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GRUNDRISS
DER
GESCHICHTE DES NEUTESTÄMENTLICHEN
KANONS.
EINE ERGÄNZUNG
ZU DER EINLEITUNG IN DAS NEUE TESTAMENT.
VON
THEODOR ZAHN.
> LEIPZIG.
A. DEICHERT'SCHE VERLAGSBUCHH. NACHF.
(GEORG BÖHME).
1901.
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/f0/, s/rw.*f.
Alle Kechte vorbehalten.
'.'!
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Vorwort.
Dem mehrfach geäußerten Wunsch," daß die Einleitung in das Neue Testament
durch einen diesem Werk einigermaßen gleichartigen Grundriß der Geschichte
des neutestamentlichen Kanons ergänzt werden möge, habe ich auf die Dauer
nicht Widerstand zu leisten vermocht. Meine Bedenken dagegen bezogen sich
zumeist auf die Weiterentwicklung des Kanons in der Zeit von Origenes bis zu
Justinian. Da ich aber nicht weiß, wann meine Kräfte und andere Aufgaben,
die vordringlicher zu sein scheinen, es gestatten werden, diese Entwicklung in
einem dritten Bande meiner Geschichte des Kanons darzustellen und damit jenes
weitläufige Werk zum Abschluß zu bringen, so wage ich es, in gegenwärtigem
Grundriß das Ganze zu umspannen und auch über solche Dinge, die noch sehr
gründlicher Untersuchung bedürfen, in Kürze etwas Bestimmtes zu sagen. Einen
Teil der Entschuldigungsgründe, welche Lucas in seiner Vorrede für sein kühnes
Unternehmen geltend macht, darf ich doch vielleicht für mich in Anspruch
nehmen.
Nach Anlage und wesentlichem Inhalt ist der Grundriß eine erheblich
erweiterte und hoffentlich auch merklich verbesserte zweite Auflage des Artikels
„Kanon des Neuen Testaments" in der dritten Auflage der Protestantischen
Realencyklopädie.
Erlangen den 18. Juni 1901.
Th. Zahn.
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Inhalt
Seite
§ 1. Begriffliches 1
§ 2. Das Neue Testament um 170—220 14
§ 3. Das Neue Testament um 140—170 27
§ 4. Älteste Spuren und Entstehung von Sammlungen apostolischer Schriften . 35
§ 5. Origenes und seine Schule 41
§ 6. Das ursprüngliche Neue Testament der Syrer und dessen Fortbildung. . . 44
§ 7. Lucianus und Eusebius .53
§ 8. Athanasius 58
§ 9. Die Weiterentwicklung im griechischen Orient bis zur Zeit Justinians . . 60
§ 10. Die Angleichung des Occidents , 63
Beilagen.
I. Der muratorische Kanon 74
II. Der Kanon des Codex Claromontanus 79
III. Der afrikanische Kanon von c. 360 -80
IV. Der römische Kanon von 382 82
V. Ein syrischer Kanon aus der Zeit um 400 83
Die Abkürzungen, welche ich hier wie in der Einleitung gebraucht habe, werden
durchweg von selbst verstanden werden. Nur das sei bemerkt, daß „GK I. II" die 2
Bände der Geschichte des neutestamentlichen Kanons (1888 — 1892) und „Forsch" die 6
Teile der Forschungen zur Gesch. des neutestamentlichen Kanons und der altchrist-
lichen Literatur (1881—1900) bedeutet.
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§ 1. Begriffliches.
Unter dem Kanon versteht der Theolog auch ohne die nähere Bestimmung
desselben als des Bibelkanons die Bibel selbst als die Sammlung der heiligen
Schriften der christlichen Kirche und drückt durch diese Bezeichnung der Bibel
im Unterschied von anderen Namen derselben den Gedanken aus, daß die in
der Bibel vereinigten Schriften in der Kirche als eine abgeschlossene, alle anderen
Schriften ausschließende Sammlung von Urkunden der göttlichen Offenbarung
anerkannt sind, welche als solche rücksichtlich ihres Ursprungs und Inhalts an
der Heiligkeit der Offenbarung selbst teilnehmen und daher auch für Lehre und
Leben der Kirche ein xavtov, ein Maßstab, eine Bichtschnur oder Begel sind.
Für das geschichtliche Verständnis ist wesentlich, daß die Sache, die wir so
nennen, d. h. eine in der Kirche als maßgebend anerkannte Sammlung hl. Schriften,
mehrere Jahrhunderte älter ist, als der Name und Begriff, womit wir sie zu
bezeichnen pflegen. Das Wort xavcbv in dieser Bedeutung und überhaupt in
seiner regelmäßigen und technischen Anwendung auf die Bibel beider Testamente
taucht nach dem Zeugnis der vorhandenen Literatur erst um die Mitte des
4. Jahrhunderts auf. Da der damals hiedurch ausgedrückte Begriff sehr früh
und bis heute verschieden aufgefaßt worden ist, erscheint eine kurze lexikalische
Erörterung unumgänglich J ).
1) Cf Benfey, Griech. Wurzellexikon II, 156; Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere
in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien (6. Aufl. 1894) S. 297 — 301
unter „Rohr, Arundo Dorax L."; Hommel, Die semit. Völker u. Sprachen I, 407. 498;
Schrader, Linguistisch-historische Forsch, zur Handelsgeschichte I, 156; Lewj r , Die se-
mit. Fremdwörter im Griech. S. 133 cf S. 99. 117. Für xdvra, lat. canna ist als ältere
Form xdvrj verbürgt durch die teilweise sehr alten Derivate y.dveov (xarrjyopos xrX.),
xavrjg, xaviag, xdva&por, xavaargov, xdviorpov, auch lat. canalis. Als sicher darf gelten,
daß xdvri (xdvra) ein semitisches Lehnwort ist = hebr. n:p, syr. Njjg, assyr. - babyl.
kanü. Fraglich aber erscheint, ob xavcov eine erst auf griechischem Boden entstandene
Weiterbildung ist, oder ein in sehr früher Zeit direkt aus einer semitischen Sprache
entlehnter technischer Ausdruck wie %iia>v. Im Hebr. ist der botanische Name r\\p selbst
in verschiedener Weise zur technischen Bezeichnung geworden: 1) Der hohle Schaft
sowie die 6 von ihm ausgehenden Röhren und Arme des goldenen Leuchters im
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neutestamentlichen Kanons. I
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2 § 1. Begriffliches.
Das griechische xctvtbv, gleichen Stammes mit xdvrjj xdvvcc (Rohr, Schilf-
rohr und sodann Röhre), ist ein in vorhomerischer Zeit aus dem Semitischen
entlehntes Fremdwort und bezeichnet zunächst das Rohr in seiner Verwendung
als Werkzeug, sodann das betreffende Werkzeug, auch wenn es nicht mehr,
wie anfänglich, aus Rohr, sondern aus. irgend einem anderen Stoff angefertigt
wurde 2 ). Für die Feststellung der mannigfaltigen Anwendungen und Über-
tragungen des Wortes, welche hier nicht vollständig aufgezählt werden können,
ist die durch die Etymologie gesicherte und in manchen ziemlich weit abliegen-
den Ableitungen und Anwendungen 3 ) wieder zu Tage tretende Urbedeutung
maßgebend. 1. Bei den Griechen heißt so am häufigsten ein Werkzeug des
Zimmermanns und überhaupt Bauhandwerkers zur Bestimmung und Her-
stellung der geraden Richtung des zu bearbeitenden Holzes oder Steines 4 ), „das
Richtscheit, ein einfaches, meist mit Maßstab versehenes, genau gearbeitetes
Holz, eine Art Lineal u 5 ), lat. regula (nicht ganz gleicher Bedeutung amussis).
Dieser Bedeutung entspricht es, daß neben der Geradheit besonders auch die
TJnbeugsamkeit als unerläßliches Attribut des xccvtov erfordert wird °) ; ferner
der Gebrauch des Worts für das Lineal des Schreibers 7 ), die konstante
Heiligtum Ez 25, 31 — 36; 37, 21. 2) Meßrute, Maßstab und zwar ein solcher von
bestimmter Länge = 6 Ellen Ez 40, 3 (wo daneben die Meßschnur erwähnt wird); 40,
5—7; 41, 8; 42, 16 — 19, vollständig rn?i>rt nijD, LXX xdlapos fiiroov (sie), vulg. calamus
mensurae cf Ap 11, 1 xdAapos ofiows QdßScp. 3) Wage Jes 46, 6; LXX orafr/tiös. vulg,
statera ; 4) später auch Lineal Tract. Sopherim 1, 1 für das ältere "p (Mischna, Kelim
XII, 8) s. die Lexika von Levy und Jastrow unter p, wa, naa und Low, Graphische
Requisiten und Erzeugnisse bei den Juden S. 185 f.
2) Homer neDnt die Querhölzer an der Innenseite des Schildes xapopss, auch wenn
sie ausnahmsweise aus Gold gefertigt sind II. 8, 193 cf 13, 407. Auch die Spule des
Webers und die Spindel der Spinnerin (II. 23, 407; Aristoph. Thesmoph. 822) werden
meist nicht aus einem Stück Rohr bestanden haben.
3) Z. B. canalis eigentl. Röhre. Ableitungsrohr, auch Luftröhre und Flöte';
Kanone (Feuerrohr).
4) Aeschines c. Ctesiph. 66 ov ydo dooiarop iori toSixaiop^düA (OQiofiEvovroZsvdfiois toU
vfieriQOis. (ootzbq ydg Iv rrj rexrovixrj, otuv eidevai ßovXoped'a to oq&ov xal ro fitf, top
xavova Ttoootpepoftev, cp diayipcooxsrai, ovtcj xal sv Talg ygoupals tcop Ttapapojucov Ttapcc-
xeirai xaveov iov Sixaiov rovrl ro oaviSiov, to yjr}<pioju.a xal ol Tragayeypaju/tiepoi vo/uoi.
Unter den /uerpa te xal ogyavcc, welche die Texronxrj beim Schiffsbau, Hausbau und
anderen Arten der gvlovpyixrj anwendet, nennt Plato Phileb. p. 56 zuerst den xaveop,
weiterhin röovos (Zirkel, circinus)^ 8utßrjxr t $ (Blei- oder Setzwage, libella), ord&/urj (Blei-
lot, perpendiculum) , Ttoooaycoywp (Winkelmaß, dafür p. 51 ycopia, lat. normet neben
xaveov). Cf Plut. praec. ger. reipubl. 13 p. 807 ; Pollux, Onom. X, 147.
5) So Blümner, Technologie u. Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen
u. Römern II, 233, vgl. überhaupt dort S. 231—237; III, 91 f.
6) Polyb. XII, 12; Plut. ad princ. inerud. 2 dorpaßrje xal ddidoTpoyos. Iren. I, 9,
4 dxLvrjg (interpr. lat. immobilis), Tert. virg. vel. 1 immobilis et irreformdbilis.
7) So in mehreren Gedichten der Anthol. (ed. Jacobs IV, 39 nr. 2; p. 58 nr. 50.
51. 52; vol. III, 197. 198 nr. 10. 11, auch xavopiofia und xapovis II, 53 nr. 3; p. 200 nr.
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§ 1. Begriffliches. 3
Übersetzung durch regula s ), auch die "Wahl der mit xavcov als Objekt ver-
bundenen Verba 9 ), und die häufige Verbindung mit Namen anderer fester Meß-
werkzeuge 10 ). — Unvergleichlich seltener begegnet man der Bedeutung Wage-
balken oder Zünglein in der Wage 11 ), welche sich entweder aus der
Vergleichbarkeit mit dem Richtscheit und seiner Anwendung 12 ), oder daraus er*
17). dem. ström. VI, 36 p. 757 ed. Potter beschreibt einen navcov, welcher zugleich als
Behälter für das Schreibrohr und das Tintenfaß dient.
8) Cf Blümner II, 234. S. unten A 18. Auch im kirchlichen Sprachgebrauch, bei
den lat. Übersetzern des Irenaeus und des Origenes, bei Tertullian und Novatian,
wo es sich um den xavcov trjs morecos, trjs dlrj&eias handelt, tritt überall regula ein.
Ebenso in der Vulg. 2 Kr 10, 13. 15. 16; Gl 6, 16; Phl 3, 16. Paulus betrachtet 2 Kr
10, 13 — 16 die göttliche Bestimmung über das, was der einzelne Mensch in seinem Be-
ruf leisten soll, als ein Richtmaß, wonach sich sowohl die Ausdehnung des Arbeitsfeldes
als das Urteil über die Leistung bemißt; dagegen bezeichnet er Gl 6, 16, womit Phl 3,16
zu vergleichen ist, auch wenn dort xavovi zu streichen ist, einen von ihm selbst aus-
gesprochenen Grundsatz als ein Kichtmaß, wonach sich das als ein Schreiten vorgestellte
Handeln ohne Abweichung von der durch das Richtmaß bezeichneten Linie zu
richten hat.
9) TtQoond'ivai Aristoph. av. 1001. 1004, Ttgoocpegeiv Aeschin. s. A 4, hitdyeiv Epict.
diss. III, 3, 14 f.; Marc. Aur. V, 22, nooodyeiv Luc. hist. conscr. 5. Das Richtscheit
als solches und in seiner Verwendung als Maßstab legt man an.
10) Aristoph. ran. 799 xavovas kgoioovoi xal Tttfxeis eiicov. Luc. hist. conscr. 5 ge-
braucht abwechselnd xavcov und 7ztj%vs cf C. 39 7tr)%vs eis xal fierpov dxoißes. 2 Kr 10, 13
rb [ibtqov rov xavovos. Aristot. Eth. Nicom. III, 16 und Methodius ed. Bonwetsch
p. 347, 22 xavcov xal /ueroov. Dahin gehört auch die Zusammenstellung von xavcov und
yvcopcov (= ycovia, norma, Winkelmaß) Luc. Hermot. 76; Harmonid. 3. — Aristophanes
Thesmoph. 821 ff. vergleicht die Lanze der Männer mit dem xavcov der Spinnerinnen
oder Weberinnen, wie den Schild derselben mit dem Sonnenschirm der Frauen. — Da,
wie der xavcov, auch die Richtschnur (o%oTvos, linea, auch griech. favirj cf Blümner
III. 91 f. Note 2 cf II, 232 f.) und das Lotblei (ardd'fir/ 1 perpendiculum) dem Bau-
handwerker dazu dient, in horizontaler bezw. vertikaler Richtung die gerade Linie
innezuhalten, so berührt sich der Begriff des xavcov nahe mit diesen beiden. Zumal bei
bildlichem Gebrauch kann daher die Zusammenstellung von xavcov und otad'firi, Richt-
scheit und Richtschnur nicht befremden Xenoph. Agesil. 10, 2; Luc. Hermot. 18; hist.
conscrib. 63. Aber Verwechselungen dieser Synonyma sind bei ordentlichen Schriftstellern
schwerlich nachzuweisen.
11) Hiefür wird fälschlich Aristoph. ran. 799 angeführt (s. vorige A). Auf das
Bild des Wagens in v. 797 f. (raXdvrcp cna&jueiv und fieiaywyeiv) folgt v. 799 das Bild
des Messens in bezug auf Geradheit und Länge [xavöves xal 7irj'/eis), sodann v. 800
das Bild der Ziegel formung und v. 801 werden didfcetgoi xal ofijves genannt,
Werkzeuge, die bei der Ausführung des Baus zur Anwendung kommen. Das Scholion
zu xavovas (Schol. in Arist. ed. Dindorf I, 366) : idicos id litdvco rfjs rovrdvrjs ov xal eis
ioorrjTa avTTjv ayov ist nicht eben deutlich. Das Zünglein selbst (rovrdvrj, trutina, auch
exameri) heißt xavcov. Clem. homil. 9, 15 Wird dem Abergläubischen, der die Götter-
bilder für lebendige Wesen hält, gesagt: krcl ^vyov lit 1017)0 avi es avrd, Yaov ovros rov
xavovos, to dvrioooTtov &7tl Trjs ireoas 7tkdariyyos d'ivTes, dj-icooara avrd fj olxorega
yevea&ai rj xovcpoTega, xal ovtcos edv yevrjrai, %v7tvod iariv.
12) Besonders bei Übertragungen auf das geistige und sittliche Gebiet wird eben-
1*
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4 § 1. Begriffliches.
klärt, daß man in alter Zeit auch hierzu das wegen seiner Geradheit und
Leichtigkeit dafür geeignete Bohr verwandte 18 ). Jedenfalls beruhen die meisten
oder sämtlichen Übertragungen nicht auf dieser zweiten, sondern auf der ersten
technischen Bedeutung: Richtscheit, Lineal. 2. Von den Übertragungen,
welche auf Vergleichung beruhen, in der weiteren Entwicklung aber teilweise
zu technischem Gebrauch sich verfestigen, sind die wichtigsten folgende : 1) Mit
dem Richtscheit verglichen werden die geschriebenen Gesetze als Maßstab der
Beurteilung von Recht und Unrecht, sowie als Richtschnur des Verhaltens 14 ).
Ganz auf gleicher Linie liegt es, wenn in der alten Kirche zwar nicht häufig,
aber doch gelegentlich das Evangelium oder die Worte Jesu oder die hl. Schriften
als ein Kanon bezeichnet werden 16 ). Mit einem Richtscheit verglichen wird
2) auch der musterhafte Mensch 16 ). Daher konnte der Bildhauer Polyklet um 400
v. Chr. sowohl die Statue, in welcher er die Normalgestalt des Menschen dar-
zustellen versuchte, xavtiv nennen, als auch der Schrift, in welcher er diese Statue
erläutert und die daran zu beobachtenden Regeln entwickelt hat, dasselbe Wort
zum Titel geben 17 ).' Als Buchtitel hat das Wort schon früher Demokrit und
sowohl die Vergleichbarkeit als die Verschiedenheit des Verfahrens. bei der Bestimmung
des Gewichts und der Geradheit deutlich. Of Epict. diss. I, 28, 28 — 30: dem xptvai
ßd^rj entspricht der ^vyos, dem xpivat, rd ev&ia xal orgeßXd der xdvcov oder auch II,
11, 13 die ard&fiTj. Cf auch II, 11, 15 f. und § 20, wo es von der rjdovij heißt: vnaye
avrrp tcg xavovt, ßdXe eis tov gvyov. Diese deutliche Unterscheidung und alles bisher im
Text und in den Anmerkungen Gesagte widerlegt die Meinung von Lagarde (Reliqu.
jur. eccl. graece p. VI), daß trutinae examen (d. h. trutina = examen) die Grund-
bedeutung von xavcov und die Wurzel der meisten Übertragungen sei.
13) Vgl. Hehn a. a. 0. S. 298. 579; Schrader, Forsch, zur Handelsgesch. I, 156.
14) Aeschines c. Ctesiph. 66 oben A 4. Clem. ström. I, 167 o&ev 6 vo/tios et-
xorcos e%Qrjrcu 8id Mcovoicos Se86o$ai (Jo 1, 17), xavcov rvyxdvcov Sixaicov re xal dSixcov.
15) Clem. ström. IV, 15 (nach Anführung von Worten Jesu) /uaxdpios ovrooi, ov rrjv
dnXfjv Ificpaivcov /uaprvpiav, dXXd rrjv yvcoazixrjv, cos xard rov xavöva rov evayyeXiov TtoXi-
revadfievos 8id rijs tiqos %6v kvqwv dyaTtrjs. Von den Gnostikern, welche Worte Jesu anfuhren
und mißdeuten, ström. III, 66 ol itdvra /udXXov rj rc$ xard ttjv dXrj&eiav evayyeXixcp oxoiyrioavxes
xavovi. — Tertull. c. Marc. III, 17 sagt von der Vergleichung der Geschichte Christi mit
der Weissagung des AT's: oportet actum eius ad scripturarum regulam recognosi (cf
c. 17 in. reliquum ordinem eius cum scripturis conferamus). — Ptolem. Valent. epist. ad
Floram bei Epiph. haer. 33, 7 fordert ein xavoviaai itdvrag rovs Xoyovs rfj rov ocovr\Qos
fjficov SiSaaxaXiq (cf § 3 rcov ^rj&rjaouevcov rjfiTv rag dnoSeil-eis ix rcov rov acorrJQOS
rjficov Xoycov Ttagicncovres).
16) Xenoph. Agesil. 10, 2; Plut., quomodo adol. poetas audire debeat 8 p. 25 E
xavoves d^erijs ditdar^s xal o^&ottjtos. Epict. diss. III, 4, 5 xavcov xal 7raod8eiy/ua iols äXXois.
Luc. Scytha 7 sagt von Solon ovros aoi 6 kXXrjvixds xavcov, rovro Selyfia ttjs tpilooocpias
rrjs drnxijs. Auch Conviv. 7. Ahnlich Clem. ström. I, 167 Mcovafjs öe avveXovri ehtelv
r6/uoe %fi\pvxos rjv. Cicero ad famil. 16, 17 tu, qui xavcov esse meorum scriptorum soles.
17) Plin. h. nat. 34, 19, 55 nur von der Statue ; von dieser und von dem so betitelten
Buch Galen, de Hippocr. et Plat. dogm. V, 3 (opp. ed. Kühn V, 449). Cf Luc. de saltatione
75; de morte Peregr. 9. Das mit xavcov stammverwandte xdvaßos (xdwaßos) heißt Modell.
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§ 1. Begriffliches. 5
später Epikur 18 ) gebraucht. Es wird zum technischen, keiner Näherbestimmung
bedürftigen Namen 3) für die in Sätzen ausgedrückte Regel sowohl
der Philosophen als der Grammatiker, insbesondre für die ethischen Regeln 19 ).
In der Kirche bezeichnet von der Mitte des 2. Jahrhunderts an 6 xaviüv
tffi ülrid'eiag, 6 x. rfjg nitneiog, regula veritatis, r. fidei das formulirte
Bekenntnis des christlichen Glaubens, insbesondere das Taufsymbol,
dann auch in erweitertem Sinn den Inbegriff der in der Kirche allgemein an-
erkannten Glaubenslehren 20 ). Diese weitere Bedeutung eignet noch mehr dem
fast nur bei den Griechen eben hiefür üblichen Begriff ö btyiXr]Oia<JTi7tbg xa-
vcbv oder ö xavwv Tfjg kxTcXrjalag. Während in der Verbindung 6 x. tfjg &Xr]-
d'eiag und ifjg Ttiozetog ursprünglich der im Taufbekenntnis formulirte Glaube
und die in demselben kurz zusammengefaßte Offenbarungswahrheit selbst als das
Richtscheit vorgestellt wurde, wonach alles Lehren und Leben normirt und be-
urteilt werden soll, und erst allmählich die Vorstellung sich entwickelt, daß
dieser Kanon oder Gott und Christus durch denselben vorschreibe, was man zu
glauben und für Wahrheit zu halten habe, liegt im Begriff des „kirchlichen
Kanons u oder des „Kanons der Kirche u unmittelbar die Vorstellung, daß die
Kirche ihrerseits einen Inbegriff von festen Lehrsätzen und Lebensregeln auf-
gestellt habe und ihren Gliedern diesen als eine Norm des Glaubens, Lehrens,
Lebens und Urteilens mitteile. Dem entsprechend heißt 4) xavcbv jede einzelne,
von einer wirklichen oder fingirten kirchlichen Auktorität, insbesondere von den
Synoden aufgestellte kirchliche Satzung 21 ). Weiter entfernt von der Ur-
bedeutung hat sich der Gebrauch von xavcov 5) im Sinn von regelmäßiger
(jährlicher) Naturallieferung und überhaupt Abgabe im politischen wie
im kirchlichen Leben. Die Satzung, welche bestimmt, was eine Provinz oder
ein einzelnes Grundstück abzuliefern hat, der gesetzlich bestimmte Ansatz für
18) Sein grundlegendes Werk negl x^ir^iov fj xavcov, Epict. II, 23, 21 to nepl
xavovog, Cicero nat. deor. I, 16, 43 de regula et judicio; Seneca epist. 89, 11 de judicio
et regula,
19) Epict, diss. I, 28, 28 {U&cofiev ini rove xavovae) — 30; II, 11, 13—25; III, 13^
14 f.; Lucian. Halieus 30. Noch nicht technisch, aber lehrreich der Gebrauch des Verbs
bei Arist. Eth. Nicomach. II, 2 p. 1105 xavovi^o/uev $e rag npdgeig . . . rßovfi xal Xvni].
20) Cf meinen Artikel „Glaubensregel- 4 in Prot. REncykl. VI 8 , 682—688. Haupt-
stellen: Iren. I, 9, 4; 22, 1; III, 2, 1; Polykrates bei Eus. V, 24, 6; Clemens ström.
IV, 3. 100; VI, 124. 125. 131. 165; VII, 41. 90. 94 (auch Titel einer Schrift des
Clemens x. ixxArjoiaoTixdg fj itgos rovg fovdat&vrag cf Forsch III, 35 ff.) ; Tert. apol. 47 ;
praescr. 12. 13. 14. 26; virg. vel. 1; Prax. 3; Aronym. c. Artemon. bei Eus. V, 28, 13;
Hippol. refut. X, 5; Orig. princ. I praef., IV, 1, 9; Novat. trin. 1. 9. 25.
21) Diese Bedeutung überall, wo in der Mehrzahl von xavoves t^g ixxXijaias die
Hede ist, wie Eus. h. e. II, 17, 1, aber auch sonst, wo der Zusammenhang ergibt, daß
eine einzelne Satzung gemeint ist, wie bei Dionysius Alex. (Eus. h. e. VII, 7, 4) rovrov
eycö tov xavova xal tov rvnov naga rov fiaxapiov nana rificov *H(>axXa naQeXaßov.
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6 gl. Begriffliebes.
die Lieferung leiht seinen Namen dem zu liefernden oder gelieferten Quantum 22 ).
Nicht so einfach zu erklären ist der unfragliche und ziemlich häufige Gebrauch
von xavebv 6) im Sinn von Liste, Verzeichnis, Tabelle. Die xavoveg
tiqÖXMQOI des Claudius Ptolemäus um 150 n. Chr. waren astronomische „Hand-
tafeln", und der dazu gehörige xaviov ßaoikkov oder ßaoikeiajv war nichts an-
deres als eine Liste nackter Königsnamen 23 ). Die 10 xavöveg, welche Eusebius
seiner Ausgabe der Evv voranstellte, waren nicht etwa Regeln oder Grund-
sätze, sondern systematisch geordnete, aus dürren Ziffern bestehende Stellen-
register. Die Methode, nach der sie ' ausgearbeitet, und die Regeln, nach denen
sie zu benutzen waren, hat Eusebius nicht in diesen navoveg, sondern in dem
ihnen vorausgeschickten Brief an Karpianus entwickelt 24 ). Ebenso verhält es
sich mit den Sachregistern zu den Paulusbriefen und zu anderen Schriften,
welche die Lateiner eanones nannten 25 ). Indem Eusebius den zweiten Teil
seiner Chronik xqovmoI navöveg oder %qovmov xavövog avvta^tg nannte 20 ), ge-
brauchte er eine seit lange herkömmliche Bezeichnung chronologischer Tabellen 27 ).
Wenn dieser Sprachgebrauch überhaupt aus der Bedeutung „Richtscheit" abzu-
leiten ist, so war diese Herkunft in christlicher Zeit jedenfalls völlig aus dem
Bewußtsein geschwunden. Auch der Gebrauch von xavebv 7) im Sinn von
xkfjQog geht auf die Bedeutung „Register, Katalog" zurück. Ol iv %fy xccvövi
oder auch iv t$ vhJQQ i^eva^opLevoL (C. Nicaen. 16. 17. 19) sind die Personen,
welche durch den kirchlichen Census (griech. e^haoig) in eine Liste, nämlich
in die Liste der Kirchendiener eingetragen sind und in derselben geführt werden,
im Gegensatz zu der unterschiedslosen Masse der Laien (C. Nie. 19 iv xolg
Xa'txolg l^erväCeGd'ai cf. Conc. Quinisext. can. 5 iv leQatiKip Y.a%ak6y(^ = iv
xctvövi). Die in dieser Liste eingetragenen Personen sind ol xavovwoi, zu
welchen nach Cyrillus procat. 4 auch die als besonderer Stand anerkannten As-
keten, die Witwen usw. gehören; ebenso die kirchlich angestellten, geschulten
und nach Noten singenden Sänger (c. Laod. 15 ipalral xavovtxol). Der Name
22) Cf in Kürze den Artikel canon fmmentarim, auch annona in Pauly-Wissowa's
REnc. Von Abgaben der Bauern an die Kirche Marci vita Porphyrii c. 22, 41. ed.
Bonn. (1895) p. 20. 36; Äthan, apol. c. Arianos 60 Montfaucon I, 178. Eine ähnliche
Metonymie ist uns geläufig bei vielen Hohl- und Längenmaßen: 2 Maß Bier, 3 Ellen
Tuch, 1 Glas Wein im Unterschied von Weinglas.
23) Ed. Halma II, 3 ff. cf Ideler, Handbuch der Chronol. I, 109.
24) Abgedruckt z. B. bei Tischendorf-Gregory, Prolegg. p. 145 ff. cf meinen Ar-
tikel „Evangelienharmonie" Prot. REncykl. V, 8 654.
25) Priscillianus ed. Schepss p. 107—147. Cf Hilar. Pictav. ed. Bened. p. 602 ;
August, de civit. ed. Hoffmann p. XI. XLI.
26) Ed. Schoene II, 4; ecl. proph. ed. Gaisford p. 1; Hieron. v. ill. 81 cf v. ill.61
über Hippolytus.
27) Plutarch, Solon c. 27 xpovixois not leyofiivois xavöoi, cf Dionys. Hai. ant. I,
78 über den Historiker Timaeus in bezug auf eine unglaubliche chronologische Angabe :
ovx olö° ot(o xavovt /gcofievos.
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§ 1. Begriffliches. 7
der Liste, in welche alle solche Personen eingetragen waren, wurde sehr bald,
wie das bei ähnlichen Worten so oft geschehen ist, auf die darin aufgeführten
Personen, auf den betreffenden Stand im konkreten Sinn übertragen 28 ). Es
würde hier 8) der von den Gelehrten vielgenannte „Kanon der 10 attischen
Redner" zu nennen sein, wenn dieser Name antik wäre. Die auf uns ge-
kommenen Verzeichnisse dieses und verwandten Inhalts enthalten das Wort
yiavcbv gar nicht, sondern statt dessen etwa niva^ 29 ). Wenn bei Quintilian
(inst. I, 4, 3; X, 1,54) ordo Übersetzung von kccvwv sein sollte, wie zuweilen
in der lat. Kirchensprache, so doch nicht im Sinne von „Maßstab, Regel",
sondern wie auch das daneben gebrauchte numerus zeigt, im Sinne von Reihe,
Liste. Der bei den Philologen übliche Ausdruck canon X oratorum ist eine
moderne Imitation des theologischen Sprachgebrauchs, welche Ruhnken (Opusc.
v. arg., ed. 2, I, 386) durch seine vorsichtigen Worte: Itaquc ex magna ora-
torum copia tarn quam in canon em decem duntaxat retulerunt veranlaßt, aber
nicht verschuldet hat. — Mit mehr Sicherheit ist hier zu nennen 9) der canon
missae. Es bedürfte aber einer eindringenden Untersuchung, welche hier nicht
vorgetragen werden kann, um zu beweisen, daß der so benannte Teil der Meß-
gebete seinen Namen erhalten hat von der Liste der Personen, deren darin ge-
dacht wird und zwar nicht sowohl der Lebenden und Verstorbenen, für welche
Fürbitte eingelegt wird, als der Heiligen, auf deren Verdienste und Fürbitte
Berufung eingelegt wird. Einen Verstorbenen in diesen Kanon d. h. in diese
Namenliste aufnehmen, heißt ihn kanonisiren 30 )..
Der regelmäßige Gebrauch des Wortes in bezug auf die Bibel ist, wie
gesagt, in der Literatur erst von der Mitte des 4. Jahrhunderts an nachweisbar 31 ).
Origenes und seine Schüler, auch Eusebius und dessen Altersgenossen scheinen
28) Can. Antioch. 1. 2. 6. 11. — Eine weitere Übertragung der Vorstellung eines
Standes der Immatrikulirten auf die Heiligen der Bibel findet maD im Dialog des
Adamantius (Ausg. der Berl. Ak. 1901) p. 40, 32.
29) Zuletzt herausgeg. von Kröhnert, Canonesne poetarum, scriptorum, artificum
per antiquitatem fuerint. Königsberg 1897. Dort p. 8. 11. 15 f. wiederholt niva^.
30) Zur vorläufigen OrientiruDg genügt ein Paralleldruck der abendländischen
Messen wie z. B. bei Hammond, Liturgies Eastern and Western p. 326 von Incipit
canon an , besonders p. 328. 338. 340. Cf auch zwei bei Ducange-Henschel unter canon
nr. 4 citirte Urkunden und vor allem Dio Cass. 60. 4, 6: die Namen des Caligula und
des Tiberius stehen nicht Iv rq> xataloyco rwv avroxoaroocov, wv /uvrjprjv Ini re role
ogxois xal Itu rais ev%ai$ Ttoiov/ue&a. — Eine andere Anknüpfung bot die Vorstellung
des Klerus als eines Standes der Immatrikulirten und von der Masse der Gläubigen
Eximirten, s. oben A 28.
31) Die gelegentliche, aber seltene Beurteilung und Benennung der Bibel oder
einzelner Teile derselben als eines xavcov bei den Älteren (oben S. 4 A 15) hat keine
technische Terminologie begründet. Jene begegnet uns vereinzelt noch um 400 bei
den Griechen, die doch niemals die Bibel selbst „den Kanon" schlechthin zu nennen
sich gewöhnt haben. Isid. Peius, epist. IV, 114 tov xavova rrje älrj&eias, ras d'eiag
frjfu yoacpde. Ahnlich Macar. Magn. apocr. IV, 10 top xavova ttjs xaivtje Sia&rjxr]£.
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8 § 1. Begriffliches.
ihn noch gar nicht zu kennen. Dagegen sagt Athanasius vom Hirten des
Hermas: fiij Sv in rov ytavövog**). In seinem Osterbrief von 367 bezeichnet
er die von den Aposteln den Vorfahren übergebenen und in der Kirche als
göttlich geglaubten Schriften dreimal als xavoritöfieva im Gegensatz zu den
&7t6xQV(pa und im Unterschied von einer dritten Klasse, den &vctyivtoox4(A€va
(GK II, 210 ff. Z. 17. 60. 65). In dem bald nach dem Tode des Athanasius
verfaßten Vorbericht zu seinen Festbriefen heißt es nach der syrischen Version
zum J. 367: „in diesem Jahre schrieb er einen Kanon betreffs der hl. Schriften
machend" 38 ). Um 350 überträgt der syrische Übersetzer der Kirehengeschichto
des Eusebius (III, 25, 6) yQacpctg oi% hdiad-rjytovg durch „diejenigen, welche
nicht im Kanon der Kirche gesetzt sind* 4 . Der Zeit um 360 gehört, abge-
sehen von dem später hinzugefügten Schriftenverzeichnis, der Can. 59 Laod. an,
in welchem %a xavovixct %f\g xaivfjg °xai nalaiag dia&rjxrjg (sc. ßißkia) im
Gegensatz zu xa axavovioxa ßißXia stehen (GK II, 202). Amphilochius be-
schließt seinen Katalog der hl. Schriften: olrtog &ipevö4axaTog xavtov &v eXr]
%(hv &€07tvevOT(jüV YQacpwv (GK II, 219). Nicht so häufig, als man zu meinen
scheint, ist diese Gruppe von Wörtern von den Griechen so auf die Bibel an-
gewandt worden. Man bevorzugte die vor 350 üblichen Ausdrucksweisen oder
ließ sie doch mit jenen abwechseln. Ein Zeitgenosse des Chrysostomus (Chrys.
ed. Montf. VI, 430) sagt von den joh. Briefen: %(hv öh ixycXrjGia^oiiUvwv, ov
tüjv &7toxQV(p(ov [A€V fj 7tQd>TY] irtiOTolrj, Tr\v yaq devxiqav xccl tqIttjv Ol 7UXZiQBg
&7tOY.avovi£ovoiv. Leontius' um 530 (de sectis act. II, 1, 4) gebraucht xa
iyMXrjoiaoTixa ßißlla = tä Kavovi^öjAeva ßißkia Iv tjj IxxXrjoia. Die
Stichometrie bei Nicephorus (GK II, 297. 299 f.) deiai ygacpal InxlrjOia^ousvai
mal x6xavovi<J[.i4vai mit dem doppelten Gegensatz oaai AvTikiyovTai xal ovx
£Mt).r]Oid£ovTai und &7t6xQV(pa. — Die hl. Schriften verdanken ihre Zugehörig-
keit zum kccv(üv einer auf sie gerichteten menschlichen Tätigkeit, welche
xavovi&iv (opp. ä7toxavovi£eiv) heißt 34 ). Als zum Kanon gehörige Schriften
sind sie xavovutd, xavovi^oiteva, xeKavoviaf.iiva (opp. axccvoviora, a7t6xQvcpa xtL).
Hiernach kann der Sinn von xavtibv und seinen Derivaten in der Anwendung
auf die Bibel nicht zweifelhaft sein. Es ist dabei nicht an die Grundbedeutung
„Richtscheit, Lineal, Maßstab, Norm" zu denken und bei der Entstehung des
32) Decr. syn. Nie. 18 Montf aueon I, 223, bald nach 350 geschrieben.
33) Festal letters of Äthan, ed. Cureton, 2. Teil S. 1. Ebendort S. 52 in der
Überschrift eines Excerpts aus diesem Brief wird dessen Inhalt mit den Worten ange-
geben: „in welchem er in kanonischer Weise (xavovtxcSg) bestimmt, daß dieses die gött-
lichen Schriften sind, welche die Kirche reeipirt".
34) Cf Theodoret (prol. in cant. opp. ed. Schulze II, 3) im Gegensatz zu Theodors
Verwerfung des Hohen Liedes: ol /uaxdoioi Tiari^se ol tovto t s ßißXiov raze &elai9
ygacpals ovvr eia%6Te e xal are drj Ttvevfiartxov, xavovioavrss re avro xal ixxXijoia
ngeTteiv aTcoyrjvdiievoi. Kosmas (Montfaucon , Coli, nova II , 92) von den Vätern,
welche Verzeichnisse der biblischen Bücher aufgestellt haben: Tzdvres ol xavovioavres
ras ivSia&irovg ßißXovs.
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§ 1. Begriffliches. 9
Sprachgebrauchs nicht daran gedacht worden ; denn die für göttlich und heilig
geachteten Schriften können nicht an einem außer ihnen liegenden Maßstab
von Menschen gemessen, darnach eingerichtet oder irgendwie gemaßregelt werden,
können also nicht Objekt eines von xavwv in diesem Sinn abgeleiteten Y.<xvovl£eiv
werden oder je gewesen sein. Eben deshalb kann aber auch xav&v in solcher
Anwendung nicht die Bibel selbst bezeichnen, sofern sie als Richtscheit und
Kegel dient, woran Anderes gemessen und wonach Anderes normirt wird.
Wenn Amphilochius im Bückblick auf die voranstellende Liste der hl.
Schriften sagt: „Dies dürfte ein möglichst trugloser Kanon der inspirirten
Schriften sein", so kann er damit natürlich nicht die aufgezählten Schriften
selbst meinen, welchen als inspirirten eine keiner Steigerung oder Herabminderung
fähige Truglosigkeit zukommt, sondern nur das von ihm selbst mit möglichster
Sorgfalt und Treue aufgestellte Verzeichnis derselben im Gegensatz zu minder
genauen oder redlichen Verzeichnissen der hl. Schriften. Es ist also Y.avd)v 9
entsprechend einem weit verzweigten allgemeinen Sprachgebrauch (oben S. 6 f.),
von der Mitte des 4. Jahrhunderts an im Sinne von KaTdXoyog auf die Liste
der als hl. Schriften in der Kirche anerkannten Bücher angewandt worden 36 ).
Und dabei haben es die Griechen bewenden lassen. Sie haben weder die Bibel
selbst den Kanon genannt, noch der Vorstellung, daß die Bibel die maßgebende
Auktorität sei, einen Einfluß auf ihren Gebrauch von xavcbv, xavovMOQ, navoviteiv,
xavovi^6f.i€vog eingeräumt. Nur in ganz anderer Richtung hat bei Griechen und
Syrern eine Verschiebung des Begriffs stattgefunden. Da die mehr oder weniger
amtliche Aufstellung eines Katalogs der hl. Schriften eo ipso auch Aufstellung
eines xavcov im Sinne einer kirchlichen Satzung und Regel ist, so mischte sich
dieser Begriff ein. Dies zeigt sich vielleicht schon in der syrischen Übersetzung
des Vorberichts zu den Festbriefen des Athanasius 86 ), deutlicher darin, daß die
Späteren den Begriff der Kanonicität durch K€xavovia/ii^va ausdrücken 87 ), was die
ein für allemal erfolgte Aufnahme der Schriften in die Sammlung der hl. Schriften,
ihre „Kanonisirung" im modernen Sinne, bedeutet, während Athanasius, und
auch die Späteren manchmal neben der jüngeren Ausdrucksweise, dafür xavovi-
£6p6va gebrauchen, was nur besagt, daß die Bücher im Inventar aufgeführt, in
35) Eus. h. e. III, 25, 6 im Rückblick auf das voranstehende kritische Verzeichnis
der hl. Schriften und insbesondere der Antilegomena : dpayxaicos 8k xal tovtcov oficos
top xardloyov TteTtoiTJjued'a. Vom atl. Kanon des Melito h. e. VI, 26, 12 Ttoielrai xard-
Xoyov, von demjenigen des Origenes h. e. VI, 25, 1 ex&eoiv TteTtoiqrai rov rcav Ieqojv
yoafc5v rfjg Ttcdaiäg Siad'rjxrjg xaraXoyov. Rufin übersetzt de8ignat qui sit canon veteris
testamenti. — Chrysost. de sacerd. IV, 4 rov xaraXoyov tcop d'eicov exßdXXeiv ygatpcor.
Hieron. praef. in Tob. Vallarsi X, 1.
36) S. oben S. 7, deutlicher bei dem ebendort A. 33 citirten Excerptor.
37) Stichom. Niceph. im Titel, Pseudoath. Synopsis GK II, 29. 315. 316 Mitte.
Leontius de sectis act. III, 1 fiixQi ydo rtop Ttod^ecov tc5p a7toor6Xcop y.exavöncnai
84%£od'ai rjfiäe.
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10 § 1. Begriffliches.
das Register eingetragen werden und einzutragen sind, so oft man ein solches
aufstellt oder abschreibt. Sehr bezeichnend ist, daß Zonaras im Kommentar zum
39. Festbrief des Ath. den modernen Ausdruck geradezu dem ursprünglichen
substituirt (Migne 138 col. 564). Bei den Lateinern, welche diesen Unter-
schied nicht deutlich durch Partizipien ausdrücken konnten, tritt er doch zu-
weilen hervor 38 ). Das griech. "Wort hat sofort auch bei den Lateinern Eingang
gefunden, in Mommsens Kanon um 359—365 (GK II, 1008 Z. 1. 38 libri
canonici), sehr häufig bei Priscillian (s. Index von Schepss), Philaster haer. 88,
Rufinus expos. symb. 38, der das "Wort als Übersetzer des Origenes und des
Eusebius sehr oft einträgt; bei Augustin, der noch ein Bewußtsein davon hat,
daß dies ein moderner Sprachgebrauch sei (epist. 82, 3 solis eis scripturarum
libris, qui jam canonici appellantur) u. s. w. Sofort aber bemerkt man den
großen Unterschied , daß diese Lateiner die Bibel selbst canon nennen ").
Sehr bezeichnend ist für die Veränderung des Begriffs die gelegentlich vor-
kommende Übersetzung reguiaris (Orig. lat. in Mt. § 117 = canoixatus § 28
= canonicus § 46). Indem die ursprüngliche Bedeutung von xavcov = regula
bei den Lateinern wieder lebendig wurde, verknüpfte sich mit dem von den
Griechen in sehr anderem und äusserlichem Sinne auf die Bibelverzeichnisse an-
gewandten "Wort der Gedanke, daß die hl. Schrift die oberste, in Sachen des
Glaubens maßgebende Auktorität sei. Dieser Gedanke hat der Kirche niemals
ganz gefehlt; er ist auch den Griechen nicht abhanden gekommen (oben S. 7
A 31). Es war aber doch etwas Neues, daß die Lateiner den eben erst bei
38) Cf einerseits Ambros.(?) explan, symboli bei Caspari, Quell, zur Gesch. des Taufs.
II, 56 apocalypsis Johannis, qui libellus canonizatur, andererseits Pseudochrys. op.
imperf. in Mt. 2, 23 (M.ontf. VI p. XXXIV) alios prophetas, qui non sunt nobis canonizati.
39) So deutlich bei Priscillian: in canone p. 46, 1; 48, 7; 50, 2. 11; 52, 14—17;
53, 5; 55, 19; 56, 20 = in libris canonis p. 50, 18 = in libris canonicis p. 55, 13 =
inter profetas dispositi canonis p. 46, 2; extra canonem p. 44, 11 = extra canonicorum
librorum numerum p. 51, 23. — Hieronymus, dem natürlich der Sprachgebrauch seiner
griechischen Zeitgenossen geläufig war, schreibt doch gelegentlich epist. 71, 5 canonem
Hebraicae veritatis . . . pueris tuis et notariis dedi describendum und versteht darunter
nicht etwa ein Verzeichnis der bei den Juden als heilige Schriften anerkannten Bücher,
sondern den ganzen Text des von ihm aus dem Hebräischen übersetzten AT's. — August,
doctr. christ. II, 8, 3 leitet seine Aufzählung der biblischen Bücher mit den Worten ein:
totus auteni canon scripturarum . . . his libris continetur. Cf Speculum c. 24 (ed.Weihrich
p. 154): caput in canone testamenti novi notissima et praeclarissima quattuor evangelia
tenuerunt. C. Crescon. II, 31, 39: neque enim sine causa tarn salubri vigilantia canon
ecclesiasticus constitutus est, ad quem certi prophetarum et apostolorum libri pertineant,
quos omnino judicare non audeamus, et seeundum quos de ceteris litter is vel fidelium vel
infidelium libere judicemus. Proinde cum apostolus, cuius epistolae in auetoritate canonica
vigent etc. — Specul. praef. p. 1 in scripturis sanetis, id est legithnis, propheticis et
evangelicis et apostolicis, auetoritate canonica praeditis. Augustins Begriff vom Kanon
charakterisirt der unendlich oft von ihm gebrauchte Ausdruck auetoritas canonica, cf
noch de civit. XV, 23, 4; XVII, 20, 1.
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§ 1. Begriffliches^ H
den Griechen aufgekommenen Namen für die Liste der biblischen Bücher, xavwv,
als einen regelmäßigen Namen auf die Bibel selbst als eine abgeschlossene
Sammlung und die maßgebende Autorität übertrugen. Dadurch erst ist der
uns geläufige Begriff geschaffen worden, welcher der griech. Kirche stets fremd
geblieben ist.
Die Vorstellung einer abgeschlossenen Sammlung von Offen-
barungsurkunden ist früher durch (naXaid und naivfy dia&rjKY] ausgedrückt
worden, und die Zugehörigkeit zu dieser seit Origenes durch ivdiddrpiog (de
orat. 14,4; sei. in Psalm. Delarue II, 528), häufig bei Eusebius (h. e. III, 3,
1. 3; 9, 5; 25, 6; V, 8, 1; VI, 14, 1), wofür Epiphanius (de mens. 3. 4. 10)
und manche Spätere (GK II, 971) ivdid&etog gebrauchen. Die Übertragung
des Begriffs diad-rjxi] von der göttlichen Offenbarung und Stiftung auf das Buch
oder die Bücher, worin sie den nachgeborenen Geschlechtern vorliegt, schon im
AT vorgebildet (Ex 24, 7; Dt 9, 9), von Paulus vollzogen (2 Kr 3, 14), ist doch
erst ziemlich spät in der Kirche üblich geworden, zumal in bezug auf das NT.
Sie findet sich noch nicht bei Irenäus, auch noch nicht deutlich bei dem Anti-
montanisten von 194 (bei Eus. h. e. V, 16, 3 t<J) %f$ %ov evayyeUov xaivfjg
öia&rjxrjQ Xöytt)), dagegen mehrmals bei Clemens und in der doppelten Über-
setzung testamentum und instrumentum bei Tertullian, aber selbst bei Origenes
noch gelegentlich mit einem Ausdruck der Entschuldigung wegen der Ungenauig-
keit dieses kirchlichen Sprachgebrauches (GK I, 103 — 113). Man begnügte
sich früher und vielfach auch noch in der späteren Zeit mit unbestimmten Aus-
drücken, wie al ygacpal (seltener f] yQacprj für das Ganze) mit und ohne die
Zusätze Syiai, legal, xtelai, xvQiaxai, oder mit volkstümlich ungenauen Be-
zeichnungen der Hauptteile, wie „Gesetz und Evangelium", „Propheten und
Apostel". Im Verkehr mit Andersgläubigen nannte man dieselben Schriften
auch „unsere Schriften", „unsere Literatur" (GK I, 86). Als solche galt aber
natürlich nicht alles , was Christen geschrieben hatten oder gar was Christen
lasen, sondern die der christlichen Gemeinde als solcher gehörige und ihr im
Unterschied von anderen Kreisen eigentümliche Literatur. So meinte es der
Gnostiker Valentin (Clem. ström. VI, 52), wenn er %a yeyQa^iiva iv ttj
ixxlrjoiq tou d-eov in Gegensatz zu %a yeyQafii^ieva iv xalg drjf.tooiaig ßlßloig
stellte (GK II, 953 ff.). So die Aloger, wenn sie erklärten, die Schriften des
Johannes seien „nicht wert, in der Kirche zu sein". So Origenes, wenn er die
in der Kirche als heilige Schriften geltenden Bücher oft %a cpsgöfieva iv Talg
ixxhrjoiaig oder iv rcdoj] ixxXrjolq zu nennen pflegt (epist. ad. Arist. 1. 2. 4.
11; in Matth, tom. XIV, 21 [falsche LA iv tj) hxl.]; c. Cels. V, 54). Die
Voraussetzung der Betrachtung gewi8ser Schriften als einer besonderen Klasse
sowohl heiliger wie der christlichen Kirche gehöriger Schriften bildet der kirch-
liche, genauer der gottesdienstliche Gebrauch. Die Kirche als solche
besitzt nur diejenigen Schriften, und in der Kirche in vollem Sinne befinden sich
nur diejenigen, welche im Gottesdienst gelesen und der Erbauung und Belehrung
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12 § 1. Begriffliches.
der Gemeinden zu Grunde gelegt werden. Cf Can. Mur. 1. 66 sagt von ge-
fälschten Briefen des Paulus und anderen Pseudepigraphen : quae in ecclesiam
catholicam recipi non potest , 1. 68 f. epistola Judae et . . . in catholica (sc.
ecclesia) habentur, 1. 72 von einer Schrift des Petrus quam quidam ex nostris
legi in ecclesia nolunt, 1. 77 f. vom Hirten se publicare . . . in ecclesia populo
neque inter prophetas completos numero neqiie inter apostolos in finem temporum
potest Die regelmäßige gottesdienstliche Lesung, welche bei Origenes, Eusebius
u. a. häufig dtjiiooievsodm (seltener örj^isvea&ai) ev exxlrjoicug heißt (GK I,
128. 131; II, 111 — 114) war das wesentliche Merkmal der als heilige Schriften
zu betrachtenden Bücher. Die Rezeption eines Buchs in die Kirche ist allemal
eine Rezeption in den Kreis der gottesdienstlichen Lesebücher und damit der
hl. Schriften (Orig. prol. in cant. Delar. III, 36 legenda suscipere). Dies be-
stätigt der ursprüngliche Gebrauch von dvtöxQvcpog im Gegensatz zu ivdidd'rjKOQ
und seinen älteren und jüngeren Äquivalenten. Dieser von den Juden über-
nommene Begriff (hebr. rtf-l, griech. zuweilen auch &itÖQQrjTog Orig. ad. Afr. 12,
oppos. QTjrög z. B. Epiph. de mens. 3, 11; 4, 14; lat. libri secreti, oppos.
manifesti, vulgati , publici) bezeichnet ursprünglich nur den Ausschluß eines
Buchs von der gottesdienstlichen Lesung, ohne daß damit ein abschätziges Urteil
über den Ursprung oder den religiösen Charakter des Buchs ausgesprochen
wäre 40 ). Diesen namentlich bei Origenes noch ganz rein erhaltenen Begriff
darf man sich dadurch nicht verdunkeln lassen, daß schon vor Origenes ein
Irenäus oder Tertullian über einzelne apokryphe Schriften, hauptsächlich wegen
des mit denselben getriebenen Mißbrauchs, ungünstig geurteilt haben. Einem
Tertullian ist der Hirt eben damit apokryph, daß er von katholischen wie mon-
tanistischen Versammlungen unwert geachtet worden ist, „in die göttliche Ur-
kunde eingetragen zu werden" (pud. 10. 20). Der durch den Gegensatz des
Apokryphen ausgedrückte Begriff entbehrt freilich der vollen Bestimmtheit; denn
erstens waren die Bücher, welche zur Lesung im Gottesdienst zugelassen
wurden, nicht in der ganzen Christenheit, die seit dem Anfang des 2. Jahr-
hunderts sich „die katholische Kirche" nannte 41 ), schlechthin dieselben. Ins-
besondere in bezug auf das NT bestanden bis über das 4. Jahrhundert hinaus
bedeutende Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern. Zweitens
schwankte innerhalb der einzelnen Orts- und Provinzialkirchen zeitweilig und bis
in spätere Zeiten das Urteil # über Aufnahme oder Ausschluß mehr als einer
Schrift. Drittens ermangelte der Begriff der regelmäßigen gottesdienstlichen
Lesung selbst der völligen Bestimmtheit. Es wurden kirchliche Sendschreiben,
wie der erste Clemensbrief und ein Brief des römischen Bischofs Soter in
Korinth mehr als einmal am Sonntag der versammelten Gemeinde vorgelesen 42 );
40) Dan 12, 4. 9; 4 Esra 12, 36—38; 14, 18-48 cf. GK I, 123-142; II, 325.
41) Ign. Smyrn. 8, 2; mart. Polyc. inscr.
42) Dionysius von Korinth um 160 bei Eus. h. e. IV, 23, 11.
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§ 1. Begriffliches. 13
ebenso an vielen Orten die Berichte über die Leiden nnd Siege der Märtyrer
an ihren Todestagen u. dgl. Auch unter den aus der Apostelzeit vererbten
Schriften müssen je nach ihrer Zweckmäßigkeit für die Erbauung Unterschiede
in bezug auf die Häufigkeit oder Regelmäßigkeit ihres gottesdienstlichen Gebrauchs
bestanden haben. Ohne diese Anlässe zur Unsicherheit der Grenzen der Bibel
gäbe es keine Geschichte des Kanons. Aber trotz aller Unbestimmtheit der
Begriffe und aller dadurch bedingten Schwankungen und Entwicklungen hat
man während aller der Jahrhunderte, in welchen der Kanon eine Entwicklungs-
geschichte gehabt hat, an der Identität des Kreises der kanonischen und des
Kreises der gottesdienstlichen Lesebücher festgehalten. "Wenn * Augustin die
Kanonicität der "Weisheit Salomos verteidigt (de praed. sanct. 27 ; GK II, 257),
und wenn Theodor Mops, die Kanonicität des Hohenliedes bestreitet (Mansi,
Coli. conc. IX, 227), so gilt beiden als entscheidendes Argument die nach-
weisliche lectio publica oder deren Gegenteil. Die Versuche, zwischen kanonischen
Schriften und kirchlichen Lesebüchern zu unterscheiden, blieben ohne nachhaltige
"Wirkung und hinderten nicht, daß nach wie vor iycxlrjaia^6f.i€Vog (in der Ver-
sammlung vorgelesen) und eKxhqOMXGTixög bis ins Mittelalter hinein völlig gleich-
bedeutend mit xavovixÖQ gebraucht wurde. Der Hauptunterschied zwischen der
Zeit vor und der Zeit nach 330 — 350 besteht darin, daß vor dieser Epoche die
Frage, welche Schriften als hl. Schriften zu betrachten oder zur diaOrjxrj zu
rechnen seien, im wesentlichen darnach beantwortet wurde, welche Schriften von
altersher im Gottesdienst gelesen wurden, und daß hingegen nach dieser Epoche,
seit man anfing, amtliche Listen der hl. Schriften aufzustellen, um allen Schwankungen
und Ungleichheiten ein Ende zu machen, gleichzeitig verordnet wurde, daß nur
diese Schriften zur gottesdienstlichen Lesung zugelassen und als Beweismittel in
dogmatischen Erörterungen verwendet werden sollen.
Fragt man aber, worauf die Kirche sowohl vor den kirchenamtlichen
Satzungen aus der Zeit von 350 an, als bei Aufstellung dieser Satzungen den
gottesdienstlichen Gebrauch der betreffenden Schriften, auf welchem ihre Schätzung
als hl. Schrift beruht, zurückführte, so begegnet uns überall die Antwort: diese
und nur diese Schriften seien der Kirche zu solchem Gebrauch übergeben worden
z. B. bei Clemens (ström. III, 93 iv voig 7tagaöeÖ0f.i^V0Lg fj/tlv %i%xctqoiV
eöayyskloig im Gegensatz zum Ägypterev.), Serapion von Antiochien (Eus. h. e.
VI, 12, 3 von Pseudepigraphen TOiavxa oi 7taQeXdßo(.iev)j Origenes (hom. in
Luc. GK II, 625; über den Hebr. als kanonisch und paulinisch bei Eus. VI,
25, 13), Eusebius (h. e. III, 3, 2; 37, 2), Cyrill (catech. IV, 35), Athanasius
(39. Festbr. GK II, 210), Bufin (expos. symb. 36 f. mehrmals „ecclesiis traditi").
Eine geschichtliche Kunde darüber, wer diese Bücher den Gemeinden als hl.
Schriften übergeben und sie in den gottesdienstlichen Gebrauch eingeführt habe,
besaß die altkatholische Kirche, soweit unsere Kenntnis ihrer Literatur reicht,
nicht. "Wenn wirklich im Kanon des Muratori die Kanonisirung der Privat-
briefe des Paulus durch sanctificatae sunt ausgedrückt ist, so ist der Mangel jeder
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14 § 1. Begriffliches.
Andeutung über das Subjekt und die näheren Umstände dieser Handlung ein
beredtes Zeugnis dafür, daß um 200 eine geschichtliche Erinnerung daran nicht
mehr vorhanden war. Indem Irenäus voraussetzt, daß die Evangelisten ihre
Bücher geschrieben haben, um der Gemeinde damit zu dienen, gilt ihm die Ab-
fassung der Evv selbst als ein trauere des Ev an die Kirche seitens der Apostel
(I, 27, 2; III, 1, 1 besonders von Marcus cf Eus. h. e. II, 15, 2; Iren. IUj
11, 9; IV, 34, 1). Als ebenso selbstverständlich galt, daß die Briefe der
Apostel und die Apokalypse zum Zweck nicht nur einmaliger Lesung und nicht
nur für die in den Überschriften genannten Einzelgemeinden geschrieben worden
seien. Von den Schriften des AT's war ohnehin kaum etwas anderes zu denken,
als daß sie von den Aposteln den von ihnen gestifteten Gemeinden sofort „über-
geben" und zum fleißigen Gebrauch empfohlen worden seien (cf Just. apol. I,
49). Es war daher nichts Neues, wenn Athanasius die ganze Feststellung des
Kanons der beiden Testamente als ein Werk der „Autopten und Diener des
Worts von Anfang" (Lc 1, 2), also der Apostel betrachtete, welche diese
Schriften „den Vätern übergeben haben" (GK II, 210). Vorsichtiger hatte
Origenes von den Männern der Urzeit gesprochen (bei Eus. VI, 25, 12 ol
&Q%alot ävögeg, was Severianus durch ol Ttalaiol tlov l7tiGxÖ7tcov wiedergibt
Cramer, Cat. VII, 115) oder von den Vätern, welche die Grenzen der hl.
Schriften für ewige Zeiten gezogen haben (ad Afric. c. 5) ; Cyrillus von den
Aposteln und den Bischöfen der Anfangszeit, welche diese und nur diese
Schriften (den Gemeinden) übergeben haben (catech. IV, 35), und Philaster von
den Aposteln und ihren Nachfolgern, welche sogar das Verbot erlassen haben
sollen, andere als die kanonischen Schriften in der katholischen Kirche zu lesen
(haer. 88).
§ 2. Das Neue Testament um 170—220.
Da uns keine Nachrichten über die Entstehung des NT's zu Gebote stehen,
so sind wir darauf angewiesen, von einem in hellerem Licht stehenden Punkt
der Entwicklung aus rückwärts schreitend, unter sorgfältiger Berücksichtigung
der einschlagenden Tatsachen, welche uns auf diesem Wege aufstoßen, dem Ur-
sprung näher zu kommen. Einen solchen Ausgangspunkt bietet uns die angegebene
Periode. Schon zu Anfang derselben war der Kampf mit den häretischen
Richtungen so weit entschieden, daß die Sekte Marcions und die Schulen der
Gnostiker, unter welchen die des Valentinus die bedeutendste war, von der
Kirche ausgeschieden waren. Die 156 begonnene montanistische Bewegung war
noch in vollem Gang und wirkte während dieser Periode anregend nicht sowohl
auf den Bestand des NT's, als auf die Würdigung seines spezifischen Wertes.
Die Kirche hatte ein NT, wenn auch diese Bezeichnung erst im Verlauf der
Periode allgemein üblich wurde. Gerade gegenüber der Behauptung der Mon-
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§ 2. Das Neue Testament um 170—220. 15
tanisten, daß mit dem Auftreten der phrygischen Propheten eine neue Epoche
der Offenbarung eingetreten sei, welche mit der durch Christus und die Apostel
erfolgten Offenbarung ebenbürtig sei, ja über diese hinausführe und wert sei,
gleich dieser in schriftlicher Form der Gemeinde als Licht und Recht auf dem
Wege ihrer weiteren Entwicklung dargeboten und erhalten zu werden, steigerte
sich in der Kirche das Bewußtsein, daß die Zeit der endgiltigen Offenbarung mit
dem Tode des letzten Apostels ihr Ende erreicht habe und somit auch der Kreis
der Offenbarungsurkunden mit den letzten aus der Apostelzeit ererbten und im
Gemeindegottesdienst gelesenen Schriften abgeschlossen sei (GK II, 4 — 22.
111 — 117; II, 75; Forsch V, 16 f.). Im Gegensatz zum Montanismus wie zu
den Häretikern betrachtete man nicht selten Ap 22, 18 f. als den unüberschreit-
baren Grenzstein der kirchlichen Bibel *). Und doch fehlte viel daran , daß
die Bibel, insbesondere das NT, damals eine festbegrenzte Größe gewesen wäre.
Der C. Mur. 6. 79 f. sagt deutlich genug, daß „die Apostel" nicht ebenso wie
,,die Propheten" in bezug auf die Zahl abgeschlossen seien; er berichtet von
Meinungsverschiedenheiten, welche unter den Katholiken über eine Schrift unter
dem Namen des Petrus bestanden, und weist auf Verhandlungen über den Hirten
hin, wobei es sich fragte, ob er gleich den Propheten und Aposteln zur Lesung
im Gottesdienst zugelassen werden sollte. Vollends eine Vergleichung des Be-
standes in den verschiedenen Teilen der Kirche würde noch andere beträchtliche
Verschiedenheiten ans Licht gezogen haben. Aber trotz des lebhaften Verkehrs
unter den Kirchen hat man sich damals auf derartige Vergleichungen kaum
eingelassen. Im Gegensatz zu Marcion und Montanus überwog das Gefühl des
gemeinsamen, unantastbaren Besitzes der katholischen Kirche an hl. Schriften,
und selbst der Montanist bezeichnete die kirchliche Bibel beider Testamente im
Unterschied von den Offenbarungen der neuen Propheten als „communia instru-
menta scripturarum pristinarum" (Tert. monog. 4). Es gab in der Tat einen
überall zu findenden eisernen Bestand, in Vergleich mit welchem die mehr oder
weniger fraglichen Bestandteile der Sammlung wenig ins Gewicht fielen. Bei
dem folgenden Nachweis im einzelnen wird zunächst abgesehen von der syrischen
Kirche von Edessa, sowie von der bereits zur Sekte gewordenen judenchristlichen
Kirche und den übrigen Sekten.
1. Die 4 Ew. Im Gegensatz zu dem selbstgeschaffenen Ev, welches
Marcion seiner Gemeinde gegeben hatte, zu dem evangelium vcritatis, welches
die Valentinianer neben den 4 Evv der Kirche gebrauchten, zu der Verwerfung
des joh. Ev seitens der Aloger, sowie zu dem ausschließlichen Gebrauch des
Mt oder des Mr bei anderen Parteien betont Irenäus, daß der Logos, der die
Welt gebildet, der Kirche das Ev in einer vierfachen Gestalt gegeben habe
(III, 11, 8 eöcüKsv fyilv T€TQ(xfiOQ(pov to evayyehov)j welche zu verletzen eine
1) Der Antimontanist vom J. 194 bei Eus. V, 16, 13; Iren. IV, 33, 8; V, 30, 1;
Tertull. c. Hermog. 22; GK I, 113 A 2; S. 115 A 1.
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16 § 2. Das Neue Testament um 170—220.
Sünde gegen Gottes Offenbarung und Geist sei. Die Einheit und die aus-
schließliche Geltung der Ew des Mt, Mr, Lc, Jo fand schon damals ihren
Ausdruck darin, daß diese 4 Bücher als das eine und einzige Ev (tb eu.)
bezeichnet und, wo das Bedürfnis obwaltete, für Einzelnes den Zeugen namhaft
zu machen, die Verfasser der 4 Teile des kirchlichen Ev in der Form xarä
Mar&aiov, Mccqkov ktX. angeführt zu werden pflegten 2 ). Wie wenig andere
Ew für den kirchlichen Gottesdienst jener Zeit in Betracht kamen, beweist das
völlige Schweigen über solche bei Tertullian und im C. Mur., dessen Vf. es
doch gleichzeitig nötig fand, zwei unechte Briefe des Paulus abzulehnen und die
Meinungsverschiedenheiten in bezug auf andere Schriften zu erwähnen. Auch
Clemens, welcher sich gegen die verschiedenartigsten außerbiblischen und außer-
kirchlichen Schriften und Überlieferungen äußerst weitherzig zeigt, unterscheidet
doch, wo es auf die einer Schrift zukommende Beweiskraft ankommt, scharf
„die uns (d. h. der Kirche) übergebenen 4 Ew" von solchen Büchern wie das
Ev der Ägypter (ström. III, 93). Wo er von der Entstehung der Ew handelt,
berücksichtigt er nur die vier (bei Eus. h. e. VI, 14, 4), und er führt ev Texte,
welche von den kirchlichen abweichen, auf Leute zurück, welche ,,die Ew
umsetzen" (ström. IV, 41). Um diese Zeit und schon zu derjenigen des
Irenäus fehlte jede Erinnerung daran, daß jemals in der Kirche d, h. im Gottes-
dienst derselben ein anderes Ev außer den vieren gebraucht worden sei, oder
daß eines dieser Ew eine Zeit lang um seinen Platz unter den kirchlichen Lese-
büchern zu kämpfen gehabt habe. Vom joh. Evangelium leugneten auch seine
entschlossenen Gegner, die sogenannten Aloger um 170, nicht, daß es zu Leb-
zeiten des Apostels Joh. entstanden und seitdem „in der Kirche' 1 sei. Als
Tatian um 170 — 180 für seine syrischen Landsleute das Diatessaron verfaßte,
sprach er schon durch diesen Titel aus, daß für die Herstellung eines kirchlichen
Evangelienbuches selbstverständlich keine anderen Quellen als diese 4 Ew in
Betracht zu ziehen seien. Die Regel wird nur bestätigt durch die scheinbare
Ausnahme , welche Serapion von Antiochien um 200 machte *), indem er
gewissen Leuten in der zu seinem Sprengel gehörigen Gemeinde von Bhosus
gestattete, ein nach Petrus genanntes Ev zu lesen. Er tat dies, wie er selbst
sagt, ohne das Buch durchgelesen zu haben, und im Vertrauen auf die Recht-
gläubigkeit der Leute, welche wegen ihrer Benutzung dieses Ev Verdrießlich-
2) Häufig bei Irenaeus, Clemens, C. Mur., Origenes, Cyprian u. s. w., selten bei
Hippolyt (z. B. refut. haer. VII, 30), niemals bei Tertullian ; auch von den Syrern nicht
nachgebildet, während bei den Lateinern bis um 400 Formen wie cata Lucan die
Herkunft aus dem griechischen Original bezeugen. Über die falsche Deutung des
Manichäers Faustus (August, c. Faust. XXXII, 2) und vieler Moderner, wonach Matthaeus,
Marcus etc. hiedurch nicht als Vf der Ew, sondern als die im Hintergrund stehenden
Auktoritäten bezeichnet sein sollten s. Einl. II 2 , 173 f. 179, übrigens auch GK I, 164 ff.
3) Eus. h. e. VI, 12, 2-6; GK L 177 f.; II, 742—751; Zahn, Das Petrusev.
S. 2-5.
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§ 2. Das Neue Testament um 170—220. 17
keiten in der Gemeinde gehabt und an das Urteil des Bischofs appellirt hatten.
Nachdem Serapion aber erfahren hatte, daß jene Leute heimliche Häretiker
seien, wußte er sich von einer Sekte in Antiochien, den sogenannten Doketen,
das Buch zu verschaffen, studirte dasselbe und schrieb, nachdem er dessen
heterodoxen Charakter erkannt hatte, in diesem Sinne an die G-emeinde zu
Rhosus, seine frühere Nachsicht entschuldigend und seinen erneuten Besuch
ankündigend. Selbst wenn mit dem "Wortlaut seines Briefs die Auffassung ver-
träglich wäre, wonach Serapion vorübergehend Lesung des Petrusev's im
Gemeindegottesdienst zu Rhosus gestattet hätte, würde klar sein, daß dies eine
Abweichung von der allgemeinen Gewohnheit gewesen wäre. Der Bischof der
Metropole kannte das Buch gar nicht; nur bei einer häretischen Sekte konnte
er ein Exemplar auftreiben, und sofort widerrief er sein anfängliches Urteil. In
der Tat hatte er aber nur den Grundsatz angewandt, den auch Clemens, Origenes,
der Verfasser der Didaskalia u. a., ja selbst Irenäus (in bezug auf mündliche
Erzählungen der Apostel schul er und das "Werk des Papias) befolgt haben und
den man später förmlich aussprach (Philaster haer. 88), daß auch apokryphe,
pseudepigraphe und sogar häretische Schriften, welche den Anspruch erheben,
von Propheten und Aposteln herzurühren, von den „Vollkommenen" ohne
Schaden, ja sogar mit Nutzen gelesen werden können. Die Kirche gehen sie
nichts an; von deren Gottesdienst bleiben sie ausgeschlossen. Soweit das Ge*
dächtnis der Lehrer um 170 — 220 zurückreichte, war von jeher wahr gewesen,
was Origenes sagte: „Die Kirche Gottes billigt nur die 4 Evv u (hom. 1 in Luc,
griechisch GK II, 627).
2. Die Briefe des Paulus und der Hebräerbrief. Überall
recipirt waren 13 derselben. "Wenn in C. Murat. 1. 60 — 63 die Reception der
4 Privatbriefe ausdrücklich gerechtfertigt wird, so scheint das weniger durch
Erinnerung an eine spätere Einführung derselben in den Gottesdienst veranlaßt
zu sein, als durch den eigenen Gedankengang des Verfassers, wonach die an
7 Gemeinden gerichteten Briefe des Paulus ebenso wie die 7 Briefe in Ap 1 — 3
von vornherein für die durch die symbolische Zahl repräsentirte Gesamtkirche
berechnet waren. Die in dieses Schema nicht passenden Privatbriefe bedurften
eben darum einer besonderen Rechtfertigung. Ob für die dort abgewiesenen
Briefe an die Laodicener und Alexandriner (1. 63 — 68) damals von irgend
jemand ernstlich der Anspruch der Reception erhoben wurde, wissen wir nicht.
Dagegen bestand zwischen großen Abteilungen der katholischen Kirche eine
Verschiedenheit in bezug auf den Hebräerbrief 4 ). Die Kirche von Alexandrien
hat ihn von jeher als ein echtes "Werk des Paulus in Verbindung mit den übrigen
Briefen desselben gelesen, und die Beobachtung seiner stilistischen Verschieden-
heit hat dort zunächst nur Hypothesen über einen etwaigen Übersetzer des
angeblich hebräisch geschriebenen Briefs hervorgerufen. Nachdem aber Origenes
4) GK I, 283-302; Einl H 2 , 111 ff.; Prot. JREnc. VII 8 , 492-506.
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neu testamentlichen Kanons.
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18 § 2. Das Neue Testament um 170-220.
mit Hilfe der Annahme, daß Paulus die Ausarbeitung einem Schüler überlassen
habe, die Tradition seiner Heimatkirche verteidigt hatte, blieb diese dort unan-
gefochten und verbreitete sich von Alexandrien aus im ganzen Orient. Dagegen
gehörte er bis über die Mitte des 4. Jahrhunderts hinaus nicht zum NT der
katholischen Kirche des Abendlandes. Das völlige Schweigen des C. Murat. und
der Afrikaner von Cyprian bis zu Optatus und zum Mommsenschen Kanon wird
durch das Zeugnis des Cajus von Born (Eus. VI, 20), des Eusebius (h. e. III, 3, 5)
u. a. bestätigt. Schon darum können Irenäus und Hippolytus, die ihn mit Hoch-
achtung gelesen, aber dem Paulus abgesprochen haben, nicht als Zeugen dafür
gelten, daß er zum NT der Kirchen von Lyon und Rom gehört habe. Daß er
auch in Karthago um 220 weder als kanonisch noch als paulinisch galt, bezeugt
Tertullian gerade durch die Art, wie er seine Berufung auf denselben an die
vorangehenden Schriftbeweise anschließt (pud. 20). Wenn er ihn aber ohne jede
Andeutung von Unsicherheit als „Barnabae titulus ad Hebraeos" citirt und weiter
im Vergleich mit dem Hirten über ihn schreibt : „receptior apud ecclesias epistola
Barnabae", so gibt er eine Tradition wieder, welche weder die alexandrinische,
noch diejenige der katholischen Kirche von Afrika und Rom war. Man wußte
längst, daß dieselbe Stelle Hb 6, 4 — 8, auf welche der Montanist Tertullian
sich dort beruft, von den Novatianern in gleichem Interesse stark verwertet
worden ist (Epiph. haer. 59, 2; Philaster haer. 89 ; Ambros. de poenit. II, 2).
Neuerdings aber sind diese Tatsachen in ihrem Zusammenhang deutlicher geworden.
In den kürzlich ans Licht gekommenen Tractatus Origenis, deren Abfassung
durch Novatian von äußerster "Wahrscheinlichkeit ist, wird Hb 13, 15 ohne
Umschweife als ein Wort des sanctissimus Barnabas mitten unter Sprüchen aus
Paulus citirt 5 ). Nicht in der katholischen Kirche Borns oder Karthagos,
sondern in den montanistischen und sodann in den novatianischen Gemeinden
war der Hb und zwar als ein Werk des Barnabas recipirt. Ob auch in katho-
lischen Gemeinden Kleinasiens, der Heimat des Montanismus, bleibt ungewiß.
3. Von der Apostelgeschichte (GK I, 192 — 197) ist nur zu sagen,
daß sie überall unter dem Titel 7tqd^eig {acta, später meist actus) twv &7to(n6ku)V
als ein Werk des Evangelisten Lucas anerkannt war, und daß ihre Zugehörigkeit
zum NT nicht nur durch reichliche Benutzung zum Schriftbeweis bei Irenäus,
Tertullian u. a., sowie durch ihre Stellung zwischen Evv und Paulusbriefen im
C. Murat. bezeugt ist, sondern auch durch die ausdrückliche Büge gegen Marcion,
daß dieser sie verworfen, d. h. nicht in sein NT aufgenommen habe 6 ).
4. Die Apokalypse hat aus allen Teilen der Kirche jener Epoche die
5) Tractatus Origenis de libris ss. scripturarum ed. Batiffol (Paris 1900) p. 108.
Die Verhandlungen über die Herkunft dieser Predigten sind noch nicht abgeschlossen.
Für Novatian als Vf traten ein Weyman, Arch. für lat Lexikogr. XI, 467. 545 — 578;
Haußleiter, Th. Ltrtrbl. 1900 Nr. 14—16; Zahn, N. kirchl. Ztschr. 1900 S. 348—360.
6) Tert. c. Marc. V, 2; praescr. 22; Pseudotert. haer. 16; Adamantii dial. c. Marc.
H, 12 (Beri. Ausg. p. 80), indirekt auch kraft des Zusammenhangs Iren. IH, 12, 12;
14, 1; 15, 1.
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§ 2. Das Neue Testament um 170—220. 19
stärksten Beweise ihrer Anerkennung für sich aufzuweisen. Theophilus von
Antiochien (gest. bald nach 180) und die Gemeinde von Lyon im Jahre 177
citiren sie als heilige Schrift (Eus. h. e. VI, 24, 1 ; V, 1, 58). Irenäus, welcher
die Anfechtung des 4. Ev durch die Aloger scharf verurteilt (III, 11, 9), und
der C. Mur., welch«* deren Polemik gegen dieses und die Briefe des Joh. zu
berücksichtigen scheint (1. 16 — 34) , halten die Ap einer Rechtfertigung nach
dieser Seite hin nicht für bedürftig. Irenäus (V, 30, 2), Tertullian (fuga 1. 7 ;
pud. 20) und Clemens (paed. II, 108) citiren sie gelegentlich als „die Apoka-
lypse" schlechthin, obwohl es mehrere andere Schriften dieses Titels gab, von
welchen Clemens eine sogar kommentirt hat (Eus. VI, 14, 1). Im Gegensatz
zu der besonderen Hochschätzung der Ap bei den Montanisten haben die Aloger
unter den joh. Schriften , die sie sämtlich für Werke Kerinths erklärten , die
Ap in verächtlichstem Tone kritisirt. Aus dem gleichen Gegensatz ist es zu
erklären, daß der Bömer Cajus (vor 217) nur diesen Teil der Kritik der Aloger
sich aneignete (Eus. III, 28). Hippolyt, der schon früher gegen die Aloger
eine Apologie für das 4. Ev und die Ap verfaßt hatte, suchte nun in einer be-
sonderen Schrift gegen Cajus dessen Kritik der Ap zu widerlegen 7 ). Keine
größere Abteilung der katholischen Kirche hat sich damals in ihrer Hoch-
schätzung der Ap irre machen lassen. Der Anspruch des Buchs, auf unmittel-
barer Offenbarung zu beruhen und für alle Gemeinden bestimmt zu sein, sowie
die alte Überlieferung, daß es erst um 95 geschrieben sei, begünstigte die Be-
trachtung dieses Buchs als des Schlußsteins des NT's (oben S. 15 A 1).
5. Die „katholischen Briefe". Die Stellung der 7 Briefe, welche
wir seit Anfang des 4. Jahrhunderts unter diesem Namen als integrirenden Be-
standteil des NT's genannt 8 ) und schließlich mit Ausschluß anderer Schriften
verwandter Art überall anerkannt finden, war um 200 eine sehr verschieden-
artige. Dem ersten Brief des Johannes, der überall recipirt war, müssen
von vornherein die beiden kleineren Briefe gleichen Titels angehängt gewesen
sein, wenn ihre Geschichte in der Kirche und selbst ihre Erhaltung begreiflich
sein soll. Gleiche Behandlung mit dem ersten erfährt der zweite direkt und
indirekt bei Irenäus (I, 16, 3; III, 15, 8) und Clemens (ström. II, 66; hypot.
Forsch HI, 92). Daß uns von der Auslegung des 3. Briefs in den Hypoty-
posen des Clemens, d. h. in der lateinischen Übersetzung eines Bruchstücks der-
selben, nichts erhalten ist, kann das Zeugnis der Griechen, welche das ganze
Werk in Händen hatten, des Eusebius und des Photius, daß Clemens sämtliche
7) Über die Aloger und Cajus GK I, 220—262; II, 47. 967-991, 1020 ff.
8) Eus. h. e. II, 23, 25 'Idxcoßov, ov rj itQanr\ rcäv ovojua^ofiivcov xad'oXixwv Itiujxo-
Xcov elvai Xiyerai • lariov Se tos rofreverai fiev — ov noXXol yovv rc5v TtaXatcöv avrrjs
kfivriftovevoav, cos ovSh rrji Xeyofiivrjs 'lovSa, piiäe xal avrrjg ovoqg tcjv krctd Xeyofiivcav
xa&oXixcov — ö/ucos Se Itopev xal ravras /Lierd tcov Xoitzcöv Iv TtXeiorais SeSr\fioovevfieva<i
ixxXrjoiais. VI. 14, 1 ttjv 3 IovSa Xeyeo xal ras XoiTtdg xafroXixdg smoroXas. Cyrill. cat.
IV, 36; der echte Euthalius bei Zacagni p. 405. 409.
2*
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20 § 2. Das Neue Testament um 170—220.
katholische Briefe darin behandelt habe, nicht entkräften fl ). Die Zweifel, welche
der unbedingten Anerkennung von 2 und 3 Jo in manchen Teilen der Kirche
mehr oder weniger lange im "Wege standen, "betrafen nach Origenes (bei Eus.
VI, 25, 10) und dem Mommsenschen Kanon (6K II, 145), sowie nach dem
Bestand der Peschittha und des griechischen NT's von Antiochien im 4. Jahr-
hundert überall und stets diese beiden Briefe in gleichem Maße. Es ist auch
überwiegend wahrscheinlich, daß der C. Mur. 1. 69 die beiden kleineren Briefe
als recipirt bezeichnet, dies jedoch nicht, ohne anzudeuten, daß ihre Abfassung
durch den Apostel Jo allerdings nur durch die in der Kirche übliche äußere
Titelüberschrift verbürgt sei. Wo man nicht wußte, daß der Apostel Jo im
Kreise seiner Schüler 6 TtqeaßvTBqoq genannt worden war, konnten Bedenken
gegen seine Autorschaft die Stellung der Briefe des Presbyters im NT um so
leichter erschüttern, als sie schon wegen ihres geringen Umfangs nur selten an
der öffentlichen Lesung teilnehmen konnten, und auch selten Gelegenheit war,
sie zu citiren. — Ahnlich verhält es sich mit dem Brief des Judas. "Während
er von Clemens als ein „katholischer Brief" kommentirt (Forsch III, 83, 10),
von C. Mur. 1. 68 als in der katholischen Kirche recipirt bezeichnet, von Ter-
tullian (de cuitu fem. I, 3) als beweiskräftige Schrift eines Apostels citirt worden
ist, deutet Origenes, der ihn sonst unbedenklich citirt, einmal an, daß er nicht
allgemein anerkannt werde (tom. XVII, 30 in Matth.). Er war im 4. Jahr-
hundert ein Antilegomenon (Eus. III, 25, 3; VI, 13, 6; 14, 1), wurde unter
anderem auch wegen seiner Benutzung jüdischer Apokryphen von manchen für
unecht erklärt und verworfen (Hieron. v. ill. 4 cf Eus II, 23, 25) und nicht
nur von den Antiochenern und Syrern, sondern auch von Afrikanern um 360
(C. Momms. GK II, 144 f.) stillschweigend ausgeschlossen. Er hat also seine
Anfängliche Kanonicität später in weiten Kreisen wieder eingebüßt. — Der
Brief des Jakobus, welcher sehr früh im Abendlande gelesen worden ist
und wahrscheinlich dem Irenäus, vielleicht auch dem Hippolytus bekannt war 10 ),
hat doch bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts in keiner abendländischen Kirche
zum NT gehört. Das völlige Schweigen des C. Murat. und des C. Momms.
über ihn wird durch das negative Zeugnis der lateinischen Schriftsteller der-
selben Zeiten bestätigt. Dagegen scheint der Jk bei den Griechen des Ostens
9) Forsch III, 10—15. 64—93. 130—156; GK I, 322. 349 A 2. Die Angabe des
Eusebius h. e. VI, 14, 1 macht Anspruch auf Genauigkeit; diejenige des Photius (bibl.
cod. 109) ist jedenfalls von Eusebius unabhängig und beruht auf eigener, wenn auch
unvollständiger Lesung. Cassiodor ließ nur das Bruchstück, welches er vorfand, über-
setzen, nämlich eine Auslegung von 1 Pt, Jud (nach Cassiodor's unrichtiger Angabe:
Jk) 1 Jo, 2 Jo; aber der Titel der ältesten Hs (Forsch III, 79) bezeichnet dieses Stück
auch nicht als des Clemens Auslegung der katholischen Briefe, sondern als ein Bruch-
stück aus des Clemens Werk mit dem Titel „Hypotyposen".
10) GK 1, 323—325. 962; Einl I 2 , 92. 97 ff.; Bonwetsch, Stud. zu den Komm.
Hippolyt's S. 26.
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§ 2. Das Neue Testameut um 170—220. 21
zu den am allgemeinsten anerkannten Schriften gehört zu haben. Daß Clemens
ihn kommentirt hat, ergibt sich nicht nur aus dem allgemein lautenden Zeugnis
des Eusebius und des Photius (s. vorhin S. 20), sondern auch durch Kombi-
nation der vorhandenen Fragmente der Hypotyposen (Forsch III, 150 f.; VI,
257. 271 ; GK. I, 322. 349). Obwohl Origenes einmal ihn als Antilegomenon
charakterisirt (s. unten § 5), steht er im C. Ciarom. 1. 65 noch vor dem 1 Jo,
und er würde in der später abgeschlossenen Hebdomas der katholischen Briefe,
sowie bei denjenigen Griechen und Syrern, welche nur 3 katholische Briefe an-
erkannten, nicht regelmäßig die erste Stelle einnehmen X1 ), wenn sein Ansehen
nicht im griechischen Orient ein besonders gesichertes gewesen wäre. Beach-
tenswert sind die Citate bei Methodius 12 ). "Wenn der Jk noch um 325 von manchen
für unecht erklärt (Eus. II, 23, 25) und daher von Eusebius unter die Anti-
legomena gerechnet wurde (III, 25, 3), so kann sich dies ebenso wie die gleich-
bedeutende Bemerkung des Origenes nur auf die damals noch andauernde Ab-
lehnung seitens der Lateiner und der Syrer beziehen. — Die allgemeine An-
erkennung des ersten Petrusbriefes um 200 ist durch Irenäus, die Epist.
Lugd. von 177, Clemens, dessen Auslegung wir noch besitzen, Tertullian, Hippo-
lytus u. a. (GK I, 303 — 306), sowie durch den Gebrauch im 3. Jahrhundert
(Cyprian und seine Zeitgenossen; Origenes bei Eus. VI, 25, 8 (.uav £7UOTolt]V
Of.tokoyovi.ievrjv) verbürgt. Es würde C. Mur, eine unerklärliche Ausnahme
machen, wenn er ihn gar nicht erwähnt hätte. Es ist daher wahrschein-
lich an der Stelle, wo von einer Schrift des Petrus oder mehreren solchen die
Rede ist 13 ), ursprünglich vom 1 Pt gesagt gewesen , daß er ebenso wie die
joh. Apokalypse recipirt sei, während gegen die kirchliche Lesung des zweiten
Petrusbriefs von manchen Katholiken protestirt werde. Dies würde voraus-
setzen, daß der 2 Pt im Umkreis von Rom nicht ganz unbekannt, aber nicht
gleich dem 1 Pt recipirt war. Ob Irenäus ihn gekannt, bleibt zweifelhaft; von
Hippolytus dagegen ist dies mit Sicherheit zu behaupten 14 ). Andererseits fehlt
jedes Zeugnis dafür, daß der 2 Pt im Abendland vor 350 zum NT gehört habe.
Im C. Momms. wird geradezu gegen den Versuch seiner Kanonisirung protestirt.
Anders im Orient. Ist nicht zu beanstanden, daß Clemens ihn kommentirt habe
(vorhin S. 20), so war er doch, wie das große lat. Fragment der Hypotyposen
beweist, in der Bibel des Clemens nicht dem 1 Pt angeschlossen (Forsch III,
154). Origenes scheint ihn zwar selbst für echt und für eine hl. Schrift zu
11) So nach Eusebius (s. vorhin S. 19 A 8), Cyrill, Euthalius, Athanasius, Epipha-
nius, Gregor Naz., Amphilochius, cf auch GK II, 376 f.
12) Ed. Bonwetsch S. 291, 26, wo der Jk jedoch fälschlich dem Paulus zugeschrieben
wird, und 8. 249, 14.
13) C. Mur. 1. 71 f., GK 1, 306 ff. II, 110 ff. 140. 142. Prot. REncykl. IX 8 , 803.
14) GK I, 316 f. In den später bekannt gewordenen Schriften s. Berl. Ausg. I, 1,
164, 19: 210, 8; 240, 2; I, 2, 120, 22.
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22 § 2. Das Neue Testament um 170-220.
halten (hom. 13, 6 in Num; hom. 4, 4 in Lev; comm. in Rom lib. IV, 9;
VIII, 7), bekennt aber doch, daß die Meinungen über ihn geteilt seien (Eus.
IV, 25, 8). Der 2 Pt muß von alter Zeit her im Orient eine andere Stellung
zum NT gehabt haben, als der 1 Pt, wenn man erwägt, daß Eusebius (h. e. III,
3, 1) es geradezu als die ihm zugekommene Überlieferung bezeichnet, daß jener
nicht evötddnqyLog sei; ferner daß noch Didymus um 380 ihn für unecht und
nicht kanonisch erklärt, obwohl er ihn selbst kommentirt, häufig genug citirt und
ohne Protest anerkennt, daß er öffentlich gelesen werde (Migne S. gr. 39, 1774);
endlich daß er von den Antiochenern und den Syrern um dieselbe Zeit regel-
mäßig abgelehnt wurde, obwohl es ihm an Zeugnissen aus der Zeit vor Eusebius
auch in Asien keineswegs fehlte (GK I, 31 2 f.). — Eine ähnliche Stellung nahm
um 200 und auch späterhin der sogenannte Brief des Barnabas in Ale-
xandrien, aber unseres Wissens nur dort, ein. Clemens hat ihn in seinem Bibel-
kommentar ausgelegt und zwar, wie es scheint, im Anschluß an die später aus-
schließlich so genannten katholischen Briefe (Eus* VI, 14, 1). Origenes gibt ihm
das Attribut „katholisch" (c. Cels. I, 63), welches «r sonst dem 1 Pt (Eus. VI,
25, 5), dem 1 Jo (de orat. 22; tom. 17, 19 in Matth.) und, wie schon Clemens
(Forsch III, 83, 10), dem Jud gibt (1. VI in Rom). In dem wahrscheinlich
von Origenes verfaßten biblischen Onomastikon war auch der Barnabasbrief berück-
sichtigt und zwar als einer der katholischen Briefe (GK II, 948 — 953). Im
C. Ciarom. 1. 70 steht er hinter den 7 katholischen Briefen und vor Ap und
AG. Erst spätere Entscheidungen haben ihn auch in Alexandrien aus dieser
Verbindung und damit überhaupt aus dem Verband des NT's entfernt. Vgl.
jedoch das Verzeichnis der 60 Bücher, die Stichometrie bei Nicephorus (GK II,
292. 299) und ein armenisches Verzeichnis (Forsch V, 116. 117. 121 ff. 136).
— Anhangsweise sind hier der Brief des Clemens von Born oder vielmehr
der römischen Gemeinde an die korinthische und die irrtümlicherweise unter
dem Namen eines zweiten Korintherbriefs des Clemens demselben
angehängte Predigt zu erwähnen (GK I, 351—360; II, 193. 289. 301). Ob-
gleich sie wegen ihrer eine Ortsgemeinde nennenden Adresse nicht zu den katho-
lischen Briefen zu passen scheinen, sind sie doch im Canon, apost. 85 gerade
an diese als heilige Schriften angeschlossen und in der Handschrift des 11. Jahr-
hunderts, welche uns den 2 Clem vollständig erhalten hat, zwischen den Bar-
nabasbrief, der ein katholischer war, und die Lehre der 12 Apostel gestellt.
Zwischen den katholischen Briefen und den Paulinen stehen sie in einer a. 1170
geschriebenen syrischen Hs. , und es ist dort wenigstens der 1 Clem als ein
katholischer bezeichnet. "Wahrscheinlich hat auch Epiphanius (haer. 30, 15)
nur vermöge einer Verwechselung statt dieser Clemensbriefe zwei andere Briefe
unter dem Namen des Clemens (de virginitate) als hmGxokaX lyKvxfooi (d. h.
katholisch) al Iv zotig ayicug ixxhjaiaig &vayivtoox6f.uvai bezeichnet. Für eine
ehemalige Verbindung beider Briefe mit dem NT zeugt ferner der alexandri-
nische Bibelkodex, in dessen Index und Text sie hinter der Ap, im Index aber
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§ 2. Das Neue Testament um 170—220. 23
vor der Angabe der Summa aller biblischen Bücher stehen (GK II, 289), ferner
ein armenisches Verzeichnis (Forsch V, 116. 123 f.), wahrscheinlich auch die
Stichometrie bei Nicephorus (GK II, 301), vor allem aber die Versicherung
des Eusebius (III, 16), daß der 1 Clem von altersher und auch noch zu seiner
Zeit in sehr vielen Kirchen öffentlich gelesen wurde. Daß dies wenigstens
früher auch mit dem 2 Clem geschehen sei, welcher in der Überlieferung un-
trennbar mit jenem verbunden erscheint, deutet Eusebius III, 38, 4 an. Von
Korinth aus, wo der 1 Clem um 170 zuweilen im Gottesdienst gelesen wurde
(oben S. 12), hat sich dieser Brauch mit dem Brief selbst verbreitet, und
zwar wahrscheinlich zuerst nach Alexandrien, später zu den Syrern. Clemens
Alex, citirt ihn häufig (Lightfoot, S. Clement I, 158 f.), einmal ström. IV, 105
als Schrift des Apostels Clemens, Origenes als Schrift eines Apostelschülers, dem
Paulus Phl 4, 3 ein gutes Zeugnis ausgestellt (tom. 6, 30 in Jo; princ. II,
3, 6). Citate und Anspielungen finden sich bei den Alexandrinern Dionysius
(c. 260), Petrus (c. 305), Didymus (c. 380), Timotheus (c. 460), und wahr-
scheinlich bezieht sich auf diese Briefe, was von kirchlicher Reception zweier
Clemensbriefe bei den Kopten überliefert ist (Assemani Bibl. or. III, 14). Ihre
Verbindung mit dem NT ist jedoch eine losere, als die des Barnabas. Clemens
AI. hat sie nicht wie diesen in den Hypotyposen behandelt ; sie fehlen im Cat.
Ciarom. Eusebius erwähnt sie nicht unter den Antilegomena (III, 25, vgl.
jedoch Forsch V, 123). Im Abendland haben sie nie ein Verhältnis zum NT
gehabt. Irenäus citirt den 1 Clem nur ebenso wie den Philipperbrief Polykarps
als ein gewichtiges Zeugnis für den Fortbestand der apostolischen Tradition in
nachapostolischer Zeit (III, 3, 3 — 4).
6. Sonstige Schriften von vorübergehender Kanonicität. Obenan ist
hier derHirtdesHermaszu nennen (GK I, 327 — 347). Irenäus (IV, 20, 2),
Tertullian vor seiner Entscheidung für den Montanismus (orat. 16) und Clemens
(passim vgl. GK I, 329) haben ihn durchaus als heilige Schrift behandelt. Es
fehlt auch nicht an Spuren davon, daß er damals in Antiochien gleiches Ansehen
genoß (1. 1. 332). Zu Anfang des 3. Jahrhunderts aber sind , wie man aus C.
Mur. 1. 73 — 80 und Tert. pud. 10. 20 sieht, sowohl in katholischen als in mon-
tanistischen Gemeinden zu Karthago und Rom Verhandlungen über den Hirten
geführt worden, deren Ergebnis jedenfalls eine Lockerung des Bandes zwischen
dem Hirten und der Bibel war. Der Montanist Tertullian in seiner scharfen
Polemik gegen die unter anderem auf den Hirten sich stützende laxe Disziplin
des römischen Bischofs drückte dies schroff so aus, dass der Hirt nicht wert
gefunden worden sei, in die göttliche Urkunde eingetragen zu werden, sondern
von allen kirchlichen Versammlungen beider Parteien für apokryph, ja für eine
Fälschung erklärt worden sei. Mögen die Montanisten so geurteilt haben, so
doch nicht die Katholiken. Nach dem C. Mur. ist der Hirt zwar von der öffent-
lichen und regelmäßigen Lesung, welche das Vorrecht der prophetischen und aposto
lischen Schriften ist, ausgeschlossen, andererseits jedoch seine Lesung nicht nur
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24 § 2. Das Neue Testament um 170—220.
erlaubt, sondern auch anbefohlen worden 16 ). Diesem milden Urteil, de* ersten Ver-
such, eine Klasse deuterokanonischer Schriften zu bilden, entspricht der Erfolg,
Bischof Kallistus und sein Klerus um 220 stützten sich mit Wort und Tat auf
den Hirten (Tert. pud. 20) ; auch deren Gegner Hippolyt verleugnete nicht seine
Vertrautheit mit demselben. Es entstanden zwei lat. Übersetzungen des Buchs.
Ein unbekannter römischer Bischof (Pseudocypr. de aleat. 2, 3) citirt es als divina
scriptum. Novatian (trin. 2, früher als die jüngst gefundenen Predigten und
vielleicht vor seiner Separation geschrieben) weist mit legimus auf den Hirten
als ein anerkanntes Lehrbuch hin. Commodian hat es eifrig gelesen. Die lat.
Liturgien zeugen von dem fortdauernden Einfluß des Buchs (GK I, 346 cf Mai,
scr. vet. n. coli. III, 2, 247 a. E.). Trotzdem war durch jene kirchlichen Be-
schlüsse um 200 — 210 das schließliche Schicksal des Hirten im Occident (Hier,
v. ill. 10) im voraus entschieden. Daß im Orient derartige Entscheidungen da-
mals nicht getroffen worden sind, beweist die weitere Geschichte des Hirten in
den dortigen Kirchen. — "Während Clemens den Hirten, vielleicht wegen seines
großen Umfangs, in seinem kurzgefaßten Bibelkommentar nicht behandelt hat,
hat er die Apokalypse des Petrus, ein kleines Büchlein von kaum 300
Zeilen (C. Ciarom. 1. 75 : 270 ; Stich. Niceph. 1. 46 : 300), dessen wert geachtet
(Eus. VI, 14, 1 ; Forsch III, 65. 127. 154, GK I, 308—310; II, 810—820). Im
C. Ciarom. bildet sie den Schluß der ganzen Liste (Barnabas, Ap Jo, AG,
Paulusakten, Ap Petri), im Verzeichnis der 60 Bücher und in einer armenischen
Liste steht sie unter den Apokryphen (GK II, 292; Forsch V, 116. 121. 136),
bei Nicephorus zwischen Ap Jo und Barnabas unter den Antilegomena (GK II,
299), so auch bei Eusebius, hier aber in der zweiten Abteilung derselben, welche
er für unecht erklärt (III, 25, 4 vgl. III, 3, 2). "Während bei Origenes nicht
einmal Kenntnis dieser Ap sicher nachzuweisen ist (Forsch V, 112?) und über-
haupt ein Fortleben derselben in Alexandrien nicht bezeugt ist, finden wir sie
bei dem heidnischen Autor, welchen Makarius von Magnesia bestreitet (Porphy-
rius?), als ein halbheiliges Buch der Christen citirt, ohne daß der christliche
Polemiker diese Voraussetzung bestreitet (Apocrit. IV, 6. 7. 16). Nach Sozomenus
(h. e. VII, 19; GK II, 813) las man noch um 430 in einigen Kirchen Palästinas
diese Ap alljährlich bei der Vorfeier des Osterfestes. Von Bekanntschaft des
Abendlands mit derselben fehlt jede glaubhafte Kunde * 6 ). — Die „Lehre der
15) GK II, 111—118; Prot. REncykl. IX 8 , 804.
16) Die Hypothese, daß im C. Mur. 1. 71 f. von der Ap des Petrus gesagt sei, ihre
kirchliche Verlesung werde von einigen Katholiken beanstandet, ist stilistisch nicht zu
rechtfertigen und hat den Mangel jeder anderweitigen Kunde von Bekanntschaft des
Abendlandes mit dieser Ap gegen sich. Was Hilgenfeld NT extra can. IV 3 , 74 bei
Hippolytus als Citate aus derselben ansah, ist ganz unsicher cf GK II, 804. 817 ; Robinson
and James, The gospel andthe revelation of Peter 1892 S. 79 f.; Harnack, Texte u. Unt.
IX, 2, 82. Das Gleiche gilt von dem, was Bonwetsch, Stud. zu Hippolytus S. 27 aus
Hippolytus und Harnack, Texte u. Unt. XIII, 1, 72 aus Pseudocyprian de laude mart.
c. 20 f. beibringen, zumal beide von der Voraussetzung ausgehen, daß das 1892 zugleich
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§ 2. Das Neue Testament um 170—220. 25
12 Apostel" wird von Clemens (ström. I, 100) und Origenes (princ. III, 2, 7)
als hl. Schrift citirt und fleißig benutzt. Auch während der folgenden Jahr-
hunderte ist nur für Ägypten gottesdienstliche Verwendung des Buchs sicher zu
beweisen (Forsch III, 278—287; GK I, 360 — 368; Harnack, Die Apostellehre
2. Aufl. 1896). Dies gentigt, um zu erklären, daß Eusehius (h. e. III, 25, 4) es
unter den Antilegomena zweiten Rangs, die Stich. Niceph. 1. 68 unter den Apo-
krypha, Rufin (expos. symb. 38) mit verändertem Titel unter den libri ecclesiastim
nennt. Bekannt geworden ist es auch in der Umgegend von Antiochien, wo der
Vf der Didaskalia und später der Vf der Const. apost. es benutzt haben, und
im Abendland, wo eine lat. Übersetzung entstand. Das vereinzelte Citat bei
Pseudocyprian de aleat. 4, 5 (in doärinis apostolorum) mitten unter durchweg
sehr freien kanonischen und apokryphen Citaten stimmt zu wenig mit der grie-
chischen Didache, um Schlüsse zu gestatten. — Apokryphe Apostel-
geschichten sind in der alten Kirche vielfach ohne Kritik gelesen worden.
Tertullians Grundsatz in bezug auf die im NT nicht mehr erzählten Martyrien
der Apostel (Scorp. 15 haec ubicumque jam legem, pati discö) wurde auf die
fabelhaftesten und die heterodoxesten Dichtungen ausgedehnt. Ein näheres Ver-
hältnis zum NT haben doch nur die im Sinne des Kirchenglaubens geschriebenen
Akten des Paulus gewonnen 17 ). Der Aufführung derselben zwischen dem
Hirten und der Petrusapokalypse im C. Ciarom. 1. 74, an der Spitze der Anti-
legomena zweiten Rangs bei Eusebius (III, 25, 4 cf III, 5) und an der Spitze
der Apokrypha in der Stichom. Niceph. 1. 63 entspricht der achtungsvolle Ton,
mit einem großen Fragment des Ev des Petrus von Bouriant herausgegebene apokalyp-
tische Stück aus der Ap des Petrus herrühre. Eben dies ist aber eine unwahrschein-
liche Annahme. Gegen dieselbe spricht Folgendes: 1) Die Hs, welcher beide Stücke
entnommen sind, bietet keinen Anhalt für die Hypothese, daß sie aus zwei verschiedenen
Schriften des Pt herrühren. 2) In dem apokalyptischen Fragment ist kein einziges der
sicheren Citate aus der Ap des Pt, die doch ein sehr kleines Buch war, genau wieder-
zufinden. 3) Die jüngere, erst nach Muhammed entstandene arabische Ap des Pt zeigt
Berührungen mit einem Citat des Clemens aus der alten Ap des Pt und mit dem 2 Pt,
dagegen keine mit dem fraglichen Fragment von Bouriant cf Bratke, Ztschr. f. wiss.
Th. Bd. 36, II (1893) S. 454-493. 4) Der Inhalt desselben paßt wenig zu dem Ge-
brauch, welchen man in der Karwoche von der alten Ap des Pt machte (s. oben im
Text). 5) Die schriftstellerische Form dieses Fragments ist ganz diejenige des Petrusev.
Hier wie dort redet der Apostel Pt (in der angeblichen Ap c. 4, 12 — 5. 15; 10, 25;
11, 26) zugleich im Namen der 12 Apostel (c, 2, 5 — 3, 8; 4, 11—5,20). Auch hier wird
Jesus nie mit Namen, sondern stets nur 6 xvqios genannt. -Es wird dieses apokalyp-
tische Stück nur ein weiteres Fragment des Petrusev sein cf Dieterich, Nekyia p. 16.
Die Vergleichung des Citats bei Clemens ecl. 41 mit der angeblichen Ap c. 11, 26 zeigt,
daß der Vf des Petrusev unter anderem auch aus der sicherlich älteren Ap des Pt ge-
schöpft hat.
17) GK II, 607—609. 865—910. Über die neuerdings gefundenen koptischen
Fragmente der Paulusakten C. Schmidt, Neue Heidelb. Jahrbb. VII, 117 — 124; Zahn,
N. kirchl. Ztschr. 1897 S. 933-944.
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26 § 2. Das Nene Testament nm 170—220.
in welchem Origenes (princ. I, 2, 3; tom. 20, 12 in Jo), wahrscheinlich aber auch
Clemens (ström. VI, 43 ; GK II, 827. 879) sie citirt hat. Seitdem wir wissen,
was früher nur vermutet wurde, daß der sogen. 3. Korintherbrief, welcher bei
den Syrern des 4. Jahrhunderts volle Kanonicitat besaß, den Paulusakten ent-
nommen worden ist, haben wir eben daran einen Beweis für das hohe kirchliche
Ansehen dieser Akten. Auch im 'Abendland wurden sie glaubig gelesen z. B.
von Hippolyt (Comm. in Dan. HI, 29, 4 = Niceph. Call. h. e. II, 25 ; GK II, 880),
ohne jedoch dort in Verbindung mit der Bibel gesetzt zu werden. Vielleicht
hat die durch Tertullian bapt. 12 mitgeteilte, von Hieronymus v. 111. 7 fortge-
pflanzte Kunde, daß der Presbyter in Asien, welcher die Akten der Thekla, die
nur ein Teil der Paulusakten sind, verfaßt hat, infolge seines Geständnisses ge-
nötigt wurde, sein Amt niederzulegen, dazu gedient, das Ansehen des sehr aus-
führlichen und wohlgemeinten Buchs im Abendland zu untergraben 18 ).
Das NT der griechischen und lateinischen Kirchen um 170 — 220 umfaßte
als unveräußerlichen Bestand: die 4 Ew, 13 Briefe des Paulus, AG, Ap,
1 Pt, 1 Jo (dem aber regelmäßig auch 2 und 3 Jo angehängt waren), wahr-
scheinlich auch Judas. Sieht man von den erst um 200 — 210 geführten Ver-
handlungen über den Hirten ab, so wäre auch dieser hier zu nennen. Dagegen
bestanden Verschiedenheiten und Schwankungen in bezug auf Jk, Hb, 2 Pt, Ap
des Petrus, Apostellehre, Barnabas, 1 und 2 Clem, Akten des Paulus und,
wie bemerkt, den Hirten. Die Art, wie die Kirchenlehrer über die kirchliche
Geltung der Bestandteile des Grundstocks, besonders auch in ihrer Polemik
gegen Marcion, die Gnostiker und die Aloger sich äußern, schließt die
Möglichkeit aus, daß erst zu Lebzeiten eines Irenäus oder der Lehrer des
Clemens diese Sammlung gottesdienstlicher Lesebücher entstanden sei, und daß
die Einführung dieser Sammlung in den allgemeinen Gebrauch der katholischen
Kirche erst um 150 oder 170 einem früheren chaotischen Zustand ein Ende
bereitet habe. Es fehlten der Kirche um diese Zeit auch die Organe und Ver-
fassungsformen, um in den autonomen Orts- und Provinzialkirchen mit so gleich-
mäßiger Wirkung Bücher, welche sich im Gottesdienst der einen oder anderen
Kirche eingebürgert hatten, zu verdrängen und durch eine in der Hauptsache
identische Sammlung zu ersetzen. Jeder Versuch eines Staatsstreiches mit
solcher Absicht würde, selbst wenn die Bischöfe aller Hauptkirchen an der
Verschwörung beteiligt gewesen wären, an dem zähen Widerstand provinzialer
Eigenart gescheitert sein, dessen Stärke man an den Osterstreitigkeiten und der
montanistischen Bewegung beobachten kann. Jedenfalls aber würde er einen
Kampf um das NT entzündet haben, der länger gewährt und stärkere Spuren in
18) Pseudocypr. de rebaptismate c. 17 (wahrscheinlich erst um 380 geschrieben cf
Th. Ltrtrbl. 1899 Sp. 316 gegen GK II, 882) erklärte diese Akten, welche er nnter dem
Titel Paulli praedicatio citirt, für ein Machwerk von Ketzern, welches sich vielfach mit
allen hl. Schriften in Widerspruch setze.
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§ 3. Das Neue Testament um 140—170. 27
der Geschichte zurückgelassen hätte, als jene Kämpfe um das Passah und die
neue Prophetie. Am allerunbegreiflichsten aber wäre unter dieser Voraus-
setzung, daß nach amtlichen Verhandlungen, an welchen alle Hauptkirchen hätten
beteiligt sein müssen, die einzelnen Kirchen, ohne nach einander zu fragen und
von einander zu wissen, den Jk oder den Hb teils als hl. Schrift gelesen, teils
völlig ignorirt haben. Daß das NT um 200 nicht das Ergebnis einer um 150
oder 170 stattgehabten Revolution, sondern einer weiter zurückliegenden Ent-
wicklung ist, beweist auch der Zustand der Texte um 200. Sie zeigen eine
Mannigfaltigkeit, welche nur beim Mangel jeder die Gesamtkirche umfassenden
Kontrolle sich bilden konnte. Zumal seitdem Marcion seiner Gemeinde ein fest-
umgrenztes NT mit einem bis aufs Jota festgestellten Text gegeben hatte, konnte
in der Kirche nicht mehr ein NT geschaffen oder redigirt werden, welches
nicht nur in bezug auf die dazu gehörigen Bücher fließende Grenzen zeigt,
sondern auch in bezug auf wichtigste Stücke des Textes, wie das Aposteldekret
und den Marcuschluß, den einzelnen Kirchen die Wahl oder vielmehr ihre be-
sondere Gewohnheit freigab.
§ 3. Das Neue Testament um 140—170.
Valentin hatte seine Schule gegründet, welche in verschiedene von einander
abweichende Zweige gespalten und von der Ehone bis zum Tigris verbreitet,
eine reiche literarische Tätigkeit entfaltete, ohne so entschieden wie Basilides
u. a. sich von der Kirche getrennt zu halten. Marcion gründete zu Rom,
nachdem er sich wahrscheinlich im Jahre 144 von der katholischen Kirche los-
gesagt hatte, seine eigene Kirche. Neben dem Kampfe gegen diese Richtungen
waren die literarischen Vertreter der Kirche hauptsächlich mit Verteidigung des
Christentums vor den heidnischen Obrigkeiten und Bevölkerungen beschäftigt,
und gerade diese apologetische Literatur, welche wenig Gelegenheit bot, über
die hl. Schriften der Christen zu handeln, ist uns in vielen Stücken erhalten,
während die gleichzeitigen Streitschriften gegen die Häretiker bis auf wenige
Bruchstücke und Titel zu Grunde gegangen sind. Dies erschwert die Unter-
suchung, ohne sie doch unmöglich zu machen.
1. Marcions Bibel 1 ). Über diese sind wir hauptsächlich durch Tertullian,
welcher den Ketzer durch sein eigenes NT bekämpfen wollte und zu diesem
Zweck dasselbe von Anfang bis zum Schluß durchgeht (c. Marc. IV — V), dem-
nächst durch Excerpte aus demselben bei Epiph. haer. 42, sowie durch einige
Citate in dem Dialog des Adamantius 2 ), aber auch durch viele zerstreute Nach-
1) GK I, 585—716; II, 409—529; Versuch einer Wiederherstellung des Textes II,
455—529.
2) Neu herausgegeben unter Benutzung der alten lat. Übersetzung von v. d. Sande
Bakhuyzen, Leipzig 1901.
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28 § 3. Das Neue Testament um 140-170.
richten bei Griechen und Syrern bis ins 5. Jahrhundert hinein so gut unter-
richtet, daß die Versuche, es zu rekonstruiren, nicht vergeblich geblieben sind.
Marcion hatte neben seinem NT eine zur Rechtfertigung seines dogmatischen
Standpunktes und seiner kritischen Ausgabe des NT's bestimmte Schrift „die
Antithesen" ausgehen lassen, welche das symbolische Buch seiner Kirche wurde
und von Tertullian, Ephraim u. a. studirt worden ist. Indem Marcion die
im AT beurkundete Offenbarung verwarf, ließ er seine ganze Bibel nur aus
zwei Büchern bestehen, einem evayyiXiov und einem &7tOGTofox6v, beide ohne
den Namen eines Verfassers im Titel. Da ihm Paulus als der einzige Prediger
des unverfälschten Ev unter den Aposteln galt, umfaßte das Apostolikum
nur Briefe des Paulus, und zwar 10 in folgender Ordnung: Gl, 1, 2 Kr, Em,
1, 2 Th, Laodic. (= Eph), Kl, Phl, Phlm. Daß diese Sammlung eine von
Marcion in der Kirche vorgefundene, anders gestaltete Sammlung der Paulus-
briefe voraussetzt, liegt auf der Hand. Durch exegetische Beweisführung hat
er zu zeigen gesucht, daß der Brief, den die Kirche unter dem Titel Jtqbq
> Ecp£<JiovQ fortpflanzte, vielmehr der Kl 4, 16 erwähnte Brief sei und darum
TtQog AaodvKÜg zu überschreiben sei (Tert. c. Marc. V, 17 cf V, 11). Die in
der Kirche nicht übliche Voranstellung des Gl hatte er damit gerechtfertigt,
daß Paulus in diesem Brief wie in keinem andern seinen Standpunkt gegenüber
dem Judaismus klargestellt habe (c. Marc. V, 2 cf IV, 3). Er hat nach einer
Andeutung Tertullians (V, 21) die Briefe an Tm und Tt als Privatbriefe ab-
gelehnt, während er den an Philemou, aber zugleich an dessen Hausgemeinde
gerichteten Brief aufnahm, und zwar diesen allein unverkürzt. Alle übrigen
hat er durch bedeutende Streichungen, kleine Textänderungen und kühne Um-
gestaltungen gründlich umgearbeitet. Voraussetzung war, daß die Fälschung
der evangelischen Lehre, deren schon die Urapostel sich schuldig gemacht
haben, von ihnen und ihren Nachfolgern in der Kirche (Tert. V, 19 psend-
apostoli nostri et juddici evangelixatores) auch auf die Briefe des Paulus ausge-
dehnt worden sei. Weder auf geschichtliche Überlieferungen, noch auf alte
Urkunden, die das Ursprüngliche bewahrt hätten, hat Marcion sich berufen,
sondern hat lediglich auf Grund seiner Anschauung vom wahren Christentum
und vom Ev des Paulus den kirchlichen Text der Briefe kritisirt und mit
divin atorischer Kritik den seinigen hergestellt. So auch in bezug auf das Ev.
Er baute sein Ev auf die Kritik der in der Kirche gebrauchten Ew. Ad
destruendum Station eoram evangeliorum, quae propria et sub apostolorum nomine
eduntur vel etiam apostolicorum hat er nach Tert. IV, 3, gestützt auf Gl 2,
1 — 14, die Urapostel der Übertretung und Heuchelei bis zur depravatio evangelii
verdächtig erklärt und der interpolatio scripturae beschuldigt (Tert. V, 3), wenn
er auch ein gewisses Dunkel darüber walten ließ, was die im Judaismus be-
fangenen Verfasser der Evv, und was die späteren Fälscher verschuldet haben
(GK I, 591 f. 651 — 66). Daß er das Ev des Lukas, welches er seinem neuen
Ev zu Grunde legte, als ein "Werk des Paulusschülers Lukas kannte, bekundet
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§ 3. Das Neue Testament um 140—170. 29
er schon dadurch, daß er Kl 4, 14 diesen Judaicum evangelizaior (bei Tertullian
= evangelista) des ehrenden Prädikats „der liebe Arzt" beraubt hat. Gegen
Sprüche, welche dem Mt eigentümlich sind, wie Mt 1, 23 ; 5, 17; 19, 12, hat
Marcion ausdrücklich polemisirt (GK I, 663 — 671). Es ist auch kaum zu be-
zweifeln, daß er einzelne kleinere Stücke aus Mt und Jo in sehr geschickter
Auswahl seinem Ev einverleibt hat, so Mt 20, 23 (oder Mc 10, 40); Jo 13,
3—17. 34; 15, 19 (GK I, 671—680). Vor allem aber bezeugt sein Ev, so-
weit wir dessen "Wortlaut wiederherstellen können, daß ihm ein Text' des Lc
vorlag, welcher infolge langjähriger Verbindung mit den Ew des Mt und des
Mc mit den Texten dieser vielfach gemischt war. Dagegen ist bis heute keine
Spur vom Einfluß eines außerkanonischen Ev bei Marcion nachgewiesen worden.
Hieraus folgt, daß das Ev der römischen Gemeinde, von welcher Marcion sich
trennte, um 140 ebenso wie um 200 aus unseren 4 Evv bestand. Auch die
von Marcion vorgefundene Sammlung der Paulusbriefe unterschied sich in nichts
von derjenigen im C. Mur. "Wir hören nicht einmal von Polemik Marcions
gegen Sätze und Lehren des Hb. Daß er Briefe der Pseudapostel Petrus und
Johannes oder des durch Gl 2, 9. 12 in so schlimmes Licht gestellten Jakobus,
wenn er sie in kirchlichem Gebrauch fand, ebensowenig wie das AT^ diese
Sammlung von Schriften des Judengotts, in seiner Gemeinde dulden konnte,
liegt auf der Hand. Die Ap und AG scheint er ausdrücklich verworfen zu
haben (Tert. c. Marc. III, 14; IV, 5; V, 1. 2; praescr. 22; Pseudotert. haer.
16). Im Vergleich mit dem kirchlichen NT nicht nur seiner Zeit, sondern auch
der zwei folgenden Jahrhunderte mit seinen verschwommenen Grenzen und
seinem wild wachsenden Text ist dasjenige Marcions ein sauber abgegrenztes,
ins Kleinste berechnetes Kunstwerk, aber auch das "Werk eines despotischen
Gesetzgebers. In seiner Umgestaltung von Lc 16, 17 hat er im Hinblick auf
das von ihm neugeschaffene Evangelienbuch, welches „das Ev Christi" sein
sollte, dem Herrn das sinnlose Wort in den Mund gelegt, von seinen "Worten
solle „kein Häkchen" dahinfallen (GK I, 687; II, 479).
2. Die Bibel bei den Val entinianern 8 ). Was Marcion „mit
Messer und Schwamm" des Kritikers ins Werk setzte, glaubten Valentin und
seine Schüler durch Auslegung zu erreichen. Wie sie selbst nicht freiwillig
aus der Kirche ausschieden, sondern sich nur von den communes ecclesiastici
unterschieden, so hatten sie auch nichts gegen die übliche Lesung von „Pro-
pheten und Aposteln" einzuwenden. Sie bedurften keiner eigenen Bibel,
sondern verstanden es, in die Bibel der Kirche ihre Sondergedanken einzutragen
und, was ihnen nicht daran zusagte, sich zurechtzulegen. Die Evv der Kirche
3) GK II, 718—763; II, 953—964. Hierhin gehören nach den neuerdings bekannt
gewordenen Fragmenten der Johannesakten des Leucius auch diese und die von dem
gleichen Vf herrührenden Petrusakten cf N. kirchl. Ztschr. 1899 S. 191—218; Forsch VI,
14-18, 194—205. 220; GK I. 784—788; II, 832— 865 ; T o r m , Valentinianismens Historie
og Laere, Kopenhagen 1901 p. 66—98.
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30 § 3. Das Neue Testament um 140—170.
haben sie ausgiebig benutzt, besonders das vierte (Iren. HI, 11, 7). Ohne Vor-
aussetzung des johanneischen Prologs ist der künstliche Aufbau der Aonenreihe
Valentins nicht zu begreifen. Herakleon hat das ganze 4. Ev kommentirt. In
den Fragmenten der verschiedenen Zweige der Schule finden wir von den
Briefen des Paulus mit Vorliebe gebraucht Eph, Kl und 1 Kr, aber auch Rm,
2 Kr, Phl, Gl, welchen letzteren der Valentinianer Alexander kommentirt hat.
An dem Inhalt der Evv übten sie vielfach Kritik und beriefen sich für ihre
darüber hinausgreifende Erkenntnis auf die Geheimtradition. Eben diese werden
sie in dem evangelium veritatis niedergelegt haben, dessen Abfassung und Ge-
brauch neben den 4 Ew Irenäus ihnen schuld gibt (III, 11, 9; Pseudotert.
haer. 12 cf Orig. c. Cels. II, 27), und es ist möglich, daß alles, oder doch
das meiste, was von apokryphen ev Traditionen bei den abendländischen Valen-
tinianern vorkommt, in diesem fünften Ev Platz gefunden hatte.
Hier ist auch das Petrusevangelium zu erwähnen. Nach Serapion
(oben S. 16 f.) war dieses nicht von den Doketen in Antiochien, welche ihm
ein Exemplar dieses ihres Ev borgten, sondern von Vorgängern dieser Sekte
verfaßt und in Gebrauch genommen worden. Als Stifter der Doketensekte galt
aber Oassianus, ein ehemaliger Valentinianer (Clem. ström. III, 91). Demnach
wäre das Petrusev in dem orientalischen Zweig der valentinianischen Schule,
dessen Hauptsitz Antiochien war, entstanden, wie das evangelium veritatis bei
den Valentinianern des Occidents, beide etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts.
Dazu stimmt der dogmatische und literarische Charakter des großen Bruch-
stücks des Petrusev, welches Bouriant entdeckt und 1892 veröffentlicht hat.
Nachdem die erste Aufregung über diesen Fund ruhigeren Erwägungen Platz
gemacht hatte, hat man sich ziemlich allgemein davon überzeugt, daß dieses Ev
ganz und gar auf den kanonischen Evv der Kirche beruht 4 ). Außerdem hat
der Vf wahrscheinlich die auch Justin dem Märtyrer (apol. I, 35. 48) be-
kannten Pilatusakten benutzt und hat ihnen vor allem die Idee entlehnt, den
Pilatus möglichst zu entlasten und die Juden als die alleinigen Mörder Jesu
darzustellen. Der Titel xotoc ühgov, welchen das Petrusev nach Serapion (Eus.
VI, 12) und Origenes (tom. X, 17 in Matth) trug, ist Nachbildung jener kirch-
lichen Ausdrucksweise, welche eine aus mehreren, von verschiedenen Verfassern
herrührenden Evv bestehende Sammlung, den kirchlichen Evangelienkanon vor-
aussetzt (oben S. 16).
Einem Zweig der valentinianischen Schule in Kleinasien gehört, wie wir
noch nicht seit langem wissen, auch Leucius, der Vf der Johannes-
und Petrusakten, an 5 ). Die beiden Apostel dieser Legenden tasten das
4) Cf besonders v. Schubert, Komposition des pseudopetrinischen Evangelien-
fragments, 1893, und Zahn, Das Petrusev. 1893.
5) Acta apost. apocr. ed. Lipsius et Bonnet I, 45—103; II, 1, 151 (eigentlich erst
p. 160 von c. 18 an) — 216. Über die Identität des Vf beider Legenden und den
valentinianischen Standpunkt desselben s. die Literatur oben S. 29 A 3.
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§ 3. Das Neue Testament um 140—170. 31
Evangelienbuch, welches im Gemeindegottesdienst gelesen wird, nicht an; sie
^bekennen sich selbst nach 1 Jo 1, 1 — 4 als an seiner Abfassung beteiligt.^ Da
sie aber nach Jo 21, 25 in diesem Ev nur soviel haben schreiben können, als
die Masse zu begreifen im stände war, so gehen sie in ihrer mündlichen Predigt
vor den Gereifteren darüber hinaus nicht nur mit Deutungen des bereits Ge-
schriebenen, sondern auch mit reichlichen Mitteilungen aus ihrer unerschöpf-
lichen Erinnerung an Jesu Taten und Worte 6 ). Dadurch gewinnt der Dichter
freien Spielraum zu eigener Erfindung, ohne so wie die Yf des ev. veritatis
und des evayy. x. nhqov förmlich als Evangelist aufzutreten. In der einen
oder anderen Form haben diese Leute unt 140 — 170 an die 4 Evv der Kirche
anknüpfend weiter gedichtet. Gebrauch eines anderen nach Stoff und Torrn mit
den 4 Evv vergleichbaren Buchs, welches dann älter als Yalentinus sein müßte,
läßt sich in dieser gesamten Literatur nicht entdecken. "Wenn es wahrscheinlich
ist, daß der Verf des Petrusev die Pilatusakten, und daß die Markosier und
Leucius ein sogen. Kindheitsevangelium, wie das des Thomas (Iren. I, 20, 1 ; GK
I, 745 f. ; II, 854), benutzt haben, so sind dies eben keine Evv, keine Bücher,
welche jemals im Gottesdienst mit den 4 Evv hätten konkurriren können oder
auch nur wollen. — Leucius hat sich in der Anlage der „Wanderungen des
Jo" an die Folge der 7 Gemeinden in Ap 1, 11 angeschlossen (Forsch VI,
197 ff.). Der gleichfalls aus Valentins Schule hervorgegangene Markus, wie
andere Valentinianer des Ostens haben manches aus der Ap geschöpft. Auch
von der AG, dem 1 und 2 Pt, dem Hb finden sich deutliche Spuren (GK I,
754_773. 787; II, 853—855). Kurz, das NT, welches die bedeutendste
gnostische Schule um 140 — 170 in allen ihren Verzweigungen und literarischen
Erzeugnissen als Gemeinbesitz der Kirche erkennen läßt, ist identisch mit dem
NT um 200; nur daß diese „ Geistmenschen u mit dem für die Menge be-
stimmten, geschriebenen Wort der Apostel auslegend, kritisirend, eintragend
freier umgingen als die Kirchenlehrer, und daß sie unter dem Schild der Ge-
heimtradition teils eigene Erfindungen, teils ältere Überlieferungen und Dich-
tungen, welche nicht „in der Kirche Gottes geschrieben gefunden werden" 7 ),
als ebenbürtige Zeugnisse der Wahrheit geltend machten.
3. Die Schriften der Apostel bei Justinus Martyr 8 ). In
seiner kurzen Beschreibung des sonntäglichen Gottesdienstes, wie ihn die Christen
6) Acta apocr.-I, 66 f., II, 1. 194; Isid. Peius, epist, II, 99; GK II, 848—853;
Forsch VI. 195 f. ; über die Entstehung des 4. Ev nach Leucius, Forsch VI, 201 f.
7) So schrieb Valentinus in der Homilie ttsqI <pi)xov bei Clemens ström. VI, 52 cf
GK II, 953 ff.
8) GK I, 457 — 459. 463—585; ßousset, Die Evangeliencitate Justins in ihrem
Wert für die Evangelien kritik, 1891 ; Baldus, Das Verhältnis Justins zu den synoptischen
Evv, 1895. Über die Abfassungszeit der Hauptschriften, der Apologie mit ihrem Nach-
trag (der sogen, zweiten Apologie) und des Dialogs mit dem Juden Tryphon bald nach
150 s. Forsch VI, 8-14. 364.
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32 § 3. Das Neue Testament um 140-170.
überall in Stadt und Land feiern, nennt Justin als erstes (apol. I, 67):
ta &7tof.tvmovevfxaTa x(bv dutotnoXcov fj %a avyyQdfXfiaza xwv 7tqocpr\%GiV &va~*
yivcboxerai. Schon I, 66 war zu lesen: ol anoaiokoi ev %olg yevojievoig vit >
avTOJV &7tof.ivrißOvevf,iaöiv 9 & xaXeliai evayy&ia, ovxcog 7taQ€Ötoxav hrezäXd-ai
ctvtolg. Hienach ist evayyiXta der in der Kirche übliche Name jener Mehr-
heit von Schriften, welche der Jude Trypho und Justin selbst auch singularisch
als „das Ev" bezeichnen ). "Wie in bezug auf andere, den Christen eigentüm-
liche Gegenstände und Begriffe hat Justin den in der Kirche üblichen Namen
im Interesse seiner nichtchristlichen Leser regelmäßig durch einen diesen ge-
läufigen Ausdruck ersetzt. i A7tO(.ivrif.iovev(jiaTa 1 nicht „Denkwürdigkeiten", son-
dern „Erinnerungen, Aufzeichnungen aus der Erinnerung", bezeichnete eine viel
gepflegte Gattung der Literatur, deren ältestes und berühmtestes Beispiel
Xenophons Memorabilien waren. Man nannte solche in der Kegel nach den
Verfassern, selten nach der Person, deren "Worte oder Handlungen ein Schrift-
steller aus seiner Erinnerung aufgezeichnet hatte (GK I, 475). Die Beziehung
der Apomnemoneumata auf Christus als ihren wesentlichen Gegenstand drückt
Justin deutlich aus, indem er von den Verfassern der Evv oder des Ev apol.
I, 33 sagt: tog ol &7tof,ivrj[.iov€vaavt€Q Ttdvxa top Ttegl tov otüT^Qog fm&v
I. Xq. idlöa^av, olg eniatevaainev. Die Bezeichnung der Evv ist jedoch
ebenso ungenau wie die Angabe über die gottesdienstlichen Lesebücher der
Christen überhaupt. "Wie unter den „Schriften der Propheten" das ganze AT
gemeint ist, so sind durch die Nennung nur der äno^iv. t. &tz. durchaus nicht
andere christliche Schriften ausgeschlossen. Aber auch als Name der Ew ist
der Ausdruck ein bewußt ungenauer, da Justin einmal ausdrücklich behauptet,
daß die Apomn. „von den Aposteln und den Schülern derselben verfaßt seien" 10 ).
Über die Frage, welche Evv darunter zu verstehen seien, würde längst allge-
meine Übereinstimmung bestehen, wenn man sich gegenwärtig gehalten hätte,
daß es sich nicht um irgend welche, nach dem Urteil eines einzelnen Schrift-
stellers glaubwürdige Berichte über Jesus handelt, sondern um diejenigen, welche
um 150 überall in der Christenheit, in Ephesus, wo Justin bekehrt wurde, wie
in Rom. wo er schrieb, im Gottesdienst gelesen wurden und als Schriften von
Aposteln und Apostelschülern galten, in welchen alle Christen die Stimme
Gottes vernehmen, der sie unbedingten Glauben schenken (dial. 119; apol.
I, 33). Selbst der Jude spricht von „dem sogen. Ev" (dial. 10) als einer ganz
9) Trypho sagt dial. 10 vficov Se xal td ev TcpXeyofievcp evayyelicp 7zaQayyeA-
/uccja S'avfiaord ovrcos xal /ueydXa eniarafiai elvai, cos vTioAa/ußdveiv fir}8eva Svvao&ai tpvhx^cu
avrd' i/uol yäg i/ueXrjoev ivrvxetv avroZs. Cf C. 18 in. eneiBfi yd(> äveyvcos, co Tgvipcov,
cos avrös ufioXoy/fOas %<p*is, rd vn exeivov rov ocottjqos rjficov Sidax&tvra. Justin sagt diaL
100 im Gegensatz zu den atl Weissagungen von Christus: xal lv rcj> evayyelicp de
yiyQaTtrai eincov (d. h. ist über Jesus geschrieben, daß er gesagt hat ; folgt Citat aus Mt 11, 27).
10) Dial. 103 ev yd(> roZs aTtofivrjfiovevfiaaiv, ä yrifii vno tcov ärtooroXcov avrov xal
rcov exeivois Tta^aytoXov&rjadvrcov avvrerdxO'aiy yey^a7trai ort tSgcos cooel &oo/ußoi xarexelro
avrov evxo/uevov xrl. cf Lc 22, 44.
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§ 3. Das Neue Testament um 140—170. 33
bestimmten Größe, und Justin zweifelt keinen Augenblick, daß« jener damit die-
selben Bücher bezeichne, welche er selbst mit der gesamten Christenheit „das
Ev u oder „die Evv" zu nennen pflegt. Es können keine anderen sein, als die,
welche Marcion kritisirt, und welche die Valentinianer so reichlich gebraucht,
kommentirt und ergänzt haben, Justin unterscheidet nur einmal Apostel und
Apostelschüler unter den Evangelisten ; es kann aber doch nicht Zufall sein, daß
er es eben da tut, wo er eine nicht in einem der nach Aposteln genannten
Evv, sondern nur Lc 22, 44 zu findende Tatsache anführt (dial. 103). Er hat
also mit bewußter Rücksicht darauf, daß er hier den Bericht nicht eines Apostels,
sondern des Apostelschülers Lukas citire, gegen seine sonstige Gewohnheit die
Vf der Apomn. so genau bezeichnet. Aus dem gleichen Grunde vermeidet er
auch anderwärts, wo er entweder aus Lc allein (dial. 105 n. 13) oder unter
starker Benutzung des Lc citirt (apol. I, 33), den gewöhnlichen Ausdruck,
welcher die Apomn. ohne Unterschied als Werke von Aposteln erscheinen ließ.
Von Tatsachen, welche wir nur durch Mc 3, 16 f. kennen, sagt er, daß sie „in
seinen (d. h. nach dem Zusammenhang, des Petrus, und nicht etwa Christi)
Apomn. geschrieben seien" 11 ). Der Einfall, daß damit das Petrusev gemeint
sei, und somit dieses damals zu den gottesdienstlichen Lesebüchern der katho-
lischen Christenheit gehört habe, ist schon aus chronologischen Gründen unan-
nehmbar (oben S. 30) und würde auch dann nicht glaublich sein, wenn im
Petrusev diese wie andere Stellen aus Mr Aufnahme gefunden hätten, wovon wir
nichts wissen. Justin nennt vielmehr das Mrev „Erinnerungen des Petrus"
nach der uralten Überlieferung über den Zusammenhang desselben mit Er-
zählungen des Petrus 12 ). Ohne die Absicht, den Titel des Buchs zu ändern,
lag es einem Justin hier darum nahe, es so zu nennen, weil es sich um ein
Erlebnis des Petrus handelte, Mr aber nach allgemeiner Ansicht des 2. Jahr-
hunderts in der Tat nicht eigene Erinnerungen an Jesu Worte und Taten,
sondern Erzählungen und somit Erinnerungen seines Lehrers Petrus aufgezeichnet
hat. Es ist hier nicht der Ort, den Beweis für die Vertrautheit Justins mit
unseren Evv zu führen. "Was die Meinung erzeugt hat, daß seine Apomn.
entweder teilweise oder völlig von den 4 Evv der Kirche verschieden seien, ist
erstens die Freiheit und Nachlässigkeit seiner Citate, und zweitens die beträcht-
liche Anzahl von Anführungen evangelischer Tatsachen und Aussprüche, welche
11) Dial. 106 xai 16 bXtxbIv fiercovo/uay.ivai avrov IHtqov, eva rc5v ärcooToXarv, xai
yeygdfpd'ai rovro iv rols aTTO/uvTj/uovet'/uaoiv avrov yeyevrj/nivov y.al tovro fierd rov xai
uW&vs ovo adeXcpovs, vtoig Zeßedaiov bvras, /turcovo/tiaxivai ovo/tiari tov Boavegyes, 6 ionv
viol ßQovrrfi, orj/ttavrixdv r\v rov avrov kxelvov eh'ai xrX. Cf GK I, 510 fi".
12) So schon Johannes, der Lehrer des Papias, und dieser selbst bei Eus. h. e. III,
39, 14; Irenäus, Clemens AI., Tertullian (c. Marc. IV, 2 licet et Marcus qüod edidit,
Petri afftrmetur, cuius interpres Marcus)] Eusebius (demonstr. ev. III, 5, 95 Ttdvxa ydo
rd Ttagd Mdoxqy rcäv ITerpov diaXi^eojv elvai ksysrai dTtofivrjfiovsvftaTa); Hieronymus (v.
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 3
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34 § 3. Das Neue Testament um 140-170.
in den kanonischen Evv nicht nachzuweisen sind. In ersterer Hinsicht ist zu
erinnern, daß dies nur darum hei Justin mehr als z. B. hei Clemens auffallt,
weil man seine Citate genauer zu untersuchen veranlaßt war, als diejenigen des
Clemens 13 ); ferner daß uns vieles als apokryph erscheint, was im 2. Jahrhundert
nachweislich in den kanonischen Evv zu lesen war. In bezug auf die wirklich
apokryphen Elemente aber ist zu bemerken, daß Justin keinen einzigen einiger-
maßen selbständigen, neben der kanonischen Überlieferung stehenden Zug durch
die ihm geläufigen Formeln yiyqaitxat mit und ohne hinzutretendes ev t. &Tto\iv^
eyqaipav ol ä7t6oTokoi u. dgl. auf die Apomn. zurückgeführt hat. Von der
Feuererscheinung bei der Taufe Jesu hat er es geradezu ängstlich vermieden,
dies ebenso wie die kanonischen Elemente der dortigen Darstellung als einen
Bericht der Apostel auszugeben (dial. 88). Eine Episode der Passionsgeschichte
(apol. I, 35), worin er sich nahe mit dem Petrusev (c. 3, 6 f.) berührt, wird
um so sicherer auf eine gemeinsame Quelle der etwa gleichzeitigen Schriftsteller
zurückzuführen sein, als einerseits Justin sich unmittelbar darnach auf die
Acta Pilati beruft, andrerseits aber das Petrusev seine Tendenz, den Pilatus
so schuldlos wie möglich darzustellen, wahrscheinlich einer eigens diesem Zweck
gewidmeten Dichtung d. h. den Pilatusakten entlehnt hat. Außerdem ist so gut wie
sicher, daß Justin das sogen. Protevangelium des Jakobus und das Kindheits-
evangelium des Thomas gelesen hat. Anderes mag er wie noch viel spätere Kirchen-
lehrer aus der noch nicht völlig versiegten mündlichen Überlieferung oder aus
Büchern, welche wie das des Papias allerlei aus derselben gesammelt hatten,
geschöpft haben. Die in den Gottesdiensten der ganzen Christenheit gelesenen
Apomn. waren unsere 4 Evv. — Als ein "Werk des Apostels Johannes und ein
echtes Erzeugnis christlicher Prophetie kannte Justin die Ap (dial. 81). Daß sie
in den Kreisen, in welchen sie so angesehen wurde, auch je und dann, wie sie
selbst es fordert, vor versammelter Gemeinde gelesen wurde, ist selbstverständ-
lich. Über andere apostolische Schriften hatte Justin als Apologet keinen An-
laß sich ähnlich zu äußern. Wir finden aber, daß seine religiösen Anschauungen
und Ausdrucksweisen durch fleißige Lesung folgender Schriften bedingt sind:
Em, 1 Kr, Gl, Eph (Phil?), Kl, 2 Th (Tt, 1 Tm?), Hb, 1 Pt (Jk?), AG und
— die Lehre der 12 Apostel. Der kirchliche Einfluß des letztgenannten
Buchs um diese Zeit wird auch dadurch bestätigt, daß die später weit ver-
breitete Interpolation des Aposteldekrets AG 15, 29 aus Didache 1, 2 wahr-
scheinlich schon dem Apologeten Aristides um 145 vorlag (vgl. Einl II 2 ,
346. 355).
ill. 1 in dem Kapitel über Petrus : sed et evangelium juxta Marcum, qui auditor eius et
interpres fuit, hujus dicitur).
13) Cf GK I, 174 f. II, 752; Forsch VI, 26 f. 158 f.; Barnard, The biblical Text of
Clement of AI. in the four gospels and the acts (Texts and Studies ed. Robinson V, 5) 1899
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§ 4. Älteste Spuren u. Entstehung von Sammlungen apostol. Schriften. 35
§ 4. Älteste Spuren und Entstehung von Sammlungen apostolischer
Schriften.
Aus den in § 3 zusammengestellten Tatsachen, zu welchen eine vollständige
Untersuchung der für die gleiche Periode zeugenden Literatur noch manche
Bestätigung hinzuzufügen hat, ergibt sich, daß schon geraume Zeit vor 140 im
ganzen Umkreis der katholischen Kirche die Sammlung der 4 Ew und diejenige
der 13 Paulusbriefe neben den Schriften des AT's gelesen wurden, und daß
noch mehrere andere Schriften, wie Ap, AG, in einigen Teilen der Kirche wohl
auch Hb, 1 Pt, Jk und Briefe des Jo und vielleicht sogar die Apostellehre der
gleichen Ehre gewürdigt wurden.
1. Die Sammlung der Paulusbriefe läßt sich an der Hand des
1. Clemensbriefs (a. 97) und der Briefe des Ignatius und Polykarpus (um 110}
bis in die letzte Zeit des 1. Jahrhunderts zurück verfolgen. Wenn bei Clemens
(c. 5) noch eine selbständige Überlieferung vom Lebensgang des Paulus zu ent-
decken ist, so ist das Bild des Apostels in der Vorstellung der Bischöfe von
Smyrna und Antiochien durchaus nach dessen Briefen gestaltet, und die Art,
wie sie sich auf dieselben berufen oder Gedanken derselben nachklingen lassen,
setzt bei den Gemeinden in den Provinzen Asien und Macedonien und in Born,
an welche Ignatius und Polykarp schrieben, Vertrautheit mit denselben Paulus-
briefen voraus, welche die Brief schreib er in Händen hatten. Der Stolz und Buhm
derjenigen Gemeinden, an welche Paulus Briefe geschrieben hatte, beruhte auf der
allgemeinen Verbreitung dieser Briefe *). Polykarp (3, 2) verweist die Gemeinde
von Philippi geradezu auf Lesung der Briefe des Paulus zum Zweck der
Erbauung. Ignatius kennt den Epheserbrief bereits unter diesem irrigen Titel,
welchen er schon vor Marcion überall in der Christenheit trug (oben S. 28),
welchen derselbe jedoch nur als Bestandteil einer Sammlung getragen haben
kann. Polykarp faßt Phl und Th unterschiedslos als eine an die Macedonier
gerichtete Gruppe von Briefen zusammen (1, 2; 3, 2 ; 11, 3 — 4), wie das auch
Clemens AI. protr. 87 und noch Victorinus von Pettau 2 ) auf Grund der ihnen
vorliegenden Ariordnung der Briefe tun, wonach Phl — Th eine ungetrennte
Gruppe bildeten. Eben, dies ist die Ordnung, welche dem Tertulliari vorlag
(GK II, 344 f.), woraus sich dann um so leichter eine gelegentliche Ver-
wechselung von Phl und Th bei Tertullian erklärt (Scorpiace 1 3), und welche
als ein Best aus alter Zeit im Text des griechisch-lateinischen Codex Claromon-
tanus (= D) 3 ) , bei Ambrosiaster, Augustin, Cassiodor, in alten Vulgatahss.
1) Cf Clem. I Cor. 47, 1—3; Ign. Eph. 8, 1; 12, 2; Rom. 4, 3; Polyc. ad Phil'.
1, 2; 3, 2; 11, &; Tert. praescr. 36; c. Marc. IV, 5; August, doctr. christ. II, 8, 12.
2) Cf Haußleiter, Theol. Ltrtrbl. 1895 S. 196.
3) In dem Verzeichnis der hl. Schriften, welches dieser Codex zwischen Phlm und
Hb bietet, sind diese Briefe ausgefallen GK II. 159. 164. 171. 354, cf S. 349; unten
Beil. JI.
3*
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36 § 4. Älteste Spuren u. Entstehung von Sammlungen apostol. Schriften.
wie Fuld., auch in einigen griech. Minuskeln und in einem uralten syrischen
Kanon 4 ) vorliegt und mit der Umstellung Th — Phl wahrscheinlich auch dem
Origenes vorlag. Ist Clem. I Cor. 47, 1 mit den griechischen Hss und dem
Syrer gegen den Lateiner, der xiva tqonov voraussetzt, in bezug auf den 1 Kr
des Paulus zu lesen %L tvqwtqv vftiv iv &QXfi *ov evayyellov eyqaxpev, so ist dies
auch kaum anders zu verstehen, als daß Clemens diesen Brief für den zuerst
geschriebenen Brief des Paulus hielt, was sich bei ihm nicht anders, als beim
Fragmentisten Müratori's daraus erklärt, daß dieser an der Spitze der Sammlung
stand. Eine mit 1 Kr beginnende, mit Em schließende Sammlung setzen der
C. Mur., Tertullian, wahrscheinlich auch Cyprian und Origenes voraus (GK II,
59 f. 344 — 354). Diese Sammlung, welche zugleich die Folge Phl — Th und
den falschen Titel TtQog 3 E(p€Oiovg enthielt, hat allen Anspruch darauf, die
ursprüngliche zu sein und vor a. 97 sich verbreitet zu haben. Gewiß werden
schon vor Entstehung dieser Sammlung einzelne Briefe des Paulus über die
Gemeinden, an welche sie gerichtet waren, hinausgekommen sein. Ein Beispiel
davon bietet uns schon Kl 4, 16. Die Verbreitung und Benutzung mancher
Briefe des Paulus, welche 2 Pt 3, 15 f. voraussetzt, ist kaum anders zu denken,
als daß mehrere solche in Hss vereinigt waren. 5 ) Dies waren aber Privat-
sammlungen, welche weder unter sich noch mit der später in der Kirche überall
zu findenden Sammlung völlig gleich gewesen sein können. Nach 2 Pt 3, 15
befand sich darunter ein Brief des Paulus an jüdische Christen, welcher nicht
in die kirchliche Sammlung aufgenommen wurde und daher verloren gegangen
ist. 6 ) Die Entstehung der einen, seit den letzten Jahren des 1. Jahrhunderts
nachweisbaren Sammlung von 13 Paulusbriefen ist durch das Vorhandensein
solcher Sammlungen nicht erklärt und nicht nach Analogie derselben zu erklären.
Es muß vielmehr in irgend einer bedeutenden Ortsgemeinde durch bewußtes
Verfahren eine Auswahl unter den noch vorhandenen Briefen getroffen und eine
geordnete Sammlung hergestellt worden sein, welche wegen ihrer Zweckmäßigkeit
für die gottesdienstliche Lesung die bis dahin vorhandenen Exemplare einzelner
Briefe oder auch bereits entstandener, sicherlich meist unvollständiger, in ein-
zelnen Fällen vielleicht aber noch andere Stücke umfassender Sammlungen in
kurzer Zeit überall aus dem kirchlichen Gebrauch verdrängt hat. Diesen Erfolg
aber konnte die Sammlung nur haben, wenn sie sehr früh, ziemlich bald nach
dem Tode des Paulus, ehe noch andere Sammlungen sich festgesetzt hatten, ver-
anstaltet und in Umlauf gesetzt worden ist. Um so sicherer ist, daß man nicht
4} Studia Sinaitica I (London 1894) p. 14 cf N. kirchl. Ztschr. 1900 S. 793 ff. und
hier unten § 6.
6) Eine Vorstellung von der Entstehung solcher Sammlungen gibt uns Pol. ad
Phil. 13, 2: tag sTtiaroXdg 'lyvariov rag TtefMpd'eioag r\fiiv (an Polykarp und an die
Smyrnäer) vn avrov y.al aXXas, oaag ifyofiev Ttao yutv, &7i£[iy.afiev vjiiv, xad'cog iverei-
Xaa&e • cäriveg vTroreTctyperai eloi rrj imoxoXfi ravTTj.
6) Einl II 2 , 45 f. 97 f.
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§ 4. Älteste Spuren u. Entstehung von Sammlungen apostol. Schriften. 37
alles, was von Briefen des Paulus aufzutreiben war, in die Sammlung aufnahm.
Außer dem 2 Pt 3, 15 erwähnten Brief haben auch diejenigen, deren Abfassung
durch Paulus uns durch 1 Kr 5, 9 und Phl 3, 1 verbürgt ist, keine Aufnahme
gefunden. Eine schwierige Frage ist, ob der Hb, dessen überall verbreiteter
Titel Ttqbg 'EßQCtiovg den frühzeitigen Anschluß an eine Sammlung voraussetzt,
gleich damals als eine zwar nicht von Paulus herrührende, aber doch mit dessen
Briefen verwandte Schrift angeschlossen wurde, oder ob dies erst später und an
einem anderen Ort geschehen ist. Übrigens lassen sich über den Entstehungsort
der Sammlung nur Vermutungen aufstellen. Die Voranstellung von 1, 2 Kr spricht
für Korinth ; doch könnte man auch an Rom denken und in diesem Fall die Stellung
des Rm am Schluß der ältesten nachweisbaren Sammlung allenfalls begreifen.
2. Das Wort tb evayyiXiov, welches um 150 wie um 200 die Sammlung
der 4 Evv bezeichnete (oben S. 16. 32), finden wir auch in der noch älteren
Literatur nicht ganz selten so gebraucht, daß darunter zweifellos eine im Besitz
der Gemeinde befindliche , ihrem Inhalt nach allgemein bekannte schriftliche
Darstellung von Jesu Taten und "Worten zu verstehen ist 7 ). So in der Didache 8 )
und bei Ignatius, bei diesem zwar nicht an allen Stellen, welche man so ge-
deutet hat, aber doch an einigen •) und vor allem an der vielumstrittenen Stelle
Pbilad. 8, 2, aus welcher hervorgeht, daß gerade auch heterodoxe Christen für
die von der Kirche behaupteten Glaubenssätze urkundlichen Beweis aus dem
geschriebenen Ev forderten. Dieses Ev ist bereits die allgemein anerkannte
Urkunde. Da überall Kenntnis desselben vorausgesetzt wird, so versteht sich
von selbst, daß es durch regelmäßige Lesung im Gottesdienst den Gemeinden
zum Gehör gebracht wurde. Dies wird bestätigt durch die präsentische Citations-
formel Xiyzi 6 xvgiog mit und ohne h tcJ> evayyeXuo 10 ), welche daneben ebenso
7) GK I, 840—950. Über Ign. Philad. 8 GK II, 945—949; über Clera. II Cor.
14, 2 f. GK II, 942-945.
8) Did. 8, 2 wird das Vaterunser wesentlich nach Mt 6, 9 — 13 eingeleitet cos
exeXevaev 6 xvotos ev reo evayyekico avrov, ovreo Ttoooev'/eod'e. — 11, 3 xard rb Boy/ia tov
evayyeXiov ovreo noi^aare. — 15, 3 cos fyere iv reo evayyelicp, ebenso 15, 4 mit dem Zusatz
tov xvqiov rificov.
9) Smyrn. 5, 1 (von den Ketzern) ove ovx eneiaav al TtoofrjreZai ovde 6 vo/nos Mcooecos,
äM? ovde {UxQi vvv ro evayyihov ovde rd fj/uereoa rcov xar ävdoa 7tad"rjfiara, Smyrn. 7, 2
7iQ£7Cov ovv ioriv . . . Tigooexeiv de rols Ttoo^raiSj i^aioercos de rep evayyeXicp, iv co T0
Ttä&os rjfilv dedrjhcorai, xal r\ drdoraois Tejeleicorai. Philad. 5, 1 f. Ttoootpvycbv reo evayyeXicp
cos oaoxl Iqoov xal rots äjtoorökois cos Ttpeoßvreoicp ixxkrjoias. xal rovs Ttootp^ras de aya-
Ttcdfiev Sid ro xal avrovs eis ro evayyihov xarrjyyeXxivcu xrL Philad. 8, 2 ixel rjxovod
Tivcov Xeyovrcov, ort v idv fir\ ev roZs ctQ%eiois evgco, iv rtp evayyeXtcp f ov 7iujrevco u , xal
Xeyovros fjcov avroZe, Sri r ydyoa7trai u , a7Cexaid'r i odv fioi, ort n 7tooxeirai u , i/uol de dg%eZd
ianv 'Jrjaovs Xpioros xrh Über AT und NT, Priester und Propheten einerseits, Apostel
und Evangelium andererseits auch Philad. 9.
10) So vollständig in der Predigt, welche als Clem. epist. II ad Corinth. überliefert
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38 § 4. Älteste Sparen u. Entstehung von Sammlangen apostol. Schriften.
auf das Heden Gottes in den Schriften des AT's angewandt wird; durch die
Berufung auf einzelne Gebote Jesu als etwas, was die Gemeinden in und
mit dem Ev besitzen, so daß eine genauere Wiedergabe entbehrlich scheint
(Did. 15, 3. 4 s. S. 37 A 8), sowie durch die ersten Beispiele der Anwendung
von fj yQ(xq)i] und yiyqamai auf das Ev oder die Evv n ).
Welches aber war dieses r Ev u ? Zwischen dem katholischen Bischof und
den mit ihm disputirenden Ketzern (Ign. Philad. 8, 2), sowie zwischen dem
Bischof von Antiochien und den kleinasiatischen Gemeinden, überhaupt zwischen
den Verfassern der uns erhaltenen Literatur aus der Zeit von 90 — 140 und
ihren Lesern scheint ein stillschweigendes Einverständnis darüber zu bestehen,
was das Ev sei, worin der. Erlöser gleichsam zum zweiten Mal r Fleisch u ge-
worden ist (Ign. Philad. 5, 1), worin sie die Taten und Worte Jesu als gegen-
wärtigen Besitz „haben" (Did. 15, 3. 4).
Durch Papias wissen wir, daß zu Lebzeiten seines Lehrers Johannes in
dessen Umgebung zu Ephesus ein Ev des Marcus gelesen und besprochen
wurde 12 ). Aus Iren. III, 11, 7 vgl. I, 26, 1 ergibt sich, daß Kerinth, der Zeit-
genosse des Johannes, dieses Ev vor anderen bevorzugte. Aus der Nachricht
des Papias über Matthäus ist zu entnehmen, daß das hebräische Ev des Matthäus
in der Provinz Asien eine Zeit lang nur durch das Mittel mündlicher Dolmetschung
den Gemeinden zugänglich gemacht wurde, bis dies durch eine griechische Version
überflüssig wurde, offenbar durch diejenige, welche von Barnabas als hl. Schrift
citirt wird, und deren Wortlaut an vielen Stellen, besonders bei Ignatius und in
der Didache wiederzuerkennen ist d. h. durch den griechischen Matthäus des
kirchlichen Kanons. Das 4. Ev setzt nicht nur einen Typus der ev Tradition
bei seinen Lesern als bekannt voraus, wie er uns in den Synoptikern vorliegt,
sondern berücksichtigt auch den Wortlaut des Mr und des Lc. Der unechte
Zusatz Mr 16, 9 — 20, welcher no*ch vor 150 dem unvollendet gebliebenen Ev
des Mr beigefügt wurde, ist eine Kompilation aus Jo 20; Lc 24 und einer von
Papias aufbewahrten Erzählung des Aristion, eines Jüngers Jesu. Die ältesten
Kindheitsevv, das des Jakobus und das des Thomas (GK II, 768 — 780), fußen
ebenso wie das erst um 150 entstandene Ev des Petrus und dasjenige Marcions
sowie das wahrscheinlich noch etwas jüngere Ebionitenev nachweislich auf den
ist: 8, 5, abgekürzt 3, 2; 4, 2; 5, 2; 6, 1; ein Wort der Bergpredigt mit liyet 6 &e6*
13, 4; in bezug auf Alttestamentliches 3, 5 (als ob Jesus im Buch des Jesaja redete); 13, 2.
11) Ign. Philad. 8, 2 (?. vorhin A 9) ; Baru. 4, 14 TiQooeywfiav, fi fröre, cos yeygaTzrai
„TtoAAoi xXrjroi, oliyoi Be ixXexrol" evpe&ajjisv (== Mt 22, 14); Clem. U Cor. 2, 4 (hinter
atl. Citaten) xal e-iiga ök ygayri Xeyei, 6n „ovx r i ld'ov xaXeaai dixaiovs, dXXd duagrcolovs",
(= Mt 9. 13). In dem Objekt der gottesdienstlichen Vorlesung (rd yeygafifieva Clem.
II Cor. 19, 1) sind ohne Frage ntl. Texte inbegriffen cf Just. apol. I, 67 oben S. 32.
12) Die in Ein! II 2 , 207—211. 220. 227—234. 254—260. 265 f. 505 f. 520 und Forsch
VI, 105 etc. gelieferten Beweise für diese und die nächstfolgenden Behauptungen können
hier nicht excerpirt werden.
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§ 4. Älteste Spuren u. Entstehung von Sammlungen apostol. Schriften. 39
kanonischen Ew. Das vor 150 entstandene aramäische Hebräerev, an welchem
sich die Nazaräer Jahrhunderte lang genügen ließen, ist, was seinen Inhalt an-
langt, weder die Grundlage des griechischen Mt, noch eine selbständige Schöpfung
aus dem Quell der mündlichen Tradition, sondern eine Umarbeitung desselben
hebräischen (aramäischen) Ev, welches dem griechischen Mt der katholischen
Kirche zu Grunde liegt. "Wie seine Entstehung zusammenfällt mit der Separa-
tion der an ihrer nationalen Sprache und Sitte festhaltenden Judenchristen von
der griechischen Kirche Jerusalems und des Reiches, so blieb sein kirchlicher
Gebrauch auf jene separirten Gemeinden der „Hebräer" beschränkt. Daß abge-
sehen vom Diatessaron der Syrer (s. unten § 6) jemals in einem Teil der katho-
lischen Kirche ein anderes Ev außer unseren 4 Evv regelmäßig im Gottesdienst
gelesen worden sei, ist nicht wahrscheinlich zu machen, geschweige denn zu
beweisen. In der Literatur von 95 bis 140 finden sich neben einer Menge von
Bestätigungen für den kirchlichen Gebrauch der 4 Ew nur vier ev Citate, welche
aus diesen nicht abgeleitet werden können 18 ). Gemeinsam ist diesen Citaten
eine unverhältnismäßige Ausführlichkeit, welche darauf hinweist, daß sie nicht
allgemein Bekanntes in Erinnerung bringen, sondern mehr oder weniger Neues
mitteilen sollten. Am wenigsten gilt dies von dem zweiten, welches allein auf
das Ev zurückgeführt wird, dafür aber auch am wenigsten apokryphen Charakter
zeigt 14 ). Die verbreitete Meinung, daß der alte Prediger (II Clem.) das Agypterev
benutzt und als „das Ev u citirt habe, würde zu der höchst unwahrscheinlichen
Annahme zwingen,. daß die Predigt in Ägypten gehalten worden sei; denn vor-
ausgesetzt, daß dieses Ev älter als die Predigt ist, wäre doch nicht denkbar,
daß das nach dem Land seines Ursprungs und seiner Verbreitung benannte Ev
in so früher Zeit zum Ev auswärtiger Gemeinden geworden sei. Das Citat
II Clem-. 12, 2 — 6, welches diese Vermutung hervorgerufen hat, ist verwandt,
aber weder inhaltlich noch formell identisch mit einem Apokryphon, welches
Clemens AI. im Agypterev und wieder in anderer Fassung und Verwendung bei
Cassianus gefunden hat. Es lebten solcher nichtkanonischer Herrnworte nicht
wenige in mündlicher wie in schriftlicher Überlieferung fort; Papias um 125 hat
viele gesammelt; die Redaktoren neuer Evv haben, mit Ausnahme Marcions,
solche noch nicht kanonisirte Worte mit Vorliebe sich angeeignet und verarbeitet.
Ignatius und der Prediger im II Clem. konnten durch Mitteilung solcher Stücke
mit noch größerer Unbefangenheit, als es Irenäus, Clemens AI., Origenes u. a.
13) Clem. II Cor. 5, 2—4; 8, 5; 12, 2-6; Ign. Smyrn. 3, 2 GK I, 920—924; 934
bis 941; II, 631—642.
14) Clem. II Cor. 8, 5 Xeyei yäp 6 xvqios iv rq> evayyeXicp * „et ro /uixpor ovx trygrj-
oare, 16 jieya Tis vulv Scoaei ; Xeyca yäp vjulv, öri 6 7Tiar6e hv lka%iOTq> xai Iv TtoXkqi Ttiaros
ioTtr". Die solenne Citationsformel erklärt sich daraus, daß hier ein von Iren. II, 34, 3;
Hippol. refut. haer. X, 33 unbedenklich citirtes Apokryphon mit dem kanonischen Spruch
Lc 16, 10 verschmolzen ist.
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40 § 4. Älteste Spuren u. Entstehung von Sammlungen apostol. Schriften.
getan haben, die aas dem geschriebenen und gottesdienstlich gebrauchten Ev der
Kirche zu schöpfende Kunde von Jesu Taten und Worten bereichern.
Über die Entstehung der kirchlichen Evangeliensammlung haben wir keinen
glaubwürdigen Bericht. Aber die Legenden, wonach der Apostel Johannes die
synoptischen Evv geprüft, gebilligt und durch Hinzufügung des seinigen ergänzt
habe (vgl. die Belege GK I, 943 ; II, 36 ff.) , enthalten einen Kern , welcher*
durch die Nachricht des Papias vom Urteil des Johannes über Marcus, durch
das tatsächliche Verhältnis des 4. Evangelisten zu den Synoptikern und durch
die offenbare Bestimmung des 4. Ev für die Lesung in der Gemeindeversamm-
lung (Jo 19, 35; 20, 31 ; vgl. 1 Jo 1, 4) als geschichtlich verbürgt ist. Ob die
Lc 1, 1 erwähnten Versuche evangelischer Geschichtschreibung weitere Verbrei-
tung gefunden haben, und ob es infolgedessen um 100 in Ephesus oder in
anderen Gemeinden einer förmlichen Auswahl unter den vorhandenen Ew be-
durft hat, um der Kirche „das Ev u zugeben, welches sie seither besitzt, wissen
wir nicht.
3. Sonstige Schriften, welche wir später zum NT gerechnet finden,
sind jedenfalls nicht so wie die Ew und die Paulusbriefe schon damals zu einer
Sammlung vereinigt worden; erscheinen sie doch erst dann als unveräußerliche
oder umstrittene Teile einer solchen, als die Vorstellung eines NT's sich heraus-
gebildet hatte. Die Urkunden reichen auch nicht aus, um zu bestimmen, ob
der spürbare Einfluß einer apostolischen Schrift auf eine nachapostolische von
privater Beschäftigung des späteren Schriftstellers mit einer älteren Schrift oder
von öffentlicher Lesung der letzteren herrührt. Wir sind auf Schlußfolgerungen
aus den späteren Zuständen und aus der ursprünglichen Bestimmung der frag-
lichen Schriften angewiesen. Darnach ist frühzeitige öffentliche Lesung in weiten
Kreisen anzunehmen für die nicht an eine Einzelgemeinde gerichteten Briefe:
1 Pt, 1 Jo, ferner für die Ap (1, 3. 4; 2, 7. 23; 22, 16—19) und für den Hirten
(vis. II, 4, 3). Ob dies auch von der AG gelten darf, erscheint zweifelhaft.
Das enge Verhältnis, in welchem sie als literarisches "Werk vermöge ihres Ur-
sprungs zu dem 3. Ev stand, mußte durch die innige Verbindung dieses Ev
mit den drei anderen Ew im Gebrauch und der Anschauung der Kirche ge-
lockert werden. Es werden viele auf die Entstehung des NT's bezügliche
Fragen für immer ohne sichere Antwort bleiben. Aber als sicher darf gelten,
daß um die Jahre 80 — 110 sowohl das „vierfaltige" Ev als das Corpus der 13
Briefe des Paulus entstanden und in den gottesdienstlichen Gebrauch der heiden-
christlichen Gemeinden auf der ganzen Linie von Antiochien bis Rom eingeführt
worden sind, und daß diese beiden Sammlungen, welche den Grundstock des
NT's bilden, von Anfang an im gottesdienstlichen Gebrauch und in der Vor-
stellung der Gemeinden von einem bald weiteren, bald engeren Kreis christlicher
Schriften umgeben waren, welche in ähnlichem Maße, wie jene zwei Sammlungen,
geeignet schienen, als gottesdienstliche Lesebücher der Erbauung und Belehrung
der Gemeinden zu dienen.
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§ 5. Origenes und seine Schule. 41
§ 5. Origenes und seine Schule.
Eine wesentliche Änderung hat das NT durch Origenes und überhaupt im
Verlauf des 3. Jahrhunderts nicht erfahren. Das Neue, was Origenes brachte,
war die umfassende Vergleichung des überlieferten Besitzstandes der ver-
schiedenen Kirchen. Sein wechselreiches Leben bot ihm Gelegenheit, die be-
stehenden Verschiedenheiten durch Erfahrung kennen zu lernen; seine philo-
logische Vorbildung und sein ausgesprochener Beruf für die gelehrte Arbeit im
Dienste der Kirche befähigte ihn, sie mit Besonnenheit zu beurteilen.
Schon vor 217 hat er von Alexandrien aus Rom besucht und ist dort von
Hippolytus, dem ersten Gelehrten, den die dortige Kirche gehabt hat, vor ver-
sammelter Gemeinde als ein aufsteigender Stern begrüßt worden 1 ). Er hat auch
später Verbindung mit Rom gehabt (Eus. VI, 36, 4). Verschiedene Anlässe
führten ihn mehrmals nach Athen, wo er sogar zu literarischer Arbeit Muße
fand, nach Antiochien und nach Bostra, auch nach Cäsarea in Kappadocien. Die
letzten Jahrzehnte verlebte er in Palästina. Schüler aus allen Ländern strömten
ihm schon in Alexandrien, dann im palästinischen Cäsarea zu und blieben mit
ihm in Verbindung. Einem Bibelforscher, wie er war, machte nicht bloß die
Verwilderung des Bibeltextes beider Testamente Sorge, sondern auch die bis
dahin wenig empfundene Uneinigkeit in bezug auf den Bestand und die Grenzen
des Kanons. Origenes war kein durchgreifender Kritiker. „Verrücke nicht
die ewigen Grenzsteine, welche deine Väter gesetzt haben" (Prov. 22, 28),
sagt > er in bezug auf den Kanon 2 ). Was „die Männer der Anfangszeit" der
Kirche bestimmt haben, ist nicht leichthin zu verwerfen (bei Eus. VI, 25, 13).
Das entscheidende "Wort hat bei Orig. die kirchliche Tradition, welche ebenso
wie die Entstehung der hl. Schriften unter der Leitung der göttlichen Vor-
sehung steht (ep. ad Afric. 4. 9). Die Tradition ist aber nicht nach der der-
maligen Sitte einer Einzelgemeinde zu bemessen, sondern durch Anhörung und
Prüfung der Urteile aller Gemeinden zu ermitteln. Daraus ergibt sich inner-
halb des Kreises der ,,libri ecclesiastici" (de princ. praef. 8) d. h. der in der
Christenheit mit mehr oder weniger Übereinstimmung als hl. Schriften ange-
sehenen Bücher (oben S. 11. 13), die Unterscheidung zwischen solchen, welche
allgemein als hl. Schriften anerkannt sind (o^ioXoyovf.ievä)% und solchen, deren
1) Eus. h. e. VI, 14, 10; Hieron. v. ill. 61 cf meine Skizzen» S. 339 A 40.
2) Epist. ad Afric. 4 (ed. Delarue I, 16) cf Prol. in cant. (vol. III 36 non enim
trameundi sunt termini, quos statuerunt patres nostri).
3) Bei Eus. h. e. VI, 25, 8 Uir^og . . . /iiiav kmotokriv 6 fioÄoyov fiev^v xara-
XiXoiTTev ' %otco de xal Sevrepav • dfifißäklerai ydo. Ebendort § 12 von den 13 Briefen des
Paulus rcov aTtooTofoy.aiv 6 poXoyov pivcov yga/ufidrcor. Tom. XIV, 21 in Matth. äno
nvog tpEQOfiivrß fikv iv r/j ixxk^aia (v. 1. tau ixxÄqoiaig) y?a<pf}g, ov Ttapä Ttäai de 6/ao-
Xoyovftivr t s slvat &eiag. Vom kanonischen Daniel ep. ad Afric. 9 y feQo^evri 6/uo-
Xoyovftivcos \7t avrov (als von ihm verfaßt) y$a<fr t . Wer sich auf die Apokryphen beruft
(tom. XVII, 35 in Matth.) ovx ircl ofioXoyovftevov Tipäy^a Ttapä tole TzemoTevxooiv ikev-
oetai. Cf tom. I, 4 in Jo tcov to'ivxv fe^Ofiivcov yqaytov xai iv izdoaig ixxkqoiaig &eov
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42 § 5. Origenes und seine Schale.
Anerkennung als hl. Schriften in einem Teil der Gemeinden auf Widerspruch
stößt. Für letztere Klasse ist das später gebräuchliche imlayö^eva bei Orig.
noch nicht fest geprägt 4 ). Langst waren diese Ausdrücke in der Kritik der
klassischen Literatur gebräuchlich, wo es sich um die Echtheit oder Unechtheit
von Schriften unter berühmten Namen handelte 5 ). Eben dies war aber auch
bei der Kritik des biblischen Kanons in den meisten Fällen eine unumgäng-
liche Vorfrage, deren Beantwortung in steigendem Maß auch für die Frage
nach der Kanonicität entscheidend wurde. Nach Orig. gehörten zur Klasse der
Homologumena des NT's: die 4 Ew, 13 Briefe des Paulus, 1 Pt, 1 Jo,
AG- und Ap. Letztere gilt auch ihm als Abschluß des NT's (tom. 10, 15 in
Matth.); er beabsichtigte, sie zu kommentiren (ser. in Matth. 49). Nirgendwo
deutet er an, daß sie in einem Teil der Kirche beanstandet werde. Zu den
Antilegomena gehören folgende Schriften: 1. Der Hebräerbrief. Orig.
selbst citirt ihn sehr häufig ganz unbedenklich als paulinisch und kanonisch, be-
sonders in seinen früheren Schriften. Er verteidigt die, wie es scheint, noch
wenig zahlreichen Kirchen, welche ihn auf Grund alter Tradition so gebrauchen,
gegen die Vorwürfe anderer Kirchen, und er verteidigt diese Tradition selbst
mit der oben S. 17 f. erwähnten Modifikation (Eus. VI, 25, 11 — 14). Andrer-
seits berücksichtigt er nicht selten, ohne jemand einen Vorwurf daraus zu
machen, die Nichtanerkennung des Hb in anderen Kreisen (ser. in Matth. 28
p. 848 D. 849 B; ad Afric. 9). 2. Der 2 Pt wird von Origenes nach den nur
lateinisch erhaltenen Kommentaren häufig als echt und als heilige Schrift citirt
(hom. 4, 4 in Lev. ; hom. 13, 7 in Num. ; Hb; IV, 9 ; VIII, 7 in Born. vgl.
die Aufzählung aller apost. Bb. hom. 7, 1 in Jos.), auch von seinem Schüler
Firmilian (Cypr. ep. 75, 6) als solche berücksichtigt. Orig. selbst hat nichts
gegen ihn einzuwenden, leugnet aber nicht, daß er beanstandet wird (Eus. VI,
25, 8). 3. Ebenso äußert er sich ebendort, § 10 über 2. 3 Jo, nur daß er
hier ausdrücklich Zweifel an der Echtheit als Grund der Anfechtung angibt,
was mit der Andeutung im C. Mur. 1. 72 übereinstimmt (ob. S. 20). 4. Der
Jk wird häufig citirt, in den lat. Schriften auch als scriptum divma und
apostolus Jacobus (hom. 2, 4 in Lev. ; lib. IV, 1 in Born. ; besonders ausdrück-
lich hom. 4, 2 in Psalmos vol. II, 671), auch als Schrift des Bruders Jesu
(lib. IV, 8 in Born.). Der Mangel an allgemeiner Anerkennung wird aber be- .
rücksichtigt tom. 20, 10 in Jo. cf tom. 19, 6. 5. Auch in bezug auf den
Jud geschieht dies ein einzigesmal tom. 17, 30 in Mt., während er übrigens
TzeTTiOTevfievcjv eliai &£tcor. Bei Eus. VI, 25, 4 ttboi iwv 8 evayyefacov. a xal uora
d parriop^rd ioTiv iv rf t vtzo top ovoavov ixxh\oiq tov &£Oi\
4) Cf jedoch de orat. 14, 4 rf; 8h tov TcoSrj 3iß).cp dir iliyovoiv oi ix TtsptTopfjs
tag urj ev8iad'r i xoj. Dafür du<fißä).).ETai mit dem Gegensatz dravTioorjos bei Eus. VI,
25, 4 u. 8 s. vorige Anm.
5) Jos. c. Apion. I. 2. 5; 22. 3; Plut. vit. X orator. p. 839.
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§ 5. Origenes und seine Schule. 43
nicht nur häufig als hl. Schrift citirt, sondern auch hochgepriesen wird tom.
10,- 7 in Mt. 6. Der Brief des Barnabas wird von Orig. nicht nur c. Cels.
I, 63 als xa&oXiytT] imatoXri charakterisirt, sondern auch im Onomastikon mit
den übrigen katholischen Briefen gleichgestellt (oben S. 22). 7. Den Hirten
des Hermas hält Orig. für ein inspirirtes und sehr nützliches Buch 1. X, 31
in Rom., zeichnet ihn deutlich vor den Apokryphen aus hom. 35 in Luc, setzt
Bekanntschaft der Gemeinde mit demselben voraus hom. 13, 3 in Ezech., ver-
wendet ihn reichlich zum Schriftbeweis und vermutet, daß er von dem B-m
16, 14 erwähnten Hermas verfaßt sei, berücksichtigt aber auch ziemlich häufig
den bis zur Verachtung gesteigerten "Widerspruch gegen dessen kanonische An-
erkennung princ. TV, 11; hom. 8 in Num. ; hom. 1 in Psalm.; tom. 14, 21 in
Mt. ; ser. in Mt. 53. 8. Als hl. Schrift hat Orig., wie es scheint, die
Apostellehre princ. III, 2, 7 citirt (GK I, 363). Sie war eine solche in
Alexandrien, aber keineswegs überall (oben S. 25), also sicherlich auch für
Orig. ein Antilegomenon. 9. Endlich ist hier das Hebräerev zu nennen.
Orig. erwähnt es nicht in seiner Liste apokryph. Evv (hom. 1 in Luc. GK II,
625), citirt es dagegen mehrmals mit den für die Antilegomenen ihm geläufigen
Formeln tom. 2, 6 in Jo.; hom. 15, 4 in Jerem. ; tom. 15, 14 in Mt. lat. cf
Hieron. v. ill. 2. Die judenchristlichen Gemeinden, deren einziges Ev dieses
war, hat Orig. zwar als zurückgeblieben betrachtet, aber scharf von den häre-
tischen Ebioniten unterschieden und anerkannt, daß sie auf der kirchlichen
Glaubensregel stehen (GK II, 664 f. 671). Daher mußte er auch ihr Ev als
ein Antilegomenon in der Kirche gelten lassen. — Von anderen Schriften, wie
der Predigt des Petrus (tom. 13, 17 in Jo.), den Akten des Paulus (tom. 20, 12
in Jo*; princ. 1 , 2 , 3), dem ziemlich oft citirten 1 Clem läßt sich dies
nicht behaupten. Eine „Lehre des Petrus" schließt Orig. princ. praef. 8 aus-
drücklich von den libri ecclesiastici aus; von der Ap des Petrus zeigt sich bei
ihm keine deutliche Spur.
Alles erwägend und nichts, was noch der Entscheidung harrte, entscheidend,
hat Orig. durch seine Schriften und seine Schüler auf die Fortbildung des Ka-
nons in weiten Kreisen anregend gewirkt. Die allegorische Auslegung, durch
welche Origenes den widerstrebendsten Stoff sich zurechtzulegen und den ver-
schiedenartigsten Schriften den Eingang in das Heiligtum der Bibel offen zu
halten verstand, fand auch Widerspruch. Die Schrift des Bischofs Nepos von
Arsinoe „gegen die Allegoristen u vertrat und verbreitete einen Chiliasmus,
welcher dem Bischof Dionysius von Alexandrien um 260 unerträglich schien
und ihn veranlaßte, in einer Schrift „über die Verheißungen" diesem Chiliasmus
durch Kritik der Ap den Boden zu entziehen (Eus. VII, 24 — 25; GK I,
227—231. II, 990). Anknüpfend an die schroffe Kritik der Ap durch Cajus
(oben S. 19), sucht er die seinige als pietätsvoll und bescheiden einzuführen.
Er will die Ap nicht außer Geltung setzen, geschweige denn verspotten, auch
nicht bestreiten, daß sie von einem inspirirten Mann Namens Johannes ge-
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44 § 6. Das anfängliche Nene Testament der Syrer u. dessen Fortbildung.
schrieben sei. Aber der hauptsächlich auf die Verschiedenheit des Stils und
der Anschauungen zwischen dem 4. Ev und 1 Jo einerseits und der Ap anderer-
seits gegründete Beweis des Dionysius, daß nicht der Apostel Jo die Ap ge-
schrieben habe , die hämischen Hinweise auf die gespreizte Art der Selbst-
bezeugung des Apokalyptikers und das Bekenntnis, daß der Wortsinn des Buchs
Unsinn, der vorauszusetzende tiefere Sinn aber für ihn unfindbar sei: dies alles
hat doch nur den praktischen Zweck, das Buch herabzusetzen. Daß dies in
Ägypten für einige Zeit einigermaßen gelungen ist, bezeugt das unsichere Ver-
hältnis der Ap zum NT in den ägyptischen Versionen, der sahidischen wie der
boheirischen •). Die Kritik des Dionysius hat auch auf die Schule des Origenes
in Palästina, insbesondere auf Eusebius Eindruck gemacht. Bei diesem wirken
aber noch andere Tatsachen mit, ohne deren Kenntnis seine Bemühungen um
Feststellung des Kanons nicht zu verstehen sind.
§ 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer und dessen
Fortbildung 1 ).
Über die Anfange des Christentums in Edessa besitzen wir einen legen-
darischen Bericht in syrischer Sprache (The doctrine of Addai ed. Phillips,
1876), welcher bedeutsame Angaben über die dort eingeführten gottesdienstlichen
Lesebücher enthält. Die Verschiedenheit der Urteile darüber, inwieweit diese
Schrift mit derjenigen, aus welcher Eus. h. e, I, 13 geschöpft hat, identisch
sei, kann hier auf sich beruhen. Die einschlägigen Angaben stellen jedenfalls
einen Stand der Dinge dar, welcher durch die Einführung oder doch die allge-
meine Verbreitung der syrischen Vulgata, der sogen. Peschittha (Peschito) be-
seitigt worden ist. Dasselbe gilt von den Schriften des Aphraates um 340
und zum Teil noch von den Kommentaren Ephraim* s zum NT; nicht minder
6) Scrivener, A piain introdoction to the criticism of the >JT II 4 , 123. 137.
1) Die älteren Arbeiten über diesen Gegenstand sind durch die zahlreichen und
bedeutenden Veröffentlichungen syrischer Texte, sowohl biblischer als patristischer,
während der letzten 50 Jahre antiquirt worden. Die Schrift von J. ßewer, The history
of the NT Canon in the Syrian church, Chicago 1900, ist ein erster Versuch, die neuen
Stoffe zu bewältigen. Reiche Literaturangaben bietet Nestle Prot. RE. IIP, 167 — 178.
Ausgehend von der Untersuchung des syrischen Diatessarons habe ich mich vielfach
auch um die Geschichte des ganzen NT's bei den Syrern der alten Zeit bemüht.
Forsch LH, 286-299; GK I, 369-429; II, 530-564. 592-611.1016-1019; Zur Gesch.
von Tatians Diatessaron im Abendland N. kirchl. Ztschr. 1894 S. 85 — 120; Ephraim's
Kommentar zu den Briefen des Paulus Th. Ltrtrbl. 1893 Nr. 39 — 41; Die syrische
Evangelienübersetzung vom Sinai, ebenda 1895 Nr. 1-3; Neue Quellenforschungen zum
Diatessaron, ebenda 1896 Nr. 1—2; Art. „Evangelienharmonie" Prot. REncykl. V 8 , 653
bis 661 ; Das NT Theodors von Mopsuestia und der ursprüngliche Kanon der Syrer, N.
kirchl. Ztschr. 1900 S. 788—806. — Die allgemeinen Fragen werden vielfach berührt
auch in dem Werk von A. Hjelt, Die altsyrische Evangelienübersetzung und Tatians
Diatessaron, 1901 (= Forsch VII).
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§ 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung. 45
von einem bisher wenig beachteten syrischen Verzeichnis der biblischen Bücher
im Cod. Syr. 10 auf dem Sinai 2 ). Addai, der Stifter der Kirche von Edessa,
soll ausdrücklich angeordnet haben, daß neben dem AT keine anderen Schriften
als das Ev, die Briefe des Paulus und die AG-, als in welchen die
göttliche "Wahrheit beschlossen sei, in den Kirchen gelesen werden sollen (D.
Add. p. 46). Es waren also alle katholischen Briefe und dieAp
ausgeschlossen. Dem entspricht genau jener syrische Kanon, der auf Voll-
ständigkeit Anspruch macht ; ebenso der gesamte Citatenschatz des Aphraates 8 ).
1. Neben anderen mißverständlich ungenauen Umschreibungen beider Testa-
mente finden wir auch eine, wonach das NT mit dem Diatessaron gleichgesetzt
erscheint (D. Addai p. 36; GKK I, 388 f.). Es ist dies der Name der nach aller
Tradition von dem Syrer Tatian verfaßten syrischen Evangelienharmonie, ist
also gleichbedeutend mit dem, was dieselbe Legende sonst „das Ev" nennt.
Das Diatessaron ist in der Umgebung des Legendenschreibers das Buch gewesen,
durch welches wenigstens regelmäßig die ev Geschichte der Gemeinde bekannt
gegeben wurde. Auch dies bestätigen die Abhandlungen des Aphraates (Forsch
I, 72—76 ; GK I, 396 — 404) und der Kommentar Ephraims über das Diatessaron.
Ephraim kennt aber auch sehr wohl die vier Ew, und der erwähnte syrische
Kanöü enthält nicht das Diatessaron, sondern die vier Ew in unserer Ordnung.
Jenes nannten die Syrer spätestens 350, wie die um diese Zeit entstandene
Übersetzung von Eus. IV, 29, 6 beweist, nicht nur Diatessaron, sondern auch
„das Ev der Gemischten", diese das „Ev der Getrennten". Beide Gestalten des
Ev haben bei den Syrern längere Zeit neben einander bestanden; es fragt sich
noch immer, welche von beiden die ursprüngliche sei. Je umfassender der zur
Verfügung gestellte Stoff und je gründlicher die darauf gerichtete Untersuchung
geworden ist, um so verwickelter auch diese Frage. Voraussetzungen einer
richtigen Beantwortung derselben sind folgende in der Tat heute nicht mehr
wohl zu beanstandende Erkenntnisse : 1) Der geborene Syrer Tatian, welcher um
150 — 160 in Rom Christ geworden ist und bald nach seiner Bekehrung die
griechische „Bede an die Hellenen" herausgegeben hat, sodann aber, wahr-
scheinlich um 172, in seine syrische Heimat zurückgekehrt ist, hat dort für seine
Landsleute in deren Sprache das Diatessaron, „das Ev Jesu Christi des Sohnes
Gottes durch vier" verfaßt. 2) Der zuerst von W. Cureton 1858 herausgegebene
syrische Evangelientext (Sc = Syrus Curetonianus) und der von Agnes Smith
Lewis auf dem Sinai entdeckte, von Bensly, Harris und Burkitt 1894 heraus-
2) Studia Sinaitica Nr. 1, Catalogue of the syriac mss. in the convent of S.
Catherine on mount Sinai by A. S. Lewis, London 1894 p. 11—14 cf N. kirchl. Ztschr.
1900 S. 793 ff. (früher geschrieben und gedruckt als die vorläufigen Bemerkungen über
dieses Verzeichnis in meinem „Athanasius und der Bibelkanon", 1901, S. 10). S. auch
unten Beil. V.
3) Cf Forsch 1, 92 f. (s. dort auch über unklare Angaben der jüngeren syrischen
„Lehre der Apostel" bei Cureton, Anc. docum. p. 27. 32), ferner OK I, 374 f.
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46 § 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung.
gegebene syrische Evangelientext (Ss = Syrtis Sinaiticus) stellen zwei Recen*
sionen einer im Grunde einzigen Übersetzung der griechischen Evv dar, und
diese Übersetzung als Ganzes genommen ist älter als die Peschittha der Ew;
sie verhält sich zu dieser ähnlich wie die mißbräuchlich so genannte „Itala" in
ihren mannigfaltigen Gestalten zur „Vulgata" des Hieronymus. 3) "Wie auf dem
lateinischen Kirchengebiet, so hat auch auf dem syrischen im Lauf der Jahr-
hunderte eine fast ununterbrochene Fortentwicklung der ev Texte teils durch
erneute Berührung mit dem griechischen Original, teils durch Vergleichung und
Mischung mit anderen Gestalten der Übersetzung stattgefunden, und zwar nicht
nur vor der Entstehung einer officiellen Textrecension (Vulgata des Hieronymus
— Peschittha der Syrer), sondern auch noch nach derselben. Bei den Syrern
wurde dieser Prozeß dadurch ein noch verwickelterer, daß neben den wechselnden
Gestalten der „getrennten Ew" auch noch das Diatessaron Jahrhunderte lang
in kirchlichem Gebrauch stand. Da wir weder das Diatessaron noch die älteste
Übersetzung der getrennten Evv in der Urschrift besitzen, so kann beinah alles,
was bei Vergleichung der vorhandenen Urkunden für die Priorität oder
Posteriorität sei es des Diatessarons, sei es des „Ev der Getrennten" spricht,
auf nachträglicher Umgestaltung des einen oder des anderen dieser beiden
Evangelienbücher beruhen. — Bis zur Entdeckung des Ss schien sich die
Meinung befestigen zu wollen, daß das Diatessaron das ursprüngliche Ev der
Syrer gewesen sei, und daß erst auf Grund desselben eine erste Übersetzung
des „Ev der Getrennten" entstanden sei, als deren einziger Zeuge bis dahin Sc
dastand 4 ). Seit der Entdeckung des Ss hat die umgekehrte Ansicht die Mehr-
heit der Forscher für sich gewonnen 5 ). Hier ist nicht der Ort, auf die
Einzelheiten einzugehen und ein entschiedenes Urteil zu begründen. Solange
4) So zuerst Bäthgen, Evangelienfragrnente, der griech. Text des Cure tonischen
Syrers 1885, welchem ich mich gegen meine eigene frühere Ansicht anschloß GK I,
404 — 408. Auch gegenüber dem Syr. Sin. habe ich diese Ansicht aufrecht erbalten
Th. Ltrtrbl. 1895 Nr. 2; Prot. REncykl. V 3 , 657.
5)8. besonders Hjelt a. a. 0. S. 108 ff., wo auch über die Vorgänger (Burkitt,
Holzhey, ßewer) gründlich berichtet ist. In der Besprechung der merkwürdigen Kom*
bination von 3lr 6, 8 (el firj gdßSov jhövov) und Mt 10, 10 (/u.i]8e QdßSov) im Diatessaron
(Ephr. ev. concord. ed. Moesinger 91 virgam . . . non baculum; Robinson bei Hamlyn
Hill, Dissert. on the gospel comm. of S. Ephraem p. 86: a staff. . no stick) hat Hjelt
S. 116—121 gegen mich gewiß darin Recht, daß damit nicht der Gegensatz einer dünnen
Rute und eine3 derben, keulenartigen Stocks ausgedrückt sein sollte. Es ist auch zu-
zugeben, daß Tatian zu dieser Harmonisirung der widersprechenden Angaben des Mt
und des Mr durch Differenzirung des im Griechischen gleichlautenden Objekts §dßSov
sehr wohl durch Ss veranlaßt werden konnte, welcher Mt 10, 10 mwin und dagegen
Mr 6, 8 Hwatf bietet. Aber das Verfahren Tatians bleibt ein bewußter Kunstgriff des
Hannonisten, und, worauf es mir (N. kirchl. Ztschr. 1894 S. 95; Pr. REncykl. V s , 657)
vor allem ankam, ein schlagender Beweis dafür, daß Tatian sein Diatessaron in syrischer
Sprache niedergeschrieben hat; denn in einem griechischen Diatessaron wäre der Ge-
danke gar nicht auszudrücken gewesen.
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§ 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung. 47
anerkannt bleibt, daß die in Sc vorliegende Gestalt des altsyrischen Ev der Ge-
trennten in einem weitreichenden Abhängigkeitsverhältnis zum Diatessaron steht,
wird sich schwerlich beweisen lassen, daß Ss von dem Einfluß des Diatessarons
völlig unberührt geblieben ist. Für die Priorität des Diatessarons vor dem Ev
der Getrennten, also auch vor dem relativ ursprünglichsten Text des letzteren
(Ss), hat immer noch für sich 1) die Angabe der alten Addailegende, daß bei
der ersten Gründung der Kirche in Edessa das Diatessaron eingeführt worden
sei; 2) die teilweise kühnen harmonistischen Lesarten, welche in Ss seltener,
als in Sc sind, aber doch keineswegs fehlen ; 3) die vielfache Verwandtschaft des
Textes von Ss wie von Sc mit dem abendländischen Evangelientext, welche sich
am natürlichsten daraus erklärt, daß der um 150 — 160 in Rom bekehrte Tatian
nach seiner Rückkehr in den Orient seinen Landsleuten als der Erste das Ev in
ihrer Sprache geschenkt hat.
Die Vorherrschaft des Diatessarons, welche die Lehre des Addai, die
Homilien des Aphraates und der Kommentar Ephraims für das 4. Jahrhundert
bezeugen, wurde im 5. Jahrhundert gebrochen. Theodoret beseitigte um
420 — 457 aus den syrischen Kirchen seiner Diöcese von Kyrrhos mehr als 200
Exemplare dieses ketzerischen Buchs, und Bischof Rabbula von Edessa (412 — 435)
wies seine Geistlichen an, dafür Sorge zu tragen, „daß in allen Kirchen ein Ev
der Getrennten vorhanden sei- und gelesen werde u 6 ). Aber vergessen wurde
das Diatessaron nicht so bald. Insbesondere bei den Nestorianern blieb es noch
lange in hohem Ansehn, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es dort auch noch
im gottesdienstlichen Gebrauch sich einigermaßen behauptete. Die offizielle
Bibel der Nestorianer wie der Jakobiten war doch vom Anfang der Spaltung
der syrischen Kirche an die Peschittha mit den 4 Evv in unserer Ordnung an
der Spitze des NT's.
2. Die Sammlung der Paulusbriefe, welche die Syrer des 4. Jahr-
hunderts in Gebrauch hatten, kennen wir vor allem durch den in einer sehr
alten armenischen Übersetzung erhaltenen Kommentar Ephraims zu denselben 7 ).
Die Übersetzung scheint genau zu sein; nur die eigentümliche Ordnung, in
welcher Ephraim die Briefe gelesen und kommentirt hat, hat der Armenier oder
haben spätere Abschreiber seiner Übersetzung durch eine bei den Griechen
übliche Ordnung ersetzt. Abgesehen hievon zeigt die Sammlung drei Eigen-
6) Theodoret, haer. fab. I, 20; Ephraemi, Rabulae etc. opera selecta ed. O ver-
beck p. 220. Über sonstige Spuren des Diatessarons aus der Zeit nach Ephraim cf in
Kürze Prot. REncykl. V 3 , 656; Ausführlicheres bei Bjelt S. (27 A 2.) 29-49. 63—75.
162 — 166. Besonders wertvoll ist dort der Nachweis der verschiedenen Stellung der
Nestorianer und der Monophysiten zum Diatessaron.
7) S. Ephraemi Syri coram. in epist. Pauli nunc primum ex armenio in latinum
sermonem a patr. Mekitharistis translati. Venetiis 1893. Cf Tb. Ltrtrbl. 1893 Nr.
39—41. Über die ursprüngliche Ordnung der Briefe im Kommentar cf Harris, Four
lectures on the western text of the NT, 1894 p. 21; eingehender N. kirchl. Ztschr. 1900
S. 798 f. Über den Mangel des Phlm GK II, 564 f. A 1; Robinson, Euthaliana p. 91.
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48 § 6- Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung.
tümlichkeiten : 1) Der Hb ist als eine zweifellos paulinische Schrift zu den Ge-
meindebriefen des PI gestellt. 2) Die apokryphe Korrespondenz zwischen der
korinthischen Gemeinde und PI nebst einem die beiden Stücke derselben ver-
bindenden erzählenden Zwischenstück ist als ein dritter Korintherbrief des PI
und nicht nur als zweifellos echt, sondern auch als unbedingt kanonisch gleich
den übrigen Briefen kommentirt. 3) Es fehlt eine Auslegung des Philemon-
briefs und es wird derselbe auch nicht beiläufig erwähnt 8 ). Von hier aus
d. h. aus der Rücksicht auf den Kanon der syrischen Nationalkirche im 4. Jahr-
hundert erklärt es sich, daß die Theologen der Nachbarkirche im griechischen
Syrien die Kanonicität des Phlm eifrig zu verteidigen hatten 9 ). In diesen
drei Punkten stimmen die Citate des Aphraates genau mit Ephraim überein 10 ).
Dagegen enthält der erwähnte syrische Kanon vom Sinai dem Wortlaut nach
nicht den 3 Kr, auch nicht den 1 Tm, dagegen aber den Phlm und außerdem
einen zweiten Philipperbrief hinter einem ersten. Letzteres ist nicht ein bloßer
Schreibfehler, eine einfache Dittographie ; denn die Stichenzahl für die beiden
Briefe an die Philipper ist eine verschiedene (318 und 235). Es können hier
nicht die Gründe wiederholt werden, welche es wahrscheinlich machen, daß
unter dem einen der beiden Philipperbi iefe und zwar unter dem ersten, größeren
derselben, der apokryphe 3 Kr versteckt ist 11 ). Daß trotz der Differenzen
zwischen Ephraim und diesem Kanon, welcher ja auch nicht das Diatessaron,
sondern nur die 4 Evv anführt, dieser Kanon für die Urgeschichte des ntl Kanons
der Syrer von größter Bedeutung ist, beweist vor allem die Ordnung
der paulinischen Briefe, welche in entscheidenden Punkten mit derjenigen
Ephraims, aber auch mit derjenigen Marcions übereinstimmt. Es genügt die
Zusammenstellung :
8) Man sollte eine solche besonders zu Kl 4, 9 und 17 aus Anlaß der # Namen
Onesimus und Archippus erwarten. Der Kommentar zu Kl 4, 7*f. p. 178 würde die
Vermutung gestatten, daß v. 9 in Ephraims Text fehlte.
9) Chrysostomus in der Hypothesis (Montfaucon XI, 772 = Cramer, Cat. VII,
101); Theodor. Mops. ed. Swete II, 259—266. wahrscheinlich auch Apollinaris von Lao-
dicea cf Hieron. praef. comm. in epist. ad Phil. Vallarsi VII, 741 — 744. GK I.
267-270; II, 997-1006.
10) Er citirt den Hb oft als paulinisch (ed. Wright 20. 37. 141. 159. 242. 390.
416. 418. 444. 447); ebenso den apokryphen 3. Korintherbrief p. 122. 472 f. cf GK II,
561. 1016; und er citirt oder erwähnt niemals den Phlm. Letzteres hat bei der Klein-
heit dieses Briefes natürlich nicht an sich, sondern nur im Zusammenhalt mit dem un-
zweideutigen, obwohl gleichfalls nur negativen, Zeugnis Ephraims Beweiskraft.
11) Cf N. kirchl. Ztschr. 1900 S. 794 f. 799f. Einen Anknüpfungspunkt bot der Um-
stand, daß nach dem historischen Zwischenstück PI den apokryphen Brief an die Ko-
rinther in Philip pi geschrieben, und daß die Korinther ihren Brief an PI, welcher
ein wesentliches Stück des sogenannten „3 Kr u bildet, nach Philippi geschickt haben
sollen.
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§ 6. Das anfangliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung. 49
Marcion
Sin. Kanon
Ephraim
Gl
Gl
Gl
1. 2 Kr
1. 2 Kr
1. 2 (3?) Kr 12 )
Em
Em
Em
—
Hb
Hb
1. 2Th
- —
—
Eph 13 )
Kl
Eph
Kl
Eph
Phl
Phl
Phl
Kl
—
PhlH
—
—
1. 2Th
1. 2Th
—
—
1 Tm
—
2Tm
2Tm
—
Tt
Tt
Phlm
Phlm
—
Während die Peschittha die gewöhnliche griechische Ordnung, jedoch mit
dem Hb hinter den Privatbriefen, darbietet, haben wir bei Ephraim und im
sin. Kanon eine Ordnung, die schon darum als ursprünglich und, da wir von
einer dritten Ordnung bei den Syrern nichts hören, überhaupt als die ursprüng-
liche Ordnung der Briefe bei den Syrern anzusehen ist. Wie aber kamen die
Syrer zu einer Ordnung, welche in bezug auf die an der Spitze stehenden
4 „Hauptbriefe" (Gl, 1. 2 Kr, Em) identisch ist mit derjenigen, welche Marcion
um 145 in Rom den Paulusbriefen in seinem Apostolikon gegeben hatte (oben
S. 24)? Die Thatsache erscheint um so rätselhafter, wenn man anerkennt und
bedenkt, daß die Ordnung Marcions nicht etwa die Ordnung der ältesten Kirche,
insbesondere nicht der römischen und überhanpt der abendländischen Kirche,
sondern, wie namentlich die Voranstellung des Gl und deren Begründung zeigt,
Marcions eigenstes Werk war. Die Legende bezeichnet die Briefe, welche neben
dem AT, dem Ev (d. h. dem Diatessaron) und der AG ausschließlich im Gottes-
dienst gelesen werden sollen, als „die Briefe des PI, welche uns Simon Kepha
von der Stadt Rom schickte" (D. Add. p. 46). Das ist sagenhafte Einkleidung
der geschichtlichen Erinnerung, daß die Kirche von Edessa die paulinischen
Briefe nicht etwa von Antiochien, sondern von Rom her erhalten hat. Dies
wird durch den Text der Briefe bei Aphraates und Ephraim bestätigt, welcher
sich besonders auch in seinen zahlreichen Abweichungen von demjenigen der
Peschittha mit dem abendländischen nahe verwandt zeigt 14 ). Eben damit ist
12) Ob der 3 Kr bei Ephraim an 1. 2 Kr sich anschloß, ist ungewiß s. N. kirchl.
Ztschr. 1900 S. 799 f.
13) Marcion hatte ihn zu einer epistola ad Laodicenos gemacht, oben S. 28.
14) Gf GK IL 556—564; Th. Ltrtrbl. 1893 Nr. 40 f. Robinson Euthaliana p. 83
bis 92.
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 4
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50 § G- Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung.
auch eine gewisse Verwandtschaft des ältesten syr. Textes der Paulinen mit dem-
jenigen Marcions gegeben , welcher um 150 in Rom redigirt worden ist. Man
wird aber auch durch Übereinstimmungen Ephraims mit solchen Texten Marcions
überrascht, welche man für Erfindungen Marcions halten würde, wenn sich nicht
auch sonst in der katholischen Tradition Spuren ihrer ehemaligen Verbreitung
nachweisen ließen 1& ). Zu diesen Beobachtungen und Nachrichten stimmt es, daß
die Kirche von Edessa , welche in ihren Anfangen vielleicht judenchristlichen
Charakters war, in dem Osterstreit um 190 sofort auf die Seite der römischen
Kirche trat (Eus. h. e. V, 23, 3), und vor allem die Tatsache, daß der Mann,
welcher den Syrern das Diatessaron gab, um 150 — 160, also zu der Zeit, da
Marcion in Born auf der Höhe seiner Bedeutung stand 16 ), ebendort Christ ge-
worden war und von dort in den Osten heimgekehrt ist (oben S. 45). Dazu
kommt, daß uns Eusebius die allerdings dunkle Kunde von einer eigentümlichen
Bearbeitung der Paulusbriefe durch Tatian aufbewahrt hat 1 7 ). Nichts liegt
näher zu vermuten, als daß dies bei Gelegenheit der Übersetzung dieser Briefe
geschehen sei, obwohl Eusebius dies ebensowenig ausdrücklich sagt, als er gesagt
hat, daß das unmittelbar vorher von ihm erwähnte Diatessaron Tatians ein
syrisches Buch gewesen sei. Eusebius berichtet über diese beiden Arbeiten
Tatians nur nach Hörensagen. In bezug auf das Diatessaron können wir seine
Angabe jetzt durch ein sicheres Wissen ergänzen, in bezug auf die Recension
der Paulusbriefe durch eine wahrscheinliche Vermutung. Tatian war kein
Marcionit; aber es war nicht ganz unbegründet, wenn man ihm nachsagte, daß
er nach dem Tode seines älteren Freundes Justin sich allerlei Abweichungen
vom kirchlichen Gemeinglauben gestattet und von den verschiedensten häretischen
Parteien einiges sich angeeignet habe 18 ). Es fehlt nicht an Berührungspunkten
zwischen der ethischen Denkweise Tatians und Marcions. Wie Marcion „Anti-
thesen" schrieb, so Tatian „Problemata". Was für jenen unversöhnliche Wider-
sprüche waren, waren für Tatian mindestens der Lösung bedürftige Rätsel.
Tatian hat 30 oder 40 Jahre später als Marcion an die Stelle der kirchlichen Ew
wie dieser ein einziges „Ev Jesu Christi" gesetzt. Da Tatian in der ent-
scheidenden Epoche seines Lebens gleichzeitig mit Marcion in Rom gelebt hat,
ist kaum zu denken, daß er ohne Wissen um das Ev dieses seines Vorgängers
den kühnen Gedanken des Diatessarons gefaßt und ausgeführt haben sollte. Daß
15) Cf die Umgestaltung von Gl 4, 25 f. bei Marcion (GK H, 502), bei Ephraim
(comment., in epist. Pauli p. 135; Expos, ev. concord. ed. Moesinger p. 34 cf Harris, Four
lect. on the western text p. 96; Th. Ltrtrbl. 1893 S. 465), aber auch bei Makarius (hom.
6, 7 ed. Pritius p. 98). — Marcion las 2 Th 1, 8 als ixSixrjair (GK II, 522); Iren. IV,
.27, 4 dare vindictam; Ephraim p. 192 ad reddendam vindictam.
16) Iren. III, 4, 3 Marcion . . . invaluit sub Aniceto.
17) Eus. h. e. IV, 29, 6 rov 8k änooTokov tpoöi rok/uijocu nvas avrov /u.eray>pdocu
cpwvai cos e7tiSw(>&ov/u£vov avrcör ttjv ttjs (pgäoecos ovvna^iv. Cf GK I, 423 ff. ; II, 563.
18) Iren. I, 28, 1; III, 23, 8; Rhodon bei Eus. h. e. V, 13, 8 cf Forsch I, 284 ff.
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§ 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung. 51
Tatian auch das Apostolikon Marcions beachtet hat, ist in jeder Hinsicht wahr-
scheinlich. Jedenfalls aber erklärt sich die genaue Übereinstimmung der ältesten
syrischen Sammlung der Paulusbriefe in bezug auf die an der Spitze stehenden
4 Hauptbriefe mit der Anordnung des marcionitischen Apostolikons nur durch
die Annahme, daß ein mit letzterem bekannter, aber nicht zur marcionitischen
Partei gehöriger Mann, mag er nun Tatian oder anders geheißen haben, den
Syrern die Paulusbriefe gebracht hat.
Der ursprüngliche Bestand der Sammlung bei den Syrern läßt sich schon
darum nicht ohne weiteres aus den genannten Quellen schöpfen, weil sie unter*
einander nicht völlig übereinstimmen ; aber auch das, worin sie übereinstimmen,
kann nicht in jedem Punkt das ursprüngliche sein. 1) Es besteht kein Grund
zu bezweifeln, daß den Syrern von jeher der Phlm gefehlt hat. Es ist zu be-
achten, daß die Kritiker, gegen welche Hieronymus oder vielmehr dessen Ge-
währsmann den Phlm verteidigt (oben S. 48 A 9), behaupteten, „daß er von
manchen Alten verworfen worden sei". Diese Alten sind bei Griechen und
Lateinern nicht zu finden, wohl aber bei den Syrern. Nach Hieronymus hat
Tatian ebenso wie Marcion einige Briefe des PI verworfen, aber nicht dieselben
Briefe wie Marcion. Den Tt, den Marcion verwarf, habe Tatian besonders hoch
gestellt 10 ). Es fragt sich, welche Briefe Tatian verworfen hat. Hieronymus hat
vorher als von den Ketzern angefochtene Briefe besonders genannt : Hb, 1 . 2
Tm und Tt. Da diese Aufzählung nicht vollständig zu sein braucht, kann
Tatian auch den Phlm ausgeschlossen haben. So erklärt sich dessen ^Fehlen im
ältesten syr. NT. Der sin. Kanon, welcher ihm die letzte Stelle anweist, wird
hierin, wie in bezug auf die Ew ein vorgerücktes Stadium der Entwicklung dar-
stellen. Mit Bestimmtheit ist 2) zu sagen, daß der Hb nicht ursprünglich dem
syr. NT angehört haben kann. Erstens galt in Born, von wo die Samm-
lung der Briefe nach Edessa gekommen ist, der Hb weder als paulinisch noch
als kanonisch (oben S. 18). Zweitens würde der erste syr. Übersetzer, welcher
hierin von der römischen Tradition abweichend den Hb aufnehmen wollte, ihn
nach der vorherrschenden Sitte der Griechen an den Schluß entweder der Ge-
meindebriefe oder sämtlicher Briefe des PI gestellt haben. Die Stellung hinter
den „Hauptbriefen" (Sin. Kanon und Ephraim) ist die in Ägypten lange herr-
schende, wobei nur der Unterschied besteht, daß der Gl teils als einer der
Hauptbriefe voransteht, teils als einer der kleinen Briefe nachsteht, so daß der
Hb bald an 4., bald an 5. Stelle steht 20 ). Abgesehen von dieser untergeord-
neten Verschiedenheit ist die Behandlung des Hb als eines der großen Ge-
meindebriefe ein sehr starker Ausdruck der Überzeugung von seiner paulinischen
Herkunft. Da diese Meinung unseres "Wissen noch zur Zeit des Origenes ganz
oder beinah ganz auf Ägypten beschränkt war , kann der Hb erst nach dieser
19) Vorrede zum Kommentar über Tt. Vallarsi VII, 686 cf GK I, 426 f.
20) GK II, 358-362; auch meine Schrift : Athanasius u. der Bibelkanon S. 10—13,
besonders S. 11 A 17.
4*
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52 § 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung.
Zeit bei ddh Syrern Aufnahme und zugleich diese Stelle gefunden haben. 3) Dem
anfanglichen NT der Syrer kann auch der 3 Kr nicht angehört haben. Seitdem
wir wissen 21 ), was früher nur vermutet worden war, daß dieses Apokryphon ein
Stück der Paulusakten ist, welche frühstens um 170 geschrieben wurden, ist
eben damit auch ausgeschlossen, daß der 3 Kr schon vor 200 nicht nur ins
Syrische übersetzt, sondern auch in das NT aufgenommen sein sollte. Die
Bardesaniten, welche ihn verwarfen 22 ), haben damit den ursprünglichen Kanon
der Syrer gegen eine katholische Neuerung verteidigt. Es fragt sich endlich
4) ob der 1 Tm, welchen Aphraates und Ephraim gekannt und anerkannt haben,
im sin. Kanon durch ein mechanisches Versehen ausgefallen ist, oder ob dieser
Defekt von einem älteren Bestand zeugt, welcher um 340 — 370 in der Um-
gebung des Aphraates und Ephraims bereits verändert war 28 ). Wie dies, so
bleibt auch sonst einiges vorläufig ungewiß. Sehr wahrscheinlich aber und in
den Hauptpunkten gewiß ist, daß das anfangliche Apostolikon der Syrer 1) an der
Spitze Gl, 1. 2 Kr, Em hatte, 2) daß der Hb und der Phlm fehlten, 3) daß
vielleicht auch der 1 Tm fehlte. Erst im Verlauf des 3. Jahrhunderts traten
hinzu der Hb, welchem man nach alexandrinischem Brauch die Stelle hinter den
Hauptbriefen anwies, und der 3 Kr, dessen Stellung eine schwankende blieb 24 ),
vielleicht auch der 1 Tm und noch später der Phlm.
3. Die Geschichte des Kanons bei den Syrern ist zur Zeit Ephraims noch
keineswegs abgeschlossen. Die syr. Kirche konnte ihre anfangliche Besonderheit
auf die Dauer immer weniger behaupten. Es steigerte sich im 4. Jahrhundert
und von da an immer mehr der Verkehr zwischen griechischen und syrischen
Christen und Kirchen. Es gab in Edessa Griechen und griechische Bibeln. Die
Kirchengeschichte des Eusebius , welche sehr früh ins Syrische übersetzt und
schon von Ephraim fleißig gelesen worden ist, machte die Syrer mit der älteren
Geschichte des NT 's bei den Griechen bekannt. Es ist daher nicht zu ver-
wundern, daß Ephraim, auch abgesehen von den meist zweifelhaften, nur in
21) Cf C. Schmidt, N. heidelb. Jahrbb. VII S. 118; N. kirchl. Ztschr. 1897 S.937.
22) Nach Ephraim im Kommentar (ed. Mekith. p. 118; GKH, 598; Vetter, Der
dritte Korintherbrief S. 72).
23) Diese Frage kann nicht dadurch entschieden werden, daß der sin. Kanon den
2 Tm als den zweiten bezeichnet; denn der Vf dieses Verzeichnisses kann von dem
1 Tm gewußt und doch auch geurteilt haben, daß er nicht zum Kanon gehöre. Auch
die Ziffern helfen nicht weiter; denn die Gesamtziffer der Paulinen (5076) bleibt ohne-
hin hinter der Summe des Teilposten (5490) beträchtlich zurück. Diese Differenz (414)
würde durch Einschiebung eines 1 Tm mit etwa 200—250 Stichen auf 614—664 erhöht
werden. — Hat Tatian nach Hieronymus 1. 1. nonnullas Pauli epistolas repudiavit, so
scheinen Hb und Phlm allein dem Ausdruck nicht zu entsprechen. Er hat wahrschein-
lich auch den 1 Tm ausgeschlossen. Seine enkratitischen Neigungen würden es erklären,
daß er an 1 Tm 4, 1—8 schweren Anstoß nahm. Bei Aphraates und Ephraim jedoch
finden wir den 1 Tm reichlich citirt.
24) Dies gilt zunächst von seiner Stellung in der armenischen Bibel GK II, 593.
1018; Forsch V, 149; Vetter S. 34. S. aber auch oben S. 49 A 12.
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§ 6. Das anfängliche Neue Testament der Syrer u. dessen Fortbildung. 53
griech. Übersetzung vorliegenden Schriften, mit den von den älteren Syrern
völlig ausgeschlossenen Büchern , den sämtlichen katholischen Briefen
und der Ap sich einigermaßen bekannt zeigt 25 ). Bei der Redaktion der Peschitthä,
womit eine ebenso zweifellose und wichtige Tatsache, als ein geschichtlich dunkles
Ereignis bezeichnet ist, traf man dann doch eine Auswahl. Von den kath*
Briefen wurden Jk, 1 Pt, 1 Jo aufgenommen; 2 Pt, Jud, 2 — 3 Jo sowie die
Ap blieben ausgeschlossen. Die Sammlung der Paulusbriefe wurde in bezug
auf den Bestand durch Ausstoßung des 3 Kr und durch endgiltige Aufnahme
des Phlm sowie in bezug auf die Anordnung (mit dem Hb hinter allen anderen
Briefen) dem NT der Griechen gleichgestaltet. Die 4 Ew wurden fast nur noch in
der Ordnung Mt, Mc, Lc, Jo fortgepflanzt. Bei diesem Bestand ist es im wesent-
lichen bei den Syrern geblieben. Die Peschitthä blieb die Kirchenbibel der in
Konfessionen gespaltenen syr. Kirche. Die im J. 508 von dem Landbischof
Polykarp im Auftrag des Bischofs Philoxenus von Mabug (Hierapolis wenig west-
lich vom Euphrat) angefertigte neue Übersetzung des NT's, die sogen. Philoxe-
niana, und die im J. 616 durch Thomas von Charkel (Heraklea) unternommene
Revision der Philoxeniana nach grich. Hss, die sogen. Charklensis umfaßten
zwar auch die kleineren kath. Briefe und die Ap ; aber in den gottesdienstlichep.
Gebrauch sind diese künstlichen Werke schwerlich irgendwo eingeführt worden.
Die Vollendung und allgemeine Einführung der Peschitthä bezeichnet den Ab-
schluß der Geschichte des ntl Kanons bei den Syrern. Wie die Peschitthä des
NT's nach Bestand, Anordnung und Text nur aus einer mächtigen Einwirkung
der griech. Kirche von Antiochien auf die syr. Nationalkirche zu erklären ist,
so auch umgekehrt das NT der antiochenischen Kirche vom 4. Jahrhundert an
nur aus einer starken Einwirkung von Syrien aus.
§ 7. Lucianus und Eusebius.
Während das NT der alten Kirche von Antiochien, soweit wir zu sehen
vermögen, keine Besonderheit zeigt, insbesondere der Ap und, wie es scheint,
auch des 2 Pt nicht ermangelte 1 ), ist der Kanon eines Chrysostomus genau
derjenige der Peschitthä, und eine diesem zugeschriebene Predigt führt gelegent-
lich den Ausschluß des 2 u. 3 Jo auf die Entscheidung der Väter zurück 2 ).
Dies kann nicht eine Folge der Bemühungen des Eusebius um die Feststellung
des Kanons sein; denn dieser wollte zwar die Ap beseitigt, aber die 7 kath.
Briefe anerkannt haben. Wir müssen, um den Umschwung in Antiochien zu
25) Cf besonders den Index in Hamlyn Hill's Dissertation on the gospel comm. of
Ephraem p. 168 f.
1) Eus. h. e. IV, 24 über Theophilus; VI, 12 über Serapion, Petrusev und „die
anderen Apostel" (cf oben S. 16), übrigens auch GK I, 90 f. 101. 205. 312 A 3; 314 A 1.
2) Montfaucon VI, 430; GK II, 226—230.
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54 § 7. Lucianos und Eosebius.
verstehen, auf die Anfange der dortigen Exegetenschnle, anf Lucian, zurückgehen.
Nach seiner hierin unverdächtigen Vita (Migne 14, 397 ff.) war Lacian inSamosata
geboren und in Edesea zum Exegeten gebildet, ehe er in Antiochien Priester
und Gründer einer Schule wurde. Nach Hieronymus ist nicht zu bezweifeln,
daß Lncian seine textkritische Arbeit auf das NT ausgedehnt hat, und daß seine
Hecension des NT 's ebenso wie diejenige der LXX sich von Antiochien bis
Konstantinopel verbreitet hat *). Geht demnach das NT, welches die Prediger
und Exegeten Antiochiens um 380—450 in Händen hatten, nach Text und Zu-
sammensetzung wahrscheinlich auf Lacian und seine Schule zurück, so ist das-
selbe als ein Kompromiß zwischen den Traditionen von Edessa und Antiochien
zu verstehen. Mit den Syrern schloß man die Ap aus; von den kath. Briefen
aber, welche damals den Syrern gänzlich fehlten, schied man nur die 4 kleineren
aus, welche ohnehin auch bei den Griechen angefochten waren, behielt aber Jk,
1 Pt, 1 Jo. Wahrscheinlich sind damals auch andere Schriften, die früher ein
mehr oder weniger starkes Band mit dem NT verbanden hatte, nach dem Vor-
gang der Syrer von den r Vätern" in Antiochien beseitigt worden. Dieses
antiochenische NT muß dann wieder auf die syrische Kirche eine Rückwirkung
geübt haben, deren Ergebnis die Peschitthä ist.
In Palästina wurden die Bibelstudien des Origenes durch Pamphilus und
Eusebius fortgesetzt. Eosebius aber ist nicht nur von dieser Seite beeinflußt.
Nach h. e. Vll, 32, 2 — 3 hat er, offenbar in Antiochien, die Vorträge des
gelehrten, auch des Hebräischen kundigen dortigen Presbyters Dorotheus gehört.
Hit den Schülern Lucians war er im Kampf um die Trinitätslehre verbündet.
Im J. 330 war er für den Bischofsstuhl von Antiochien ausersehen. Als ein
Zögling der Schale des Origenes erweist er sich dadurch, daß er in Fragen des
Kanons die Stimmen aller Kirchen und der ihrer dermaligen Sitte zu Grunde
liegenden Tradition angehört wissen wollte. In dieses Verhör hat er aber auch
die Kirche von Antiochien in ihrer jüngsten Entwicklung und die hinter dieser
stehende syrische Kirche einbezogen. In der Kirchengeschichte hat er seinem
Versprechen gemäß (III, 3, 3) fleißig die Urteile der älteren Schriftsteller über
die Antilegomena des NT's und deren interessantere Mitteilungen über die
anerkannten wie die zweifelhaften Schriften des NT's excerpirt. Nachdem er
über die Schriften unter dem Namen des Petrus und des Paulus IH, 3 und
über die johanneischen III, 24, 17 — 18 im einzelnen berichtet hat, gibt er IH, 25
eine umfassende Übersicht über sämtliche für das NT in Betracht kommende
Schriften 4 ). Im Anschluß an den Sprachgebrauch des Origenes unterscheidet
3) Praef. in evv. ad Damasum; v. ill. 77; praef. in Paralip. Vall. II, 918; IX, 1405^
X, 661 cf Decret. Gel. 4, 6 (Epist. pontif. ed. Thiel p. 463).
4) H. e. III. 25, 1: EvXoyov #' evrav&a ysvofiivovs ävaxetfakcuojoao&ai ras 8r t Xco-
& ei vag rrjs v.aivrjs dia&ijxrjs ygatpäs. aal 8rj raxriov Iv TTganois it]v dyiav T(öv evayyekicov
rerpaxrvr ' oJs tTtejcu jy räh> Tt^d^ecov tcjv aTtoaroXcav ygcufr}. 2. /usrä $e ravTqv ras Uavlov
xaraXexrdor ETiiorohis, als i£fjs rr { v tfe^oftivr { v 'Icoawov Ttgorigav xal 6/uoicos rqv Uet^ov
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§ 7. Lucianus und Eusebius. 55
er hier wie sonst zwei Hauptklassen : öuvkoyovueva (&Mf,icpil€XTa, &vavrlggr]Ta 9
&va)^oloyi]iiiiva) und &VTiXty6fxeva. Die zweite Klasse aber teilt er wieder in
zwei Abteilungen. Er unterscheidet diejenigen Antilegomena, deren Aufnahme
er wünscht, von denjenigen, die er für Fälschungen (vo-fra) erklärt und deshalb
ausgeschlossen wissen will. Es ergibt sich folgende Tabelle : I. Homologumena:
4 Evv, AG, (14) Briefe des Paulus, 1 Pt, 1 Jo, eventuell auch Ap. II. Anti-
legomena a) bessere Sorte : Jk, Jud, 2 u. 3 Jo ; b) schlechtere Sorte : Paulus-
akten, der Hirt des Hermas, Ap des Petrus, Barnabasbrief, Apostellehren
(= Didache), eventuell auch die Ap des Johannes. Anhangsweise wird hier
als Antilegomenon noch das Hebräerev genannt (GK II, 645).
Dieses Verzeichnis selbst, vollends verglichen mit den sonstigen Äußerungen
des Eus., zeigt manche Unklarheiten. Da der Hb hier nicht besonders auf-
geführt ist, so ist ersichtlich, daß Eus. ihn als 14. Brief des Paulus (cf III, 3, 5)
unter die Homologumena stellt, obwohl er anderwärts nicht verschweigt, daß er
ein Antilegomenon sei (III, 3, 5; YI, 13, 6; 14, lf.; 20, 3, 25, 11—14). Der
hier und da sich noch regende "Widerspruch erscheint dem Eus. nicht mehr
beachtenswert. Indem er höiddrjuog synonym mit öfAokoyovfASVog gebraucht und
der so doppelt bezeichneten Klasse die Klasse der Antilegomena gegenüberstellt
(HI, 3, 3), seh eint er damit auch die besseren Antilegomena vom NT auszu-
schließen und äußert sich gelegentlich auch so (III 3, 1 ; 25, 6). Er meint doch
nur, daß die Homol. sich bereits endgiltig im NT befinden, womit nicht gesagt
sein soll, daß nicht auch gewisse Antil. allgemein recipirt werden sollten. Vgl.
den laxeren Gebrauch von ivdidxhjxog Y, 8, 1 ; YI, 14, 1. Indem er ferner
xvocotbov iniOToXrjv. ircl tvvtois TaxTBov, s'iye faveirj^ ti]v aTtoxdXvyiv 3 Icodvvov } nsol rjs rd
SoJ-avra xard xaioov ix&rjoofiB&a. xal t avT a fihv iv 6 fiokoyov fxevois. 3. tcov 8*
dvriXeyofievcov, yvcoolficov 8* ovv bficos xoTs itoXXols, r\ Xsyofiivrj 3 Iaxcoßov fioeTai xal r\ 'lovScc
rj Te Ubtoov SsvTsga iTtiOToXrj xal rj bvo/ua^ofiivrj 8evTsga xal toitt] 'Icodvvov, bXtb rov evayye~
Xiotov Tvyxdvovoai, eire xal Stboov 6ficovv/uov ixsivco. 4. iv toXs vod'ois xararerax^co xal tcov
ITavXov Ttgdl-Bcov r\ yoa<pfj 6 re XeyofiBVos Iloiftfjv xal r\ aTToxdXvxpis Übtqov, xal ttoos tovtois
tj cpsgofiBvrj Bagvdßa 671iotoXtj xal tcov dnoOTcXcov al Xsyofisvai 8ida%ai' %ti re, cos s<pr]v y
f) 'Icodwov dnoxdXvyis. sl (pavEiy, tJvtivbs cos %<p7]v d&BTovoiv, btbqoi Se iyxgivovoi rols 6(io-
Xoyovfisvois. 5. fjdq <?' iv tovtois tivbs xal to xa&* l Eßgaiovs BvayysXiov xaTsXel-av, cp fidXiOTa
'Eßoaicov ol tov Xoiotov Ttaoadegdjusvoi %aigovoiv. t avT a fiev rcdvTa tcov dvTiXsyo-
fikvcov dv eirj. 6. dvayxaicos 8s xal tovtcov bficos top xaTaXoyov TteTZOirjfie&a, Siaxoi-
vavres Tas ts xaTa ttjv ixxXrjoiaoTixrjv 7tagd8ooiv dXrj&ets xal aTtXdorovs xal dvco/uoXoyrjfiBvas
ygacpds, xal Tas äXXas Ttagd TavTas y ovx ivdia&rjxovs fiev dXXd xal dvriXeyojievas, bficos de
nagd TtXeiOTOis tcov ixxXr\oiaoTixcov yiyvcooxofiivas, iv elöivai fr/oifiev avTas ts Tavras xal
Tag bvdfiaTi tcov aTtoOToXcov 7toos tcov aiosTixcov Ttgoipegofisvas, tjtoi cos Ubtoov xal Qcofiä xal
MaT&ia rj xai tlvcov nagd tovtovs äXXcov BvayyiXiaTzegiexovoas, tj cos *Av8giov xal 'Icodvvov xal
tcov dXXcov aTtoOToXcov Ttgdl-Bis, cov ov8sv ovSa/ucos iv ovyygdfifiaTi tcov xaTa Tas SiaSoxds
ixxXr\oiaOTixcov Tis dvr\g eis /uvrjfirjv dyayelv rfeicoOEV. 7. tz6§§co 8b tiov xal 6 ttjs cpQaoecos
itaqd to tjS'os to dnoOToXixbv ivaXXaTTEi x a occxT^o r\ tb yvc6fir\ xal rj tcov iv avTOls cpego-
fiivcov TtooaiQEOis, tcXbIotov ooov ttjs dXrftovs oo&oSo&as dzidSovoa. oti 8rj alosTixcov dvS^dov
jdvaTtXdojuaTa Tvyxdvei, oaycos naotOT^oiv o&bv oitf iv vod'ois avTa xaTaTaxTsov, dXK cos
aTOTta Ttdvrrj xal Svoosßr} TtaoaiTrjTtov.
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56 § 7. Lucianus und Eusebius.
die schlechtere Sorte der Antil. für unecht erklärt, Bcheint er von der Echtheit
der besseren Sorte überzeugt zu sein. Er verschweigt jedoch nicht, daß der Jk,
welchen er anderwärts als hl. Schrift eines Apostels citirt 6 ), (von wem?) für
unecht erklärt werde (II, 23, 25). Er selbst erklärt den 2 Pt indirekt für
unecht (III, 3, 4) und läßt die Frage offen, ob 2 u. 3 Jo vom Apostel oder
einem Namensgenossen geschrieben seien (III, 25, 3). Aber er kennt die 7 kath.
Briefe als eine abgeschlossene Sammlung mit Jk an der Spitze (II, 23, 25) und
zeigt durch die Gruppirung in III, 25, daß er diese 7 Briefe zum NT gerechnet
haben will.
Schwierig war für Eus. eine Entscheidung über die Ap. Er hat sie manch-
mal ohne Andeutung eines Bedenkens citirt (demonst. VIII, 2, 31 ; eclog. proph.
IV, 30) und hat treulich die starken Zeugnisse für ihre kirchliche Geltung
angeführt (h. e. IV, 18, 8; 24, 1; 26, 2; V, 8, 5; 18, 14; VI, 25, 9). Wenn er
m, 24, 18 sagt, daß bei den meisten noch immer die Meinung über sie hin und
her schwanke, so wird das von seiner näheren Umgebung gelten, ist aber nur
daraus' zu erklären, daß man in Palästina und unter den in aller Welt zerstreuten
Schülern Lucians der Verwerfung der Ap durch die Syrer und Lucian oder die
antiochenische Kirche seit Lucian großes Gewicht beilegte. Ohne daß Eus. dies
ausspräche 6 ), ergibt sich dies aus den tatsächlichen Verhältnissen. Wohin Eus.
neigte, ist deutlich. Als „sogenannte Ap des Johannes u führt er sie ein
HE, 18, 2 vgl. 39, 6 ; kurz erwähnt er die Schmähungen des Cajus III, 28,
mit um so breiterem Behagen die behutsamere Kritik des Dionysius VII, 24 — 25.
Dessen Vermutung, daß ein anderer Johannes die Ap geschrieben habe, verfolgt
er mit Eifer, und in dem Interesse dieser Hypothese sucht er die Existenz eines
vom Apostel verschiedenen Presbyters Johannes aus Papias zu beweisen 7 ). Die
Ap soll ihrer apostolischen Würde entkleidet und aus dem NT entfernt werden.
Aber offen und gebieterisch mag Eus. dies Urteil noch nicht aussprechen. Unter
die besseren Antil., die er aufgenommen haben will, kann er sie, obwohl sie
unvergleichlich besser bezeugt ist, als irgend eines dieser Antil., eben darum
nicht stellen, weil er sie ausgeschlossen haben will. So läßt er die Wahl, ob
sie angesichts ihrer fast allgemeinen kirchlichen Anerkennung zu den Homol.,
5) Im Psalmenkommentar, Montfaucon, Coli, nova I, 247 6 legos aTrooroXog, p. 648
rj ypayTJ Xiyei. Eus. betrachtet den Bischof Jk von Jerusalem als den 13. oder 14.
Apostel neben den Zwölfen und Paulus (1. 1. II, 422 cf Forsch VI, 315).
6) Vom Hb, den er aufgenommen haben will, sagt er ausdrücklich, daß diejenigeD,
welche ihn verworfen haben, sich auf den Widerspruch der römischen Kirche gegen
dessen paulinische Herkunft berufen haben III, 3, ö, als ob die Ablehnung des Hb
lediglich der Vergangenheit angehörte. In VI, 20, 3 wird die Sache dadurch abge-
schwächt, daG statt der römischen Kirche „einige der Römer" genannt werden ; dagegen
aber wird dies von der Gegenwart bezeugt. Sehr viel bedeutender klingt die Angabe
III, 24, 18 rfj$ d } a,7to>talv\pea>s iy ixdrepov %n vvv naga rols TCollolg TiepiiXxercu f} §6£a,
7) III, 39, 6; VII, 25, 16 cf Forsch VI, 115—124.
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§ 7. Lucianus und Eusebius. 57
oder zu der zweiten Abteilung der AntiL, deren endliche Beseitigung zu wünschen
ist, zu rechnen sei.
Das NT nach dem Sinn des Eus. ist abgesehen von der Ap das unsrige;
es unterscheidet sich von dem der Antiochener und der Peschittha nur durch
die Vollzahl der kath. Briefe. Es stimmt mit diesem und dem unsrigen überein
im Ausschluß der zweiten Gruppe von Antilegomena. Dieses NT des Eus. finden
wir bei Cyrill von Jerusalem, Gregor Naz., im Anhang des Can. Laod. 59, im
Can. apost. 85, wahrscheinlich in Const. apost., und es wird von Amphilochius
neben dem antiochenischen Kanon berücksichtigt 8 ). Die weite Verbreitung
erklärt sich nicht aus dem hohen Ansehen der Kirchengeschichte des Eus. allein.
Ein wirksameres Mittel zur Verbreitung seiner Wünsche als solch eine gelehrte
Privatarbeit bot dem Eus. der Auftrag seines kaiserlichen Gönners Konstantin,
50 vollständige Exemplare der ganzen Bibel auf Pergament, zunächst für die
Kirchen Konstantinopels herzustellen 9 ). Dabei war die Auswahl der aufzu-
nehmenden Schriften ausdrücklich seiner Entscheidung überlassen. Es kann nicht
zweifelhaft sein, wie diese ausfiel. Abgesehen von den Aufstellungen der
ELirchengeschichte beweist der Erfolg, daß Eus. sich bei diesem verantwortungs-
vollen Geschäft, was die Zusammensetzung, aber auch was den Text anlangt,
nicht an Origenes, sondern an Lucian angeschlossen hat. Die Verbreitung von
dessen Recension bis Konstantinopel (oben S. 54) und die eigene Neigung
des Eus. empfahlen dieses Verfahren. Den Kirchen, welche Lucians NT in
Gebrauch hatten, wurde dadurch nichts weiter zugemutet, als die Aufnahme der
vier kleineren kath. Briefe. Im Ausschluß der nie unwidersprochen gebliebenen
Antilegomena zweiter Klasse (Paulus akten, Didache, Barnabasbrief, Hirt des
Hermas), aber auch der Ap war man dort von vornherein mit Eus. einig. Für
immer blieben jene, für länger als ein Jahrhundert blieb die Ap vom Kanon
fast aller griechischen Kirchen Asiens, wie schon längst der syrischen, aus-
geschlossen. Sie behauptete sich jedoch in einzelnen Kirchen dieses Gebietes
z.B. in Phönicien 10 ). Apollinaris von Laodicea, der Chiliast und Verehrer
der Ap xl ), wird seine Gemeinde hinter sich gehabt haben. Epiphanius, der als
8) Cf die Belege GK II, 179. 181 ff. 192 f. 202. 217. 219. Dahin gehört auch das
Verzeichnis bei Nicephorus, welches wie mehrere andere Verzeichnisse auf eine um
400—450 in Palästina aufgestellte Liste zurückgeht und wie diese das NT des Eus. mit
7 kathol. Briefen und ohne Ap darbietet (GK II, 298, 35; 299, 45 cf II, 291; Forsch
V, 131-148).
9) Vita Const. IV, 34. 36—37 um das J. 335 s. auch GK I, 73.
10) Hieron. tract. in psalmos (Anecd. Maredsol. III, 2, 5); Legimus enim in apo-
calypsi (quod in istis provinciis [Palästina] non recipitur über, tarnen scire debemus,
quoniam in occidente omni et in aliis [Gegensatz zu Palästina] Faenicis [d. h. Phoeniciae]
provinciis et in Aegypto recipitur über et ecclesiasticus est; nam et veteres ecclesiastici
viri, e quibus est Irenaeus et Polycarpus et Dionysius et alii Bomani interpretes, de
quibus est et Cyprianus sanctus, recipiunt librum) legimus ergo ibi etc. Cf ebendort p. 314.
11) Cf Dräseke, Apollin. von Laodicea p. 208, 8 (der Evangelist Jo spricht in der
Ap); 219, 12; 320, 23; Forsch VI, 126.
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58 § 8. Athanasius.
geborener Palästinenser die Ap nicht in seiner Heimat, sondern erst bei seinen
Reisen ins Ausland, im Verkehr mit den Orthodoxen verschiedener Länder und
durch seine Beschäftigung mit der älteren häreseologischen Literatur kennen
und schätzen gelernt haben wird, hat sie stets in Ehren gehalten, weil sie „bei
den Meisten und bei den Frommen geglaubt" wurde 12 ). Weil die Theologen,
welche die ehedem auch in jenen Gegenden allgemein anerkannte Ap aus dem
kirchlichen Gebrauch verbannt hatten, Lucian und Eusebius, aus anderen
Gründen, nämlich als Vorläufer und Begünstiger des Arianismus, im Verdacht
der Unfrömmigkeit standen, darum galt die Anerkennung der Ap als ein Zeichen
der Orthodoxie. Amphilochius von Ikonium berücksichtigte die Verehrer der
Ap als eine beachtenswerte Minorität 18 ). Er hat aber auch noch den Kanon
Lucian s mit nur 3 kath. Briefen, an welchem die Kirche von Antiochien trotz
Eusebius und Konstantinopel mit der syrischen Nationalkirche festhielt, als
gleichberechtigt neben die Annahme der 7 kath. Briefe gesteUt (GK II, 219. 229f.).
§ 8. Athanasius 1 ).
Nach dem Osterbrief von 367, welchen wir neuerdings durch eine koptische
Übersetzung vollständiger, als bisher durch die kanonistischen Sammlungen, kennen,
war es nicht ein Seitenblick auf andere Kirchengebiete, auf Eusebius oder Lucian,
sondern der in der eigenen Kirchenprovinz des Athanasius andauernde unter-
schiedslose Gebrauch von allerlei Apokryphen als hl. Schriften 2 ), was ihn ver-
anlaßte, einen genau abgegrenzten und bis auf die Reihenfolge der Schriften und
12) Epiph. haer. 77, 36 Sri tragä tcXsiotois iorlv 17 ßißXos 7ie7tiarsv/uivrj xal Ttaga
rote d'eoaeßsai Srjlov. trjv 8h ßißkov dvayivcoaxovres ot Ttlelaroi xal evkaßels xrk. Cf haer.
25, 3; 48, 10; 51, 32-35. GK II, 226.
13) Jambi ad Seleuc. 316 (GK II, 219 1. 66) : Ttjv 8' aTtoxäXvytv rrjr ^Icodwov nvhs
fihv eyxgivovoiv, rtkeiovs 8h vo&ov Xeyovoiv.
1) Den Text des durch die griechischen Kanonisten erhaltenen mittleren Haupt-
stücks des 39. Eestbriefs des Athanasius mit Untersuchungen s. GK II, 203 — 212.
Einen vorne und hinten vollständigeren koptischen (sahidischen) Text gab C. Schmidt
heraus, Nachr. d. gött. Ges. d. Wiss. 1898 S. 167—203. Weitere Ergänzungen wird
derselbe ebendort veröffentlichen. Inzwischen erschien meine Abhandlung : „Athanasius
und der Bibelkanon" (Sonderabdruck aus der Festschrift der Univ. Erlangen zum
80. Geburtstag des Prinzregenten Luitpold, 1901, Bd. I, mit gleicher Paginirung).
2) Aus der Erwähnung der Meletianer und Arianer in dem kopt. Text vor Be-
ginn des griechischen Textes (Schmidt S. 178) ließ sich nicht erkennen, ob gerade diesen
Parteien der Mißbrauch von Apokryphen zum Vorwurf gemacht werden sollte. In dem
später bekannt gewordenen Schlußstück heißt es aber nach einer von Herrn Crum in
London mir mitgeteilten Übersetzung: „als ich horte, daß die Häretiker, speciell aber
die elenden Meletianer auf die Bücher, die man apokryph nennt, stolz seien, deshalb
habe ich euch alles, was ich von meinem Vater (?) gehört habe, mitgeteilt" etc. Den
Ketzern seiner Zeit im allgemeinen macht Amphilochius den Vorwurf, sich auf pseud-
epigraphe Bücher zu stützen (Mansi, Coli, concil. XIII, 176).
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§ 8. Athanasius. 59
Schriftengruppen geordneten Kanon beider Testamente aufzustellen. In der Form
einer Darlegung dessen, was schon durch die Apostel in dieser Beziehung fest-
gestellt worden und seither üblich ist, tritt Ath. doch als Gesetzgeber auf. Er
ist der Erste, welcher die 27 Bücher unseres NT's als die allein kanonischen
hinstellt. Die Erinnerung an den Widerspruch, welchen mehrere derselben
so lange erfahren hatten und z. B. der 2 Pt noch nach dem Tode des Ath. bei
Didymus 3 ) erfuhr , wird ignorirt. Um aber doch mit der Tradition von
Alexandrien nicht völlig zu brechen, stellt Ath. neben die xavon^6f4€va und in
ebenso scharfer Unterscheidung von diesen, wie von den völlig verwerflichen
&7t6%Qvcpa, eine Klasse von &vayivo)ayt6^i€va. „Die Väter" 4 ), haben diese dazu
bestimmt, den Katechumenen vorgelesen zu werden. Es gehören dazu von vor-
christlichen Schriften: die Weisheit Sal., Sir ach, Esther, Judith und Tobias,
von christlichen: die „sogen. Lehre (didaxfy der Apostel" und der Hirt. Es
wird damit gewiß eine ziemlich alte und noch bestehende Praxis der Kirche
wiedergegeben. Die Didache übte auf die Liturgie in Ägypten einen anhal-
tenden Einfluß und wurde auch nach Ath. zu erbaulichen Zwecken bei den
Kopten verwertet 5 ). Dem Hirten hat Ath. auch sonst seine Hochschätzung
bezeugt. Dagegen überrascht uns das völlige Schweigen über andere Schriften,
welche im 3. Jahrhundert in Alexandrien mindestens ebensogut wie die Didache
und der Hirt zum NT gerechnet wurden. Den Barnabasbrief, welcher
damals den kath. Briefen beigezählt wurde (oben S. 22), hat noch Serapion,
der Freund des Ath., mit b ti[.uü)tcctoq BccQvdßag 6 &7tÖGToi.og neben dem Em
des Paulus (o legbg duzÖGToXog) citirt (Wobbermin 1. 1. p. 21), und im Cod. Sin.
steht er zwischen der Ap und dem Hirten. Wollte Ath. ihn zu den Apokryphen
gerechnet haben, welche er durchweg als häretische Fälschungen verdammt und
der namentlichen Anführung nicht für wert hält ? Jedenfalls hat er jedes Band,
welches diese und andere Schriften mit der Bibel so lange verknüpft hatte, still-
schweigend, aber bedingungslos durchschnitten. Das NT der 27 Bücher erscheint
noch fester begrenzt, als dasjenige der 26 Bücher, welches Eusebius in Umlauf
gesetzt hatte. Während dieser sein Verfahren durch umständliche Erwägungen
vorbereitet hatte, gab es für Ath. keine Bedenken und keine Antilegomena mehr.
Sein Versuch, der Kirche einige nichtkanonische Bücher als Lehr- und Lese-
3) Im Kommentar zu diesem Brief Migne 39 col. 1774 Kon igitur ignorandum,
praesentem epistolam esse falsatam, quae, licet piiblicetur, non tarnen in canone est. Cf
die Bemerkungen von Lücke ebendort col. 1742 — 1744.
4) Griech. (1. 14. 60) und Syr. zweimal oi rcari^ss, dafür der Kopte „unsere Väter"
dasselbe von diesem nochmals zugesetzt zu Griech. 1. 65. Die Worte „von meinem
Vater" (s. vorhin A 2), was etwa auf den Bischof Alexander von Alexandrien sich
beziehen möchte, der daon aber im Eingang des Briefs genannt sein müßte, sind doch
vielleicht nur ein Fehler für „meine" oder „unsere Väter".
5) Cf die Liturgie des Serapion von Thmuis ed. Wobbermin Texte u. Unters.
N. Folge II, 3 b S. 5; Athanasius (?) de virg. 13. 14; lselin, Texte u. Unters. XIII, 1
Anhang.
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60 § 8. Athanasius.
bücher zu erhalten, ohne sie zu kanonisiren oder sie unter dem unklaren, viel
später aufgekommenen Begriff des Deuterokanonischen zusammenzufassen, knüpfte
an ältere Versuche (ob. S. 24) und an die Praxis von Alexandrien an; er
wird auch in Ägypten eine Zeit lang jenen Büchern ein Schutz vor völliger
Vergessenheit gewesen sein. Für die Kirche im ganzen und auf die Dauer war er
vergeblich, weil undurchführbar. Die Lesung beim Unterricht der Katechumenen
war von der Lesung im Gemeindegottesdienst von Anfang an nicht scharf
getrennt, da die Katechesen von den getauften Gemeindegliedern, und der Sonn-
tagsgottesdienst, abgesehen von der eucharistischen Feier, von den Katechumenen
fleißig besucht wurden (s. Ath. und der Bibelkanon S. 27 f.). Ath. selbst läßt
diesen Unterschied fallen, wenn er jene Bücher als ävayivwoiiö^eva ohne Zusatz
den xavovi^öneva gegenüberstellt. Rufinus, der nach alexandrinischem Vorbild
so ziemlich dieselben Bücher als libri ecclesiastici von den canonici unterschied,
deutet die Bestimmung jener Bücher dahin, daß die Väter ihnen das legi in
ecclesiis zuerkannt haben (expos. symb. 38). Die besondere Bestimmung für die
Katechumenen wird fallen gelassen und nur die gottesdienstliche Lesung fest-
gehalten. Diese aber galt den meisten noch immer als Hauptmerkmal des
Kanonischen. EccUsiasticus, iTCukrjaia^öfievog war ihnen = canonicus 6 ). Das
in diesem Punkt radikalere Verfahren des Eusebius siegte über das conservativere
des Athanasius. Andererseits siegte Athanasius oder die durch ihn redende
Kirche von Alexandrien mit ihrem NT der 27 Bücher schließlich in allen Teilen
der Kirche.
§ 9. Die Weiterentwicklung im griechischen Orient
bis zur Zeit Justinians.
Der durch Lucian und Eusebius begründete Stand der Dinge im Orient
wurde durch die eigenartige Kritik Theodors von Mopsuestia 3 ) nicht
wesentlich verändert. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis seiner Gegner wie
seiner Verehrer hat Theodor nicht nur den Jk, sondern alle 7 kath. Briefe ver-
worfen 2 ). Da er als Antiochener selbstverständlich auch die Ap nicht in
seinem NT hatte, so ist sein NT, abgesehen von der für ihn nicht in Betracht
kommenden Ersetzung der 4 Ew durch das Diatessaron, identisch mit dem der
6) Cf Hieron. ep. 129, 3 ad Dard. ; tract. in ps. 1 und 149 Anecd. Maredsol. III,
2, 5. 314; Pseudochrys. Montfaucon VI, 430; Pseudoathan. dial. de trin. c. Arian. I, 5;
Leontius de sectis II, 1. 4; Niceph. stichom. GrK II, 297. 299.
1) Cf meine Abhandlung über das NT Theodors und den ursprünglichen Kanon
der Syrer, N. kirchl. Ztschr. 1900 S. 788-806.
2) Leontius c. Nestor, et Eutych. III,* 12—14 (Mai, Spicil. Rom. X, 72 f.; Migne
86, 1, 1365); .Tesudad (Ischodad) von Merw, nestorianischer Bischof von Chedhatta in
Assyrien im 9. Jahrhundert in seinem noch ungedruckten Kommentar zum NT. s. den
syrischen Text nach cod. Sachau 311 fol. 188 a bei Sachau, Verz. der syr. Hss. der
berliner Bibl. I, 305 a, deutsch in meiner Abh. S. 789 f.
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§ 9. Die Weiterentwicklung im griechischen Orient bis zur Zeit Justinians. 61
Syrer um 350 (oben S. 45 ff.). Es unterliegt daher auch keiner Frage, daß er
seine individuelle Kritik durch bewußten Anschluß an eine um 400 noch nicht
ausgestorbene syrische Tradition zu stützen gesucht hat. Auch in seiner Anord-
nung der Paulinen schloß er sich an diese Tradition an, indem er den Hb an
die großen Gemeindebriefe anschloß, korrigirte sie aber, indem er nach griechi-
schem Brauch den Em wieder an die Spitze und den Gl zu den kleineren Briefen
stellte 3 ). Gegen die alten Syrer verteidigte er die Kanonicität des Philempn-
briefs (oben S. 48 A 9) und er lehnte den dritten Korintherbrief ab. Bei dem
hohen Ansehen, welches Theodor bei den syrischen Nestorianern genoß, wäre
nicht zu verwundern, wenn diese dem „Ausleger", wie sie ihn nannten, auch in
Sachen des Kanons gefolgt wären. In der Tat erscheinen noch bei dem
Nestorianer Jesudad im 9. Jahrhundert die drei großen kath. Briefe als eine
Art von Antilegomena. Auch Kosmas um 540, der von syrischen Nestorianern
sich hat belehren lassen, kennt Leute, welche alle kath. Briefe verwerfen
(GK II, 233). Wir würden genauer unterrichtet sein, wenn die Vorträge,
welche Paulus von Nisibis um 545 in Konstantinopel hielt, uns in authen-
tischer Form und nicht nur in der lateinischen Bearbeitung des dort lebenden
Afrikaners Junilius erhalten wären 4 ). Junilius hat aber nicht nur in Titeln
wie divina lex für die ganze Bibel, Petri ad gentes, epistolae canonicae statt
catholicae u. dgl. das Original nach abendländischem, teilweise spezifisch afrika-
nischem Brauch, sondern auch sachlich geändert, namentlich in bezug auf die
Ap 6 ), welche für Paulus wie für Theodor gar nicht in Betracht kam. Möglich
ist, daß Paulus in Konstantinopel es angezeigt fand, ausdrücklich zu erklären,
daß die Ap nullius auctoritatis oder omnino cassata sei, wogegen Junilius sie
seinen Landsleuten erhalten wissen wollte. Sicher aber ist es auf Paulus und
letztlich auf die schneidige Kritik, welche Theodor am Jk geübt hatte, zurück-
zuführen, daß Junilius diesen mit den 4 kleinen katholischen Briefen als deutero-
kanonische Schriften (mediae auctoritatis) zusammenfaßt und von den unbedingt
oder allgemein anerkannten Schriften 1 Pt und 1 Jo unterscheidet (Kihn p.
478, 15—479, 3 cf 480, 1—5). Tatsächliche Bedeutung hatte diese Einteilung
der 7 kathol. Briefe in zwei Klassen für Griechen und Lateiner längst nicht
mehr, und die Zurückstellung des Jk gewiß nur noch für einige Teile der
nestorianischen Kirche. "Wie die Syrer trotz der Kritik Theodors und einiger
nestorianischer Gelehrter im allgemeinen an der Peschitthä mit drei kath. Briefen
3) GK II, 360. Theodors Ordnung war: Em, 1. 2 Kr, Hb, Eph, Gl, Phl, Kl,
1. 2 Th, Cf die ältere syrische Ordnung oben S. 49.
4) Cf Kihn, Theodor und Junilius , 1880. Ebendort im Anhang S. 465—528
Junilii instituta regularia divinae legis.
5) Kihn p. 475, 9 Ceterum de Johannis apocalypsi apud orientales admodum dubi-
tatur; p. 480, 7 in prophetia (unter den prophetischen Büchern) mediae auctoritatis libri
praeter apocalypsin non repperhmtur, nee in proverbwli specie omnino cassati (== libri
nullius auctoritatis cf Kihn S. 379 ff.).
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62 §9. Die Weiterentwicklung im griechischen Orient bis zur Zeit Justinians.
und ohne Ap festhielten (oben S. 53), so hat der Kanon des Eusebius mit
7 kath. Briefen und ohne Ap, wo er überhaupt durchgedrungen war, bis tief in
das 5. Jahrhundert hinein sich behauptet.
Wie es gekommen ist, daß die Kirchen von Jerusalem bis Konstantinopel
die Ap, und die Kirche Ton Antiochien außerdem auch noch die 4 kleineren
kath. Briefe recipirte, bedarf noch genauerer Untersuchung. Wenn Philoxenus
von Mabug um 508 die Ap und die kleineren kath. Briefe zum erstenmal ins
Syrische übersetzen ließ, so setzt dies voraus, daß in dem angrenzenden griechi-
schen Kirchengebiet, im Patriarchat von Antiochien diese Schriften nicht mehr
wie um 400 stillschweigend ignorirt,- sondern wieder recipirt waren. Vielleicht
noch etwas früher, jedenfalls nicht viel später als 500 hat Andreas im kappadoci-
schen Oäsarea seinen großen Kommentar über die Ap geschrieben, worin er
noch mit einer gewissen Geflissentlichkeit durch Berufung auf die alten Lehrer
von Papias bis Cyrill die Theopneustie des Buchs verteidigt und im Anschluß
an Ap 22, 18 f. die Kritiker derselben straft (ed. Sylburg p. 2. 112). Um 530
hat Leontius in Vorträgen, die er in einem Kloster bei Jerusalem hielt, die
Ap des hl. Johannes als das letzte der in der Kirche kanonisirten Bücher be-
zeichnet (de sectis act. II, 4; GK II, 294). Er ist hierin mit seinen Gegnern
wie Johannes Philoponus einig (opif. mundi IV, 6). Aus dem Nachdruck, mit
welchem Eustratius 6 ) um 580 die Ap als ein Werk des Evangelisten und
Theologen Johannes charakterisirt und zur dogmatischen Beweisführung heran-
zieht, ist vielleicht zu schließen, daß damals bei den Gelehrten von Konstanti-
nopel der ehemalige Ausschluß der Ap vom Kanon noch nicht vergessen war.
Als Justinian das römische Recht codificirte und registrirte, war auch der Ttav-
dimrfi rfjg aylag, yQCtcpfjg für die griechische wie für die lateinische Kirche
fertig. Daß der Abschluß der bürgerlichen Gesetzgebung auf die endgiltige
Feststellung des biblischen Kanons eingewirkt hat, spiegelt sich im kirchlichen
Sprachgebrauch der Zeit Justinians und der Folgezeit deutlich wieder T ).
6) Bei Leo Allatius, De utriusque ecclesiae, occid. atque Orient., perpetua in dog-
mate de purgatorio consensione, 1655 p. 290 f. 394. 408.
7) Cassiod. inst. div. litt. c. 12 u. 14 nennt um 544 einen die sämtlichen kanonischen
Schriften beider Testamente umfassenden Codex pandectes (GK I, 65; II, 271. 273).
Die Syrer gebrauchen dieses griechische Wort zur Bezeichnung eines auch die Apo-
kryphen einschließenden Codex cf Prot. KEncykl. XV 2 , 196. Der Mönch Antiochus
im Sabaskloster bei Jerusalem nannte um 620 ein hauptsächlich aus Worten der n 60 M
kanonischen, aber auch mancher apokrypher und patristischer Schriften von ihm
kompilirtes asketisches Sammelwerk TtavSixrrjg rrje dyias ypayrjg (GK II, 292; Ehrhard bei
Krumbacher, Gesch. d. byz. Lit. 2 S. 146). Den Plural Ttavdixrai (pandedae) hat schon Tiro,
der Freigelassene Ciceros, nach griechischem Vorgang als Titel eines einzigen Werks
gebraucht (Gell. noct. Att. XIII, 9, 3 cf praef. § 7; Plin. h. nat. praef. § 24); ebenso
die Juristen Ulpianus und Modestinus (cf Kipp, Quellenkunde des röm. Rechts S. 89.
90). So nannte Justinian (inst, prooem. § 4; lib. IV, 13, 6; IV, 18, 12, Const. „Tanta"
§ 1) sein großes Sammelwerk libros L Digestorum seu Pandectarum. Dafür heißt es in
der gleichzeitigen und gleichfalls officiellen griech. Fassung 6 TtavSixrris (z. B. C. „Tanta"
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§ 10. Die Angleichung des Occidents. 63
§ 10. Die Angleichung des Occidents.
1. Yon den mannigfachen Schwankungen und Feststellungen, welche der
Kanon nach der Zeit des Origenes im Orient erfahren hat, wurde der lateinische
Occident nicht unmittelbar berührt. Bis gegen die Mitte des 4. Jahrhunderts
ist von einem Einfluß der griechischen Kirche auf den ntl Kanon der lateini-
schen sogut wie nichts zu spüren. Man sah dort mit Mistrauen auf die Be-
weglichkeit der Griechen in der Behandlung des Textes und des Kanons. Die
kirchlichen Ereignisse und Verhältnisse seit KoDstantin machten jedoch eine
solche Absperrung je länger je unmöglicher. Ein bedeutsames Vorspiel war
schon die Übersiedelung des alexandrinischen Exegeten und Textkritikers
Pierius, des Origenes junior, nach Born zur Zeit Diocletians 1 ). Es folgten die
arianischen Streitigkeiten, in welche von Anfang an auch abendländische
Bischöfe, wie der Spanier Hosius, hineingezogen wurden. Die dogmatischen
Parteiungen wirkten nicht bloß trennend, sondern verbanden auch bisher ge-
trennt lebende Teile der Kirche. Nicht wenige Synoden von der nicänischen
an brachten Occidentalen und Orientalen in persönliche Berührung. Dazu
§ 1). Ebenso Theophilus in der Paraphrase der Institutionen und Kaiser Leo der Weise
(um 900) in der Vorrede zu den Basiliken (Basil. ed. Heimbach I vor p. 1 von Justinian
diyeora rovrois fjroi Ttavdiycrrjv ovofia &£fisvos). In dem Index Florentinus sind schon
dem Ulpian TtavSexrov ßtßlia Sexa zugeschrieben, wahrscheinlich dasselbe, was in den
Digesten pandectarum Über singularis heißt. Cf übrigens auch Brissonius de verb. sign,
ed. Heineccius s. v. TtavSexri] (sie). — Die Basiliken, eine „zeitgemäße griechische Be-
arbeitung der ganzen justinianischen Gesetzgebung", bestanden aus 60 Büchern und
wurden später tj k^riy.ovrdßißXos genannt (Basil. ed. Heimbach VI, 108), in einem Katalog
der Bibliothek von Bodosto (ed Foerster, Rostocker Progr. 1877 S. 29) mit dem Zusatz
*Iouoviviavov rov ßaodecog, weil die Basiliken ihrem Inhalt nach auf diesen Kaiser zurück-
gehn. Auch hiezu findet sich die genaue Parallele in der Geschichte des biblischen
Kanons. Im Anschluß an die 60 Königinnen und die 80 Kebsweiber in Cantic. 6, 8
pflegten in der Zeit nach Justinian manche die Zahl der kanonischen Bücher auf die
runde Zahl 60 zu bringen, und daher wurde im späteren Mittelalter rj i^rjxöprdßißXog
ein Name der gesamten Bibel (GK II, 220. 222 f.). — Durch eine Konstitution Justinian9
vom 21. November 533 wurden die Institutionen sive elementa juris in Konstantinopel
herausgegeben ; um 550 verfaßte Junilius als Quaestor s. palatii zu Konstantinopel seine .
Instituta regularia divinae legis (oben S. 61 A 4). Daß er bei der Wahl dieses Titels das
wenig ältere Lehrbuch des bürgerlichen Rechtes im Sinne hatte, kann um so weniger
zweifelhaft sein, als schon in den gleichzeitigen griech. Texten der justinianischen Kon-
stitutionen (z. B. (J. „Tanta" § 23) ivorirovra, gen. ivortrovrcov = institutiones gebraucht
ist. Der Gebrauch von lex mit und ohne den Zusatz divina als Name der Bibel ist alt
und besonders für Afrika bezeugt (GK I, 95. 96). Der Afrikaner Junilius assimilirte
auch durch Anwendung dieses Namens seine Arbeit dem juristischen Lehrbuch. Wahr-
scheinlich sollte auch die Bezeichnung der Instituta als regularia ebensosehr an die alten
juristischen Werke unter dem Titel regularum libri, als an die kirchlichen Ausdrücke
regula = xavwv, libri reguläres = ßißlia xavovixd, navovi£6{ieva erinnern.
1) Hier. v. ill. 76 ; in Matth. 24, 36 (Vallarsi VII, 199).
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64 § 10. Die Angleichung des Occidents.
kamen die oft Jahre lang sich ausdehnenden freiwilligen und unfreiwilligen
Aufenthalte der vertriebenen und verbannten Wortführer in der Fremde, die
Exile eines Athanasius in Trier (336 — 337), in Rom (340 — 343) und an an-
deren Orten des Abendlandes (bis 346), des Hilarius von Poitiers in Kleinasien
(356 — 360), des Lucifer von Cagliari, des Eusebius von Yercelli u. a., ferner die
von 380 an fast zur Mode werdenden Reisen von Männern und auch vornehmen
Frauen des Abendlands in den Orient zum Zweck des Besuchs der hl. Stätten
und der Erkundung des dort viel weiter als im Abendland entwickelten Mönch-
tums. Während schon vorher die abendländischen Kirchenschriftsteller, be-
sonders die Exegeten (Hilarius, Ambrosius) sich enge an die griechische Literatur
angeschlossen hatten, kam jetzt mit Hieronymus und Rufinus das Zeitalter der
Übersetzungen aus dem Griechischen. Für die Angleichung des Occidents an
den Orient in Sachen der Bibel hat niemand mehr getan als Hieronymus. Sein
wechselvolles Leben, seine teils längeren, teils kürzeren Aufenthalte in Rom,
Antiochien, Konstantinopel, Alexandrien, Palästina, seine Sprachgewandtheit,
seine vielseitige Korrespondenz, seine Beziehungen zu Papst Damasus machten
es zu einer Lebensaufgabe für ihn, die in mehr als einer Beziehung zurück-
gebliebene Kirche des Abendlands mit dem ausgewählten Ertrag der zwar un-
ruhigeren, aber auch reicheren Entwickelung der morgenländischen Kirchen zu
beschenken. Seine Teilnahme an der römischen Synode vom J. 382 und seine
im Auftrag des römischen Bischofs unternommene Neubearbeitung der lateini-
schen Version des NT's boten ihm vorzügliche Gelegenheiten, unmittelbar auf
den Bestand und die Anordnung des NT's in weiten Kreisen des Abendlands
einzuwirken. Er konnte wirksamer als irgend ein Anderer vollenden helfen,
was Andere vor ihm begonnen hatten. Man darf über seinen großen Untugenden
nicht seine großen Verdienste vergessen, aber auch nicht über seinen Ver-
diensten diejenigen seiner Vorgänger übersehen. Vor allem die Einwirkung des
Athanasius auf die Entwicklung des Kanons im Abendland ist nicht zu unter-
schätzen. Er beteiligte sich überall, besonders in Rom während seines mehr
als dreijährigen Aufenthalts daselbst eifrig an den Gottesdiensten und zeigte
ein lebhaftes Interesse an denselben. Der Auftrag des Kaisers Constans, ein
Exemplar der Bibel oder mehrere solche herzustellen, welchen Athanasius in
Rom (340 — 343) ausführte, gab ihm Anlaß, seinen Grundsätzen sichtbaren Aus-
druck zu geben 2 ). Vielleicht ist der berühmte Codex Vaticanus der Gesamt-
bibel, welcher den im Festbrief des Athanasius niedergelegten Grundsätzen ent-
spricht, eine Frucht jenes kaiserlichen Auftrags.
2) Äthan, apol. ad Constantium 4 (ed. Montfaucon I, 297). Cf meine Abh. über
Ath. u. den Bibelkanon S. 31 — 34. Dort auch Genaueres über Fortpflanzung von
Äußerungen des Athanasius über Sachen des Gottesdienstes und des Kanons im Abend-
land: Aug. eonf. X f 33, 50; Hieron. zu Tt 3, 10 (Vall. VII, 737); Beda prol. in epist.
cathol. ; ein „ordo divinorum librorum" bei Arevalo in der Ausg. des Sedulius p. 429 cf
p. 82; GK II, 388 f.
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§ 10. Die Aiigleichung des Occidents. 65
2. Der eiserne Bestand des NT's (4 Evv, AG, 13 Paulusbriefe, Ap) ist im
Abendland vom Anfang des 3. Jahrhunderts an für immer unangetastet ge-
blieben. Seit dem Angriff des Cajus ist auch die Ap nicht mehr angefochten
worden. Montanisten, Novatianer, Donatisten und Priscillianisten waren mit
den Katholiken einig in ihrer Verehrung. "Wenn ein Sulpicius Severus (chron.
II, 31) sagt, daß manche (plerique), sei es aus Torheit, sei es aus Gottlosigkeit,
sie nicht recipiren, so kann das nur mit einem Seitenblick auf die orientalischen
Kirchen gesagt sein. Der Kommentar des Aponius zum Hohenlied, wahr-
scheinlich aus der Zeit um 400 — 450, in welchem die Ap nur so citirt wird,
daß ihre Anerkennung oder Verwerfung freigestellt bleibt 8 ), bedarf erst noch
einer sehr gründlichen Untersuchung, ehe man über die geschichtliche Stellung
und trotz seines leidlichen lateinischen Stils selbst über die Nationalität seines
Verfassers urteilen kann. "Wenn die 4. Synode von Toledo (a. 633), welche
sich vorwiegend mit Beseitigung von allerlei in Spanien bestehenden Ungleich-
heiten in Kultus und Disciplin befaßte, unter Berufung auf die Auktorität vieler
Koncilien und Synodaldekrete römischer Bischöfe jeden (Geistlichen) mit dem
Bann bedroht, welcher die Ap nicht recipire und sie nicht in der Zeit zwischen
Ostern und Pfingsten in der Messe verlese, so weist dies wie mehrere andere
Satzungen derselben Synode darauf hin, daß es galt, eine aus den Zeiten vor
dem Übertritt Bekareds des Katholischen (a. 586) übriggebliebene Besonderheit
der suevischen und westgotischen Arianer zu beseitigen. 4 )
3. Es fragte sich im Occident seit der Mitte des 4. Jahrhunderts nur noch
um das Verhältnis des Hb und mehrerer der katholischen Briefe zum NT. Der
Hb, welcher während des 2. und 3. Jahrhunderts in der katholischen Kirche
ö!es ganzen Abendlands weder für paulinisch galt, noch zum NT gerechnet wurde
und nur bei Montanisten und Novatianern als eine Schrift des Barnabas den
apostolischen Schriften mehr oder weniger gleichgestellt wurde (oben S. 18), blieb
3) Aponii (andere schreiben Apponii) scriptoris vetustissimi in canticum canticorum
libri XII, editi et inediti; cur. H. Bottino et J. Martini, Romae 1843, p. 160: si cui
tarnen ipmm libellum (d. h. die Ap) recipere placet; p. 232: in apocalypsi Joannis, $i
cui tarnen recipiendum (!) videtur. Eine Anspielung auch p. 123. Bei den Neueren suche
ich vergeblich nach Belehrung über dieses nicht uninteressante Buch. Selbst die genannte
Ausgabe, meines Wissens die einzige vollständige, scheint meist unbekannt zu sein.
4) Can. 17 concil. Tolet. a. 633. Schon in Can. 15 wird sie als Werk des Evan-
gelisten Johannes citirt. — Auch die Opposition gegen den kirchlichen Gebrauch von
Hymnen des Hilarius und des Ambrosius, welche in c. 13 bekämpft wird, ging von
arianischer Seite aus. — Daß Ulfila die Ap nicht übersetzte, war selbstverständlich, da
sie zu seiner Zeit auch im NT von Konstantinopel nicht enthalten war. Ob irgend eine
größere arianische Gemeinschaft der Folgezeit die Ap recipirt hat, ist zu bezweifeln. —
Daß die Frage auch in Spanien nicht mehr viel zu bedeuten hatte, zeigt das völlige
Schweigen des an der Nationalsynode von 633 sehr beteiligten Isidor von Sevilla über
Beanstandung der Ap (Etymol. VI, 2, 49 und im Liber prooem. §§ 106—109 ed. Arevalo
III, 248; V, 218), zumal derselbe die Bedenken gegen den Hb noch erwähnenswert
findet Etymol. VI, 2, 45.
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 5
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66 § 10. Die Angleichung des Occidents.
auch während der ersten drei Viertel des 4. Jahrhunderts vom lateinischen NT
ausgeschlossen (s. ohen S. 18.56 A 6). Der Mommsen'sche Kanon, eine um 360
in Afrika entstandene Privatarbeit (s. unten Beil. III), zählt nur 13 paulinische
Briefe und übergeht den Hb mit Stillschweigen. Dies bestätigen die Bibelcitate
in dem um 370 — 385 verfaßten "Werk des Optatus von Mileve und in den
sämtlichen Akten des donatistischen Streits. Es scheint, daß man in Afrika be-
harrlicher als anderwärts an dem begrenzteren einheimischen Kanon festhielt.
Aber wesentlich anders ist die Stellung des Hb zum NT auch in den übrigen
Ländern des Abendlandes vor 380 schwerlich gewesen. Die Citate beginnen
bei den durch ihre Exile über die Grenzen ihrer Landeskirchen hinausgeführten
Bischöfen, dem Gallier Hilarius und dem Sardinier Lucifer 5 ). Bei Zeno von
Verona, einem geborenen Afrikaner, bei dem Gallier Phöbadius und in manchen
anderen Schriften, welche ihres Gegenstandes wegen Anlaß zur Anführung des
Hb gehabt hätten, hat man vergeblich nach Citaten aus demselben gesucht 6 ).
Von dem Spanier Pacianus (f vor 392) wird der Hb einmal, von Priscillian
in seinen meistenteils erst nach 380 verfaßten Schriften häufig als paulinisch und
somit kanonisch citirt 7 ). In Rom beginnen solche Citate mit Marius Victo-
rinus 8 ), Faustinus 9 ) und dem sogen. Ambrosiaster 10 ), deren Schriften sämtlich
in die Zeit von 370 — 385 fallen. Es bedurfte durchgreifender und amtlicher
Maßnahmen, um dem Hb zur Aufnahme in das kirchliche NT des Abendlands
zu verhelfen.
4. Von den katholischen Briefen sind der 1 Pt und der 1 Jo stets unan-
gefochten geblieben. Dagegen haben der 2 Pt und der 2 und 3 Jo, welche
5) Z. B. Hilar. in ps. 14 § 5 (Paulus schreibt Hb 12,' 22); ps. 53 § 13; ps. 118,
litt. Heth § 16; de trin. IV, 11; Lucifer, de non conv. c. haeret. 10. Cf die fleißige
Sammlung bei ßleek, Komm, zum Hb 1, 183 ff.
6) So. z. B. auch in der Altercatio Heracliani vom Jahr 366 (Oaspari, Kirchenhist.
Anecdota S. 133 ff.).
7) Pacian. ep. HI, 13 (ed. Peyrot p. 70 f. apostolus dicit = 1 Kr 10, 11, et
Herum = Hb 10, 1); Priscill. tract. 3 (Paulus in epistola ad Hebraeos facta) ; tract. 1
u. 6 (scriptum est) ed. Schepss p. 29, 15; 45, 4; 79, 9 und viele andere Citate im Index.
8) C. Arianos 1, 59; II, 3; de homoous. rec. 2 (Migne 8, 1085. 1091. 1138).
9) De trin. II, 13; IV, 2; lib. precum 27 (Migne 13. 61. 68. 102).
10) Dieser hat nur die 13 Briefe des PI in seinem Kommentar behandelt, schreibt
aber (ed. Bened. II app. p. 305) in einer Besprechung von 1 Tm 1, 3 f. nam simili modo
in epistola ad Hebraeos scriptum est ohne anzudeuten, daß PI auch diesen geschrieben
habe. In den von demselben Vf herrührenden Quaestiones unter Augustins Werken
(Quaest. 109) heißt es selbst in der Form des Citats ähnlich über dasselbe Kapitel Hb 7 :
simili modo est et in epistola data ad Hebraeos; hinter dem Citat aber et ut apostolus
significaret etc. In derselben Quaestio auch in bezug auf Hb 13, 2 noch zweimal apostolus.
Der Vf, als welcher der getaufte Jude Isaak erkannt worden ist (cf Th. Ltrtrbl. 1899
Nr. 27 nach Morin), mag von auswärts nach Rom gekommen sein und, obwohl er den
Hb als paulinisch kannte, sich in der Beschränkung des Kommentars auf die 13 Briefe
und in der zurückhaltenden Art seiner Anführungen des Hb dem römischen Publicum
anbequemt haben.
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§ 10. Die Angleichung des Occidents. 67
um 200 in verschiedener Weise beanstandet wurden (oben S. 19 ff.), auch noch
im 4. Jahrhundert ein unsicheres Verhältnis zum lateinischen NT gehabt. Der
Vf des afrikanischen Kanons von c. 360 hatte. 3 Briefe des Jo und 2 Briefe
des Pt an den Schluß der ntl Liste gestellt. Aber ein hinter diese beiden
Angaben gestelltes una sola, welches wahrscheinlich von einem Mann herrührt,
der im J. 365 diese Liste als Stück eines chronographischen Sammelwerkes kopirte,
zeigt, daß es damals in Afrika Leute gab, welche nur den 1 Ft und den 1 Jö zum
Kanon gerechnet wissen wollten (s. Beil III; GK II, 153 f. 1010. 1012). Den
Jk und den Jud hatte schon der erste Vf dieser Liste mit völligem Schweigen
übergangen, und der Recensent, welcher gegen eine Mehrheit von Briefen des
Pt und des Jo so energisch protestirte, hat an diesen Defekten keinen Anstoß
genommen. Der Ausschluß nicht nur des Jk, der auch um 200 weder in Born
noch in Karthago unter den hl. Schriften genannt wurde (oben S. 20), sondern
auch des Jud, welcher um 200 in Born wie in Karthago recipirt war, war um
360 in Afrika eine ausgemachte Sache. Kein afrikanischer Schriftsteller nach
Tertullian und vor Augustin n ) hat einen dieser Briefe citirt. Dagegen war
man dort über 2 Pt und 2 u. 3 Jo nach wie vor geteilter Meinung. Dem
entspricht es, daß nicht nur ein Bischof auf der* karthagischen Synode von 256,
sondern auch noch Optatus den 2 Jo als hl. Schrift citirt haben 12 ). Es stand
aber nicht wesentlich anders in den übrigen Ländern des Abendlandes. Zwar
das gewiß nicht in Afrika, sondern in Italien geschriebene Exemplar der Bibel
„secundum antiquam translationem", welches Cassiodor beschrieben hat und
kopiren ließ, enthielt 26 Schriften des NT's, nämlich alle außer dem Jud (GK
II, 272 — 276). Aber dies ist nur einer der vielen Beweise dafür, daß die aus
der Zeit vor Hieronymus stammenden Bibeltexte nachmals ebenso aus der Bibel
des Hieronymus bereichert und nach ihr geändert worden sind, wie umgekehrt.
Aus der Zeit vor 380 sind die Spuren der Verbreitung von 2 Pt, Jk, Jud,
11) Augustin hat um 400 seinen Schülern Anmerkungen zum Jk diktirt und klagt
retract. II, 32 über die Mangelhaftigkeit der Übersetzung, in welcher er ihm damals
vorlag. Es wird diejenige sein, welche nicht aus einer biblischen, sondern aus einer
patristischen Hs., worin er auf den Barnabasbrief folgt, herausgegeben worden ist (GK
I, 325 A 1). Zu Optat. I, 5 (cum in epistula Petri apostoli legerimus: „nolite per opinio-
nem jvdicare fratres vestros") citirt man ohne Grund Jk 4, 11. Es ist ein ebensp apo-
kryphes Citat wie dasjenige bei Pseudocyprian de montibus Sina et Sion 13 aus einem
Brief des Jo, welcher in den Johannesakten enthalten war cf GK I, 218; Forsch VI,
AI. — Für fortdauerndes Ansehn des Jud in Afrika oder auch in Kom darf man sich
nicht auf Pseudocypr. ad Novat. 16 (aus der Zeit Cyprians) berufen, denn dort wird
nicht Jud, sondern ein lateinisches Henochbuch citirt cf GK II, 797 ff. ; Forsch V, 158.
438. Der Kanon des Tyconius scheint genau derjenige des korrigirten Mommsen'schen
Kanons zu sein cf Burkitt in Texts and Studies III, 1, 107 — 109.
12) Sentent. episcop. bei Cyprian ed. Hartel p. 459 cf August, de bapt. c. Donat.
VII, 89; Optat. IV, 5 in dem sonderbaren Convolut von Apsstelworten : de quibus
apostolus hoc dixerit: „cum Ms nee eibum capere (1 Kr 5, 11); am Uli ne dixeritis
(2 Jo 10) ; serpit enim eorum sermo velut Cancer" (2 Tm 2, 17).
5*
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68 § 10. Die Angleichung des Occidents.
2. 3 Jo spärlich. Hilarins 13 ) citirt einmal Jk 1, 17 als "Wort des Apostel Jk,
sonst aber keinen der genannten Briefe; Ambrosiaster nur 2 Jo (zu Bm 12 r 18;
16, 23 p. 98. 110); und noch bei Ambrosius sucht man vergeblich nach Spuren
seiner Beschäftigung mit diesen 5 Briefen. Dagegen hat Priscillian, welcher ein
Interesse daran hatte, sich vor dem römischen Bischof Damasus als rechtgläubig
in bezug auf den dispositus canon u ) d. h. den unter Damasus festgestellten
Bibelkanon zu erweisen, die katholischen Briefe ohne Unterschied citirt.
5. Der erste entscheidende Schritt zu einer endgiltigen Abgrenzung des
lateinischen Bibelkanons geschah 382 auf einer römischen Synode unter Bischof
Damasus 15 ). Zu derselben waren außer hervorragenden Bischöfen des Abend-
landes wie Ambrosius mehrere Bischöfe der Balkanhalbinsel, drei Abgesandte
der im gleichen Jahr tagenden Synode von Konstantinopel, ferner Paulinus von
Antiochien und Epiphanius von Salamis und in deren Begleitung Hieronymus
erschienen. Die Seele der Verhandlungen, jedenfalls soweit sie den Kanon be-
trafen, war nicht etwa Ambrosius, der durch Krankheit verhindert war, an den
Verhandlungen teilzunehmen, sondern der 40jährige Presbyter Hieronymus,
welcher sofort der Vertrauensmann und der gelehrte Berater des Damasus wurde.
Die Beschlüsse über die von der katholischen Kirche recipirten und die zu ver-
werfenden Schriften sind nachmals von den Päpsten Gelasius (492—496) und
Hormisdas (514—523) erneuert und erweitert worden. Die unter dem Namen
Decretum oder Decretalis Gelasii papae de recipiendis et non recipiendis libris be-
kannte Kecension ist nur eine Erweiterung der unter Damasus beschlossenen
Satzung. Mit ziemlicher Sicherheit läßt sich noch feststellen, was im J. 382
beschlossen wurde. Der „ordo scripturarum novi et aeterni testamenti" (Beil. IV)
stellt die 4 Ew in die den Abendländern ungewohnte Ordnung Mt, Mc, Lc, Jo,
13) Hilar. de trin. IV, 8 ed. Bened. p. 830 nennt unter anderen Schriftbeweisen
der Arianer et (quod) Jacobus apostolus dixerit: .,apud quem non est demutatio". Das
entspricht weder dem Corb. (permutatio) noch der Vulg. (transmutatio), wird also von
. Hilarins aus dem Griechischen übersetzt sein.
14) Tract. III de fide et de apocryphis p* 45, 2. Es ist dasselbe, was der des
Priscillianismus verdächtige Spanier Bachiarius (Migne 20 col. 1034) ecclesiasticus canon
nennt, „die von der Kirche bestimmte und begrenzte Bibel". Cf auch Augustin Epist.
64, 3 ad Quintianum; c. Cresc. II, 31, 39 oben S. 10 A 39. Priscillian citirt den Jk
p. 17, 8—16 (sicut scriptum est) ; 27, 14 ; 57, 7 {dicente apostolo, so auch : 63, 16 ; 94, 15
96, 19); den Jud p. 29, 4; 32, 24 (Judas apostolus); 44, 12 (wo er überdies nach den
Thomasakten mit Thomas identificirt wird) ; 64, 6 (sicut scriptum est) ; den 2 Pt p. 9, 26 ;
69, 10; 87, 9 (hier überall 2 Pt 1, 20 zuletzt beatissimus Petrus cf p. 69, 10 und
Bachiarius 1. 1.) ; p. 46, 12 (apostolus ait) ; den 2 Jo p. 31, 4 an ein Citat aus 1 Jo 4, 2
(Johannes ait) mit sicut et ipse alibi angeschlossen. Nur der 3 Jo kommt bei ihm
nicht vor.
15) Über die Hss und die Literatur s. (jK II, 259—267 ; dazu Turner im Journal
of theol. studies I (1900) S. 554—560 und unten Beil. IV. Zu den oben im Text an-
geführten Anzeichen des Einflusses des Hieronymus gehört auch die überflüssige Gelehr-
samkeit im atl. Teil Hieremiae liber I cum Cinoth i. e. lamentationibus suis.
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§ 10. Die Angleichung des Occidents. 69
welche Hieronymus bald darauf auch in der Vorrede zu den Ew als die richtige
bezeichnet. Es folgen die 14 Briefe des PI mit dem Hb als dem letzten 16 ),
übrigens eigentümlich geordnet (Eph, Th, Gl, Phl, Kl); ferner Ap, AG, an
welche sich die 7 katholischen oder, wie sie hier zum ersten Mal und in
der Folgezeit oft genannt werden, kanonischen Briefe anschließen. Der
Kathedra Petri zu Ehren, deren Vorrang vor Alexandrien und Antiochien bei
gleicher Gelegenheit durch Beschluß anerkannt wurde, stehen die Briefe des Pt
voran ; es folgt Jk, der gleichfalls Apostel heißt, sodann ein Brief des Apostels
Jo, zwei Briefe des Presbyters Jo und der Brief des „Apostels Judas Ze-
lot es". Die Bezeichnung des Jk und des Jud als Apostel entspricht der bald
darauf von Hieronymus in Rom verfochtenen Ansicht über die Brüder Jesu 1 *),
und die Verwechselung des Apostels Judas Jakobi mit dem von Lucas dicht neben
ihn gestellten Apostel Simon Zelotes (Lc 6, 15; AG 1, 13) ist ganz in der Art
des Hieronymus. Durch die an Eusebius sich anschließende, aber über diesen
hinausgehende Unterscheidung des Presbyters Jo als Vf des 2 u. 3 Jo vom
Apostel als Vf des 1 Jo 18 ) sollten die Bedenken gegen 2 u. 3 Jo, welche seit
den Tagen des murat. Kanons noch immer nicht völlig verstummt waren, be-
seitigt werden. Abgesehen von dem, was aus der persönlichen Ansicht des
Hieronymus und der kirchenpolitischen Überlegung der römischen Synode sich
erklärt, ist dieser Ordo oder, wie er am Schluß heißt, Canon novi testamenti
identisch mit demjenigen des Athanasius. Rom hatte gesprochen, und die
Völker des Abendlands hatten es gehört. "Wie rasch die Spanier, die um ihre
Orthodoxie in Sorge waren, gehorchten, wurde schon gezeigt (oben S. 66. 68)
6. Langsamer folgten die Afrikaner. Auf den Synoden zu Hippo Regius
vom J. 393 und zu Karthago 397 wurde nicht ohne mancherlei Anzeichen
selbständiger Erwägung und formale Abweichungen der 382 in Rom festgesetzte
Kanon der 27 Bücher angenommen. Ahnlich wie bei der römischen Feststellung
ist es auch bei der afrikanischen nach Lage der vorhandenen Urkunden schwierig,
den Text des ursprünglichen Beschlusses bis aufs "Wort wiederzugeben (GK IT,
246 — 253). In der Hauptsache ist doch gewiß, daß man sich schon 393 ent-
schieden an Rom anschloß.
Das noch nicht überwundene "Widerstreben gegen den Hb kam darin zu einem
16) Der unbedingte Anschluß des Hb erklärt sich aus der Rücksicht auf die an-
wesenden Orientalen. Den eigenen sonstigen Angaben des Hieronymus (v. ill. 5; epist.
53 ad Paulinum; ep. 129 ad Dardanum; comm. in Matth 26, 8 Vall. I, 280. 971; II, 838;
VII, 212) würde es mehr entsprochen haben, dem Hb eine gewisse Sonderstellung
zu geben.
17) Hieron. c. Helvid. (Vallarsi II, 205—230); Forsch YI, 316-325, besonders
auch S. 324 A 4 über die Bezeichnung des Jk und des Jud als Apostel in der Folgezeit.
Die dem Hieronymus so wohl bekannten Bedenken sogar gegen die Echtheit dieser
Briefe (v. ill. 2. 4) wurden auf diese Weise gründlich unterdrückt.
18) Cf v. ill. 9. 18, dazu Einl II 2 , 465.
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70 § 10. Die Angleichtmg des Occidents.
sonderbaren Ausdruck, daß man an der Zahl der 13 Briefe des Fl festhielt,
und doch den Hb als eine Schrift des PI an diese herkömmliche Sammlung an-
schloß 10 ). Die Bedenken gegen Jk und Jud kamen darin zum Ausdruck, daß
man beide hinter die anderen kath. Briefe stellte. Die kühne Behauptung, daß
die Yf dieser Briefe Apostel seien, ließ man fallen, und das gelehrte Fündlein
von dem doppelten Jo eignete man sich nicht an. Daß der neue Kanon mit
den einheimischen Herkommen noch schwer zu kämpfen hatte, sieht man daran,
daß unter anderen Beschlüssen des J. 393 auch dieser im J. 397 und noch
einmal auf einem Concil zu Karthago 419 wiederholt werden mußte. Eine ge-
wisse Unsicherheit und zugleich die Abhängigkeit von Born zeigte sich darin,
daß man 393 beschloß, die transmaHna ecelesia y d. i. eben die römische, noch-
mals zu befragen, was wahrscheinlich 397 in transmarinae ecclesiae geändert und
419 durch den Beschluß ersetzt wurde, diesen Kanon noch einmal dem da-
maligen Papst Bonifacius und den Bischöfen jener Gegenden zur Bestätigung
vorzulegen. Augustin, der schon zur Zeit der Synode von Hippo als Presbyter
unter den Bischöfen eine Auktorität war, hat unablässig für den neuen Kanon
gewirkt. In seinem um 395 begonnenen "Werk de doctrina Christiana (II, 8;
GK II, 253 ff.) wiederholt er den Kanon von Hippo, nur daß er jene Inkon-
gruenz des Ausdrucks in bezug auf die Paulusbriefe und den Hb beseitigt, in-
dem er einfach 14 Briefe zählt und aufzählt, und daß er die AG, statt hinter
die Ew, als vorletztes Buch vor die Ap stellt. Ein Mittel zur Durchsetzung
des römischen Kanons von 382 war auch die Neubearbeitung des NT's durch
Hieronymus (c. 384 — 395). Augustin hat sich von Anfang an für dieselbe
interessirt und hat wahrscheinlich nichts anderes als diese in Born begonnene
und vom Papst Damasus veranlaßte neue Übersetzung als die „Itala li bezeichnet,
welche wegen ihrer Worttreue und Klarheit vor den übrigen Übersetzungen den
Vorzug verdiene 20 ). In Afrika wurde dieser Rat nicht so bald von der Mehr-
heit befolgt; aber mitgeholfen hat er doch zur Beseitigung der provinzialen
Eigentümlichkeiten .
7. Nicht einmal in Italien fand der römische Kanon von 382 sofort allge-
meine Anerkennung. Der Anerkennung des Hb war noch immer neben den
Zweifeln an der paulinischen Herkunft desselben besonders der gefahrliche Ge-
brauch, welchen die Novatianer von Hb 6, 4 — 8 machten, hinderlich 21 ). Seine
gottesdienstliche Lesung war infolge dessen auch bei den Katholiken eine sehr
beschränkte. Philaster von Brescia und Ambrosius von Mailand, denen wir diese
Nachricht verdanken, gebrauchen ihrerseits unbedenklich den Hb als paulinisch.
19) GK U f 252 Pauli apostoli epistolae tredecim, ejusdem ad Hebraeos una. Es
war buchstäblich wahr, was Hieronymus ep. 53, 8 vom Hb sagte; a plerisque extra
numerum ponitur.
20) De doctr. christ. H, 22 cf Burkitt, The old Latin and the Itala (1896 Texts
and Studies IV, 3) p. 60-65; Th. Ltrtrbl. 1896 S. 374 f.
21) Ambros. de poenit. II, 3; Philaster haer. 89 cf GK H, 239 und oben S. 18.
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§ 10. Die Angleichung des Occidents. 71
Aber wie Ambrosius von den früber im Abendland nocb nicbt anerkannten
kath. Briefen keinen Gebrauch macht, so bleibt Philaster trotz seiner Aner-
kennung des Hb und bei gleichzeitiger Anerkennung der 7 kath. Briefe an
dem Kanon der 13 Paulinen hängen 22 ). Daß auch in Gallien die Unsicherheit
fortdauerte, beweist das Schreiben an Bischof Exsuperius von Toulouse, worin.
Innocenz I. von Rom im J. 405 unter anderen Anfragen auch eine solche nach
dem Bibelkanon beantwortete (GK II, 244). Ohne sich in der Anordnung genau an den
Beschluß von 382 anzuschließen, gibt Innocenz inhaltlich genau den damasianischen
Kanon wieder. Die 382 von Hieronymus beantragten und durchgesetzten
Hypothesen von dem doppelten Jo und von der Apostelwürde des Jk und des
Jud ließ auch er wie die Afrikaner bei Seite; und die Anerkennung des Hb
als einer paulinischen und kanonischen Schrift stellte er als so selbstverständ-
lich hin, daß es ihm genügte, von den 14 Briefen des PI zu reden, ohne sie
einzeln aufzuzählen und ausdrücklich zu sagen, daß der Hb inbegriffen sei. Um .
dieselbe Zeit stellte auch Rufinus in Aquileja, welcher sich mehr an die morgen-
ländischen Auktoritäten als an die römische Satzung anlehnte, den gleichen
Kanon auf (expos. symb. 36 — 38; GK II, 240 ff.). Unter den orthodoxen
Bischöfen und den maßgebenden Theologen des Abendlandes gab es hierüber
keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Der ntl Kanon war im Abendland um
ein Jahrhundert früher fertig, als im griechischen Orient. Das Ergebnis war
hier wie dort das NT der 27 Bücher, welches zuerst Athanasius mit fester Hand
umgrenzt hatte.
8. Die zuletzt besprochenen Entscheidungen aus der Zeit um 380 — 420
verfolgten außer dem Zweck, dem lateinischen NT die in fast allen anderen
Kirchengebieten, aber noch nicht im Abendland als kanonisch anerkannten
Schriften endgiltig einzuverleiben, auch den anderen Zweck, sonstige altchrist-
liche Schriften, welche in früherer Zeit ein gleiches oder doch ein ähnliches
Ansehen genossen hatten und hier und da noch immer mit gläubiger Andacht
gelesen wurden, vom Kanon auszuschließen. Anlaß dazu gab weniger der
gottesdienstliche Gebrauch der katholischen Kirche, als die Stellung, welche
Priscillian in Spanien und die Manichäer besonders in Afrika zu den Apokryphen
einnahmen 28 ). Der Manichäer Faustus und seine Genossen übten daneben eine
schonungslose Kritik an den kanonischen Schriften der Kirche, wohingegen
Priscillian durch möglichst starke und häufige Betonung des dispositus canon
22) Haer. 88 (GK II, 237 A 3). Auch in haer. 89 wird noch unterschieden non
tarnen in ecclesia legitur populo, nisi tredecim epistolae ipsius et ad Hebraeos interdum.
23) Priscill. tract. 3 „über de fide et de apocryphis" p. 44—56, aber auch sonst
vielfach. Im einzelnen finden wir bei ihm genannt oder benutzt: Henoch p. 32. 24;
44, 12 ff. ; 4 Esrabuch p. 52, 3 — 24; Laodicenerbrief p. 55, 12 — 22; memoriae sanctorum
p. 46, 16 = memoria apostolorum (Orosius) p. 154, 5; Thomasakten p. 44, 12 (oben
S. 68A14). — Auf die Apokryphen bei den Manichäern kann hier nicht näher eingegangen
werden. Hauptquelle sind Augustins Schriften, besonders sein Werk gegen Faustus.
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72 § 10. Die Angleichung des Occidents.
seine Orthodoxie zu zeigen und seine Vorliebe für allerlei Apokryphen zu
decken bemüht war. Es war wohl eine Übertreibung, aber doch nicht unver-
anlaßt, wenn Philaster bald nach der Hinrichtung Priscillians und mit dem
Hinweis auf Maniehaei et alii tales in seinen Ketzerkatalog eine haeresis auf-
, nahm, welche nur die apokryphen Propheten- und Apostelschriften und nicht
die kanonischen Schriften beider Testamente anerkennt (haer. 88 GK II, 236).
Der Beschluß von 382 bezog sich nicht nur auf die kanonischen Schriften,
sondern sollte auch bestimmen, was die katholische Kirche zu meiden habe 24 )".
Obwohl das hiedurch angekündigte Verzeichnis von Apokryphen uns nur in der
späteren Bearbeitung, die es unter Gelasius erfahren hat, erhalten ist, können
wir doch durch Vergleichung der ungefähr gleichzeitigen Angaben mit an-
nähernder Sicherheit entnehmen, um welche Bücher es sich um 380 — 400 häupt-
sächlich handelte. Von christlichen oder ntl Apokryphen sind zu nennen 1) der
Laodicenerbrief des PI 25 ), 2) apokryphe Apostelgeschichten, besonders die dem
Leucius zugeschriebenen Akten des Johannes und des Petrus, aber auch die
Akten des Andreas und des Thomas, sowie diejenigen des Paulus (und der
Thekla) 26 ), 3) der Hirt des Hermas 27 ). Wenn man in Rom beschlossen hatte,
daß die Kirche solche Schriften zu meiden habe, so war damit zunächst die
gottesdienstliche Verwendung und die Berufung auf solche Schriften als Auktori-
täten gemeint, woneben private Lesung unverwehrt blieb. Es bestand kein
allzu schroffer Gegensatz zwischen einem Priscillian, welcher auf diese Schriften
das Gebot Jesu Jo 5, 39 anwandte (p. 47, 25; 51, 13), und einem Philaster
(haer. 88), welcher sagte, sie müßten gelesen werden, nur nicht von allen und
nicht im Gemeindegottesdienst, sondern von den Gereiften, welche mit Kritik zu
lesen verstehen (cf Priscillian p. 56, 6). Auch das macht keinen großen
Unterschied, daß Philaster entschieden behauptete (haer. 88. 89), Priscillian (p.
46, 22 ff.; 51, 20—52, 2.; 56, 6—27) aber nur als möglich zugab, daß diese
Schriften hier und da von Häretikern gefälscht worden seien. Sehr deutlich
haben die Afrikaner den Ausschluß der Aprokryphen von der gottesdienstlichen
Vorlesung dahin näher bestimmt, daß nichts außer den kanonischen Schriften
„unter dem Namen der göttlichen Schriften in der Kirche ge-
lesen werden solle", wodurch der ausdrückliche Vorbehalt vorbereitet ist,
24) So nach dem Eingang s. unten Beil. IV und dazu GK II, 263—266.
25) Priscillian (s. S. 72 A 23) ; Philaster haer. 89 und oben S. 17.
26) Über Priscillian S. 72 A 23; Phil. haer. 88; Innocenz (GKII, 245) schreibt mit
Recht nur die Petrus- und Johannesakten dem Leucius, die Andreas- und Thomasakten
anderen Verfassern zu. Cf ferner August, de act. cum Feiice Man. II, 6; c. ado. legis
et proph. I, 20; c. Faustum XXII, 79; XXX, 14; epist. 64, 3 ad Quintianum; epist.
237 ad Ceretium ; Decret. Gelasii bei Thiel, Epist. pontif. p. 462 § 6 und 7 in.
27) Dieser nur im Decret. Gelasii 1. 1. liber qui appellatur Pastoris apocryphus
und bei Rufinus unter den „libri ecclesiastici" (expos. symb. 36; GK II, 243) libellus
qui dicitur Pastoris sive Hermae. Dazu Hieron. v. ill. 10 apud Latinos paene ignotus est
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§ 10. Die Angleichung des Occidents. 73
daß an den Gedächtnistagen der Märtyrer deren Passionen gelesen werden dürfen
(GK II, 251. 252). Der Kanon war darum nicht weniger fest begrenzt. Der
Versuch des Eufinus, nach dem Vorgang der Ägypter einige nicht kanonische
Bücher, darunter die christlichen Schriften: Hirt des Hermas, die zwei "Wege
und das Judicium secundum Fetrum zu einer besonderen Klasse von libri
ecclesiastiei zusammenzufassen und deren gottesdienstliche Verwendung zu sichern,
mußte ohne Erfolg für die abendländische Kirche bleiben, weil diese längst teils
aufgehört, teils niemals die Gewohnheit gehabt hatte, diese christlichen Schriften
im Gottesdienst zu lesen, während sie die vorchristlichen Schriften, welche
Rufin dieser Klasse beizählte, Sirach und "Weisheit Salomos, geradezu kanonisirt
hatte 28 ).
Durch die allgemeine Anerkennung des Gesetzes ist die pünktliche Be-
obachtung desselben keineswegs gesichert. Die alten Bibeln aus der Zeit vor
380 wurden weiter gebraucht und kopirt. Einzelne Schriftsteller erlaubten sich
Freiheiten. Bischof Victor von Capua nahm in das NT, welches er 546 unter
seiner eigenen Aufsicht schreiben ließ, statt der 4 Evv eine von ihm vorgefundene
lateinische Bearbeitung von Tatians syrischem Diatessaron und mitten unter den
kanonischen Briefen des PI den Laodicenerbrief auf 29 ). Die lateinische
Evangelienharmonie , welche schon Victor nicht mehr in ihrer ersten Gestalt
vorfand, ist durch das ganze Mittelalter hindurch ein viel gelesener, mehrmals
umgearbeiteter und umgedichteter Ersatz der kanonischen Evv geblieben. Der
Laodicenerbrief hat sich ebenso lange in vielen Bibeln erhalten. Gregor der
Große u. a. haben unbeschadet ihres Festhaltens am Kanon der 14 Briefe des
PI die Echtheit desselben anerkannt. Selbst der apokryphe 3. Korintherbrief,
von dem die alte lateinische und griechische Kirche nichts gewußt haben, ist
mit dem Laodicenerbrief zusammen in einer lateinischen Bibel gefunden worden.
Auch der lat. Text des Hirten des Hermas ist in Bibelhss. . erhalten. Es waren
das teils Überbleibsel aus sehr alter Zeit , teils Willkürlichkeiten Einzelner,
gegen welche man um so leichter Toleranz übte, je weniger man es mit der
Bibel als Kanon, als dem unbeugsamen Richtmaß für Lehre und Leben der
Kirche, ernst nahm.
28) So, wie es scheint, schon der Mommsen'sche Kanon (GK II, 151), das römische
Dekret von 382 mit einem item hinter den altsalomonischen Büchern, Statuta Hippon.,
Augustin, Innocenz IcfGK II, 245. 251. 257 und unten S. 76. 78 (1. 70) und dazu GK
II, 95 ff.
29) Codex Fuldensis ed. Ranke p. 1—165. 291 cf Forsch I, 1-5. 298— 313; GK
I, 415-418; II, 566—585.
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Beilagen.
I. Der Muratorische Kanon.
Quellen. 1. Hauptquelle ist nach wie vor Cod. „J 101 Sup. u in der ßibliotheca
Ambrosiana zu Mailand, aus der Bibliothek von Bobbio, saec. VIII. Erster Abdruck
bei L. A. Muratori, Antiqo. Ital. medii aevi vol. III (Mediol. 1740) p. 851—854. Kolla-
tionen von Nott für Routh, reliqo. sacrae I 2 , 389 — 434 ; von Fr. Wieseler für C. Wieseler,
Th. Stud. u. Krit, 1847, S. 818—829; von M. Hertz für Bunsen, Anal. Antenic. I, 137
bis 141; von S. P. Tregelles in dessen Canon Muratorianus (1867 mit Faksimile); von
Reifferscheid, Sitzungsber. d. Wiener Akad. Hist.-phil. Klasse Bd. 67 (1871), S. 4% ff.;
von Ceriani für Westcott, A general survey of the hist. of the canon, 6. edit. (1889)
p. 521—538; von Harnack, Ztschr. f. Kirchengesch. III, S. 595-599; von Zahn, GK II,
1007; von Achelis u. Schüler für Preuschen, Analecta (1893) S. 129—137 cf p. IX. —
2. Eine Hilfsquelle wurde in einem Prolog zu den paulinischen Briefen entdeckt, in
welchen mehrere Stücke des mur. Kanons hinein verarbeitet sind (nämlich 1. 42 — 50.
63 — 68. 81—85. 54—57 in dieser Reihenfolge), und ist nach 4 Hss zu Monte Cassino
(nr. 235. 349. 535. 552, saec. XI— XII) in Miscellanea Cassinese (1897 P. H, Abt. 4
p. 1—5) herausgegeben. Cf Harnack, Th. Ltrtrztg 1898 Nr. 5; Zahn, Prot. REnc. IX 3 ,
797. Der dem Kompilator vorliegende Text ist nicht identisch mit der mailänder Hs
und auch nicht aus derselben abgeleitet. — Literatur: Außer den angeführten
Schriften und Abhandlungen, welche zum Teil von Erörterungen über. Text und Inhalt
begleitet sind vgl. Credner, Gesch. d. neutest. Kanon herausgeg. von Volkmar (1860)
S. 141—170; Volkmar ebendort im Anhang S. 341—363; Nolte, Tüb. Th. Quartalschr.
1860, S. 193—243; Laurent, Neutestam. Stud. (1866) S. 195—209; Hesse, Das Murato-
rische Fragment, 1873; Hilgenfeld, Ztschr. f. wiss. Th. 1872 S. 560-582; 1874 S. 214 bis
231; 1880 S. 114—121; 1881 S. 129—170; Harnack, Ztschr. f. luth. Th. u. Kirche 1874
S. 274-288; 445-464; ders., Ztschr. f. Kirchengesch. IIE (1879) S. 358—408; Steck-
hoven, Het Fragment van Muratori, 1877; Overbeck, Zur Geschichte des Kanons, 1880
S. 71 ff.; Salmon, Dict. of Christ, biogr. III (1882); S. 1000-1003; Zahn, GK II (1890)
S. 1 — 156; Kuhn, Das Mur. Fragm., 1892; Koffmane, Das wahre Alter und die Her-
kunft des murat. K, N. Jahrb. f. deutsche Th. 1893, S. 163—223; Zahn in Prot. REn-
cykl. IX 8 , 796—806.
Ich gebe zunächst (1) den Text, wie er, von alter Hand korrigirt, in der mailänder
Hs zu lesen ist, und notire unter dem Text, soweit das möglich ist, die Schrift der ersten
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I. Der Muratorische Kanon. 75
Hand; sodann (2) eine Recension des Textes mit Benutzung des Fragmentes von M.
Cassino. In den Noten zu 2 bezeichne ich die mailänder Hs durch M, die Hss von M.
Oassino insgesamt durch C ; wo diese von einander abweichen, ist, wie in Miscell. Cassin. :
C = cod. 349; C 1 = cod. 552; C 3 = cod. 235; C 8 = cod. 535. AUe orthographischen
und die Flexionsendungen betreffenden Abweichungen von dem unter 1. abgedruckten
mailänder Text anzumerken, erschien überflüssig. Bedeutendere Abweichungen von
M, teils nach Conjectur, teils nach C sind gesperrt gedruckt, Ergänzungen in eckige
Klammern gesetzt. Die Zeilen von M sind auch im Text 2 abgezählt.
1.
quibus tarnen interfuit et ita posuit
tertio euangelii librum secundo lucan
lucas iste medicus post ascensum XPi
cum eo paulus quasi ut iuris studiosutn
5 8ecuDdum adsumsisset numeni suo
ex opinione concribset dnm tarnen nee ipse
uidit in carne et ide prout asequi potuit
ita et ad nativitate iohannis ineipet dicere
quarti euangeliorum iohannis ex deeipolis
10 cohortantibus condeseipulis et eps suis
dixit conieiunate mihi odie triduo et quid
cuique fuerit reuelatum alterutrum
nobis ennarremus eadem nocte reue
latum andreae ex apostolis ut recognis
15 centibus euntis iohannis suo nomine
euneta discriberet et ideo licit varia sin
culis euangeliorum libris prineipia
doceantur nihil tarnen differt creden
tium fidei cum uno ac principali spu de
20 clarata sint in omnibus omnia de natiui
täte de passione de ressurrectione
de conuersatione cum deeipulis suis
ac de gemino eius aduentu
primo in humilitate dispectus quod fo
25 it seeundum potestate regali . . pre
darum quod foturum est quid ergo
mirum si iohannes tarn constanter
sineula etiä in epistulis suis proferam
dicens in semeipsu quae uidimus oculis
30 nostris et auribus audiuimus et manus
nostrae palpauerunt haec scripsimus uobis
sie enim non solum uisurem sed et auditorem.
sed et scriptore omnium mirabiliü dui per ordi
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76' I* Der Mürätorische Kanon.
s nem profetetur acta aute omniu apostolorum
35 sub uno libro scribta sunt lucas obtime theofi
le conprindit quia sub praesentia eins singula
gerebantur sicuti et semote passione petri
euidenter declarat sed et profectione pauli ab ur
be ad spaniä proficescentis epistulae autem
40 pauli quae a quo loco vel qua ex causa directe
sint volentibus intellegere ipse declarant
primü" omnium corintheis scysmae heresis in
terdicens deinceps b callactis circumcisione
romanis aute ordine scripturarum sed et
45 principium earum . . . esse XPm intimans
prolexius scripsit de quibus sincolis neces
se est ad nobis desputari cum ipse beatus
apostolas paulus sequens prodecessuris sui
iohannis ordine non nisi nomenati sempte
50 ecclesiis scribat ordine tali a corenthios
prima, ad efesius seconda ad philippinses ter
tia ad colosensis quarta ad calatas quin
ta ad tensaolenecinsis sexta ad romanos
septima verum corintheis et thesaolecen
55 sibus licet pro correbtione iteretur una
tarnen per omnem orbem terrae ecclesia
deffusa esse denoscitur et iohannis eni in a
pocalebsy licet septe eccleseis scribat
tarnen omnibus dicit verü ad filemonem una
60 et at titü una et ad tymotheü duas pro affec
to et dilectione in honore tarnen eclesiae ca
tholice in ordinatione eclesiastice
descepline scificate sunt, fertur etiam ad
laudecenses alia ad alexandrinos pauli np
65 mine fincte ad heresem marcionis et alia plu
ra quae in catholicam eclesiam recepi non
potest fei enim cum melle misceri non con
cruit epistola sane iude et superscrictio
iohannis duas in catholica habentur et sapi
70 entia ab amicis salomonis in honore ipsius
scripta apocalapse etiam iohanis et pe
tri tantum recipimus quam quidam ex nos
tris legi in eclesia nolunt pastorem uero
nuperrim e temporibus nostris in urbe
75 roma herma conscripsit sedente cathe
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I. Der Muratorische Kanon. 77
tra urbis romae aeclesiae pio eps fratre
eius et ideo legi eum quide oportet se pu
plicare vero in eclesia populo neque inter
profetas conpletum numero neqe inter
80 apostolos in fine temporum potest
arsinoi autem seu ualentini vel mitiadis
nihil in totum recipemus qui etiam nouü
psalmorum librum marcioni conscripse
runt una cum basilide assianom catafry
85 cum constitutorem
2 secundo aus urspr. secando \ 3 acensum mit 8 vor c über der Zeile | 6 concriset
mit b, nach anderen c oder p über i \ 7 vor uidit ein durchstrichenes d \ pro mit ut
über der Z. | 16 cunta \ discribret | 19 fedei mit i über dem durchstrichenen ersten
e | 22 convesatione | 23 hinter aduentu Raum für 11 Buchst. | 24 fo: ob in fu korri-
girt? | 25 it: nicht re oder tu \ potetate. Hinter regali zwei radirte Buchst. | 28 profe-
ram, nicht proferat | 31 deutlich nur noch scripsimu und (unter der Zeile) bis zu
lesen | 32 et über der Zeile nachgetragen | 33 dni : urspr. dns | 35 uno aus unu \ 37 sicuti
aus sicute | 38 et über der Z. | ab aus ad \ 41 volentibus aus voluntatibm \ 41 das Zeichen
hinter declarant ist Interpunktion, nicht Ligatur = declarantur | 42 scysmae aus
ßcysme \ 43 Wölfflin schrieb mir deinceps b — deinceps | callactis aus caWafis(?) | 44 oriiwe
aus ornidine | e^ über Rasur nachgetragen | 45 vor esse drei radirte Buchst., darunter
ein 8 | 48 apostolus aus apostulus \ 49 nomenati aus domenati \ urspr. semptäe | 50 urspr.
eccleses \ 51 nicht efesios \ philippinses, ob aus philippenses oder umgekehrt | 54 urspr.
corentheis | urspr. desaolecen \ 55 urspr. Zici£ | 58 urspr. sep^T j 63 descepiiwae aus disc.
oder umgekehrt j 64 urspr. laudecensis \ 65 heresem aus Äerem | 66 urspr. chatholicam \ 72
urspr. recipemus \ 74 urspr. nuperrim et temp. \ 76 fratre aus frater \ 79 urspr. ^ro-
festas | ne^e aus newe | 81 mitiadis, wie es scheint, aus metazde oder metiades durch
Korrektur entstanden cf GK II, 8. 124 f. 1007; Preuschen Anaiekta S. 134 f. | 84 urspr.
assianum \ 85 urspr. contitutorem.
2.
1 [Ali]quibus tarnen interfuit et ita posuit. 2 Tertium evangelii librum
secundum Lucan 8 Lucas iste medicus, post ascensum Christi 4 cum eum
Paulus quasi itineris studiosum b secum adsumsisset, nomine suo 6 ex
ordine conscripsit; dominum tarnen nee ipse 7 vidit in carne. Et idem
prout assequi potuit, 8 ita et a nativitate Johannis ineipit dicere.
9 Quartum evangeliorum Johannis ex diseipulis. [Is] 10 cohortantibus
condiseipulis et episcopis suis 12 dixit: „conjejunate mihi hodie triduo, et
quid 12 cuique fuerit revelatum, alterutrum 18 nobis enarremus". Eadem
nocte revelatum 14 Andreae ex apostolis, ut recognoscentibus 15 cunctis
Johannes suo nomine 16 cuncta describeret.
Et ideo, licet varia 17 singulis evangeliorum libris prineipia 18 doceantur,
nihil tarnen differt credentium 19 fidei, cum uno ac principali spiritu 20 decla-
rata sint in omnibus omnia de [domini] 21 nativitate, de passione, de resur-
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7S I- Der Muratorische Kanon.
rectione, 22 de conversatione cum discipulis suis 28 ac de gemino ejus ad-
ventu, 24 primo in humilitate despecto, quod fuit, 25 secundo potestate regali
praeclaro, 26 quod futurus est.
Quid ergo 2T mirum, si Johannes tarn constanter 28 singula etiamin epi-
stulis suis proferat, 29 dicens in semetipsum: „quae vidimus oculis 80 nostris
et auribus audivimus et manus 81 nostrae palpaverunt, haec scripsimus
vobis". 32 Sic enim non solum visorem se et auditorem, 83 sed et scriptorem
omnium mirabilium domini per ordinem 84 profitetur.
Acta autem omnium apostolorum 85 sub uno libro scripta sunt. Lucas
optimo Theophilo 86 comprehendit, quia sub praesentia ejus singula 87 gere-
bantur, sicuti et semota passione Petri 88 evidenter declarat, sed et profec-
tione Pauli ab urbe 89 ad Spaniam proficiscentis.
Epistulae autem 40 Pauli, quae a quo loco vel qua ex causa directae
41 sint, volentibus intellegere ipsae declarant. 42 Primum omnium Corinthiis
Schismata [et] haereses 48 interdicens, deinceps Galatis circumcisionem ;
44 Romanis autem ordinem scripturarum , sed et 45 praecipuutn earum esse
Christum intimans, 46 prolixius scripsit; de quibus singulis [non] necesse
47 est a nobis disputari. Cum ipse beatus 48 apostolus Paulus, sequens
praecessoris sui 49 Johannis ordinem, nonnisi nominatim Septem 50 ecclesiis
8cribat ordine tali : ad Corinthios 51 prima, ad Ephesios secunda, ad Philip-
penses tertia, 52 ad Colossenses quarta, ad Galatas quinta, 68 ad Thessaloni-
censes sexta, ad Romanos 54 septima — verum Corinthiis et Thessaloni-
censibus, 55 licet pro correptione, iteratur — , una 66 tarnen per omnem
orbem terrae ecclesia ö7 diffusa esse dignoscitur. Et Johannes enim in 68 apo-
calypsi, licet Septem ecclesiis scribat, 50 tarnen Omnibus dicit. Verum ad
Philemonem una- 60 et ad Titum una et ad Timotheum duae pro affectu
61 et dilectione, in honorem tarnen ecclesiae 62 catholicae in ordinationem
ecclesiasticae 63 disciplinae sanctificatae sunt. Fertur etiam ad 64 Laudi-
censes, alia ad Alexandrinos, Pauli nomine 65 finctae ad haeresem Marcionis,
et alia plura, 66 quae in catholicam ecclesiam recipi non 67 potest; fei enim
cum melle misceri non congruit.
68 Epistola sane Judae et superscriptae 69 Johannis duae in catholica
habentur et 70 Sapientia ab amicis Salomonis in honorem ipsius 71 scripta;
Apocalypsis etiam Johannas et 72 Petri [. . .] tantum recipimus f. . .], quam
quidam ex 78 nostris legi in ecclesia nolunt. Pastorem vero 74 nuperrine
temporibus nostris in urbe 75 Roma Hermas conscripsit, sedente [in] cathedra
76 urbis Romae ecclesiae Pio episcopo fratre 77 ejus; et ideo legi eum
quidem oportet, se 78 publicare vero in ecclesia populo neque inter
79 prophetas, completos numero, neque inter 80 apostolos in finem tem-
porum potest.
$1 Ar8inoi autem seu Valentini vel Mitiadis (?) 82 nihil in totum reci-
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I. Der Muratorische Kanon. 79
pimus, qui etiam novum 83 psalmorum librum Marcioni conscripserunt,
84 una cum Ba9ilide sive Asiano Cataphrygum 86 constitutore.
4 quasi itineris studiosum conj. Bimsen = toadv filaTiodrjfiov cf GK II, 24£T. :
quasi u\ iuris studiosum M | 5 secum : secundum M | 6 ex ordine = xa&egrjg Lc 1, 3 : ex
opinione M I 9 is -f- Routh cf Hier, praef. comm. in Matth. Voll. VII, 5/6 : is cum
esset in Asia etc. : om. M | 11 cf Assumpt. Mos. 9, 25 jejunemus triduo; Acta Petri
cum Simone p. 45. 8 | 20 domini oder dni fiel hinter de leicht aus : om. M | 24 f. quod
fuit . . . quod futurus est (sc. adventus) = ort yiyovsv . . ön pMei yeveo&at cf GK
II, 45 : quod foit . . . quod futurum est M | 32 se et conj. : sed mit nachträglich hinzu-
gefügtem et M | 42 primum M :primo C, der hier anfängt | Corintheis M, Corinthis |
Schismata et haereses cf 1 Kr 1. 10; 11, 18 f. : scysmae heresis M, scisma heresis C|
deinceps M : deinde C | 42 f. circumcisionem . . ordinem C : circumcisione . . ordine
M | 45 praecipuum C (= rd egaiperov cf Prot. REnc. IX 8 797) : principium M | 46
non om. M C | 47 a nobis : ad nobis M, nöbis C | disputari M : disputare C. Mit cum
eine neue Periode zu beginnen, wozu 1. 56. 57 den Nachsatz bildet, scheint das dortige
„dignoscitur" zu empfehlen. Aber C hat diesen Nachsatz gar nicht in diesem Zusammen-
hang, sondern viel später, zie'ht also cum etc. zum Vorigen cf GK II, 67 ff. | 48 prae-
cessoris C cf GK II, 69 f. AI : prodecessuris M | 50 scribat M : scripsit C. Hinter
tali gibt C eine ganz anders geordnete Aufzählung und Inhaltsangabe der Gemeinde-
briefe | 51 ff. prima . . secunda etc. M : Änderung in primam etc. entbehrlich | 54—57
verum — dignoscitur auch C, aber hinter 1. 85 | 55 correptione M (b statt p) C 1 : correp-
tionem C, correctione C 2 * 8 | iteratur : iteretur M, uteretur C | 56 ecclesia M : -f- catholica
C | 57 dignoscitur C : dinoscitur C 1_3 , denoscitur M | 60 duae : duas M s. unten zu
Beil. IV | 63 — 67 auch in* C | 64 Laudicenses C : Laudecenses M | alia M : aliam C
(alium C 2 ) | 65 finctae M (-te) : ficte C (ficta C 2 ) | heresem M : heresim C | 66 catholicam
eclesiam recepi M : aecclesia catholica recipi C | 67 potest M : oportet (J | misceri M :
miscui C | 81 Arsinoi M : Arsinofa C (Arsmofa C 2 * 3 ) | . Mitiadis M C : Miadis C 2 ,
Mitididis C 3 | 83 Marcioni M : Marcionis C | 84 sive C a : eine CO 1 , om. MC 8 | Asiano
C 1_3 : Asyano C, Assianom M | Catafrycum M, Catafrigum C | constitutorem MC |
IL Der Kanon des Codex Claromontanus.
In dem griechisch -lateinischen Cod. D der paulinischen Briefe, in der Bibl. nat.
zu Paris Cod. gr. 107, gewöhnlich Claromontanus genannt, saec. VI, steht dieses Ver-
zeichnis auf fol. 467 v. — 468 v. zwischen dem Text des Philemonbriefes und dem des
Hebräerbriefes. Abgedruckt von Tischendorf, Cod. Ciarom. sive epistulae Pauli omnes
graece et latine etc., 1852 p. 468 f., nach erneuter Vergleichung mit der Hs von mir
wieder abgedruckt und erörtert GK II, 157—172. 1012 f. Während ich einen kleinen
Fehler Tischendorfs berichtigte (1. 6 Cod. Deuterenomium t Tschd. Deuter ononium), habe
ich selbst (GK LI, 158. 158 cf 157 A 2. 1012) gegen die Hs 1. 4 „IIDCC" statt „IlDCCC"
und 1. 59 „OCLXXXVIII" statt „CCLXXXVIHI" drucken lassen. Ich gebe hier außer
dem Anfang und Schluß des AT's nur den ntl. Teil der Liste.
Versus scribturarum sanetarum
ita Genesis verus Uli D
Exodus versus IIIjDCO
Leviticum versus II DCCC
Numeri versus IIIDOL
Deuterenomiuui ver. 111 CCC
Tobias ver. I
Evangelia IUI
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80
II. Der Kanon des Codex Claromontanus.
Mattheum ver.JLJLDC
Johannes ver. II
Marcus ver IDC
Lucam ver. HDCCCC
Epistulas Pauli
Ad Romanos ver. IXL
Ad Ohorintios I. ver. ILX
Ad Chorintios II. ver. LXX
Ad Galatas ver. CCCL
Ad Efesios ver. OOCLXXV 1 )
Ad Timotbeum I. ver. CCVIII
Ad Timotheumll. ver. CCLXXXVIin
Ad Titum ver. CXL
Ad Colosenses ver. COLI
Ad Filimonem ver. L
Ad Petrum prima CC
Ad Petrum II. ver. CXL
Jacobi ver. COXX
Pr. Johanni epist. COXX
Jobanni epistula II. XX
Johanni epistula III. XX
Judae epistula ver. LX
— Barnabae epist. ver. DCCCL 2 )
Johannis revelatio ICC
Actus apostolorum IID C
— Pastoris versi IUI
— Actus Pauli ver.HlDLX
— Revelatio Petri CCLXX.
III. Ein afrikanischer Kanon ans der Zeit um 360.
Das nachstehende Verzeichnis ist zuerst 1886 von Th. Mommsen aus dem Cod. 12266
der Bibliothek des Th. Phillipps zu Cheltenham (saec. X) herausgegeben worden im
Hermes, Bd. XXI S. 142—156. Derselbe gab 1890 im Hermes Bd. XXV S. 636 f. eine
Kollation des Cod. 133 der Stiftsbibliothek in St. Gallen (saec. IX) zu demselben Text.
Erstere Hs (= C) hat neu verglichen und untersucht W. Sanday Stud. bibl. et eccles.
Oxon. vol. III (1891) p. 217—303. Aus der St. Galler Hs (= G) ist das Verzeichnis
ohne Rücksicht auf die zweite Publikation Jttommsen's noch einmal vollständig ab-
gedruckt in Miscellanea Cassinese (1897) Parte II, Abt. 4 p. 6 f. Über die Hss. C und
G cf Chron. min. ed. Th. Mommsen I (1892) p. 80. Ferner cf GK H, 143—156.
1007—1012. — In beiden Hss. bilden die Verzeichnisse der kanonischen Schriften beider
Testamente und der Schriften Cyprians eine Beigabe zu der alten unter dem Namen
„Liber generationis" bekannten chronographischen Schrift (C. p. 82; G. p. 488), welche
den übrigen Hss des Liber generationis fehlen. C und G stimmen auch in dem Index,
welcher an der Spitze des Lib. gen. steht, gegen die übrigen Hss. im wesentlichen
überein und geben als letzte Nummer des Index : libri qui sunt veteris (-\- et novi C) testa-
menti canonici cum indiculis versuum (Hermes XXI S. 144; Chron. min. p. 90). Die
Zeit, in welcher dieser modificirte Index und somit überhaupt der Archetyp der in CG
1) Hier sind jedenfalls „ Philipp. Thessal. I. Thessal. II", wahrscheinlich aber auch
noch „Hebr." aasgefallen, indem das Auge eines Abschreibers dieses ursprünglich
griechischen Verzeichnisses oder das Auge des lateinischen Übersetzers von tzqos 'Eyeoiovs
zu tzqös 'JEßpaiovg abirrte cf GK II, 164. 171.
2) Hierunter ist der gewöhnlich so genannte Barnabasbrief, nicht etwa der Hb zu
verstehen GK II, 169 ff. Der Strich links von diesem und von den 3 letzten Titeln ist
ein kritisches Zeichen, wodurch der Schreiber der Hs ausdrücken wollte, daß der Brief
des Barnabas, der Hirt des Hermas, die Akten des Paulus und die Apokalypse des
Petrus nach seiner Meinung oder dem kirchlichen Brauch seiner Umgebung nicht zu
den scripturae sanctae gehören.
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III. Ein afrikanischer Kanon aus der Zeit um 360. 81
' erhaltenen Recension des Lib. gener. entstanden ist, ergibt sich aus der nur in CG vor-
liegenden Angabe gleich zu Anfang des Index^ ab Adam usque in comulatum
' Valentiniani (Valentini G) et Valentis anni sunt VDCCCCXX VIII cf Sanday p. 221.
j Chron. min. p. 89. Wie immer die Ziffer der Weltära zu korrigiren sein mag, es kann
nur das J. 365 gemeint sein, in welchem Valentinian und Valens zum ersten Mal
Konsuln waren. In diesem Jahr ist also die in CG vorliegende Recension des Lib. gen.,
i welche die Verzeichnisse der biblischen und der Cyprianischen Schriften enthält und
! sie im Index mit aufführt, oder doch dieser Index entstanden. Noch etwas älter
müssen die Verzeichnisse selbst sein; denn erstens ist der Redaktor dieser Recension
der Lib. gener. ein Kompilator, und zweitens enthält das Verzeichnis der biblischen
Schriften bereits zwei Korrekturen des ursprünglichen Textes, und zwar solche, welche
1 jedenfalls nach 380—400 nicht mehr möglich waren. Mommsen nahm a. 359 als Ent-
stehungsjahr dieser Recension des Lib. gen. und somit der Aufnahme der Schriften-
: Verzeichnisse an, weil eine in CG eingeschaltete chronologische Berechnung auf das
Konsulat der Brüder Eusebius und Hypatius (a. 359) hinausläuft (Hermes XXI S. 143 ;
I Chron. min. p. 81; Sanday p. 220). Wahrscheinlich hat der Bearbeiter des Lib. gen.
welcher unter anderem die Schriftenverzeichnisse anhängte, im J. 359 gearbeitet, und es
ist bei Gelegenheit einer im J. 365 angefertigten Kopie die auf dieses Jahr auslaufende
chronologische Berechnung in den Index eingefügt worden. Sehr nahe liegt es anzu-
nehmen, daß bei dieser Gelegenheit auch die kritischen Glossen zu den Briefen des
Petrus und des Johannes, vielleicht zunächst an den Rand, eingetragen wurden. — Ich
gebe den Text mit Ausstoßung der Masse der atl. Titel und ohne das Verzeichnis der
i cyprianischen Schriften nach CG.
Incipit indiculum veteri testainenti qui sunt libri canonici sie:
Genesis versus JÜDCC
Exodus versus III
prophetae XII 1IIDCCC.
Erunt omnes ver II LXVI1ILD.
Sed ut in apocalypsi Johannis dictum est: „vidi XXIIII seniores
mittentes Coronas suas ante thronum", maiores nostri probant hos libros
esse canonicos et hoc dixisse seniores.
10 Item indiculum novi testainenti: __
Evangelia IIII Mattheum vr IIDOC
Marcum vef MDCC
Johannem vr^MDCCO
Lucam vr 1IICCC.
15 Fiunt omnes versus X.
Epistulae Pauli n XIII.
Actus apostolorum ver ÜIDC.
Apocalypsis ver MDCCO.
Epistulae Johannis III u? CCCL
20 una sola.
Epistulae Petri II ver CCC
una sola.
Zahn, Grundrifs der Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 6
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82 IV. Der römische Kanon vom Jahre 382.
Quoniam indiculum versuum in urbe Roma non ad liquidum, sed et alibi
avariciae causa non habent integrum, per singulos libros computatis syllabis
25 — posui numero XVI versum Virgilianum — omnibus libris numerum
adscribsi.
1 veteris G : veteri C | cannonici C | 2 versus G : vir n ohne Ziffer dahinter, so
auch bis Iudicum | 5 prophete Gr : profetas C | 6 omnes versi numero (ohne Ziffer) Gr | 7
apocalipsi G : apocalypsis C | 9 hoc C : hos G | 11 Matheum C | 12 Marcus C : Mar cum
G, dieser stellt aber Johannes vor Marcus | 13 Johannem C : Johannes C | Lucas Gr
Luca C, übrigens ist die Ziffer nach Sanday und Mise. Cass. in G und G die gleiche
cf GK II, 1009 | 16 XIII C : XIIII G | 17 actus C : actuum G (nach Mommsen, actum
nach Mise. Cass.) | 19 CCCL G : CCCCL | 20 u. 22 una sola C : an beiden Stellen
om. G | 23 versuum C : versum G | ad liquidum corr. Mommsen : aliquidum G, aliqui dum
C | et C : om. G | 24 libros C : om. G | conputatis G | 25 posui C (mit einem radirten
Buchst, dahinter), steht auch in G (gegen GK II, 1009) | omnibus libris num adscHbsi C :
om. G. I
IT. Der römische Kanon vom Jahre 382.
Über die Entstehung dieses Kanons und seine Fortbildung unter den Päpsten
Gelasius (a. 492—496) und Hormisdas (a. 514 — 523), sowie über die einschlägige Literatur
s. GK IL 258—267 und oben S. 68. Den Text, wie er unter Damasus 382 hergestellt
wurde, hat C. H. Turner im Journal of theol. stud. I (1900) p. 554—560 nach den besten
Hss herausgegeben. Diesen Text gebe ich im Auszug mit Angabe einiger wichtigerer
Varianten und sonstigen Bemerkungen..
Nunc vero de scripturis divinis agendum est, quid universalis catho-
lica *) reeipiat ecclesia et quid vitare debeat 2 ).
Incipit ordo veteris testamenti:
Genesis liber unus
Exodus liber unus
Machabeorum libri duo
Item ordo scripturarum novi et aeterni 3 ) testamenti, quem saueta et
catholica 4 ) suseipit ecclesia:
Evaugeliorum 5 )
seeundum Matheum liber I
seeundum Marcum liber unus
1) Catholica im Sinn von „rechtgläubig", da sonst neben universalis tautologisch.
Hormisdas bei Thiel, Epist. pontif. p. 931 + Romana.
2) Dies beweist, daß schon damals eine Liste der Apokryphen aufgestellt wurde,
welche unter Gelasius und Hormisdas erweitert wurde cf Thiel p. 462—471. 936 f.
3) So auch Hormisdas 1. 1. cf Ap 14, 6, einige Damas. Hss om. et aeterni.
4) AI. -{- Romana s. A 1.
5) AI. -|- libri IIII f so auch Hormisdas.
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IV. Der römische Kanon vom Jahre 382. 83
secundum Lucam liber unus
secundum Johannem liber unus
Epistulae Pauli äpostoli numero XIV
ad Romanos una
ad Corinthios duas 6 )
ad Ephesios I
ad Thesalonicenses II
ad Galatas I
ad Philippenses I
ad Colosenses I
ad Timotheuin II
ad Titum I
ad Filimonem I
ad Hebreos I
Item apocalypsis Johannis
liber I
Et actus apostolorum
liber 1 7 )
Item epistulae canonicae
numero VII
Petri äpostoli
epistulae duas
Jacobi äpostoli
epistula una
Johannis äpostoli
epistula una
alterius Johannis presbyteri
epistulae duae
Judae zelotis äpostoli
epistula I.
Explicit canon novi testamenti.
V. Ein syrischer Kanon aus der Zeit um 400.
Er ist aus dem Cod. Syr. 10 des Sinaiklosters saec. IX zuerst herausgegeben in
Studia Sinaitica I. Catalogue of the syriac mss. in the convent of S. Catharine on mount
Sinai compiled by A. S. Lewis (London 1894) p. 11—14, von mir besprochen N. kirchl.
Ztschr. 1900 S. 793— 805 cf auch oben S.4öff. und zu den Zahlen GK 11,384—408. Ich
gebe hier eine Übersetzung des Eingangs und der ntl. Abteilung.
„Ferner Berechnung der Zahl der heiligen Schriften, wie viele Zeilen
(Stichen) in einer jeden derselben sind: Genesis 4516 Stichen . . . Das
ganze Alte Testament 71574 St."
„Evangelium des Matthaeus 2522 St. Evangelium des Marcus 1675
St. Evangelium des Lucas 3083 St. Evangelium des Johannes 1737 St.
Das ganze Evangelium 9218 St." 1 )
6) Für diese LA hier und bei den Briefen des Petrus (dagegen nicht zu 2. 3 Jo)
beruft sich Turner aufC. Murat. 1.60. 69 und auf die besseren Codices des laodicenischen
Bibelkanons in der isidorischen Übersetzung und des karthagischen Kanons von 419.
7) AI. stellen die AGr zwischen Evv und Paulinen; so auch Hormisdas.
1) Die Summe der Teilposten beträgt 9017. Die Zahl für Lucas ist zu hoch, die
für Johannes zu niedrig.
6*
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84 V. Ein syrischer Kanon aus der Zeit um 400.
„Praxis 2 ) der Apostel 2720 St."
„Von dem Apostel Paulus Brief an die Galater 8 ) 265 St. An die Ko-
rinther der erste 946 St. An die Korinther der zweite 653 St. An die
Römer 825 St. An die Hebräer 837 St. An die Kolosser 275 St. An
die Epheser 318 St. An die Philipper 318 St. An die Philipper 4 ) 235 St.
An die Thessalonicher der erste 41 7 St. An die Thessalonicher der zweite
118 St. An Timotheus der zweite 6 ) 114 St. . An Titus 116 St. An Phi-
lemon 53 St. Der ganze Apostolos 5076 St." 6 )
„Alle Bücher, welche die heilige Kirche annimmt, 7 ) 90 000 St."
2) Die Syrer behandeln dies Wort regelmäßig als Singular = ngäl-is.
3) Hier wie im folgenden wörtlich „ Brief der Galater" u. s. w.
4) Nicht ausdrücklich als ein zweiter bezeichnet. S. oben S. 48.
5) Der 1 Tm ist stillschweigend ausgelassen. Ob zufällig? s. oben S. 52. Die
Gesamtzahl der Briefe ist trotzdem 14.
6) Die Summe der Teilposten ist 5490. Zu niedrig ist namentlich Rm und 2 Tm
berechnet.
7) Dies darf als sicherer Beweis dafür gelten, daß die Liste vollständig sein will,
also die katholischen Briefe und die Ap nicht zufällig fehlen.
Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a.S.
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-** £» an*
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