer zu beweiſen. Dieſe nun zuerſt in
Beziehung auf das vorhandene beantwortet, ſo iſt leicht zu
entſcheiden, daß ſo lange die Begriffe von Pflicht und Tu—
gend nicht richtiger ins Auge gefaßt und feſter gehalten
werden, als dem obigen zufolge bisher geſchehen iſt, es uns
moͤglich fein muß die Sittenlehre durch fie irgend befriedis
gend darzuſtellen. Denn wenn der Pflichtbegriff nur eine
nie zu beendigende- Theilbarkeit zeigt, und nichts reales für
ihn ſich darbietet, und der Tugendbegriff im Gegentheil nicht
auseinander will, und troz aller Bemühungen eine Einfach
heit bewährt, die jeder Analyſe trozt, wie ſollten fie zu ir-
gend einer wiſſenſchaftlichen Darſtellung gedeihen? Und wie
ſollte nicht das unvermeidliche Gefühl des leeren und vers
fehlten jeden Schuz ergreifen, um ſich dahinter zu verbergen?
Welchen Schuz jeder von dieſen Begriffen in dem Gebiete
des andern ſuchen wird, oder des nur dunkel geahneten drit⸗
ten. Auf die Sache ſelbſt aber geſehen und die mögliche.
318
beſſere Behandlung dieſer Begriffe: fo iſt nicht minder ein—
leuchtend, daß jeder fuͤr ſich die Ethik nur einſeitig darſtellen
kann, und nur ſo wie ſie durch eine zufaͤllige Wahrnehmung
gefunden, oder durch ein beſonderes Beduͤrfniß aufgegeben
erſcheint. Denn wer ſich der Ethik nur nach Anleitung des
Pflichtbegriffes bemaͤchtigt hat, wird noch nicht im Stande
ſein im einzelnen das ſittliche in die Formel der Geſinnun⸗
gen umzuſezen, und eben ſo umgekehrt; und da beides ſo
genau zuſammenhaͤngt, ſo wird jeder auf irgend eine Art
aus der andern Quelle ergaͤnzen, was eine fuͤr ſich nicht ge⸗
waͤhren will. Ja ſchon die Beduͤrfniſſe, ſowol das, ein guͤl⸗
tiges Geſez der Entſcheidung zu finden im Streite menſch—⸗
licher Neigungen, als auch jenes, das ſittliche Gefuͤhl als ein
gegebenes zu erklaͤren, und die Denkungsart genau zu une
terſcheiden, welcher es folgt, ſind von der Art, daß in einer
wiſſenſchaftlichen Geſtalt aufgeloͤſt dieſe dem Gegenſtande zu
groß zu ſein ſcheint, und niemand weiß, wohin ſie eigentlich
gehoͤrt. Denn jenes Gefuͤhl als ein wahres und nothwen—
diges im voraus anzunehmen, iſt ſchon voreilig und unwiſ—
ſenſchaftlich. Hat ſich aber die wiſſenſchaftliche Erkenntniß
der menſchlichen Natur ſo weit entwikkelt, daß es ſich als
ein ſolches bewährt, fo iſt die Analyſe deſſelben nur ein klei—
ner Theil von der Erkenntniß des Menſchen als eines beſon—
deren Naturweſens, und ein Vorwand muß geſucht werden
ihr eine hoͤhere Stelle anzuweiſen. Welcher Vorwurf beide
Behandlungen der Ethik trifft, die von der Pflicht ausge-
hende, und die von der Tugend. Hier nun zeigt ſich keine
andere Rettung, wo ſie auch geſucht wuͤrde, als in dem Be—
griff der Güter, der allein kosmiſch iſt, und von einer Auf-
gabe ausgeht, welcher, wenn ſie auch nicht aus der Idee
eines Syſtems menſchlicher Erkenntniß ausgegangen iſt, doch
ihre Stelle in derſelben niemand beſtreiten wird. Denn
wenn die Loͤſung jener ganz ſubjectiven Aufgabe zuſammen—
trifft mit der einer ſo durchaus objectiven, was naͤmlich der
Menſch bilden und darftellen fol in ſich wie außer ſich, nur
319
dann iſt ein Ruhepunkt gefunden, und eine Rechtfertigung
des wiſſenſchaftlichen Beſtrebens. Der Begriff der Guͤter
aber und die Aufgabe, auf welche er ſich zunaͤchſt bezieht, be⸗
duͤrfen ſelbſt wieder jener beiden zur Bewaͤhrung ihrer Rea⸗
lität. Denn es muß aufgezeigt werden für das, was dar—
geſtellt werden ſoll, das Vermoͤgen in der menſchlichen Na—
tur und die Regel fuͤr das dabei zu beobachtende Verfahren.
Sonach ſcheint mit Beiſeitſezung der hoͤheren Anſpruͤche, wel—
cher wir uns gleich anfaͤnglich begaben, der wiſſenſchaftlichen
Geſtalt der Ethik ſo nothwendig zu ſein eine Vereinigung
jener drei Begriffe, daß ſie wenn nicht auf dem richtigen
Wege gefunden wenigſtens auf einem falſchen von jedem
muß geſucht werden. Offenbar aber kann dieſe Vereinigung
nicht beſtehen in dem bloßen Zuſammenſtellen jener drei Bes
handlungen der Ethik. Denn da allem obigen zufolge das
ſittliche im einzelnen jedesmal in einer andern Geſtalt er—
ſcheint, je nachdem es unter einen andern von jenen drei
Begriffen gebracht wird, und durch eine ſolche Zuſammen—
ſtellung gerade nur das einzelne ins Licht geſezt wuͤrde: ſo
koͤnnte anſtatt ihre Uebereinſtimmung anſchaulich zu machen
auf dieſem Wege nur der Schein ihrer Unabhaͤngigkeit und
Verſchiedenheit noch verfuͤhreriſcher gemacht werden. Son—
dern das Weſen dieſer Vereinigung liegt in der Reduction
jener verſchiedenen Geſtalten des ſittlichen, welche, wenn ſie
uͤberzeugend ſein ſoll und allgemein, nicht vom einzelnen darf
aufs einzelne gehen, was auch ſchon die Natur der Sache
verbietet, noch auch vom ganzen aufs einzelne, ſondern nur
vom ganzen aufs ganze. So daß alles ankommt auf die
Reduction der Formeln, durch welche das Geſez bezeichnet
wird, oder der weiſe, auf die des hoͤchſten Gutes. Hiernach
nun entſteht allerdings jeder Ethik ein formaler Theil, wel—
cher unentbehrlich alle jene Formeln enthaͤlt, und ihre Ueber—
einſtimmung darthut, dann ein realer, welcher freilich nur
dann ganz vollftändig ſein wird, wenn er das ſittliche nach
allen drei Begriffen, der Pflichten der Tugenden und der
320
Güter darſtellt. Iſt jedoch auch nur eine dieſer Darſtellun⸗
gen richtig geleiſtet, ſo wird durch jenen formalen Theil un⸗
noͤthig jeder verunſtaltete Zuſaz, indem, die Reduction im
ganzen vorangeſchikkt, ihre Anwendung auf das einzelne nur
ein Verſuch iſt, durch den jeder die Richtigkeit ſich anſchau⸗
lich machen kann, der aber in die Behandlung der Wiſſen⸗
ſchaft nicht mehr gehoͤrt. Ueber den Vorzug jener vollſtaͤn⸗
digen Darſtellung vor dieſen einzelnen iſt nicht noͤthig etwas
zu erwaͤhnen; und wenn die Ethik erſt als ein Glied eines
allgemeinen Syſtems menſchlicher Erkenntniß wird bearbeitet
werden, moͤchte ſchwerlich eine andere als ſolche zu dulden
ſein. Wird aber gefragt nach etwanigen Vorzuͤgen irgend
einer von den einzelnen Darſtellungsarten vor den uͤbrigen,
fo ergiebt ſich hierüber aus dem obigen das Gegentheil von
der Meinung, welche faſt allgemein angetroffen wird. Denn
zu dem großen Vorzug, welchen die neueren dem Pflichtbes
griff eingeraͤumt haben, entdekkt ſich keine Urſach; vielmehr
iſt er nach allem obigen fuͤr jezt noch weiter entfernt eine
taugliche Ethik zu gewaͤhren, als der Begriff der Guͤter, wenn
ſich jemand deſſen bedienen wollte. So daß eine Taͤuſchung
ſcheint hiebei zum Grunde zu liegen, daß er naͤmlich nur
verglichen worden iſt mit dem Begriff der Tugend, und zwar
weniger in Hinſicht auf das Hervorbringen der Wiſſenſchaft,
als auf deren Anwendung im Leben. Denn weil unter dem
Pflichtbegriff das ſittliche als Theil erſcheint: ſo ſcheint nach
demſelben leichter, das was in jedem Augenblikk geſchehen
ſoll zu finden. Sieht man aber auf das oben geſagte, daß
naͤmlich auch die Pflichtformeln, wenn ſie genuͤgen ſollen,
und in Uebereinſtimmung ſtehen mit den andern, ſo muͤſſen
eingerichtet ſein, daß nur unter Vorausſezung der ſittlichen
Geſinnung, und durch dieſe ihre Anwendung im einzelnen
kann gefunden werden: ſo iſt nicht zu ſehen, warum nicht
ſelbſt die Tugendformeln das naͤmliche leiſten ſollten, und es
ſcheint nur eine Erleichterung geträumt zu fein zum Auffin⸗
den der faͤlſchlichen ſogenannten Legalitaͤt, bei welcher naͤm⸗
| lich
321
lich die Geſinnung fehlt. Eben ſo iſt zwar der Tugendbe⸗
griff fuͤr jezt noch nicht fo bearbeitet, daß eine Ethik daraus
koͤnnte erbaut werden, ſeine Unzulaͤnglichkeit aber beſteht doch
auch nur in der ſchwierigeren Anwendung, und eine auf ihn
ſich beziehende vollſtaͤndige Darſtellung des ſittlichen kann an
ſich nicht fuͤr unmoͤglich gehalten werden. Eines weſentlichen
Vorzuges alſo moͤchte ſich nur der Begriff der Guͤter ruͤhmen
koͤnnen, und unter Vorausſezung jenes formalen Theiles
moͤchte auch er einer ſichern Anwendung fähig fein, bei wel-
cher, wenn anders die Geſinnung vorhanden iſt, auch dem
Irrthum am wenigſten Spielraum bliebe. Doch dieſe Vers
gleichung nur beilaͤufig, da von Seiten der Form bei richti-
ger Behandlung wol kein Unterſchied moͤchte zu finden ſein.
Von hieraus aber, naͤmlich von der eingeſehenen Nothwen—
digkeit die Uebereinſtimmung der Formeln darzulegen, und
erſt auf dieſe das reale zu gruͤnden, eroͤffnet ſich die Anſicht
auf viele Unfoͤrmlichkeiten der bisherigen Sittenlehren, auf
große und allgemeine ſowol als auf einzelne, welche jedoch
hieher gehoͤren, ſofern ſie eben aus dem Mangel an richtiger
Form des ganzen entſtanden ſind, und denſelben verdekken
ſollen. So iſt zuerſt verwirrt und unfoͤrmlich die Art, wie
die Stoiker alle drei Behandlungen der Ethik zuſammenfuͤ—
gen ohne ſie zu vereinigen. Oder wie koͤnnte eine irgend
klare Einſicht in die Natur und den Zuſammenhang dieſer
Begriffe ein ſo ganz ſchlechtes ganze hervorgebracht haben,
als ihre bekannten Abſchnitte oder Oerter uns darbieten? Die
unwahrſcheinlichen Saͤzge nun vom weiſen, welche wenn auch
von den Kynikern entlehnt doch in das Syſtem aufgenom⸗
men eigentlich keinen Ort haben in allen dieſen Oertern, koͤn⸗
nen formal nicht anders verſtanden werden, als daß ſie ein
Behelf ſein ſollen, um die verabſaͤumte Reduction der ethi⸗
ſchen Ideen zu ergaͤnzen. Naͤmlich ſie laufen lediglich darauf
hinaus im einzelnen zu zeigen, daß die unter der Idee des
weiſen dargeſtellte ſittliche Geſinnung hinreiche, um das ſitt⸗
liche, wie es im Abſchnitte von den Güte dargeſtellt ift,
Schleicem. Grundl. X
322
vollfommen hervorzubringen. Denn umgedeutet wenigſtens
aus dem peripatetiſchen Sinn in den kyniſchen iſt auch den
Stoikern alles ein Gut, was jene Saͤze dem weiſen nach⸗
rühmen, der Reichthum und das Koͤnigthum mit allem uͤbri⸗
gen. Ferner bei Fichte muß es jedem als eine große Un⸗
foͤrmlichkeit auffallen, daß zuerſt die Frage nach der Pflicht
abgetheilt wird in die zwei Fragen, was geſchehen ſolle, und
wie es geſchehen ſolle, dann aber dieſe leztere auf eine von
der erſten ſo ganz unterſchiedene dem Pflichtbegriff nicht an⸗
gemeſſene Art behandelt, und dabei zuruͤkkgegangen wird bis
in eine Gegend, welche eben ſo hoch oder hoͤher liegt, als der
Pflichtbegriff ſelbſt, von welchem doch iſt ausgegangen wor⸗
den. Dies nun erklaͤrt ſich ebenfalls aus dem hier angereg⸗
ten Beduͤrfniß. Es iſt naͤmlich dieſer Theil der Unterſuchung
gar nicht ein Theil der Behandlung des Pflichtbegriffs, ſon⸗
dern eine Behandlung des Tugendbegriffs und Anknuͤpfung
deſſelben an die dieſer Philoſophie erſten Glieder der Erkennt⸗
niß. Die Art aber wie ſie geſtellt iſt ſoll die durch die Nas
tur der Sache geforderte Verknuͤpfung beider Begriffe ſchein⸗
bar ergaͤnzen. Eben ſo wenn Fichte und andere der Abhand⸗
lung des Pflichtbegriffes eine Ueberſicht hinzufuͤgen von dem
was nun durch Erfuͤllung dieſer Pflichten in der Welt ge⸗
leiſtet wird und hervorgebracht: ſo iſt auch dieſes nichts an⸗
ders, als eine unfoͤrmliche und tumultuariſche Stellvertretung
fuͤr die verabſaͤumte Reduction des eee 2 den
Begriff der Guͤter. |
Anftatt jener bier geforderten Eintheilung nun in die
vereinigende Auseinanderſezung des formalen und die fort⸗
ſchreitende Darſtellung des realen findet ſich in manchen Sit⸗
tenlehren der neueren theils wirklich ausgefuͤhrt theils wenig⸗
ſtens vorausgeſezt und angedeutet eine andere Eintheilung,
welche anders als jene und nicht bei allen auf gleiche Weiſe
das reale abſondert vom formalen, die Eintheilung naͤmlich
in eine reine Sittenlehre und eine angewendete. Zwiſchen
welchen beiden einige die Grenze ſo ziehen, daß die erſte das⸗
*
323
jenige enthalte, was gleichſam vor der menſchlichen Natur
und ohne Hinſicht auf ihre beſondere Beſchaffenheit kann
ethiſch geſezt werden, die andere aber alles, was ſich nach
erlangter Erkenntniß der beſonderen Verhaͤltniſſe der menſch⸗
lichen Natur genauer beſtimmen laͤßt. Auf dieſe Weiſe aber
kann jene nicht nur, wie Fichte ihr mit Recht vorwirft, nichts
reales enthalten, ſondern auch nicht einmal das formale
umfaſſen. Denn ſollen die Formeln des Geſezes oder des
weiſen oder des hoͤchſten Gutes etwas ſo weit beſtimmtes
enthalten, daß ſich dadurch ein Syſtem der Ethik von den
andern unterſcheiden laͤßt, und anders moͤgen ſie doch ihre
Stelle nicht erfuͤllen, fo muß irgend etwas geſezt fein, wor⸗
auf ſich jedes Syſtem auf eigne Weiſe beziehen kann. Ab⸗
ſolut aber vor der menſchlichen Natur kann nichts geſezt ſein,
als die durch das bloße Denken geforderten und gegebenen
Geſeze deſſelben. Wonach in dieſen Grenzen jenen Formeln
kein Inhalt kann zugewieſen werden, ſondern nur ihre Form
ausgeſprochen, naͤmlich die Allgemeinheit der Maximen, das
Wechſelverhaͤltniß der Tugenden, die Compoſſibilitaͤt der Guͤ⸗
ter. Offenbar alſo muß in der angewendeten Sittenlehre
ihr Inhalt erſt anders woher begruͤndet oder eingeſchlichen
werden, und auf dieſes poſitive und reale Princip, welches
es auch ſei, kann dann jene formale Bedingung nicht anders
angewendet werden als pruͤfend und beſchraͤnkend. Hieraus
nun erhellt genugſam, daß dieſe Eintheilung in ſolchem
Sinne nur da Statt finden wird, wo der Charakter der
Sittlichkeit darin beſteht die Natur zu beſchraͤnken. Welche
Anſicht ſich auch hier durch die ſchlechte Form, welche ſie
hervorbringt, als dem Erbauen der Wiſſenſchaft unguͤnſtig
verraͤth. Denn ſolche Eintheilung muß jeden ſyſtematiſchen
Sinn beleidigen, weil ſie nicht etwa das fremde vom realen
trennt, ſondern jenes ſelbſt in zwei Elemente zerfallt, und
dieſe ganz von einander reißt, das negative noch dazu als
das hoͤchſte obenan ſtellend. In dieſem Sinne waͤre bei
Kant das eigentlich ethiſche in ſeiner Kritik der praktiſchen
&2
324
Vernunft und feiner Grundlegung zur Metaphyſik der Sitten
die reine Ethik, dieſe Metaphyſik ſelbſt aber die angewendete;
und es bedarf ſchwerlich noch eines andern Beiſpieles, um,
den erhobenen Tadel zu beurkunden, ſo deutlich zeigt ſich hier
die Trennung deſſen, was vereinigt ſein ſollte, und die ſchlecht
verkittete und uͤbertuͤnchte Verknuͤpfung deſſen, was geſondert
fein muͤßte. Andere im Gegentheil ſondern durch eine gleiche
namige Eintheilung das reale der Ethik in zwei verſchiede ne
Theile, indem ſie der reinen Sittenlehre diejenigen Vorſchrif⸗
ten zuweiſen, welche allgemeiner Art find. und aus der Na⸗
tur des Menſchen ſelbſt oder was ſonſt zum Objekte der
Pflicht gemacht wird zu verſtehen. Die angewendete aber
enthaͤlt ſolche, die ſich auf ein beſonderes beziehen, welches
nur erkannt werden kann in der Erfahrung, auf beſtimmte
Zuſtaͤnde naͤmlich und Verhaͤltniſſe. Eine ſolche Eintheilung
ſezt auch Kant voraus in ſeiner Tugendlehre, vielleicht um
einiges daraus verbannen zu koͤnnen, weil ſie in dieſem Sinn
genommen die reine Sittenlehre fein ſoll. Wiewol er am
wenigſten berechtiget geweſen wäre das ſchwankende dieſes
Verfahrens nicht wahrzunehmen. Denn wenn wie bei ihm
die menſchliche Natur nicht irgendwoher abgeleitet, ſondern
auch nur aufgefaßt iſt: ſo verſchwindet jeder beſtimmte Un⸗
terſchied zwiſchen dem allgemeinen und beſonderen. Daher
iſt nicht einzuſehen, warum zum Beiſpiel das, was ſich auf
den Unterſchied der Geſchlechter bezieht, mehr der reinen Ethik,
angehoͤren ſoll, als was von der Mannigfaltigkeit der Ge⸗
muͤthsarten ausgeht; oder warum auf den Unterſchied der
erwachſenen und der Kinder ein ganzer Abſchnitt der Ethik
ſich gründet, deſſen aber zwiſchen den kraͤftigen und den ab⸗
gelebten auch gar nicht gedacht wird. Auf der andern Seite
aber hat er ſehr Unrecht gethan die Ausfuͤhrung dieſer an⸗
gewendeten Ethik als eine Nebenſache zu vernachlaͤſſigen, da
er nicht im Stande war in der reinen die Gruͤnde befriedi⸗
gend aufzuſtellen zu den ethiſchen Beſtimmungen, welche ſichh
auf jenes beſondere beziehen. Woraus zugleich erhellt, daß
325
feine angewendete Ethik, ausgeführt, keinesweges nur An—
wendungen enthalten duͤrfte, ſondern auch fuͤr ſich von vorn
anfangen muͤßte; welches theils eine Folge iſt von der Un—
ſtatthaftigkeit der Eintheilung, theils von der unrichtigen und
verworrenen Art den Pflichtbegriff zu behandeln. Iſt aber
im Gegentheil die menſchliche Natur wie es auch ſei abgeleis
tet und conſtruirt: ſo muß mit dem allgemeinen zugleich auch
der Ort gefunden ſein fuͤr das beſondere, und eben deshalb
auch die reine Ethik ſchon die Gründe enthalten zu den ethi—
ſchen Beſtimmungen aller Geſtalten, in denen es vorkommen
kann. Und da uͤberdies das beſondere ſeiner Natur nach un—
endlich iſt und unerſchoͤpflich, ſo fehlt es wiederum am Ent—
ſcheidungsgrunde, welches nun den Vorzug erhalten ſoll wie—
derum als das allgemeine des beſondern dargeſtellt zu wer—
den, und ſo ſcheint die wiſſenſchaftliche Behandlung, wie ſie
aus jenem Grunde nicht nothwendig iſt, aus dieſem auch
nicht moͤglich zu ſein. Ferner wird uͤberlegt, daß das beſon—
dere und zufaͤllige, womit die angewendete Ethik ſich beſchaͤf⸗
tigen ſoll, nicht etwa ein ſolches iſt, das durch Naturnoth—
wendigkeit ſo und nicht anders gegeben iſt, ſondern immer
durch willkuͤhrliches Handeln hervorgegangen, gleichviel ob
durch eignes oder gemeinſchaftliches; ſo ſieht man leicht, wie
dieſe Eintheilung zuſammenhaͤngt mit jenem Fehler irgend et—
was als abſolut gegeben anzuſehn in der Ethik, welcher ſich
ſchon als ein ſolcher erwieſen hat, der die erſten Bedingungen
ihrer Wiſſenſchaftlichkeit aufhebt. Daher natuͤrlich auch diefe
Form, welche er veranlaßt, nicht beſtehen kann. Denn iſt
nach gewoͤhnlicher Weiſe die Ethik aus dem Pflichtbegriff dar—
geſtellt, und es wollte zur Beſchuͤzung jener Eintheilung ge—
ſagt werden, es ſei doch in Hinſicht auf einen unvollkomme⸗
nen ethiſchen Zuſtand zweierlei erforderlich, einmal freilich ihn
zu verbeſſern, dann aber auch ihm wie er iſt Genuͤge zu lei—
ſten: ſo weiſet grade jene Behandlung dieſes Vorwort zuruͤkk,
weil in der pflichtmaͤßigen That beides jedesmal muß verei⸗
niget fein. Iſt aber die Ethik unter dem Begriff der Güter
326
dargeſtellt, fo enthält die Beſchreibung eines jeden die For⸗
mel, in welcher die ganze Reihe der Veraͤnderungen irgend ei⸗
nes ethiſchen Zuſtandes eingewikkelt enthalten iſt von ſeiner
erſten Bearbeitung an bis zu ſeiner Vollendung. Wie ſollte
es alſo zugeſtanden werden aus dieſen Reihen einzelne Mo⸗
mente in einem beſondern Theile der Ethik beſonders zu ent⸗
wikkeln? Ja ſelbſt wenn dieſe Entwikklung als Gegenftüff
einer im ganzen nach dem Begriff der Guͤter behandelten
Ethik ſollte dem Pflichtbegriff unterworfen werden, eben um
jene haͤufig angedeutete aber nirgends ausgefuͤhrte Verknuͤpfung
des Behandelns und Verbeſſerns endlich darzuſtellen, welches
gewiß die verſtaͤndigſte Anſicht waͤre: ſo eignet ſich doch ein
wirklicher beſtimmter Zuſtand nicht zu einer ſolchen wiſſen⸗
ſchaftlichen Darſtellung, ſondern die richtige Behandlung deſ—⸗
ſelben iſt vielmehr die kuͤnſtleriſche und ſelbſtbildende Anwens
dung, welche ein jeder zu machen hat von der ihm als Nichts
maaß geltenden Ethik. Denn die Wiſſenſchaft kann nur vers
einzelt darſtellen erſt dieſes Verhaͤltniß, dann jenes; in einem
wirklichen Zuſtande aber laͤßt ſich nichts vereinzeln, ſondern
ein jedes Verhaͤltniß haͤngt zuſammen mit der Art, wie auch
die übrigen beſtimmt find, ohne daß jedoch irgend die ſaͤmmt⸗
lichen Bedingungen eines wirklichen gegebenen Momentes ein
ganzes ausmachen, welches durch beſtimmte Formeln darzu—
fielen wäre. Ueber keinen Gegenſtand alſo würde etwas koͤn⸗
nen ausgeſagt werden, bis er ſeine Einzelheit verloren, und
ſich gleichſam unter den Händen verwandelt hätte in ein gan⸗
zes mit mehreren; und anſtatt Regeln auf viele aͤhnliche Faͤlle
anwendbar an die Hand zu geben koͤnnte dieſer Theil der
Ethik mit Recht nur Entſcheidungen enthalten uͤber einzelne
ganz beſtimmte Faͤlle. Das ſcheinbare Beduͤrfniß aber nach
einer ſolchen angewendeten Ethik iſt unſtreitig daher entſtan⸗
den, weil durch Einwirkung eben jenes Fehlers auch das,
was als reine Ethik gegeben wurde, groͤßtentheils nicht all⸗
gemein guͤltig war und das ganze umfaſſend, ſondern von
Voraus ſezungen ausgehend, welche nur eine bedingte Guͤltig⸗
327
keit übrig ließen, und alſo nur einer gewiſſen Zeit angemeſ⸗
ſen, wovon oben Beiſpiele genug angegeben worden. Denn
dieſes unzulaͤngliche Verfahren einmal mit der Wirklichkeit
befangen konnte eher bei dem herrſchenden Geiſt zu dem noch
beſtimmteren herabgefuͤhrt werden, als zu dem hoͤheren und
unbedingten hinauf. Die wahre Darſtellung der Ethik aber
darf ſich, wie bereits geſagt, auf keine weder eine ganz be⸗
ſtimmte noch eine laͤngere und unbeſtimmte Zeit beſchraͤnken,
ſondern muß ganz allgemein ſein; nicht ſo naͤmlich, daß ſie
von dem Inhalt irgend einer Zeit hinwegſieht, ſondern ſo,
daß ſie den von einer jeden umfaßt. Ja in demſelben Maaße
als die Gegenwart ſich durch ſie beſtimmen laͤßt, muß ſie
auch hiſtoriſch die Vergangenheit und prophetiſch die Zukunft
beſtimmen. Denn nur indem ihm ſeine Stelle beſtimmt wird
in der Reihe der ethiſchen Fortſchritte, wird das vergangene
eigentlich erkannt und gewuͤrdigt; und was die Zukunft be—
trifft, ſo iſt eben ſo alles Erfinden, in ſofern es nicht etwa
nur ein Entdekken iſt wie in der Naturwiſſenſchaft, eigentlich
ethiſch, und in der Ethik liegen die Principien der von vielen
geſuchten Erfindungslehre. Hievon werden ſich Beiſpiele ei—
nem jeden aufdraͤngen. Oder erſcheint nicht vieles von dem,
was jezt beſſeres anzutreffen iſt in unſern geſelligen und an—
dern Verhaͤltniſſen, als Aufloͤſung der Widerſpruͤche, an wel—
chen dieſe Verhaͤltniſſe ſonſt litten? Und kann man zweifeln,
daß eben dieſes auch durch Rechnung haͤtte koͤnnen gefunden
werden, wenn jemand den ſittlichen Zuſtand verglichen haͤtte
mit den ethiſchen Forderungen? Eben ſo, wie manches iſt
ſchon ehedem da geweſen, was unſerer Ueberlegung beſſer er—
ſcheint als das jezige, und jeder wird einſehen, daß es ſchwer—
lich haͤtte verſchwinden koͤnnen, wenn es in ſeinem ſittlichen
Werth waͤre erkannt und auch ſo aufgefaßt worden. Denn
nur was zufällig da iſt in menſchlichen Dingen iſt vergängs
lich. Nicht anders aber muß auch aus dem, was jezt noch
ein Gegenſtand aͤhnlicher Klagen iſt, ſich berechnen laſſen, was
die Zukunft wird erfinden muͤſſen, um ihnen abzuhelfen. Nur
328
daß die Ethik ſelbſt nichts weiter als die Formeln enthaͤlt,
nach denen dieſe Berechnungen anzulegen find, ihre Anwen⸗
dungen ſelbſt aber liegen außerhalb ihres Gebietes.
Endlich haben noch andere ſich deſſelben Namens bedient,
um einen andern Unterſchied zu bezeichnen, naͤmlich zwiſchen
der Ethik ſelbſt und einigen untergeordneten Wiſſenſchaften,
welche ihr auf eine beſondere Art angehören, indem fie Zwekk
und Grundſaͤze von ihr entlehnen, doch aber auch jede ein
eignes ganzes fuͤr ſich ausmachen, kurz auf eine Art, welche
genau zu beſtimmen nicht wenig ſchwer faͤllt. Jedoch auch
ohne den Namen findet ſich dieſelbe Verbindung ſolcher Wiſ—
ſenſchaften mit der Ethik auch anderwaͤrts, ſo daß die Pruͤ—
fung dieſer Form um ſo weniger kann uͤbergangen werden,
da ſie die Ethik durch den glaͤnzenden Schein vergroͤßert, als
werde in ihr wirklich ein ganzer wiſſenſchaftlicher Cyclus dar⸗
geſtellt. Auf den erſten Anblikk nun koͤnnte man Aehnlichkeit
finden zwiſchen dieſem Verhaͤltniß und dem der reinen Groͤ—
ßenlehre zu der angewendeten; der naͤheren Betrachtung aber
muß die gaͤnzliche Verſchiedenheit bald einleuchten. Denn die
Gegenſtaͤnde, auf welche ſich die Wiſſenſchaften der angewen-
deten Groͤßenlehre beziehen, ſind keinesweges durch die reine
gefunden, oder in ihr abgeleitet, ſondern fie muͤſſen anders
waͤrts her geſezt werden, ja im Gegentheil ihre Wahrneh—
mung muß gewiſſermaßen vorausgeſezt werden, damit nur
die Aufgabe entſtehe die reine Groͤßenlehre zu ſuchen. So
daß die Anwendung der Wahrheiten diefer leztern auf jene
nur iſt theils ein Zuruͤkkſehn auf dasjenige, wovon vorher iſt
hinweggeſehen worden, theils ein Hinſehen auf ein fremdes
und nicht etwa untergeordnetes, ſondern höheres Gebiet, naͤn⸗
lich das der phyſiſchen Kraͤfte. Ganz das Gegentheil aber
_
findet Statt in Hinſicht der Ethik und der ihr untergeordne=
ten Wiſſenſchaften. Denn die Staatskunſt zum Beiſpiel die
Erziehungslehre die Haushaltungskunſt, als welche vorzuͤglich
4
in dieſem Sinne die angewendete Sittenlehre ausmachen, alle
dieſe koͤnnen in der Wiſſenſchaft nur exiſtiren in der Voraus⸗ |
329
ſezung einer ethiſchen Aufgabe, und koͤnnen auf die Ethik nur
bezogen werden nicht in wiefern ſie durch ein beſonderes von
ihr unabhaͤngiges Beduͤrfniß aufgegeben ſind, indem ſie ſo
angeſehen vielmehr im Widerſpruch mit ihr ſtehen muͤßten,
ſondern lediglich in wiefern ihre Idee iſt in der Ethik gefun—
den worden. Welches jedoch nur gilt von derjenigen Ethik,
welche als urſpruͤnglich und ſelbſt hervorbringend gedacht
wird; dagegen jene Aehnlichkeit mit der Groͤßenlehre allers
dings beſteht fuͤr diejenige Anſicht, welcher das ſittliche nur
beſchraͤnkend iſt, der Stoff zur Beſchraͤnkung aber ihm uͤberall
muß von außen gegeben fein, indem dann auch jene Aufga=
ben aus dem ſinnlichen Beduͤrfniß entſpringen, und nur ver—
langt wird ihre Behandlung uͤbereinſtimmend zu machen mit
den Forderungen der Ethik. Und dieſes giebt allerdings, wenn
ſonſt keine Urſach ſollte zu finden ſein, eine Andeutung uͤber
den Urſprung einer ſonſt unerklaͤrlichen Mißgeſtaltung. Doch
nur beilaͤufig von dieſer Vergleichung und mehr als genug,
da die Sache an ſich ſelbſt betrachtet das eben gefundene ſo
ſehr beſtaͤtiget. Denn von dem Geſichtspunkt der ſelbſtthaͤti—
gen Sittlichkeit aus muß die Idee jeder Wiſſenſchaft in der
Ethik gefunden und ihre Ausfuͤhrung aufgegeben ſein, weil
ſonſt das Streben danach keine Zeit ausfuͤllen und gar nicht
dürfte vorhanden fein. Hiernach alſo wären alle Wiſſenſchaf⸗
ten einander gleich, und keine entweder oder alle muͤßten der
angewandten Ethik zugehoͤren. Der Unterſchied aber, welcher
ſich eröffnet, iſt dieſer, daß bei allen eigentlichen ſpekulativen
Wiſſenſchaften das einzelne keiner ethiſchen Beurtheilung wei—
ter unterworfen iſt, außer als That in der Seit, nicht aber
als Theorem in Beziehung auf ſeinen Inhalt, ſondern ſo iſt
es nur den Geſezen der Erkenntniß unterworfen. Wodurch
alſo die Behandlung dieſer Wiſſenſchaften als ein fremdarti—
ges aus der Ethik gaͤnzlich entfernt wird, und ſie von der
Ethik aus nur erſcheint als die anderweitig zu beſtimmende
Technik des aufgegebenen Zwekkes. So wird, um nicht ganz
kahl zu reden, in der Ethik auch gefordert die Sternkunde,
x
330
und als That iſt allerdings auch ethiſch zu beurtheilen, ob
grade dieſer ſich damit beſchaͤftigen ſolle oder nicht, und ob
grade jezt oder nicht: ob aber nach dieſer oder einer andern
Voraus ſſezung die Bahn eines Geſtirns zu ſuchen iſt, und ob
es richtig ſei die Nebelflekke als Milchſtraßen zu betrachten
oder nicht: dieſes wie alles, was den Inhalt betrifft, hat
keine Beruͤhrung mehr mit der Sittenlehre. Praktiſche Wiſ—
ſenſchaften dagegen, deren Inhalt aus Vorſchriften beſteht zu
einem eigentlich ſogenannten Handeln, welches auch einzeln
und fuͤr ſich mit den ethiſchen Zwekken zuſammenhaͤngt, ſind
nicht nur durch die Ethik aufgegeben, ſondern auch alles ein⸗
zelne in ihnen iſt ſelbſt wieder ethiſch zu beurtheilen. So
zum Beiſpiel von der Erziehungskunſt iſt nicht nur die allge⸗
meine Aufgabe, auf die Belebung der geiſtigen Kraͤfte der Zus
gend richtig zu wirken, in der Ethik gegruͤndet; ſondern auch
jede Vorſchrift, welche dazu ertheilt wird, ob zum Beiſpiel
durch willkuͤhrliche Verknuͤpfung mit fremdartigen angenehmen
Folgen die Thaͤtigkeit der geiftigen Kraft dürfe unterſtuͤzt und
gelenkt werden, darf nicht techniſch allein nach der Tauglich—
keit zum Zwekk beurtheilt werden, ſondern muß auch der ethi—
ſchen Prüfung nach der Zuſammenſtimmung aller Zwekke ges
wachſen fein. Soll aber der allgemeine Zwekk gleich in dies
fer Beziehung fo ausgedruͤkkt werden, daß jeder ethiſche Feh—
ler auch ein techniſcher wuͤrde, ſo wird alsdann gewiß auch
alles techniſche ethiſch, und die Urſach geht ganz verloren,
dieſe Theorie als eine beſondere aus der Behandlung der Sits
tenlehre abzuſcheiden. Nicht anders die Kunſt des Haushal⸗
tes, oder um der duͤrftigen und mißverſtandenen Benennung
zu entfliehen, die Lehre von Vermehrung des Reichthums;
denn ſie iſt ebenfalls nicht nur durch die Ethik aufgegeben,
ſondern auch jeder einzelne Fortſchritt zum Zwekke kann an
und fuͤr ſich nichts anders ſein als eine ſittliche Handlung,
die allen Geſezen der Ethik gemaͤß ſein muß; ſo daß alſo bei
Verfolgung dieſer Aufgabe der ethiſche Standpunkt ununter⸗
brochen der herrſchende bleibt, ja der einzige. Das naͤmliche
331
gilt auch von der Staatskunſt, wie jedem von ſelbſt einleuch⸗
ten muß. Wie alſo koͤnnen dieſe von dem angenommenen
Standpunkte aus eigne und abgeſonderte wiſſenſchaftliche ganze
bilden, da doch ihre Theile unter einander nicht genauer oder
nach einem andern Geſez zuſammenhaͤngen, als jeder einzelne
und alle zuſammen mit dem groͤßeren ganzen, von welchem
ſie ſollen getrennt werden? Auch laͤßt ſich leicht weiſſagen,
daß wenn ein ſolcher, dem eine reale und ſelbſthervorbrin⸗
gende Ethik vorſchwebt, eine von dieſen abgeleiteten Wiſſen⸗
ſchaften einzeln bearbeiten wollte, wie jezt Schwarz angefan⸗
gen hat mit der Erziehungslehre, er entweder von ſelbſt, wenn
gleich ohne deutlich zu wiſſen warum, nicht eine ftreng wife
ſenſchaftliche Form waͤhlen wird, oder dieſe nicht wird feſt⸗
halten koͤnnen, ſondern ſich genoͤthiget ſehn, bei jedem einzel⸗
nen Gegenſtand und vielleicht oͤfter in die Ethik zuruͤkkzugehn,
und dieſe ſelbſt zerſtuͤkkelt mit hervorzubringen. Fuͤglicher aber,
und vielleicht ausſchließend, laͤßt ſich eine ſolche Trennung
denken aus dem Standpunkte der negativen Ethik, welche
nicht alle jene Zwekke ſelbſt ausſinnt, ſondern ſie bereits fin—
det, aufgegeben durch irgend ein anderes Beduͤrfniß. Daher
ſie nicht mit Unrecht dieſe Lehren der Ethik anhaͤngt in der
Geſtalt, welche dieſe ihnen gegeben hat durch aͤußere Begren—
zung ſowol, als durch innere Bearbeitung. Denn hier iſt ofs
fenbar, theils daß ſie nicht Eins ausmachen koͤnnen mit der
Ethik, theils auch daß das ganze mit dieſer auf eine ſehr vers
ſchiedene Art zuſammenhaͤngt von der, welche die Theile defs
ſelben unter einander verbindet, und die Einheit der Wiſſen—
ſchaft beſtimmt. Jedoch kann vor der Kritik dieſer Urſprung,
auch wenn er befriedigend erwieſen iſt, die Sache nicht vers
dammen; ſondern es muß gefragt werden, ob fie überhaupt
beſtehen kann oder nicht, und hier ſpringt folgendes in die
Augen. Zuerſt iſt dieſe Form uͤberall nur hoͤchſt unvollſtaͤn⸗
dig ausgefuͤhrt, und ſo daß jedes wirklich vorhandene Glied
aus dem rechten Geſichtspunkt betrachtet auf dies Beduͤrfniß
von andern würde hingefuͤhrt haben. So zum Beiſpiel, weng
332
die Erziehungslehre ein eignes "ganze fein ſoll von der oben
beſchriebenen Aufgabe ausgehend, ſo erſcheint ſie entweder nur
als ein willkuͤhrlich abgeſondertes Stuͤkk einer allgemeinen
Theorie des Umganges und der geiſtigen Einwirkung der Men⸗
ſchen auf einander; oder wenn das einſeitige darin ein unter⸗
terſcheidendes Merkmal ausmacht, ſo muͤßten wenigſtens alle
andern intellectual ungleichen Verhaͤltniſſe der Menſchen mit
dieſem zu gleichen Rechten behandelt ſein. Und warum ſoll⸗
ten nicht dieſen zuſammen die gegenſeitigen Einwirkungen und
die gleichen Verhaͤltniſſe mit denſelben Anſpruͤchen gegenüber:
ſtehen? Ferner in der Haushaltungskunſt kann der Reich⸗
thum angeſehen werden entweder als Mittel zur Darſtellung
fittlicher Ideen überhaupt, welches jedoch dem obigen zufolge
weniger ethiſch ſein wuͤrde, oder auch ſelbſt als Darſtellung
Einer ſolchen Idee, naͤmlich der bildenden Herrſchaft des Men⸗
ſchen über das lebloſe. Weder aber iſt das materiale im ers
ſten Falle das einzige Darſtellungsmittel uͤberhaupt, noch
auch in dem andern zeigt ſich die Herrſchaft des Menſchen al⸗
lein in der Vermehrung der beweglichen realen oder fymbolis
ſchen Erzeugniſſe: ſondern es iſt auch ſowol das formale ein
Darſtellungsmittel uͤberhaupt, als auch die Vermehrung und
Verbeſſerung der Formen ein Produkt der bildenden Gewalt
des Menſchen. Daher muͤßte mit der Theorie des Reichthums
entweder als Eins verbunden ſein oder ihr als entſprechend
gegenuͤberſtehen die Theorie zur Erweiterung und Verbeſſerung
der Sprache und der Kunſt, ſie moͤgen nun angeſehen werden
von Seiten der Darſtellung oder von Seiten des Genuſſes.
Beide Vernachlaͤſſigungen nun, die erſte ſowol als die lezte,
ſcheinen ihren Grund nirgends anders zu haben, als in der
Vernachlaͤſſigung des beſonderen und dem Begnuͤgen im all⸗
gemeinen. Denn wenn es mit der Erziehung auf nichts ab—
geſehen iſt, als auf das Hervorbringen der Rechtlichkeit und
der gemeinnuͤzigen Cultur, ſo braucht ihr allerdings nichts an⸗
ders gegenuͤber zu ſtehen als der Staat, in deſſen Einrichtun-
gen ſich ja der Idee nach alle Mittel vereinigen ſollen, dafs
ſelbe hervorzubringen in allen, die bereits in ſeinen Wir⸗
333.
kungskteis eingetreten ſind. Eben ſo wenn nur dasjenige ſoll
dargeſtellt werden, was zum allgemeinen gehoͤrt, ſo reicht. als
lerdings das materiale hin, und die Cultur des formalen wird
uͤberſehen, indem ſich dieſes nur zur Darſtellung des beſonde⸗
ren eignet. Eben ſo endlich muͤßte der Theorie des Staates
in der praktiſchen Ethik ſowol, wo er einen unmittelbaren
Werth hat, als auch in der genießenden, die ihn nur als,
Nothmittel gebraucht, gegenuͤberſtehen die Theorie der wiſſen⸗
ſchaftlichen und der religioͤſen Gemeinſchaft. Beide aber find:
nirgends weder als eigne Wiſſenſchaften noch als Veranſtal⸗
tungen des Staates gehoͤrig behandelt. Von der Religion
nun iſt nichts zu ſagen, wenn man ſich des ethiſchen Druk⸗
kes erinnert, unter welchem das freie Combinations vermoͤgen
exiſtirt: denn ſo wird ſie natuͤrlich dem einen nur ein Werk⸗
zeug des ethiſchen Wiſſens, dem andern aber ein untergeord⸗
netes und zufaͤlliges nur unter gewiſſen Umſtaͤnden anwend⸗
bares Mittel. Das Ueberſehen der wiſſenſchaftlichen Verbin-
dung aber gruͤndet ſich offenbar in der Negativitaͤt der Site:
tenlehre. Denn hier waͤre die Vereinigung nicht beſchraͤnkend,
wie beim Staat und zum Theil auch bei der Kirche, ſondern
erweiternd, und dieſe alſo durch die Sittenlehre zu fordern
wuͤrde vorausſezen, daß die Aufgabe des Wiſſens aus der
ethiſchen unmittelbar hervorgegangen waͤre. Ganz anders freie:
lich iſt es zu beurtheilen, wenn bei den alten die Staatskunſt
allein gleichſam die ganze angewendete Sittenlehre in dieſer
Hinſicht ausmacht. Denn weil alles buͤrgerliche bei ihnen ſo
ſehr als irgend etwas ſelbſtthaͤtig war, der Umfang der Re⸗
ligion mit dem des Staates von ſelbſt zufammenfiel, und das
Wiſſen noch viel zu wenig ausgebreitet und organiſirt war,
fo fanden fie keine Urſach zu dieſen für uns fo. einleuchtenden
Abſonderungen. Doch uͤber das einzelne, wie es wirklich da⸗
ſteht, genug, um die Widerſpruͤche der Form anzudeuten, durch
welche das Gebaͤude ganz das Anſehn des zufaͤlligen erhaͤlt.
Denn die lezte Entſcheidung giebt nur das zweite, was in
die Augen faͤllt. Dieſes naͤmlich, daß wenn eine vollſtaͤndige
Behandlung ſolcher angewendeten Ethik die den gegebenen
1
334
entſprechenden Theile überall hinzufuͤgte, alsdann bald alle
reale Vorſchriften unter dieſen Theil ſich ſtellen wuͤrden, der
reinen Ethik aber nichts uͤbrig bleiben, als das formale in
ſeiner gewoͤhnlichen Duͤrftigkeit. Sonach aber wuͤrde auch
die vollſtaͤndigſte Behandlung des realen immer jenen Anſchein
des zufaͤlligen behalten, weil ohne Ableitung aus dem rein
ethiſchen kein Grund da fein kann ſich von der Vollſtaͤndig⸗
keit zu überzeugen. Will man nun fragen, ob vielleicht auch
dieſen mißlungenen Formen wie jenen zuerſt erwaͤhnten etwas
wahres den Beifall erſchlichen hat, deſſen ſie ſich erfreuen, ſo
kann es folgendes ſein. Zuvoͤrderſt das Beduͤrfniß, die ethi⸗
ſchen Vorſchriften auch nach Maaßgabe der Gegenſtaͤnde, wel⸗
che durch ſie hervorgebracht worden, zuſammen zu ordnen. Wel⸗
ches bei der gemeinen Behandlung nach dem Pflichtbegriff nicht
moͤglich iſt. Denn da muͤſſen zum Beiſpiel die Vorſchriften,
welche die Theorie des Reichthums bilden, zuſammengeſucht
werden unter mancherlei vollkommnen und unvollkommnen
Pflichten gegen ſich und andere; eben ſo die der Erziehung
theils unter den Pflichten die Moralitaͤt unmittelbar zu be⸗
fördern, theils unter denen in Anſehung der Freiheit anderer,
und wo nicht ſonſt noch. Aus welchem Geſichtspunkt betrach⸗
tet dieſe verungluͤkkte Form eigentlich nichts anders wäre, als
die natürliche Tendenz einer Darſtellung der Sittenlehre unter
dem Begriff der Güter , welche jedoch, weil es an dem deut⸗
lichen Bewußtſein des Begriffs fehlt, nicht anders ausfallen
konnte als fragmentariſch und unvollkommen. Ferner aber
kann auch dabei zum Grunde liegen ein Beſtreben die verſchie⸗
denen Potenzen des Daſeins beſtimmter ins Auge zu faſſen,
als bei der gewoͤhnlichen Behandlung der Ethik nach dem
Pflichtbegriff möglich iſt, und dieſe Beziehung kann leicht den
Schein der Vollſtaͤndigkeit hervorgebracht haben. Denn wenn
ſich der Menſch außer der erſten Stufe ſeines Daſeins als
Perſon und Individuum noch betrachtet als Glied einer Fa⸗
milie, eines aus den naturlich ungleichartigen Theilen der
Menſchheit beſtehenden ganzen, und dann noch als Glied ei⸗
nes Staates, aus gleichartig ungleichen zuſammengeſezt, fo
335
ſcheint der Umfang feiner Beſtimmung ausgefüllt. So bezie⸗
ben ſich aber auf der Familie aͤußeres und inneres Daſein
Erziehungskunſt und Hauswirthſchaft, Staatswirthſchaft aber
und Politik auf das des Staates. Von hier ſcheinen unter
den alten mehrere ausgegangen zu ſein bei ihrer Geſtaltung
der praktiſchen Philoſophie. Nur daß fie ſich bei der mittle⸗
ren Potenz weniger aufhielten, und die Familie ganz als Ele⸗
ment des Staates behandelten. Auch das gehoͤrt zu dieſer
Anſicht, daß weil im Staate zugleich der Mann in ſeiner
ganzen Eigenheit koͤnnte thaͤtig ſein, zulezt einigen von ihnen
die Staatskunſt alles wurde, die Ethik aber nur als formale
Elementarlehre erſchien, aber freilich der Idee nach in einem
weit vollſtaͤndigeren Sinne, als wo die neueren bis zu einer
ſolchen Theilung gelangen, und vielmehr ſo, daß es eine große
Annaͤherung iſt zu der oben beilaͤufig gezeichneten richtigen
Geſtalt der Wiſſenſchaft. Indeß geht ſchon aus den obigen
Andeutungen hervor, daß jene Eintheilung auch dieſem Ge⸗
ſichtspunkt nicht genuͤgt. Denn die Staatswirthſchaft kann
nicht anders gedacht werden als abhaͤngig von der Politik;
die Hauswirthſchaft aber und die Erziehungskunſt, wie ihre
Grenzen gewoͤhnlich geſezt werden, erſchoͤpfen noch bei weitem
nicht die ethiſche Theorie der Familien. Noch mehr aber
moͤchte es daran fehlen, daß in der formalen Ethik der Grund
aufgezeigt worden, warum nun in dieſen beiden ganzen alle
moͤgliche Conſtructionen eines zuſammengeſezten erſchoͤpft waͤ⸗
ren, vielmehr finden ſich Andeutungen genug zum Gegentheil.
Negativ naͤmlich das bedingte und zufaͤllige, dem die Familie
unterworfen iſt in ihrer Bildung ſowol als Zerſtoͤrung; poſi⸗
tiv aber die faſt uͤberall anerkannte Aufgabe der Freundſchaft,
mit der es von den mehrſten doch auch angeſehen iſt auf ein
geſchloſſenes ganze. So daß zufaͤlliges und unbewußtes in
der Form auch hier aus der ungruͤndlichen Auffaſſung des
Inhaltes von ſelbſt hervorgeht.
Ganz entgegengeſezt dem bis jezt betrachteten Verhaͤltniß
der Staatskunſt zur Sittenlehre iſt jezt noch wenn gleich nur
von einigen neueren aufgeſtellt das Naturrecht in Erwaͤgung
336
zu ziehen, welches die Ethik gewiſſermaßen von außen zu be⸗
grenzen ſucht, ſich als eine eigne beigeordnete Wiſſenſchaft ne⸗
ben ſie hinſtellend. Hiebei aber iſt nicht noͤthig, auf einen
andern Ruͤkkſicht zu nehmen, als nur auf Fichte. Denn zu
tumultuariſch und oberflaͤchlich iſt die Art, wie Kant dieſe
Beiordnung begruͤndet, indem er die Geſezgebung der Vernunft
eintheilt in diejenige, die nur eine innere iſt, und diejenige,
welche auch eine aͤußere ſein kann. Schon durch die Form⸗
loſigkeit des Ausdrukks Sein und Seinkoͤnnen wird fie ver-
dammt. Noch mehr aber durch die Ueberlegung, daß der Um⸗
fang der aͤußeren Geſezgebung hoͤchſt veraͤnderlich iſt, und
wenn man dabei auf das Seinkoͤnnen ſieht, auf das was
durch Vertraͤge und willkuͤhrliche Einrichtungen hereingezogen
werden kann, der Ethik wenig uͤbrig bleiben wuͤrde. Erwaͤgt
man ferner das Auch, welches feſtſtellt, daß die aͤußere vor⸗
her ſchon eine innere fein muß: fo ſieht man, daß Kant nicht
weniger als die fruͤheren ungewiß iſt uͤber das Verhaͤltniß der
Sittenlehre zum Naturrecht, und uͤber des lezteren Ableitung.
Ja man weiß nicht, ſoll es enthalten eine Grenzbeftimmung,
der Politik Für die Ethik, oder fol. es eine ſolche voraus ſezend a
nur den Inhalt des politiſch moͤglichen analyſiren. In beiden
Faͤllen aber leuchtet ein, daß nichts reales durch dieſe Be⸗
gruͤndung ausgedruͤkkt worden, als jenes alte, daß naͤmlich
das menſchliche Handeln eine andere Quelle und ein anderes
Ziel haben ſoll fuͤr ſich, die Ethik aber nur die Grenzen deſ⸗
ſelben beſtimmen. So daß auch das Naturrecht keinen an⸗
dern Urſprung zu haben ſcheint, als die Negativitaͤt des Be⸗
griffs von der Sittlichkeit. Wie denn ſchon der Frage nach
einem abſoluten Dürfen außerhalb des Sollens kaum ein an-
derer Sinn kann untergelegt werden. Daher auch kaum zu
bezweifeln iſt, daß derſelbe Geiſt auch Fichte bewogen im vor⸗
aus anzunehmen, das Naturrecht ſolle doch wol eine beſon⸗
dere Wiſſenſchaft ſein, welches ja allerdings einer Unterſuchung
bedurft haͤtte. Doch da hievon auch die That den Beweis
fuͤhren kann, ſo iſt zu pruͤfen, wie er es denn als eine ſolche
abge⸗
337
abgeleitet und hervorgebracht hat. Es iſt aber hier daſſelbige
zu tadeln, was ſchon der Sittenlehre iſt vorgeworfen worden,
naͤmlich daß das weſentliche und das in Hinſicht deſſelben nur
zufällige in gleichen Rang geſtellt wird, als wäre es bon dem
gleichen Grunde auch gleich unmittelbar abgeleitet. Denn die
Nothwendigkeit ſich ſelbſt als Individuum, oder, welches
gleich iſt, eine theilbare Welt und andere neben ſich zu ſezen,
iſt eine ganz andere, als die Nothwendigkeit die Welt wirk⸗
lich zu theilen, und die Freiheit durch fortdauernde Anerken⸗
nung zu beſchraͤnken. So wie der jener erſten zum Grunde
liegende Charakter der Vernuͤnftigkeit, daß naͤmlich das hans
delnde und das behandelte eins ſei, ein anderer und hoͤherer
iſt als das Geſez der Conſequenz, auf welchem dieſe lezte be=
ruht. Auch muß es jedem einleuchten, daß unmoͤglich aus
demſelben Grunde wie die Sinnenwelt oder der Leib, und alſo
zugleich mit dieſem auch der Rechtsbegriff und der Gedanke
eines Staats ja einer beſtimmten einzig moͤglichen Verfaſſung
deſſelben koͤnne geſezt, und beides auf gleiche Weiſe des Selbſt⸗
bewußtſeyns Bedingung ſein. Wovon den erſten Fehler in
der Rechnung genauer aufzuſuchen hier nicht her gehoͤrt, und
je leichter es iſt um ſo eher einem jeden ſelbſt kann uͤberlaſſen
werden. Genau nun hat weder im Naturrecht noch in der
Sittenlehre Fichte dargeſtellt, wie beide ſich gegen einander
verhalten ſollen; im allgemeinen aber laͤßt ſich zeigen, daß
bei ſeiner Begruͤndung und Ausfuͤhrung ein unabhaͤngiges
Verhaͤltniß nicht kann Statt haben. Denn ſobald es zwei
Geſeze des Handelns giebt, wie hier das Sittengeſez und das
der Conſequenz: fo muß zwiſchen beiden, wenn es eine Wifs
ſenſchaft des Handelns geben fol, aufgezeigt werden ein bes
ſtimmtes Verhaͤltniß der Uebereinſtimmung; indem es nicht
genug iſt zu zeigen, wie freilich Fichte thut, daß der Rechts⸗
begriff niemals dem Sittengeſez widerſtreiten koͤnne wegen der
jedem Recht beiwohnenden Clauſul der Freiheit des Nichtge⸗
brauchs. Er müßte denn wie er nicht thut zeigen konnen,
daß, einmal angenommen jenes Geſez der Conſequ enz, dennoch
Schleierm. Grundl. 9
338,
N
begriff Nun aber verſperrt Fichte jeden Weg, um die 9
derte Uebereinſtimmung zu finden. Denn nicht nur ſoll keines
abhaͤngig ſein vom andern, ſondern es bleibt auch nicht uͤbrig
beide als Theile oder Folgerungen eines höheren anzufehn.
Theils naͤmlich wuͤrde dieſes den Rang beider Wiſſenſchaften
wie er ihn feſtgeſtellt hat ſchmaͤlern, theils auch muͤßte dann
jedes von beiden ſeine eigne Sphäre haben, ausſchließend als
leg was das andere: enthält. Wogegen bei ihm der Inhalt
zum Theil zuſammenfaͤllt, indem die Ehe das Eigenthum der
Staat und ſonſt einiges nothwendig iſt aus Gruͤnden der
Sittenlehre ſowol als des Naturrechts. Welches jedoch auch
fonft kein guͤnſtiger Umſtand iſt für den, welcher behauptet,
fuͤr alles wiſſenſchaftlich nothwendige koͤnne es nur Einen
Grund geben und Einen Beweis. Zum Theil aber ſind auch
beide in Hinſicht deſſen, was fie beide umfaſſen, gaͤnzlich ge=
trennt. Denn die Sittenlehre kann es durch die Gruͤnde, aus
welchen ſie eine Ehe fordert und einen Staat, nicht zu einer
ſolchen Conſtitution beider bringen, wie das Naturrecht zu
bilden vermag, ſondern jene ſezt dieſes gaͤnzlich verlaͤugnend
einen Nothſtaat voraus, der doch gar nicht moͤglich waͤre,
wenn das Conſequenzgeſez, aus dem der rechte Staat von
ſelbſt erfolgt, jene dem Sezen der Individualität gleiche Noth⸗
wendigkeit hätte, und die Sittenlehre um dieſes Geſez wüßte,
So daß nicht einmal eingetreten iſt, was Fichte vermuthete,
es koͤnne naͤmlich wol die Sittenlehre eine neue Sanction her—
beiführen für den Rechtsbegriff und was aus ihm folgt. Se⸗
hen wir nun noch einmal auf die Zuſammenſezung dieſes ſo⸗
genannten Naturrechts: fo zeigt ſich, daß es aus den ungleich—
artigſten Dingen beſteht. So naͤmlich fortgeſezt, wie Fichte
es angefangen, waͤre es geweſen eine Ableitung alles koͤrper⸗
lichen und aͤußerlichen, auch der Vernunftweſen in ihrer kör⸗
perlichen Darſtellung als Bedingung des Selbſtbewußtſeins,
alſo allerdings eine Haͤlfte der idealiſtiſchen Philoſophie, naͤm⸗
lich die phyſiſche, und wohl waͤren wir berathen, haͤtte Fichte 5
dies feſtgehalten, und uns nun weiter geſchenkt die Ableitung
339
der Verſchiedenheit aͤußerer Objecte und ihrer natürlichen Claſ—
ſification. So aber angefangen, wie er es fortſezt, und wie
andere es anfangen, iſt es nichts anders als die nur durch
ein ethiſches Beduͤrfniß, naͤmlich das der Uebereinſtimmung,
entſtehende Aufgabe zu dem, was in der Staatskunſt als ein
willkuͤhrliches und poſitives erſcheint, das natürliche und noth—
wendige zu finden. Auf dieſe Art auch bezeichnet mit andern
ſich aͤhnlich ausdruͤkkenden alten Ariſtoteles dieſen Theil von
dem Inhalt des neueren Naturrechts als das, was in dem
geſezlichen Rechte natürlich iſt; aber wiewol er das hinzu—
kommende, wodurch es ſich in verſchiedenen Geſtalten offen—
bart, fuͤr ungoͤttlich und unvollkommen hielt, hatte er doch
keinen Drang jenes reine als ein eignes ganze darzuſtellen,
weil er naͤmlich uͤberzeugt war von deſſen ethiſchem Urſprung
und Weſen. Was nun jenes Geſez der Conſequenz in Bezies
hung auf das Handeln bedeutet, und wo es in der Ethik zu
ſtehen kommt, dieſes berechne ſich jeder aus dem, was oben
geſagt iſt von der vollkommnen und unvollkommnen Pflicht.
Denn das Recht, wie aus Fichte ſelbſt hervorgeht, in ſofern
es ein Handeln beſtimmt, iſt nichts urfprüngliches und für
ſich beſtehendes, ſondern haͤngt ab von der vollkommnen Pflicht
als eine andere Anſicht derſelben, und erwartet, wie auch dieſe
thut, ſeine Realitaͤt erſt von der unvollkommnen. So viel aber
iſt ohne weiteres offenbar, daß ein ſo geartetes und gebautes
ganze ſich nicht eignet neben der Ethik zu ſtehen, ihr die Al—
leinherrſchaft des Handelns beſchraͤnkend, und daß jener nicht
weit entfernt geweſen iſt von der Wahrheit, der es fuͤr nicht
mehreres gelten ließ als für ein groteſkes Spiel des wiſſen—
ſchaftlichen Strebens. Daß alſo eine rechte Ethik auch dieſe
Unform zerſtoͤren, und das Weſen und praktiſche daraus in
ſich ſelbſt aufnehmen muß, jede aber, die hiezu unfaͤhig iſt
und jene Diſciplin anerkennt im ſyſtematiſchen oder ſittlichen,
oder wie es zuſammen zu hangen pflegt in beidem, muß ver⸗
nachlaͤſſiget fein, dieſes folgt unmittelbar. |
An han 9.
Vom Styl der bisherigen Sittenlehre.
Se. wie nun die Wiſſenſchaft ſelbſt in den verſchiedenen
Formen erſcheint, welche bis jezt ſind in Erwaͤgung gezogen
worden, ſo giebt es auch noch beſondere Unterſchiede in der
Form oder dem Styl der einzelnen Werke, welche ſich als
Darſtellungen der Ethik ankuͤndigen. Dieſe freilich ſind nicht
mit jenen von gleicher Wichtigkeit fuͤr die geführte, Unterſu⸗
chung ſelbſt, und daher auch aus dem eigentlichen Umkreiſe
derſelben mit Recht ausgeſchloſſen: dennoch aber einer beilaͤu⸗
ſigen Betrachtung nicht unwerth. Denn ſo wie es freilich
ein leeres Geſchaͤft waͤre hiebei ins einzelne zu gehen, und
auch bei denjenigen nach der Form und Eigenthuͤmlichkeit ih⸗
rer Darſtellung und nach deren Gruͤnden zu fragen, welchen
von der Kunſt der Zuſammenſezung jeder Begriff mangelt: ſo
muß doch auf der andern Seite jeder mit dieſer Einſicht be⸗
gabte wohl wiſſen, daß bei denen, welche auf den Namen der
Kuͤnſtler in der Wiſſenſchaft duͤrfen Anſpruch machen, nichts
ganz zufaͤlliges ſtatt findet, ſondern jede Beſtimmung auch
der Form ihren Grund hat, es ſei nun bewußt in einer Ab⸗
ſicht, oder unbewußt in einer nicht verkannten Beſchaffenheit
341
des Gegenſtandes oder des darſtellenden. Aus dieſem Ges
ſichtspunkt nun find beſonders merkwuͤrdig drei Verſchieden⸗
heiten des Styls in Darſtellungen der Sittenlehre, welche ſich
bei verſchiedenen nicht nur zu verſchiedenen Zeiten wie derfin⸗
den, ſondern auch unabhaͤngig von der Beſchaffenheit der
Grundidee und dem Inhalt des Syſtems. So daß ſie uns
bei Erforſchung ihrer Urſachen uͤber die unmittelbaren Gegen⸗
ftände unferer Unterſuchung hinaus und wahrſcheinlich zu dem⸗
jenigen hinfuͤhren, worauf wir nur bei der Einleitung des er⸗
ſten Buches vorbeigehend hingeſehen haben, indem ſie naͤmlich
abzuhaͤngen ſcheinen von der Art, wie jeder die Ethik gefun⸗
den hat, und wie er fie anknuͤpft, welches, ob es ſich fo ver⸗
halte, ein jeder aus folgendem erſehen mag.
Zuerſt nun giebt es in der Ethik ein rhapſodiſches 1
tumultuariſches Verfahren, welches ſich begnuͤgt unter der
großen Maſſe alles deſſen, was unter das Gebiet der Wiſ⸗
ſenſchaft gehoͤrt, gleichſam herumzuwuͤhlen, ohne geſunde Dia⸗
lektik das einzelne vergleichend und unterordnend, ohne ſyſte⸗
matiſches Verfahren ſeine Abſchnitte waͤhlend oder vielmehr
ergreifend nach hergebrachter ungepruͤfter Weiſe des gemeinen
Lebens oder aufs Gerathewohl. So daß von einer ſo un—
vollkommenen Behandlung hier gar nicht Erwaͤhnung geſche⸗
hen koͤnnte, wenn nicht ein Kuͤnſtler, deſſen Werke anderer
Art, es ſeien nun phyſiſche oder techniſche und kritiſche, dem
allgemeinen Urtheil nach einen weit hoͤheren Charakter an ſich
tragen, Ariſtoteles naͤmlich, es in der Sittenlehre nicht weiter
haͤtte bringen koͤnnen, als bis hieher. Der Grund aber der
Verdammniß ſcheint der zu ſein, daß er die Wiſſenſchaft nicht
an ſich gewollt hat, wie er denn ausdruͤkklich ſagt, er ſehe
nicht die Moͤglichkeit ſie zu Stande zu bringen; ſondern er
hat geklebt an einem materiellen Endzwekk. Er wollte naͤm⸗
lich nicht als Reſultat der Wiſſenſchaft oder als hoͤchſtes
Kunſtwerk, ſondern wie es eben ſein koͤnnte als ein wirkliches
Ding in der wirklichen Welt, ein gemeines Weſen. Daß die⸗
ſes die ganze ſubjective Tendenz ſeiner Ethik iſt, und er auch
342
mit dem Staat nicht etwa höher hinaus will, wie Platon,
ſondern nur dieſen Standpunkt hat, daruͤber wird gewiß kein
Zweifel erhoben werden von denen, welche ſeine Sittenlehre
kennen. Dieſes vorausgeſezt nun wird ein Blikk auf diejeni-
gen, die ihm hierin aͤhnlich ſind, hinreichen, um den Charakter
ſolcher ethiſchen Darſtellungen noch feſter und vollſtaͤndiger
ins Auge zu faſſen. Der naͤchſte ſei ihm der unter den Deut—
ſchen ſonſt vielgeachtete Garve, welcher mit ſeinen ethiſchen
Bemuͤhungen nie etwas anderes gewollt hat, als die Ord—
nung der guten Geſellſchaft; ferner haͤngen ſich hier an der
große Haufe der anglikaniſchen und gallikaniſchen Sittenleh—
rer, von denen es den erſten zu thun iſt um den Gemeingeiſt,
den andern aber um die Ungebundenheit unter der Vormund—
ſchaft der Convenienz. Bei einer ſolchen Beſchraͤnkung nun
auf einen ganz willkuͤhrlichen pragmatiſchen Zwekk iſt ganz
unvermeidlich jenes rhapſodiſche Verfahren. Nicht anders als
diejenigen es zu machen pflegen, welche in Beziehung auf ir—
gend ein Gewerbe die Kenntniß der natuͤrlichen Dinge und
ihrer Kraͤfte betreiben, ohne jedoch dieſen Zwekk ſich ſelbſt
oder Öffentlich zu bekennen; da denn natürlich eine dunkle
Ahndung der Zwekkmaͤßigkeit oder ein blindes Umhertappen
danach die Stelle des wiſſenſchaftlichen vertritt ſowol in der
Anordnung des ganzen, als in der Beſtimmung und Behand—
lung des einzelnen. In derſelben Richtung auf ein materiel⸗
les Beduͤrfniß hat ferner ſeinen Grund jenes allen Sittenleh—
rern dieſer Art anklebende ironiſche Beſtreben, welches allen
Streit uͤber die Principien zu vermeiden ſucht, und am lieb—
ſten behauptet, er beruhe immer nur auf Mißverſtand, wohl—
verſtanden aber ſei alles einig. Wozu noch gefuͤgt werden
kann ein eigenthuͤmliches Unvermoͤgen diejenigen zu vernehmen,
welche von einem hoͤheren Standpunkt ausgegangen ſind, und
ein oft gluͤkkliches Beſtreben auf die redlichſte Weiſe und ohne
irgend eine Abſicht der Taͤuſchung dem Mißverſtande den
Schein des Verſtehens zu geben, weil naͤmlich das aͤußere
ſich leicht in jene Sphäre der Betrachtung hinabziehen laͤßt.
—
343
Dieſes nun find die Hauptzuͤge der erſten und unvollkommen⸗
ſten Weiſe der ethiſchen Darſtellung.
Die zweite nun koͤnnte am beſten mit Verwarnung vor
allen Mißdeutungen eines bedenklichen Wortes die dogmatis
ſche genannt werden, weil ſie von einem feſten Punkt ausge⸗
hend die Wiſſenſchaft will und nichts anderes. Woraus im
Gegenſaz gegen die vorige ein gemeſſener Fortſchritt entſteht,
und eine eigenthuͤmliche nach beſtimmten Regeln jenem Ans
fangspunkt gemaͤß verfahrende Theilung und Verknuͤpfung der
Begriffe. Auch eben fo offenbar anftatt jenes ironiſchen Bee
ſtrebens vielmehr eine polemiſche Richtung, ſie aͤußere ſich nun
gradezu oder nur mittelbar. Denn wer ſo von einem feſten
Punkt auf wiſſenſchaftliche Art ausgeht, der muß nothwendig
einiges abſolut verwerfen; dagegen wer nur wie jene einen
materiellen Zwekk im Auge hat, auch faſt nur zu relativen
Entſcheidungen gelangt, und weniger das Entgegenſezen der
Begriffe betreibt, als nur das Vergleichen derſelben. Damit
aber gleich der ganze Umfang deſſen erhelle, was zu dieſer
Gattung zu gehören ſcheint, iſt es am beſten die entgegenges
ſezten Pole derſelben zu bezeichnen, hier naͤmlich die Methode
der Stoiker, dort aber die des Spinoza. Denn daß beide
uͤbereinkommen in den angefuͤhrten Gegenſaͤzen gegen die vo—
rigen, iſt offenbar. Die Verſchiedenheit aber zwiſchen beiden,
welche in die Augen fällt, beruht darauf, wie jener Anfangs—
punkt beſchaffen geweſen, und zwar nicht etwa ſeinem Inhalt
nach, ſondern in Beziehung auf ſeinen Werth fuͤr das Be—
wußtſein. Die Stoiker naͤmlich gingen aus von einem in
ſeinen Grenzen ſchwankenden Gedanken, den ſie, unfaͤhig ihn
durch hoͤheres Hinaufſteigen und Beſtimmen ſeiner Elemente
ganz fuͤr die Wiſſenſchaft zu reinigen, nur durch den Erfolg
beweiſen konnten, naͤmlich durch vollſtaͤndige und gelungene
Ausfuͤhrung des darauf gegruͤndeten Gebaͤudes. Daher alſo
ihr faſt ins unendliche gehendes Beſtreben nach dialektiſcher
Vollſtaͤndigkeit, daher aber auch, daß die Polemik fie oft vers
leitete in das Gebiet der Sophiſterei, indem ſie auch negativ
*
344
ihre Grundſaͤze durchgängig bewähren wollten. Wogegen Spis
noza ausging von einer klaren und ganz beſtimmten An⸗
ſchauung, fuͤr welche nichts mehr ruͤkkwaͤrts zu thun uͤbrig
blieb. Daher denn die Polemik zuerſt niemals ihm ſelbſt Bes
duͤrfniß war für fi), ſondern nur Erläuterung für andere,
und deshalb auch mehr abgeſondert gleichſam den Rahmen
ausmacht, der das ganze und ſeine einzelnen Theile umgiebt,
als innig in die Darſtellung des Syſtems ſelbſt verwebt iſt,
wie bei den Stoikern wol groͤßtentheils der Fall war. Fer⸗
ner auch iſt ihm fremd jene kleinliche niederlaͤndiſche Vollen⸗
dung, an welcher die Stoiker ſich ergoͤzen; ſondern er begnuͤgt
ſich, in wenigen großen und ſtarken Zuͤgen Umriß und Gehalt
ſeines Syſtems vors Auge zu ſtellen. Was aber die geome⸗
triſche Methode betrifft, ſo hat er vielleicht beſſer gewußt,
was damit gemeint war, als diejenigen, die hin und wieder
nach wunderlichen Anſichten uͤber dieſe Sache geredet haben.
Vielleicht auch hat er nichts gewußt, wie es den Kuͤnſtlern
bisweilen ergeht. Die Hauptſache aber iſt wol nicht in den
Ueberſchriften zu ſuchen, durch welche die verſchiedenen Saͤze
bezeichnet werden, ſondern theils in dem öfteren und unmit⸗
telbaren genetiſchen Zuruͤkkweiſen auf die urſpruͤngliche An⸗
ſchauung, theils in dem Wechſel des fortſchreitenden ſyntheti⸗
ſchen Conſtruirens und des analyſirenden Vergleichens eines
anders woher gegebenen oder willkuͤhrlich angenommenen mit
dem urſpruͤnglichen oder dem bereits gefundenen. Von dem
erſten dieſer Elemente nun kann mit Recht geſagt werden, daß
es nicht nur im Spinoza, ſondern auch in andern Philoſo⸗
phen, welche das aͤußere jener Methode nicht nachgeahmt, rei⸗
ner und richtiger durchgefuͤhrt worden, als von den Groͤßen⸗
lehrern ſelbſt, woraus ſchon zu ſchließen, daß es der Philoſo—
phie nicht minder muß angehoͤrig ſein als der Mathematik.
Das andere aber iſt, wie es in der Geometrie ſich nur da⸗
durch rechtfertigt, daß ſie kein Syſtem ſein kann, in der Ethik
gewiß nur da anwendbar, wo ſie ſich in Polemik ergießt, und
nur nach dieſem Maaßſtabe iſt Spinoza in Hinſicht auf die
345
fen Theil feiner Methode zu beurtheilen. Wen nun und wie
viele von den Sittenlehrern jeder in dieſes Gebiet des dog⸗
matiſchen Styls zu ſezen wuͤrdigen will, bleibe jedem unbe⸗
nommen, damit men übertriebene Strenge fi ſich ſcheine *
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Die dritte Methode aber iſt die heuriſtiche, und Platon
der einzige Meiſter, der fie in ihrer Vollkommenheit aufge⸗
ſtellt hat. Ihr Weſen nun beſteht darin, daß ſie nicht von
einem feſten Punkt anhebend nach einer Richtung fortſchreitet,
ſondern bei der Beſtimmung jedes einzelnen von einer ſkepti⸗
ſchen Aufſtellung anhebend durch vermittelnde Punkte jedes⸗
mal die Principien und das einzelne zugleich darſtellt, und
wie durch einen elektriſchen Schlag vereinigt. Wenn nun
ſchon die vorerwaͤhnte geometriſche Methode dahin vorzuͤglich
abzwekkt, zu verhindern, daß nicht die Frage nach dem Princip
durch die zunehmende Entfernung des einzelnen von demſel⸗
ben als eine alte und abgethane Sache erſchiene, und ſein
eigenthuͤmliches Weſen durch die lange Ableitung geſchwaͤcht
in dem einzelnen oft dem Ueberſehen und Verkanntwerden
ausgeſezt waͤre: ſo wird dieſe Abſicht durch den heuriſtiſchen
Styl ungleich vollkommner erreicht, und der Wiſſenſchaft in
allen ihren Theilen der hoͤchſte Grad des Lebens geſichert.
Denn die innere Kraft derſelben wird auf dieſe Art allgegen—
waͤrtig gefuͤhlt, und erſcheint immer jung und neu in jedem
Theile der Darſtellung. Sollte es auf dieſe Art aber ſchei—
nen, als ob dafuͤr die Ueberſicht des ganzen erſchwert wuͤrde
durch die dazwiſchen ſich draͤngenden Zuruͤſtungen, ſo iſt wol
dieſes nur den ungewohnten treffende Hinderniß nicht in die
Wage zu legen gegen die thaͤtige Theilnahme an dem Entfter
hen des ganzen, wozu dieſe Darſtellung einen jeden gleichſam
noͤthigt. Der weſentlichſte Vorzug aber iſt die völlige Ge⸗
walt des Kuͤnſtlers uͤber die Schnelligkeit und Langſamkeit
der Bewegung, und daß er in jedem Augenblikk inne halten
und nach allen Seiten umſchauen kann. Hieran aber iſt nur
demjenigen gelegen, der nicht nur die a Wiſſenſchaft als
Schleierm. Grundl.
346
ein organiſches ganze hervorbringen will, in welchem alle Theile
ſich gleichzeitig und verhaͤltnißmaͤßig bilden, ſondern auch der
jede einzelne Wiſſenſchaft nur als einen Theil des ganzen be⸗
trachtet, welcher ebenfalls den uͤbrigen voreilen weder darf
noch kann. Welcher allgemeine Zuſammenhang nun auf dieſe
Art im einzelnen bisweilen ſich erreichen, und wo nicht, ſich
wenigſtens andeuten laͤßt. In wie fern aber alle Eigenthuͤm⸗
lichkeiten des platoniſchen Styls der Gattung ſelbſt angehoͤ⸗
ren, oder ihm, dieſes iſt hier nicht zu unterſuchen. Nur ſo⸗
viel, daß der dialogiſche Vortrag nur in einem ſehr weiten
Sinne kann fuͤr nothwendig gehalten werden. In demjenigen
naͤmlich, in welchem auch der antithetiſche Vortrag des Fichte
dialogiſch waͤre; denn dieſer gehoͤrt allerdings hieher: Ja dig
Vergleichung, wie Platon auch in feinen größten ethiſchen Con⸗
ſtructionen jener Methode getreu bleibt, Fichte aber in der ei⸗
gentlichen Ethik in den rein dogmatiſchen Styl ausweicht,
und wieviel weniger was in dieſem lezten hervorgebracht iſt
die Pruͤfung aushaͤlt, dieſe kann am beſten einen jeden leiten
in dem Urtheil, welches er zu faͤllen hart.
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Nachdem die Unterſuchung in den zuvor abgeſtekkten Gren⸗
zen abgeſchloſſen worden, und einem jeden, der ſie aufmerk⸗
ſam begleitet hat, die Hauptzuͤge vorſchweben muͤſſen, welche
die Ethik zeihen dasjenige noch faſt gaͤnzlich zu verfehlen, was
ſie ſein ſoll: ſo entſteht die Frage, ob etwa auf die Wiſſen⸗
ſchaft beſſer als auf den Menſchen jener befremdliche Saz der
Stoiker an uwenden iſt, daß jeder entweder ein weiſer ſei
oder gaͤnzlich ein Thor; ob alſo der Ethik gar kein Sinn kann
zugeſchrieben werden als Wiſſenſchaft bis ſie vollkommen iſt,
oder ob man wenigſtens ſagen koͤnne, ſie werde als eine
ſolche, und unter welchen Bedingungen. Hieruͤber moͤge noch
beſchließend hinzugefuͤgt werden, ſoviel davon ſich aus dem
Standort dieſer Kritik erblikken laͤßt. Zu welchem Ende ei⸗
gentlich nur darf erinnert werden an zweierlei, welches hieher
gehoͤrig ſchon oben beilaͤufig iſt aufgefuͤhrt worden. Zuerſt
naͤmlich im allgemeinen, daß keine Wiſſenſchaft kann im ſtreng⸗
ſten Sinne vollendet ſein fuͤr ſich allein, ſondern nur in
Vereinigung mit allen andern unter einer hoͤchſten, welche fuͤr
alle den gemeinſchaftlichen Grund des Daſeins enthaͤlt, und
eine jede beſtaͤtigt durch den Zuſammenhang mit allen uͤbri⸗
gen. Woraus ſchon von ſelbſt hervorgeht, daß entweder dieſe
auch die erſte ſein muß der Zeit nach und jene erzeugen, wel⸗
ches niemand gefunden zu haben behaupten wird, oder daß
die untergeordneten ſich zugleich und nach gleichen Regeln in
Geſtalt und Inhalt der Vollendung naͤhern, und eben hiedurch
auch jene Idee ſich allmaͤhlich entwikkelt. Nur freilich er⸗
ſtrekkt ſich dieſer Zuſammenhang nicht auch auf ſolche Huͤlfs⸗
wiſſenſchaften, wie etwa die Groͤßenlehre und die Vernunft⸗
lehre, ſondern nur auf die eigentlichen dem Inhalt und der
Bedeutung nach ſelbſtſtaͤndigen; von dieſen aber wird gewiß
der wiſſenſchaftliche Sinn eines jeden ohne weitere Eroͤrte⸗
rung das geſagte einraͤumen. Zweitens aber in Beziehung
auf die Ethik beſonders iſt angedeutet worden, daß ſie als
Darſtellung eines realen ſich nicht anders als mit dieſem zus
350
gleich vollkommen entwifkeln Ae Welches von der Na⸗
turwiſſenſchaft von ſelbſt gilt, in ſo fern ihr reales von ihr
ſelbſt vollſtaͤndig gegeben iſt, von der Geſchichte aber auch,
in ſo fern von ihr vielleicht gilt, was die Stoiker vom hoͤch—
ſten Gute behaupten, daß fie nicht waͤchſt durch die Laͤnge
der Zeit. Soll nun der Ethik irgendwann mehr als einer
unbeſtimmten und wieder verſchwindenden Erſcheinung ein
wohlbegruͤndetes bleibendes Daſein zukommen: ſo muß ein
nothwendiger Zuſammenhang ſtatt finden zwiſchen ihren an⸗
gefuͤhrten beiden Bedingungen. So daß entweder das Fort⸗
ſchreiten auch der andern Wiſſenſchaften nebſt dem Auffinden
und Entwikkeln der hoͤchſten Erkenntniß gleichfalls abhängt
von der Entwikkelung des ſittlichen im Menſchen, oder um⸗
gekehrt dieſes von jenem, oder auch beides gemeinſchaftlich in
einem dritten gegruͤndet iſt. Dieſes zwar, wie es ſich ver⸗
balte, zu unterſuchen iſt nicht unſeres Ortes; die Erſcheinun⸗
gen aber, welche wir hier koͤnnen in Erwaͤgung ziehen, müfs
ſen in allen Faͤllen, iſt nur uͤberhanpt die Vorausſetzung ge⸗
gruͤndet, einen Parallelismus darſtellen, welcher auch in allem
bisher geſchehenen ſich nicht verkennen laͤßt. Denn nicht nur
die erſten fragmentariſchen Elemente der Ethik, jene Denk⸗
ſpruͤche der Weisheit naͤmlich, welche bald mehr bald minder
den Mittelpunkt des Lebens trafen oder nur beruͤhrten, und
doch ſchon ſowol die Ahndung enthalten von dem lezten Ziele
der Wiſſenſchaft, als auch die Keime jener verſchiedenen Ge⸗
ſtalten, in welche ſie ſich hernach ſpaltete, dieſe nicht nur ſind
gefunden worden in gleichem Zeitraum mit den Elementen
der Naturwiſſenſchaft und der Hiſtorie, und gleichſam in dem⸗
ſelben Anlauf geiſtiger Anſtrengung, ſondern auch das Be⸗
ſtreben die gebuͤhrende Form fuͤr ſie zu finden hat faſt in
Hinſicht auf alle gleichen Schritt gehalten. Ja was noch
mehr beweiſende Kraft hat zwiſchen den verſchiedenen Ideen,
nach denen im Verlauf beſonders die Naturwiſſenſchaft iſt
bearbeitet worden, und denen, welche der Ethik zum Grunde
lagen „ findet ſich eine Aehnlichkeit der Verhaͤltniſſe und ein
durchgaͤngig herrſchender Zuſammenhang des gleichartigen in
beiden, welcher dem Saz, daß die praktiſche Philoſophie eines
jeden, wie ſie ſelbſt durch die Sittlichkeit in ihm beſtimmt
werde, auch wieder ſeine theoretiſche beſtimme, eine fruͤhere
Anerkennung ſchon laͤngſt hätte zuſichern muͤſſen. Oder hat
jemals, ſeitdem es verſchiedene Schulen und Charaktere der
Philoſophie gab, eine Verbindung ſtatt gefunden in einem
und demſelben zwiſchen der Ethik der Stoiker und der ato⸗
miſtiſchen Naturlehre des Epikuros? Oder etwa wäre es
351
einem möglich geweſen, deſſen Naturwiſſenſchaft nur von dem
ewigen Fluß der Dinge wuͤßte, ein Platoniker zu ſein in der
Sittenlehre? Offenbar „for wenig, daß, nur der alle Verbin⸗
dung aufhebende Skepticismus ſich ſchwankend bald hie bald
dorthin neigen konnte, im theoretiſchen auf Idieſe, im pralti⸗
ſchen auf jene Seite. Wer nun dieſe Verſchiedenheiten bes
trachtet wie ſie von jeher neben einander beſtanden haben, der
moͤchte bezweifeln, ob auch nur innerlich ſolchen Verſuchen
die beſonderen Erkenntniſſe zu Stande zu bringen die Idee
einer hoͤchſten und allgemeinen zum Grunde gelegen habe.
Denn je hoͤher der Standpunkt genommen wird, deſto weni⸗
ger ſollte wol Vielartigkeit der Anſicht und der Aus fuͤhrung
moͤglich ſein. Wenigſtens war es nicht eine und dieſelbe:
denn unter der Herrſchaft Einer ſolchen Idee kann auch jede
Wiſſenſchaft nur auf Eine Art der Form und dem Inhalt
nach ausgefuͤhrt werden. Wollte aber jemand als ein Zei⸗
chen, daß jezt nur Eine ſolche anerkannt werde von allen,
und als die Wirkung der darin liegenden Wahrheit anfuͤh⸗
ren, die dem Anſchein nach nun vollendete Reinigung des
wiſſenſchaftlichen Gebietes von dem Eudaͤmonismus in der
Ethik, und dem Atomismus ſei er nun chemiſch oder mecha⸗
niſch in der Naturwiſſenſchaft: ſo hat freilich von jenem die
Kritik nichts anders finden koͤnnen, als daß er eine Wiſſen⸗
ſchaft zu bilden unfaͤhig ſei, und muß den Zuſammenhang
des lezteren mit ihm, und was daraus folge, dahingeſtellt
‚fein laſſen. Allein ſie giebt zu erwaͤgen, daß doch dieſes nur
einen von den Gegenſaͤßen betrifft, welche ſie auf dem Ge⸗
biete der Sittenlehre gefunden hat, und daß der ſiegreiche
dynamiſche Idealismus, wie er ſich bis jezt gezeigt hat, wol
ſchwerlich die Ahnenprobe ſeiner Abſtammung von einer Idee
der hoͤchſten Erkenntniß beſtehen moͤchte, welche doch erforder⸗
lich iſt, wenn ihm ſoll der Preis gereicht werden. Denn von
den beiden Darſtellungen deſſelben, welche ebenfalls in einem
wichtigen und bedenklichen Streit begriffen ſind, hat die eine
zwar eine Ethik aufgebaut, dagegen aber die Moͤglichkeit einer
Natutwiſſenſchaft bald troziger bald verzagter abgelaͤugnet,
und die andere dagegen die Naturwiſſenſchaft zwar hingeſtellt,
für die Ethik aber keinen Plaz finden koͤnnen auf dem Ge⸗
ſammtgebiete der Wiſſenſchaften. Sollte man daher von der
Sittenlehre der erſteren, welche ſehr mangelhaft iſt befunden
worden, den Schluß machen duͤrfen auf die eben ſo einſeitig
verneinende Naturwiſſenſchaft der anderen: ſo duͤrfte was ſie
beide zuſammen reales beſizen nur einen maͤßigen Werth ha⸗
ben; was ſie dagegen beide zuſammen laͤugnen, zumal wenn
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man die Abneigung der einen wenigſtens gegen die Geſchichte
dazunimmt, moͤchte ziemlich alle reale und mehr als elemen⸗
tarifche Wiſſenſchaft ausmachen. Wie nun der Charakter der
einzelnen Wiſſenſchaften, wie jeder ſie darſtellt, abhaͤngig iſt
von der Beſchaffenheit des ſittlichen Bewußtſeins in ihm, ſo
auch im allgemeinen die wahre Idee eines Syſtems der menſch⸗
lichen Erkenntniß, ohne welche keine Wiſſenſchaft vollkommen
ſein kann und durchaus wahr, von der vollkommenen Sitt⸗
lichkeit in der Idee wenigſtens, oder welches daſſelbe iſt, von
dem vollſtaͤndigen Bewußtſein der hoͤchſten Geſeze und des
wahren Charakters der Menſchheit. Wo demnach dieſes Be⸗
wußtſein vorhanden war, da war auch in demſelben Maaße
der Keim der wahren Ethik; und von welcher Zeit an es
unaustilgbar wenn gleich nur von wenigen anerkannt fortge⸗
pflanzt wird, von der faͤngt ſich an das Werden der wahren
Sittenlehre. Denn werdend kann ſie immer nur ſein, bis
wenigſtens von allen, welche die Bildung des Geſchlechts re⸗
praͤſentiren, jenes Bewußtſein anerkannt iſt, weil vorher im
Kampf die Anſicht von dem ganzen Gebiet des ſittlichen,
welches ſie darſtellen ſoll, zu ſehr beſchraͤnkt iſt und getruͤbt,
als daß es tadellos koͤnnte in Formeln gefaßt werden, welche
den ganzen Fortſchritt der nothwendigen Entwikkelung in ſich
begreifen. Wo aber und ſo lange jenes Bewußtſein noch
nicht vorhanden iſt, iſt auch noch nicht die Ethik werdend als
Wiſſenſchaft, ſondern nur ihre Idee. Dieſes leztere Werden
aber kann auch nicht gleichmaͤßig ſein, ſondern muß den
Schein des zufaͤlligen darbieten, indem bald das eine bald
das andere Element der Annaͤherung den uͤbrigen vorangeht,
bald der Sinn fuͤr das ideale bloß von den Geſezen der
Form aus das beſſere reale ahndet und die Wirklichkeit hinter
ſich laͤßt, bald aber das reale in der Wirklichkeit demjenigen
zuvoreilt, welches in der Wiſſenſchaft dargeſtellt iſt, ohne ſich
deſſen Anerkennung zu gewinnen. Und ſo erſcheint bald vor⸗
waͤrtsgehend bald ruͤkklaͤufig die Bewegung demjenigen, wel⸗
chem ihr Mittelpunkt nicht gegeben iſt und ihr Geſez: denn
nur in der vollkommenen Wahrheit und im klaren Selbſt⸗
bewußtſein verkuͤndiget ſich unverkennbar das Maaß und die
Ordnung. | | 199 N,
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