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Full text of "Grundriss der Geschichte der Philosophie"

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GRÜNDEISS 


DER 


GESCHICHTE  DER  PHILOSOPHIE 


VON 


Dr.  JOHANN  EDIARD  ERDMAIVIV, 

ORDENTLICHEM    PROFESSOR    DER    PHILOSOPHIE    AN    DER    UNIVERSITÄT    ZD    HALLE. 


ERSTER  BAND. 
PHILOSOPHIE  DES   ALTERTHUMS   UND   DES  MITTELALTERS. 


BERLIN   1866. 

VERLAG  VON  WILHELM  HERTZ. 

(UESSERSCHE    BUOHUANDLUNO.) 


«» 


Das  Kecht  der   Uebersetzung  wird  vorbehalten. 


Vorwort  zum  ersten  Baude. 


Die  Eiitstehungsgeschichte  dieses  Grundrisses  kann  vielleicht 
dazu  beitragen,  dass  nicht  ausser  den  vielen  verdienten  auch 
noch  unverdiente  Ausstellungen  an  demselben  gemacht  werden. 

Da  Schleier maclier's  Ausspruch:  „ein  Professor,  der  seinen  Zu- 
hörern Sätze  in  die  Feder  dictirt,  nehme  eigentlich  für  sich  das 
Privilegium  in  Anspruch,  die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  zu 
ignoriren,"  mir  zwar  von  Vielen  vergessen  zu  werden,  aber  von 
Keinem  widerlegt  zu  seyn  scheint,  so  habe  ich,  wo  es  mir  wün- 
schenswerth  schien,  dass  meine  Zuhörer  das  von  mir  Vorgetragene 
in,  nicht  nur  von  ihnen  sondern  von  mir  selbst  redigirten,  kur- 
zen Sätzen  nach  Hause  trügen,  Grundrisse  zu  einigen  meiner  Vor- 
lesungen drucken  lassen.  Für  die  Geschichte  der  Philosophie  hielt 
ich  einen  solchen  nicht  für  nöthig.  Lange  Zeit  habe  ich  auf  die 
sich  wiederholende  Anfrage,  welches  Compendium  ich  empfehle, 
da  der  Grundriss  von  Teimemann  vergriifen  war,  der  von  3J(ir~ 
buch  voraussichtlich  nie  vollendet  werden  wird,  endlich  lieber iver/'s 
fleissige  Arbeit  damals  noch  nicht  zu  erwarten  stand,  nur  Rem- 
hold  anrathen  können,  so  Vieles  dessen  Buch  auch  zu  wünschen 
übrig  lässt.  Als  ich  aber  sah,  wie  (was  .den  Verfasser  selbst  ge- 
wiss erschreckt  hätte)  Scf/n-effler's  kurzer  Grundriss,  und  zuletzt 
ganz  elende  Nachbildungen  dieser  flüchtigen  Arbeit,  die  einzige 
Quelle  wurden,  aus  der  die  studirende,  besonders  die  aufs  Exa- 
men hinsteuernde,  Jugend  ihre  Kenntnisse  schöpfte,  da  versuchte 
ich,  einen  Grundriss  zu  entwerfen,  der  meinen  Zuhörern  in  conci- 
ser  Form  wiedergäbe,   was  ich  vorgetragen  hatte,  zugleich  alier 


IV  Vorwort  zum  ersten  Bande. 

bei  jeder  Partie  anzeigte ,  wo  für  eine  tiefer  gehende  Beschäftigung 
Rath  und  Belehrung  zu  finden  sey.  Für  die  alte  Philosophie 
konnte,  da  wir  die  vortrefflichen  Werke  von  Brundis  und  Zeller 
und  die  verdienstliche  Sammlung  der  wichtigsten  Belegstellen  von 
Preller  und  Ritter  besitzen,  und  eben  so  konnte  für  die  Gnosti- 
ker  und  Kirchenväter  dieser  Gesichtspunkt  festgehalten  werden, 
und  darum  enthalten  die  ersten  fünfzehn  Bogen  dieses  Grundris- 
ses nur  in  sehr  wenigen  Partien  Ausführlicheres  als  meine  Vorle- 
sungen zu  geben  pflegen.  Hätte  ich  mein  Buch  in  dieser  selben 
Weise  zu  Ende  führen  können ,  so  wäre  wohl  zu  dem  Titel  „Grund- 
riss"  die  nähere  Bestimmung  „für  Vorlesungen"  hinzugekommen, 
und  es  wäre  anstatt  in  zwei,  in  einem  einzigen  Bande  erschienen. 
Dass  dies  aber  nicht  möglich  seyn  werde,  ward  mir  sogleich  klar, 
als  ich  zu  der  Bearbeitung  der  Scholastiker  kam.  So  grosse  Ach- 
tung ich  vor  den  Arbeiten  Tiedemcmn's  unter  den  Aelteren ,  //.  Rit- 
fer's  und  Haurenu's  unter  den  Neueren  habe,  so  viel  Dank  ich 
ferner  den  Specialarbeiten  über  einzelne  Scholastiker  schuldig  bin, 
mit  so  anerkennender  Bewunderung  endlich  ich  vor  der  Riesen- 
arbeit stehe ,  der  sich  Pranil  hinsichtlich  der  mittelalterlichen  Lo- 
gik unterzogen  hat,  so  fand  ich  doch  bei  den  Philosophen  seit  dem 
neunten  Jahrhundert  so  Vieles,  wovon  mir  die  bisherigen  Darstel- 
lungen ihrer  Lehre  nichts  sagten,  ich  sah  mich  ferner  so  oft  ge- 
nöthigt,  von  der  hergebrachten  Anordnung  und  Zusammenstellung 
abzugehn,  dass,  namentlich  weil  ich  mich  jeder  Polemik  in  die- 
sem Buche  enthalten  wollte,  zur  Begründung  meiner  Ansicht  eine 
grössere  Ausführlichkeit  nothwendig  ward.  Das  Aufnehmen  von 
Citaten  in  den  Text  war  ohnedies  geboten,  da  wir  eine  Chresto- 
mathie mittelalterlicher  Philosopheme ,  wie  sie  Preller  und  Ritter 
für  das  Alterthum  gegeben  haben ,  nicht  besitzen.  Jener  beschrän- 
kende Zusatz  „für  Vorlesungen"  musste  wegfallen,  denn  nur  einen 
sehr  abgekürzten  Auszug  aus  dem ,  was  die  letzten  vier  und  zwan- 
zig Bogen  dieses  Bandes  enthalten ,  kann  ich  in  die  wenigen  Wochen 
zusanmiendrängen,  welche  in  meinen  Vorlesungen  dem  Mittelalter  ge- 
widmet sind.  Durch  diesen  verschiedenen  Charakter,  welchen  da- 
durch das  erste  und  den  die  beiden  anderen  Drittheile  dieses  Bandes 
bekamen,  ist  es  gekommen,  was  manchem  Leser  auffallen  möchte, 


Vorwort  zum  ersten  Baude.  V 

dass  bei  mir  die  Philosopliic  des  Mittelalters  mehr  als  das  Dop- 
pelte des  Raumes  einnimmt,  welcher  dem  Alterthimi  gewidmet 
ward.  Wer  mir  dies  als  ein  Missverhältniss  zum  Vorwurf  machen, 
und  mich  als  auf  nachahmungswerthe  Muster  auf  so  manche  neuere 
Darstellungen  der  Geschichte  der  Philosophie  hinweisen  wollte,  der 
möge  erstlich  bedenken,  dass,  wo  Brandis.  ZeUer  u.  A.  mich  von 
der  Ptichtigkeit  ihrer  Behauptungen  überzeugt  hatten,  ich  natür- 
lich ihre  Begründung  nicht  mit  hereinzunehmen  brauchte ,  dagegen 
aber  jede  meiner  Behauptungen,  die  mit  hergebrachten  Meinungen 
streitet,  begründet  werden  musste.  Zweitens  aber  möchte  ich  bemer- 
ken ,  dass  mich  das  Beispiel  derer  nicht  zur  Nachahmung  reizt,  die 
damit  anfangen,  zu  behaupten ,  das  Mittelalter  habe  keinen  gesunden 
Gedanken  zu  Tage  gefördert,  und  dann  sich  um  dasselbe  nicht 
weiter  kümmern,  es  sey  denn  dass  sie  sich  von  Teimemaiin  ir- 
gend ein  Curiosum  erzählen  lassen,  um  doch  mitsprechen  zu  kön- 
nen. Es  mag  eine  sehr  veraltete  Ansicht  seyn,  aber  ich  halte  es 
für  besser ,  zuerst  die  Lehren  dieser  Mcänner  zu  studiren ,  und  dann 
zu  fragen,  ob  sie,  die  uns  unter  Anderem  unsere  ganze  philoso- 
phische Terminologie  geschenkt  haben,  der  Dogmatik  gar  nicht 
einmal  zu  gedenken,  wirklich  für  gar  Nichts  zu  rechnen  sind?  Ich 
weiss  sehr  gut,  dass,  was  wir  selbst  herausgebracht,  und  nicht  von 
einem  Anderen  uns  haben  sagen  lassen,  uns  eben  deswegen  wich- 
tiger zu  erscheinen  pflegt  als  Anderen,  ja  vielleicht  als  es  ist; 
und  so  will  ich  nicht  gegen  den  streiten,  welcher  mir  etwa 
vorwerfen  wollte,  dass,  weil  ich  selbst  mich  so  lange  mit  dem 
Uühnundus  Lullns  habe  abquälen  müssen,  ich  nun  meinem  Leser 
mit  einer  so  ausführlichen  Darstellung  von  dessen  grosser  Kunst 
zur  Last  falle.  Aber  für  ganz  unnütz  werde  ich  diese  Aus- 
führlichkeit nur  dann  erklären ,  wenn  der  Tadler  mir  sagt ,  er  habe 
(glücklicher  als  ich)  aus  den  bisherigen  Darstellungen  der  Lull'- 
schen  Lehre  sehr  gut  entnehmen  können,  wie  es  gekommen  sey, 
dass  die  Zahl  der  Lullisten  einmal  fast  der  der  Thomisten  das 
Gleichgewicht  hielt,  dass  Giordano  Bruno  für  diesen  Mann  sich 
begeisterte,  dass  Leibiütz  ihn  so  hoch  stellte  und  ihm  so  Vieles 
entlehnte  u.  s.  w.  Was  diese  Auseinandersetzung  soll,  ist  dies: 
dem  Tadel   der  nicht  gleichen  Ausführlichkeit  will  sie  als  Ent- 


VI  Vorwort  zum  ersten  Bande. 

schuldiguiig  dies  entgegen  setzen,  dass,  wo  ich  nur  sagte,  was  auch 
anderswo  zu  finden  ist,  ich  kurz  seyn  durfte,  dort  aber,  wo  ich 
von  dem  abweiche,  was  Andere  sagen,  ausführlich  seyn  niusste. 

Der  zweite  und  letzte  Band  dieses  Grundrisses,  der  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  von  Descartes  bis  auf  unsere  Tage  be- 
fasst  und  ein  vollständiges  Namenregister  enthält,  ist  unter  der 
Presse,  und  der  Druck  desselben  wird,  so  viel  an  mir  ist,  weder 
eine  Unterbrechung  noch  eine  Verzögerung  erleiden, 

Halle  am  13'^"  Üctober  1865. 

Erdmauii. 


f  II  h  a  1 1 

des    e  r  s  l  e  D    Baude  s. 


Seit.- 

Eiiileitiiiig  §.  1  —  14     .   .      ^ 

Erster  Theil. 

PIiiloso|»Iiic  des  Altertliums  §.  15-115 .  n 

Einleitung  §.15 ^^ 

Quellen  und  Bearbeitungen  §.   16 12 

Erste  Periode  §.18  —  48 1^ 

I.  Die  reinen  Physiologen  §.21  —  29 •  l-'J 

A.  Thaies  §.22 ^^ 

B.  Ana.\imandros  §.24 ^' 

C.  Anaximencs  §26 ^^ 

D.  Diogenes  ApoUoniates  §.28 21 

II.  Die  reinen  Metaphysiker  §.30—41 23 

A.  Die  Pythagoreer  §.31  —  33 24 

B.  Die  Eleaten  §.34  —  41 34 

a.  Xenophanes  §.34 34 

b.  Parmenides  §.36 36 

c.  Melissos  §.38 38 

d.  Zenon  §.40 39 

III.    Die  metaphysischen  Phy^iolugen  §-42 — 48       .      .      .' 42 

A.  Herakleitos   §    43 42 

B.  Empedokles  §.  45     .      ., 48 

C.  Die  Atomiker  §47 52 

Zweite  Periode  §.  49—91 5G 

I.    Anaxagoras    §.52 ^^ 

IL    Die  Sophisten  §.54  —  62 62 

III.  Sokrates  §.63  —  66 69 

IV.  Die  sokratischen  Schulen   §.67  —  73 76 

V.    Plato  §.  74—82.     .     .     .   ' 84 

VI.     Aristoteles  §.  83  —  91    .     • 115 

Dritte  Periode  §.  92—115 157 

I.    Die  Dogmatiker  §.95  —  98 159 

II.  Die  Skeptiker  §.99  —  104 .  109 

III     Die  Synkretisten  §.105—114 175 

Schlussbemerkung  §.  115 1^1 


VIII  Inhalt. 

Seite 

Zweiter  Theil. 

Philosophie  des  Mittelalters  §.  hg -257  .  195 

Einleitung  §.116  —  120 195 

Erste  Periode  §.121  —  148 198 

I.    Die  Gnostiker  §.   122—125 199 

IL    Die  Neuplatoniker  §.126—130 203 

III.    Die  Kirchenväter  §.131—148 219 

Zweite  Periode  §.148  —  225 245 

I,    Jugendperiode  der  Scholastik  §.   152 — 177 247 

A.  Die  Scholastik  als  Religions-  und  Vernunftlehre  §.    154  —  102    .  248 

B.  Die  Scholastik  als  blosse  Vernunftlehre  §.   163-164    ....  277 

C.  Die  Scholastik  als  blosse  Religionslehre  §.  165 — 173  ....  281 
II.    Glanzperiode  der  Scholastik    §.178  —  209 304 

A.  Muselmänner   und   Juden    §.  181  —  190 307 

B.  Christliche  Aristoteliker  §.   191  —  208 319 

Alexander   §.195 323 

Bonaventura  §.  197 329 

Albert  §.199  —  202 336 

Thomas  und  Thomisten  §.  203.  204 357 

Lullus   §.206 377 

Dante  §.  208 397 

III.    Verfallperiode  der  Scholastik  §.   210  —  225 403 

Roger  Bacon  §.212 405 

Duns  Scotus    §.214 413 

Occam  §.216 428 

Pierre  d'Ailly  §.219 442 

Gerson  §.  220 446 

Raymund  von  Sabunde  §.  222 450 

Nicolaus  von  Cusa  §.  224 457 

Dritte  Periode   §.226-257 466 

I.  Die  Philosophie  als  Gottesweisheit  §.229  —  234 470 

A.  Die  speculative  Mystik  §.  230 470 

B.  Die  praktische  Mystik  §.231 477 

C.  Die  theosophische  Mystik  §.  234 486 

II.  Die  Philosophie  als  Weltweisheit  §.  235  —  256 502 

A.  Die  Renaissance  §.236  —  239 502 

B.  Die  Naturphilosophen  §.  240—250 515 

Paracelsus  §.  241 515 

Cardanus  §.242 526 

Telesius  §.243 533 

Patritius  §.244 537 

Campanella  §.246 542 

Bruno  §.247 553 

Bacon  §.249 569 

C.  Rechtsphilosophen  §.251  —  256 584 

a.  Die  kirchlichen  Naturrechtslehrer  §.   252 585 

b.  Die  widerkirchliche  Politik  §.253 589 

c.  Die  kirchlich  indifferente  Politik  §.254 593 

d.  Die  naturalistische  Rechtsphilosophie  §.  256 606 

Schlussbemerkung  §.257 620 


Einleitung. 


§•  1- 

Gäbe  es  keine  andere  Beliandlungsweise  der  Geschichte  der  Phi- 
losophie, als  die  bloss  gelehrte,  der  alle  Systeme  gleich  wahr  weil 
blosse  Meinungen  sind,  oder  die  skeptische,  die  in  allen  gleiche  Irr- 
thümer  sieht,  oder  endlich  die  eklektische,  für  die  in  allen  sich  Stücke 
der  Wahrheit  finden,  so  hätten  Die  Recht,  welche  im  Interesse  für 
die  Philosophie  vor  der  Beschäftigung  mit  ihrer  Geschichte  entweder 
überhaupt  oder  doch  den  Anfänger  warnen.  Ob  es  eine  bessere  gibt 
und  welches  die  rechte  ist,  kann  nur  entschieden  werden  durch  eine 
Erörterung  des  Begrifies  der  Geschichte  der  Philosophie. 

§.2. 

Die  Philosophie  entsteht,  indem  bei  dem  Thatbestande  des  Da- 
seyns  (der  Welt)  nicht  stehen  geblieben,  sondern  zum  Erkennen 
seiner  Gründe,  endlich  seines  absoluten  Grundes ,  d.  h.  seiner  Noth- 
wendigkeit  oder  Yernünftigkeit,  fortgegangen  wird.  Darum  aber  ist 
sie  nicht  ein  Werk  bloss  des  einzelnen  Denkers ;  vielmehr  sind  in  ihr 
die  theoretischen  und  praktischen  Ueberzeugungen  der  Menschheit 
eben  so  niedergelegt,  wie  in  den  Maximen  und  Grundsätzen  die  Le- 
bensweisheit des  Einzelnen,  in  Sprüchwörtern  und  Gesetzen  die  der 
Völker.  Wie  ein  Volk  seine  Weisheit  und  seinen  Willen  durch  den 
Mund  seiner  Weisen  und  Gesetzgeber,  so  spricht  der  Weltgeist  die 
seinige,  oder  die  Welt  die  ihrige  durch  die  Philosophen  aus.  Sagt 
man  daher  anstatt  Philosophie  Welt  Weisheit,  so  steht  in  diesem 
Worte  Welt  im  genitho  snbjecli  und  ohjecti  zugleich. 

§.3. 

Wie  unbeschadet  seiner  Einheit  das  Individuum  durch  die  ver- 
schiedenen Lebensalter  hindurchgeht,  so  ist  der  Weltgeist  nachein- 
ander der  Geist  der  verschiedenen  Zeiten  und  Jahrhunderte.    Wird 

Erdmann,  Gesch.  d.  Philos.   1.  i 


Z  Einleituug  §§.  4 — 6. 

mit  derselben  Metonymie,  die  anstatt  Weltgeist  Welt  sagen  lässt, 
anstatt  Zeitgeister  Zeiten ,  anstatt  Geist  des  Jahrhunderts  Jahrhun- 
dert, gesagt,  so  hat  jede  Zeit  ihre  Weisheit,  jedes  Jahrhundert  seine 
Philosophie.  Die,  welche  sie  zuerst  aussprechen,  sind  die  Philosophen 
dieser  verschiedenen  Zeiten.  Sie  sind  die  eigentlichen  Zeitverstän- 
digen, und  die  Philosophie  einer  Zeit,  als  ihr  Selbstverständniss, 
formulirt  nur  was  in  dieser  Zeit  unbewusst  gelebt,  instinctartig  ge- 
wirkt hat,  spricht  ihr  Geheimniss  aus. 

§•  4. 

Die  Abhängigkeit  von  einer  bestinnnten  Zeit,  in  welche  jede 
Philosophie  dadurch  kommt,  dass  sie  nur  für  sie  die  letzte  Wahr- 
heit ist,  thut  ihrem  absoluten  Charakter  eben  so  wenig  Abbruch,  als 
die  Pflicht  aufliört  unbedingt  zu  seyn ,  weil  den  verschiedenen  Le- 
bensaltern Verschiedenes  Pflicht  ist.  Dass  die  Philosophie,  als  Frucht, 
der  Blüthe  einer  Zeit  stets  folgt,  hat  sie  oft  als  Grund  des  Verder- 
bens erscheinen  lassen,  das  sie  doch  nie  hervorruft  immer  nur  ver- 
räth.  Namentlich  wird  alle  unbefangene  Pietät  nicht  durch  sie  erst 
vernichtet,  sondern  hat  aufgehört,  ehe  philosophische  Regungen 
sich  zeigen  können. 

§.  5. 

Wie  der  Weltgeist  durch  die  verschiedenen  Zeitgeister  hindurch- 
geht, worin  die  Weltgeschichte  besteht,  so  sein  Bewusstseyn,  die 
Weltweisheit,  durch  die  verschiedenen  Zeitbewusstseyn  hindurch, 
worin  eben  die  Geschichte  der  Philosophie  besteht.  Dort  wie  hier 
geht  Nichts  verloren,  vielmehr  wird,  was  die  eine  Zeit  und  Philo- 
sophie zu  ihrem  Resultate  hat,  für  die  folgende  StoÖ"  und  Aus- 
gangspunkt. Darum  ist  der  Unterschied,  ja  der  Widerstreit,  der 
philosophischen  Systeme  kein  Beweis  dagegen ,  dass  in  allen  Philo- 
sophien sich  nur  die  eine  Philosophie  entwickle,  sondern  spricht  ge- 
rade für  diese  Behauptung. 

§.  6. 

Jedes  philosophische  System  ist  ein  Resultat  des,  oder  der,  vor 
ihm  aufgestellten,  und  enthält  den  Keim  zu  den  ihm  folgenden.  Die 
von,  in  der  Regel  nur  scheinbaren,  Autodidakten  hergenommenen 
Ausnahmen ,  so  we  die  Thatsache ,  dass  in  der  Regel  gegen  solche 
Kindschaft  Einspruch  gethan  wird,  stossen,  da  sie  gar  nicht  directe 
Schülerschaft  zu  seyn  braucht,  die  erste  Behauptung  nicht  um. 
Eben  so  wenig  wird  die  zAveite  dadurch  beseitigt,  dass  kein  Philo- 
soph der  Vater  des  weiter  gehenden  Systems  seyn  will.  Dies  ist  we- 
gen der  Beschränktheit ,  ohne  die  nichts  Grosses  geleistet  und  also 
auch  kein  System  aufgestellt  wird,  nothwendig,  und  wiederholt  sich 


Einleitung  §§.   7 — 9.  3 

deswegen  überall.  Es  beweist  aber  Nichts,  weil  die  eigentliche  und 
volle  Bedeutung  eines  Systems  nicht  von  dem ,  der  es  gründet ,  son- 
dern erst  von  der  Nachwelt  richtig  gewürdigt  werden  kann,  die  auch 
darin  auf  einem  höheren  Standpunkt  steht,  als  er. 

§.  7. 

Die  Geschichte  der  Philosophie  kann  richtig ,  d.  h.  als  das  was 
sie  ist,  nur  dargestellt  werden  mit  Hülfe  der  Philosophie,  da  nur 
diese  in  Stand  setzt  in  der  Reihe  der  Systeme  nicht  planlosen  Wech- 
sel, sondern  Fortschritt,  d.  h.  Nothwendigkeit  nachzuweisen,  und 
da  weiter  ohne  ein  Bewusstseyn  über  den  Gang  des  Menschengei- 
stes es  nicht  möglich  ist  zu  zeigen,  wie  er  in  seiner  Weisheit  gegan- 
gen ist,  Nachweis  der  Nothwendigkeit  aber  und  solches  Bewusstseyn 
nach  §.  2  Philosophie  war. 

§.  8. 

Eine  philosophische  Behandlung  der  Geschichte  der  Philosophie 
interessirt  sich,  gleich  der  bloss  gelehrten,  für  die  feinsten  Unter- 
schiede der  Systeme,  erkennt  mit  der  skeptischen  an,  dass  sie  sich 
bekämpfen,  und  gibt  dem  Eklektiker  darin  Recht,  dass  in  ihnen  al- 
len Wahrheit  enthalten  ist.  Indem  sie  aber  nicht,  mit  der  ersten, 
den  einen  Faden  der  wachsenden  Erkenntniss  aus  den  Augen  ver- 
liert, nicht  mit  der  zweiten  das  Resultat  als  gleich  Null  ansieht, 
nicht  mit  dem  Dritten  in  jedem  Systeme  nur  Stücke  der  entwickelten 
Wahrheit,  sondern  in  jedem  die  ganze  Wahrheit  nur  unentwickelt 
anerkennt,  verleitet  sie  weder  wie  die  erste  dazu,  Philosopheme  für 
blosse  Einfälle  und  Meinungen  zu  halten ,  noch  erschüttert  sie  vde 
die  zweite  das  zum  Philosophiren  nothwendige  Vertrauen  zur  Ver- 
nunft, noch  endhch  macht  sie  gleichgültig  gegen  die  Abhängigkeit 
von  einem  Princip,  d.  h.  gegen  die  systematische  Form,  wie  die 
eklektische  Behandlung. 

§.9. 

Nicht  nur  dass  sie  jene  Gefahren  für  das  Philosophiren  nicht 
hat,  sondern  indem  eine  solche  Darstellung  über  die  Geschichte  der 
Philosophie  philosophiren  lehrt,  ist  sie  nicht  ein  Ableiten  vom  Phi- 
losophiren sondern  eine  praktische  Anleitung  dazu.  Ja,  wo  das  In- 
teresse für  Philosophie  dem  für  ihre  Geschichte  gewichen  ist,  und 
namentlich  eine  Scheu  vor  streng  philosoplüschen,  z.  B.  metaphysi- 
schen Untersuchungen  sich  zeigt,  da  ist  vielleicht  eine  philosophi- 
sche Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  das  beste  Mittel 
den,  der  nur  erzählt  haben  will,  zum  (Mit  -)  Philosophiren  zu  brin- 
gen, und  dem  welcher  die  Wichtigkeit  metaphysischer  Bestimmun- 
gen bezweifelt,  zu  zeigen  wie  oft  ganz  verschiedene  Welt-  und  Le- 

1* 


4  Einleitung  §§.  10.   11. 

bensanschauungen  nur  an  dem  Unterscliiede  zweier  Kategorien  hin- 
gen. Unter  Umständen  kann  die  Gescliichte  der  Philosophie,  die  im 
Systeme  der  Wissenschaft  den  Schluss  bildet,  das  seyn,  worüber  zu 
philosophiren  dem,  der  erst  damit  den  Anfang  macht,  am  Meisten 
anzurathen  ist. 

§.  10. 
Da  ein  jedes  Philosophiren  ein  bestimmtes  seyn  muss,  und  da 
eine  Entwicklung  nicht  als  vernünftig  dargestellt  werden  kann,  wenn 
sie  nicht  zu  einem  Ziele  hingeführt  wird,  so  muss  eine  jede  philoso- 
phische Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  die  Farbe  desje- 
nigen Systemes  tragen,  welches  der  Darsteller  als  den  Schluss  der 
bisherigen  Entwicklung  ansieht.  Das  Gegentheil  unter  dem  Namen 
der  Unbefangenheit  oder  Unparteilichkeit  fordern  heisst  Widersinni- 
ges anmuthen.  •  Die  Gerechtigkeit ,  die  allerdings  von  einem  jeden 
Historiker  gefordert  werden  muss,  ist  Pflicht  auch  des  philosophi- 
renden  Historikers.  Besteht  sie  bei  jenem  darin,  dass  er  erzählt, 
nicht  wie  er  selbst  sondern  wie  die  Geschichte,  über  diese  oder  jene 
Erscheinung  geurtheilt  hat,  so  hat  dieser  zugleich  dieses  Urtheil  als 
vernünftig  nachzuweisen  d.  h.  es  zu  rechtfertigen.  Darin  allein  be- 
steht die  Kritik  die  er  üben  nicht  nur  darf  sondern  soll. 

§.  11. 
Sowol  dass  die  Geschichte  ein  philosophisches  System  auftre- 
ten als  dass  sie  es  durch  ein  weitergehendes  ablösen  Hess,  muss  die 
philosophische  Kritik,  in  welcher  deshalb  ein  positives  und  negati- 
ves Moment  zu  unterscheiden  ist,  als  nothwendig  darthun.  Diese 
Nothwendigkeit  aber  ist  eine  zwiefache:  das  Auftreten  und  Ver- 
drängtwerden eines  Systems  hat  welthistorische  Nothwendigkeit,  in- 
dem jenes  durch  den  Charakter  der  Zeit,  deren  Verständniss  das 
System  war,  bedingt  ist,  dieses  wieder  dadurch  dass  die  Zeit  eine 
andere  wurde  (vgl.  §.  4).  Von  beiden  wird  wieder  die  philosophie- 
historische Nothwendigkeit  dargethan,  wenn  in  dem  Systeme  die 
Conclusion  nachgewiesen  wird,  zu  der  die  früheren  die  Prämissen 
bilden,  und  wenn  andrerseits  gezeigt  wird,  dass  weiter  gegangen 
werden  musste,  um  nicht  auf  halbem  Wege  stehen  zu  bleiben.  Nur 
dies,  dass  ein  System  nicht  bis  zu  dem  fortging,  was  unmittelbar 
aus  ihm  folgt ,  darf  als  sein  Mangel  bezeichnet  werden ,  nicht  aber 
darf  zum  Maassstab  seiner  Beurtheiluug  ein  System  genommen  wer- 
den, das  durch  Zwischenstufen  von  ihm  getrennt  ist.  Wie  die  Ge- 
schichte den  Cartesianismus  durch  den  Spinozismus,  nicht  aber 
durch  die  Kantische  Lehre  corrigirt  hat,  so  darf  auch  der  philoso- 
phische Kritiker  den  Descartes  nicht  an  Kunf,  sondern  nur  an  Spl- 


Einleitung  §.  12.     LiteiaUir  §.13.  5 

noza  messen.  Die  Befolgimg  dieser  Regel  sichert  einen  philosophi- 
schen Darsteller  der  Geschichte  der  Philosophie  davor,  beschrcänkter 
Weise  sich  in  ein  System  zu  veiTennen,  ohne  dass  ihm  dadurch  zu- 
gemuthet  würde  das  seinige  zu  verleugnen. 

§.  12. 
So\Yol  die  Epochen  der  Geschichte  der  Philosophie ,  d.  h.  die 
Zeitpunkte,  an  denen  ein  neues  Princip  geltend  gemacht  ^Yird,  als 
auch  die  von  ihnen  beherrschten  Perioden,  d.  h.  die  Zeiträimie,  wel- 
che dazu  nöthig  sind,  jenes  Neue  von  seinem  revolutionären  und 
despotischen  Charakter  zu  befreien,  gehen  den  Epochen  und  Perio- 
den der  Weltgeschichte  parallel,  so  aber  dass  sie  ihnen  der  Zeit 
nach,  weiter  oder  näher,  nach-,  niemals  vorgehen.  Die  Epoche 
machenden  Systeme  können  für  das  Verständniss  der  Vergangenheit 
keinen  Sinn  haben,  desto  mehr  werden  es  die  eine  Periode  abschhes- 
senden.  Anhänger  der  ersteren  werden  daher,  wenn  sie  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  behandeln ,  eher  als  die  der  letzteren  Ge- 
fahr laufen,  die  historische  Gerechtigkeit  zu  verleugnen. 

§•  13. 
Literatur. 
Bis  zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhimderts  suchen  alle  Dar- 
stellungen der  Geschichte  der  Philosophie  nur  das  gelehrte  i),  skep- 
tische ^)  oder  eklektische  '^)  Interesse  zu  befriedigen.  Von  da  an  gibt 
es  keine  einzige ,   welche  nicht  mehr  oder  minder  philosophisch  ge- 
färbt wäre.    Nicht  dies  ist  an  den  Meisten  derselben  zu  tadeln,  dass 
der  Darsteller  sein  eigenes  System  als  den  Schluss  der  bisherigen 
Entwicklung  ansieht ,  sondern  dass  sich  dasselbe  fortwährend  laut 
macht,  ehe  die  Darstellung  zum  Schluss  gekommen  ist.    Dies  gilt 
schon  von  dem  Ersten ,   welcher  die  Geschichte  der  Philosophie  un- 
ter einen  philosophischen  Gesichtspunkt  stellt,  dem  Franzosen  De- 
yerando^).    Eben  so  wenig  sind  die  Deutschen,   die  seinem  Bei- 
spiele folgten,  davon  frei  zu  sprechen.     Kant,  der  selbst  nur  Winke 
gegeben  hatte  (in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft)  wie  die  Geschichte 
der  Philosophie  philosophisch  zu  behandeln  sey,  hinterhess  die  Aus- 
führung seines  Gedankens  seinen  Schülern.    Sein  System  war  aber 
zu  sehr  ein  Epoche  machendes ,  als  dass  es  zu  richtiger  Würdigung 
der  Vergangenheit  hätte  führen  können.    Daher  bei  den  Historikern 
der  Kantischen  Schule  das,  oben  §.11  getadelte,  Vergleichen  auch 
der  ältesten  Systeme  mit  liChren  die  erst  im  achtzehnten  Jahrhun- 
dert aufgestellt  werden  konnten,    ein  Verfahren  das  die  sonst  so 
werthvollen  Arbeiten  von  Tennemann  ^)  so  sehr  entstellt.     Fir/fte's 
Lehre  konnte  weder  lange  herrschen ,  noch  zu  historischen  Studien 


6  Einleitung. 

anspornen ;  so  hat  sie  für  die  Behandlung  der  Geschichte  höchstens 
dies  Resultat  gehabt,  dass  noch  mehr  als  bei  Kant  der  Kanon  sich 
feststellte,  dass  der  Fortschritt  in  der  Ausgleichung  von  einseitigen 
Gegensätzen  bestehe.  Viel  nachhaltiger  war  die  Wirkung  der  Schcl- 
lingschen  Philosophie  ^)  wobei  nur  zu  bedauern  war,  dass  ein  fertig 
an  den  Stoff  gebrachtes  Schema  die  individuellen  Unterschiede  ver- 
wischen Hess.  Die  eigenthümlichen  Ansichten  über  die  Geschichte 
(namentlich  der  alten)  Philosophie,  die  Schleiermacher  in  seinen 
Vorlesungen  entwickelte,  waren,  als  sie  nach  seinem  Tode  veröffent- 
licht wurden^),  dem  lesenden  Publicum  durch  Andere^)  längst  be- 
kannt. Etwas  war  dies  auch  der  Fall  hinsichtlich  HegcVs,  mit  des- 
sen Betrachtungsweise  einzelner  Partien  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie, oder  auch  ihres  Ganges  Schüler^)  und  Leser  seiner  Schrif- 
ten^**) die  Welt  viel  früher  bekannt  machten,  als  derselben  seine 
Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philosophie  vorgelegt  wur- 
den ^^).  Die  meisten  der,  aus  IlegeVs  Schule  hervorgegangenen, 
historischen  Arbeiten  behandeln  nur  einzelne  Zeiträume,  doch  ver- 
suchen einige  ^2)  auch  die  Geschichte  der  Philosophie  im  Ganzen 
darzustellen.  Ihnen  schliessen  sich  an  die  Ueberblicke  die  von  an- 
deren, doch  aber  verwandten  Standpunkten  aus  versucht  wurden  ^^^ 
Der  speculative  Eklekticismus  hat  in  Frankreich  i*),  derselbe  in 
Deutschland  hat  bei  uns,  das  Interesse  für  historische  Arbeiten  sehr 
gesteigert,  und  wir  danken  ihm  Darstellungen  der  Entwicklung  theils 
der  ganzen  Philosophie  ^  ^)  theils  einzelner  philosophischer  Proble- 
me ^ß),  in  welchen  die  Nachwirkung  Schellingscher  und  Hegelscher 
Ideen  sichtbar  ist.  Selbst  diejenigen  haben  sich  ihnen  nicht  ganz 
entziehen  können,  welche  in  ihren  Darstellungen  sich  auf  einen  ganz 
anderen,  dem  Kantischen  mehr  verwandten,  Standpunkt  stellen  ^^), 
oder  gegen  jede  philosophische  Behandlung  der  Geschichte  als  eine 
Construction  a  priori  polemisiren  i^). 

1)  Stanley  History  of  philosophy  1655  erschien  als:  Historia  philosophica  au- 
ctore  Thoma  Stanlejo.     Lips.  1712.     II  Voll.     kl.-Fol. 

2)  P.  Bayle  Dictionnaire  historique  et  critique.  1695—97  II  Voll.  1702  U  VoU. 
1740  IV  Voll.  Fol.  Weniger  entschieden  zeigt  die  skeptische  Tendenz:  Dietrich 
Tiedemann  Geist  der  speculat.  Philosophie.     Marburg  1791 — 97.     6  Bde.     8. 

3)  Jo.  Jac.  Brucker  Historia  critica  philosophiae  a  mundi  incunahulis.  Lips. 
1766.  67.  VI  VoU  4.  GleichfaUs  eklektisch  ist:  Joh.  Gottl.  Buhle  Lehrbuch  der 
Geschichte  der  Philosophie  und  kritische  Literatur  derselben.  Götting.  1796 — 1804, 
8  Thle.  8. 

4)  J.  M.  Degerando  Histoire  comparee  de  l'histoire  de  la  philosophie.  Paris 
1804.  III  Voll.  2.  Aufl.  1822.  IV  VoU.  Deutsch  als:  Vergleichende  Geschichte  der 
Systeme  der  Philosophie  mit  Kücksicht  auf  die  Grundsätze  der  menschlichen  Erkennt- 


Literatur  §.  13.     Eintheilung  §.  14.  7 

niss,  übers,  von   W.  G.   Tennemann.    Marburg  1806.    2  Bde.    8.    (Zum  Maassstab  der 
Beurtheiluiig  wird  der  englisch-französische  Empirismus  und  Sensualismus  genommen.) 

5)  W.  G.  Tennemann  Geschichte  der  Philosophie.  Leipzig  1794  ff.  12  Bde.  (un- 
vollendet). Dess.  Grundriss  der  Geschichte  der  Pliilosophie.  1812.  5.  Aufl.  v.  Wendt. 
1829.     (Ausgezeichnet  durch  die  reiche  Literatur.     Oft  übersetzt.) 

6)  Joh.  Gottl.  Stech  die  Geschichte  der  Philosophie.  1.  Theil.  Riga  1805. 
Fr.  Ast  Grundi'iss  einer  Geschichte  der  Philosophie.  Landsh.  1807.  2.  Aufl.  1825. 
Thadä  Anselm  Bixner  Handbuch  der  Geschichte  der  Philosophie.  3  Bde.  Sulzb. 
1822  ff.  Als  Supplement  gab  V.  Phil.  Guwpoitch  im  J.  1850  einen  vierten  Band  zu 
der  2.  Aufl. 

7)  Fr.  Schleiermacher  Geschichte  der  Philosopliie ,  lierausg.  von  H.  Bitter.  Ber- 
lin 1839.     (Schleiermacher' s  WW.  3.  Abth.  4.  Bds.   1.  Theil.) 

8)  u.  A.  in  H.  Bitter's  Geschichte  der  ionischen  Philosophie.     Berlin  1821. 

9)  So  Bötscher  in  s.  Aristophanes  und  sein  Zeitalter  1827,  wo  Hegel' s  Ansich- 
ten über  den  Sokrates  entwickelt  sind. 

10)  Windischmann  kritische  Betrachtungen  über  die  Schicksale  der  Philosophie 
in  der  neueren  Zeit  u.  s.  w.  Frkf.  a.  M.  1825.  Dess.  Die  Philosophie  im  Fortgange 
der  Weltgeschichte.  Bonn  1827  ft'.  Erster  Theil,  die  Grundlagen  der  Philosophie 
im  Morgenlande.     Erstes  Buch :  Sina.     Zweites  Buch :  Indien. 

11)  G.  W.  Hegel' s  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Philosophie,  herausg.  von 
Michelet  (WW.  Bd.   13—15).     Berlin   1833. 

12)  G.  O.  Marbach  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie  (Abth.  I  Alter- 
thum,  Abth.  U  Mittelalter,  Abth.  III  fehlt).  Lpz.  1838.  41.  A.  Schtvegler,  Ge- 
schichte der  Philosophie  im  Umriss.     3.  Aufl.  1857.    4.  Aufl.    1864. 

13)  C7i7:  J.  Braniss ,  Uebersicht  des  Entwickelungsganges  der  Philosophie  in 
der  alten  und  mittleren  Zeit.     Breslau  1842. 

14)  V.  Cousin  Cours  de  philosophie  (Introduction).  Paris  1828.  Dess.  Cours  de 
l'histoire  de  philosophie  I  u.  IL     Paris  1829. 

15)  H.  C.  W.  Sigicart  Geschichte  der  Philosophie  vom  allgemeinen  wissenschaft- 
lichen und  geschichtlichen  Standpunkt.     Stuttg.  u.  Tüb.  1844.    3  Bde. 

16)  A.   Trendelenburg  Geschichte  der  Kategorienlehre.     Berl.  1846. 

17)  E.  Reinhold  Handbuch  der  allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie  für  alle 
wissenschaftlich  Gebildete.  Gotha  1828—30.  3  Bde.  Dess.  Lehrbuch  der  Geschichte 
der  Philosophie.  1837.  (3.  Aufl.  in  3  Bdn.)  Jak.  Fr.  Fnes  die  Geschichte  der 
Philosophie  dargestellt  nach  den  Fortschritten  ihrer  Entwicklung.  Halle  1837.  40. 
2  Bde. 

18)  Heinr.  Bitter  Geschichte  der  Philosophie.  Hamburg  1829  ff.  12  Bände. 
(Bd.  1 — 4  alte  Philosophie;  Bd.  5 — 12  christliche  Philosophie  und  zwar  5  und  6  pa- 
tristische,  7  und  8  scholastische,  9—12  Philosophie  der  neueren  Zeit.  Das  Werk 
reicht  nur  bis  zu  Kant  excl. ;  die  weitere  Darstellung  gehörte  nicht  in  den  Plan  des 
Verfassers.)  Fr.  Ueberveg  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie  von  Tliales 
bis  auf  die  Gegenwart.  1.  Thl.  Berlin  1863.  2.  ThI.  1.  u.  2.  Abth.  1864.  (3.  Abth. 
Neuere  Philosophie  fehlt.) 

§.  14. 

Eintheilung. 

Wie  die  Weltgeschichte  durch  den  Eintritt  des  Christenthums 

und  die  Kirchenreformation  in  drei  Hauptperioden  zerfällt,   gerade 

so  sondern  sich  in  der  Geschichte  der  Philosophie  die  philosophi- 


8  Einleitung.     Eintheilung  §.  14. 

sehen  Systeme,  welche  noch  ganz  ohne  Einfliiss  christlicher  Ideen 
entstanden  sind,  und  wieder  die,  welche  unter  dem  Einfluss  der 
durch  die  Reformation  erwachten  Ideen  sich  entwickelten ,  von  den 
zwischen  beiden  liegenden  ab,  weil  von  diesen  keines  von  beiden  ge- 
sagt werden  kann.  Wir  bezeichnen  diese  drei  Hauptperioden  als  die 
des  Alterthums,  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit. 


ERSTER   THEIL. 


PHILOSOrHIE  DES  ALTEETHÜMS. 


Einleitung. 

§•  15. 
Dazu ,  sein  eignes  Wesen  denkend  zu  erfassen ,  kann  der  Men- 
schengeist erst  dort  versucht  und  fähig  seyn ,  wo  er  sich  seiner  spe- 
eifischen  Würde  bewusst  ist.  Da  er  dazu  im  Oriente,  ausgenom- 
men bei  den  Juden,  nicht  kommt,  so  können  weder  die  Regehi  des 
Anstandes  und  der  äusseren  Gesittung,  welche  die  Chinesischen 
Weisen  aufgestellt  haben  ^),  noch  die  pantheistischen  und  atheisti- 
schen Lehren  zu  denen  der  indische  Geist  in  der  Mimansa  und  durch 
Kapila  in  der  Sankhya  gelangt,  oder  die  Verstandesübungen  zu  denen 
er  in  der  Nyaja  sich  erhebt ^j,  noch  endhch  die  verworrenen  halb 
rehgiösen  und  halb  physikalischen  Lehren  der  alten  Perser  3)  und 
Aegyptens-*)  uns  dahin  bringen  von  einer  vorhellenischen  Philoso- 
phie ,  oder  gar  von  vorgriechischen  Systemen  zu  sprechen.  Da  erst 
der  Grieche  das  yvä9i  ßiavröv  veniimmt,  so  heisst  philosophiren, 
oder  das  Wesen  des  Menschengeistes  begi-eifeu  wollen ,  occidenta- 
lisch,  mindestens  gi'iechisch,  denken,  und  die  Geschichte  der  Phi- 
losophie beginnt  mit  der  Philosophie  der  Griechen. 

1)  Deu  idealisireuden  Lobpreisungen  der  chinesischen  Weisheit  bei  Windisch- 
mann,   Schmidt  u.  A.  ist  mit  Erfolg  namentlich  Stuhr  entgegen  getreten. 

2)  Die  Berichte  Colebmkc's ,  Balentyne's ,  Böeis ,  Max  Müller' s  geben  die  Daten 
zu  einer  Beurtheilung,  welche  die  E.xtreme  der  früheren  Vergötterung  und  der  späte- 
ren Verachtung  vermeidet. 

3)  Die  Träumereien  Rohde's  u.  A.  sind  längst  vergessen ,  der  spätere  Urspnmg 
vieler  Lehren  des  Zend-Avesta  erwiesen. 

4)  Aristoteles,  der  die  Aegj'ptischen  Priester  als  die  ersten  Philosophen  nennt, 
weiss  doch  kein  Philosophem  derselben  anzuführen.  Roth  der  in  neuerer  Zeit  mehr 
als  alle  Uebrigen  auf  den  Aegyptischen  Ursprung  aller  Philosophie  pocht,  nemit 
doch  die  Lehre  der  Aegypter  stets  Glaubenslehre ,  und  spricht  dem  Bierekydes ,  der 
ihr  am  Nächsten  geblieben  sey,   selbst  deft  wissenschaftlichen  Werth  ab. 

§•  16. 
Quellen  und  Bearbeitungen  der  Geschichte  griechi- 
scher Philosophie. 
Da  die  Schriften  der  älteren  Philosophen  Griechenlands  ganz 
oder  dem  grösseren  Theile  nach  verloren  gegangen  sind,  so  hat  man 
aus  den  Berichten  Solcher  zu  schöpfen,  denen  sie  noch  vorlagen. 


12  Alte  Philosophie.     Einleitung. 

Trotz  dem  dass  historische  Arbeiten  über  einzelne  Philosophen  schon 
vor  Sokrates  verfasst  worden  sind ,  nach  Sokrates  aber  keine  ein- 
zige Schule  existirt  hat,  die  nicht  mehrere  dergleichen  Arbeiten  ge- 
liefert hätte ,  und  kaum  eine ,  aus  der  nicht  Abhandlungen  über  die 
verschiedenen  Richtungen  in  der  Philosophie  hervorgegangen  wären, 
so  hilft  uns  dies  doch  wenig,  da  die  meisten  der  Werke,  deren  Ver- 
fasser und  Titel  der  eiserne  Fleiss  eines  Jonsins  ^)  und  Fabricius  ^) 
zusammengestellt  hat,  verloren  gegangen  sind.  Für  uns  sind  die 
ältesten  Quellen :  Plato ,  Aristoteles ,  Cicero,  Seneca,  die  alle  nur 
beiläufig ,  um  die  eigenen  Ansichten  zu  entwickeln ,  die  Anderer  ci- 
tiren ,  und  bei  denen  darum  kaum  auf  Treue  gerechnet  geschweige 
denn  auf  Vollständigkeit  Anspruch  gemacht  werden  darf.  Wäre  die 
Schrift  des  Plutarch  über  die  Meinungen  der  Philosophen  3)  wirklich 
acht ,  so  wäre  sie  jedenfalls  die  älteste  Darstellung  der  verschiede- 
nen Systeme  die  wir  haben.  Jetzt  ist  erwiesen,  dass  sie  nur  ein 
Auszug  ist ,  der  aus  der  ächten  Schrift  des  Plutarch  gemacht  wor- 
den ist,  die  noch  Stohaios  '^)  vor  sich  hatte  und  excerpirte.  So  kön- 
nen die  ziemlich  gleichzeitig  erschienenen  Werke  des  Sextos  Empei- 
rikos^J  und  des  Diogenes  *^)  von  Laerte  vielleicht  älter  sein  als  je- 
nes Pseudoplutarchische  Buch.  Sie  sind  unsere  wichtigsten  Quellen, 
obgleich  beide,  nur  aus  entgegengesetzten  Gründen,  mit  Vorsicht 
zu  gebrauchen  sind.  Die,  einem  Zeitgenossen  von  Beiden,  dem 
Arzte  Galemis,  zugeschriebene  philosophische  Geschichte  ist  nicht 
sein  Werk,  enthält  aber  manche  brauchbare  Notiz.  Wichtig  sind 
auch,  weil  sie  manches  jetzt  Verlorene  noch  besassen,  die  späteren 
Commentatoren  des  Aristoteles^),  so  wie  einige  unter  den  Kirchen- 
vätern*), Die  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Sätze  aus  den 
Schriften  der  Genannten ,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  gemacht  wor- 
den sind  ^),  sind  die  verdiensthchsten  Vorarbeiten  zu  den  Bearbei- 
tungen der  griechischen  Philosophie.  Bei  diesen  selbst,  ist  nament- 
lich in  Deutschland  der  Fortschritt  so  schnell  gewesen,  dass  Arbei- 
ten die  vor  einigen  Jahrzehenden  mit  Recht  gerühmt  wurden  ^^-^^ 
heute  vergessen  sind,  weil  so  viel  bessere i^)  seitdem  erschienen. 

1)  Joannis  Jonsii  Uolsati  de  scriptoribus  historiae  philosophicae  Libri  II.  Francof. 
MDCLIX.  * 

2)  J.  Alb.  Fabricü  Bibliotheca  graeca  Hainb.  1705  seq.  XIV.  4. 

3)  nXouTapx,ou  TC£p\  Ttöv  apeoy.ovTwv  tol?  cpiXoao<pot;  (de  placitis  philosojjhorum) 
ed.  Buddaeus  Basil.  1531.  4.     (Ich  eitire  nach  ed.  C'orsinus  Florentiae  1750.  4.) 

4)  Icoavvou  2T(oßa{ou  ^xXoywv  cpuatxcjv  StaXexTtxwv  xal iQäDcü'j  ß'.ßXia  öuo. 
(Jo.  Stob,  eclogarum  physicarum  et  ethicanim  libri  duo.)  (Ich  eitire  nach  ed.  Heereu 
1792  —  1801   3  Bde.) 

5)  Ss^Toij  'E[jL7i£tp  txoO  TCpö?  Maäv5(J.aTtxoijs  ßtßXJa  evösxa  {Sext.  Emp.  adv. 
Mathematic.   Libri  XI.  ed.  Fabricius  Lips.  1711  Fol.  editio  emendatior   Lips.  1842.  8. 


Quellen  §.   16.     Eintheilung  §.  17.  13 

6)  AioYEvou;  AaepTiou  Ttepl  ß'.tSv  xai  yvojjlwv  y.al  d-:zo(^izyy.dT(ii'i  tcjv  ev  91X050- 
91a  £uSo>c',,u.r,aavT«v  ßtßXta  Si'xa  erschien  zuerst  1475  in  Eom  Fol.  dann  1570  hei  Henr. 
Stephamis.  Dessen  Commeutare,  so  wie  die  des  Casaubonus  und  Menagius,  nahm  Pear- 
son  in  seine  Ausgabe  auf:  London  1664.  Fol.  —  Diese  ist,  fehlerhaft  von  Meibom 
Amst.  1692.  2  Bde.  4.,  viel  besser  von  Hübner  "L^z.  1828  2  Bde.  Text,  2  Bde.  Com- 
mentar,  wieder  abgedruckt.     Ich  citire  nach  ed.  Gahr.  Cobet  Paris.  1850  bei  Didot. 

7)  Vor  Allen  Simiüicius ,  welcher  die  verloren  gegangene  historische  Schrift  des 
Porphyrius  noch  vor  sich  hatte.     Nach  ihm  Joh.  Philoponos. 

8)  Justinus  Martjjr  besonders  in  seiner  Cohortat.  ad  Graecos.  Ich  citire  nach 
der  Ausgabe  von  'Otto  Jenae  1842  seq.  3  Bde.  8.  Clemens  Alexandnnus  besonders 
in  den  2TpcotJ.aT£'.?.  Ich  citire  nach  Si/lbtirg's  Ausgabe.  Paris  1641.  Origeues  beson- 
ders in  der  Schrift  gegen  Celsvs.  Eicsebius  besonders  in  den  15  BB.  euayYsX'.y.-f]?  TrpoTia- 
pacj/CSüT]?  (Praeparatio  evangelica).  Ich  citire  nach  Heinichen  Lpz.  1852  2  Bde.  8. 
Hippohjtus,  besonders  in  dem  ersten  Buche  seines  durch  Miller  wieder  entdeckten  Wer- 
kes, den  flüher  dem  Origenes  zugeschriebeneu  von  Gronovius  aufgefundenen  Philosophu- 
meuis  {Hippolyti  refutationis  omnium  haeresium  libb.  X.  reo.  lat.  vertt.  L.  Duncker  et 
F.  G.  Schneidewin  2  Voll.  Gott.  1856 — 59.  Augustinus.  Vor  Allem  in  seiner  Civitas 
Dei  und  den  Retractationen. 

9)  Henr.  Stephani  Poesis  philosophica  1573.  Fr.  Gedike:  M.  Tullii  Ciceronis 
historia  philosophiae  autiquae,  aliorum  auctorum  locis  illustr.  Berol.  1782.  2te  A.  1808. 
H.  Bitter  et  L.  Preller:  Historia  philosophiae  graeco-romanae  ex  fontium  locis  con- 
texta.  Hamburgi  1838.  3te  A.  Gothae  1864.  Fr.  Guil.  Aug.  Mtdlack  Fragmenta  phi- 
sophorum  graecorum  Parisiis  ed.  Didot.   1860. 

10)  Wüh.  Traug.  Krug  Geschichte  der  Philosophie  alter  Zeit ,  vornehmlich  un- 
ter Griechen  und  Römern.     Lpz.  1815.  II.  A.   1827. 

11)  Chr.  Aug.  Brandis  Handbuch  der  Geschichte  der  griechisch-römischen  Phi- 
losophie 1.  Th.  Berl.  1835  (bis  zu  den  Sophisten)  2.  Th.  1.  Abth.  1844  {Sohrates 
und  Plato)  2.  Abth.  1853.  57  (die  ältere  Akademie  und  Aristoteles).  3.  Th.  1.  Abth. 
(Uebers.  der  Aristotel.  Lehre  und  Erörterung  der  Lehren  seiner  Nachfolger)  1860.  Dess. 
Geschichte  der  Entwicklungen  der  griechischen  Philosophie  und  ihrer  Nachwirkungen 
im  römischen  Reiche.  Erste  grössere  Hälfte  Berlin  1862.  Ed.  Zeller  die  Philoso- 
phie der  Griechen,  eine  Untersuchung  über  Charakter,  Gang  und  Hauptmomente  ih- 
rer Entwicklung.  Erster  Theil  Tübingen  1844  (H.A.  1856).  Zweiter  Theil  f^/S'o/tm«cs, 
Plato,  Aristoteles)  1846  (II.  A.  1859).  Dritter  Theil  (die  Nacharistotelische  Philoso- 
phie) 1852.     CIL  A.   1865.) 

§.  17. 
Daraus ,  dass  das  Räthsel  seines  und  alles  Daseyns  lösen  wol- 
len griechisch  denken  heisst,  folgt  nicht  dass  der  philosophirende 
Geist  sogleich  Griechisches  denke,  oder  sich  in  seinem  über  alles 
Barbarentlium  erhobenen  Griechenthum  erfasse.  Vielmehr  wie  der 
Mensch  nur  dadurch  über  alle  Thierstufen  sich  erhebt,  dass  er  sie 
alle  in  seinem  vormenschlichen  (unreifen)  Zustande  durchläuft, 
so  reift  die  griechische  Philosophie  dem  Ziele,  jenes  Fundamental- 
Problem  (§.  15)  im  griechischen  Geiste  zu  lösen,  so  entgegen,  dass 
sie  auf  die  darin  enthaltene  Frage  zuerst  im.vorgriecliischen  Sinne 
antwortet.  Späteren  Philosophen  erscheinen  die  aus  dieser  Perio- 
de der  Unreife  aus  demselben  Grunde  als  „Träumer",  aus  dem 
wir  das  embryonische  Leben  ein  Traunüeben  zu  nennen  pflegen. 


14  Alte  Philosophie.     Erste  Periode.     (Unreife.) 

Was  für  die  Menschheit  auf  ihren  vorgriechischen  Stufen  Princip  ih- 
res religiösen  und  sittlichen  Seyns  und  Lebens  gewesen  war,  das 
wird  hier  zum  Princip  der  Philosophie  formulirt,  und  auch  wenn 
wirklich  keine  Einwirkungen  je  einer  volksthümlichen  Bildungsstufe 
auf  je  einen  griechischen  Philosophen  Statt  gefunden  hätten,  könnte 
ein  Parallelismus  behauptet  und  begriffen  werden. 

Vgl.  A.  Gladisch  Einleitung  in  das  Verständniss  der  Weltgeschichte.  Erste  Ab- 
theilung ,  die  Pythagoreer  und  die  alteu  Schinesen ,  ziveite  Abth.  die  Eleaten  und 
die  alten  Inder.  Posen  1844.  Dess.  die  Religion  und  die  Philosophie  in  ihrer  weltge- 
schichtlichen Entwicklung  und  Stellung  zu  einander.  Breslau  1852.  Dess.  Empedokles 
und  die  Aegypter,  eine  historische  Untersuchung.  Leipz.  1858  (begründet  und  führt 
weiter  aus,  was  in:  Das  Mysterium  der  Aegyptischen  Pyramiden  und  Obelisken  Halle 
1846  und  in:  Empedokles  und  die  alten  Aegypter  1847  in  Noacks  Jahrb.  für  specul. 
Philos.  angedeutet  war).  Dess.  Herakleitos  und  Zoroaster,  eine  historische  Untersu- 
chung Leipz.  1859  (weitere  Ausführung  dessen,  was  der  Verf.  in  BergTc's  und  Caesar's 
Zeitschr.  für  Alterthumswissensch.  1846  Nr.  121  und  122  und  1848  Nr.  28,  29,  30 
gezeigt  hatte).  Dess.  Anaxagoras  und  die  alten  Israeliten  (in  Niedners  Zeitschr.  für 
histor.  Theol.  1849  Heft  IV.  Nr.  XIV). 


Der  alten  Philosophie  erste  Periode. 

Die  griechische  Philosophie  in  ihrer  Unreife. 

§.  18. 
Wie  überall ,  so  tritt  auch  in  Griechenland  die  Philosophie  her- 
vor, wo  dem  heroischen  Erkämpfen  der  Bedingungen  des  Daseyns 
der  Genuss  desselben ,  der  Arbeit  um  die  Nothdurft  des  Lebens  der 
Luxus  des  künstlerischen  Schaffens  und  des  Denkens,  dem  unbe- 
wussten  Entstehen  der  Sitte  die  durch  Angriffe  dagegen  uothwendig 
gewordene  Formulirung  zum  Gesetz  gefolgt  ist,  kurz  wo  das  unbe- 
fangene Leben  der  Reflexion  Platz  gemacht  hat.  Den  Uebergang 
zur  wirklichen  Philosophie  machen  die  Reflexionen,  die  mehr  nur 
nationalen  Inhalt  haben,  die  Sinnsprüche  und  Sprüchwörter.  Dass 
die  Schöpfer  derselben,  die  Weisen  (Salomone)  Griechenlands,  mei- 
stens auch  als  Gesetzgeber  thätig  waren,  ist  eben  so  erklärlich 
wie  dass  der  unter  ihnen,  dessen  Sinnspruch  die  Aufgabe  aller  Phi- 
losophie enthält,  nicht  nur  zu  ihnen  gezählt  wird,  sondern  als  der 
eigenthche  Anfänger  der  Philosophie  gilt.  Achtung  vor  der  Sieben- 
zahl ,  verbunden  mit  vorwiegender  Neigung  für  Einen  oder  den  An- 
dern hat  in  die  Angabe,  wer  zu  diesen  Weisen  zu  zählen  sey,  Ver- 
schiedenheit gebracht. 


Einleitung    §§.  18  —  20.  15 

§.  19. 

Dazu  dass  nicht  nur  Gesetze  und  Sittensprüclie ,  sondern  Re- 
flexionen über  das  Ganze  des  Daseyns,  und  also  Philosophie,  ent- 
stehe, niuss  das  frische  Daseyn  noch  mehr  ersterben,  der  Verfall 
schon  beginnen.  Sind  die  Bedingungen  dazu  ohnedies  schon  in  Co- 
lonien,  diesen  aus  der  verständigen  Berechnung  hervorgegangenen, 
zu  raschem  Glänze  aufblühenden,  Städten  oder  Staaten,  ganz  be- 
sonders gegeben ,  so  kommt  für  die  griechischen  Colonien  noch  be- 
sonders dies  in  Rechnung ,  dass  ihr  Verkehr  nnt  nicht-griechischen 
Völkern  gerade  bei  ihnen  das  Entstellen  von  solchen  Philosophien 
möglich  machte;,  die  (§.  17)  auf  die  Frage  nach  dem  Räthsel  alles  Da- 
seyns im  vorgriechischen  Geiste  antworten  sollten.  Die  ionischen  Co- 
lonien in  Kleinasien  und  den  Inseln  sind  daher  aus  vielen  Gründen 
die  Wiege  der  Philosophie  geworden ,  von  da  sind  selbst  die  ausge- 
gangen ,  welche  in  anderen  Gegenden  den  Funken  geschlagen  haben, 
aus  dem  die  Flamme  einer  ganz  anderen  Philosophie  geworden  ist, 
als  die  der  drei  Milesier,  die  zuerst  philosophireii  lehrten. 

§.  20. 

Der  Pracht  des  Orients  zugewandt,  kann  der  ionische  Geist, 
wie  er  in  der  Poesie  an  dem  objectiven  Epos,  in  der  Religion  an  den 
dem  Naturcult  zugewandten  Mysterien  seine  Befriedigung  fand,  so 
wo  er  philosophirt  nur  eine  realistische  Naturphilosophie  hervor- 
bringen. Nach  dem  Inhalt  ihrer  Lehre  nennen  wir  die  ersten  grie- 
chischen Philosophen  blosse  oder  reine  Physiologen  und  ver- 
stehen darunter,  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Aristoteles,  die 
welche  das  Räthsel  des  Daseyns  gelöst  meinten,  wenn  der  Urstoff 
angegeben  war,  aus  dessen  Modificationen  Alles  besteht.  Auf  die 
Frage:  was  ist  die  Welt  und  was  ist  der  Mensch?  erfolgt  hier  die 
Antwort:  sie  sind  nur  materieller  Stoft",  eine  Antwort  die  freilich 
mehr  aus  der  Seele  der  Naturvölker  heraus  gesprochen  ist,  als  dass 
sie  dem  Geiste  der  Griechen  entspricht.  Materialistisch  kann  sie 
aber  nicht  genannt  werden,  so  lange  der  Gegensatz  von  Materie 
und  Geist,  Stoff  und  Kraft,  noch  unbekannt  ist.  Es  ist  unbefange- 
ner Hylozoismus. 

I. 

Die  rciuen  Physiologen. 

H.  Ritter  Geschichte  der  ionischen  Philosophie.    Berlin   1821. 

§.21. 
Wo  der  herrschende  Geist  das  Wesen,  nach  dem  er  sucht,  mit 
dem  materiellen  Substrate  gleich  setzt,  dessen  Modificationen  alle 


16        ,  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

Dinge  seyn  sollen,  ist  er  nicht  unbeschränkt  in  der  Wahl  solches 
Urstoffes.  Je  mehr  ein  Stoff  bestimmt  gestaltet  ist,  und  sich  ge- 
wissen Modificationen  entzieht,  um  so  weniger,  je  gestaltloser  und 
modificabler  er  ist,  um  so  mehr  wird  er  dazu  geschickt  seyn.  Da- 
rum wird  das  Flüssige  zum  Urstoff  aller  Dinge  gemacht.  Dasjenige 
Flüssige,  welches  sich  überhaupt  zuerst  als  solches  darstellt,  das 
ferner  welches  dem  Strandbewohner  als  das  mächtigste  aller  Ele- 
mente und  in  den  meteorischen  Erscheinungen  als  der  grössten  Viel- 
gestaltung zugänglich,  das  endlich  welches  dem  zuerst  von  den  My- 
then sich  losreissenden  Geiste  am  verehrungswürdigsten  erscheint, 
ist  das  Wasser,  namentlich  als  Meer.  Dass  also  Thaies,  der  erste 
eigentliche  Philosoph  das  Wasser  zu  dem  Urstoffe ,  oder  Elemente, 
machte,  dessen  Modificationen  alle  Dinge  seyn  sollten,  ist  ganz 
begreiflich,  obwohl  diese  Lehre  dem  Griechen,  der  sich  als  mehr 
und  besser  fühlte  denn  als  verdichtetes  Wasser,  vielleicht  frevel- 
haft und  als  ausländische  Weisheit  vorkommen  mochte. 

§.22. 
A.  Thaies. 
Tlinles,  in  Milet  Ol.  35  geboren,  soll  Ol.  58  noch  gelebt  haben. 
Seine  mathematischen  und  astronomischen  Kenntnisse,  die  er  in 
früh  verlorenen  metrischen  Schriften  niedergelegt  haben  soll,  eben 
so  seine  politische  Scharfsicht,  weisen  auf  eine  verständige  Rich- 
tung. Daher  er  der  Weisen  Einer.  Philosoph  ist  er  indem  er,  zu- 
erst von  Allen,  nach  einem  bleibenden  Urstoffe  sucht,  der  allen 
Dingen  als  das  Substanzielle  zu  Grunde  liegt,  aus  dem  sie  sind  und 
in  das  sie  zurückgehen;  das  Wasser,  das  er  als  dieses  Substrat 
ansieht,  wird  ihm  sogleich  zur  räumlichen  Unterlage  auf  der  die 
Erde,  diese  Hauptsache  des  Alis,  schwimmt.  Ob  die  Bemerkung 
dass  aller  Saame  und  alle  Nahrung  feucht,  oder  ob  theogonische 
Mythen  ihn  zu  seiner  Annahme  gebracht  haben,  war  schon  dem 
Aristoteles  ungewiss.  Spätere  unter  den  Alten  haben  das  Erstere, 
Neuere  das  Zweite  als  gewiss  behauptet,  und  Jenen  ist  auch  das  ein 
Grund  gewesen,  dass  die  Gestirne  vom  verdampfenden  Wasser  sich 
nähren.  Gewiss  falsch  ist  Cicero' s,  von  ihm  selbst  übrigens  zu- 
rückgenommene, Behauptung  dass  noch  ausser  dem  Urstoffe  Tliales 
eine  Weltseele ,  oder  die  Andrer ,  dass  er  einen  allgemeinen  Welt- 
verstand als  Princip  angenommen  habe.  Mit  seinem  unbefangenen 
Hylozoismus  stimmt  es ,  alle  Dinge  als  beseelt ,  oder  Alles  voll  Dä- 
monen und  Götter,  jede  physikalische  Bewegung  als  Zeichen  von 
Leben  anzusehn.  Auch  der  Ausspruch  der  ihm  zugeschrieben  wird, 
dass  zwischen  Leben  und  Sterben  kein  Unterschied  sey,  passt  dazu. 
Wo ,  wie  hier ,  dem  Urstoff  eine  bestimmte  Qualität  zugeschrieben 


I.    Die  reinen  Physiologen.     A.  Thaies.     B.  Anaximandros-     §.  23.  24,  1.  1.    17 

wird,  da  ist  es  conseqiieut,  alle  Unterschiede  als  nur  quantitative 
zu  fassen.  Daher  ist,  was  Arisloteles  von  gewissen  Physiologen 
sagt,  dass  sie  durch  Verdichtung  und  Verdünnung  des  Urstoffes 
Alles  entstehen  Hessen ,  wohl  mit  Recht  von  Späteren  auf  den  Tlia- 
les  bezogen  worden.  • —  Neben  dem  Thaies  wird  öfter  auch  Hippon 
genannt,  wahrscheinlich  ein  Samier  von  Geburt,  dessen  „Feuchtes" 
wohl  von  dem  Wasser  des  T/tales  nicht  verschieden  war.  Der  Um- 
stand allein,  dass  ein  im  Perikleischen  Zeitalter  lebender  Mann  sich 
bei  der  Lehre  des  TIkiIcs  befriedigen  konnte ,  würde  hinreichen  des 
Aristoteles  abfälliges  Urtheil  über  ihn  zu  begründen. 

Die  Belegstellen  für  diesen  §.  liefern  besonders  Diog.  Laert.  Lib.  I  cap.   1  ,    und 
(Piciido-J   Hntarch    de  Plac.   phil.    1 ,   2.  3.  7.  8.  26.     II,   1.  13.  22.  24.  28.     III,   9, 

10.  15.  IV,  12.  Die  aus  anderen  Autoren  finden  sich  ziemlich  vollständig  bei  Preüer 
et  Hitter  1.  c.  1,  §.  14  —  18. 

§.  23. 
Der,  schon  von  Aristoteles  richtig  angedeutete  Grund,  dass 
ein  Stoff,  welcher  so  bestimmter  Natur  ist,  wie  das  Wasser,  durch 
seinen  Gegensatz  gegen  manche  physikalische  Qualitäten  sie  aus- 
schliesse ,  so  dass  sie  unmöglich  aus  ihm  abgeleitet  werden  können, 
dieser  nöthigt  zu  einer  andern  Fassung  des  Principes.  Nicht  dieses 
wird  weggelassen,  dass  es  ein  materieller  Stoff,  sondern  nur  die 
bestimmte,  ausschliessliche,  Qualität.  Wie  des  Thaies  Lehren  Man- 
chen an  die  Homerischen  vom  Okeanos  als  dem  Vater  der  Dinge 
erinnert  haben,  so  ladet  des  zweiten  Milesischen  Philosophen  Theorie 
von  dem  unbestimmten  Urstoffe  dazu  ein,  eine  Anlehnung  an  dasHe- 
siodische  Chaos  zu  vermuthen. 

§.  24. 
B.    Anaviniauilros. 

ScMeiermacTur    Ueber  Anaximandros   von   Milet.      Akademische   Vorlesung    vom 

11.  Nov.  u.  24.  Dec.  1811.     WW.  3te  Abtheil.  2ter  Bd.  p.  171  ff. 

L  Anaximandros^  der  Sohn  des  Pra.viades,  ein  Milesier,  acht 
und  zwanzig  Jahr  jünger  als  Thaies .  ist  schwerlich  wofür  er  ausge- 
geben wird,  ein  Schüler  desselben,  obgleich  er,  wie  seine  Kennt- 
nisse und  Ei-findungen  beweisen,  die  astronomisch -mathematische 
Richtung  mit  ilmi  gemein  hat.  Seine  in  poetischer  Prosa  verfasste 
Schrift  führte  wahrscheinlich  den  Titel  tisqI  g)v6E(og. 

2.  Als  das  Princip,  das  er  zuerst  agy/j  nannte,  sah  er,  weil,  wie 
Aristoteles  bemerkt,  jedes  Bestimmte  ein  Relatives  ist,  das  an,  was 
er  (ineiQov,  nach  Anderen  auch  aögiatov  genannt,  und  stets  dem  £l8o- 
Ttertoi^^hov  entgegengesetzt  hat.  Es  ist  das  bei  allen  Veränderungen 
Unveränderliche  und  darum  Unsterbliche.  Jedenfalls  ist  es  als  ma- 
teriell zu  fassen,  nur  darf  der  Gedanke  eines  todten  Materiellen  noch 

Erdmann,  Gesch.  d.  Phil.  I.  O 


18  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

nicht  zugelassen  werden.  Weil  es ,  wie  das  Chaos  des  Ilcsiod,  nur 
der  Grund  alles  qualitativ  Bestimmten  ist,  dasselbe  potentiell  (se- 
minaUter)  in  sich  enthält,  deswegen  können  Arisfoteles  und  Theo- 
])hrnst ;  mit  Hinweisung  Vivd  Anuxagoriis  und  Empedol.ies,  es  als 
Gemisch  bezeichnen.  Dass  die  Stellen  des  Aristoteles,  wo  er  von 
Solchen  spricht,  die  ein  Mittelwesen  zwischen  Luft  und  Wasser  zum 
Princip  machen,  und  welche  von  vielen  Commentatorcn  oxii  Aiui.vi- 
maiidros  bezogen  werden,  wirklich  auf  ihn  gehen,  hat  Sehlciermaeher 
sehr  unwahrscheinlich  gemacht. 

3.  Bei  einer  qualitätslosen  Ursubstanz  können  niclit,  wie  bei 
Thaies ,  alle  qualitativen  Unterschiede  auf  graduelle,  d.  h.  quantita- 
tive zurückgeführt  werden.  Darum  lehrt  AnaximatuJros  .^  dass  sich 
aus  dem  Unbestimmten  die  qualitativen  Gegensätze  ausscheiden 
{h'dVTiörrixciq  eKKQivea&ai).  An  den  zuerst  hervortretenden  Gegensatz 
des  Kalten  und  Warmen  schliesst  sich  erst  später  der  des  Trocknen 
und  Feuchten.  Schlelcrmuchers  scharfsinnige  Hypothese ,  dass  vor 
dem  letzteren  auf  die  eine  Seite  das  ungeschiedene  Warme  (Feuer- 
Luft)  zu  stehen  kommt,  das  vielleicht  Aristoteles  im  Sinne  hat, 
wenn  er  von  einem  Mittelwesen  zwischen  Luft  und  Feuer  spricht, 
auf  die  andere  Seite  aber  das  ungeschiedene  Kalte  (Erde -Wasser) 
welches  vielleicht  die  Tcgcotr}  vyQaala  ist,  als  deren  Ueberbleibsel  (nach 
ausgeschiedener  Erde)  Annximundros  das  Meer  bezeichnet  haben 
soll,  diese  gewinnt  noch  mehr  Wahrscheinhchkeit  durch  die  Art 
wie  derselbe  sich  die  weitere  Entwicklung  dachte.  Indem  sich  näm- 
lich die  cylinderförmige  Erde,  als  das  Centrum,  vom  übrigen  All 
absondert,  bildet  dieses  ihr  gegenüber  eine  warme  Sphäre.  Die 
Zusammenfilzungen  dieser  feurigen  Luft  sind  die  Gestirne,  die  im 
Gegensatz  gegen  das  ewige  än.HQov  die  gewordenen,  oder  auch 
himmlischen ,  Götter  genannt  werden.  (Nach  anderen  Nachrichten 
soll  die  platte  Erdscheibe  von  dem  Strome  des  Oceans  umflossen 
seyn,  dessen  jenseitiges  Ufer  durch  den  Rand  der  Himmels-Halb- 
kugel  gebildet  wird.  Diese  Halbkugel  besteht  wie  Baumrinde  aus 
undurchsichtigen  Schichten,  durch  deren  Löcher  das  Sonnen-,  Mond- 
und  Steruenlicht  fällt  wenn  sie  sich  nicht,  wie  in  den  Finsternissen, 
verstopfen.)  Durch  die  Einwirkung  des  warmen  Umgebenden  auf 
den  Erdschlamm  entstehen  in  diesem  Blasen ,  aus  welchen  die  or- 
ganischen Geschöpfe  und  in  deren  weiterer  Entwicklung  endlich 
Menschen  entstehn,  welche  daher  ursprünglich  als  Fische  gelebt 
haben.  Wie  alle  Dinge  aus  dem  Unbestimmten  hervorgehn,  so  auch 
in  dasselbe  zurück,  „Strafe  gebend  für  die  Ungerechtigkeit  nach 
der  Ordnung  der  Zeit",  was  mit  Schleiermacher  auf  ein  periodisches 
Ausgleichen  des  einseitig  sich  Vordrängens  eines  der  Gegensätze 


I.  Die  reinen  Physiologen.    B.  Aiiaximandros.    C.  Anaximenes.     §.  25.  26,  l.    19 

ZU  beziehen,  allerdings  sehr  nahe  liegt.  Uebrigens  scheint  Annxi- 
mdvdi'os  viele  solcher  Aus-  und  Rückgänge  angenommen  zu  haben, 
so  dass  die  Vielheit  der  Welten,  die  er  gelehrt  haben  soll,  viel- 
leicht eine  successive  war.  Jede  dieser  Welten  ist ,  verglichen  mit 
dem  cicp&aQxöv,  ein  vergänglicher  Gott. 

Aristot.  Phys.  I.  4.  und  Sim^lic.  ad  Phys.  besonders  fol.  G.  32.  33.  Liog.  Laert. 
II.  1.  Plnt.  Plac.  phil.  I,  3.  7.  U,  15.  16.  20.  21.  22.  24.  25.  28.  lU,  3.  7.  10. 
16.     Y.  19.     Stob.  Ecd.  I,  p.  292.  294.  496.     Ritter  et  Pt-eUer  §.  51  —  57. 

Der  Vortheil,  welchen  des  Amiximdiithos  Lehre  gewährt,  dass 
zu  seinem  Princip  das  Trockne  und  Warme  in  nicht  feindhcherem 
Verhältniss  steht  als  das  Kalte  und  Feuchte,  wird  durch  den  Xach- 
theil  aufgewoge«,  dass  aus  dem  Qualitätslosen  ein  Qualitatives 
eigentlich  nicht  abzuleiten  ist.  Er  bildet  darum  die  entgegenge- 
setzte Einseitigkeit  zu  Thaies,  über  den  er  doch  auch  hinausgeht, 
da  bei  ihm  die  Urfeuchte  schon  das  Secundäre  war.  Indem  Ann- 
.riDinvfh'os  den  bequemen  Ausdruck  des  Hervorgehens  oder  Aus- 
scheidens einführt,  hat  er  eigentlich  die  qualitative  Bestimmtheit, 
die  er  eben  aus  seinem  Principe  ausschloss,  durch  eine  Hinterthür 
wieder  hineingelassen.  Wer  das,  was  ihm  unbewusst  geschieht, 
mit  Bewusstseyn  thut,  nämlich  dem  ÜTtsLQoi'  eine  qualitative  Be- 
stimmtheit beifügt,  wird,  weil  er  den  Aiiaximandros  versteht,  über 
demselben  stehn  und  zugleich  gewisser  Massen  zu  dem  Standpunkt 
des  Tlialcs  zurückkehren.  Diess  heisst  natürlich  nicht,  dass  er 
dem  Principe  dieselbe  Qualität  beilegen  wird,  wie  Tliales ,  denn 
diese  war  ja  eine  ausschliessliche  gewesen.  Sondern  indem  der 
jüngere  Genosse  des  Thaies  und  Aiiaximandros  als  ürstoff  aller 
Dinge  die  unendliche  Luft  setzt,  hat  er  die  Einseitigkeit  Beider 
überwunden,  indem  sein  Princip  nicht  etwa  die  Summe,  sondern 
die  negative  Einheit  der  ihrigen  ist. 

§.  26. 
C.    Aua\iinenes. 

1.  Anaximenes^  des  Enri/strafos  Sohn,  aus  Milet ,  kann  frei- 
lich nicht  Ol.  63  geboren  und  zur  Zeit  der  Eroberung  von  Sardes 
gestorben  seyn,  wie  Diogenes  nach  Apollodor  erzählt.  Die  Zeit- 
bestimmung durch  ein  historisches  Factum  lässt  weniger  einen 
Schreibefehler  vermuthen,  als  die  durch  eine  Zahl,  aber  auch  sie 
ist  unbestimmt,  weil  sowol  die  Eroberung  durch  Ki/ros  als  die 
durch  die  Griechen  gemeint  seyn  kann.  Wahrscheinlich  ist  Ana- 
ximenes ein  Zeitgenosse  des  Thaies  und  Aiiaximandros.  Vom 
Letzteren  wird  er  Schüler  genannt,  dem  Ersteren  nähert  er  sich 
durch  seine  Lehre;   vielleicht  hat  er  Beide  gekaimt  und  gehört, 

2* 


20  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

wocliircli  die  mittlere  Stellung  zwischen  ihnen  auch  genetisch  erklärt 
wäre.  Seine  im  ionischen  Dialekt  verfasste  Schrift  hat  TLeophrast 
noch  gekannt  und  in  einem  eignen  Aufsatz  besprochen.  Aus  ihm 
und  dem  Aristoteles  scheinen  alle  Späteren  ihre  Nachrichten  ge- 
schöpft zu  haben.  — 

2.  Auch  Amiximeiies  sucht  nach  einem  allem  Bestimmten  zu 
Grunde  liegenden,  darum  allgemeinen  und  unendlichen,  Principe, 
er  will  es  aber  zugleich  qualitativ  bestimmt  haben.  Wenn  er  nun 
nicht  wie  Thaies  vom  Wasser,  sondern  von  der  Luft  sagt  sie  sey 
Princip  und  sey  das  Unendliche,  aus  welchem  Alles  hervorgehe, 
so  bewog  ihn  dazu  vielleicht  die  Betrachtung,  dass  das  Wasser 
manche  Quahtäten  nicht  annehmen  kann,  gewiss  aber  die,  dass 
der  belebende  Athem  den  er  mit  der  Seele  als  Eins  ansieht,  und 
dass  der  das  All  umgebende  Himmel,  Luft  ist.  Wie  bei  Tluiles 
das  Wasser,  so  trägt  bei  ihm  die  Luft  die,  wie  ein  Blatt  in  ihr 
schwebende,  Erde.  Die  Ableitung  des  Einzelnen  betreffend,  so 
steht  fest,  dass  er  Alles  durch  Verdichtung  und  Verdünnung  ent- 
stehn  lässt,  und  wahrscheinlich  der  Erste  war  der  bei  dieser  Ab- 
leitung ins  Detail  ging.  Wenn  er  aber  zugleich  den  Gegensatz 
des  Kalten  und  Warmen  einführt,  so  erscheint  er  auch  hierin  wie- 
der als  der,  welcher  die  Ableitungsweise  des  Tludes  mit  der  des 
Anaximandros  vermittelt,  eine  Vermittelung,  die  sich  bei  ihm  leicht 
dadurch  macht,  dass  ja  das  Warm-  und  Kalt -Hauchen  nur  ein 
Verdünnen  oder  Verdichten  des  Athems  sey.  Der,  wahrscheinli- 
cheren, Nachricht  dass  er  aus  der  Luft  Wolken,  aus  diesen  Was- 
ser, aus  diesem,  durch  Niederschläge,  Erde  habe  entstehen  lassen, 
steht  eine  andere  gegenüber,  nach  w^elcher  die  Erde  das  erste 
Product  war.  Vielleicht  ist  in  der  letzteren  von  dem  Erdkörper, 
der  alle  Elemente  enthält,  in  der  ersteren  von  dem  Erdelement 
die  Piede.  Der  Erdkörper  bildet  den  Mittelpunkt  der  Welt,  und 
ihm  sind  die  sich  um  ihn  bewegenden,  aus  Erde  und  Feuer  be- 
stehenden Gestirne  entsprungen.  Was  an  und  für  sich  wahrschein- 
lich, wird  durch  ausdrückliche  Zeugnisse  bestätigt,  dass  Alles 
wieder  in  Luft  zurückkehren  solle. 

Diog.  Laert.  11,  2.     Plut.  plac.  phil.  I,  3.     II,   11.    14.  16.   19.  22.  23.  29.    III, 
4.  5.  10.  15.     Ritter  et  Preller  §.  19  —  24. 

§•  27. 
Mit  dem  Anaximenes  schliesst  sich  eine  Gruppe  von  Erschei- 
nungen zu  einem  Kreise  ab,  da  die  Thesis  „qualitativ",  die  Anti- 
thesis  „qualitätslos"  und  die  Synthesis  „doch  qualitativ",  keine  wei- 
tere Fortbildung  erheischt  noch  zulässt.  Materiell  ist  auch  wirklich 
in  der  rein  physiologischen  Ptichtung  nichts  mehr  gethan.    Dagegen 


I.    Die  reinen  Physiologen.     D.  Diogenes  ApoUoniates.     §.  28,    12.         21 

tritt  ein  Mann  auf,  der  die  stillschweigenden  Voraussetzungen, 
von  welchen  die  Milesier  ausgingen,  weil  sie  von  einem  andern 
Standpunkte  aus  bestritten  wurden,  zu  beweisen  sucht  und  also, 
wie  dies  immer  durch  die  Yertheidiger  einer  Ansicht  geschieht, 
die  Lehre  der  Physiologen  formell  fördert.  Da  der  Standpunkt, 
auf  welchem  die  Voraussetzungen  der  milesischen  Philosophen,  die 
Einheit  und  die  Materialität  des  Principes,  bekämpft  werden,  höher 
steht  als  der  ihrige,  so  kann  Biogenes  von  Apollonia  als  Pieactio- 
när  bezeichnet  werden.  Wie  Alle,  die  eine  überwundene  Sache 
vertheidigen ,  zeigt  er  in  seinen  Leistungen  eine  grosse  subjective 
Bedeutung,  ohne  dass  durch  ihn  die  Sache  objectiv  sehr  gefördert 
wurde.  Dass  Schleiermacher  ihn  mit  solcher  Liebe  behandelt, 
während  IJcgel  ihn  nicht  einmal  erwähnt,  findet  hierin  seine  Er- 
klärung. 

§•  28. 
D.    Diogenes  ApoUoniates. 

Schleiermacher  L'eber  Diogenes  von  Apollonia.  Akad.  Vorl.  1811.  WW.  HI, 
2.  p.  149.  W.  Schorn  Anaxogorae  Clazomeuii  et  Diogenis  Apolloniatis  fragmenta  etc. 
Bonuae  1829.     Fr.  Panzci-hictcr  Diogenes  ApoUoniates  etc.    Lips.  1830. 

1.  Diogenes  ist  zu  Apollonia  auf  Kreta  geboren,  also  dorischen 
Stammes,  hat  aber,  wie  Alle  die  m^l  <pvamg  schrieben,  sich  des 
ionischen  Dialekts  bedient.  Seine  schwerlich  abzuleugnende  Gleich- 
zeitigkeit mit  dem  Anaxagorus  ist  nur  durch  sehr  gezwungene 
Annahmen  damit  zu  vereinigen ,  dass  er  den  Anaxivienns  gehört 
habe.  Wahrscheinlich  hat  er  seine  Lehre  durch  Ueberlieferung 
kennen  gelernt,  so  al>er  auch  die  des  Anaximandros.  Das  Werk, 
aus  welchem  Fragmente  zu  uns  herübergekommen  sind,  war  viel- 
leicht sein  einziges,  und  die  übrigen  die  angeführt  werden  nur 
Unterabtheilungen  desselben. 

2.  Wie  seine  historische  Stellung  dies  verlangt,  fordert  Dio- 
genes eine  grössere  formelle  Vollendung  der  Lehre  durch  Aufstel- 
lung eines  festen  Princips  und  einfache  und  würdige  Darstellung. 
Darum  versucht  er  erstlich  zu  beweisen,  was  bis  dahin  stillschwei- 
gende Voraussetzung  gewesen  war,  dass  der  Urstoff  nur  einer  und 
Alles  nur  Modification  dieses  Einen  sey.  Wäre  dem  nicht  so,  so 
gäbe  es  keine  Mischung  und  ül)ei:haupt  kein  Verhältniss  Verschie- 
dener, es  gäbe  ferner  keine  Entwicklung  und  keinen  Uebergang, 
da  alles  dies  nur  denkbar  ist  wenn  Eines  (ein  Bleibendes)  über- 
geht. Gibt  es  aber  nur  einen  einzigen  Grundstoff,  so  ist  eine 
unmittelbare  Folgerung  daraus,  dass  es  kein  eigentliches  Werden, 
sondern  nur  Verändrung  gibt.  Zweitens  ist  Diogenes  mit  Bewusst- 
seyn,   was  seine  Vorgänger  unbewusst  gewesen  waren,  Leugner 


22  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

alles  Immateriellen,  Nicht  nur,  dass  er  seinen  Urstoff,  dessen 
Modificationen  alle  Dinge  sind,  ausdrücklich  auixa  nennt,  son- 
dern er  weiss  bereits,  dass  ein  Unterschied  zwischen  Materie 
und  Geist  gemacht  wird,  und  offenbar  im  Gegensatz  zu  sol- 
chem Dualismus  behauptet  er,  dass  der  Verstand,  der  ihm  mit 
der  Lebenskraft  und  Empfindung  zusanmienfällt ,  der  Luft  imma- 
nent, und  sie  nicht  ohne  ihn  zu  denken  sey.  Darum  empfange 
auch  Alles,  selbst  die  unorganischen  Wesen,  vorzüglich  aber  der 
Mensch,  durch's  Athmen  Leben  und  Erkenntniss.  Physiologische 
Instanzen,  so  die  schaumartige  Natur  des  Saamens,  sollen  dazu 
dienen,  die  belebende  Natur  der  Luft  zu  beweisen.  Dieser  Versuch, 
gegen  den  Dualismus  den  frühern  Monismus  festzuhalten,  macht 
aus  dem  unbefangnen  Hylozoisraus  eine  materiahstische  Lehre. 

3.  Wie  Anaximandros  leitet  auch  Diogenes  das  Einzelne 
vermöge  des  Gegensatzes  vom  Kalten  und  Warmen  ab,  wie  Ana- 
x'uiieves  identificirt  er  ihn  mit  dem  des  Dichten  und  Dünnen,  setzt 
dann  aber  beide  noch  dem  des  Schweren  und  Leichten  gleich.  Da 
er  dem  Annximnndros  entlehnt  haben  soll,  dass  das  Meer  ein 
„Ueberbleibsel"  sey,  so  ist  die  Nachricht,  dass  er  ein  Mittel wesen 
zwischen  Luft  und  Feuer  zum  Principe  gemacht  habe,  wohl  dahin 
zu  modificiren,  dass  dieses  Mittelwesen,  gerade  wie  bei  Aiutxi- 
incmdros ,  schon  ein  Secundäres  war.  Durch  Trennung  des  Leich- 
ten und  Schweren  entsteht  die  Erde  und  die  Gestirne,  deren  kreis- 
förmige Bewegung  eine  Folge  der  Wärme  seyn  soll.  Indem  dieselben 
sich  von  den  Ausdünstungen  der  Erde  nähren,  wird  sie  immer 
trockner  und  geht  der  völligen  Vertrocknung  entgegen.  Was  er 
dann  ferner  von  der  bimsteiuartigen  Natur  der  Gestirne  gelehrt  hat, 
ist  wohl  dem  Empedohles  oder  Anaxayoiuis  abgeborgt,  und  hat  viel- 
leicht mit  dazu  beigetragen,  ihm  den  Vorwurf  des  Atheismus  zu- 
zuziehn.  Alle  einzelnen  Dinge  haben  au  der  Luft  Theil,  aber  jedes 
auf  verschiedene  Weise  und  je  nach  dem  verschiedenen  Grade  der 
Wärme,  Trockenheit  u.  s.  w.  Die  Luft  selbst  scheint  nicht  nur 
verschiedene  Wärme-  sondern  auch  Dichtigkeitsgrade  bei  ihm  zu 
haben.  Die  einzelnen  menschlichen  Seelen  sind  auch  nur  durch 
ihre  verschiedene  Theilnahme  an  dem  Lebens-  und  Erkenntniss- 
principe  verschieden.  Ueberhaupt  hat  Diogenes,  wofür  auch  seine 
Untersuchungen  über  die  Adern  sprechen,  besonders  das  Leben- 
dige ,  vor  Allem  den  Menschen,  zum  Gegenstand  seiner  Forschung 
gemacht. 

Diog.  Laert.  IX,  9.  Phd.  plac.  phil.  II,  1.  8.  13.  23.  32.  III,  2.  IV,  5.  16. 
18.  V,  15.  20.  23.  Simplic.  ad  Phys.  fol.  32.  33.  Bitter  et  Prdler  §.  25  —  34. 
Am  Vollständigsten  findet  sich  Alles  lieisammen  bei  Panzerhieter  1.  c. 


II.    Die  reinen  Metaphysiker.     §.  29.  30.  23 

§.   29. 

Ist  Philosophie  Selbstverständniss  des  Geistes,  so  ist  der 
Nachweis,  dass  ein  philosophisches  System  sich  selbst  nicht  ver- 
steht, auch  ein  Beweis  dass  es  nicht  ganz  (d.  h.  nicht  die  voll- 
endete) Philosophie,  und  also  darüber  hinauszugehen  ist.  So  aber 
verhält  sich's  mit  den  reinen  Physiologen.  Verstünden  sie  sich 
selbst,  so  würden  sie  sich  eingestehn,  dass  nicht  an  dem  Wasser 
oder  der  Luft  ihnen  liegt,  sondern  an  dem,  was  das  Bleibende, 
Substanzielle  und  Wesentliche  in  Allem  ist,  und  dass  nicht  dies 
sie  über  das  Pflanzliche  und  Thierische  hinaustreibt,  dass  es  thie- 
risch  und  pflanzlich,  sondern  dass  es  wechselt  und  blosse  Erschei- 
nung ist.  Eigentlich  also  handelt  es  sich  gar  nicht  um  sinnlich 
percipirbare  Stoffe,  sondern  das  Interesse  dreht  sich  um  Gedan- 
kenbestimmungen, Kategorien.  Dieses  zu  finden  verhindert  den 
Geist  die  paradiesische  Pracht  des  Orientes,  in  der  die  Aussen- 
welt  den  Menschen  so  beschäftigt,  dass  selbst  der,  welcher  an- 
fängt zu  reflectiren,  wie  Diogenes,  doch  immer  wieder  meint,  er 
interessire  sich  ftir  die  warme  Luft.  Die  Abenddämmerung  der 
occidentalischen  Welt  dagegen ,  ladet  den  Geist  zum  'Grübeln  über 
sich  selbst  ein,  in  dem  er  die  Entdeckung  macht,  dass  nicht,  was 
dem  Sinne  als  das  Modificabelste  sich  zeigt,  das  Räthsel  alles  Da- 
seyns  löst ,  sondern  nur  Solches ,  was  durch  das  Denken  gefunden 
wird.  In  den  Colonien  Grossgriechenlands,  welche,  sey  auch  ihr 
Ursprung  ein  andrer,  mehr  oder  minder  alle  dorischen  Geist  ath- 
men,  treten  die  reinen  Metaphysiker  auf,  welche  zu  den  reinen 
oder  blossen  Physiologen  den  diametralen  Gegensatz  bilden.  Su- 
chen diese  aus  materiellem  Stoße  Alles  abzuleiten ,  so  jene  Alles 
aus  Gedankenbestimmungen  zu  deduciren.  Den  Bruch  mit  der 
physiologischen  Anschauung  bezeichnet  der  Umstand ,  dass  die  er- 
sten Metaphysiker  lonier  sind,  welche  aber  aus  dem  Lande  der 
Naturphilosophie  auswandern. 

II. 
Die  rc'iueu  Metaphysiker. 

§•  .30. 
Welche  Gedankenbestimmungen  zuerst  als  die  wesentlichen  und 
Alles  entscheidenden  hervortreten  müssen,  ist  durch  die  bisherige 
Entwicklung  der  Philosophie  vorgezeichnet.  Ist  alle  Maimigfaltigkeit 
durch  Verdichtung  und  Verdünnung  erklärt ,  so  muss  der  Geist,  wo 
er  sich  über  sich  selbst  besinnt,  zu  dem  Resultate  kommen,  dass 
ihm  alle  Wesensunterschiede  zu  Unterschieden  des  Einfacheren  und 


24  Alte  Philosophie.     Erste  Periode.     (Unreife.) 

Vielfachem,  des  Minder  und  Mehr,  das  heisst  zu  Zahl -Unterschie- 
den geworden  sind.  Sind  aber  die  Unterschiede  des  Wesens  nur 
solche  der  Zahl,  so  liegt  auch  die  Consequenz  nahe:  dass  Wesen 
und  Zahl  dasselbe  sei.  Wenn  noch  das,  so  viel  weiter  fortgeschrit- 
tene, Denken  des  P/ato  das  Verhiiltiiiss  des  Substanziellen  und  Ac- 
cidentellen  gern  als  das  des  Einen  und  Vielen  bezeichnet,  so  ist  es 
erklärlich,  dass,  wo  der  Flug  des  metaphysischen  Denkens  erst  be- 
ginnt, diese  quantitativen  Kategorien  ganz  auszureichen  scheinen. 
Bilden  sie  doch,  wie  Philosophen  des  Alterthums  und  der  Neuzeit 
richtig  bemerkt  haben,  gleichsam  ein  Mittleres  zwischen  dem  Physi- 
schen vmd  Logischen,  und  geben  so  das  bequemste  Mittel,  den  gros- 
sen Schritt  von  diesem  zu  jenem,  durch  Theilung  zu  erleichtern.  Die 
mathematische  Schule  des  Pytluiyorus  zeigt  deshalb  die  ersten  An- 
fänge der  Metaphysik. 

A. 
Die  Pythagoreer. 

§.31. 
a.    Geschichtliches. 

Ed.  Roth  Geschichte  unserer  abendländischen  Philosophie  etc.     Mannheim    1846. 
1858.     2.  Bd.    p.  261  fT. 

Der  unzuverlässige  Charakter,  den  die  drei  aus  dem  Alterthum 
zu  uns  gekommenen  Biographien  des  Pythagoras  haben,  die  Wider- 
sprüche weiter,  die  gegen  sie  von  mehr  nüchternen  Berichterstattern 
erhoben  worden  sind,  haben  kritische  Untersuchungen  nöthig  ge- 
macht, welche,  je  nachdem  der  Kritiker  für  die  Originalität  alles 
Griechischen  schwiirmte,  oder  aber  Indo-  oder  Aegyptomane  war, 
zu  entgegengesetzten  Resultaten  geführt  haben.  In  den  letzten  Jahr- 
zehenden war  die  erstere  Einseitigkeit  die  vorherrschende,  darum  er- 
scheint die  entgegengesetzte,  wie  sie  z.  B.  von  Böth  repräsentirt 
wird,  heut  zu  Tage  als  Neuerung,  was  sie  in  früherer  Zeit  nicht 
war.  Darüber  dass  Pythagoras  als  Sohn  des  Steinschneiders  M7ie- 
sarchos  in  Samos  geboren  und  dass  er  ein  Nachkomme  tyrrhenischer 
Pelasger  gewesen  ist,  was  vielleicht  seine  Neigung  für  mystische 
Gebräuche  erklärt,  darüber  sind  Alle  einig.  Dagegen  lassen  die 
Meisten  unter  den  Neueren  ihn  Ol.  49,  d.  h.  zwischen  584  und  580 
V.  Chr.  geboren  werden,  in  seinem  vierzigsten  Jahre  sein  Vaterland 
verlassen  und  nach  zwölfjährigen  Reisen  in  lonien,  Phönicien  und 
Aegypten ,  sich  in  seinem  52.  Jahre  in  Krotoii  in  Grossgriechenland 
niederlassen  und  seine  Schule  gründen,  während  liölh ,  besonders 
dem  Jamhlichos  folgend,  als  sein  Geburtsjahr  569  v.  Chr.  angibt, 


n.    Die  reinen  Metaphysikev.     A.    Pythagoreer.    a.    Gescliichtliclies.    §.  31.        25 

und  behauptet  er  habe  bereits  in  seinem  18.  Jahre  Samos  verlassen, 
dann  zwei  Jahre  lang  den  Unterricht  des  Plierchjdes  empfangen, 
zwei  weitere  auf  Keisen  in  Phönicien,  dann  zwei  und  zwanzig  in 
Aegypten,  endlich  zwölf  in  Babylon  zugebracht,  wohin  ihn  Knmhyses 
mit  anderen  Aegyptischen  Gefangenen  geführt  habe.  Erst  dann,  also 
in  seinem  56.  Jahre  sei  er  nach  Samos  zurückgekehrt,  in  seinem  60. 
nach  Grossgriechenland  gekommen,  wo  er  20  Jahre  lang  in  Kroton, 
dann  von  dort  vertrieben  in  Tarent  und  Metapont  noch  19  Jahre 
gelebt  habe  und  in  seinem  99.  Jahre  gestorben  sei.  Ganz  eben  so 
wie  über  die  Chronologie,  so  gehen  auch  über  die  eigentlichen  Quel- 
len der  Pythagoreischen  Lehre  die  Ansichten  auseinander.  Wäh- 
rend die  Neueren  meistens  die  Nachricht  des  Alterthums,  dass  Py- 
thagoras  ein  Schüler  des  AncLrimandros  und  Phcrclnjdes  gewesen 
sei,  nur  kurz  berühren  und  das  Erstere  Avegen  des  anderen  Charak- 
ters der  Lehre  unwahrscheinlich  das  Andere  nichtssagend  nennen, 
weil  wir  von  der  Lehre  des  Pherckudes  Nichts  wissen,  legt  Böth 
auf  Beides  ein  grosses  Gewicht.  Die  Lehre  des  Pherelydes  ist  nach 
ihm  die  ganz  unveränderte  Aegyptische  Lehre,  nach  welcher  die 
Gottheit  als  die  Viereinigkeit  des  Geistes,  des  ürstoffes,  der  Zeit, 
und  des  Raumes  gefasst,  aus  dieser  in  Weise  der  Emanation  der 
Ursprung  des  Welt-Ei's  abgeleitet  sei  u.  s.  w.  Mit  dieser  von  Phere- 
kydcs  ganz  unwissenschaftlich  vorgetragenen  Lehre  bekannt  gewor- 
den, habe  Pythagorns  dann  andere  lonier,  z.  B.  den  Ana.rimandros, 
dessen  Lehre  gleichfalls  ägyptischen  Ursprungs,  kennen  gelernt  und 
sei  dann  in  Aegypten  selbst  so  gründlich  mit  der  Weisheit  dieses 
Landes  bekannt  geworden,  dass  er  als  der  Hauptcanal  anzusehen 
sei,  durch  den  sie  nach  Griechenland  gelangte.  Theologie  und  Geo- 
metrie ist  es,  die  Pijthagoras  in  Aegypten  gelernt  haben  soll,  in  die 
Arithmetik  dagegen,  in  der  er  vielleicht  noch  grösser  als  in  der  Geo- 
metrie, sollen  ihn  die  Chaldäer  eingeweiht  haben,  die  er  in  Baby- 
lon traf.  —  Das  Alterthum  berichtet  zu  einstimmig  von  einem  in  ein 
eigenthümliches  Geheimniss  gehüllten  Bunde,  zu  dem  die  weiter 
fortgeschrittenen  Schüler  des  Pyllxigords  gehörten,  als  dass  das  Da- 
seyn  eines  solchen  bezweifelt  werden  könnte.  Während  die  Meisten 
in  der  neuern  Zeit  diesem  Bunde  eine  religiöse,  vielleicht  auch  po- 
litische, durchaus  aber  keine  wissenschaftliche  Bedeutung  zuschrei- 
ben, weicht  auch  hierin  Piöth  von  ihnen  ab.  Diejenigen,  welche  nicht 
nui'  den  öffentlichen  Vorträgen  des  Pythagonts  über  die  Regeln  der 
Sittlichkeit,  über  Unsterblichkeit  u.  s.  w.  beizuwohnen  pflegten  (Akus- 
matiker),  sondern  wirklich  seiner  Schule  angehörten,  wurden,  nach 
vorausgegangener  moralischer  und  intellectueller  Prüfung  aufgenom- 
men, und  zuerst,  besonders  durch  Musik  und  Mathematik  (daher 


26  Alte  Philosophie.     Erste  Periode.     (Unreife.) 

Mathematiker),  streng  geschult.  Die  unter  den  Schülern,  welche 
sich  bewährten  (Mancher  ward  förmlich  ausgeschlossen)  wurden  mit 
religiösen  Weihen  für  mündig  erklärt,  und  mit  den  eigentlich  tief- 
sten Lehren  bekannt  gemacht,  welche  mit  der  Aegyptischen  Theo- 
logie und  Kosmologie  übereinstimmten,  die  nur  in  sofern  modificirt 
wurden,  dass  hier  Dionysos  an  die  Stelle  des  Os'iris  trat  u.  s.  w. 
Weil  nun  Einige  unter  den  Schülern  mit  dieser  Dogmatik  nie  be- 
kannt gemacht  wurden,  die  doch  so  weit  in  die  Lehre  des  Pythago- 
ras  eingedrungen  waren,  dass  sie  erkannten:  Alles,  was  sie  wuss- 
ten,  sei  eigentlich  nur  das  Vorspiel  zu  der  eigentlichen  Wissen- 
schaft, so  war  es  möghch,  dass  diese  nun  sich  nach  einer  andern 
Metaphysik  umsahen,  die  sie  mit  der  in  den  unteren  Classen  gelern- 
ten Zahleiilehre  verbinden  könnten.  So  sey  es  gekommen,  dass  aus 
den  mathematisch  geschulten  Jüngern  des  Pythagoras  erstlich  ächte 
Schüler  desselben  hervorgingen  {IHM  nennt  sie  Pythagoriker)  deren 
Ehrfurcht  vor  den  mitgetheilten  Lehren  sie  verhinderte  das,  was  sie 
in  oder  nach  den  Lehrstunden  niedergeschrieben  hatten ,  zu  veröf- 
fentlichen, so  dass  es  eben  darum  bis  zu  den  Xeuplatonikern  verbor- 
gen blieb.  Zweitens  aber  sey  namentlich  durch  den  aus  der  Schule 
gestossenen  Uippasos,  der  mit  der  Pythagoreischen  Zahlenlehre  die 
dualistische  Metaphysik  Zorousters  verschmolzen  habe,  welcher  De- 
inoledcs  der  frühere  Leibarzt  am  Persischen  Hofe,  und  überhaupt 
die  krotoniatische  Medicinerschule  anhing,  jene  Metaphysik  der  un- 
ächten  Schüler  des  Pythagoras  {Roth  nennt  sie  Pythagoreer)  ent- 
standen ,  welche  zuerst  die  Lehre  von  den  Gegensätzen,  endlich  so- 
gar die  abgeschmackte  Theorie,  dass  die  Zahlen  das  Wesen  der  Din- 
ge ausmachen,  unter  des  Pythagoras  Namen  in  Cours  gebracht  hät- 
ten. Zu  diesen  Letzteren  gehöre  nun  vor  Allen  Pldlolaos.  Da  nun 
die  neuere  Kritik  die  uns  überlieferten  Fragmente  des  Timaios,  Okel- 
los  Lculianos,  Eiinjtos,  ArchyUis  für  unächt  erklärt  hat  und  ausser 
den  unbedeutenden  iqvaa  l'm]  nur  die  von  Böchh  gesammelten  Frag- 
mente des  PhiloJaos  als  acht  gelten  lässt,  da  ferner  Plalo  seine 
Zahlen-  und  Ideenlehre  ganz  dem  Philolaos  dankt,  so  sei  es  erklär- 
lich wamm  die  Neuzeit  als  Lehre  des  Pythagoras  und  der  Pytha- 
goriker ansieht,  was  Pythagoreer  und  Platoniker  daraus  gemacht 
haben.  Hätte  man  nicht  die  Zeugnisse  des  Alterthuras  verachtet, 
welche  den  Pythagoras  seine  Weisheit  aus  Aegypten  holen  lassen, 
und  hätte  man  die  Lehre  Aegj^otens  besser  erkannt,  so  hätte  man 
schon  früher  einsehn  können,  dass  wir  uns  hinsichthch  des  Mangels 
an  Quellen  gar  nicht  zu  beklagen  haben,  indem  die  s.  g.  Orphica 
von  Pythagoras  selbst  Geschriebenes  enthalten,  namentlich  den 
lE^og  Xöyog  für  die  tiefer  eingeweihten  Schüler.  —  Selbst  wenn,  was 


II.    Die  reinen  Metaphysiker.    A.    Pythagoreer.    b.    Die  Lehre.    §.  31,  1.       27 

sich  schwerlich  behaupten  lässt,  Böfh  in  Allem  was  er  sagt  Recht 
hätte,  so  würde  doch  in  Folge  seiner  Untersuchungen,  in  den  bishe- 
rigen Darstellungen  der  Geschichte  der  griechischen  Philosophie,  da 
er  ja  selbst  eingesteht  dass  die  Lehre  der  Pythagoriker  keinen,  die 
der  Pythagoreer  einen  ungeheueren  Einfluss  auf  die  spätere  Ent- 
wicklung gehabt  habe,  nur  dies  zu  ändern  sein  dass  der  erste  Urhe- 
ber der  Philolaisch- Platonischen  Lehre  hinfort  nicht  mehr  Pythago- 
rnSf  sondern  Hippasos  genannt  würde.  Dies  wäre  doppelt  unerheb- 
lich, da  nach  des  Aristoteles  Vorgang  alle  Späteren  sich  wohl  ge- 
hütet haben,  von  einander  zu  sondern,  was  Pythagoras  selbst  ge- 
lehrt, und  w^as  seine  Nachfolger  hiuzugethan  halben. 

§.  32. 
b.    Die  Lehre  der  Pythagoreer. 

Böckh  Philolaus  des  Pythagoreers  Lehren  nebst  Bruchstücken  seines  Werkes. 
Berk  1819.  H.  Bitter  Geschichte  der  ijythagoreischen  Philosophie.  Berlin  1827. 
Dagegen:  E.  Beinhold  Beiträge  zur  Erläuterung  der  pythagor.  Metaphysik.  Jena 
1827.  Brandis  Ueber  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  und  Platouiker  im  2.  Jahrg.  des 
Rhein.  Museums.  n 

1.  Als  den  Grund,  warum  die  Pythagoreer  nicht  einen  sinnli- 
chen Urstofif  annahmen ,  sondern  in  den  Elementen  der  Zahlen  die 
aller  Dinge  sahen,  gibt  Aristoteles  erstlich  an,  dass  die  Zahlen  Prin- 
cip  alles  Mathematischen  seyen,  zweitens,  dass  alle  Harmonie  auf 
Zahlenverhältnissen  beruhe,  drittens,  dass  sich  in  so  vielen  Natur- 
erscheinungen gewisse  Zahlen  immer  wiederholen.  Zu  diesen  objee- 
tiven  Gründen  ist  dann  als  subjectiver  der  gekommen,  dass  die  Zahl 
die  richtige  Erkenntniss  vermittelt,  den  Grundsatz  aber  dieser  gan- 
zen Periode,  dass  Gleiches  durch  Gleiches  erkannt  werde,  auch  die 
Pythagoreer  nie  verleugnet  haben.  Darüber,  wie  sie  das  Vcrhält- 
niss  zu  den  Dingen  gedacht  haben,  widersprechen  sich  die  Nachrich- 
ten. Zu  den  beiden  der  Alten,  dass  nach  ihnen  die  Zahlen  die  Dinge 
selbst,  d.  h.  dass  sie  die  immanente  Wesenheit  der  Dinge  seyen,  und 
wieder:  dass  sie  Urbilder  der  Dinge,  nach  welchen  diese  gebildet 
seyen,  ist  in  neurer  Zeit  die  Behauptung  Uöt/i's  gekommen,  dass  die 
Zahlen  nur  als  symbolische  oder  tropische  Bezeichnung  gedient  hät- 
ten ,  so  dass  weil  nach  Pythagorischer  (d.  h.  ägyptischer)  Lehre  die 
Materie  aus  zwei  Stoffen  zusammengesetzt  ist,  man  nun  die  Materie 
„die  Zwei"  genannt  habe ,  wie  wir  von  den  „Zwölfen"  sprechen  und 
die  Apostel,  oder  von  der  bösen  „Sieben"  und  die  Todsünden  mei- 
nen. Nimmt  man  den  Pitilolaos  als  den  Repräsentanten  der  streng 
wissenschaftlichen  Pythagoreer,  so  ist  ihre  Lehre:  dass  die  Zahlen 
die  eigen thchen  Dinge  sind,  so  dass  bei  ihnen  die  Entwicklung  der 
Zahlen,  nicht  nur  durch  Synekdoche  sondern  wirklich,  mit  der  Ent- 


28  Alte  Philosophie.     Erste  Periode.     (Unreife.) 

Wicklung  der  Dinge,  das  Zahlensystem  mit  der  Welt,  zusammen 
fällt.  — 

2.  Das,  woraus  alle  Zahlen  sind,  ihr  Grund  oder  ihr  Princip, 
was  eben  darum  oft  ihr  Ursprung  (jovr])  auch  wohl  ihr  erzeugender 
Vater  genannt  wird,  ist  das  Eins  (ev)  oder  die  Einheit  (fiovag)^  die 
weil  sie  alle  Zahlen  in  sich  enthält,  oft  als  die  Zahl  überhaupt  be- 
zeichnet wird.  Aus  der  Eins  als  ihrer  gemeinschaftlichen  Wurzel 
gehen  nun  die  Zahlen  hervor  vermöge  des,  für  das  ganze  System  so 
wichtigen,  Gegensatzes  des  Unbestimmten  {aneiQov  oder  auch  aoQi- 
erov)  und  des  Begrenzenden  {rd  nsQaivovTa,  was  PIrdo  prägnanter  ro 
TtsQag  nennt).  Ist  man  gleich  berechtigt  das  Hineinführen  der  ivdvTia 
zur  Ableitung  der  Dinge  eine  Anlehnung  an  Anaximimdros  zu  nen- 
nen, so  ist  doch  der  grosse  Unterschied  nicht  zu  übersehen,  dass  an 
die  Stelle  der  physikalischen  Gegensätze  Kalt  und  Warm  u.  s.  w., 
hier  ein  logischer  getreten  ist;  ja,  dass  dasselbe  Wort,  dessen  sich 
Aiiaximandros  zur  Bezeichnung  des  Principes  bedient  hatte,  hier 
nur  eine  und  sogar,  wie  sich  sogleich  zeigen  wird,  die  untergeord- 
nete Seite  desselben  bezeichnet,  zeigt  das  bewusste  Hinausgehn 
über  den  milesischen  Physiologen.  Das  Begrenzende  wird  fortwäh- 
rend als  das  Höhere  und  Mächtigere  bezeichnet,  über  beiden  aber 
steht  die  Einheit,  die  sie  als  gebunden  in  sich  enthält ;  daram  heisst 
sie  Harmonie  und  es  wird  gleichbedeutend  ob  von  der  Zahl  oder  von 
der  Harmonie  gesprochen  wird.  Diese  gegensatzlose  Einheit  ist  der 
höchste  Gedanke  in  diesem  Systeme,  ist  also  der  Gott  desselben 
und  es  ist  von  wenig  Bedeutung,  ob  früher  oder  ob  später  ausdrück- 
hch  der  Name  Gott  oder  Gottheit  dafür  gebraucht  wird.  Das  Her- 
vortreten der  Zahlen  aus  der  Eins,  oder  der  Dinge  aus  Gott,  ge- 
schieht nun  vermöge  dieses  Gegensatzes.  Da  er  selbst  aber  in  der 
aller  verschiedensten  Weise  gedacht  wird,  und  sich  frühe,  nament- 
lich zehn  verschiedene  Fassungen  desselben  tixirt  haben ,  so  ist  es 
sehr  leicht  zu  vereinigen ,  dass  nach  Einigen  die  Pythagoreer  alles 
aus  der  Zahl,  nach  Anderen  alles  aus  den  zehn  Gegensätzen  abge- 
leitet haben.  Die  letzteren  sind  secundäre  Principien,  nicht  das  pri- 
mitive Element,  dies  ist  nur  die  Eins.  Der  Gegensatz  des  Geraden 
und  Ungeraden,  der  unter  diesen  zehn  auch  vorkommt,  war  wohl 
für  die,  über  die  Zahlen  speculirenden,  Pythagoreer  der  erste  der 
ihnen  auffiel,  und  vielleicht  kam  man  erst  durch  rückwärtsschrei- 
tende Abstraction  dazu,  den  Keim  zu  diesem  Gegensatz  unter  den 
Zahlen  schon  in  der  gemeinschaftlichen  Wurzel  aller  anzunehmen. 
Das  Ungerade  als  das  dem  Begrenzenden  Entsprechende,  wird  als 
das  Höhere  genommen,  und  der  Vorzug  der  ungeraden  Zahlen  auf 
die  Macht  gegründet  die  sie  zeigen  indem  sie  zu  einer  andern  ge- 


II.    Die  reinen  Metaphysiker.    A.    Pythagoreer.    b.    Die  Lehre.    §.  32,  2.  3.       29 

fügt,  deren  Natur  ändern,  ferner  darauf  dass  sie  allein  Anfang, 
Ende  und  Mitte  haben,   endlich  darauf  dass  sie  alle  Differenzen  von 
Quadratzahlen  und  also,  räumlich  gedacht,  umfassende,  begreifende, 
Gnomonen  sind.    Wenn  das  Eins,  weil  es  über  allen,  also  auch  die- 
sem Gegensatze  steht,   als  das  agzioTceQiTTov  bezeichnet  wird,  so  ist 
dies  Wort  nicht  in  dem  bei  den  Mathematikern  gewöhnlichen  Sinne 
zu  nehmen.    Dass  die  ungeraden  Zahlen  höher  gestellt  werden  als 
die  geraden,   hat  GJadlscIi  in  seiner  Parallehsirung  der  pythagorei- 
schen Lehren  mit  den  chinesischen  urgirt,  und  wieder  hat  der  Um- 
stand, dass  unter  den  Gegensätzen  sich  auch  der  zwischen  Licht  und 
Dunkel,  Gut  und  Uebel,   findet,   im  Alterthum  und  in  der  Neuzeit 
Viele  dahin  gebracht,  Entlehnungen  aus  dem  Parsismus  anzunehmen. 
Wenn  unter  den  verschiedenen  Ausdrücken  für  diesen  Gegensatz 
auch  "h  y.cil  nX^&og  vorkommt,   so  zeigt  dies  einerseits  den  Vorzug, 
der  der  einen  Seite  eingeräumt  wird,  hat  aber  andrerseits  zur  Folge, 
dass  Missverständnisse  möglich  sind  darüber,  ol)  das  Princip  selbst, 
oder  nur  ein  Moment  gemeint  sey.  Die  Distinction  die  spätere  Schrift- 
steller zwischen  ^övag  und  fV  gemacht  haben,  ist  dadurch  dass  ge- 
rade was  der  Eine  'iv  nennt  bei  dem  Anderen  ^lövng  heisst,  unfrucht- 
bar geblieben,  die  zwischen  erstem  und  zweitem  Eins,  die  auch  vor- 
kommt, ist  jedenfalls  deutlicher.  Das  dem  (zweiten)  Eins  gegenüber- 
stehende Moment  der  Vielheit,  wird  manchmal  auch  övag,  und  spä- 
ter um  es  von  der  Zweizahl  zu  unterscheiden  Svag  aÖQiavog,  genannt. 
Geometrisch  wird  dieser  Gegensatz  als  der  zwischen  Rechteck  und 
Quadrat,   logisch  als  der  zwischen  Bewegtem  und  Ruhendem,  phy- 
siologisch als  der  zwischen  Weibhch  und  Männlich,  Links  und  Rechts 
gefasst,  immer  so,  dass  das  erste  Glied  des  Paares  das  amiQov,  das 
zweite  die  Tct^alvovxa  vertritt.  — 

3.  Lidem  die,  indem  absoluten  Eins  gebundenen  Gegensätze 
'  sich  ausserhalb  desselben  begegnen,  entsteht  das  System  der  Zahlen 
oder  Dinge.  Da  die  arithmetische  Anschauimg  von  der  geometri- 
schen noch  nicht  so  wie  später  getrennt  ist,  so  werden  nicht  nur  die 
Zahlen,  sondern  auch  die  Momente  der  Zahl,  sogleich  räumlich  ge- 
dacht, und  darum  fällt  der  Begriff  des  Unbestimmten  mit  dem  des 
Leeren,  als  der  unbestimmten  Räumlichkeit  zusammen,  das  dann 
wohl  auch  als  das  Hauchartige,  (Bestimmbare)  gefasst  wd.  Ihm 
gegenüber  steht  dann  das  Begrenzende  als  das  das  Leere  erfüllen- 
de Räumliche,  das  öfter  in  dem  Worte  Himmel  (d.  h.  All)  zusam- 
mengefasst  wird.  Daher  der,  zuerst  frappirende,  Ausdruck,  dass 
indem  der  Himmel  das  Leere  in  sich  hinein-ziehe  oder  athme,  da- 
durch SiaGtri^axu  und  also  Vielheit  entstehe,  dem  unsere  abstracte 
Sprachweise,  ganz  ohne  den  Gedanken  zu  verändern,  den  substi- 


30  Alte  Philosophie.     Erste  Periode.     (Unreife.) 

tuiren  würde:  in  die  Einheit  tritt  der  Gegensatz  und  dadurch  ent- 
steht Vielheit.  Alle  Vielheit,  darum  auch  die  Vielheit  der  auf  einan- 
der folgenden  Momente  und  also  Zeit.  Je  mehr  die  räumhche  An- 
schauung sich  vordrängt,  desto  mehr  nähert  sich  diese  Metaphysik 
der  physikalischen  Theorie,  daher  kann  es  kommen,  dass  Aristote- 
les den  Pythagoreern  vorwirft,  ihre  Zahlen  seyen  nicht  unräumlich 
gewesen,  und  dass  ein  jüngerer  Pythagoreer,  Eliphantos,  sie  so 
körperlich  fasste,  dass  er  damit  der  Atomistischen  Theorie  vom  Lee- 
ren und  Vollen  ganz  nahe  kam.  Sind  die  Zahlen  die  Dinge,  und 
bilden  sie  zugleich  ein  System,  so  ist  es  begreiflich,  dass  erst  bei 
den  Pythagoreern  das  All  als  Ordnung  (xo'ö.ao?)  gedacht  und  bezeich- 
net wird.  War  aber  die  uicht-explicirte  Zahl,  oder  das  Eins,  das- 
selbe mit  der  Gottheit,  so  kann  weder  der  Ausdruck  befremden,  dass 
die  Welt  von  einem  Verwandten  beherrscht  werde,  noch  auch  dass 
sie  eine  Entfaltung  {IvegyEia)  Gottes  genannt  wird.  Aus  diesem 
Ausdruck  und  dem  Ausspruch  eines  Pythagoreers ,  dass  nicht  das 
Erste  das  Vollkommenste  sey,  sondern  das  Spätere,  mit  Ritter  zu 
schliessen,  die  Welt  stehe  im  Evolutionsverhältniss  zu  Gott,  scheint 
um  so  mehr  zu  kühn,  als  jener  Ausspruch  vielleicht  nur  von  dem 
Verhältniss  kleinerer  und  grösserer  Zahlen  gilt.  Consequent  ist  es, 
wenn  die  Welt  hier  als  Correlat  der  Gottheit,  und  darum  als  ewig 
und  unvergänglich,  gefasst  wird. 

4.  Das  Einzelne  der  Ableitung  betreffend,  so  entsteht  durch 
das  erste  Zusammentreffen  des  IV  und  des  7tli]d-og,  d.  h.  durch  die 
erste  Vervielfältigung  der  Einheit,  die  Zweizahl  övag  (nicht  die  8vag 
doQiörog) ,  welche  zugleich  die  Linie  oder  die  erste  Dimension  ist, 
ganz  wie  der  Punkt  mit  der  Einheit  zusammenfällt ,  von  der  er  sich 
nur  durch  »sölq,  d.  h.  Räumlichkeit  unterscheidet.  Beide  zusammen, 
geben  die  xQtag,  die  erste  vollständige  Zahl,  die  zugleich  die  Zahl 
der  Fläche  als  das  81%^]  öiaaraTov  ist.  Die  vollkommenste  Zahl  aber 
ist  die  Vierzahl  {tEZQaKxvg)  nicht  nur  weil  sie  die  Zahl  der  vollständi- 
gen {rgiin  diaaratöv)  RäumHclikeit  ist,  sondern  weil  in  der  Zahlen- 
reihe 1 : 2 : 3 : 4  die  wesentlichen  harmonischen  Verhältnisse  gegeben 
sind,  die  ccQiiovia  oder  8ia  nasäv,  8ia  7CEVTS  oder  Si  o^slmv,  öia  rea- 
GÖiQav  oder  avkknßa.  Ist  aber  die  Vierzahl:  das  alle  harmonischen 
Verhältnisse  enthaltende  Räumliche,  so  ist  die  Verehrung  dersel- 
ben, d.  h.  des  harmonisch  geordneten  Alls ,  sehr  erklärlich.  Weil 
l_j_2-j-3-f  4  =  10,  so  ist  die  dUag  nur  die  weiter  ausgeführte  Te- 
traktys,  und  ist,  wie  diese,  nicht  nur  ein  Symbol,  sondern  der  al- 
ler exacteste  Ausdruck,  für  die  Welt.  Wenigstens  in  der- späteren 
Ausbildung  der  Lehre  erscheint  die  Welt  als  zehn  göttliche  Kreise, 
deren  äusserster  der  Feuerkreis  oder  Fixsternhimmel  ist,  innerhalb 


II.    Die  reinen  Metaphysiker.    A.    Pytliagoreer.    b.    Die  Lehre.    §.  32,  4.  5.      '31 

dessen  sich  die  (mit  Inbegriff  der  Sonne  und  des  Mondes)  sieben 
Planetenkreise ,  ferner  der  Kreis  der  Erdbahn ,  endhch  der  der  Ge- 
gen-Erde,  die  uns  den  directen  Anblick  des  Centralf euers  verbirgt, 
das  wir  nur  als  reflectirtes  (Sonnen-  und  Mond-)  Licht  sehen,  um 
jenen  Heerd  des  Zeus  bewegen.  In  früherer  Zeit,  wo  die  Erde  als 
der  stillstehende  Mittelpunkt  gedacht  wurde,  war  die  Vorstellung 
dass  die  sieben  sich  bewegenden  und  also  vibrirenden  Planeten  ein 
Heptachord  bilden  ganz  erklärlich,  mit  den  zehn  bewegten  Kreisen 
ist  sie  nicht  verembar,  darum  weiss  P/nlolnos  Mchts  von  der  Musik 
der  Sphären,  die  wir  nur  deswegen  nicht  merken,  weil  wir  sie  im- 
mer hören.  Als  Weltkörper  unterliegt  die  Erde  wie  der  ganze  Kos- 
mos dem  Gesetze  der  Xothweudigkeit,  andrerseits  aber  bildet  sie 
den  Mittelpunkt  der  sublunarischen  Welt,  des  ovQavog,  oder  der 
^^'elt  des  Veränderlichen,  wo  auch  der  Zufall  seine  Macht  zeigt. 
Hier  hn  Tellurischcn  tritt  sogleich  bei  der  Lehre  von  den  Elementen 
der  ganz  andere  Charakter  hervor,  den  die  pythagoreische  Physik 
im  Vergleich  mit  der  ionischen  hat.  Nicht  auf  den  physikalischen 
Gegensatz  des  Kalten  und  Warmen,  sondern  auf  den  arithmetischen 
des  ersten  Geraden  und  Ungeraden,  wird  der  der  Erde  und  des 
Feuers  zurückgeführt,  und  das  Wasser,  als  beide  enthaltend,  als 
das  erste  Gerad- Ungerade  bezeichnet.  Andere  begründen  geome- 
trisch, indem  sie  jedem  Elemente  als  Urgestalt  (seiner  Atome)  je 
einen  der  fünf  regelmässigen  Körper  zuweisen,  wo  denn  dem  Feuer 
das  Tetraeder,  der  Erde  der  Cubus,  dem  Wasser  das  Ikosaeder, 
der  Luft  das  Oktaeder,  endlich  das  Dodekaeder  dem  Alles  Umfas- 
senden zugeschrieben  wird.  Auch  in  den  physiologischen  Functio- 
nen wollten  sie  die  Vierzahl  nachweisen,  ja  Eitrytos,  ein  Schüler 
des  Pliilolaos,  soll  so  weit  in's  Detail  gegangen  sein,  dass  er  ver- 
sucht hat,  jedem  Dinge  die  sein  Wesen  ausdrückende  Zahl  zuzu- 
weisen. 

5.  Zur  Physik  der  Pythagoreer  gehört  auch ,  was  sie  von  der 
Seele ,  d.  h.  dem  Lebensprincipe ,  sagen.  Schon  der  Welt  schrei- 
ben sie  eine  solche  zu,  sie  soll  von  dem  Mittelpunkte  des  Alls  aus 
Alles  durchdringen,  als  die  Alles  beherrschende  Harmonie.  Da- 
rum wird  sie,  ja  manchmal  sogar. der  Schwerpunkt  des  Alls,  das 
Eine  genannt  anstatt  des  Einigenden.  Ob  sie  als  die  Substanz  der 
einzelnen  Seelen,  ob  als  ihr  Urbild,  ob  endlich  als  das  Ganze  wo- 
rin sie  als  Theil  enthalten,  zu  fassen,  das  würde,  wenn  wir  mehr 
von  dem  dritten  Buche  des  Philolaischen  Werkes  besässen,  zu  ent- 
scheiden seyn.  Dass  die  Seele  des  Menschen  als  Harmonie  seines 
Körpers  gefasst  wird,  ferner  dass  sie,  wie  die  Weit  selb.st,  eine 
Zehnzahl  und  darum  die  Welt  zu  erkennen  ün  Stande  sey,  enthält 


32  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

offenbar  die  Keime  zur  späteren  Lehre  vom  Makro  -  und  Mikro- 
kosmus und  stimmt  zu  den  sonstigen  Leliren  der  Pythagoreer ;  die 
Behauptung  dagegen  dass  der  Leib  ein  Kerker  der  Seele,  so  wie 
die  damit  zusammenhängende  von  der  Seelenwanderung,  hat  ein 
mehr  exotisches  Gepräge.  Beide  Behauptungen ,  so  wie  die  Lehre 
von  Dämonen  und  Luftgeistern  scheinen  mit  der  Zahlenlehre  in 
keinem  Zusammenhange  zu  stehn.  Desto  mehr,  was  von  ihrer  Er- 
kenutnisstheorie  und  Ethik  überliefert  worden  ist.  Für  beide  ist 
die  Unterscheidung  eines  unvernünftigen  und  vernünftigen  Theils, 
ausser  welchen  wohl  schon,  als  vermittelndes  Drittes,  der  Bvfiog, 
angenommen  wird,  die  psychologische  Grundlage,  die  dadurch,  dass 
die  einzelnen  Seelen -Functionen  besonderen  Organen  des  Leibes 
zugewiesen  werden,  selbst  physiologisch  begründet  erscheint.  Dass 
die  Erkenntniss  dem  vernünftigen  Theile  vindicirt  wird,  versteht 
sich  von  sell)st.  Vermittelt  wird  die  Erkenntniss  durch  die  dem 
Truge  unzugängliche  Zahl;  was  sich  der  mathematischen  Bestimmt- 
heit entzieht  ist  unerkennbar,  weil  es  unter  der  Erkenntniss  steht. 
Vier  Grade  der  Erkenntniss  werden  wahrscheinlich  erst  in  späterer 
Zeit  unterschieden ,  und  mit  den  ersten  vier  Zahlen  verglichen ;  der 
vovg  geht  einheitlich  auf  seinen  Gegenstand ,  der  Wissenschaft  soll 
die  Zweizahl,  der  Meinung  die  Dreizahl,  der  Walniiehmung  die 
Vierzahl  entsprechen.  Der  sittliche  Geist,  den  das  ganze  Wesen 
und  auch  die  Lehre  des  Pytliayoras  athmet,  hat  Einige  dazu  ge- 
bracht zu  behaupten,  seine  Philosophie  sey  dem  grösseren  Theile 
nach  Ethik,  Dies  ist  unrichtig,  denn  dazu,  das  sittliche  Handeln 
nicht  nur  anzurathen  sondern  in  seinem  Wesen  zu  erfassen,  wer- 
den nur  schwache  Versuche  gemacht.  Was  Aristoteles  an  ihnen 
tadelt,  dass  sie  für  die  Gerechtigkeit  eine  mathematische  Formel 
aufgestellt  haben,  ist  als  consequent  vielmehr  zu  loben ;  selbst  dass 
sie  diesel1)e  als  «^f&jttd?  iGaKig  Xaog  bezeichnet  haben,  ist  wenn 
man  bedenkt,  dass  sie  die  Gerechtigkeit  nur  als  vergeltende  den- 
ken, erklärhch.  Auch  die  Nachricht,  dass  sie  die  Tugend  als  die 
Gesundheit  der  Seele  definirt  hätten,  in  der  das  ImsiQov  (das  Sinn- 
liche) unter  das  Maass  gebracht  werde,  ist  nicht  unglaublich  trotz 
der  Annäherung  an  Platonische  und  Aristotelische  Formeln.  Noch 
mehr  tritt  diese  darin  hervor,  dass  sie  die  Gerechtigkeit  besonders 
im  Staatsleben  betrachtet,  und  hier  die  gesetzgebende  und  rich- 
tende Function  mit  der  hygieinischen  (gymnastischen)  und  ärztli- 
chen verglichen  haben,  womit  der  Platonische  Gorgias  wörtlich 
übereinstimmt.  Im  aristokratischen  Sinne  haben  sie  das  nXi'jd'og., 
die  Masse,  verachtet  und  Anarchie  als  das  grösste  Uebel  bezeich- 
net.   Selbst  in  dem  Widerwillen  gegen  Bohnen  hat  man,  vielleicht 


II.    Die  reineil  Metaphysiker.     A.  Pytlmgoreer.     b.  Die  Lehre.    §.  33.  od 

nicht  mit  Unrecht,  eine  politische  Demonstration  gegen  die  demo- 
kratische Stellenbesetzuug  durchs  Loos  sehen  wollen.  Dass  alle 
Praxis  auf  das  Gebiet  des  Veränderlichen  beschränkt  ist,  war  wohl 
einer  der  Gründe,  warum  sie  dieselbe  so  viel  niedriger  stellten 
als  die  Theorie  und  diese,  namentlich  die  Beschäftigung  mit  der 
wissenschaftlichen  Zahlenlehre,  die  wahre  Glückseligkeit  nannten. 

Arüt.  Met.  A.  u.  A.  Arist.  Phys.  De  coelo.  De  auim.  —  Simplic.  ad  Ar. 
Phys.  —  Diog.  LaeH.  Vni,  1.  —.  Plut.  plac.  phil.  I,  3.  7,  8.  11.  14.  15.  21.  23. 
24.  25.  II,  1.  4.  6.  9.  11.  13.  21.  24.  25.  29.  30.  lU,  1.  2.  5.  15.  16.  17.  IV, 
2  —  8.  13.  14.  IG.  20.  V.  1.  3.  15.  20.  24.  26.  Stob.  Edog.  —  Jamblich,  vita 
Pythg.   Theolog.   arithm.   —     Ritter  et  Preller  §.   62  —  128. 

§.  33. 
Die  Nothwendigkeit,  dass  auch  über  den  Pythagoreischen 
Standpunkt  hinausgegangen  werde,  ist  nachgewiesen  sobald  ge- 
zeigt wurde,  dass  er  eigentlich  etwas  ganz  Anderes  will  als  er 
erreicht,  denn  dann  ist  er  kein  volles  Verständniss  seiner  selbst, 
wie  doch  die  Philosophie  seyn  sollte:  das  Bestreben  der  Pythago- 
reer  geht  offenbar  darauf,  das  Eine  auf  Kosten  des  Vielen,  und 
über  dasselbe,  zu  erheben,  eg  zum  alleinigen  Absoluten  zu  ma- 
chen. Immer  aber  wird  es  zu  einer,  dem  Vielen  diametral  entge- 
gengesetzten ,  darum  aber  ihm  coordinirten  Seite ,  zu  seinem  blos- 
sen Correlat,  wodurch  es  eigentlich  aufhört  Princip  zu  seyn.  Zu 
diesem  Widerspruch  zwischen  Wollen  und  Können,  bringt  sie,  so 
nothwendig  dieselbe  auch  gewesen  war,  die  mathematische  Fas- 
sung ihrer  Lehre.  Wird  der  Unterschied  zwischen  Princip  und 
Principiat  als  ein  numerischer  gefasst,  so  kann,  da  Zahl  Zahl  ist, 
es  nicht  ausbleiben ,  dass  beide  in  gleichen  Rang  gestellt  werden, 
ja,  da  die  höhere  Zahl  die  niedrigere  mit,  und  also  mehr  als  sie, 
enthält,  so  kann  es  kommen,  dass  sich  das  Verhältniss  zwischen 
Princip  und  Principiat  umzukehren,  wenigstens  scheint.  Indem 
die  Pythagoreer  das  Viele  auch  als  das  Andere  oder  Bewegte  be- 
zeichnen, und  also  dem  Gegensatz  dazu  die  Bedeutung  des  Sel- 
bigen und  Beharrenden  gegeben  haben,  fangen  sie  selbst  an,  statt 
der  quantitativen  Kategorien  qualitative  anzuwenden.  Werden  an- 
statt der  von  ihnen  gebrauchten  die  angewandt,  die  als  die  ab- 
stracteren  ihnen  zu  Grunde  liegen,  das  unveränderliche  Seyende 
und  das  Wechselnde  und  Werdende,  so  wird  der  Geist  nicht  nur 
sich  besser  verstehn  als  da,  wo  er  (ionisch)  mit  dem  gemeinschaft- 
lichen Urstoff  der  Dinge  sich  befriedigte,  sondern  es  wird  ihm 
auch  gelingen  was  dort  misslang,  wo  (pythagoreisch)  die  mannig- 
faltigen Dinge  Vervielfältigungen  des  Principes  waren.  Wie  die 
Pythagoreer  die  Uebergangsstufe   von  der  Physiologie  zur  Meta- 

Krdmann  Gesch.  d.  Phil.  I.  o 


34  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

physik  repräsentiren ,  so  die  Eleaten  die  reine  Metaphysik  selbst 
in  ihrem  äussersten,  antiphysiologischen,  Extrem. 

B. 

Die  Eleaten. 

Brandis    Commentationes    Eleaticae.     Altonae   1813.    —       Karsten    Philosophiae 
graecae  veteris  Reliquiae.     Bruxell.  1830.  seqq. 

§.  34. 
a.    X  e  n  0  p  h  a  n  e  s. 

Vict.  Cousin  Nouveaux  fragmens  philosophiques.     Paris   1828.   p.   9  —  95. 

1.  Xenophoves ,  des  Orthomenns  oder  des  De.rinos  Sohn  ist 
im  ionischen  Kolophon  geboren.  Hinsichtlich  der  Chronologie  sind 
die  directen  Angaben  des  Timaios  und  Apollodoros  bei  Clemens 
Alexnndrhws ,  nicht  zu  vereinigen  und  man  muss  sich  eine  An- 
nahme bilden,  bei  der  die  constatirten  Facta  bestehen  können, 
dass  er  den  Thaies  und  Pythagortts  als  berühmte  Weise  erwähnt, 
dass  Ileraldit  ihn  kennt,  dass  er  die  Gründung  Elea's  (oder  Ve- 
lia's),  wo  er,  wie  es  scheint  nach  einem  langen  Wanderleben  durch 
viele  Städte  Siciliens  und  Grossgriechenlands,  gewohnt,  besungen 
hat,  endlich  dass  er  mindestens  zwei  und  neunzig  Jahre  alt  ge- 
worden ist.  Die  Nachricht  der  Alten,  seine  Blüthe  falle  in  Ol.  60 
scheint  damit  vereinbar,  obgleich  auch  sie,  z.  B.  von  BrniuUs, 
ist  angefochten  worden.  Ausser  seinen  Gedichten  epischen  Inhalts 
hat  er  Lehrgedichte  verfasst  und  als  Rhapsode  abgesungen;  Sil- 
len  sind  sie  wohl  genannt  weil  darin  oft  eine  satyrische  Ader  fliesst. 
Aus  den  Fragmenten  daraus,  die  zuerst  //.  Stephanus,  dann  FYil- 
leborn,  Brandis,  endlich  Karsten  gesammelt  haben,  muss  man 
auf  viele  Kenntnisse  bei  ihm  schliessen. 

2.  Nach  Plato  haben  die  Eleaten  was  wir  das  All  nennen, 
das  Eine  genannt;  da  aber  alle  ihre  Beweisführungen  für  seine 
Einheit  in  der  Polemik  gegen  das  Werden  bestehn,  so  ist  offenbar 
Eines  bei  ihnen  der  Name  für  das  unveränderliche  Seyende,  eine 
Bezeichnung  welche  auf  pythagoreische  Einflüsse  zu  schliessen  be- 
rechtigt, auch  wenn  die  Nachricht  falsch  seyn  sollte  die  den  Xe- 
nophanes  vom  Pythagoreer  Telavges  Unterricht  empfangen  lässt. 
Eine  Polemik  gegen  Pythagoreische  Lehre  liegt  in  der  Behauptung 
des  Xenophancs ,  dass  das  Eine  nicht  atlime.  (Vgl.  oben  §.  32 
sub  3.)  Zu  jener  Platonischen  Nachricht  tritt  ergänzend  die  Ari- 
stotelische, dass  Xenophanes  das  ganze  All  anschauend  gesagt 
habe,  dieses  Eine  sey  Gott.  Da  die  Zeit  Mannigfaltigkeit  enthält, 
so  ist  das  Eine  oder  die  Gottheit  ewig.  Mit  der  Vielheit  ist  die 
Unbestimmtheit  (das  arceiQov)  von  dem  Einen  negirt,  und  der  Ari- 
stotelische Tadel,   dass   es  unentschieden  bleibe,   ob  Xenophanes 


II.    Die  reinen  Metaphysiker.    B.  Die  Elcaten.    a.  Xeuophancs.    §.  34.  35       oö 

sein  Princip  als  Tcmzgaa^svov  gefasst  habe,  kein  verdienter.  Die 
Kugelgestalt,  die  Xcnophanes  der  Gottheit  zugeschrieben  haben 
soll,  ist  bei  dem,  dem  das  All  die  Gottheit  zeigt,  erklärlich,  und 
eine  Folge  davon,  dass  ihr  jede  Mannigfaltigkeit  von  Functionen, 
darum  auch  von  Organen,  abgesprochen  wird.  „Ganz  sieht  sie  und 
ganz  hört  sie."  Wo  alle  Vielheit  ausgeschlossen  ist  kann  von  Po- 
lytheismus, wo  kein  Werden  statuirt  wird,  von  einer  Theogonie 
nicht  die  Rede  seyn,  daher  der  Spott  über  die  Volksreligion,  der 
Hass  gegen  Homer  u.  s.  w. 

3.  Hinsichtlich  der  Physik  des  Xenophanes  streiten  die  Nach- 
richten. Die  Ableitung  aus  vier  Elementen  ist  zu  sehr  als  Empe- 
dokleisch  beglaubigt,  als  dass  sie  schon  von  ihm  angenommen 
werden  dürfte.  Dass  Alles  aus  der  Erde  abgeleitet  worden  sey, 
ist  mit  den  Behauptungen  des  Aristoteles  nur  zu  vereinigen,  wenn 
die  Erde  nicht  als  Element  sondern  als  .Weltkörper  verstanden 
wird,  in  welchem  Falle  mit  dieser  Nachricht  die  andere  vereinbar 
wäre ,  dass  aus  Wasser  und  Erde  (Urschlamm)  er  Alles  habe  ent- 
stehen lassen,  Dass  Xenop/nmcs ,  wie  noch  Andere  sagen,  schon 
die  Pannenideische  Consequenz  gezeigt  habe,  alles  Sinnliche  als 
Schein  zu  fassen,  ist  nicht  recht  glaublich,  und  viel  wahrscheinlicher 
was  wieder  Andere  sagen,  dass  er  selbst  gescliwankt  habe.  Dies 
würde  auch  erklärlich  machen,  warum  er  schon  früh  für  einen 
Skeptiker  angesehen  worden  ist,  trotz  dem  dass  es  kaum  eine 
Lehre  gibt,  die  so  dogmatisch  wäre,  wie  die  eleatische. 

Diog.  Laert.  IX  ,  2.  —  Tlac.  Phil.  II,  4.  13.  18.  20.  24.  25.  III,  2.  9.  11. 
V,  1.  —  Preller  et  Bitter  §.  129  —  140.  —  Fragmente  gesammelt  bei  Hcnr.  Ste- 
phanus  in  Poes,  philos.  p.  35 — 38.  —  Brandts  1.  c.  Sect.  I.  —  Karsten  1.  c.  I,  1.  — 
Mullach  fragmenta  pliilos.  graec.   p.   99  —  108. 

§.  35. 
Das  Eine  ohne  alle  Mannigfaltigkeit,  das  Seyende  ohne  alles 
Werden,  ist  zwar  eine  nur  durch  Denken  zu  erfassende  Abstraction, 
doch  aber  liegt  ihr  selbst  noch  eine  andere  zu  Grunde,  aus  der 
und  einer  nähern  Bestinmiung  sie  zusammengesetzt,  die  also  ihr 
Element  ist.  Das  ist  die,  als  deren  Participation  sich  das  Seyende 
selbst  bezeichnet,  die  reinste  aller  Gedankenbestimmungen,  das 
Seyn.  Geht  die  Philosophie  auf  .den  allerletzten  oder  absoluten 
Grund  (§.  2),  so  wird  sie  nicht  bei  dem  stehn  bleiben  können, 
dem  ein  Anderes  zu  Grunde  hegt,  oder  an  dem  es  Theil  hat,  son- 
dern zu  diesem  selbst  fortgehn  müssen.  Es  ist  darum  nicht  nur  eine 
unwesentliche  Aenderung  der  Terminologie,  wenn  der  Nachfolger 
des  Xenophanes  die  Pythagoreische  Zahlbestimmung  ganz  weglässt, 
und  an  die  Stelle  des  durch  ein  Participium  (ö'r)  bezeichneten  Ab- 

3* 


36  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

soluten  eines  setzt,  das  er  nicht  besser  glaubt  benennen  zu  können, 
als  mit  dem  Infinitiv  Seyn.  Parmenidcs  ist  der  Vollender  der  ab- 
stracten  Metaphysik,  die  sich  der  Physiologie  entgegen  stellt. 

§.  36. 
b.    Parmeiii des. 

1,  Parmcnides  f  Sohn  des  Pyrrhes,  ein  Eleate,  wird  Schüler 
des  Xenophancs,  von  Andern  der  Pythagoreer,  genannt,  deren 
Lebensweise  ihn  vielleicht  mehr  als  ihre  Lehre  angezogen  hat, 
Nach  Plato  muss  er  Ol.  64  oder  65  geboren  seyn.  Die  allgemeine 
Achtung,  die  er  wegen  seines  moralischen  Werths  und  seiner  Bür- 
gertugend genoss,  hat  Pldlo  und  selbst  Aristoteles,  der  keine  Vor- 
liebe für  eleatische  Lehren  verräth ,  auch  seiner  wissenschaftlichen 
Bedeutung  gezollt.  Das  metrisch  verfasste,  nt^i  rpvöeag  überschrie- 
bene,  Werk  des  Parmcvides  beginnt  mit  einer  Allegorie  von  der 
Sextos  Empeirikos,  der^deu  Anfang  des  Gedichts  uns  überheferF,  im 
Wesentlichen  die  richtige  Deutung  gibt.  Es  zerfiel,  wie  die  Lehre 
des  Parmeiiides,  in  zwei  Theile,  deren  erster  die  Wahrheit  und  das 
Wissen,  der  zweite  den  Schein  und  die  Meinung  behandelt. 

2.  Die  Wahrheit  wird  erlangt,  indem  man  nicht  der  sinnli- 
chen Vorstellung  sondern  der  reinen  Vernunfterkenntniss  folgt. 
Der  Hauptsatz  der  sich  hier  ergibt  ist,  dass  nur  das  Seyn  Wahr- 
heit habe ,  dem  Nichtseyn  gar  keine  zukomme ,  weswegen  auch  das 
Leere  geleugnet  wird.  Der  Grund,  dass  es  ja  sonst  kein  Wissen 
geben  könnte,  zeigt  das,  durch  keine  Skepsis  erschütterte,  Ver- 
trauen der  Vernunft  zu  sich  selbst.  Das  Seyn  ist  Eines,  es  schliesst, 
weil  dies  ein  Nichtseyn  enthielte,  alles  Werden  und  eben  so  jede 
Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  aus,  mag  diese  nun  in  räumlichen, 
mag  sie  in  zeitlichen  Unterschieden  bestehn.  Frei  von  jeder  äus- 
seren Determination ,  ist  es  das  in  sich  selbst  durch  innere  Noth- 
wendigkeit  Beruhende;  aus  beiden  Gründen  wird  es  als  Kugelge- 
stalt gedacht.  Nicht  grenzenlos,  denn  dann  wäre  es  mangelhaft, 
aber  durch  kein  Anderes  ausser  ihm  begrenzt,  hat  es  nicht  einmal 
eine  denkende  Vernunft,  deren  blosses  Object  es  wäre,  sich  ge- 
genüber. Dasselbe  ist  was  da  denkt  und  welches  gedacht  wird, 
das  Seyn  ist  Vernunft  und  dem  Gedanken  kommt  Seyn  zu.  Neben 
diesem  allein  wahren  Seyn  hat  eine  andere  Gottheit  nicht  Platz, 
daher  lässt  Parmenides  die  Volksgötter,  als  sich  der  Erkenntniss 
entziehend,  dahingestellt;  wenn  er  dann  wieder  den  Eros,  als  den 
Vater  der  Götter  bezeichnet,  so  bedeutet  wohl  dieser  Name,  eben 
so  wie  das,  was  er  öfter  den  Dämon  genannt  hat,  die  Alles  zu- 
sammenbindende Nothwendigkeit,  welche  er  auch  Aphrodite  scheint 
genannt  zu  haben. 


IL  Die  reinen  Metaphysiker.     B.  Die  Eleaten.     b.  Parmenides.    §.  36.  37.     37 

3.  Ein  Standpunkt  me  dieser,  duldet  keine  Ableitung  des 
Mannigfaltigen.  Nur  das  Zeugniss  der  Sinne  zwingt  zu  der  An- 
nahme desselben.  Da  aber  die  Sinne  das  Seyn  nicht  wahrnehmen, 
da  sie  vielmehr  täuschen,  so  ist  die  Mannigfaltigkeit  nur  ein  Schein, 
die  Physik  ist  ihm  bloss  die  Lehre  von  den  Meinungen  und  warum 
der  Mensch  mit  der  Meinung  behaftet  ist,  weiss  Parmenides  nicht 
zu  begreifen  sondern  nur  zu  beklagen.  Obgleich  Nichtseyn  nur 
Schein,  ist  die  Welt  doch  nicht  so  aller  Wahrheit  entblösst,  dass 
er  nicht  suchen  sollte  mit  dem  Wissen  in  sie  hineinzudringen.  Die 
beiden  Principien,  auf  die  er  alle  Mannigfaltigkeit  zurückführt,  und 
die  bald  Flamme  und  Nacht ,  bald  Warmes  und  Kaltes ,  bald  Feuer 
und  Erde  heissen,  wiederholen  den  Hauptgegensatz  des  Seyns  und 
Nichtseyns,  und  darum  wird  das  Eine  als  das  sich  selbst  Gleiche, 
das  Andere  als  das  Scheinbare,  Unerkennbare  u.  s.  w.  bezeichnet. 
Beide  Entgegengesetzten  mischt  und  verbindet  die  Macht,  die  auch 
das  Männliche  dem  Weiblichen  zuführt,  jene  oben  erwähnte  Liebe 
des  Alls,  oder  die  Alles  beherrschende  Freundschaft.  Wie  jedes 
einzelne  Ding,  so  ist  auch  jeder  Mensch  ein  Gemisch  jener  Ele- 
mente; aus  dem  LTrschlamm  entstanden  ist  er  um  so  vollkommner, 
je  wärmer  er  ist,  und  wie  er  durch  seine  feurige  Natur  fähig  ist, 
das  Seyn  zu  erkennen,  so  unterwirft  ihn  seine  irdische  Beschaf- 
fenheit der  Meinung,  d.  h.  er  erschaut  das  Nichtseyn.  Weil  keines 
dieser  Elemente  ohne  das  andere  vorkommt,  deswegen  kann  ge- 
sagt werden  dass  das  höhere  und  niedere  Erkennen  dasselbe  (d.  h. 
wohl:  nur  graduell  verschieden)  seyen.  Des  Parmenides  Vorstel- 
lungen vom  Weltgebäude  sind  entweder  unrichtig  tiberhefert  oder 
durch  seltsamen  vVusdruck  unverständlich.  Sie  haben  ihn  nicht 
verhindert  für  seine  Zeit  wichtige  astronomische  Kenntnisse  zu  haben. 

I)io(j.  Lacrt.  IX,  3.  Plac.  phil.  I,  24.  25.  II,  7.  26.  III,  1.  11.  15.  IV,  5. 
V,  7.  11.  —  PreUer  et  Bitter  1.  c.  §.  141  —  153.  —  Fragmente  gesammelt  bei  //. 
Stephanus  in  Poes,  philos.  p.  41 — 46.  Brandis  1.  e.  comment.  II.  Karsten  1.  c.  I, 
P.  II.     Mullach  1.  c.  p.    109—130. 

§.  37. 
Wie  die  physiologische  Richtung  von  Anaximenes,  so  ist  die 
metaphysische  von  Parmenides  injhrer  höchsten  Vollendung  dar- 
gestellt. Wie  dort,  so  ist  auch  hier  ein  immanentes  Weiterführen 
nicht,  wohl  aber  ein  Vertheidigen  gegen  Andersdenkende  inöghch. 
Diese  Vertheidigung ,  die  bei  der  anfänglichen  Philosophie  nur  ge- 
gen Weitergehende  Statt  haben  konnte  und  also  reactionär  seyn 
musste  (vgl.  §.  27),  kann  dies  auch  hier  seyn,  sie  kann  aber  auch 
gerichtet  seyn  gegen  den  überwundenen,  niedriger  stehenden,  Stand- 
punkt der  Physiologen.    Diese  letztere  Aufgabe  macht  Melissas  zu 


38  Alte  Philosophie.    Erste  Periode  (Unreife.) 

der  seinigen.  Sie  ist  die  leichtere  und  geringere  Kraft  genügt  zu 
ihrer  Lösung,  wie  zum  Schwimmen  mit  dem  Strom.  Noch  mehr, 
da  jeder  Kampf  gegen  einen  anderen  Standpunkt  es  nothwendig 
macht,  sich  mit  diesem  einzulassen  und  also  ihm  sich  anzunähern, 
so  wird  der  reactionäre  Kampf  gegen  den  höheren  Standpunkt, 
wenigstens  formell,  über  den  eignen  hinausführen,  der  gegen  den 
niedrigem  aber  unter  ihn  herabfallen  lassen.  Es  geschieht  daher 
dem  Mel'tssos  nothwendig,  was  Aristoteles  an  ihm  tadelt,  dass  er 
ein  minder  feiner  Denker  sey  als  die  anderen  Eleaten  und  dass  er 
das  Gedaukenmässige  sinnlich,  d.  h.  ihre  metaphysischen  Bestim- 
mungen zu  physikalisch,  gefasst  habe. 

§.   38. 
c.    Melissos. 
(Pseudo-J  Aristoteles  de  Xenophane    (i.  e.  Melisso)    Zenone  et  Gorgia    c.   1  et  2. 

1.  Melissas f  des  Itlmgenes  Sohn,  ein  Samier,  als  Feldherr 
ausgezeichnet,  heisst  Schüler  des  Purmenides,  für  dessen  Lehre 
ihn  vielleicht  nur  Schriften  gewonnen  hatten.  Um  Ol.  84  blühend 
schrieb  er  ein  Werk  in  Prosa  und  im  ionischen  Dialekt,  das  nach 
Einen  TtfQi  (pvatag  nach  Anderen  hzqX  övxog  hiess,  und  von  dem 
Fragmente  erhalten  sind.  Er  sucht  im  Literesse  der  eleatischen 
Lehre  die  seiner  Stammverwandten,  der  Physiologen,  zu  widerle- 
gen. Das,  dieser  Absicht  entsprechende,  negative  Resultat  einiger 
unter  seinen  Argumentationen  hat  ihm  den  unverdienten  Vorwurf 
des  Skepticismus ,  dagegen  sein  Eingehn  auf  den  Standpunkt  sei- 
ner Gegner  den  nicht  immer  unverdienten  zugezogen ,  dass  er  die 
Reinheit  der  eleatischen  Abstractionen  getrübt,  und  den  Parme- 
nides  etwas  roh  gefasst  habe. 

2.  Wie  Parmemdes ,  schiebt  auch  Melissas  die  religiösen  Vor- 
stellungen als  der  Erkenntniss  sich  entziehend,  bei  Seite.  Sein 
Gegenstand  ist  das  iov,  das  er,  dem  Xennpl/mies  sich  wieder  an- 
nähernd, an  die  Stelle  des  Parmenideischen  dvcu  setzt.  Wie  er 
es  gemeint  hat,  wenn  er  wirklich  von  dem  Seyenden  das  einfach 
Seyende  unterschieden  hat,  ist  nicht  klar.  Nachdem  er  gezeigt 
warum  das  Seyende  nicht  entstehen  noch  vergehen  könne,  folgert 
er  aus  dieser  zeitlichen  sogleich  auch  die  räumliche  Unendlichkeit, 
und  gibt  also  zum  Aerger  des  Aristoteles  die  Bestimmtheit  auf, 
die  das  Absolute  bei  Xenoplnmes  und  Parmeiiides  gehabt  hatte. 
Einheit,  Untheilbarkeit,  Unkörperlichkeit,  und  Unmöglichkeit  jeder 
Bewegung,  wird  weiter  von  dem  Seyenden  prädicirt.  Sowohl  ge- 
gen die  Verdichtung  und  Verdünnung  als  auch  gegen  die  Mischung 
und  Trennung  wird  polemisirt  und  damit  die  Behauptung  verbun- 
den,  dass  das   Leere,   und  also   die  Bewegung  in  dasselbe,   un- 


II.  Die  reinen  Metaphysiker.   B.  Die  Eleateu.    c.  Melissos.  d.  Zenon.  §.39.40.    39 

möglich  sey.     Kaum   einer  der  Physiologen  wird  also  nicht  be- 
rücksichtigt. 

3.  Mit  ähnlicher  Inconsequenz  wie  Purmenides  behauptet  Me- 
lissos,  dass  die  Mannigfaltigkeit  nur  ein  Product  der  Sinnentäu- 
scliung  sey,  indem  die  Sinne  uns  überall  Uebergang  vorspiegeln, 
wo  doch  in  Wirklichkeit  nur  unl)ewegliches  Seyn  ist,  und  statuirt 
doch  eine  wissenschaftliche  Erkenntniss  derselben,  oder  eine  Phy- 
sik. Dass  er  Feuer  und  Erde  als  die  Grundstoffe  angenommen  habe, 
ist  bei  seinem  Verhältniss  zu  Parnteuides  wahrscheinlich.  Der 
Uebergang  von  diesem  zu  Empedolies  ist  so  leicht,  dass  die  an- 
dere Nachricht,  dass  Melissos  sicli  ganz  dem  Letzteren  angeschlos- 
sen habe,  kaum  im  Widerspruch  mit  der  ersteren  steht. 

Diog.  LaeH.  IX,  4.     Preller  et  i?ztte»'  §.  160 — 167.     Die  Fragmente  s.  Brandis 
1.   e.   Sect.   III.      Karstfin  1.  e.     Mullach  p.   261 — 265. 

§.  39. 
Neben  Melissos  als  dem  rückwärts  gewandten  Vertheidiger 
eleatischer  Lehre  steht  Zeno,  welcher  sie  als  die  Neuerungen  be- 
kämpfender Reactionär  in  Schutz  nimmt.  Die  Aufgabe  ist  eine 
verzweifelte  und  bedarf  darum  grosser  Kraft.  Daher  die  subjective 
Bedeutung  des  Mannes.  Tiefsinnig  Neues  zu  finden,  darum  han- 
delt es  sich  nicht ,  sondern  allen  erdenklichen  Scharfsinn  aufzubie- 
ten um  das  Gefundene  sicher  zu  stellen.  Deshalb  Ausbildung  der 
formellen  Seite  des  Philosophirens,  die  den  Zcno  zum  Diogenes 
Jpo/loniates  seiner  Schule  macht.  Da  der  Standpunkt,  gegen 
welchen  Zeno  seinen  Meister  vertheidigt,  den  Grundgedanken  des- 
selben mit  dem  entgegengesetzten  verbindet,  so  ist  es  begreiflich, 
warum  Zeno  seine  Vertheidigung  so  führt,  dass  er  in  den  Lehren 
der  Gegner  Widersprüche  nachweist.  Die  Dialektik  als  die  Kunst 
Widersprüche  zu  entdecken  hat  darum  den  Zeno  zu  ihrem  Erfin- 
der, seine  Dialektik  aber,  oligleich  sie  nur  ein  negatives  Resultat 
hat,  auch  später  im  skeptischen  Interesse  ausgebeutet  worden  ist, 
steht  doch  ganz  im  Dienste  des  durchweg  dogmatischen  Eleatismus. 

§.40. 
d.     Zenon. 
(Pseudo-J  Aristot.  de  Melisso  Zenone  et  Gorgia  c.  3  et  4. 

Zenon,  der  Eleate,  ein  Sohn  des  Teleufagoras ,  nach  Einigen 
ein  Adoptivsohn  des  um  fünf  und  zwanzig  Jahre  älteren  Purme- 
nides ,  ein  Mann  von  eben  so  viel  politischer  Einsicht  als  Helden- 
muth  und  Charakter,  hat  unter  anderen  in  Prosa  geschriebenen 
Werken  schon  in  seiner  Jugend  eines  zur  Vertheidigung  des  Pnr- 
meuides  verfasst,  das  besonders  berühmt  geworden  ist.  Die,  dem 
Dialog  sich  wenigstens  annähernde,  Form  und  die  häufige  Anwen- 


40  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (unreife). 

dung  des  Dilemma  haben,  ausser  dem  Iiihalt,  dazu  beigetragen, 
dass  er  der  Erfinder  der  Dialelitik  genannt  worden  ist.  Diese 
Dialektik  ist  negativ,  weil  seine  Absicht  nur  war,  den  Gegnern  der 
eleatischen  Lehre  den  VorAMirf  der  Widersprüche  zurückzugeben. 

2.  Hatte  Parmenides  nur  der  alle  Vielheit  ausschliessenden 
Einheit,  nur  dem  alles  Werden  negirenden  Seyn,  nur  dem  Behar- 
renden ohne  alle  Bewegung,  Wahrheit  zugeschrieben,  so  geht  das 
Bestreben  des  Zenon  darauf,  zu  zeigen  dass  durch  die  Annahme 
der  Vielheit,  des  W^erdens  und  der  Bewegung  man  sich  in  Wider- 
sprüche verwickele.  Der  Beweis  der  in  dem  Nachweise  besteht, 
dass,  ein  wirklich  Vieles  angenommen.  Ein  und  dasselbe  ein  Be- 
stimmtes und  doch  ein  Unbestimmtes  wäre,  beruht  darauf  dass 
jede  Vielheit  eine  bestimmte  (Zahl)  ist  und  dennoch  eine  Unend- 
lichkeit (von  Brüchen)  enthält.  Er  argumentirt  mit  der  endlosen 
Theilung,  nur  dass  er  die  6ixoro(xia  darin  räumlicher  fasst,  dass  er 
dem  Gedanken  des  Unterschiedenseyns  sogleich  den  (durch  Etwas) 
Geschiedenseyns  substituirt.  Auch  unendlich  gross,  weil  unendlich 
Vieles  enthaltend,  und  unendlich  klein,  weil  aus  lauter  Kleinsten 
bestehend,  werde  das  Viele  seyn.  Gerade  wie  das  Viele,  so  be- 
kämpft Zcvon  das  Werden.  Sowol  wenn  es  aus  Gleichem  als  wenn 
es  aus  Ungleichem  Statt  finden  solle,  enthalte  es  einen  Wider- 
spruch. Endlich  aber  wird  die  Möglichkeit  der  Bewegung  bestrit- 
ten. Von  den  vier  Beweisen,  die  Aristoteles  als  Zenonisch  an- 
führt, beruhen  die  ersten  beiden  wiederum  auf  der  durch  endlose 
Theilung  hervorgebrachten  Unendlichkeit  einmal  des  zu  durchlau- 
fenden Raumes,  das  andre  Mal  des  Vorsprungs,  den  vor  dem  Achill 
(Hector  oder)  die  Schildkröte  hat.  Der  dritte  Beweis  lässt  sich 
erst  zugeben  dass  der  fliegende  Pfeil  in  jedem  Augenblick  an  einem 
Punkte  ist  (d.  h.  ruht)  und  zieht  daraus  ganz  richtige  Folgerungen. 
Der  vierte  endlich  scheint  die  Bewegung  nur  als  Veränderung  der 
Entfernung  zu  nehmen,  und  daraus  dass  ein  sich  Bewegendes  dem 
Ruhenden  langsamer,  dem  Entgegenkommenden  schneller  näher 
kommt,  zuerst  zu  folgern  dass  bei  gleicher  Geschwindigkeit  und 
gleicher  Zeit  doch  die  Resultate  verschieden  seyn  können,  dann 
aber  noch  alle  möglichen  Absurditäten.  Bei  der  Bedeutung,  welche 
der  Raum  für  die  Bewegung,  und  nach  Zenon  auch  für  die  Viel- 
heit hat,  ist  es  begreiflich  dass  er  auch  in  diesem  Begrifl"  nach 
einem  Widerspruch  sucht.  Derselbe  soll  darin  liegen,  dass  der 
Raum  nicht  ohne  Raum  zu  denken  sey  und  also  sich  selber  vor- 
aussetze. 

3.  Wie  den  übrigen  Eleaten,  so  ist  auch  ihm  die  Erkenntniss 
der  Sinne  trügerisch.     Vielleicht  um  dies  zu  beweisen,   ist  jener 


n.  Die  reinen  Metaphysiker.     B.  Die  Eleaten.     c.  Zenon.    §.  41.  41 

Eleuchus  (t/^oqoos)  erfunden  welcher  zeigt,  dass  die  Sinne  nicht  gel- 
ten lassen,  was  mau  doch  vernünftiger  Weise  zugestehen  müsste. 
Wenn  Sophisten  und  Skeptiker  später  diesen  und  ähnliche  an- 
wandten, so  gehört  doch  Zenon  nicht  zu  ihnen,  und  die  Nachricht 
dass  er  auch  die  Existenz  des  Einen  geleugnet  habe,  ist  wohl 
durch  Missverständniss  entstanden.  Vielleicht  einer  Stelle,  die  auf- 
behalten ist,  wo,  wiederum  von  endloser  Theilbarkeit  sprechend, 
er  auf  die  Unmöglichkeit  letzter  Einheiten  (Atome)  zu  deuten 
scheint.  In  ähnlicher  Inconsequenz,  wie  seine  Vorgänger,  gibt 
auch  er  eine  Physik.  Die  Nachrichten  sagen  er  habe  die  vier  Ana- 
ximandrischen  Gegensätze  als  Elemente,  Freundschaft  und  Streit 
als  formende  Principien,  die  Nothwendigkeit  als  regelndes  Gesetz 
genommen,  und  die  Seele  als  Gemisch  jener  vier  Elemente  gefasst. 
Die  Prämissen  zu  allen  diesen  Sätzen  sind  gegeben,  die  Annähe- 
rung derselben  an  des  EmpMoklcs  Lehre  aber  so  stark,  dass  die 
Nachricht,  Zenon  habe  später  das  Lehrgedicht  des  Empcdokles 
commentirt,  erklärlich  wird.  Sollte  er  aber  da  noch  den  Ueber- 
gang  eines  Elements  ins  andere  gelehrt  haben,  so  wäre  die  Ab- 
weichung principiell.  Wahrscheinlich  Ijlieb  er  auch  hier  dem  Ana- 
ximandros  näher  stehn,  an  den  auch  seine  (wahrscheinlich  succeS- 
sive)  Mehrheit  der  Welten  erinnert.  Es  scheint,  als  wenn  an  diese 
Lehre  er  Polemik  gegen  Jlemhlif  und  Atomiker  angeschlossen  hätte. 

Diog.  Laert.  IX,  5.     Plac.   pliil.   1 ,   24.     V,  4.     Bitter  et  Preller  §.    154—159. 
Mullach  1.  c.  p.  266  —  270. 

§.  4L 
Der  Gegensatz  zwischen  Stoff  und  Kategorie,  vh]  und  Xdyog 
nach  Aristoteles,  ist  von  den  Pythagoreern  auf  den  Gegensatz  des 
Vielen  und  Einen ,  von  den  Eleaten  endlich  auf  den  des  Nichtseyns 
und  Seyns  reducirt,  auf  Formeln  deren  sich  noch  Pinto  als  der 
ganz  adäquaten  Ijedient.  Indem  nun  die  Eleaten  durchzuführen 
versuchen,  wozu  die  Pythagoreer  nur  Neigung  gezeigt  hatten,  das 
Seyn  mit  Ausschluss  des  Nichtseyns  festzuhalten,  werden  sie  zu 
reinen  d.  h.  antiphysikahschen  Metaphysiken!,  und  bilden,  wie  dies 
Pluto  mit  Recht  hervorhebt,  das  entgegengesetzte  Extrem  zu  den 
Physiologen.  Gerade  diese  extreme  Stellung  aber,  welche  sie  ein- 
nehmen, macht,  dass  sie  wider  Willen  stets  das  wieder  statuiren, 
was  sie  eben  zu  leugnen  versuchten.  Natürlich;  denn  soll  das  Seyn 
gedacht  werden  mit  Ausschluss  alles  Nichtseyns,  das  Eine  im  Ge- 
gensatz zu  aller  Vielheit,  so  stellt  sich  neben  dem  Gedanken  jenes 
ersten  der  des  zweiten  so  ein,  wie  neben  der  Concavität  einer 
Fläche  die  Convexität  ihrer  anderen  Seite.  Die  Eleaten  sind,  wie 
Aristoteles  richtig  sagt,  „gezwungen"  gewesen  neben  ihrer  Wissen- 


42  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

Schaft  vom  Seyn  eine  Theorie  von  dem  aufzustellen,  was  sie  doch 
für  Schein  erklärten.  Besteht  der  Fortschritt,  wie  früher  (§.  25) 
bemerkt  worden,  darin  dass  mit  Wissen  und  Willen  gethan  wird, 
was  auf  einem  früheren  Standpunkt  unbewusst  (gezwungen)  ge- 
schah ,  so  wird  im  Namen  des  Fortschritts  eine  Philosophie  postu- 
lirt  seyn,  welche  das  Seyn  und  das  Nichtseyn,  das  Eine  und  das 
Viele,  darum  aber  auch  die  Metaphysik  und  die  Physik  verbindet. 
Die  metaphysischen  Physiologen,  oder  physiologischen  Me- 
taphysiker,  nehmen  daher  die  höhere  Stellung  gegen  die  bisher 
betrachteten  Gruppen  ein,  welche  wenigstens  zweien  von  ihnen 
„den  ionischen  und  sikelischen  Musen"  Plato  mit  unverbesserlicher 
Genauigkeit  angewiesen  hat.  Wenn  Aristoteles  sie  zu  den  Physio- 
logen rechnet,  so  übersieht  er,  dass  seine  eigne  Begriffsbestim- 
mung auf  sie  nicht  mehr  passt,  da  sie  nicht  aus  Stoiflichem  „allein" 
Alles  ableiten. 

in. 

Die  metapliysischeii  Pliysiologeu. 

§.  42. 
Der  erste  Schritt,  der  in  dieser  Pachtung  gemacht  wird,  ist: 
zu  zeigen  dass  das,  was  Purmenidcs  geleugnet  hat  aber  immer 
wieder  statuiren  muss,  das  Nichtseyn,  eben  so  wie  das  Seyn  Prä- 
dicat  von  Allem  sey.  Sind  sie  es  beide,  so  ist  die  Einheit  beider, 
das  Werden,  trotz  des  darin  liegenden  Widerspruches  die  eigent- 
lich allein  wahre  Kategorie.  Zu  diesem  rein  metaphysischen  Fort- 
schritt kommt  dann  als  zweiter  hinzu,  dass  die  Kategorie  sogleich 
auch  physikalisch  angeschaut  wird.  Zu  seiner  physischen  Erschei- 
nung kann  das  Werden  keinen  natürlichen  Stoff  haben,  sondern 
nur  einen  natürlichen  Process.  HeraklU,  der  diesen  doppelten 
Schritt  über  die  Eleaten  hinaus  macht,  sieht  das  Werden  in  dem 
Verüüchtigungs  - ,  besonders  dem  Verbrennungsprocess.  Von  einer 
Unterscheidung  des  Materiellen  und  Geistigen,  des  Physischen  und 
Ethischen  ist  hier  noch  nicht  die  Rede,  und  die  verschiedenen 
Grade  des  Feuers  sind  zugleich  verschiedene  Stufen  des  Lebens 
und  der  Erkenntniss.  Was  sich  der  Einwirkung  des  Urfeuers  ent- 
zieht oder  verschliesst,  trennt  sich  vom  Allleben  und  der  Allver- 
nunft und  verfällt  dem  Tode ,  so  wie  dem  Idiotismus  und  Egoismus. 

§.  43. 

A. 

Uerakleitos. 

Schleiermacher  Herakleitos  der  Dunkle  u.  s.  w.  in    Wolf  und  Buttmann  Museum 
der  Alterthumswisseusch.     I    Bd.    1808.     Später  in:    Schi.  Sämmtl.  WW.    II,  2.    p. 


III.  Die  metaphysischen  Physiologen.     A.  Herakleitos.     §.   43,  1.  2.  43 

1 — 146.  Beiiiays  Heraclitea.  Bonnae  1848.  Bess.  Heraklitische  Studien  und :  Neue 
Bruchstücke  des  Heraklit  im  Rhein.  Mus.  Ferd.  Lassalle  Die  Philosophie  Heraklei- 
tos des  Dunklen  von  Ephesos.    Berlin   18.58.  2  Bde. 

1.  Herakleitos ,  der  Solin  des  Bhjson,  nach  den  Meisten  in 
Ephesus  geboren ,  soll  um  Ol.  69  geblüht  haben  und  als  Sechziger 
gestorben  seyn.  Aus  einer  vornehmen  Familie  stammend,  in  wel- 
cher das,  von  ihm  seinem  Bruder  überlassene,  Ehrenamt  des  ßa- 
ciXzvg  erblich  war,  ist  er  stets  ein  Verächter  der  Masse  gebheben. 
Die  polemische  Art  in  der  er  den  Thaies,  Xcnop/fanes  und  Py- 
thagoras  erwähnt,  so  wie  sein  Pochen  darauf,  dass  er  Autodidact, 
beweisen  dass  seine  Vorgänger  ihn  besonders  dadurch  gefördert 
haben,  dass  sie  seinen  Widerspruch  hervorriefen.  Sprüchwörthch 
ist  sein  Halten  an  der  eignen  Ueberzeugung  geworden.  Seine  Schrift 
tibqI  (pvascog,  von  Späteren  wegen  eines  Platonischen  Ausdrucks 
„Musen"  genannt ,  hat  vielleicht  noch  mehr  ethische  und  politische 
Weisungen  enthalten,  als  die  erhaltenen  Bruchstücke  vermuthen 
lassen.  Spätere  Ausleger,  deren  er  viele  gehabt  hat,  mochten  diese 
Lehren  von  den  übrigen  scheiden  und  so  das  Entstehen  mehrerer 
Abtheilungen  seines  Werks,  endlich  der  Sage,  dass  er  mehrere 
geschrieben  habe,  veranlassen.  Sein  düsterer  gedrungener  Cha- 
rakter spiegelt  sich  in  seinen  Schriften,  die,  vom  Sokrates  als 
schwer  verständhch  bezeichnet,  ihm  früh  den  Beinamen  des  Dun- 
keln gegeben  haben.  Neben  dem  Tiefsinn  derselben  und  Entleh- 
nungen ausländischer  Ijehrcn  trugen  vielleicht  stylistische  Gründe 
mit  dazu  bei. 

2.  Im  Gegensatz  zu  den  Eleaten,  welche  nur  dem  Seyn  Wahr- 
heit zugeschrieben,  das  Nichtseyn  geleugnet  hatten,  behauptet  He- 
raJilU  dass  Alles,  oder  auch  dass  Ein  und  dasselbe,  sey  und  nicht 
sey.  Damit  ist  an  die  Stelle  des  eleatischen  Seyns  seine  Einheit 
mit  dem  Nichtseyn  d.  h.  das  Werden  getreten,  und  der  Gedanke 
dass  Alles  werde  und  Nichts  ruhe ,  dass  Alles  in  einer  steten  Ver- 
änderung begriffen  sey,  sowohl  die  Dinge  als  das  betrachtende 
Subject,  dem  er  deshalb  ausdrücklich  das  Seyn  abspricht,  dieser 
Gedanke  wird  in  den  mannigfaltigsten  Wendungen  von  ihm  ausge- 
sprochen. Fiel  dem  Xcnophanes  das  Seyende  mit  dem  unterschieds- 
losen Einen  zusammen,  und  hatte  Parmenides  den  Eros  oder  die 
Freundschaft  über  Alles  gesetzt,  so  gefällt  sich  dagegen  llerahlil 
darin,  Alles  als  sich  Widersprechendes  zu  fassen,  er  preist  den 
Streit,  tadelt  den  Homer  wegen  seiner  Friedenshebe,  denn  Ruhe 
und  Stillstand  {axÜGiq)  ist  nur  bei  den  Todten.  Mit  diesem  steten 
Fluss  der  Dinge  hängt  die  Unsicherheit  der  Sinne  zusammen.  Die- 
sen nämlich  ist  jener  Fluss,  den  die  Vernunfterkenntniss   wahr- 


44  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

nimmt,  verborgen,  und  weil  was  wir  sehen  starr  und  todt,  des- 
wegen sind  Augen  und  Ohren  schlechte  Zeugen.  (Man  vergleiche 
damit  des  Contrastes  halljer  was  Melissas  lehrt  §.  38,  3.)  Viel- 
leicht dass  der  Vorzug,  der  dem  Geruch  gegeben  wird,  sich  darauf 
gründet ,  dass  er  die  Verflüchtigung  percipirt  und  also  am  Meisten 
durch  Formwechsel  bedingt  ist. 

3.  Ein  zweiter  Gegensatz  zu  den  Eleaten  ist,  dass  hier  das 
Princip  auch  physikalisch  angeschaut  wird.  Das  Werden  physika- 
lisch geworden  tritt  einmal  in  der  Zeit  hervor,  die  wirkhch  nach 
Sextos  Empeirihos  von  Herallit  zum  Princip  gemacht  worden  seyn 
soll  —  (während  Xeiiophanes  und  eben  so  Parmeindcs  sie  geleug- 
net hatten)  — ,  dann  aber  in  einer  concreteren  Weise  in  dem  ele- 
mentaren Process  der  Verbrennung.  Nicht  etwa  in  einer  schaf- 
fenden Gottheit  hat  HernMit  den  Grund  des  Alls  gesucht,  sondern 
es  war  stets  ein  ewig  brennendes  Feuer.  Dieses  als  einen  Stoff 
ansehn,  durch  dessen  Verdichtung  und  Verdünnung  die  Mannig- 
faltigkeit erklärt  würde,  wäre  ein  Missverständniss.  Sondern  ver- 
schiedene Grade  des  Verbrennungs  -  oder  auch  Verflüchtigungs- 
Processes  sieht  HernMit  in  den  verschiedeneu  Naturpotenzen,  die 
als  nvQoq  TQOTtai  in  dem  Verhältniss  zu  einander  stehn,  dass  Jedes 
den  Tod  des  Anderen  lebt,  in  Allen  aber  der  Verbrennungsprocess 
der  Maassstab  des  wahren  Seyns  ist,  wie  das  Gold  Werthmesser 
der  Dinge.  Dieser  Inbegriff  alles  Piealeu  wird  dann  sogleich  als 
das  auch  räumlich  Begi^eifende  gedacht  und  erhält  die  Namen  des 
Tc^QiExov,  des  TiegiodiKov  tivq  u.  s.  w.  Die  beiden  Formen  des  Wer- 
dens, das  Entstehen  und  Vergehn,  erscheinen,  wie  jenes  im  Feuer- 
process,  so  diese  im  Steigen  und  Fallen  desselben,  in  jener  68og 
avco  xßTO) ,  bei  der  die  räumliche  Richtung  nicht  wesentlicher  ist 
als  die  Steigerung  und  Schwächung.  Das  Starr-  und  Kaltwerden 
ist  das  Herunterkommen. 

4.  Die  untrennbare  Verbindung  der  beiden  Momente  des  Wer- 
dens wird  von  Herallit  in  den  verschiedensten  Formen  gelehrt. 
Bald  indem  er  beide  Wege  als  einen  bezeichnet,  bald  indem  er 
von  einem  Abwechseln  des  Verlangens  und  der  Sättigung  spricht, 
oder  auch  von  einem  Spiel  in  welchem  die  Welt  producirt  werde, 
bald  indem  er  sagt,  dass  die  Nothwendigkeit  die  beiden  Gegen- 
strömungen regle.  Als  Namen  kommen  für  diese  Macht  vor:  El- 
(xaQuivyj,  Jal^cov ,  Tvcop/ ,  JiKt]  U.A.  Persisch-magische  Einflüsse 
hat  man  wohl  mit  Recht  darin  gefunden,  dass  die  Dienerinnen 
dieser  Macht,  welche  er  den  Saamen  alles  Geschehens  und  das 
Maass  aller  Ordnung  nennt,  Zungen  genannt  werden.  Dagegen 
schliesst  sich  HevfMit  der  vaterländischen  Mythologie  an,   wenn 


ni.  Die  metaphysischen  Physiologen.     A.  Herakleitos.    §.  43,  4.  5.  45 

er  neben  den  Zeus  (d.  h.  das  Urfeuer)  als  die  beiden  Seiten  seines 
Wesens  den  Apollon  und  den  Dionysos  stellt.  In  dieser  doppelten 
Richtung,  d.  h.  Scala,  werden  die  Extreme  gebildet  von  der  star- 
ren Erde  unten  und  dem  beweglichen  Feuer  oben,  welches  als 
Element  (Hephaistos)  von  dem  in  allen  Elementen  verborgenen 
Urfeuer  (Zeus)  unterschieden  wird.  Das  Letztere  ist  das  im  Kreis- 
lauf der  Elemente  Bleibende,  daher  nie  als  solches  Hervortretende. 
Das  Feuer ,  als  der  extreme  Gegensatz  zur  starren  Leiblichkeit  wird 
als  das  bewegende  und  beseelende  Priucip  gedacht.  Zwischen  ihm 
und  der  Erde  steht  in  der  Mitte  das  Meer,  halb  aus  Erde  halb 
aus  feuriger  Luft  bestehend,  darum  jene  niederschlagend  diese 
ausdünstend,  und  oft  der  Saame  der  Welt  genannt.  Das  Ueber- 
gehn  in  die  starre  Leiblichkeit  wird  darum  bald  als  Verlöschen 
bald  als  Feuchtwerdeu  bezeichnet,  das  Feurigwerden  dagegen  ist 
ein  Lebendigerwerden.  Darum  ist,  selbst  wenn  der  bei  den  Stoi- 
kern vorkommende  Ausdruck  UTtvocoaig  Heraklitisch  Aväre,  darunter 
kein  Untergang  zu  verstehn,  sondern  vielmehr  in  dem  ewigen  Kreis- 
lauf aller  Dinge,  dessen  Ablauf  das  grosse  Jahr  des  Hernklits 
seyn  mochte,  der  eine  Wendepunkt,  welchem  als  der  diametral 
entgegengesetzte  das  Werden  zum  Erdschlamm  gegenüberstünde. 
5.  Eine  Bestätigung  seiner  Ansicht  fand  Heraklit  in  den  me- 
teorischen Erscheinungen,  zu  denen  er  auch  die  Gestirne  rechnet. 
Sie  sind  ihm  Ansammlungen  glänzender  Dünste  in  den  nachenför- 
migen  Höhlungen  des  Himmels,  oder  Zusammenfilzungen  von  Feuer, 
immer  aber  entstanden  und  genährt  durch  die  Ausdünstungen  der 
Erde  und  des  Meers.  So  besonders  die  Sonne,  die  täglich  ihr 
Licht  ausstrahlt  und  verliert,  und  täglich  sich  durch  jene  Nahrung 
erneut.  Weil  die  Ausdünstung  eine  doppelte  ist ,  eine  dunkle  und 
feuchte,  so  wie  eine  trockne  und  leuchtende,  so  werden  Tag  und 
Xacht ,  Verfinsterungen  und  meteorische  Lichterscheinungen  daraus 
erklärt,  dabei  aber  ilu-e  strenge  Gesetzmässigkeit  hervorgehoben. 
Mehr  noch  als  in  den  elementaren  Naturpotenzen  kreuzen  sich  in 
den  aus  ihnen  zusammengesetzten  organischen  Wesen  die  beiden 
entgegengesetzten  Richtungen.  Vielleicht  weil  sie  hier  schwerer  zu 
erkennen,  sagt  Ilerallif  dass  die  verborgene  Harmonie  besser  sey 
als  die  offenbare.  Vereinzelte  Aeusserungen  weisen  darauf  hin, 
dass  er  eine  Stufenfolge  von  Wesen  annahm.  Weil  in  derselben 
Nichts  des  Lebensprincipes  ganz  entblösst  ist,  deswegen  ist  ihm 
Alles  voll  Götter  und  Dämonen,  und  ein  Gott  nur  ein  unsterbli- 
cher Mensch,  wie  der  Mensch  ein  sterblicher  Gott.  Aber  auch 
der  Mensch  ist  von  seiner  bloss  leiblichen  Seite  genommen,  etwas 
Werthloses,  er  heisst  der  von  Natur  Vernunftlose.    Leben,  Seele 


46  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

und,  da  dies  mit  Bewusstseyn  und  Erkennen  Eins  ist,  auch  dieses, 
kommt  ihm  nur  zu  durch  Theilnahme  an  dem  allbelebenden  Feuer 
und  seiner  reinsten  Erscheinung,  dem  Umfassenden.  Dies  ist  das  al- 
lein Vernünftige,  an  welchem  die  Seele,  je  wärmer  und  trockner  sie 
ist  um  so  mehr,  daher  in  warmen  und  trocknen  Ländern  leichter, 
Theil  nimmt.  Consequenter  Weise  ist  ihm  das  Hineintreten  der 
Seele  in  den  Leib  ein  Feuchtwerden,  also  ein  Erlöschen  und  Ster- 
ben. Dagegen  ist  das  Sterben  des  Leibes  das  eigentliche  Wieder- 
aufleben der  Seele. 

6.  Weil  das  eigenthch  Vernünftige  das  Umfassende  ist,  des- 
halb ist  die  Vernunft  das  Allen  Gemeinsame  {%oiv6v)  und  der  Ein- 
zelne hat  nur  Theil  an  ihr ,  wenn  er  durch  alle  Eingänge ,  nament- 
lich die  Sinne,  sich  von  ihr  durchdringen  lässt,  und,  gleich  der 
Kohle  die  dem  Feuer  nahe  bleibt,  von  ihr  durchglüht  ist.  Nicht 
nur  der  Schlaf,  dieses  Mittelding  zwischen  Leben  und  Tod,  wäh- 
rend dessen  sich  die  Thore  der  Sinne  schliessen,  und  der  Mensch 
nur  durch  das  Athmen  an  dem  Umfassenden  Antheil  hat,  sonst 
aber  in  seiner  eignen  Welt  lebt,  isolirt  den  Menschen,  sondern 
eben  so  schliesst  sich  der  Mensch  ab  durch  seine  bloss  subjective 
Meinung,  die  Hernidit  für  eine  Krankheit  erklärt,  von  der  freilich 
Keiner  ganz  frei  ist,  indem  Jeder  den  kindischen  Spielen  des  Mei- 
nens  nachhängt,  und  den  Wahn  hegt,  es  sey  die  Vernunft  in  ihm 
seine  eigne.  Bei  diesem  Hervorheben  des  Gemeinsamen  gegen  die 
isolirende  subjective  Betrachtung,  war  es  begreiflich,  dass  ihm  die 
Sprache  als  das  eigenthche  Mittel  des  Erkennens  galt,  und  dass 
er  der  Erste  war,  der  sie  einer  philosophischen  Betrachtung  un- 
terzog. Auch  seine  ethischen  Lehren  stimmen  ganz  mit  seinen 
übrigen  zusammen:  Das  Feurigwerden  fällt  ihm  mit  dem  Guten, 
das  Starr-  und  Todtwerden  mit  dem  Uebel  zusammen.  Wie  jene 
beiden  Bewegungen ,  so  gehören  auch  Gutes  und  Böses  zusammen, 
und  bilden  die  Harmonie,  wie  sich  in  der  Form  des  Bogens  oder 
der  Lyra  entgegengesetzte  Spannungen  harmonisch  vereinigen.  (Dass 
anderwärts  anstatt  des  Bogens  der  Pfeil  genannt  wird,  lässt  Lns- 
salle  auch  an  dieser  Stelle  eine  Anspielung  auf  die  doppelte  Wirk- 
samkeit des  Apollon  vermuthen.)  Darum  ist  auch  hier  nicht  die 
Ruhe ,  sondern  der  Streit  das  Höchste.  Was  im  Theoretischen  die 
Meinung,  das  ist  hier  der  sich  überhebende  Eigenwille.  Dieser 
muss  unterdrückt  werden,  so  schwer  dies  auch  ist,  und  wie  dort 
der  Koivoq  löyog  SO  ist  hier  das  Gesetz  das  Höchste.  Mehr  als  für 
die  Mauern  soll  der  Bürger  für  die  Gesetze  der  Stadt  kämpfen. 
Darum  ist  auch,  was  Uernklit  vom  Menschen  verlangt:  die  Erge- 
bung unter  die  Nothwendigkeit,  als  Frucht  der  Erkenntniss,  dass 


III.  Die  metaphysischen  Physiologen.     A.  Ilerakleitos.     §.   44.  47 

das  wechselnde  Uebergewicht  des  Guten  und  des  Uebels  viel  bes- 
ser ist,  als  was  die  eigensüchtigen  Wünsche  verlangen.  Weil  auf 
solcher  Einsicht  beruhend,  deswegen  ist  diese  Ergebung  eine  freie, 
und  die  Polemik  gegen  Astrologie  und  andere  fatalistische  Ansich- 
ten streitet  nicht  gegen  die  Forderung  dieser  Resignation. 

Diog.  Lah-t.  IX,  1.  Plac.  phil.  I,  3.  13.  23.  27.  28.  II,  17.  21.  24.  25.  27. 
28.  32.  III,  17.  IV,  3.  V,  23.  Tieüer  et  Bitter  1.  c.  §.  35—50.  Gesammelte 
Fragmente  bei  Henr.  Stephanus  1.  c.  p.  129 — 155.  Schleiermacher  1.  c.  Bernai/s  1. 
c.     LassaUe  1.  c.     MuUach  1.  c.  p.  315  —  329. 

§.  44. 
Die  Polemik  des  Hernklit  gegen  die  Eleaten  drückt  seinen 
vornehmeren  Standpunkt  herab  zu  einer,  der  ihrigen  entgegenge- 
setzten, Einseitigkeit.  Noch  mehr  geschieht  dies  bei  seinen  Schü- 
lern. Wenn  Kratylos  ^  den  Meister  überbietend  es  nicht  niu'  für 
unmöglich  erklärt  zweimal,  sondern  auch  nur  einmal  in  denselben 
Fluss  zu  steigen,  so  macht  er  dadurch  den  IlerakfU  zu  einem 
Leugner  alles  Seyns.  So  kann  es  kommen,  dass  die  Skeptiker, 
die  nur  das  Nichtseyn  statuiren,  ihn  zu  sich,  so  ferner  dass  jiri- 
stoteles  ihn  zu  den  blossen  Physiologen  rechnet,  worin  ihm  zwar 
Unrecht  geschieht,  aber  nicht  ohne  Grund.  Neben  dem,  von  lle- 
raklit  zu  Ehren  gebrachten  Werden  das  Eleatische  Seyn  festzu- 
lialten ,  ohne  dabei  in  abstracte  Metaphysik  zurückzufallen,  ist  da- 
her die  Aufgabe.  Es  wird  mit  den  Eleaten  und  im  Gegensatz  zu 
Herakiit  unveränderliches  Seyn  angenommen  werden  müssen,  das 
aber,  im  Gegensatz  zu  ihnen,  als  physikalischer  Stoff  und,  im  He- 
raklitischen  Geiste,  als  Vielheit  gedacht  wird.  Also  Vielheit  un- 
veränderlicher Grundstoffe.  Es  wird  weiter,  mit  Herakiit  und  im 
Gegensatz  zu  den  Behauptungen  der  Eleaten,  \\irkhcher  Process 
angenommen  werden,  dieser  aber  mrd  nicht,  wie  bei  Herahiit, 
ein  Brennen  ohne  Substrat  seyn ,  sondern  ein  Process  an  Substra- 
ten, dem  aber,  anders  als  bei  den  reinen  Physiologen,  bewusster 
Weise  metaphysische  Principien  zu  Grunde  liegen.  Der  Mann,  den 
Nationalität  und  Bildungsgang  befähigten,  diesen  Fortschritt  zu 
machen,  und  in  seiner  Lehre  Alles  zusammenzufassen,  was  die 
bisherigen  Philosophen  gelehrt  hatten,  so  dass  es  keine  einzige 
Schule  gibt,  zu  der  er  nicht  mit  scheinbarem  Rechte  wäre  gezählt 
worden,  bei  dem  das  chaotische  Urgemisch  des  Anaximandros, 
das  Wasser  des  Thaies ,  die  Luft  des  Jiia.iimencs ,  die  Erde  und 
das  Feuer  des  Parmenides  und  Ilcraklif ,  die  Liebe  der  Eleaten, 
der  Streit  des  Herakiit,  die  Verdichtung  und  Verdünnung  des  T/ia- 
les  und  Anaximenes,  die  Mischung  und  Scheidung  des  Anaximim- 
dros,  endlich  die  Herrschaft  der  Zahlenverhältnisse  in  den  Mischun- 
gen wie  bei  den  Pythagoreern,  Anerkennung  findet,  ist  Empedokles. 


48  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

§.  45. 

B. 

Empeilokles. 

Fr.  Q-uü.  Sturz  Empedoeles  Agrigentiuus.  Lips.  1805.  Karsten  1.  c.  Vol.  II. 
Amst.  1838.  Lommatzsch  Die  Weisheit  des  Empedokles.  Berl.  1830.  Steinhart  Art. 
Empedokles  in  Ersch  u.   Gruber's  Encyclopädie. 

1.  Empedokles .  Sohn  des  Meton  in  Akragas  (Agrigent)  auf 
Sicilien  als  Spross  einer  vornehmen  Famihe  geboren,  hat  wahrschein- 
lich von  Ol.  72  bis  Ol.  87  gelebt.  Durch  patriotische  Gesinnung, 
Beredsamkeit  und  ärztliche  Kunst  berühmt,  hat  er  der  letztern  und 
manchem  Ausserordentlichen  in  seiner  Lebensweise  den  Namen 
eines  Zauberers  zu  verdanken.  Sein  Tod  ist  frühe  mit  fabelhaften 
Umständen  im  entgegengesetzten  Interesse  ausgeschmückt.  Be- 
deutende Gewährsmänner  lassen  ihn  mit  pythagoreischer  Lehre 
vertraut  seyn,  und  wenn  auch  die  Chronologie  verbietet  ihn  zu 
einem  persönlichen  Schüler  des  Piithngorns  zu  machen,  so  haben 
ihn  doch  auch  noch  Neuere  Pythagoreer  genannt.  Andere,  darauf 
fussend  dass  Nachrichten  ihn  zum  Schüler  des  Parmcnides  machen, 
nennen  ihn  einen  Eleaten.  Die  Meisten  endlich  rechnen  ihn  nach 
dem  Vorgange  des  Aristoteles  zu  den  Physiologen.  Die  Zusam- 
menstellung mit  Hernklit  bei  Plato^  gerechtfertigt  auch  durch  den 
Einfluss  den  er  von  dem  Ephesier  erfuhr,  weist  ihm  seine  eigent- 
liche Stelle  an.  Von  den  Schriften  des  Empedokles ,  deren  Titel 
verschieden  angegeben  werden,  sind  von  zweien,  der  Schrift  nsgl 
(pva^cog  und  den  na^aQ^olg  Fragmente  erhalten.  Einige  der  Neue- 
ren halten  die  letzteren,  so  wie  auch  die  larQiKa,  für  Abtheilungen 
der  erstgenannten  Schrift. 

2.  Mit  den  Eleaten  hält  Empedokles  dem  von  ihm  für  un- 
möghch  erklärten  Entstehen  gegenüber,  das  unveränderliche  Seyn 
fest.  Indem  er  aber  das  von  den  Eleaten  geleugnete  Moment  der 
Vielheit  und  Materialität  anerkennt,  wird  ihm  das  Seyn  zu  einer 
Vielheit  unveränderlicher  Grundstoffe,  deren  Vierzahl  er  zuerst 
gelehrt,  deren  Uebergang  in  einander  er  geleugnet  hat.  Ihre  Be- 
zeichnung mit  den  Namen  der  Volksgötter ,  dabei  der  Vorzug  den 
er  dem  Feuer  als  dem  Zeus  gibt,  erinnert  an  TIeraklit,  die  Vier- 
zahl an  die  Pythagoreer.  Zu  diesen  unveränderhchen  Substraten 
(^'i^cJjuatß,  vXiKCil  uQiai)  kommen  zwei  principielle  Kräfte  oder  for- 
mende Principien,  Freundschaft  und  Streit,  d.  h.  die,  zunächst  nur 
physikahsche,  Anziehung  des  Verschiedenartigen,  und  ihr  Gegen- 
theil,  durch  welche  die  starre  Ruhe  der  Eleaten  vermieden,  an 
die  Stelle  aber  des  Heraklitischen  substratlosen  Processes  ein  Pro- 
cess  an  den  Substraten ,  die  Veränderung ,  mit  ihren  beiden  Ana- 
ximandrischen  Formen  Mischung  und  Trennung,  gesetzt  wird.    Jene 


III.  Die  metaphysischen  Physiologen.     B.  Empedokles.     §.  45,  3.  49 

beiden  tliätigen  Priiicipien  sind  untrennbar  verbunden  und  ihre  Ein- 
heit heisst  bald  Xoth^Yendigkeit  bald  Zufall.  Aus  einzelnen  Aeus- 
serungen  des  Empedokles  zu  folgern,  ihm  sey  die  Freundschaft 
mit  dem  Feuer ,  der  Streit  mit  den  übrigen  Elementen  zusammen- 
gefallen, hiesse  die  Klarheit  seiner  Lehre  trüben.  Richtiger  als 
ihn  so  zu  einem  blossen  Physiologen  zu  machen,  ist  es  mit  Ari- 
stolrics  anzuerkennen,  dass  er  neben  den  materiellen  Substraten 
die  tliätigen  Principien  als  bewegende  Ursache  gedacht  habe. 

3.  Als  der  primitive  Zustand  der  Materie  wird  ein  iiiyixa  an- 
gegeben, das  oft  i)ythagoreisch  als  das  Eine,  eleatisch  als  das 
Seyende ,  ferner  als  das  All  oder  die  ewige  Welt ,  gewöhnlich  aber 
nach  seiner  Gestalt  als  der  arpatoog  bezeichnet  wird,  welchem  na- 
ttu'lich  keine  bestimmte  Qualität  zukommt,  und  das,  als  ein  sol- 
ches cmoiov ,  dem  chaotischen  Unbestimmten  des  Anaxhnandros 
entspricht.  Da  solches  Gßmischtseyn ,  welches  so  innig  ist,  dass 
es  keinen  leeren  Pvaum  duldet,  den  Gedanken  sehr  kleiner  Theile 
involvirt .  so  hat  man  den  EmpedoUes  theils  mit  den  Atomikern 
identificirt,  theils  ihm  die  Anschauungen  des  Anaxurioras  geliehen, 
ja  selbst  die  Ausdrücke,  die  diesem  einmal  zugeschrieben  werden. 
Ausser  dem  Grpcdooq .  als  dem  Ganzen,  kann  natürlich  kein  Seyn 
weiter  angenommen  werden,  und  alle  Vorstellungen  von  einer  trans- 
seendenten  Gottheit  sind  entweder  dieser  Lehre  geliehen  oder  In- 
consequenzen  derselben.  Eben  so  wenig  ist  daraus,  dass  nicht 
die  einzelnen  Sinne  (welche  der  Perception  der  einzelnen  Elemente 
bestimmt  sind) ,  sondern  der  vovg  den  Sphairos  percipirt ,  mit  man- 
chen Aelteren  und  Neueren  zu  schliessen,  Empedol/es  habe  einen 
■/,6a(iog  voYiTÖg  im  Platonischen  Sinne  gelehrt.  In  dem  ursprüngli- 
chen Mischzustande  ist  natürlich  nur  die  Freundschaft  wirksam, 
oder  wenigstens  der  Streit  auf  ein  Mindestes  zurückgedrängt.  Da- 
bei liegt  die  Verwechslung  der  Einheit  und  des  Einigenden  so 
jiahe ,  dass  es  nicht  befremden  darf,  wenn  das  Eine  und  die  Liebe 
als  Synonyma  vorkommen.  Indem  in  jenem  Gemisch  sich  der 
Streit  geltend  macht,  trennen  sich  die  Ungleichartigen ,  und  es  ist 
mit  Unrecht  eine  Inconsequenz  genannt  worden ,  dass  bei  ihm  der 
Hass  (das  Gleichartige)  vereine.  Jetzt  vereinigen  sich  die  gleichen 
Theile,  d.  h.  es  erfolgt  die  Scheidung  der  Elemente.  In  welcher 
Reihenfolge  sie  sich  ausschieden,  darüber  streiten  die  Xachrich- 
ten.  Weil  es  eine  Scheidung  des  Ungleichartigen  ist,  deswegen 
ist  nach  Empedokles  der  Himmel  ohne  Liebe  geworden,  und  die 
Elemente  der  Welt  sind  vom  Hass  beherrscht.  Nur  ein  Theil  aber 
des  Ganzen  tritt  in  diese  Sonderung  und  nur  in  diesem,  dem 
xoöftog,  heiTScht  der  Streit,  nicht  aber  in  dem  übrigen  All.    Nur 

rnlinarin  ,  Gosoli.  d    Tliil.   I.  A 


50  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  fUnreife). 

selten  wird  iin  Heraklitischen  Sinne  der  ungeschiedene,  chaotisch 
bleibende,  Theil  des  Sphairos  als  todte  Materie  bezeichnet,  ge- 
wöhnlich sieht  Empedokles  (eleatisch)  darin  das  Höhere  und  lässt 
eben  darum  allendlich  Alles  in  diese  Negation  jeder  Besonderheit 
wieder  zurückgehn. 

4.  Nur  die  einfachen  Elemente  danken  natürlich  ihre  Sonder- 
existenz dem  Streit;  die  anderen,  besonders  die  organischen,  We- 
sen sind,  als  sehr  zusammengesetzt,  Product  der  Liebe,  durch 
welche  die  ursprünglich  einzeln  aus  dem  Boden  hervorwachsen- 
den  Glieder  zusammengehalten  werden,  und  deren  immer  grössere 
Macht  sich  in  der  Stufenfolge  immer  zusammengesetzterer  Wesen 
zeigt.  Ausser  der  Zahl  der  Componenten  bedingt  auch  das  Ver- 
hältniss  der  Mischung,  welches  sogar  (pythagoreisch)  in  Zahlen 
ausgedrückt  wird,  die  Vollkommenheit  der  Organismen.  Sogar 
der  Mensch  aber,  der  vollkommenste  und  darum  zuletzt  hervor- 
getretene, ist  als  besonderes  Wesen  nichts  Ewiges,  und  die  See- 
lenwanderung vertritt  hier  die  Unsterblichkeit.  Dass  der  Mensch 
selbst  aus  ihnen  besteht,  setzt  ihn  in  Stand,  alle  sechs  Principien 
zu  percipiren.  Das  Feuer  in  ihm  percipirt  das  Feuer  ausser  ihm 
u.  s.  w.  Bei  der  Betrachtung  der  Sinneswahrnehmungen  scheint  er 
sehr  ins  Detail  gegangen  zu  seyn  und  Vieles  durch  die  Annahme 
von  Poren  erklärt  zu  haben.  Nirgends  ist  die  Mischung  der  Ele- 
mente inniger  als  im  Blute.  Dies  ist  ihm  deshalb  der  Sitz  des  v6i]^a, 
d.  h.  des  Complexes  aller  Perceptionen.  Die  Erkenntniss  durch 
die  Sinne  ist,  weil  sie  auf  das  Einzelne  (ein  Element)  geht,  trü- 
gerisch, sie  vermag  nur  das  Getrennte,  daher  nicht  den  Sphairos 
zu  erfassen,  anders  dagegen  das  vorj^ia,  Avelches  selbst  der  Verein 
der  Perceptionen,  auch  das  durch  Liebe  Geeinigte  erkennt.  Wie 
Lebens-  und  Erkenntnissprincip  hier  noch  ganz  zusammenfallt, 
eben  so  der  Begriff  des  Uebels  und  des  Bösen.  Nur  iti  dem,  der 
Scheidung  verfallenen,  KÖa^og  soll  es  dessen  geben,  jenseits,  im 
aq)aiQog,  ist  Alles  gut.  Die  asketischen  Regeln,  welche  Empedokles 
gibt,  sind  auf  die  Achtung  vor  allen  Erscheinungen  der  Liebe 
gegründet.  Was,  namentlich  in  den  Katharmen,  von  religiösen 
Lehren  enthalten  ist,  betrifft  namentUch  das  jenseitige  Leben,  so- 
wohl der  Seligen  im  Göttersitze,  als  der  schuldbeladenen  in  rast- 
loser Flucht  durch  die  Welt  Gejagten.  Es  zeigt  viele  Berührungs- 
punkte mit  Pythagoreischen  Lehren,  stimmt  aber  nicht  immer  zu 
den  eignen  des  Empedohles.  Gleiches  gilt  von  den  Aeusserungen 
über  die  Volksgötter,  wo  er  darunter  nicht,  wie  oben,  die  Grund- 
stoffe versteht.  Ausführlich  dargestellt  und  richtig  gewürdigt  hat 
diese  Lehren  Zeller  (a.  a.  0.  2tp  Aufl.  Bd.  I  p.  547  ftV). 


m.  Die  metaphysischen  Physiologen.    Uebergang  zu  den  Atomikern.    §.  46.     51 

Diog.  LaeH.  VUI,  2.  Plac.  phil.  I,  3.  5.  13.  15.  17.  18.  24.  26.  30.  II.  1. 
6.  7.  8.  10.  11.  13.  20.  21.  23.  27.  30.  HI,  8.  16.  IV,  5.  9.  13.  14.  16.  17.  22. 
V.   7.  8.   10.  11.  12.   14.  15.   18.  19.  21.   22.  24.   25.   26.   27.   28.      PieUer  et  Hüter 

§,   168 — 181.     Die  gesammelten  Fragmente    s.  b.  Henr.  Stephanus  1.  c.  p.  17 31. 

Sturz  1.  c.     Karsten  1.   c.     MnUach  1.  c.  p.    1  —  14.  (Comment.  15—80). 

§.   46. 

Der  Vorwurf,  den  man  dem  HeralUt  mit  einem  Anschein  von 
Recht,  seinen  Nachfolgern  ganz  mit  Recht,  machen  konnte,  dass 
sie  eigentlich  nur  das  Nichtseyn  statuirten ,  diesen  wird  dem  Em- 
pedokles  Niemand  machen.  Wohl  aber  den  entgegengesetzten: 
Das  Leere,  dieses  physikalisch  angeschaute  Nichtseyn,  wird  aus- 
drücklich von  ihm  geleugnet.  Nicht  nur  dass  dies  eine  Art  von 
Recht  gibt,  ihn  ganz  zu  den  Eleaten  zu  rechnen,  es  verwickelt 
ihn  auch  in  Widersprüche,  welche  vielleicht  Plato  bewogen  ihn  so 
weit  unter  HeraLlU  zu  stellen.  Dass  alle  Mannigfaltigkeit  nur 
durch  öiaort'jaaTcc,  d.  h.  durch  das  Zwischentreten  des  Leeren,  ent- 
steht hatten  die  Pythagoreer  gezeigt;  dass  Bewegung  nur  möglich 
sey  vermöge  des  Leeren,  wussten  schon  die  Eleaten.  Da  nun 
durch  dieses  beides  aber  die  Welt  entsteht ,  so  wird  ihre  Realität 
behauptet,  die  Bedingungen  derselben  aber  geleugnet.  Ein  glei- 
cher Widerspruch  ist  es,  wenn  dem  in  die  Scheidung  getretenen 
Theil  des  Alls  der  Ehrennahme  des  y.oGfiog  ertheilt,  dann  ihm  aber 
der  ungeschiedene  Theil  des  Sphairos ,  also  die  chaotische  Unord- 
nung der  Ordnung,  vorgezogen  wird,  ganz  zu  geschweigen  der 
untergeordneten  Widersprüche,  dass  der  Leugner  des  Leeren  so 
Vieles  durch  Annahme  von  Poren  erklärt  u.  s.  w.  Der  durch  solche 
AVidersprüche  geforderte  Fortschiitt  wird  darin  bestehn,  dass  im 
Gegensatz  zu  den  Eleaten  und  IhralVd  der  metaphysische  Grund- 
satz geltend  gemacht  wird,  dass  Seyn  und  Nichtseyn  ganz  gleiche 
Berechtigung  haben,  und  dass  dies,  weil  die  Zeit  der  blossen  Me- 
taphysik zu  Eiide ,  in  einer  Physik  durchgeführt  wird ,  in  der  den 
vielen  unveränderlichen  Substraten,  als  dem  Sepi,  das  Leere  als 
das  Nichtseyn  gegenül)ersteht ,  beide  aber  durch  Lieinandertreten 
das  physikalisch  angeschaute  Werden,  Bewegung  und  Veränderung, 
hervorbringen.  Der  Atomismus  der  Abderitischen  Philosophen' 
macht  diesen  Fortschritt.  Selbst  wenn  die  Vertreter  desselben 
nicht,  was  bei  seinem  Hauptrepräsentanteu  nachweislich  ist,  ihre 
Vorgänger  in  der  Pliilosophic  gekannt  hätten,  würden  wir  daher 
sagen  müssen,  dass  ihr  Standpunkt  alle  bisherigen  überrage,  weil 
in  sich  vereinige. 

4* 


52  Alte  Philosophie.     Erste  Periode  (Unreife). 

§•  47. 

C. 

Die  Atomiker. 

F.  Papcncordt   De  Atomicorum  doctrina.    Berol.   18.32.      F.   G,  A.  Mullach    De- 
mocriti  Abderitae  Operum  fragmeiita.    Berol.  184.3. 

1.  Da  vom  Levlipjws  fast  Nichts  bekannt  ist,  indem  die  Zeit- 
angaben schwanken,  von  seinen  Schriften  Nichts  auf  uns  gekom- 
men ist,  und  es  vielleicht  nur  auf  einem  Missverständniss  beruht, 
dass  T/teop//rast  ihm  eine  demokritische  Schrift  soll  zugeschrieben 
haben ,  so  ist  sein  Landsmann  und  Schüler  oder  jüngerer  Gefährte, 
der  Abderite  DcmolrHos ,  des  Ilegesisiratos  Sohn,  um  so  mehr 
als  der  wahre  Repräsentant  des  Atomismus  anzusehn,  als  er  in 
sein  Werk  wohl  Alles  aufgenommen  haben  möchte,  was  Jener  ge- 
lehrt hat.  Um  Ol.  80  geboren,  hat  Demoh-it  sein  grosses  Ver- 
mögen auf  Reisen  ausgegeben,  um  in  allen  damals  bekannten  Län- 
dern Schätze  des  Wissens  zu  sammeln ,  mit  denen  beladen  er  in 
seine  Heimath  zurückkehrte,  wo  er  in  sehr  hohem  Alter  gestor- 
ben ist.  Von  den  vielen  Werken,  die  Tlirasifllos  in  Tetralogien 
zusammengestellt  hat,  sind  manche  vielleicht  Unterabtheilungen 
grösserer  Werke.  Die  wichtigsten  waren  wohl  sein  ^syctg  und  fii- 
KQog  8i(xyioai.iog ,  die  im  Zusammenhange  die  Atomenlehre  und  Welt- 
Construction  enthielten.  Ihnen  gehören  wohl  viele  der  Fragmente 
an,  die  erhalten  sind.  DemokrWs  Styl  war  trotz  einzelner  Solö- 
cismen  im  Alterthum  berühmt. 

2.  Die  Uebereinstimmung  der  atomistischen  Lehre  mit  der 
eleatischen,  welche  von  alten  Gewährsmännern  durch  historische 
Zusammenhänge  erklärt  wird,  zeigt  sich  darin  dass  beide  ein  wirk- 
liches Werden  (der  Vielen  aus  Einem  oder  des  Einen  aus  Vielem) 
leugnen.  Weiter  darin  dass  sie  das  Raumerfüllende  als  das  ov 
fassen  und  ihm  unveränderliche  Realität  zuschreiben ,  endlich  dass 
sie  das  Leere  als  das  fit}  ov  bezeichnen.  Eben  so  aber  stimmen 
die  Atomiker,  und  hier  wohl  auch  nicht  ohne  historische  Zusam- 
menhänge ,  mit  dem  Herahlil  überein ,  und  es  wird  diesem  Gegner 
der  Eleaten ,  ganz  wie  ihnen ,  Recht  und  Unrecht  zugleich  gegeben 
in  dem  Satz,  der  die  Summe  der  atomistischen  Metaphysik  ent- 
hält: Das  Seyn  ist  nichts  mehr  als  das  Nichtseyn.  Das  Weitere 
aber  ist,  dass  diese  Gedankenbestimmungen  zugleich  physikalisch 
gefasst  werden:  das  Seyn  als  das  Volle  {iilriQig),  Raumerfüllende 
iexzQiov),  Körperliche  (ec5/ita),  das  Nichtseyn  als  das  Leere  (xivov), 
nach  Anderen  auch  als  das  Dünne  {iiävov).  Die  eigenthümliche 
Formuhrung  dieses  Gegensatzes  in  8lv  und  ^ri6lv  kann  mit  Ichts 
und  Nichts  wiedergegeben  werden.    Dass  durch  das  Hineintreten 


111.  Die  metaphysischeu  Physiologen.     C.  Die  Atomiker.   §.  47,  3.  4.         53 

des  Leeren  in  das  Seyn,  dieses  zu  einer  Vielheit  wird,  ist  eine 
schon  den  Pjthagoreern  geläufige  Vorstellung.  Das  Seyn  besteht 
daher  aus  einer  unendlichen  Menge  sehr  kleiner  und,  nur  darum, 
unsichtbarer  ö-pj^iara  oder  idiai,  die  weil  sie  gar  keine  Zwischen- 
räume haben  nafmh'jQi],  weil  keine  haben  können  döiaiQera,  axo^a 
sind.  Das  Leere  dagegen,  wie  es  die  Zwischenräume  unter  den 
Urkörperchen  bildet,  gibt  die  öiaGn'i^ara  oder  noQoi;  wie  es  sie 
alle  umgibt  ist  es  das  eigentlich  so  genannte  Leere  oder  auch  das 
fXTiziQov,  mit  welchem  Namen  ja  auch  schon  die  Pythagoreer  es 
bezeichnet  hatten.  In  dieser  unendlichen  Leere  existirt  eine  un- 
endliche Menge  von  Welten,  vielleicht  von  einander  durch  hautar- 
tige Wände  geschieden,  aber  alle  aus  gleichen  Atomen  bestehend, 
wie  verschiedene  Werke  aus  den  gleichen  Buchstaben.  Die  Atome 
zeigen  durchaus  keine  qualitativen  Unterschiede,  sie  sind  ctnoici, 
nur  durch  Grösse  und  Gestalt  verschieden. 

3.  Nur  durch  Annahme  eines  wirklichen  Leeren,  ohne  welches 
Alles  eine  einzige  continuirliche  Masse  wäre,  glauben  die  Atomiker 
Mannigfaltigkeit  und  Veränderung  erklären  zu  können.  Diese  letz- 
tere reducirt  sich  auf  die  Bewegung,  welche  entweder  ein  umge- 
bendes Leeres  oder  aber ,  wenn  sie  Verdichtung  oder  Verdünnung 
ist,  leere  Räume  im  Innern,  Poren,  voraussetzt.  Ganz  wie  Em- 
pcdokles  lehren  also  auch  die  Atomiker  ein  Werden  nur  an  dem 
unveränderlichen  Seyn,  und  die  Uebereinstimmung  wird  zu  einer 
wörtlichen,  wenn  sie  das  Entstehen  leugnen  und  es  durch  Mischung 
und  Scheidung  ersetzen.  Nicht  minder  stimmt  es  mit  Empedokles 
überein,  dass  die  Nothwendigkeit  {avüy/A],  ölv)],  dfiagfiivt])  diese 
Mischungen  und  Trennungen  regle.  Sie  allein  mag  wohl  auch  die 
feuerähnliche  Weltseele  seyn,  als  die  nach  einer  alten  Nachricht 
Demohit  Gott  soll  erklärt  haben.  Da  diese  regelnde  Macht  den 
Atomen  nicht  immanent  ist,  nach  Aristoteles  nicht  natürlich  son- 
dern gewaltsam  wirkt,  so  ist  sie  nicht  mit  Unrecht  Zufall  genannt 
worden,  und  DemohriVs  Polemik  gegen  dieses  Wort  will  bloss 
sagen  dass  Nichts  ausserhalb  des  Causalzusammenhanges  stehe. 
Alles  einen  Grund  habe.  Die  welche  ihm  auch  eine  teleologische 
Betrachtung  leihen ,  vergessen  dass  er  im  Gegensatz  zu  dem  vovq 
des  Aiiaxuyoras  (s.  §.  52,  3.)  ausdrücklich  eine  cpvGig  äkoyog  be- 
hauptet. 

4.  Die,  selbst  qualitätslosen,  Atome  geben  qualitative  Unter- 
schiede indem  schon  die  grössere  oder  geringere  Zahl  derselben 
eine  grössere  oder  geringere  Dichtigkeit  und  also  auch  Schwere 
gibt,  womit  sogleich  auch  die  verschiedene  Wärme  gesetzt  seyn 
soll.    Dazu  kommt  dass  die  Atome  auch  verschiedene  Gestalt  und 


54  Alte  Philosophie.     Erste  Peiüode  (Unreife). 

Grösse  haben,  und  dass  sie  in  verschiedener  Lage  und  verschie- 
dener Ordnung  sich  verbinden  können.  So  bestehen  die  Elemente 
aus  Atomen  von  verschiedener  Grösse,  das  Feuer  aus  den  klein- 
sten und  rundesten.  Ihm  ähnlich,  aus,  den  Sonnenstäubchen  ähn- 
lichen, Atomen  bestehend,  denkt  sich  Demolrit  die  Seele,  welche 
den  ganzen  Körper  durchdringt  und  sich  im  Athmungsprocess  durch 
stetige  Aufnahme  ähnlicher  Atome  erneut.  Wegen  der  allgemeinen 
Verbreitung  dieser  Atome  wird  keinem  Körper  die  Beseelung  ganz 
abgesprochen.  Da  Beseelung  und  erkennendes  Princip  nicht  un- 
terschieden werden,  so  ist  die  Erkenntnisstheorie  rein  physikalisch : 
Von  den  Gegenständen  ausströmende  Bilder  treffen  unmittelbar 
oder  mittelbar  das  Sinnesorgan,  und  erregen  dadurch  Empfindun- 
gen. Da  nun  von  diesen  viele,  namentlich  die  des  Gesichts,  nicht 
sowol  angeben  wie  die  Gegenstände  an  sich  (irc?))  beschaffen  sind, 
als  vielmehr  wie  sie  uns  afficiren  oder  für  uns  (vo'ftro)  sind,  so  muss 
zwischen  der  täuschenden  ((thot/tj)  und  wahren  (yvi]air])  Erkenntniss 
unterschieden  werden.  Die  letztere,  die  Vernunft -Erkenntniss  oder 
öidvoia  geht  auf  die  zu  Grunde  liegende  (h  ßvOa)  Wahrheit,  näm- 
lich auf  die  Atome,  gTündet  sich  aber  ganz  wie  die  andere  auf 
materielle  Einwirkung  und  betrifft  Erscheinungen  (cpaivofisva). 

5.  Ethische  Bestimmungen  sollte  man  auf  diesem  Standpunkte 
kaum  erwarten.  Doch  sind  eine  Menge  von  Sittensprüchen  und 
ethischen  Forderungen  aufbewahrt  worden ,  deren  Autor  Demokrü 
seyn  soll.  Sie  haben  sich  noch  gemehrt,  seit  man  angefangen  hat 
auch  die  ihm  zuzuschreiben,  die  früher  dem  Demohrafes  beigelegt 
wurden,  so  dass  die  Kritik  bereits  anfängt,  wieder  zu  sichten. 
Weil  einige  dieser  Sentenzen  nicht  recht  zu  dem  Materialismus 
der  Lehre  zu  passen  schienen,  ist  die  Ansicht  geltend  gemacht 
worden,  sie  seyen  früher,  der  Diakosmos  im  späteren  Alter  ver- 
fasst  worden.  Von  vielen  aber  der  Weisheitssprüche  wird  man 
noch  weniger  leugnen  können,  dass  ein  Greis  sie  erfand,  als  von 
der  Atomenlehre,  die  vielleicht  schon  dem  Jünglinge  üemokrU 
überliefert  wurde,  llebrigens  wäre  er  nicht  das  einzige  Beispiel, 
dass  das  Leben  andere  Maximen  aufdrängt,  als  die  entworfene 
Theorie.  Was  den  Inhalt  seiner  ethischen  Rathschläge  betrifft,  so 
stimmt  das  Preisen  des  Gleichmuths  (bvsgtcö)  ganz  gut  zu  seinem 
Nothwendigkeitssystera ;  manche  seiner  Aussprüche  sind  ziemlich 
trivial,  andere  zeugen  von  einem  welterfahrenen  Sinn  und  einem 
liebevollen  Herzen,  noch  andere  kann  nur  ein  alter  Hagestolz  er- 
sonnen haben.  Die ,  welche  die  Sittlichkeit  mit  dem  Gedanken  an 
die  G()tter  zusammenbringen,  möchten  am  Schwersten  mit  seinen 
sonstigen  Lehren  zu  vereinigen  seyn,   da  es  bekannt  ist,  dass  er 


III.    Die  metaphysischen  Physiologen      Sclilussbemerkuug.     §.  48.  55 

den  Glauben  an  die  Götter  nur  aus  der  Furcht  vor  Gewittern  und 
dergleichen  abgeleitet  hat. 

Aristot.  de  gen.  et  toir.  luid  auch  sonst.  Diog.  Latrt.  IX ,  6  et  7.  Plac.  phil. 
L  1.  3.  7.  17.  18.  23.  25.  2G.  II,  1.  3.  7.  15.  16.  20.  25.  lU,  1.  2.  10.  12.  13. 
15.  lY.  1.  3.  4.  5.  7.  8.  10.  1.3.  14.  19.  V.  2.  3.  5.  7.  16.  20.  2.5.  Dazu  Sto- 
baeus  sowol  iu  den  phys.  als  eth.  Ekl.  Preller  et  Ritter  §.  75 — 91.  —  Die  Frag- 
mente am  Vollständigsten  bei  MiiUach  Fragm.  phil.  gr.  p.  330  —  382. 

§.  48. 
Mit  den  Atomikeiii  schliesst  sich  die  Periode  der  Männer,  de- 
ren Lehre  dem  Aristoteles  eine  „träumende"  Philosophie  schien, 
weil  sie  die  eigentlich  griechische  Weisheit  nur  im  Embryoneuzu- 
stande  zeigen.  Sein  Urtheil  über  dieselben :  sie  hätten  noch  keinen 
Unterschied  zwischen  dem  Erkennenden  und  Erkannten  gemacht, 
kann  auch  so  ausgedrückt  werden :  Die  eigenthümliche  Würde  des 
Menscheugeistes  kommt  noch  nicht  ziu*  Anerkennung,  und  gibt 
dann  den  Grund  an,  warum  dem  griechischen  Volke  ihre  Lehren 
als  exotische  Gewächse  erscheinen  mussten ,  selbst  wenn  die  Weit- 
gereisten sie  nicht  wirklich  aus  dem  Auslande  gehabt  hätten.  Nicht 
dem  Griechen,  wohl  aber  den  Naturvölkern  ist  es  aus  der  Seele 
gesprochen,  was  die  reinen  Physiologen  behaupten,  dass  Alles, 
der  Mensch  mit  einbegriffen ,  modificirter  materieller  Stoff  ist.  Die 
absolute  Herrschaft  der  Zalil  und  des  mathematischen  Gesetzes, 
welche  der  Pythagoreer  verkündet,  ist  viel  mehr  Etwas,  was  der 
Chinese  in  seinem  abgezirkelten  Leben  als  was  der  heitere  Grieche 
täglich  erfährt.  Die  Absoi"ption  aller  Sonderexistenzen  in  einer 
einzigen  Substanz ,  wie  sie  der  Eleatisinus  lehrt,  erscheint  eher 
als  der  Nachklang  des  indischen  Pantheismus,  denn  als  Grundsatz 
des  hellenischen  Geistes.  Die  Verwandtschaft  der  Heraklitischen 
Lehren  mit  denen  persischer  Feueranbeter  hat  sowol  im  Alterthum 
als  in  der  Neuzeit  historische  Zusammenhänge  zwischen  beiden 
behaupten  lassen,  und  auch  wer  sich  nicht  überzeugen  lässt  durch 
das,  was  vorgebracht  ist ,  um  den  Empedokles  als  einen  Schüler 
ägyptischer  Priesterweisheit  darzuthun,  wird  die  Verwandtschaft 
seiner  Lehre  mit  ihr  nicht  ableugnen  können.  Die  Atomiker 
endlich,  welche  alle  früheren  Systeme  beerben,  können  als  die  be- 
zeichnet werden,  die  nicht  sowol  das  Wesen  einer  einzigen  Vor- 
stufe des  griechischen  Geistes  formuliren,  als  vielmehr  das  ganze 
Vorgriechenthum ,  wie  es  auf  dem  Sprunge  zum  Griechenthum 
steht. 


56  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glauz). 

Der  alten  Philosophie  zweite  Periode. 

Der  griechischen  Philosophie  Glanzperiode. 
(Attische  Philosophie.) 

§.  49. 
In  dem  Herzen  Griechenhmds,  in  Athen,  war  bisher  nicht  phi- 
losophirt  worden ,  weil  es  Anderes  zu  thun  hatte :  Griechenland  zu 
befreien  u.  s.  w.  Erst  nach  diesen  Leistungen  geniesst  es  der,  nach 
Aristoteles  dazu  erforderlichen,  Müsse.  In  dieser  Zeit  aber  hat 
der  frühere  Zustand,  wo  der  eine  Geist  alle  Athener  so  durchdrang 
dass  die  höher  stehenden  alten  Geschlechter  nicht  als  Junker  ge- 
hasst,  die  Niedrigem  nicht  als  Pöbel  verachtet  wurden,  aufgehört. 
Das  Ansehn  und  die  Reichthümer  welche  Athen  zugeflossen,  haben 
in  dem  Einzelnen  üebermuth  und  Eigennutz  hervorgerufen,  und 
immer  mehr  entwickelt  sich  die  pöbelhafte ,  d.  h.  des  Gemeingeists 
baare ,  Gesinnung  der  Masse ,  so  dass  der  Edelste  unter  den  Athe- 
nern, der  diesem  Zeitalter  seinen  Namen  gegeben  hat,  sie  benu- 
tzen, und  in  sofern  nähren,  muss  um  seine,  d.  h.  des  Staates, 
Zwecke  zu  verwirklichen.  Er  sowol  als  alle  Uebrigen ,  die  auf  der 
Höhe  der  Zeit  stehn,  hätten  gelächelt,  wenn  Einer  wie  Diogeiics 
ApoUoiüates  behauptet  hätte :  der  Masse  wohne  der  Geist  inne, 
oder  wie  Hcrahlit:  Alles  sey  des  Göttlichen  voll.  Als  aber  Anu- 
xagoras  in  Athen  mit  der  allgemeinen  Weltformel  auftrat:  der 
Geist  ist  es,  der  die  Masse  seinen  Zwecken  gemäss  bestimmt,  da 
mussten ,  mit  dem  Per'tldes  selbst  alle  Uebrigen ,  in  denen  die  neue- 
ren Ideen  lebten,  in  ihm  ihren  Mann,  den  wahren  Zeitverständigen 
erkennen.  Von  den  Anhängern  der  alten  Zeit  ward,  wie  immer, 
der  welcher  ihren  Verfall  nur  verkündigte,  als  der  Urheber  dieses 
Verfalls  gehasst  und  verfolgt. 

§.  50. 
Neben  dieser  welthistorischen  Nothwendigkeit  (vgl.  §.  11),  wel- 
che der  Dualismus  des  Aimxagoras  hat,  ruft  ihn  auch  dies  her- 
vor, dass  die  bisherige  Entwicklung  der  Philosophie  ihn  als  noth- 
wendige  Consequenz  fordert :  da  nach  den  Atomikern  die  einzelnen 
materiellen  Theilchen  nicht  eine  qualitative  Beschaffenheit  haben, 
vermöge  der  sie  sich,  wie  bei  Empedokles ,  suchen  oder  fliehen, 
so  muss  freilich  behauptet  werden,  dass  in  dem  Materiellen  kein 
Grund  liegt,  sich  so  und  nicht  anders  zu  verbinden.  Da  aber  doch 
wieder  ausdrücklich  behauptet  wird,  diese  Verbindung  geschehe 
nicht  grundlos,  sondern  ly.  loyov,  so  haben  die  Atomiker  zwei  Sätze 


Einleitimg.     1.  Anaxagoras.     §.  51.  52.  57 

ausgesproclieu ,  aus  denen  als  Prämissen  nur  die  «ine  Conclusion 
gezogen  werden  kann :  der  Gnind  jener  Verbindung,  d.  h.  der  Be- 
wegung, liegt  im  Immateriellen.  Da  nun  weiter  die  Gründe  der 
Bewegung,  die  im  Immateriellen  liegen.  Beweggründe  oder  Motive 
heissen ,  so  ist  durch  jene  beiden  Sätze  der  Atomiker  die  Behaup- 
tung ,  dass  es  ausser  dem  Materiellen  Immaterielles  gebe ,  welches 
nach  Motiven  das  Materielle  bewegt ,  d.  h.  einen  nach  Zwecken  wir- 
kenden Verstand  (i'o€'s),  diese  ist  so  nahe  gelegt,  dass  der  Ato- 
miker selbst  es  für  nöthig  hielt,  dagegen  zu  polemisiren. 

§•  51. 
Anaxayorus  ist  der  Vater  der  Attischen  Philosophie,  nicht  nur 
weil  er  die  Philosophie  nach  Athen  verpflanzt,  sondern  weil  er  ihr 
das  Thema  gegeben  hat,  das  sie  hier  durchzuführen  hat.  Seine 
Behauptung,  dass  der  vovg  das  Höchste  sey,  und  die  darin  ent- 
haltene Forderung,  dass  überall  nach  dem  Wozu"?  geforscht  wer- 
den müsse,  hat  Keiner  der  folgenden  aufgegeben.  Trotz  des  Un- 
terschiedes zwischen  den  Sophisten .  die  in  dem  i'org  nur  Pfiffigkeit 
und  dem  Aristoteles  der  darin  die  sich  selbst  denkende  Allvernunft 
sah,  trotz  des  Gegensatzes  dass  „wozu?"  bei  Jenen  heisst:  wozu 
nütze?  und  bei  Diesem:  in  wiefern  berechtigt?  bewegen  sich  Beide 
innerhalb  der  vom  Jnaxat/oras  zuerst  gesteilen  Aufgabe.  Eben  so 
Alle ,  die  z^Nischen  die  Sophisten  und  Aristoteles  fallen.  Im  Ana- 
xagorns  hat  die  griechische  Philosophie  ihren  embryonischen  Zu- 
stand, in  dem  sie  ^'orgriechisches  lehrte,  überwunden.  Das  Prin- 
cip  seines  und  alles  Daseyns  setzt  der  Geist  hier  nicht  mehr  in 
ein  Element,  oder  in  die  mathematische  Regel,  oder  in  das  Zu- 
sammentreifen  der  Atome,  sondern  in  das,  worin  er  über  alles  Na- 
türliche hinausgeht.  Dies  erst  heisst  im  griechischen  Sinne  das 
Problem  der  Pliilosophie  lösen,  darum  ist  die  Philosophie  des 
Anaxagorns  nicht  Spiegel  irgend  einer  Stufe  des  Vorgriechenthums, 
sondern  dessen  was  der  Grieche,  was  insbesondre  der  Athener 
erlebt.  Dass  darum  Sokrates,  diese  Incarnation  des  Antibarbaren- 
tliums,  dass  Aristoteles,  in  dem  die  Attische  Philosophie  zum  Ab- 
schluss  kommt,  den  Anaxagoras  im  Gegensatz  zu  den  früheren 
Träumern  als  den  ersten  ansehen,  der  gewacht,  d.  h.  ein  vernünf- 
tiges Wort  gesprochen,  habe,  ist  begreiflich. 

I. 

Aiia\agoras. 

§.  52. 

J.  T.  Hemsen  Anaxagoras  Clazomenius.  Gotting.  1821.  Ed.  Schaubach  Anaxa- 
gorae  Clazomenii  Fragmenta.  Lips.  1827.  W.  Schorn  s.  §.  28.  Breier  Die  PhUo- 
sophie  des  Anaxagoras  nach  Aristoteles.  Berliu   1840 


58  Alte  Philosophie.     ZM'eite  Periode  iGlanz). 

1.  Anaxagoras ,  des  llegesibulos  Sohn,  ist  in  Clazomenae 
walirsclieinlicli  Ol.  70  geboren  und  kann  also  nicht,  wofür  er  gilt, 
ein  persönlicher  Schüler  des  Anuximenes  gewesen  seyn.  Nachdem 
er  lonien  mit  Aufopferung  seines  Vermögens  im  Interesse  der  Wis- 
senschaft verlassen  hatte,  wählte  er,  nach  Einigen  sogleich,  nach 
Anderen  erst  nach  vielen  Reisen,  Athen  zu  seinem  Wohnort.  Wich- 
tiger als  seine  Reisen  und  der  Verkehr  mit  seinem  Landsmann 
Hermotimos  möchte  für  seine  wissenschaftliche  Ausbildung  gewor- 
den seyn  die  Bekanntschaft  mit  den  Lehren  der  früheren  Physio- 
logen, des  zwar  etwas  jüngeren  aber  früher  schreibenden  Ewpe- 
dohies  und  endhch  des  Lenhippos.  Dass  Demokril  ihm  Plagiate 
an  Aelteren  vorwirft,  bezieht  sich  vielleicht  auf  diesen  ihren  ge- 
meinschaftlichen Lehrer.  In  Athen  hat  er  dreissig  Jahre  lang  als 
Lehrer  der  Philosophie  gewirkt,  und  nicht  nur  die  Freundschaft 
des  Perlktcs  gewonnen,  sondern  auch  einen  Kreis  von  Männern 
um  sich  versammelt,  zu  dem  Arc//elaos ,  Emipides ,  Tlmkijdidüs^ 
vielleicht  auch  Soh-alcs  u.  A.  gehörten.  Sie  alle  waren  den  Alt- 
gesinnten verdächtig,  zum  Theil  vielleicht  als  Atheisten  verrufen. 
Die  physikalischen  Kenntnisse  des  Anaxayorus  ^  sein  Bestreben 
das  zu  erklären  worin  die  Masse  nur  Wunderzeichen  sah  —  (z.  B. 
den  Steinregen,  woraus  die  Sage  entstand,  er  habe  ihn  vorherge- 
sagt) —  seine  allegorische  Erklärungsweise  der  Homerischen  My- 
then, alles  dies  Hess  den  Verdacht  der  Gottlosigkeit  gegen  ihn 
entstehn ,  aus  dem,  vielleicht  bei  Gelegenheit  seiner  im  späten  Al- 
ter veröffentlichten  Schrift,  die  Anklage  hervorging.  Einkerkerung 
dann  Verbaniuuig  oder  Flucht  aus  Athen  folgten.  Er  begab  sich 
nach  Lampsakos  wo  er  bald  darauf,  Ol.  88,  1 ,  starb.  Ausser  einer 
im  Kerker  ausgearbeiteten  mathematischen  Schrift,  hat  er  (viel- 
leicht nur)  ein  Werk  tczqX  (pvasag  verfasst,  von  dem  Fragmente 
sich  erhalten  haben. 

2.  Wie  Empcdokles  und  die  Atomiker  leugnet  Anaxagoras 
das  Werden  der  materiellen  Substanz  und  gibt  nur  eine,  in  Mi- 
schung und  Trennung  bestehende  Veränderung  derselben  zu,  bei 
der  das  Substrat  sich  weder  mehrt  noch  mindert.  Mit  Anaximan- 
dros  und  Empedohles  denkt  er  sich  als  das  Primitive  einen  chao- 
tischen Zustand ,  in  welchem  das  Verschiedenste  gemischt  und  da- 
her kein  Einzelnes  wahrnehmbar  (l'vöijAov)  Avar.  Aber  er  ist  mit 
den  Atomikern  darin  einverstanden,  dass  es  dieser  Bestaudtheile 
nicht  nur  viererlei  gab,  sondern  unendliche  an  Zahl  und  an  Gestalt. 
Endlich  wieder  wird,  im  Unterschiede  von  den  Atomikern  und  in 
Uebereinstiinmuug  mit  Empedohles,  die  qualitative  Verschiedenheit 
dieser  Bestaudtheile  behauptet ,  so  dass  nicht  nur  Grösseres  mit 


I.  Anaxagoras.     §.  52,  3  O" 

Kleinerem,  sondern  Gold  und  Fleisch  und  Holz  u.  s.  w.  im  fein 
vertheilten  Zustande  zu  einer  Masse  ohne  Lücken  und  Poren  ver- 
einigt war.  Darum  ist  auch  hier  nicht  eigentlich  von  einem  Ge- 
misch von  Elementen  die  Rede,  sondern  die  Dinge  youi^ara  d.  h. 
nqäyyiara  sind  gemischt  und  ihre  feinsten,  bis  ins  Unendliche  im- 
mer noch  qualitativen  Moleculen  \Yerden  ensQ^axa  oder  wohl  auch 
mit  den  Atomikern  t^eai  genannt.  Für  die  Beschreibung  dieses 
Zustandes,  welchen  Anuxagorus  selbst  av^i^ihg,  auch  fiiyft«,  ge- 
nannt hat  ward  nun  der  klassische  Ausdruck  der  Anfang  seines 
Werks:  o^nov  nävra  ygri^aza  rjv,  eine  Fonucl  welche  auch  abgekürzt 
und  substantivisch  gebraucht  ward.  (Durch  Missverständniss  Ari- 
stotelischer Stellen,  in  welchen  Anaxagorus  getadelt  wird,  dass 
er  was  Aristoteles  o^ioiofisQij  nennt,  d.  h.  complicirte  Substanzen, 
für  Grundstoffe  ansehe,  ist  früh  die  Nachricht  entstanden,  Anaxa- 
gorus habe  die  Urbestandtheile  als  6f.ioLou.eQii,  ja  sogar  er  habe  sie 
[gegen  alle  Analogie]  als  ofioiofiiQeiai  bezeichnet.  Höchstens  konnte 
zugegeben  werden  dass  bei  ihm  onoiofisQsia  ziu'  Bezeichnung  des 
Mischzustandes  gebraucht  sey,  aber  auch  dies  ist  unwahrsceinlich.) 
Die  Verbindung  der  einzelnen  Bestandtheile  ist  so  innig,  dass  da 
ihre  Theilbarkeit  ins  Unendhche  geht ,  man  nie  auf  ein  letztes  ganz 
Ungemischtes  kommt,  und  daher  gesagt  werden  muss  dass  in  Je- 
dem Alles  enthalten  ist,  eine  Behauptung  die,  von  Gegnern  des 
Aiiuxagoras  bestritten,  ihn  selbst  in  grosse  Schwierigkeiten  ver- 
wickelt, wenn  nicht  unter  „Jedem''  Dinge,  unter  „Allem"  Stoffe 
verstanden  werden. 

3.  An  diese  form-  und  bewegungslose  Masse,  in  der  sich  das 
aneiQov  des  Aitaximaiulros ,  der  acpal^og  des  Empedolles ,  und  die 
Verbindung  kleinster  Theilchen  der  Atomiker  wieder  erkennen  lässt, 
tritt  nun  nicht  etwa  eine  scheidende  und  verl)indende  Nothwendig- 
keit,  denn  diese  leugnet  er  gerade,  sondern  der  votSj,  eine  ^^is- 
sende  Macht  mit  deren  Einführung  zugleich  die  teleologische  Be- 
trachtung provoch-t  ist.  Im  entschiedenen  Gegensatz  zu  dem  (von 
Aristoteles  s.  §.  48  formulirten)  Grundsatz  der  vorigen  Periode 
werden  dem  erkennenden  vovq  die  entgegengesetzten  Prädicate  von 
denen  beigelegt  die  dem  Erkannten  (der  Masse)  zukommen:  Er 
ist  ci^iyTqq  Und  ist  der  Eine  und  darum  erkennt  er  die  Masse,  die 
liiliq  ist,  und  die  als  das  Viele  und  utcziqov  bestimmt  war.  Wäh- 
rend alles  Materielle  Allem  einwohnt,  so  der  vovg  nicht,  weil  er 
leidenlos  ist,  eben  darum  aber  beherrscht  er  das  Andere.  Das 
Scheiden  und  Verbinden  wird  hier  zu  einem  zweckmässigen  Formen 
und  Ordnen,  und  dem  Werden  des  öiccKOG^og  bei  den  Atomikern 
entspricht  hier  das  active  öiaKOG^iHv  von  Seiten  des  vovq.    Freilich 


60  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode    (Glanz). 

begnügt  sich  Anaxagoras  damit,  nur  das  Princip  auszusprechen. 
Wo  er  ins  Einzehie  übergeht,   gibt  er  nicht  den  Zweck   sondern 
nur  die  Art,  höchstens  den  Grund  der  Veränderung  an,  so  dass 
es  hier  fast  unwesentlich  wird,  ob  sie  auf  eine  wissende,   ob  auf 
eine  blinde  Macht  zurückgeführt  wird.    Mit  Recht  wird  dies  von 
Pluto  als  ein  Rückfall  auf  einen  niedrigem  Standpunkt  getadelt. 
4.  In  dem  durch  den  vovq  eingeleiteten  Scheidungsprocess  ver- 
einigen  sich   die  qualitativ   Gleichen    und    nach  dem  Vorwiegen 
des  Einen  oder  Andern  werden  die,  wie  gesagt  nie  völlig  reinen, 
Substanzen  genannt.    Wie  bei  Empedokles  geht  auch  hier  nicht 
Alles  in  die  Scheidung  ein,  und  der  ungeschiedene  Rest  ist  wohl 
das  „die  Vielen  (Dinge)  Umgebende",  wovon  er  spricht.    Die  Schei- 
dung wird  als  successive  von  einem  Mittelpunkte  ausgehende  in 
immer  weiteren  Kreisen  und  zu  immer  mächtigerem  Umschwünge 
sich  ausbreitende  gedacht,  und  in  Folge  dessen  der  Aether  als  das 
Warme,  Leichte  und  Lichte,  aus  dem  auch  die  glühenden  bimstein- 
artigen  Körper,   die  man  Sterne  nennt,  entstehen,  dem  Kalten, 
Feuchten  und  Schweren  entgegengesetzt,    das  im  Centrum,  der 
Erde,  vorwaltet.    Wie  die  Elemente,  so  sind  auch  die  organischen 
Wesen  Zusammensetzungen  der  Urtheilchen.  Die  letztern  entstehen 
aus  dem  Urschlamm,   wie   bei  Änaximmidros ,   und  kommen  erst 
später  dazu  sich  fortzupflanzen.     Je  vollkominner  organisirt  ein 
Körper  ist,   um  so  mehr  ist  der  vovq  in  ihm  mächtig,  und  wirkt 
in  ihm  Erkenntniss  und  Beseelung.     Sind  darum  selbst  die  Pflan- 
zen derselben  nicht  baar,   so  steigt  sie  doch  bei  dem  mit  Händen 
begabten  Menschen   zu  Erfahrung  und  Verstand.    Verglichen  mit 
diesem  geben  die  Sinne  keine  sichere  Erkenntniss,  wie  denn  auch 
oft  ihre  Vorspiegelungen  (z.  B.  die  weisse  Farbe  des  Schnees)  vom 
Verstände  widerlegt  werden   (indem  er  lehrt  dass  Schnee  Wasser 
und  also  nicht  weiss  ist).    Es  scheint,  als  hätte  schon  Anaxago- 
ras an   die  Unsicherheit  der  Sinne  sehr  subjectivische  Ansichten 
über  das  Erkennen  geknüpft.     Ethische  Sätze,  die  man  auf  diesem 
Standpunkte  viel  eher  erwarten  sollte   als  auf  den  früheren,   sind 
uns  nicht  überliefert  worden. 

Diog.  Laärt.  II,  3.  Plac.  pliil.  I,  3.  7.  17.  29.  30.  U,  8.  13.  16.  20.  21.  23. 
25.  30.  III.  1.  2.  3.  5.  15.  16.  IV,  1.  19.  V,  7.  19.  20.  25.  Preüer  et  Eitter 
§.  58  —  70.  Gesammelte  Fragmente :  Ausser  in  den  oben  genannten  Werken  in 
Mullach  fragm.  phil.  graec.  p.  243  —  251. 

§.  53. 
Die  Philosophie  des  Anaxagoras  muss  einer  andern  Platz  ma- 
chen, nicht  nur  weil  die  Zeit,  deren  Ausdruck  sie  war,  vergeht  und 
an  die  Stelle  der  Perikleischen  Leitung  Athens  die  Demagogen- 


üebergang  zu  den  Sophisten.     §.  53.  Di 

herrschaft  Kleoiis  und  viel  Schlechterer  tritt,  sondern  weil  ein  in- 
nerer Mangel  dies  fordert.  Dass  der  Verstand  über  Alles  gehe 
und  dass  Alles  teleologisch  zu  betrachten  sey,  das  ist  so  lange 
ziemlich  nichtssagend,  als  nicht  entschieden  wird,  ob  unter  Ver- 
stand der  zu  verstehen  sey,  der  sich  in  der  Schlauheit  der  Subjecte 
oder  der,  der  sich  in  der  Ordnung  der  Welt  zeigt?,  und  als  nicht 
näher  bestimmt  wird,  was  denn  eigentlich  Zweckmässigkeit  heisse. 
Da  Anaxogoras  die  erste  Entscheidung  von  der  Hand  weist,  indem 
er  ausdrücklich  sagt:  aller  Verstand  sey  gleich,  der  grössere  (d. 
h.  allgemeine)  wie  der  kleinere  (d.  h.  particulare) ,  muss  es  ihm  un- 
möglich werden  zu  entscheiden,  ob  die  Welt  dazu  da  ist,  dass  sie 
uns  nütze,  oder  dazu,  ihre  Bestimmung  zu  erfüllen.  In  dieser 
Unentschiedenheit  nuiss  er  alles  Wozu  bei  Seite  lassen;  er  ver- 
zichtet auf  alle  teleologische  Betrachtung.  Und  doch  war  die  Ent- 
scheidung nahe  genug  gelegt.  Ist  nämlich  die  Masse  an  sich  geist- 
und  verstandlos,  so  sind  die  Zwecke  welche  der  Verstand  an  sie 
heranbringt,  ihr  äusserliche,  und  sie  wird  durch  Gewalt  ihnen  ge- 
mäss gemacht.  Nennt  man  nun  solche  Zwecke,  weil  sie  an  dem 
gegenüberstehenden  Material,  wie  es  an  ihnen,  ihre  Grenze  oder 
ihr  Ende  haben,  endliche,  so  wird  die  erste  Bestimmung  die 
das,  vom  Amixagoras  unbestimmt  gelassene.  Wozu  erhalten  wird, 
diese  seyn,  dass  darunter  nicht  die  den  Dingen  immanente,  son- 
dern die  endUche,  Zweckmässigkeit  verstanden  wird.  Sobald  aber 
der  Zweck  näher  bestimmt  ist,  hört  auch  die  Unbestimmtheit  hin- 
sichtlich dessen  auf,  was  Verstand  genannt  war.  Verstand  mit 
endlichen  Zwecken  zum  Inhalt,  ist  die  Verständigkeit  oder  Klug- 
heit, die  in  den  verständigen,  ihren  Nutzen  suchenden  Subjccteu 
existirt.  So  sehr  es  darum  als  ein  Rückschritt  erscheinen  mag, 
dass  der  Satz  des  Anaxagoras:  der  Verstand  regiert  die  Welt, 
/  hier  den  Sinn  erhält :  Klugheit  regiert  sie .  so  ist  es  doch  ein  Ver- 
dienst das  Unbestimmte  näher  bestimmt,  zu  haben ,  und  dass  diese 
von  den  Sophisten  gegebene  nähere  Bestimmung  die  nächstlie- 
gende ist,  dafür  sprechen  die  Annäherungen,  nicht  nur  des  Ar- 
chelaos  sondern  des  Aunxagoias  selbst,  an  die  Sophistik.  Des 
Ersteren  Satz  dass  Recht  und  Unrecht  nur  auf  willkührlicher  Sa- 
tzung bemhe,  ist  eine  Ergänzung  zu  der  Behauptung  die  dem 
Letztern  zugeschrieben  wird:  Nichts  sey  an  sich,  alles  nur  für 
uns  wahr. 


62  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

u. 

Die  Sophisten. 

Qeel  Historia  eritica  Sophistarum.    Ultraj.  1823.     Baumhauer  Quam  vim  Sophi- 
stne  habueiünt  etc.    Ultraj.   1S44. 

§.  54. 

Indem  den  Sophisten  Nichts  über  das  verständige  Subject  geht, 
und  sie  zeigen,  Avie  Alles  nur  dazu  da  ist,  um  von  dem  Menschen 
theoretisch  und  praktisch  beherrscht  zu  werden ,  sind  sie  für  Grie- 
chenland ganz  das  geworden ,  was  die  Weltweisen  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  (§.  293)  für  uns :  Väter  der  Bildung.  Die  Aehnlichkeit 
beginnt  bei  dem  Namen,  den  beide  sich  beilegen,  denn  Aufklären  und 
Klugmachen  ist  ganz  dasselbe.  Sie  geht  über  auf  das,  was  als  Ziel 
des  Unterrichts  l)estimmt  wird,  denn  der  duvög  der  Einen  entspricht 
ganz  dem  starken  oder  vorurtheilsfreien  Geiste  der  Anderen,  die 
Tugend  welche  Jene  zu  lehren  versprechen ,  der  Vernünftigkeit  und 
dem  Lichte,  welches  diese  zu  verbreiten  sich  rühmen.  Endlich 
aber  ist  auch  das  Mittel,  deren  sich  Beide  bedienen,  ganz  dasselbe. 
Die  avTiloyiKy]  rixvt],  die  nach  dem  Zeugniss  der  Gegner,  und  dem 
Eingeständniss  der  Sophisten  selbst,  ihre  eigenthche  Waife,  ist 
nur  die  Kunst:  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  die  Dinge 
verschieden  darzustellen,  d.  h.  die  Kunst  des  Räsonnements,  durch 
welches  Vielseitigkeit,  dieser  Feind  und  Gegensatz  der  beschränk- 
ten Einfalt,  hervorgebracht  wird.  Weil  gar  keine  Einfalt  dem  Rä- 
sonnement  widerstehn  kann ,  deswegen  auch  nicht  die  fromme  Ein- 
falt, und  die  Einfalt  der  Sitten.  Darum  erscheint  der  Räsonneur 
nicht  nur  sich  als  ein  gewaltiger,  sondern  Anderen,  zumal  den 
Einfältigen ,  als  ein  gefährlicher  Mensch.  Die  Aufklärung  hat  ihre 
Gefahren,  die  Sophisten  machen  das  Volk  zu  gescheidt,  und  die 
Worte  Aufklärer  und  Sophist  werden  aus  Ehrennamen  zu  Schelt- 
worten. 

§.  55. 

Ein  Unterschied  zwischen  der  Sophistik  und  der  Aufklärung 
(ks  achtzehnten  Jahrhunderts  liegt  darin,  dass  in  jener  mehr  als 
in  dieser  auch  die  praktische  Herrschaft  des  Menschen  über  Alles 
berücksichtigt  wird.  Daher  wird  nicht  nur  darauf  hingearbeitet, 
den  Menschen  von  seinen  beschränkten  Ansichten,  sondern  auch 
von  der  Beschränktheit  seiner  Mittel  zu  befrein ,  nicht  nur  ihn  vor- 
urtheilsfrei  sondern  auch  ihn  vermögend  zu  machen.  Diese  Mittel 
haben,  vermögend  seyn,  heisst  nicht  nur  sondern  ist:  Geld  haben, 
darum  wird  dem  Sophisten,  gerade  wie  dem  Kaufmann,  Gelderwerb 
ein  Maassstab  der  Geschicklichkeit  und  Gegenstand  seines  Unter- 
richts.   Auch  hiezu  führt  am  Sichersten  das  Räsonnement,   denn 


II.    Die  Sophisten.     §.  56.  57.  63 

da  in  jener  Zeit  Geld  gewinnen  ohne  Processe  unmöglich  war,  der 
Process  aber  durch  Ueberredung  der  Pächter  gewonnen  ward,  d.  h. 
dadurch  dass  man  seiner  Sache  möglichst  viele  gute  Seiten  abge- 
wann, so  führte  die  avTiXoyiKt]  reyvr]  am  Sichersten  zu  der  Kunst 
rov  T^rroa  Xoyov  y.Qsirrco  tcoihv  ,  wie  die'  Sophistische  Formel  lautete. 
So  schUmm  diese  Kunst  ist ,  so  hat  sie  doch  in  ihrem  Gefolge  die 
Ausbildung  der  Grammatik ,  Stylistik  und  Pihetorik  gehabt,  die  alle 
erst  seit  den  Sophisten  existiren.  So  Aveit  diese  auch  sonst  von 
einander  abweichen  mögen,  in  ihren  Bemühungen  um  die  Kunst 
der  Beredsamkeit  oder  wenigstens  ihren  Vorarbeiten  dazu,  verei- 
nigen sich  Alle,  und  selbst  ihre  Gegner  haben  ihnen  darin  das 
Verdienst  nicht  abgesprochen. 

§.  5(3. 

Mit  der  geschichtlichen  Stellung  der  Sophistik ,  so  wie  mit  der 
Aufgabe,  die  sie  sich  gestellt  hatte,  ist  unvereinbar  der  streng 
wissenschaftliche  Beweis  und  eine  auf  ein  einziges  Princip  sich  be- 
rufende Weltanschauung.  Jener  erscheint  als  pedantisch,  diese 
als  einseitig.  Beides  aber  ist  ungebildet.  Um  möglichst  viele  Ge- 
sichtspunkte zu  gewinnen,  ist  es  uothwendig,  dass  die  verschie- 
densten Lehren  benutzt,  Anlehen  aus  allen  möglichen  Systemen 
gemacht  werden.  Ein  skeptisch  gefärbter  Eklekticismus  ist  überall 
der  Standpunkt  des  aufgeklärten  Mannes,  darum  auch  hier.  Und 
dennoch  hat  die  Sophistik  nicht  nur,  wie  das  bisher  gezeigt  wurde, 
für  die  Allgemeinbildung,  sondern  für  die  systematische  Philosophie 
eine  grosse  Bedeutung.  Nicht  nur  die  oben  (§.  53)  nachgewiesene, 
dass  sie  aus  der  bisherigen  Entwicklung  folgt,  sondern  auch  die, 
dass  sie  die  folgende  möglich  macht.  Nur  die  Fertigkeit,  im  Kä- 
sonnement  sich  auf  alle  möglichen  Staudpunkte  zu  stellen ,  macht 
es  dem  Geiste  möglich  sich  auch  auf  den  ganz  neuen  des  Sokra- 
tismus  zu  versetzen,  nur  durch  die  Uebung,  die  Gegensätze  zwi- 
schen den  verschiedenen  Seiten  eines  Gegenstandes  aufzusuchen, 
wird  er  scharfsichtig  genug  mit  Platonischer  Dialektik  die  in  ihm 
selbst  hegenden  Widersprüche  zu  entdecken.  Und  wieder  nmsste 
ein  Gemenge  der  Weisheit  gegeben  seyn,  die  der  dorische  und 
ionische  Geist  erzeugt  hatte ,  damit  durch  den  hindurchschlagenden 
Funken  Sokratischer  Genialität  daraus  die  Attische  Weisheit  werde, 
die,  nicht  als  ein  Gemenge,  sondern  als  höhere  Einheit,  jene  bei- 
den in  sich  vereinigt. 

§.  57. 

Nur  in  dem  Sinne,  dass  es  verschiedene  Elemente  sind,  die 
in  dem  Einen  und  dem  Anderen  vorwiegen,  kann  dem  Protagoras 
als  dem  der  sich  an  Hcrahlit  anschhesse,  Gorgins  als  der  durch 


^■^ 


64  Alte  Philosophie.     Zweite  Perlode  (Glanz). 

die  Eleaten  Gebildete,  eutgegengestellt  werden.  Der,  oft  bis  zur 
gegenseitigen  Bekämpfung  gehende,  Gegensatz  zwischen  ihnen  zieht 
daraus  Nahrung,  aber  er  liegt  noch  mehr  in  der  Richtung:  Profa- 
goras  bestimmt  als  sein  eigentliches  Ziel  das  Tüchtig  -  (d.  h.  Prak- 
tisch gescheidt)  macheu,  Gorgins  will  nur  räsonnirender  Rhetor 
seyn  und  dazu  bilden.  Die  Wichtigkeit  der  Sprachwissenschaft 
erkennen  beide  an,  und  theilen  sich  in  ihre  Bearbeitung  so,  dass 
Protagoras  mit  den  Wörtern  und  Wortformen,  Gorgias  mit  der 
Satzbildung  besonders  sich  beschäftigt.  In  gleicher  Achtung  mit 
Beiden  stehen  Prodikos,  wie  es  scheint  der  sittlich  strengste,  und 
Hippiris  der  gelehrteste  unter  den  Sophisten,  die  aber,  da  Erste- 
rer ,  weil  die  Praxis  ihm  über  Alles  ging ,  der  Zweite  wieder  weil 
ihm  theoretische  und  praktische  Vielseitigkeit  das  Höchste  ist,  sich 
nicht,  wie  jene  Beiden,  mit  besonderer  Vorliebe  dem  einen  oder 
andern  Meister  anschliessen.  Auch  sie  beschäftigt  die  Sprache, 
den  Prodihos  besonders  von  Seiten  der  Correctheit  des  Ausdrucks, 
den  Hippids  aber  von  Seiten  des  Rhythmus  und  Silbenmaasses. 
Ausserdem  unterwirft  er  die  Staatsgesetze  seinem  Räsonnement. 
Um  diese  Hauptfiguren  rangiren  sich  die  unbedeutenderen  Sophi- 
sten so,  da,ün  Auf  imoir  OS ,  Anliphon  .  Kritius  zu  Prof  ngoras ,  die 
beiden  eristischen  Klopffechter  Euilifdemos  und  Dionysidoros  we- 
gen ihrer  rhetorischen  Künste  zu  Gorgias.  endUch  Polos,  trotz 
der  Anregung  die  er  von  Gorgins  empfangen  haben  mag,  wegen 
der  Grundsätze  die  er  hinsichtlich  der  Staatsgesetze  vertritt,  zum 
Hippias  gestellt  werden  kann. 

§.  58. 
a.    P  r  0 1  a  g  0  r  a  s. 

J.  Frei  Quaestiones   Protagoreae.     Bonnae   1845. 

1.  Protagoras,  der  Sohn  des  Artemort ,  nach  Anderen  des 
Maiandrios,  ist  wohl  nur  weil  er  in  Abdera  geboren  ist,  zu  einem 
Schüler  des  zwanzig  Jahr  jüngeren  Demokrit  gemacht  worden. 
Der  enge  Zusammenhang  seiner  Lehren  mit  denen  des  Ileraklif 
ist  mit  Recht  schon  früh  hervorgehoben,  schliesst  aber  nicht  aus, 
dass  er  früh  auch  die  Quellen  keimen  lernte,  aus  welchen  Demo- 
krit und  Anaxagoras  geschöpft  hatten ,  ältere  atomistische  Lehren. 
Zuerst  in  Sicilien,  dann  seit  seinem  dreissigsten  Jahre  in  Athen, 
hat  er  durch  seinen  Unterricht  Ruhm  und,  da  er  zuerst  ihn  für 
Geld  gab,  Schätze  erworben.  Die  Tüchtigkeit  und  Stärke  {6hv6xyi<;) 
die  er  durch  seinen  Unterricht  beizubringen  verhiess,  weswegen 
er  auch  sich  Sophist  im  Sinne  des  Klugmachens  nannte,  bestand 
im  geschickten  Verwalten  des  Eigenthums  und  der  städtischen  An- 
gelegenheiten.   Da  eine  solche  nicht  denkbar  war,  ohne  dass  man 


II.    Die  Sophisten,     a.  Protagoras.     §.  58,  2.  65 

jedem  Rechtshandel  gewachsen  war,  so  ging  der  Unterricht  darauf, 
zu  correctem,  schönem,  vor  Allem  aber  zu  überzeugendem  öffent- 
lichen Reden  anzuleiten.  Grammatik,  Orthoepie,  besonders  aber 
die  Kunst  aus  Allem  Alles  zu  machen,  indem  es  von  verschiedenen 
Seiten  dargestellt  wurde ,  waren  daher  die  liChrgegenstände.  Auch 
Zucht  und  Sitte,  ohne  die  Keiner  zu  einer  Geltung  im  Staate  kom- 
men wird,  fanden  an  ihm  ihre  Lobpreiser,  wie  er  denn  in  seiner 
Politik  ultraconservativ  erscheint.  Auch  schriftlich  hat  er  seine 
Lehren  verfasst,  und  die  Titel  vieler  seiner  Werke  haben  sich  er- 
halten. Eine  Schrift,  welche  die  Götter  betrifft,  ward  öffentlich 
verbrannt  und  veranlasste  seine  Verbannung  aus  Athen,  während 
der  er  gestorben  ist. 

2.  Die  Heraklitische  Lehre  vom  Fluss  aller  Dinge,  die  Prota- 
goras im  Sinne  der  Herakliteer  auffasst,  bringt  ihn  dahin  nocli 
weiter  zu  gehn  als  Demokr'ii .  und  alle  Empfindungen  ohne  Aus- 
nahme als  bloss  subjective  Affectionen  zu  fassen.  Dazu  kam  viel- 
leicht noch  der,  schon  von  Leucipp  ausgesprochene,  Satz  von  der 
Gleichberechtigung  des  Seyns  und  Nichtseyns,  kurz  Protagoras 
behauptet  dass  jeder  Behauptung  die  ganz  entgegengesetzte  mit 
demselben  Rechte  entgegengestellt  werden  kann,  weil  für  den  Einen 
dies,  für  den  Andern  jenes  wahr  ist,  ein  Seyn  an  sich  aber  es  über- 
haupt nicht  gibt.  Dieser  Subjectivismus  erhält  seine  entsprechendste 
Formel  in  dem  Satz :  dass  jeder  einzelne  Mensch  das  Maass  aller 
Dinge  ist,  worin  von  theoretischer  Seite  gesagt  ist,  dass  wahr  ist 
was  mir  wahr,  von  praktischer:  dass  gut  ist  was  mir  gut  ist.  So 
ist  das  Wahrscheinliche  an  die  Stelle  des  Wahren,  das  Nützliche 
an  die  Stelle  des  Guten  gesetzt.  Mit  dem  Letzteren  stimmt  dann 
auch,  dass  die  Wohlberathenheit  als  die  höchste  Tugend  gepriesen 
wird.  Dass  bei  einem  solchen  Subjectivismus  alle  objectiven,  allge- 
mein gültigen,  Bestimmungen  ihre  Bedeutung  vedieren  ist  klar. 
Eben  darum  hat  weder  das  Athenische  Volk  sich  durch  seine  be- 
scheiden klingenden  skeptischen  Aeusserungen  hinsichtlich  der  Exi- 
stenz der  Götter  beschwichtigen,  noch  Plato  durch  die  Declama- 
tionen  über  die  Schönheit  der  uns  von  den  Göttern  geschenkten 
Tugend  blenden  lassen.  Uebrigens  hat  Protagoras  die  hohe  Ach- 
tung, in  der  er  stand,  durch  seinen  moralischen  Werth  verdient, 
und  durch  diesen  ist  es  auch  gekommen,  dass  eine  Lehre  welche 
das  vergötterte,  was  Herahiit  als  Krankheit  bezeichnet  hatte,  die 
individuelle  Ansicht,  bei  ihm  selbst  ungefährlicher  ward. 

Erdmann,  Gesch.  A.  Philos.    I.  {^ 


6Ö  Alte  Philosopliie.     Zweite  Periode  (Glanz), 

§.  59. 
b.    Prodikos. 
F.  Q.    WelcJcer   Prodikos  von  Keos  Vorgänger  des  Sokrates.     iKl.  Sclnv    II,  p. 
393  ff.)     (Früher  im  Rhein.  Mus.  183.B,   1.) 

Prodihos ,  in  Julis  auf  der  Insel  Keos  geboren ,  scheint  gegen 
Ol.  86  nach  Athen  gekommen  zu  seyn ,  wo  er  gegen  vierzig  Jahre, 
wie  es  scheint  olme  l^nterbrecliung,  gelehrt  hat,  theils  in  längeren 
Cursen,  theils  aber  auch  in  einzelnen  abgelesenen  Vorträgen  über 
diesen  oder  jenen  Gegenstand,  die,  je  nachdem  sie  ein  grösseres 
oder  kleineres  Publikum  versprachen,  >Yohlfeiler  oder  theurer  be- 
zahlt wurden.  Auch  l)ei  ihm  war  der  eigentliche  Zweck  des  Un- 
terrichts, für  Haus-  und  Staatsverwaltung  zu  bilden  theils  durch 
Reden,  welche  die  Mitte  halten  zwischen  Wissenschaft  und  Parä- 
nese,  theils  wieder  indem  er  anleitete  dergleichen  Reden  zu  hal- 
ten. Nicht  wie  bei  Hippl.ns  vielseitige  Kenntnisse,  sondern  viel- 
mehr richtiger  Sprachgebrauch  sowie  Kraft  und  ausdrucksvolle 
Malerei  der  Sprache ,  sind  bei  ihm  die  wirksamen  Mittel ,  zu  denen 
noch  das  Anführen  beliebter  Dichteraussprüche  kommt.  Die  im 
Platonischen  Profa/joras  reproducirte  Rede  über  die  Tugend  des 
lleralles,  die  aus  dem  Pseudoplatonischcn  Axiochos  bekannte  Her- 
absetzung des  Lebens  und  Anpreisung  des  Todes,  das  Lob  des 
Landlebens  und  die  Erhebung  der  Tugend  über  den  Reichthura,  — 
alles  dies  macht  erklärlich,  warum  auch  die  Gegner  der  Sophisten 
vom  Prodikos  mit  grösserer  Achtung  sprechen.  Seine  Deutung 
dass  die  Götter  Naturpotenzen  seyen ,  ist  kein  Beweis  dass  er  sich 
mehr  als  Andere  mit  der  Physik  beschäftigt  habe.  Sein  Haupt- 
verdienst, mit  dem  auch  die  Wirkung  zusammenhängt,  die  er  auf 
spätere  Redner  geübt  hat,  war  wohl  die  genaue  Erörterung  der 
Wortbedeutungen ,  mit  der  die  Anweisung  zu  wirksamen  Wortspie- 
leu und  dergleichen  zusammenhängen  mochte.  Daher  der  Ruf  und 
der  hohe  Preis  der  Fünfzig  Drachmen  Vorlesung. 

,  §.  60. 
c.    Gor  glas. 
(Pseudo  -)  Ariat.  de  Melisso  Zenone  et  Gorgia  c.  5  et  6.     Fo»»  de  Gorgia  Leon- 
tino.   Halae  1828. 

1.  GorgiaSf  Sohn  des  Kar-  oder  Cliarmaniidus  ^  ein  Leonti- 
ner  von  Geburt,  hat  wahrscheinlich  von  Ol.  72  bis  Ol.  98  gelebt 
und  wird  oft  als  ein  Schüler  seines  Zeitgenossen  Empedokles,  dem 
er  in  seinen  physikalischen  Ansichten  Manches  entlehnt  haben  mag, 
bezeichnet.  Mehr  noch  hat  wohl  Zcno  auf  ihn  eingewirkt.  Aus- 
gezeichnet als  Redner,  ward  er  01.88,  1  von  seinen  Landsleuten 
als  Gesandter  nach  Athen  geschickt,  wo  er  nicht  nur  die  erbetene 


II.  Die  Sophisten,     c.  Gorgias.     §.    60,  2.  67 

Hülfe  gegen  Syracus  auswirkte,  sondern  aufgefordert  ward  bald 
zurückzukehren ,  und  seinen  Aufenthalt  in  Athen  zu  nehmen.  Dies 
geschah  und  er  hat  theils  in  Athen ,  theils  in  anderen ,  namentlich 
thessalischen,  Städten  als  Sophist  im  späteren  Sinne  des  Worts, 
d.  h.  als  räsonnirender  Rhetor  gelebt.  Seine  Reden  waren  nicht 
gerichtliche,  überhaupt  nicht  eigentliche  Gelegenheitsreden,  sondern 
wurden  im  Hause  oder  in  Theatern  vor  dem  sich  versammelnden 
Pulilikum  gehalten.  Auch  Stegreifsreden  und  Disputationen  über 
jedes  eben  aufgegebene  Thema  hielt  er,  und  trotz  der  Eitelkeit 
und  eines  gewissen  Schwulstes  in  denselben,  gefielen  sie  sehr.  Er 
wollte  nur  Redner  seyn  und  spottete  derer  die  sich  Tugendlehrer 
nannten.  Ob  die  zwei  Prunkredeu,  die  unter  seinem  Namen  auf 
uns  gekommen,  acht  sind,  ist  (wenigstens  hinsichtlich  einer)  strei- 
tig. Andere  Xachrichten  erwähnen  mehrere  Reden  sowie  eine  Rhe- 
torik, die  verloren  gegangen  sind.  Von  seiner  Schrift  tcbqI  cpvaicag 
' }}  rov  fo)  ovTog  haben  wir  durch  die  Pseudo- Aristotelische  Schrift 
und  Se.vfos  Kmpeirilos  Nachricht.  Darnach  ist  der  Gedankengang 
darin  dieser  gewesen: 

2.  Es  ist  Nichts,  denn  weder  Seyendes,  noch  Nichtseyendes, 
noch  endlich  Solches  was  zugleich  ist  und  nicht  ist,  kann  seyn. 
Eben  so  wenig  kann  das  Eine  oder  das  Viele,  das  Gewordene  oder 
das  Ungewordene  seyn.  Gesetzt  aber,  es  gäbe  Seyendes,  so  wäre 
es  unerkennbar,  denn  es  ist  leicht  zu  zeigen,  dass  unsere  Vorstel- 
lung von  einem  Gegenstande  nicht  dem  Gegenstande  gleich  ist. 
Endlich  aber,  wenn  es  auch  Etwas  gälje,  und  wenn  es  auch  er- 
kennbar wäre,  so  wäre  es  nicht  mittheilbar,  denn  die  Worte  durch 
welche  wir  unsere  Gedanken  mittheilen,  sind  etwas  Anderes  als 
diese  letzteren,  die  ganz  individuell,  eben  darum  nicht  mittheilbar 
sind.  Das  Resultat  dieser  Deduction,  deren  ganze  Disposition 
übrigens  den,  in  der  Klimax  sich  gefallenden,  Redner  verräth, 
ist  natürlich  ein  völliger  Sulyectivismus ,  der  trotz  der  Verschie- 
denheit der  theoretischen  Grundlage  darin  zu  gleichem  Resultate 
kommt,  wie  der  des  Pro(agorn.s,  dass,  da  alle  objective  Gegen- 
ständlichkeit wegfällt,  dem  Subjecte  freigestellt  wird  Alles  so  dar- 
zustellen ,  wie  es  ihm  beliebt.  Darum  haben  von  ihm  nicht  minder 
als  vom  Protüfjoras  die  eristiscben  Redenschreiber  gelernt,  die, 
von  den  streitenden  Parteien  abzulesende  Flaidoyers  für  jeden  mög- 
lichen Fall,  verfassten  oder  gar  vorräthig  hatten.  Des  Pinto  Sa- 
tyre  gegen  Euihydemos  und  Dinnysodoros  scheint  oft  dem  Gor- 
gias zu  gelten, 

5* 


68  Alte  Philosopliip.     Zweite  Periode  (Glanz). 

§.61. 
d.  H  i  p  p  i  a  s. 

h.  Spengel  de  Hippia  Eleo  in  s.  nvvccytoyri  rfivwv.    Stuttg.  1828. 

Hippins  aus  Elis ,  ein  Zeitgenosse  des  Prodilos  hat,  ^^elleicht 
in  Athen  weniger  als  in  Sicilien  und  auch  in  Sparta,  durch  Vor- 
träge und  Stegreifantworten  auf  alle  möglichen  Fragen  Paihm  und 
Vermögen  erworben.  Die  Fülle  des  Wissens,  mit  der  er  gern 
prahlt ,  scheint  wirklich  sehr  gross  gewesen  zu  seyn ,  und  hat  wohl 
den  Aristoteles  gegen  ihn  milder  gestimmt.  Von  seiner  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  wissen  wir  wenig.  Von  der  Rede  über  Le- 
bensweisheit, die  Plato  erwähnt,  behauptet  Pbilostratos  sie  sey 
ein  Dialog  gewesen.  Ob  er  ein  Sammelwerk,  das  seine  Gelehrsam- 
keit documentirte  wirklich  geschrieben  hat,  scheint  nicht  entschie- 
den. Wenn  Proiagorns  und  Gorgins  durch  geistreiche  Gesichts- 
punkte und  Antithesen ,  so  mochte  er  mehr  durch  immer  neue  No- 
tizen die  er  auskramte,  blenden.  Daher  die  Spöttereien  Jener  über 
ihn,  und  sein  stolzes  Herabblicken  auf  ihre  Unwissenheit.  Die 
Sprache  hat  er  besonders  von  ihrer  musikalischen  Seite  ins  Auge 
gefasst.  Die  Erscheinungen  der  Natur  haben  ihn  nicht  weniger 
interessirt  als  die  Sitten  der  Menschen,  der  Barbaren  nicht  minder 
als  der  Hellenen.  Die  vielfache  Beschäftigung  damit  trug  wohl 
mit  zu  dem  skeptischen  Resultate  bei,  zu  dem  er  hinsichtlich  der 
Staatsgesetze  kam,  dass  dieselben  lediglich  ein  Product  des  Be- 
liebens seyen,  luid  dass  es  ein  allgemeines,  an  sich  gültiges  na- 
türliches Recht  nicht  gebe.  In  diesem  negativen  Resultate  stim- 
men mit  dem  IJippids  überein  Polos ,  der  übrigens  den  Gorgiajs 
zum  Lehrer  gehabt  haben  soll,  und  Thrasymochos  von  dem  nicht 
zu  entscheiden  ist ,  ob  er  sich  dem  Einen  oder  dem  Anderen  mehr 
angeschlossen  habe. 

§.  62. 

Indem  die  Sophisten  die  Lehren  der  frühern  Philosophen  durch 
Vermengen  derselben  neutralisirt ,  und  dabei  durch  ihre  Behand- 
lungsweise  zum  Gemeingut  aller  Gebildeten  gemacht  haben,  ist 
eine  Rückkehr  zu  bloss  einem  derselben  nicht  mehr  möglich.  In- 
dem ferner  der  Hauptgesichtspunkt  die  Zweckmässigkeit  oder  Nütz- 
lichkeit ist,  haben  sie  auch  dies  zu  etwas  Selbstverständlichem 
gemacht,  dass  vor  Allem  nach  dem  Wozu?  gefragt  werden  muss. 
Dies  bleibt  unvergessen  auch  da,  wo  aus  dem  Boden  der  Sophistik 
eine  Philosophie  hervorgeht  die,  eben  weil  jene  ihr  Boden  ist,  sie 
aufzehrt,  negirt.  Die  Nothwendigkeit  dazu  liegt  darin,  dass  das 
Princip  der  Sophistik  weiter,  über  sie  hinaus,  führt.  Das  Nütz- 
liche haben  die  Sophisten  als  das  allendliche  Ziel  des  Denkens 


m.    Sokrates.     a.  Leben.   §    63,  1.  69 

und  Handelns  gesetzt.  Nun  liegen  aber  in  dem  Begriffe  des  Nütz- 
lichen die  beiden  entgegengesetzten  Bestimmungen ,  dass  es  einmal 
das  dem  Zweck  Gemässe,  also  erreichter  Zweck  ist,  und  dass  es 
wieder  zu  Etwas  nützt ,  d.  h.  Mittel  ist  zum  Zweck.  Das  Bewusst- 
seyn,  welches  diese  Kategorie  anwendet,  macht  zwar  in  jedem  be- 
stimmten Falle  die  Erfahrung,  dass  was  ihm  eben  Zweck  war, 
eigentlich  mu'  Mittel  ist,  es  denkt  aber  bei  dem  Einen  nicht  an 
das  Andere,  oder  wenn  ihm  einmal  dieser  Gegensatz  auffällt,  be- 
ruhigt es  sich  damit  dass  es  Beides  durch  das  sophistische  Einer- 
seits und  Andrerseits  auseinander  hält,  so  dass  was  in  einer  Be- 
ziehung Zweck  ist,  in  einer  andern  Beziehung  Mittel  seyn  soll. 
Verstünde  es  sich  und  verstünde  es  die  von  ihm  gebrauchte  Ka- 
tegorie, so  müsste  es  einsehen,  dass  diese  beiden  Bestimmungen 
zu  einem  einzigen  Gedanken  verbunden  werden  müssen,  der  an 
die  Stelle  des  Nützlichen  zu  treten  hat.  Umgekehrt  aber,  wenn 
der  Geist  diese  neue  Gedankenbestimmung  anstatt  der  früheren 
zu  der  seinigen  macht,  so  zeigt  dies  dass  er  die  nächst  höhere 
Stufe  des  Selbstverständnisses,  d.  h.  der  Philosophie,  erstiegen 
hat.  Ist  nun  aber  in  dem  was  man  Selbstzweck  oder  Idee  nennt, 
Mittel  und  Zweck  wirklich  Eins,  su  ist  der  Idealismus  die  eigent- 
liche Consequenz  oder  die  Wahrheit  des  subjectiven  Finalismus, 
und  Sokrates,  in  dem  zuerst  die  Philosophie  sich  auf  den  Stand- 
punkt idealer  Betrachtung  stellt,  hat  den  nächsten  Fortschritt  über 
die  Sophistik  hinaus  gemacht,  die  er  mit  Recht  bekämpft,  ohne  die 
aber  er  selbst  nicht  hätte  auftreten,  noch  Anhang  finden  können. 

ni. 

Sokrates. 

§.  63. 
a.  Leben. 
Senophons  Memorabilieu.     Hato's  Dialoge.     Dioc/.  La'ert.  II ,  5. 

1.  Sokrates,  des  Bildhauers  Sophroidskos  und  der  Hebamme 
Pliuinarele  Sohn  ist  in  Athen  Ol.  77,  3  (409  v.  Chr.)  geboren  und 
soll  zuerst  des  Vaters  Kunst  getrieben  haben,  die  er  indess  früh 
verlicss  um  ganz  der  Philosophie  zu  leben.  Mit  so  viel  Recht  er 
sich  in  ihr  völlige  Originalität  zuschreibt,  so  braucht  mau  darum 
doch  nicht  zu  leugnen,  dass  sein  Freund  und  Lehrmeister  in  der 
Musik,  Dämon,  so  wie  die  Nähe  Thebens,  wo  l*liUolaos  lebte, 
ihn  mit  Pythagoreischen  Lehren  bekannt  gemacht,  dass  er  schon 
in  seiner  Jugend  Gespräche  mit  den  bedeutendsten  Eleaten  ge- 
führt, dass  er  auf  des  Eurlpides  Rath  den  Ileraklil  mit  Anerken- 
nung gelesen,  dass  er  endlich,  vielleicht  durch  früheren  Umgang 


70  Alte  Philosopliie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

mit  dem  Autor,  vielleicht  durch  Archelaos  veranlasst  auf  des  Ana- 
xagoras  Buch  mit  Begeisterung  sich  geworfen,  freilich  es,  wegen 
der  mangelnden  teleologischen  Begründung,  enttäuscht  von  sich  ge- 
than  habe.  Sein  vielfacher  Umgang  mit  den  Sophisten,  bei  deren 
Einem  er  sogar  eine  Vorlesung  bezahlt  hat  (Prodilos),  steht  eben 
so  fest.  Freilich  seinen  eigentlichen  philosophischen  Unterricht 
erhielt  er  bei  allen  diesen  nicht,  sondern  durch  den  Umgang  mit 
den  allerverschiedensten  Menschen ,  der  ihm  immer  mehr  das  gab, 
worin  er  selbst,  und  nach  seiner  Ansicht  auch  der  dem  C/türcpI/on 
ertheilte  Orakelspruch,  seine  eigentliche  Weisheit  setzte:  die  Er- 
keuntniss  der  eignen  Unwissenheit. 

2.  Leidenschaftlich  an  seiner  Stadt  hängend,  hat  er  dieselbe 
nur  verlassen,  wenn  die  Pflicht  der  Vaterlandsvertheidigung  es  for- 
derte ,  dann  aber  in  allen  Feldziigen  durch  Härte  gegen  Strapazen, 
Tapferkeit,  Besonnenheit,  Sorge  um  seine  Mitkämpfer  und  neidlose 
Anerkennung  ihrer  Verdienste  Bewunderung  erregt.  Den  Veräch- 
ter der  Masse,  wie  Soh-ates  es  war,  konnte  überhaupt  nicht  die 
Demokratie,  den  wahren  Vaterlandsfreund  nicht  die,  welche  er 
vorfand,  anziehn.  Daher  seine  Polemik  gegen  die  Lieblings -Insti- 
tution der  Demokratie,  das  Loos  bei  der  Stellenbesetzung;  daher 
ferner  seine  Zurückhaltung  von  aller  directen  Betheiligung  an  Staats- 
geschäften. Die  beiden  Male  wo  er  sich  daran  betheiligt,  hat  er 
nicht  ohne  Gefahr  seine  Selbstständigkeit,  das  eine  Mal  dem  Wil- 
len der  Masse,  das  andere  Mal  der  Willkühr  der  dreissig  Tyran- 
nen gegenüber  gezeigt.  Nicht  mehr  Sinn  als  für  die  Staatsgeschäfte 
hat  Sokratcs  für  das  häusliche  Leben  gehabt  und  den  Zornaus- 
brüchen der  Xantl/ippe  gereicht  zur  Entschuldigung,  dass  über 
seinem  höheren  Berufe  ihr  Gatte  die  Last  des  zerrütteten  Haus- 
wesens ganz  auf  ihr  ruhen  liess. 

3.  Diesen  höheren  Beruf  erfüllte  er,  indem  er,  den  ganzen 
Tag  sich  herumtreibend,  mit  Jedem  anband  um  mit  ihm  zu  phi- 
losophiren.  Vorzugsweise  waren  es  schöne  und  geistreiche  Jüng- 
linge, denen  er  nachstellte,  so  dass  die,  mit  Recht  uns  anstössige 
in  Athen  herrschende  Galanterie  gegen  Jünglinge,  von  ihm  ver- 
geistigt und  mindestens  erträglich  gemacht  wird.  Nicht  nur  die 
Jünglinge  aber ,  an  die  er  sich  wandte ,  wurden  von  ihm  bezaubert, 
sondern  den  verschiedensten  Naturen  war  er  unwiderstehlich  und 
ward  sein  Umgang  zum  Bedürfniss.  So  sieht  man  den  stolzen 
praktischen  Kritkis,  der  später  freilich  sein  bitterster  Feind  ward, 
neben  dem  liederlichen  Genie  Al/dbiades,  den  tugendstolzen  An- 
üst/ienes  neben  dem  mit  Geschmack  geniessenden  Aristipp,  den 
streng  logischen  Ei/hiid  und  den  Meister  der  Dialektik  Plato  neben 


III.  Sokiates.     h.  Lehre.     §    6i.   I.  71 

dem  kindlich  fi'ommen  llcriufxjcnes  und  dem  wackern  aber  alles 
speculativeu  Talentes  ledigen  Xenophon,  den  scliwärmeriscben  Jüng- 
ling Chürcphon  neben  dem  besonnenen  eben  so  jungen  Charmidas 
und  dem  reflectiit  sentimentalen  alternden  Euripides  das  bilden, 
was  mau  nicht  sowohl  die  Schule  als  den  Kreis  des  »So/ m/t's  nen- 
nen muss.  Die  Anziehungskraft  die  er  ausübte,  ist  erklärüch: 
das,  namentlich  dem  Griechen  so  verkehrt  erscheinende,  Missver- 
hältniss  der  äusseren  HässKchkeit  und  inneren  Schönheit,  das  zu- 
erst nur  in  Erstaunen  setzt,  reizt  bald  zur  Bewunderung.  Arm 
und  bedürfnisslos  trotz  der  späteren  Kyniker,  ist  er  doch  zugleich 
das  Muster  eines  fein  gebildeten  Mannes,  dem  als  ihrem  Liebling 
die  Grazien  attische  Urbanität  schenkten.  Xach  einigen  hat  glück- 
liches Naturell ,  nach  Anderen  nur  Sokratische  lü'aft  ihn  zum  edel- 
sten der  Menschen  gemacht ,  der  nachdem  er  im  Verborgenen  den 
schweren  Kampf  gegen  böse  Neigungen  durchgekämpft  hat,  nichts 
mehr  zu  überwinden  noch  zu  fürchten  hat,  und  eben  deswegen 
den  Genuss  nicht  verschmäht,  weil  er  sicher  ist,  nie  sich  darin 
zu  verlieren.  In  dieser  Sicherheit  kann  er  in  Lagen  sich  begeben, 
die  für  jeden  Andern  zweideutig  sind,  nicht  aber  für  ihn,  der, 
ein  wahrer  avrovQyÖQ,  sich  zimi  schönsten  Bilde  griechischer  Tu- 
gend ausgeprägt  hat. 

§.  64. 
b.    Lehre. 
Schleiermacher  Der  Werth  des  Sokrates  als  Philosophen  (1815).    WW.  II.     Sü- 
rem  Ueber  Aristophanes'  Wölken.    1826.     Eötscher   Aristophanes  uud  sein  Zeitalter. 
1827.  (Darin  Heyels  Ansichten.)     Brandts  Ueber  die  angebliche  Subjectivität  des  So- 
krates. 1828  im  Ehein.  Mus. 

L  Sokrates  selbst  setzt  wiederholt  die  wahre  Weisheit  in  die 
Erfüllung  des  Delphischen  Rufes  :•  Erkenne  dich  selbst.  Dadurch 
ist  der  Mensch  erst  wahrhaft  bei  sich,  denn  die  GioffQoGvvt]  ver- 
einigt in  sich  die  Begriffe  des  Bewusstseyns  überhaupt,  des  Wis- 
sens vom  Wissen,  der  theoretischen  Selbstkenutniss  und  der  prak- 
tischen Herrschaft  über  sich;  ihr  Gegensatz,  der  Zustand  des 
acpQOiv,  der  ganz  uothwendig  ccAoXaaia,  ist  nicht  viel  besser  als 
Wahnsinn.  Trotz  dem,  dass  also  auch  von  ihm  zum  Gegenstand 
des  Wissens  nicht  der  Himmel  mid  die  Sterne,  sondern  der  Mensch 
gemacht  wird,  kann  er  doch  veiächthch  vom  Protagoras  sprechen 
dem  der  einzelne  Mensch  das  Höchste  war.  Nicht  nag  av&Qanog 
wie  bei  Protagoras .  sondern  o  'ävd-Qanog  ist  bei  Sokrates  das 
Maass  aller  Dinge,  jenes  fällt  ihm  mit  n  vg,  dieses  mit  o  &s6g  zu- 
sammen. Mit  dem  Standpunkte  der  Sophisten  verglichen  erscheint 
der  Sokratische  als  Objectivismus ,  mit  dem  vorsophistischen  ver- 
glichen macht  er  das  Recht  des  Subjectes  geltend. 


72  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

2.  Die  beiden  Bestimmungen,  dass  im  Subject  alle  Wahrheit, 
liegt,  aber  nur  sofern  es  allgemeines  ist,  machen  sich  in  der  Me- 
thode des  Sokrates  so  geltend,  dass  einerseits  alles  Lernen  nur 
als  Erinnerung,  alles  Lehren  als  Entbinden  des  (oder  als  Schöpfen 
aus  dem)  Lernenden  gefasst,  zugleich  aber  dies  festgehalten  wird, 
dass  nur  im  gemeinsamen  Denken,  im  Gespräch,  wo  die  Einzel- 
ansichten sich  neutralisiren ,   die  Wahrheit  gefunden  werde.    Da- 
rum ist  die  Unwissenheit  des  So/>rafes.   die  ihn  zum  fortwähren- 
den Ausfragen  bringt,   nicht  ein  (noch  dazu  fünfzig  Jahre  lang 
wiederholter)  Scherz,  sondern  voller  Ernst,  die  dialogische  Form 
des  Philosophirens  hat  bei  ihm  dieselbe  Nothwendigkeit,  wie  bei 
den,  die  Ansicht  vergötternden  und  alle  Verständigung  leugnenden, 
Sophisten  die  monologische.    Der  qpiAoAoyo?,  cpdkaiQog,   der  Un- 
fruchtbare   der  nicht  gebären  kann   wohl  aber  entbinden,    sucht 
nach  dem ,  was  aus  dem  Menschen  hervorgebracht  wird ,   wo  er 
seine  Vereinzelung  aufgibt,  d.h.  er  will  nicht  Meinungen ,  sondern 
Wissen.    Als    das  Eigenthümhche  der  Sokratischen  Gesprächfüh- 
rung gibt  daher  Arhtoleles  mit  Recht  au ,  dass  die  Induction  der 
Weg,   die  Begriffsbestimmung  das  Ziel  sey.    Von  dem  Einzelnen 
wird  ausgegangen,  in  demselben  aber  nachgewiesen  dass  es  nicht 
festzuhalten  sey,  und   so,  besonders  durch  jene  berühmte  Ironie, 
zuerst  die  Rathlosigkeit  hervorgebracht ,  in  Folge  der  die  einseiti- 
gen Bestimmungen  weggelassen,  und  im  günstigsten  Falle  die  allge- 
meinen Gattungs1)egTiffe   gefunden  werden,   die  mit  den  dazu  ge- 
suchten specifischen  Differenzen  die  Begriffe  geben,   die  Solrates 
an  die  Stelle  der  Ansichten  setzen  will,  von  denen  das  Gespräch 
ausging.    Wo  sich,  wie  sehr  oft,  kein  positives  Resultat  ergibt, 
sondern  nur  das  negative  der  Rathlosigkeit,  da  kann  es  kommen, 
dass   der  Mitunterredner  sich  wie  geneckt  vorkommt,    und  meint 
Soh'ates  habe  ihn  nur  confus  machen  wollen,   selbst  aber  wisse 
er  das  Bessere.    Er  irrt,  ganz  eben  so  wie  wieder  die  Skeptiker 
irren ,  die  den  Sokrates  zu  den  Ihrigen  zählen.    Das  Wissen,  das 
sie  leugnen,  ist  der  leitende  Stern  bei  seinen  Untersuchungen. 

3.  Geht  man  von  dem  Wie  seines  Forschens  zum  Inhalte  des- 
selben über,  so  ist  ihm,  wie  dem  Anaxagoras  und  den  Sophisten, 
das  Wozu?  die  Hauptsache;  er  tadelt  den  Anaxagoras  dass  er 
nur  die  Gründe  der  Naturerscheinungen  angebe ,  und  wo  er  selbst 
die  Natur  betrachtet,  wie  in  dem  Gespräch  mit  Aristodemos  bei 
XeiwpJwn,  geschieht  es  ganz  teleologisch.  An  diese  Naturbetrach- 
tung schhessen  sich  dann  die  Aussprüche  über  den  Alles  beherr- 
schenden und  ordnenden  Weltverstand,  dessen  Verwandtschaft  mit 
dem  vovg  des  Anaxagoras  auf  der  Hand  liegt.    Im  Ganzen  aber 


III.  Sokrates.     b.  Lehre.     §.   64,  3.  73 

interessirt  ihn  die  Natur  ^Yeuig:  Bäume  und  Felder  lehren  ihn 
Nichts  aber  Menschen ,  und  darum  ist  für  ihn  die  Hauptfi'age  die: 
wozu  der  Mensch  da  ist  und  handelt?  Hier  stellt  er  nun,  ganz 
wie  er  der  Meinung  der  Sophisten  das  Wissen  entgegengestellt 
hatte,  ^0  dem,  was  nur  für  Einen  oder  den  Andern  Zweck  ist, 
d.  h.  dem  Nützlichen,  das  Gute  entgegen  oder  das  was  Zweck  ist 
an  und  für  sich.  Damit  ist  die  Philosophie,  die  bis  auf  den  So- 
h'ates  nach  einander  Physik  und  Logik  (theils  als  Mathematik, 
theils  als  Metaphysik),  endlich  aber  Beides  gewesen  war,  zur  Ethik 
geworden,  und  der  Erbe  des  Sokrates  kann  aussprechen,  was  seit- 
dem unerschütterliches  Axiom  geblieben  ist,  dass  Logik,  Physik 
und  Ethik  die  wesentlichen  Theile  der  Philosophie  sind.  Das  Gute 
ist  dem  Sokrates  eben  so  sehr  Object  des  Wissens  wie  Inhalt  des 
Thuns.  Wie  es  nämlich  für  ihn  unvereinbar  ist  das  Gute  zu  wis- 
sen und  es  nicht  zu  thun,  eben  so  erklärt  er  es  für  unmöglich, 
das  Gute  zu  thun  ohne  Einsicht.  Das  Wissen  ist  so  mit  dem 
Wesen  der  Tugend  Eins,  dass  er  ausdrücklich  sagt :  Niemand  könne 
wissentlich  böse  seyn  und  wissentliches  Fehlen  stehe  höher  als 
unwissentliches.  Darum  wiederholt  er  immer,  dass  die  Tugend 
iniGTi'jfH]  sey,  und,  in  so  weit  überhaupt  Etwas  lehrbar  ist,  gelehrt 
werden  könne.  Sein  xaAoxcvya^ov ,  das  ihm  mit  der  Glückseligkeit 
zusammen  fällt ,  ist  gewolltes  und  erkanntes  Gutes.  Die  glückliche 
Naturanlage  ist  ihm  deswegen  eben  so  wenig  schon  Tugend,  wie 
ihm  die  auf  Gewohnheit  beruhende  Zucht  und  Sittlichkeit  genügt. 
Vielmehr  fordert  er  eine,  die  sich  der  Gründe  des  Handelns  be- 
wusst  ist,  und  dieselben  auch  Anderen  mittheilen  kann;  keine 
fremde  Autorität  hat  zu  bestimmen,  sondern  nur  die  eigne  Ein- 
sicht. Der  Tugendhafte  hat  mit  den  Gesetzen  des  Staates  gleich- 
sam einen  Vertrag  geschlossen ,  den  er  hält.  Wenn  dieses  Beto- 
nen der  eignen  Einsicht  Manche  dahin  gebracht  hat  vom  Subjec- 
tivismus  der  Sokratischen  Ethik ,  ja  von  ihrem  sophistischen  Cha- 
rakter zu  sprechen,  so  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  dass 
mit  derselben  Energie  er  stets  gegen  die  Sophisten,  welche  das 
Belieben  oben  an  stellten,  dies  festhält  dass  das  Gute  in  der  Ge- 
setzlichkeit bestehe,  in  der  Uebereinstimmung  nicht  nur  mit  dem 
geschriebenen  Gesetz,  sondern  auch  der  Sitte  und  dem  Herkom- 
men. Wie  Ernst  es  ihm  damit  ist,  hat  er  gezeigt  indem  er  ge- 
storben ist  treu  den  vaterländischen  Gesetzen.  Diese  beiden  Be- 
stimmungen sind  in  ihm  so  Eins,  dass  man  ganz  ohne  Widerspruch 
sagen  kann:  Sokrates  folgt,  wie  die  Sophisten,  nur  seinem  Belie- 
ben ,  und  wieder :  im  Gegensatz  zu  ihnen  macht  er  die  vaterländi- 
schen Gesetze  zur  Norm  des  Handelns.    Ihm  beliebt  nämlich  nie 


74  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

etwas  Andres ,  als  was  sie  gebieten.    Zu  ihm  spricht  ihre  Stimme 
als  die  subjectivste  aller  Empfindungen,  als  Ohrenklingen. 

4.  Nennt  man  die  mit  objectivem  Inhalte  erfüllte  Subjectivität 
Gewissen,  so  hat  Sohratcs  zuerst  das  Princip  des  Gewissens  gel- 
tend gemacht.  Das  Gewissen  ist  jener  Gott,  oder  jenes  Dämoni- 
sche, das  jeder  Mensch  in  sich  vernimmt,  und  welches  eben  das 
Maass  ist  aller  Dinge.  In  ihm  selbst  gestaltet  sich's  aber  so,  dass 
sich  damit  zugleich  ein  warnendes  Vorgefühl  verbindet,  das  ihn 
von  schädlichen,  aber  sitthch  gleichgültigen,  Handlungen  abhält. 
Das  sichere  Sichgehen -lassen,  das  ihn  so  anziehend  macht,  liegt 
darin  dass  er  ganz  seinem  natürlichen  und  sittlichen  Genius  folgt ; 
wo  Sokrates  den  SohTates  befragt,  ist  er  am  Besten  berathen. 
Freilich,  weil  in  ihm  die  Tugend  geniale  Virtuosität  ist,  deswegen 
zeigt  er  sie  mehr,  als  dass  er  sie  zu  beschreiben  wüsste.  Wo  er 
es  thut,  ist  es  immer  die  Selbstbeherrschung,  die  er  preist,  sey 
es  nun  dass  er  sie  ganz  formell  bestimmt  als  bei  sich  selbst  und 
mit  sich  Eins  Seyn,  sey  es  dass  er  mit  Rücksicht  auf  die  natür- 
lichen Triebe  die  Bedürfnisslosigkeit  göttlich  nennt,  und  von  dem 
"Weisen  fordert,  er  solle  Herr  und  nicht  Sklave  der  Lust  seyn. 
Weil  dies  Alles  aber  nur  verschiedene  Erscheinungen  der  acoq)Qo- 
avvr]  sind,  deswegen  betont  er,  dass  es  nur  ein  Gut  und  eine  Tu- 
gend gebe,  so  wie  nur  ein  Gegentheil  derselben:  die  Unwis- 
senheit. 

§.  65. 
c.    Schicksal. 

P.    W.  Forchhammer  Die  Atliener  uud   Sokrates  etc.    Berl.   1837. 

Dass  das  eigne  Gewissen  entscheiden  soll,  was  Recht  ist  und 
was  nicht ,  das  ist  eine  Neuerung  für  den  Standpunkt  der  antiken 
Sittlichkeit.  So  lange  diese  noch  unerschüttert,  werden  ihre  Re- 
präsentanten nicht  ängstlich  jede  neue  Regung  als  gefährlich  an- 
sehn. Und  A\ieder,  so  lange  nur  hergelaufene  Fremdhnge  den 
Egoismus  predigen ,  so  lange  hat  dies  nicht  viel  auf  sich.  Anders 
aber,  wenn  überall  Zucht  und  Sitte  wankt,  und  nun  des  eignen 
Staates  edelster  Sohn  eine  neue  Weisheit  verkündigt.  Dies  ruft 
die  Reaction  derer  hervor,  die  nach  der  guten  alten  Zeit  sich  zu- 
rücksehnen. Bis  zur  Spiessbtirgerlichkeit  war  dies  der  Fall  bei 
Aristophüues  und  so  greift  dieser,  der  die  Person  des  Sokrates 
scheint  geschätzt  zu  haben,  sein  Princip  auf  das  Heftigste  an, 
und  stellt  ihn  dem  Volke  vor  als  den  schlimmsten  aller  Sophisten, 
welcher  lehre  neue  Götter  (die  Wolken)  anbeten,  und  die  Söhne 
überhaupt  um  ihre  Pietät  bringe,  insbesondere  aber  den  Alldbia- 
des  zum  undankbaren  Sohn  Athens  gemacht  habe.    Dieser  scherz- 


III.  Sokrates.     c.  Schicksal.     §.   65.  66.  75 

haft  gehaltenen,  aber  sehr  enistlicli  gemeinten,  Anklage  folgte  — 
selu'  charakteristisch  während  der  kurzen  Periode  der  Thrasybuli- 
schen  Reaction  —  die  gerichtliche  Anklage,  die  gerade  dieselben 
Beschuldigungen  vorbrachte.  Ob  alle  drei  Ankläger,  der  Dichter- 
ling Meletos ,  der  Rhetor  Lijhon  und  der  Lederarbeiter  Jnytos, 
nur  aus  persönlicher  Rache,  oder  ob  der  Letzte  aus  (auch  sonst 
uns  bekanntem)  Eifer  für  die  alte  Zeit  gehandelt,  ist  schwer  zu 
entscheiden.  Gewiss  trug  zur  Verurtheilung  des  SofiTates  bei,  dass 
pohtische  Gegner  über  ihn  richteten.  Aber  auch  sonst  ist  sie  er- 
klärlich, da  hinsichtlich  der  religiösen  Neuerungen  seine  Verthei- 
digung,  indem  sie  sein  dämonisches  Zeichen  den  vom  Staate  ag- 
noscirten  Orakeln  gleichstellt,  eigentlich  die  Richtigkeit  der  An- 
klage beweist,  ganz  abgesehn  davon  dass  Mancher  unter  den  Rich- 
tenden an  das  gedacht  haben  mag,  was  nicht  erwähnt  werden 
durfte:  dass  Sokraies,  indem  er  es  verschmäht  hatte,  in  die  eleu- 
sinischen  Mysterien  sich  einweihen  zu  lassen,  die  Ehrfurcht  vor 
denselben  nicht  gezeigt  habe,  die  jeder  gute  Athener  vor  ihnen 
hegte,  und  dass  es  vielleicht  kein  Zufall  sey,  wenn  ihm  so  Nahe- 
stehende wie  Euripldes  und  Al/dbutdes  das  Heilige  entweiht  hat- 
ten. Auch  der  zweite  Klagepunkt  wird  eigentlich,  da  Solrrates 
zugibt ,  wo  er  besser  als  die  Eltern  den  Beruf  der  Kinder  erkenne, 
sie  dem  gemäss  angewiesen  zu  haben,  zugegeben.  So  gross  und 
erhaben  endlich  Sohrdtes  erscheint  indem  er  sich  als  verdiente 
Strafe  die  Erhaltung  im  Prytaneion  zuspricht,  so  ist  dies  doch 
eine  Erhabenheit  im  modernen  Sinne  und  die  Erbitterung  der  Rich- 
ter und  des  Volks  ist  sehr  erklärlich.  Diese  dauert  auch  nach 
seinem  Tode  fort,  denn  fünf  Jahre  nach  demselben  hielt  es  Xeno- 
piion  noch  für  uöthig,  durch  seine  Memorabilien  dem  zu  begegnen. 
Das  Benehmen  des  Sohutcs  nach  seiner  Verurtheilung,  die  Stand- 
haftigkeit  mit  der  er  die,  durch  Freunde  gefahrlos  gemachte,  Flucht 
ablehnt,  endlich  sein  Tod,  der  erhabenste  den  je  ein  blosser  Mensch 
gestorben  ist,  alles  dies  ist  in  den  wunderschönen  Schilderungen 
Pldto's  verewigt.  Sohraies  trank  den  Schierlingsbecher  Ol.  95,  1 
(im  April  des  Jahres  399  v.  Chr.).  Er  ist  eine  tragische  Figur, 
weil  er  durch  den  Conflict  eines  neuen  und  höheren  Princips  mit 
einem  abgelebten,  dem  aber  das  Recht  des  langen  Daseyns  zur 
Seite  steht,  untergeht.  Er  ist  eine  prophetische  Natur,  weil  die- 
ses sein  Princip  das  ist^  das  die  Zukunft  beherrschen  soll 

EiUer  et  Preller  §.   194—209. 

§.  66. 
An  die  Stelle  des  von  den  Sophisten  vergötterten  subjectiven 
Meinens  und  des  endlichen  Zwecks  hat  Sokrates  das  Wissen  und 


76  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

die  Idee  gestellt;  indem  seine  Philosophie  eben  so  Subjectivismus 
ist ,  wie  Objectivismus ,  ist  sie  eben  Idealismus.  Die  Idee  erscheint 
aber  in  ihm  in  ihrer  Unmittelbarkeit,  als  Leben,  der  Idealismus 
als  Solrates  selbst,  in  dem  er  sich  incarnirt  hat.  Darum  fällt 
bei  ihm  die  Frage  was  gut  ist?  mit  dem  Befragen  seines  Genius, 
die  Erkenntniss  der  Wahrheit  mit  der  Selbsterkenntniss  zusammen, 
und  wie  für  ihn  selbst,  so  identificirt  sich  Beides  auch  für  seine 
Gegner:  seine  Philosophie  zu  widerlegen  war  nur  möglich  indem 
man  ihn  tödtete.  Nur  in  ihm  aber  durchdringen  sich  die  beiden 
Momente,  deren  Einheit  die  Idee  ist;  sobald  sie  aus  der  Indivi- 
dualität dieses  Tugendvirtuosen  entlassen  werden,  fallen  sie  aus- 
einander. Dies  geschieht  wo  er,  was  in  ihm  lebt,  auszusprechen 
versucht.  Da  spricht  er  manchmal  gerade  wie  ein  Sopliist,  dass 
unter  Umständen  Stehlen  u.  s.  w.  uns  gut  und  also  nicht  zu  ta- 
deln sey,  imd  ein  andermal  gerade  wie  der  ehrliche  Bürger  der 
guten  alten  Zeit,  für  den  nur  Gesetz  und  Sitte  der  Väter  über 
Recht  und  Unrecht  entscheidet.  Der  Widerspruch  existirt  nur 
ausser  ihm,  wo  er  sich  ausspricht,  in  ihm  selbst  nicht,  denn  da 
ihm  nützlich  nur  das  ist,  was  Gesetz  und  Sitte  fordert,  kann  er 
ohne  Gefahr  bloss  seinen  Nutzen  suchen.  Gerade  wie  die  in  ihm 
gebundenen  Elemente  frei  werden,  wo  er  sie  aus  sich  entlässt, 
gerade  so  wenn  er  den  Sokratismus,  den  er  in  seine  Schüler  ge- 
pflanzt hat,  verlässt,  d.  h.  stirbt.  Seine  Individualität  hinwegge- 
nommen und  es  fehlt  das  Band,  welches  das  Entgegengesetzte 
verband:  der  Sokratismus  zerfällt  in  einseitige  sokratische  Rich- 
tungen. 

IV. 

Die  Sokratische»  Schulen. 

§.  67. 
Die  kleineren  sokratischen  Schulen  suchen ,  was  Sokrates  ge- 
wesen war,  mit  Bewusstseyn  zu  erfassen,  und  auf  die  Fragen: 
was  ist  das  Gute?  was  ist  das  Wissen?  nicht  nur  wie  er  zu  ant- 
worten :  „Kommt  und  seht !  philosophirt  mit  mir  und  Ihr  sollt  es 
erfahren!",  sondern  eine  Antwort  zu  formuliren,  wobei  der  leitende 
Gesichtspunkt  freilich  immer  ist,  was  auch  der  Bedeutendste  im- 
mer ausspricht:  vom  Solratcs  zu  lernen.  Dies  ist  um  so  mehr 
nothwendig  und  also  ein  Fortschritt ,  als  nach  des  Sokrates  eigner 
Forderung  überall  au  die  Stelle  der  unmittelbaren  Stimme  des  Ge- 
nius (des  heiligen  Künstlerwahnsinns)  das  auf  Gründe  gestützte 
Wissen  treten  soll,  und  also  auch  der  geniale  Sokratismus  des 
Stifters  dem  durch  die  Reflexion  hindurch  gegangenen,  klar  be- 


IV.    Die  Sokratischen  Schulen.     A.  Die  Megariker.     §.  68.  1.  77 

wussten,  Platz  machen  miiss.  Keiner  dieser  Schulen  freilich  ge- 
lingt es,  mehr  als  nur  eine  Seite  des  Sokratischen  Wesens  zu  er- 
fassen. Aber  selbst  diese  Einseitigkeit  dient,  als  unerlässliche 
Bedingung,  dem  Fortschritte  der  Philosophie.  Durch  sie  nämlich 
wird  klar,  was  doch  auch  zum  Selbstverständniss  des  Sokratismus 
gehört,  in  wie  weit  derselbe  mehr  als  die  früheren  Standpunkte 
in  sich  enthalte.  Der  Urheber  und  Neuerer  weiss  nur,  dass  er 
nicht  auf  einem  derselben  steht,  sie  befriedigen  ihn  alle  nicht. 
Dass  seiner  nicht  nur  ein  andrer  sondern  mehr  ist  als  jene,  wird 
durch  den  Nachweis  bewiesen,  dass  er  was  sie  leisten  auch,  aus- 
serdem aber  noch  Weiteres  erreiche.  Indem  jetzt  die  kleineren 
Sokratischen  Schulen  zeigen,  wie  viele  vorsophistische  Metaphy- 
sik und  Physik  und  wie  viele  Sophistik  aus  der  theoretischen 
Seite  des  Sokratisnuis  gezogen  werden  kann,  indem  ferner  durch 
sie  klar  wird,  wie  das  Gute  des  Sohuitrs  eben  sowol  logisch  als 
physisch  als  ethisch  gefasst  werden  kann,  haben  sie  dem  vorge- 
arbeitet, dass  der  selbstbewusste  Sokratismus  sich  rühmen  kann. 
Alles  zu  verbinden,  was  bisher  gelehrt  war  über  die  Gründe  des 
Seyns,  und  eine  Ethik  aufzustellen,  die  Platz  hat  für  logische, 
physische  und  ethische  Tugenden.  Concreter  ausgedrückt:  Ohne 
Megariker,  Kyrenaiker  und  Kyniker  war  kein  Plaio ,  ohne  diesen 
kein  Aristoteles  möglich. 

§.  68. 

4. 

Die   megariker. 

G.  L.  Spalding  Vindiciae  philosophorum  Megariconim  tentantur.  1792.  Deycks 
De  Megaricorum  doctriiia.  Bonnae  1827.  //.  BtHrr  Bemerkungen  über  die  Megari- 
sche  Schule.    Rhein.  Mus.  II.  Heft  3. 

1.  Der  Stifter  dieser  Schule,  Euldeides,  ein  Megariker,  nach 
Andern  ein  Geloer,  war  ehe  er  sich  mit  Eifer  dem  Snlrates  an- 
schloss,  in  eleatische  Lehren  eingeweiht,  und  hat  als  er  (schon 
zu  Sohrates''  Lebzeiten)  in  Megara  zu  lehren  anfing,  nicht  nur  die 
Dialektik  des  Zeno  eifrig  geübt,  sondern  auch  die  All -Einslehre 
des  Parmenides  in  einer  eigenthümhchen  Weise  mit  der  Ethik 
des  Sokrnies  verschmolzen.  Mit  Plato  befreundet,  soll  er  Dialo- 
gen geschrieben  haben,  von  denen  einige  dieselben  Titel  führten 
wie  Platonische.  Sie  sind  nicht  zu  uns  gelangt.  Seine  Nachfol- 
ger scheinen  sehr  einseitig  die  Dialektik  dazu  angewandt  zu  ha- 
ben, Verwirrung  in  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  zu  bringen. 
Daher  der  Name  Dialektiker  und  Eristiker,  der  ihnen  beigelegt 
ward.  EuhuUdes  und  Alcxinos  werden  als  Erfinder  neuer  Fang- 
schlüsse ,  Diodoros  Kronos  weil  er  die  Möglichkeit  der  Bewegung 


78  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

mit  neuen  Gründen  betritt,  genannt.  Stiipo  scheint  weder  mehr 
das  Ethische  in  Betracht  gezogen  zu  haben.  Verwandt  mit  der 
megarischen  Lehre  war  wohl  die  des  Eleers  Phaidon ,  dessen 
Schule  seit  Mencdemos  die  eretrische  Schule  genannt  ward  und 
ziemlich  gleichzeitig  mit  der  megarischen  erlosch. 

2.  Dass  Evhiid  zu  seinem  eigeiithchen  Gegenstande  das  Gute 
gemacht  hat,  dass  ihm  Tugend,  Einsicht,  Gott,  i'ovg  u.  s.  w.  nur 
andere  Namen  dafür  sind,  zeigt  ihn  als  entschiedenen  Sokratiker 
Wenn  er  dann  aber  wieder  das  Gute  das  Eine  nennt,  weil  sein 
Wesen  in  der  Einheit  mit  sich  oder  der  Unveränderlichkeit  be- 
stehe, oder  auch  das  Seyn,  indem  das  Gegentheil  des  Guten  gar 
nicht  sey ,  wenn  wahrscheinlich  schon  er  selbst ,  gewiss  aber  seine 
Nachfolger,  die  Realität  desselben  durch  Polemik  gegen  die  Mög- 
lichkeit des  Werdens  und  der  Bewegung  beweisen  wollen,  so  ist 
es  dem  Cicero  nicht  zu  verdenken ,  wenn  er  als  Urheber  der  me- 
garischen Lehre  die  Eleaten  nennt.  Dass  Sohrafcs  von  der  Tu- 
gend behauptet  hatte ,  sie  sey  nur  eine ,  schliesse  alle  Vielheit  aus, 
dass  er  sie  oft  als  Uebereinstimmung  mit  sich  selbst  geschildert 
hatte,  macht,  wenn  man  dazu  nimmt  wie  Bewegung  und  Vielheit 
als  Wechselbcgriffe  gelten,  eine  solche  Verschmelzung  des  Sokra- 
tismus  mit  der  All  -  Einslehre  möglich,  in  der  freihch  nur  die  for- 
melle Seite  des  Sokratischen  Tugcudbegriffes  zu  ihrem  Rechte 
kommt.  Auch  die  Untersuchungen  über  das  Wissen,  der  Gegen- 
satz in  den  die  Vernunfterkenntniss  zur  Meinung  gestellt  wird, 
weil  jene  es  mit  dem  Einen  und  Allgemeinen  zu  thun  habe,  alles 
dies  ist  ganz  Sokratisch,  Dagegen  ist  es  wieder  eleatische  Furcht 
vor  aller  Besonderheit,  welche  die  Megariker  nicht  zu  dem  con- 
creten ,  die  spezifische  Differenz  enthaltenden  Begriff  durchdringen, 
sondern  sich  bei  dem  abstracteii,  alle  Besonderheit  ausschliessen- 
den  Allgemeinen  beruhigen  lässt.  Diesen  Sinn  hat  es ,  wenn  nicht 
dem  Kohl  der  gewaschen  wird,  sondern  nur  dem  Gattungsbegriff 
desselben  Realität  zugeschrieben  wird,  und  diesen  Grund  wenn 
Pinto  im  Pannenides  die  transscendenten  Ideen  der  Megariker 
verwirft,  zwischen  denen  und  den  wirklichen  Dingen  das  Dritte, 
Vermittelnde,  fehle.  Wenn  sonst  noch  von  den  Megarikern  erzählt 
wird,  dass  sie  den  Gegensatz  von  Möglichkeit  und  Wirklichkeit 
geleugnet  hätten,  so  ist  dies  ein  Lieblingssatz  fast  jedes  Pantheis- 
mus gewesen.  Bei  ihnen  ist  er  auch  so  ausgesprochen,  dass  es 
keine  Möglichkeit  —  dieses  Mittlere  zwischen  Seyn  und  Nicht- 
seyn  —  gebe,  und  ist  dann  später  für  ihre  Ansichten  vom  hypo- 
thetischen Urtheil  wichtig  geworden. 

Diog.  Laert.  II,  10  et  11.     PreUer  et  Ritter  1.  e    §.  228  —  243. 


IV,  Die  Sokratischen  ScTiulen.     B.  Die  Kyrenaiker.    §.  69.  70.  12.  79 

§.  69. 
Der  Vorwurf,  den  später  Aristoteles  den  Pytliagoreern  ge- 
macht hat ,  dass  in  ihrem  Tugendbegritf  das  Material  aller  Tugen- 
den, die  natürlichen  Triebe,  ganz  unberücksichtigt  geblieben,  passt 
ganz  auf  die  Ethik  der  Megariker.  Sie  ist  formalistisch,  wie  in 
neuerer  Zeit  die  Wolfische  oder  Kantische,  weil  auf  die  individuelle 
Verschiedenheit,  die  Xaturanlage,  gar  keine  Rücksicht  genommen 
wird.  Es  ist,  als  wenn  die  jedenfalls  wichtige  Entdeckung  der 
Sophisten,  dass  das  Einzelwesen  die  Xorm  für  Alles,  gar  nicht 
gemacht  worden  wäre.  Eben  so  ist,  indem  sie  das  eleatische  Eine 
festhalten,  ganz  ignorirt,  dass  /7er«A7«7  die  Berechtigimg  des  Wer- 
dens, dass  die  Atomiker  die  Realität  des  Vielen  nachgewiesen 
haben,  und  dass,  wenn  mit  diesem  Beiden  die  Wahrnehmung  zu 
thun  hat,  diese  nicht  ohne  Weiteres  als  Wahn  und  als  täuschende 
Meinung  verworfen  werden  darf.  Dieser  einseitigen  Fassung  des 
Sokratismus,  durch  die  er  aus  seiner  Höhe  über  jenen  früheren 
Standpunkten  zu  ihnen  herabgezogen,  weil  zu  ihrem  Gegensatz 
gemacht  wird,  muss  ergänzend  eine  Auffassung  entgegentreten, 
welche  gerade  das,  was  die  Megariker  aus  dem  Sokratismus  aus- 
geschlossen hatten ,  besonders  betont.  Den  Gegensatz  zu  den  Me- 
garikern  bildet  die  kyrenaische  Schule. 

§.  70. 

B. 

Die  Kyrenaiker. 

Fr.  Meidzins    Vita  Aristippi.    Halae   1719.   4.      A.    Weridt   De  philosophia  Cyre- 
naica.    Lips.   1835. 

1.  Jrisilpjjos,  in  dem  üppigen  Kyrene  als  Sohn  eines  reichen 
Kaufmanns  erzogen,  kam,  vom  Ruhme  des  Solnäes  angezogen, 
als  ein  feingebildeter  Lebemann  nach  Athen,  und  ward  so  von 
ihm  gefesselt,  dass  er  ihn  nicht  wieder  verliess ,  auch  nach  seinem 
Tode  wo  er  als  Lehrer  auftrat  stets  für  einen  Sokratiker  gelten 
wollte,  obgleich  die  meisten  Anderen,  die  sich  so  nannten,  ihn, 
nicht  nur  weil  er  Geld  für  seine  Vorträge  nahm ,  zu  den  Sophisten 
stellten.  Er  hat  nicht  Unrecht,  denn  wirklich  ist  es  eine  Seite 
des  Sokratischen  Wesens,  die  er  über  Alles  stellt,  und,  wenn  auch 
travestirt,  liegt  selbst  in  dem  Aristippischen  k'xa  ovx  l'^oftat  etwas 
Sokratisches.  Von  den  vielen  Schriften  die  ihm  zugeschrieben 
worden  sind,  hat  Manches  vielleicht  seinen  Nachfolgern  angehört. 
Erhalten  hat  sich  davon  Nichts. 

2.  Wie  alle  Philosophen  nach  Anaxagoras ,  so  ft-agt  auch  Ari- 
stipp:  wozu  ist  Alles?,  und  indem  ihn,  wie  den  Sokrntes,  nur  der 
Mensch  interessirt ,  werden  alle  Untersuchungen  nur  um  des  hoch- 


80  Alte  Philof?opKie      Zweite  Periode  (Glanz.) 

sten  menschlichen  Zweckes ,  cl.  h.  um  des  Guten  halber ,  angestellt. 
Was,  wie  die  Mathematik ,  den  Zweckhegriff  ausschhesst  wird  ver- 
achtet. Auch  die  Logik  und  Physik  sind  an  sich  ohne  Interesse, 
bekommen  aber  eines,  indem  sie  zu  Hülfsmitteln  für  die  Ethik 
werden.  Da  nach  Solrates  die  Tugend  ein  Wissen  war,  so  wer- 
den die  Untersuchungen  über  das  Wissen  überhaupt  [mqX  maxswg) 
um  so  mehr  den  logischen  Theil  der  Ethik  bilden  müssen ,  als  Irr- 
thümer  vielleicht  den  höchsten  Zweck  verfehlen  lassen.  Das  Re- 
sultat ist,  dass  da  alles  Wissen  ein  Wahrnehmen  ist,  die  Wahr^ 
nehmung  aber  nur  das  eigne  Afficirtseyn  percipirt,  wir  nur  von 
unseren  eignen  Zuständen  wissen.  Diese  und  ihre  Ursachen  {nä&i] 
und  alx'icii)  bilden  den  Inhalt  des  physikalischen  Theils  seiner  Leh- 
ren. Alle  Zustände  werden  auf  die  der  heftigen,  massigen  und 
fehlenden  Bewegung  zurückgeführt,  und  die  erste  und  dritte  als 
Schmerz  [növog)  und  Apathie  der  zweiten,  welche  Lust  (j/<5or>/),  ent- 
gegengestellt. Welcher  dieser  Zustände  zu  suchen,  welcher  zu 
fliehen  sey,  das  ward  in  dem  eigentlich  ethischen  Abschnitte  des 
Systems  {n^qi  aiQsrav,  tceqI  cp^vKtäv)  abgehandelt.  Die  Entschei- 
dung fällt  zu  Gunsten  der  Lust  aus,  die  für  das  einzige  Gut  er- 
klärt wird,  nur  möchte  man  darin,  dass  als  Grund  angeführt  wird: 
alle  Menschen  suchen  die  Lust,  eine  Entfernung  von  dem  „jeder 
Mensch"  des  Profagoras  und  eine  Annäherung  au  das  „der 
Mensch"  des  Sokrates  sehen  können.  Unter  Lust  versteht  Jri- 
stipp  nur  das  momentane  (fiovoxQovog)  Wohlseyn,  namenthch  von 
seiner  physischen  Seite,  daher  Leibesübungen  ihm  Tugendmittel 
sind.  Der  Weise  erwählt  niemals  den  Schmerz,  selbst  wenn  er 
dadurch  Lust  erkaufen  sollte.  Sein  Wahlspruch  ist  den  Genuss 
des  Augenblickes  ergreifen ,  nicht  um  sich  von  ihm  beherrschen  zu 
lassen ,  sondern  die  Lust  zu  beherrschen  wie  der  Reiter  das  Ross. 
Der  Leichtsinn,  der  im  Genuss  nicht  an  die  Zukunft  denkt,  unter- 
scheidet den  Hedonismus  des  Aristipp ,  von  der  abwägenden,  be- 
rechnenden. Glückseligkeitsichre  des  Epiknr  und  seiner  Anhänger. 
Auch  hier  wird  übrigens  ein  Sokratisches  Element  darin  anerkannt 
werden  müssen,  dass  Arisüpp  so  wenig  als  Solrates,  allein  ge- 
niessen  mag,  und  die  Kunst  mit  Menschen  zu  leben  von  ihm  am 
Höchsten  gepriesen  wird.  FreiUch,  wenn  er  hinzusetzt:  wie  ein 
Fremder,  so  betont  das  wieder  die  Genussseite  des  Umganges,  und 
die  Aristippische  Freude  an  der  Geselligkeit,  wird  Niemand  mit 
dem  Eros  des  Sokrates,  der  auf  das  gemeinschafthche  Philosophi- 
ren geht,  identificiren.  Eben  so  wenig  aber  auch  mit  dem  isoli- 
renden  Egoismus  der  Sophisten.  Selbst  wo  Aristipps  Aeusserun- 
gen  ganz  mit  den  Sophistischen  übereinstimmen,  neutralisirt  er 


IV.  Die  Sokratischen  Schulen      B.  Die  Kyrenaiker.     §71.  81 

sie  durch  andere,  welche  zeigen  welchen  Eindruck  er  von  Soh'a- 
ics  erfahren  hat.  So  wenn  nach  ihm  Nichts  von  Natur,  Alles  nur 
durch  Satzung  Kecht  ist ,  wird  dies  dadurch  ungefährlich ,  dass 
er  sagt  der  Weise  würde,  wenn  es  keine  Gesetze  gäbe,  gerade  so 
leben,  wie  wo  es  dergleichen  gibt.  Ueberhaupt  lassen  viele  uns 
überlieferte  Charakterzüge  des  Aristipp  in  ihm  einen  Mann  erken- 
nen, der  manchem  Kyniker  und  Stoiker  als  Tugendmuster  hätte 
dienen  können. 

3.  Die  Nachfolger  des  Aristipp  scheinen  sich  bald  von  ihm 
zu  entfernen  und  dem  späteren  Standpunkt  der  Epikureer  anzu- 
nähern. Viele  derselben  haben  dann  selbst  Schulen  gebildet,  die 
nach  ihnen  genannt  werden.  Ausser  dem  Jüngern  ^4r««/«/>p,  einem 
Tochtersohn  des  Stifters  der  Schule,  wird  Theodoros  nebst  den 
T/ieodoriacis  genannt ,  der  über  die  momentane  Lust  die  mehr  re- 
flectirende  Freude  stellt,  und  der,  wie  noch  mehr  sein  Schüler 
Encmeros,  die  Mythen  in  blosse  Geschichte  verwandelt.  Ilegesias 
und  die  Ueyesiuci  haben  im  Gegensatz  zu  Aristipp  die  Schmerz- 
losigkeit  als  das  Höchste  gepriesen  und  consequenter  Weise  den 
Tod  über  das  Leben  gestellt.  Aniiikeris  und  sein  Anhang  schei- 
nen sich  wieder  dem  ursprünglichen  Hedonismus  mehr  angenähert 
zu  haben.  Doch  werden  auch  sie  von  Vielen  ganz  zu  den  Epiku- 
reern gestellt. 

Diog.  Laert.  II,  8.     n-eUer  et  RiUer  1.  c.  §.    210  —  219. 

§•  7L 
Die  Verwandlung  der  Sokratischen  Ethik  in  Logik  sowol  als  in 
die  in  Sorge  für  physisches  Gesund-  und  AVohlseyn  zieht  dieselbe 
von  ihrer  Höhe  herab.  Wer  ihren  Gegensatz  gegen  solche  Einsei- 
tigkeiten behauptet,  wird  in  sofern  sich  den  wahren  Sokratiker 
nennen  dürfen.  In  dem  Bekämpfen  je  einer  dieser  Einseitigkeiten 
muss  nothwendig  eine  Annäherung  je  an  die  andere  hervortreten, 
und  der  Tieferblickende  müsste  dahin  gelangen,  Beiden  nicht  nur 
Unrecht  sondern  auch  Recht  zu  geben,  und  mit  Bewusstseyn  zu 
vereinigen  was  Jene  lehren.  Wo  der  hiezu  nöthige  Tiefsinn  man- 
gelt, wird  nur  das  Negative,  dass  Beide  nicht  im  Rechte  sind, 
festgehalten  werden.  Dadurch  wird  aber  der  Sokratismus,  der  ihnen 
entgegengestellt  wird,  in  einer  andern  Art  einseitig:  Sokrntes, 
indem  davon  abstraliirt  wird,  was  Vorsophistisches  und  Sophisti- 
sches in  ihm  sich  findet,  ist  abstract  aufgefasst  und  darum  ist 
der  Sokratismus  der  Kyniker  ein  abstracter  und  übertriebner,  nach 
Plafo  ein  „rasender"  Soki'atismus. 

Erdraann  ,  Gesch.  d.  Phil.  1.  Q 


82  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

§.  72. 

C. 

Die  Hyuiker. 

Chappuis    Antisthene.    Paris  1854.       Ad.   Müller   de    Antisthenis    Cynlci    vita    et 
scriptis.   Marb.  1860. 

Aiüisthenes,  der  Sohn  eines  gleichnamigen  Atheners  und  einer 
thrakischen  Mutter,  kam  erst  nachdem  er  sich  unter  Gorgias  zum 
Sophisten  und  Rhetor  ausgebildet  hatte,  zum  So/.rnfes ,  an  dem 
ihn  Nichts  so  fesselte,  wie  die  gottähnliche  Bedürfnisslosigkeit. 
Diese  aber  auch  so  sehr  dass,  als  nach  des  Sohrntes  Tode  er  im 
Gymnasio  Kynosarges  —  (daher  der  Name  der  Schule)  —  als 
Lehrer  der  Philosophie  auftrat,  er  nur  mit  seinen  Schülern  vom 
Sokrates  zu  lernen  behauptete.  Sein  starrer ,  von  Sokrates  so  fein 
gerügter ,  Tugendstolz  lässt  es  ihn  nur  zu  einer  übertriebnen  Copie 
des  edelsten  der  Sterl^lichen  bringen.  Von  den  sehr  vielen  Schrif- 
ten, die  ihm  beigelegt  wurden,  hat  schon  das  Alterthum  ihm  die 
meisten  abgesprochen.  Der  Rhetor  scheint  sich  in  denen  sehr  ge- 
zeigt zu  haben ,  die  ihm  wirklich  angehörten.  Ausser  ihm  werden 
als  Repräsentanten  seines  Standpunkts  genannt:  Diogenes  von  Si- 
nope,  den  vielleicht  ihm  aufgebürdete  Anekdötchen  noch  mehr  zum 
Muster  unverschämter  Rohheit  gemacht  haben ,  als  er  es  verdient, 
und  nächst  diesem  Krntes,  durch  welchen  die  kyuischen  Lehren  in 
die  der  Stoa  hinübergeleitet  werden. 

2.  Hatte  die  Erziehung  zum  Sophisten  dem  Anfisthenes  nahe 
gelegt,  wie  Aristipp  auf  die  subjective  Befriedigung  das  grösste 
Gewicht  zu  legen,  so  hinderte  wieder  der  Umstand,  dass  Gorgias 
eleatisch  gebildet  war,  vor  jedem  einseitigen  Individualismus.  Da- 
rum ist  ihm  weder,  wie  dem  Protagoras,  was  jeder  Mensch,  noch 
wie  dem  Aristipp  was  die  Menschen  im  Allgemeinen ,  sondern  das 
ist  ihm  der  höchste  Zweck ,  was  das  Allgemeine  im  Menschen,  was 
die  Vernunft,  fordert.  Dies  und  dass  die  Tugend  uvu-  eine  ist, 
dass  sie  in  der  Einsicht,  ihr  Gegentheil  in  der  Unwissenheit  be- 
steht, dass  sie  lehrbar  ist,  ist  in  völliger  Uebereinstimmung  mit 
Sokrates  gelehrt,  und  stimmt  gut  dazu,  dass  stets,  als  auf  das 
erste  Erforderniss,  auf  die  Sokratische  Kraft  hingewiesen  wird.  So- 
bald aber  näher  bestimmt  wird ,  was  denn  dieses  vorgehaltene  Mu- 
sterbild eigentlich  ist,  so  wird  es  klar,  dass  Antisthenes  an  dem 
Sokrates  nur  das  wahrgenommen  hat,  was  Megariker  und  Kyre- 
naiker  ausser  Acht  Hessen,  und  wieder  dass,  wo  er  mit  ihnen  über- 
einstimmt, er  nicht  zu  verbinden  vermag,  was  jeder  von  beiden 
hervorgehoben  hatte.  Das  Letztere  zeigt  sich  besonders  in  dem, 
was  wir  von  seinen  logischen  Untersuchungen  wissen.    Indem  die 


IV.  Die  Sokratischen  Schulen.     C.  Die  Kyniker.     §.   72,  3.  83 

Megariker  nur  den  GattimgsbegrifFen,  die  Kyrenaiker  nur  den  Ge- 
genständen der  Wahrnehmung  Realität  zuschrieben ,  haben  sie  sich 
in  das  getheilt,  was  des  Snlrates  concreter  Begriff  in  sich  ent- 
halten hatte.  Antistlienes  fühlt  dies ;  indem  er  aber  mm  verlangt, 
man  solle  nie  vom  Einzelnen  Allgemeines  aussagen ,  sondern  einer- 
seits in  identischen  Sätzen  sprechen,  andrerseits  die  Dinge  aufwei- 
sen, kommt  bei  ihm  nie  zusammen,  was  Solrntes  sowol  in  der 
Induction  als  auch  der  Definition  verknüpfte.  Das  zuerst  Bemerkte 
wieder,  dass  er  nur  einer  beschränkten  Auffassung  dessen  fähig 
gewesen  sey,  was  Solrntes  war,  das  zeigt  sich  ganz  besonders 
in  seinen  eigenthch  ethischen  Untersuchungen,  zu  denen  er,  wie 
es  scheint  ohne  sich  viel  mit  Physik  zu  beschäftigen,  übergegan- 
gen ist. 

3.  Der  Sokrates,  von  dem  Antistlienes  lernen  will,  ist  nur  der, 
welcher  allen  Strapazen  trotzt,  vor  die  Silberläden  tritt  um  sich 
zu  freun  dass  er  so  Vieles  nicht  brauche,  keine  Schuhe  trägt  u. 
s.  w. ;  den  Sokrates  dagegen,  der  an  Agathons  Tafel  mit  solcher 
Sicherheit  dem  Genuss  sich  hingeben  kann,  den  hat  er  nie  gesehen, 
und  darum  meint  er,  Sokrates  thue  immer  das  was  ihm  schwer 
werde.  Der  Kampf  gegen  Schmerzen  und  Sinnenlust,  der  növog 
wird  im  bewussten  Gegensatz  zu  Aristipp,  als  das  w^ahre  Gut, 
die  Lust  dagegen  als  das  Uebcl  bestimmt,  welches  der  Weise  zu 
fliehen  habe  um,  sich  selber  genügend,  mit  sich  selbst  umzugehn. 
Zu  dieser  Anti-Aristippischen  Formel  musste  freilich  Antistlienes 
kommen ,  da  das  Leben  in  der  Gesellschaft  nur  daraus  hervorgeht, 
dass  der  Mensch  sich  nicht  genügt.  Aber  auch  das  in  den  sittli- 
chen Gemeinschaften;  daher  werden  hier  Ehe,  Familie,  Vaterland 
zu,  dem  Weisen  gleichgültigen,  Dingen,  ein  moralischer  Egoismus, 
der  schlecht  zu  der  Leidenschaft  passt,  mit  der  sein  Meister  an 
seiner  Stadt  hing.  Ja  selbst  der  Hedonismus  beschämt  ihn,  wenn 
an  den  von  beiden  adoptirtcn  Satz,  dass  alle  Gesetze  nur  durch 
Satzung  gelten,  Aristipp  die  Versicherung  knüpfte  der  Weise  handle 
immer  in  Uebereinstimmung  mit  ihnen,  Antistlienes  dagegen  die 
Tugend  der  Befolgung  der  bürgerlichen  Gesetze  entgegenstellt. 
Wie  den  natürlichen  Trieben,  eben  so  wird  auch  dem  gewöhnlichen 
Meinen  die  Vernunft  entgegen  gestellt,  daher  die  negative  Stel- 
lung, die  Antistlienes  allem  Dämonischen  und  Mantischen  gegenüber, 
oft  sogar  im  bewussten  Gegensatz  7AI  Sokrates,  einnimmt,  und  die 
ihn  dahin  gebracht  hat,  in  den  Mythen  der  Volksreligion  bloss 
Allegorien  zu  sehen.  Wahrscheinlich  moralische,  wie  manche 
Sophisten. 

Diog.  Laert.   VI,   1.   2      Preller  et  Jtitter  1.   c.  §.  220  —  227. 

6* 


84  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

§.  73. 
Die  allgemeine  objective  Vernünftigkeit ,  als  welche  Anaxago- 
ras  (wenigstens  auch)  den  vovg  gedacht  hatte,  ist  durch  die  sitt- 
liche Genialität  des  Sokrates  in  ihm  subjeetiv  {äv&QcoTtog  nach  Pro- 
tagoras)  geworden,  so  dass  wenn  er  seinen  eignen  Genius  befragt, 
der  Gott  daraus  antwortet,  und  er  als  höhere  Einheit  über  jenen 
beiden  Philosophen  steht.  Wo  jene  Genialität  sich  zurückzieht,  da 
fallen  die  beiden  Momente  so  auseinander ,  dass  die  Megariker  das 
erstere  {vovg ,  ^£6g ,  eV) ,  also  den  Inhalt  des  Sokratischen  Wollens 
betonen,  die  Kyrenaiker  dagegen  das  zweite,  und  darum  Alles  in 
den  Genuss  (r/^ovjj,  läqa)  setzen,  der  bei  Sohrulcs  immer  das 
Wollen  des  Vernünftigen  begleitet.  Ihre  Einseitigkeit  konnte  An- 
iisthenes  tadeln,  konnte  im  Gegensatz  zu  den  Megarikern  das 
Recht  der  Subjectivität,  den  Kyrenaikeru  gegenüber  den  objectiven 
Inhalt  des  Guten  festhalten;  indem  er  aber  nicht  vermochte  Bei- 
des ganz  als  Eins  zu  fassen,  war  auch,  was  er  mit  Bewusstseyn 
reproducirte ,  nicht  der  ganze  Solrates  sondern  nur  eine  Seite 
desselben.  Diese  Versuche  aber,  die  einzelnen  Seiten  des  Sohra- 
tes  bestimmter  zu  fassen,  sind  nur  Vorspiele  dazu,  dass  sie  alle 
zusammengenommen  und  so  der  Idealismus,  der  in  Sokrates  nur 
gelebt  hatte,  als  bewusster  und  begriffener  Sokratismus  dargestellt 
wird.  Auch  in  der  Hinsicht  als  begriffener,  dass  sein  Zusammen- 
hang mit  der  Vergangenheit  erkannt  wird.  Hatten  die  Megariker 
gezeigt,  für  wie  viel  eleatische  Metaphysik  die  sokratische  Lehre 
Platz  hat,  hatte  Arisilpp  auf  ihre  Berührungspunkte  mit  Prota- 
goras  und  also  mit  heraklitischer  und  atomistischer  Physik  hinge- 
wiesen, hatte  endlich  Anüsthenes  bewiesen  dass  man  Sokratiker 
seyn  und  dennoch  ein  Dialektiker  bleiben  könne  in  Weise  des  durch 
Zeno  und  Empedokles  gebildeten  Gorglas,  so  bleibt  dies  Alles 
unvergessen.  Zugleich  wird  aber  auch  noch  die  letzte  der  vorsophi- 
stischen Weltanschauungen,  die  Pythagoreische,  in  bewusster  Weise 
dem  Sokratismus  einverleibt.  Der  Repräsentant  des  allseitig  be- 
griffnen Sokratismus  ist  Philo,  bei  dem  es  darum  kein  Zufall  ist, 
wenn  er  alle  seine  Untersuchungen  an  die  Person  des  Sokralesy 
in  dem  die  Philosophie  persönlich  geworden,  anknüpft. 

V. 

Piaton. 

§.  74. 

Plato's    Leben. 

Diog.  Laert.  Lib.  III.      Olympiodori  et  Anonymi   vitae  Piatonis   in  Diog.  Laert. 

ed.  Didot.    Appendix  p.   1  —  14. 

1.  Aj'istoklcs,  erst  später  Piaton  zubenannt,  ist  zu  Athen  als 


V.  Piaton.     Plato's  Leben.     §.  74.   1-2.  85 

der  Sohn  des  Anston  und  der  Periküone  Ol.  87,  3  (429  v.  Chr.) 
geboren,  und  z^Yar  am  21.  Mai  wo  man  Apollons  Geburt  in  den 
Thargelien  feierte,  woran   spätere  Verehrer  allerlei  Fabeln   ange- 
schlossen haben.    Aufwachsend  mitten  in  der  künstlerischen  und 
wissenschaftlichen  Herrlichkeit,  welche  des  Perikles  vierzigjährige 
Wirksamkeit   seiner  Vaterstadt  gebracht   hatte,   dabei  aber  steter 
Zeuge  der  Uebelstände,  die  eine  ausgeartete  Demokratie  im  Ge- 
folge hatte ,  wäre  er  wohl  Aristokrat  geworden ,  auch  wenn  er  nicht 
von  beiden  Eltern  her  zu  den  vornehmsten  Geschlechtern  und  seine 
nächsten  Verwandten  nicht  zur  Ohgarchen- Partei  gehört  hätten. 
Dazu  kam  dass  die  Männer,  die  auf  seine  Entwicklung  den  gröss- 
ten  Einfluss  hatten,  yov  AW&iSokratcs,  der  Demokratie  nicht  hold 
waren.    Sein  Dorismus  ist  eben  so  wenig  ein  Beweis  von  geringem 
Patriotismus ,  wofür  Niehulr  ihn  erklärt ,  we  die  Anglomanie  Mon- 
tesquieiCs  und  andrer  Fr-anzosen  im  achtzehnten  Jahrhundert  dies 
war.    Dass  Pluto  als  er  das  gehörige  Alter  erreicht  hatte,  wie 
alle  Uebrigen  die  Feldzüge   die  es  gerade  gab  mitgemacht  habe, 
ist  kaum  zu  bezweifeln,  obgleich  die  directe  Angabe  des  Aristo- 
xeiios  und  Aeliun ,  da  sie  hinsichtlich  zweier  eine  Unmöglichkeit 
enthält,  hinsichtlich  des  dritten  ihren  Werth  verliert.     Oh  Drukon, 
sein  Lehrer  in  der  Musik,   ob  namentlich  der  durch  Pythagoreer 
gebildete  Epicharmos  zur  Entwicklung  seiner  philosophischen  Ideen 
l)eigetragen ,  oder  ob  ihn  bloss  zu  dichterischen  Versuchen  gebracht 
haben,  ist  schwer  zu   entscheiden.     Gewiss  ist  dass,   als  er  im 
zwanzigsten  Jahre  zu  Sokrates  kam,  er  seine  Poesien  verbrannte, 
und  von  da  ab  sich  nur  der  Philosophie  widmete.    Schon  vor  die- 
ser Zeit  hat  er,  wie  der  Phädon  anzudeuten  scheint,  die  Lehren 
der  ionischen  Philosophen  und   des  Ancuagorus  kennen   gelernt, 
auch  hat  er  Unterricht  vom  Herakliteer  Kraiylos  erhalten.    Nach 
Aristoteles   muss   er  auch   pythagoreische  und  eleatische  Lehren, 
wenigstens  oberüächlich ,  gekannt  haben ,  ehe  er  sich  dem  hingab, 
den  als  seinen  eigentlichen  Lehrer  er  stets  gefeiert  hat. 

2.  Nach  der  Hinrichtung  des  Sokmtes ,  die  ihn  mit  Widerwil- 
len gegen  jedes  politische  Treiben  erfüllte,  begab  er  sich  nach 
Megara  zum  Euklid  und  ward  hier  veranlasst ,  sich  gründlicher  als 
bisher  mit  der  eleatischen  Lehre  zu  beschäftigten.  Es  folgten  dann 
Reisen.  Zuerst  wohl  nach  lonien ,  dann  nach  Kyrene  und  Aegyp- 
ten,  wo  er  sich  mit  Mathematik  beschäftigte,  zugleich  aber  der 
Aristippischen  Lehre,  die  hier  ihren  Hauptsitz  hatte,  entgegentrat. 
Am  Ehiflussreichsten  ward  seine  Pteise  nach  Italien,  wo  er  mit 
Pythagoreern  in  nähere  Berührung  trat,  die  u.  A.  ihn  auch  von 
seinem  Widerwillen  gegen  Betheiligung  am  Staatsleben  zurückge- 


86  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode    (Glanz). 

bracht  haben  mögen.  Ein ,  durch  den  mit  ihm  befreundeten  Dion 
eingeleitetes,  Verhältuiss  zum  älteren  Dionysios  konnte  natürlich 
keine  Dauer  haben.  In  Folge  des  Bruchs  ward  Plalo  seiner  Frei- 
heit beraubt,  deren  Wiedererlangung  er  dem  Dazwischentreten  des 
Kyrenaikers  Annikeris  dankt.  Nach  seiner  Rückkehr  in  Athen  er- 
öffnete er,  zuerst  in  den  Hainen  des  Akademos,  seine  Schule,  die 
später  in  den  erkauften  Garten  am  Hügel  Kolonos  verlegt  ward. 
Die  beiden  Unterbrechungen  abgerechnet,  welche  zwei  fruchtlose 
Reisen  nach  Sicilien  veranlassten  (die  erste  um  den  jüngeren  Dio- 
nysios der  Tugend  und  Wissenschaft  zu  gewinnen,  die  zweite  um 
ihn  mit  Dion  auszusöhnen)  hat  Plalo  seinen  Lehrerberuf  bis  an 
seinen  Ol.  108,  1  erfolgten  Tod  fortgesetzt. 

§.  75. 
Plato's   Schriften. 

1.  Alle  Schriften  des  Plalo  sind  sorgfältig  gearbeitete,  exo- 
terische  d.  h.  nicht  für  die  Schule  sondern  einen  gebildeten  Leser- 
kreis berechnete,  Dialoge  von  mimisch  -  dramatischer  Schönheit, 
jederfür  sich  ein  Ganzes  und  alle  doch  wieder  Glieder  eines  grös- 
seren Ganzen.  Die  untergeschobenen  auszuscheiden  ist  von  je 
das  Bestreben  der  Kritiker  gewesen,  die  nicht  immer,  weil  sie  den 
Standpunkt  Plato's  zu  ideal  oder  wieder  zu  untergeordnet  fassten, 
vor  Einseitigkeiten  sich  gehütet  haben,  so  dass  Mancher  sogar 
Schriften,  die  Aristoteles  als  Platonisch  citirt  oder  andeutet,  be- 
zweifelt hat.  Ausser  diesen  Schriften  Plato's  sind  noch,  wenn  auch 
lückenhafte,  Nachrichten  über  seine  esoterischen,  d.  h,  nicht  dem 
Inhalte  sondern  der  Form  nach  auf  die  Schule  beschränkten ,  Vor- 
träge besonders  durch  Aristoteles  zu  uns  gekommen,  auf  welche 
gleichfalls  Rücksicht  zu  nehmen  ist. 

2.  Schon  im  Alterthum  sind  Versuche  gemacht  worden,  die 
Platonischen  Dialoge  in  eine  systematische  Ordnung  zu  bringen. 
Der  seltsame  Einfall  des  Alexandrinischen  Grammatikers  Aristo- 
pl/anesj  nach  theatralischen  Gesichtspunkten  Trilogien  zusammen- 
zustellen ,  ist  nicht  ganz  durchgeführt  und  verdient  nur  Erwähnung 
weil  einige  Ausgaben  des  Plato  diese  Ordnung  befolgen  (die  Al- 
dina,  die  Basler,  die  Tauchnitzsche  Stereotypausgabe).  Für  die 
Anordnung  des  zu  Tibcriiis'  Zeit  lebenden  Tlirasyllos,  welcher  den 
Dialogen  auch  ihre  zweiten  Titel  beigelegt  hat,  nach  Tetralogien, 
lässt  sich  anführen,  dass  wenigstens  zwei  solche  Tetralogien  un- 
zweifelhaft von  Plato  selbst  beabsichtigt  waren.  Einige  ältere 
Handschriften  und  Ausgaben  befolgen  diese  Ordnung.  Endlich  ist 
noch  die  Zusammenstellung  des  Serranos  nach  Syzygien  anzufüh- 


V.  Piaton.     Plato's  Schriften.     §.  75,  3.  87 

reii,  welche  in  die,  lange  Zeit  allein  citirte,  Ausgabe  des  Ilenrkus 
Stephanus  und  von  da  in  die  Bipontina  übergegangen  ist, 

3.  In  der  neueren  Zeit  hat  man  gefühlt,  dass  eine  Anordnung 
der  Platonischen  Schriften  nur  Werth  habe,  wenn  sie  auf  Unter- 
suchungen über  die  Genesis  und  den  Zusammenhang  seiner  Lehren 
sich  stütze ,  und  die  Ehre  den  Anfang  gemacht  zu  haben  gebührt 
Tennemünn  (System  der  Platonischen  Philosophie.  4  Bde.  Leipz. 
1792—95),  wenngleich  sein  Unternehmen  daran  scheitern  musste, 
dass  er  auf  die  chronologischen  Daten  in  Pluto  selbst  Alles  zu 
gründen  suchte.  Epoche  machend  für  die  Anordnung  der  Plato- 
nischen Schriften ,  wie  für  ihr  Verständniss  wurde  die  Uebersetzung 
des  Pluto  von  Sclileiermurher  (Platon's  Werke.  Berl.  1804—1828. 
6  Bde.),  der  in  den  begleitenden  Einleitungen  die  von  ihm  ange- 
gebene Reihenfolge,  so  wie  ihre  Zusammenstellung  in  drei  Grup- 
pen :  versuchende,  dialektische  und  darstellende  rechtfertigt.  (Diese 
Reihenfolge  befolgt  die  Ausgabe  von  J.  Bekker.)  Mit  Rücksicht 
auf  Scldeiermacher  wurden  die  Werke  von  Ast  (Platon's  Leben 
und  Schriften,  1816)  und  das  viel  besonnenere  oft  aber  hyperkri- 
tische von  Socher  (Ueber  Plato's  Schriften.  München  1820)  verfasst. 
Was  der  Letztere  versucht  hatte,  bestimmte  Zeitpunkte  festzustel- 
len ,  welche  dazu  dienten ,  Schriften  verschiedner  Perioden  zu  un- 
terscheiden gelang  viel  besser  C.  F.  Hei'innnn  (Geschichte  der  Pla- 
tonischen Philosophie.  P  und  einziger  Band.  1839),  welcher  die 
Reise  nach  Megara  und  den  Antritt  des  Lehramtes  als  solche 
Punkte  bestimmte.  Obgleich  von  einem  ganz  anderen  Princip  aus- 
gehend, zeigt  doch  Hcrmunns  Anordnung  sehr  viele  Berührungs- 
punkte mit  der  Schleiermacherschen.  Die  wichtigsten  Abweichun- 
gen betreffen  den  Parmenides  und  Phädros,  deren  ersterem  Her- 
munii  die  Stelle  anweist  wie  vor  ihm  Zeller  in  seinen  Platonischen 
Studien,  und  deren  zweiter  nach  ihm,  wie  auch  nach  Stallbumn 
u.  A.  als  Programm  beim  Antritt  des  Lehramts  geschrieben  ward, 
und  also  in  die  dritte  Periode  gehört.  Kritische  Beurtheilungen 
und  Modificationen  dieser  Anordnungen  wurden  gelegentlich  in  den 
Einleitungen  gegeben,  mit  denen  Stullhunm  seine  kritische  Aus- 
gabe der  sämmtUchen  Platonischen  Dialogen  begleitet  hat,  in  mehr 
zusammenhängender  Weise  in  den  werthvollen  Einleitungen,  mit 
welchen  Steinliarl  die  seit  1850  erscheinende,  jetzt  vollendete, 
Uebersetzung  des  Pluto  von  Hier.  Malier  (7  Bde.  1850-60)  aus- 
gestattet hat.  Endlich  werden  alle  diese  verschiedenen  Ansichten 
sorgfältig  berücksichtigt  und  an  einzelnen  Punkten  modificirt  in 
F.  SusemiliVs  Genetischer  Entwicklung  der  Platonischen  Philoso- 
phie, 2  Bde.,  1855—60,  zu  welcher  dann  ganz  neuerlichst  die  Schrift 


88  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

von   Uebei'weff,   Untersuclmiigen  über  die  Aechtheit  und  Zeitfolge 
Platonischer  Schriften,  Wien  1861,  gekommen  ist. 

§.  76. 
Plato's    Lehre. 

Van  Heusde    Initia  philosophiae  Platonicae.    Lugd.  Bat.    1825.     2te  Aufl.    1842. 
Ed.  Zeller  Platonische  Studien.    Tübingen  1839. 

1.  Ehe  die  Dialektik,  Physik  und  Etliik,  in  welche  die  Plato- 
nischen Untersuchungen  so  naturgemäss  zerfallen,  dass  diese  Ein- 
theilung  des  Systems  die  Platonische  genannt  werden  muss,  möge 
er  sie  nur  angedeutet ,  möge  er  sie  ausdrücklich  als  die  wahre  be- 
hauptet haben,  ehe  sie  dargestellt  werden,  sind  die,  in  den  ver- 
schiedensten Dialogen  zerstreuten  Untersuchungen  zu  betrachten, 
welche  den  propädeutischen  Zweck  haben,  den  Leser  zu  dem  Pla- 
tonischen Standpunkt  zu  erheben.  Die  negative  Aufgabe  darin 
ist,  den  Standpunkt  des  Lesers  als  unhaltbar  nachzuweisen,  wo- 
durch derselbe  gleichsam  zum  Anlaufspunkte  wird,  der  den  Sprung 
möglich  macht  (Rep.).  Wie  jeder  philosophische  Schriftsteller,  so 
setzt  auch  Pluto  in  allen  seinen  Lesern  die  allgemein  herrschen- 
den Vorstellungen,  in  den  philosopliisch  gebildeten  die  Bekannt- 
schaft mit  der  Philosophie  des  Tages  voraus.  Da  nun  als  diese 
für  die  Meisten  die  Lehre  der  Sophisten  und  nur  für  einen  kleinen 
Kreis  die  des  Sokrates  und  der  Sokratiker  galt,  mit  welchen  letz- 
teren ihn  Pietät  gegen  den  Meister ,  dankbare  Achtung  gegen  man- 
chen Schüler,  verband,  so  besteht  die  negative  Seite  seiner  pro- 
pädeutischen Untersuchungen  in  der  offenen  Bekämpfung  der  ge- 
wöhnlichen Vorstellungen  und  der  Sophistik,  und  in  der  mehr  ver- 
steckten Polemik  gegen  den  Sokratischen  Standpunkt. 

2.  Die  Mangelhaftigkeit  der  gewöhnlichen  Vorstellung  von  ihrer 
theoretischen  Seite  wird  so  nachgewiesen,  dass  das  Vertrauen  zu 
der  siunhchen  Wahrnehmung  (al'ö^jjöig  im  Parm.)  erschüttert,  und 
gezeigt  wird,  dass  ihr  Gegenstand  ein  stets  wechselnder  sey  (Theaet.) 
sie  also  keine  feste  Sicherheit  sondern  höchstens  Wahrscheinlich- 
keit {iUaGLa  Rep.)  gewähre.  Nicht  viel  anders  ist  es  da,  wo 
vermittelst  der  Erinnerung  mehrerer  Wahrnehmungen  (Phäd.)  das 
entsteht,  was  Piato  bald  mit  der  sinnlichen  Wahrnehmung  unter 
den  gemeinschaftlichen  Namen  <5o^«  stellt,  dann  aber  als  höhere 
oder  richtige  Vorstellung  von  jener  unterscheidet,  bald  aber  schlecht- 
weg öo'l«  nennt.  Ihre  Gewissheit  ist  zwar  grösser  als  die  der  Wahr- 
nehmung, aber  sicher  ist  dieselbe  doch  nicht,  da  das  Bewusstseyn 
der  Gründe  mangelt  und  man  also  Etwas  nur  als  Thatsache  gel- 
ten lässt.  In  dieser  TÜang  (Rep.)  oder  höheren  Ws,ci  das  zu  sehn, 
was  wir  Erfahrung  nennen ,  dazu  sind  wir  um  so  mehr  berechtigt 


V.  Plato.     Plato's  Lehre.     Propädeutisches.     §.  76,  2.  3.  89 

als  Pluto  selbst  (Gorg.  465.  a.  cf.  Pliädr.  62)  sie  als  lixmiqia  y.ul 
TQißn  der  Tsxvrj,  welche  die  Gründe  kennt,  entgegenstellt,  und,  gerade 
wie  später  Aristoteles,  dem,  der  niu-  diese  öö'^a  hat,  die  Fähig- 
keit des  Belehrens  abspricht,  höchstens  das  Ueberreden  zugesteht 
(Tim.),  Das  Ziel  aller  dieser  Erörterungen  ist ,  ein  Irrewerden  an 
den  bisherigen  Vorstellungen  hervorzubringen,  jene  Verwunderung 
(Theaet.)  ohne  welche  Keiner  zu  philosophiren  anfängt,  und  die 
mit  dem  Bewusstseyn  des  Nichtwissens  (Alkib.  I)  zusammenfällt. 
Ganz  ähnliches  Misstrauen  sucht  er  nun  hinsichtlich  des  prakti- 
schen Bestandtheils  der  Vorstellung  hervorzurufen.  Die  gewöhn- 
liche Tugend,  das  gewöhnHche  für  gut  und  schlecht  erklären,  ist 
Werk  der  Ge\Yohnheit  und  bildet  den  Gegensatz  zur  philosophi- 
schen oder  selbstbewussten  Tugend  (Meno,  Phädo).  Das  in- 
stinctartige  Halten  an  der  Väter  Sitte,  die  geniale  Staatskuust 
eines  Perlklesj  sie  sind,  wie  der  heilige  Wahnsinn  der  über  den 
Dichter  kommt,  ein  glücklicher  Zufall.  Es  fehlt  die  Sicherheit 
dass  ein  solcher  Routinier  tugendhaft  bleiben,  oder  seine  Staats- 
kunst weiter  fortpflanzen  werde  (Protag.  Meno).  Dazu  kommt 
dass  einem  solchen  Abgerichtetseyn  das  abgeht,  was  allein  einer 
Handlung  Werth  gibt:  die  Einsicht  dass,  und  die  Vollbringung 
weil,  sie  gut  ist.  Im  gewöhnlichen  Sinne  heisst  tapfer  auch  wer- 
aus  Furcht  kämpft  (Phädo),  die  ächte  Tugend  dagegen  fällt  so 
mit  dem  Bewusstseyn  der  Gründe  zusammen,  dass  solches  Wis- 
sen ,  wie  schon  Sokratcs  gelehrt ,  sogar  das  Böse  adelt ,  seine 
Abwesenheit  das  Beste  verdirbt  (Hipp.  min.).  Wie  also  die  theo- 
retischen Ansichten  des  gewöhnlichen  Bewusstseyns  ohne  Wahr- 
heit, so  sind  seine  praktischen  Grundsätze  ohne  Werth,  und  der 
theoretischen  Verwunderung  entspricht  die  praktische,  welche  das 
Eiugeständniss  enthält,  dass  man  nicht  ^^^sse  was  gut  sey. 

3.  Bis  zu  diesem  IiTemachen  an  dem  was  bisher  theoretisch 
und  praktisch  gegolten  hat,  gehen  die  Wege  Puito\s  und  der  So- 
phisten so  wenig  auseinander,  dass  er  nicht  nur  oft  sich  der  so- 
phistischen Wallen  bedient,  sondern  ausdrücklich  (Soph.)  der  So- 
phistik  eine  reinigende  Kraft  zuschreibt.  Weiter  aber  bekämpft 
er  sie ,  weil  sie  aus  diesem  negativen  Resultat  die  Folgerung  zog, 
dass  der  absolute  Subjectivismus  die  einzig  haltbare  Ansicht  sey. 
Kicht,  wie  Protayoras  will,  das  Natürlich-Individuelle  (das  Schwein) 
im  Menschen,  sondern  das  Allgemeine  (der  Gott)  in  ihm,  die  Ver- 
nunft sey  das  Maass  aller  Dinge.  Diesen  Objectivismus  macht 
er  gegen  die  Sophisten  im  Theoretischen  eben  so  wie  im  Prakti- 
\  sehen  geltend.  Ersteres  indem  er  stets  den  Gegensatz  des  Mei- 
uens  und  Wissens  und  die  Healität  des  letzteren  betont.    Er  zeigt 


90  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

dass  es  nach  Protagoras  gar  keine  Wahrheit  und  gar  kein  Wis- 
sen gebe,  dass  aber  durch  diese  Behauptung  er  sich  in  Wider- 
spruch setze  mit  der  Vernunft ,  weil  nur  von  Einem  und  demsel- 
ben Entgegengesetztes  werde  ausgesagt  werden  können,  und  mit 
sich  selbst  weil  er,  der  doch  verspreche  zur  Herrschaft  über  die 
Dinge  zu  führen,  jetzt  behaupte  man  könne  den  Dingen  gar  nicht 
beikommen  (Theaet).  Eben  so  bekämpft  er  zweitens  die  prakti- 
schen Irrthümer  der  Sophisten  besonders  in  der  Person  des  Gor- 
yias  und  Hippias.  Der  Unterschied  zwischen  Belieben  und  ver- 
nünftigem Wollen  wird  urgirt,  und  gezeigt  dass  wo  die  Lust  zum 
alleinigen  Princip  des  Handelns  gemacht  wird,  man  zu  dem  Wi- 
derspruch mit  sich  selbst  komme  dass  gerade  die  Unlust  gewählt 
wird  (Gorg.).  Eben  so,  dass  wenn  der  Staat  nicht  auf  Gerech- 
tigkeit sondern  auf  Gewalt  d.  h.  Unrecht  gegründet  wird,  man  das 
Trennende  zum  Vereinigenden  mache  (Rep.).  Die  Doppelstellung 
Pluto' s  der  Sophistik  gegenüber,  dass  er,  wie  sie,  verwirrt  aber 
um  eines  andern  Zweckes  willen,  lässt  ihn  wiederholt  die  Sophi- 
stik als  Carricatiu'  der  wahren  Wissenschaft  bezeichnen  (Gorg.). 
4.  Bis  dahin  werden  dem  Philo  Sokrutes  und  die  Sokratiker 
beistimmen  müssen  und  darum  hat  er  ein  Recht,  die  bisher  ent- 
wickelten Lehren  dem  Sokraies  in  den  Mund  zu  legen.  Darin 
aber,  dass  in  einigen  Dialogen  mchi  Soh-ates  das  Gespräch  leitet, 
und  in  diesen  nicht  das  Ethische  behandelt  wird ,  muss  man  einen 
leisen  Tadel  gegen  den  Meister  finden,  dass  er  sich  so  sehr  auf 
das  Ethische  beschränkt  habe.  Verhinderte  ihn  hier  die  Pietät, 
offener  aufzutreten,  so  fand  eine  solche  Rücksicht  den  Sokratikern 
gegenüber  nicht  oder  doch  weniger  Statt.  In  dem,  vielleicht  in 
Kyreue  geschriebenen  Theätet  ist  die  Polemik  gegen  den  Prota- 
goras zugleich  gegen  den  Arislipp  gerichtet,  es  wird  ihm  nach- 
gewiesen dass  er  hinter  dem  Meister  zurückbleibe ,  der  ja  über 
der  5o|«  ein  Wissen  annehme,  das  mit  Begriff, und  Erklärung  be- 
gleitet sey  und  also  begründen  und  Rechenschaft  geben  könne 
(vgl.  Symp.j.  Bei  dieser  Gelegenheit  wird  aber  auch  ein  Wink 
gegeben,  dass  es  über  jenem  Sokratischen  Wissen  noch  ein  höhe- 
res gebe.  Offenbar  ist  jenes  gemeint,  von  dem  in  dem  gleichzeitig 
verfassten  Kratylos  „geträumt"  wird,  das  Wissen  durch  Ideen. 
Ganz  wie  im  Theätet  der  Kyrenaische  Standpunkt  kritisirt  wird, 
gerade  so  findet  sich  im  Parmenides  die  ziemlich  verständliche 
Andeutung,  dass  die  Megäriker,  indem  ihnen  die  abstracten  All- 
gemeinbegriffe  allein  Wahrheit  haben,  nicht  minder  aber  auch  die 
Kyniker,  sich  dem  vorsokratischen  Standpunkt  zu  sehr  angenähert 
hätten.    Eben  so  werden  auch  die  praktischen  Lehren  der  Sokra- 


V.  Plato.     Plato'b  Lehre.     Propädeutisches.     §.  76,  5.  91 

tiker  als  mangelhaft  und  einseitig  bekämpft.  Es  geschieht  dies 
besonders  im  Philebos ,  wo  er  den  Sokraics  gegen  Kyniker  und 
Kyrenaiker  kämpfen  lässt.  Sowol  in  der  Lust  ohne  Einsicht  wird 
ein  innerer  Widerspruch  nachge^Yieseu,  als  auch  in  der  Einsicht 
ohne  Lust.  Das  Gute,  welches  die  wahre  Philosophie  zu  ihrem 
Objecte  hat,  das  liegt  über  jenen  Einseitigkeiten  in  einer  höheren 
Sphäre. 

5.  Zu  dem  negativen  Resultate  der  bisherigen  Untersuchun- 
gen, dass  weder  die  allgemeinen  Vorstellungen,  noch  die  Sophi- 
sten, ja  im  Theoretischen  nicht  einmal  Sokrutes ,  und  die  Soki'a- 
tiker  weder  im  Theoretischen  noch  im  Praktischen,  das  ^Yalu'e 
ergriffen  haben,  tritt  nun  als  positive  Ergänzung  die  Anweisung 
hinzu ,  wie  man  sich  auf  den  wahren  Standpunkt  erhebt.  Die  sub- 
jective  Bedingung  ist  der  philosophische  Trieb  oder  das  Verlan- 
gen, das  Wissen  eben  sowol  zu  gemessen  als  in  Anderen  zu  er- 
zeugen, eben  darum  Eros  genannt.  Weder  der  Allwissende  (00- 
(pog)  noch  der  ganz  Unwissende  {a^iaO-rig)  hat  denselben,  sondern 
nur  der  qtdöeofpog,  der  sich  in  dem  Mittelzustande  zwischen  Ha- 
ben und  Nichthaben  befindet.  Der  Eros  dessen  Begriffsbestimmung 
im  Phädros  versucht  wird,  dessen  Verherrhchung  namentlich 
das  Symposion  gewidmet  ist,  ist  daher  der  Sohn  der  (Wissens-) 
Armuth  und  des  Reichthums.  Der  unterste  Grad  dieses  Triebes 
ist  schon  in  der  Lust  an  einer  schönen  Körpergestalt,  einer  seiner 
mittleren  in  dem  Verlangen  des  wahren  Erotikers,  in  schönen  See- 
len Durst  nach  Wahrheit  zu  erzeugen,  sein  höchster  endlich  in 
dem  Verlangen  anzuerkennen ,  welches  darauf  geht  durch  Ergrei- 
fen des  Schönen  an  sich  in  immer  neuer  Selbsterzeuguug  sich  Un- 
sterblichkeit,  dieses  Abbild  der  göttlichen  UnveränderUchkeit ,  zu 
erringen.  Weil  dieser  Trieb  nicht -wissendes  Wissen  ist,  deswegen 
wird  er  auch  als  Vergessenhaben  gedacht,  und  es  ist  schwer  zu 
entscheiden,  wie  viel  in  jenem  prachtvollen  Mythus  des  Phädros 
die  einzige  Weise  sich  selbst  klar  zu  werden,  wie  viel  bewusste 
Allegorie  ist.  Der  von  den  Sophisten  (Euthydemos  u.  A.)  carri- 
kirte  Satz,  man  lerne  nur  was  man  schon  wisse,  konnut  hier  zu 
Ehren.  Der  philosophische  Trieb  ist  der  angeborne  Keim ,  woraus 
Kunst,  Sittlichkeit,  Wissenschaft  hervorgehn.  Er  kann  aber  und 
muss  genährt  werden.  Schon  jedes  Lernen  nährt  den  Geist,  da- 
her ist  der  Philosoph  nothwendig  lernbegierig,  freilich  nicht  schau- 
und  hörbegierig ,  denn  die  sinnliche  Wahrnehmung  belehrte  ja  nicht, 
überredete  nur,  sondern  seine  Lernbegierde  geht  auf  das  Schöne. 
Alle  Beschäftigung  mit  dem  Schönen  nährt  jenen  Trieb,  daher  die 
Musik,  diese  Vorbereitung  zur  Philosophie  als  der  wahren  Musik 


92  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

(Rep.  Phaedo).  Weiter  kommt  dazu  die  Mathematik,  weil  sie  von 
dem  Sinnlichen  absehen  lehrt,  obgleich  ihr  Gegenstand  nur  noch 
ein  Mittleres  zwischen  dem  Sinnlichen  und  den  Ideen,  so  dass 
sie  obgleich  schon  ein  Wissen,  doch  nicht  das  höchsteist,  sondern 
das  reflectirende,  auf  Voraussetzungen  beruhende  Denken,  die  öia- 
voia  zu  ihrem  Organ  hat  (Rep.).  Vor  Allem  aber  bildet  die  Er- 
gänzung zu  dem  angeborenen  Wissenstriebe  die  dialektische  Kunst, 
deren  Wesen  ausführlich  und  im  Gegensatz  zu  den  Methoden  an- 
derer Philosophen  und  anderen  Wissenschaften  beschrieben  wird. 
So  namentlich  im  Staat  T^es  Buch. 

6.  Als  Kunst  der  Gesprächführung  steht  die  Dialektik  im  Ge- 
gensatz zur  Rhetorik  der  Sophisten ,  welche  nur  lehrt  des  Redners 
Einzelansicht  überredend  darstellen,  während  im  Gespräch  als 
dem  gemeinschaftlichen  Denken  das  Allgemeingültige  erlangt  wird. 
Was  dabei  hervortreten  soll  ist  der  allgemeine  Begriff",  darum  ist 
das  Combiniren  des  Einzelnen  die  Sache  des  Dialektikers ,  der  sich 
darin  als  Synoptiker  zeigt  (Rep.  Phädr.).  Mittel  und  zugleich 
Correctiv  für  die  Begriffsbildung  ist  das  antinomische  Verfahren, 
wo  eine  Begriffsbestimmung  an  den  Consequenzen  geprüft  wird, 
die  sich  aus  der  hypothetischen  Annahme  derselben  oder  ihres 
Gegentheils  ergeben.  Nicht  sowol  die  mehr  subjective  Ironie  des 
Sohraies  als  das  Verfahren  des  Eleateu  Zcito  wird  im  Parmeni- 
des  und  Sophisten  als  uachahmungswürdiges  Beispiel  hingestellt, 
dabei  aber  immer  gegen  Sophisten  und  Eristiker  polemisirt,  bei 
welchen  dieses  Verfahren  nicht  Mittel  sondern  Zweck  ist ,  die  auch 
nicht  in  den  Begriifen  selbst  die  Widersprüche  entdecken ,  sondern 
durch  herangezogene  Gesichtspunkte  sie,  und  zwar  nur  an  die 
erscheinenden  Dinge,  heranbringen.  Das  Hinaufsteigen  zu  der 
richtigen,  in  der  Definition  ausgesprochenen  Begriffsbestimmung 
ist  aber  nicht  das  Letzte.  Vielmehr  muss,  wenn  sie  gefunden  ist, 
nach  in  ihr  selbst  enthaltenen  Gründen  die ,  durch  den  Begriff"  ge- 
setzte, Sphäre  in  die  sie  erschöpfenden  Arten  zerlegt  werden. 
Die  begriff"smässige ,  am  Besten  dichotomische,  Eintheilung  ist  da- 
rum eben  so  sehr  Sache  des  Dialektikers;  wie  es  die  Zurückfüh- 
rung  auf  den  gemein schafthchen  Begriff"  war.  Während  der  Eri- 
stiker von  Einem  zum  Andern  springt,  steigt  der  Dialektiker  all- 
mählig  durch  alle  Zwischenstufen  vom  Einen  zum  Vielen  herab. 
Was  dann  endlich  das  Verhältniss  der  Dialektik  zur  Mathematik 
betrifft,  so  geht  jene  darauf  aus,  alle  Voraussetzungen  aufzuheben, 
um  das  Princip  zu  gewinnen,  während  diese  sich  nie  von  unbe- 
wiesenen Voraussetzungen  frei  macht. 

7.  Nur  dort,  wo   er  dialektisch  geschult  ist,  wird  aus  dem 


V.  Piaton.     Plato's  Dialektik.     §.   77,  1.  2.  93 

Triebe  zu  philosophiren  die  vvirkliche  Philosophie:  dialektisch  phi- 
losophiren  heisst  wahrhaft  oder  recht  philosophiren  (Soph.).  Der 
Eros  allein  macht  es  also  nicht.  Bedenkt  man  nun  dass  im  Sym- 
posion SohruJes  geradezu  als  der  Eros  selbst  gefeiert  wird,  so 
beweist  dies,  dass  Pinto  die  dialektische  Fortbildung  des  Sokratis- 
mus  als  den  eigentlichen  Fortschritt  ansieht,  den  er  zu  machen 
habe.  Es  macht  dies  aber  ferner  erklärlich,  wie  P/ato  dazu  kom- 
men konnte,  das  dialektische  Verfahren  dem  wahren  Wissen  gleich 
zu  setzen,  demgemäss  manchmal  Dialektik  und  Philosophie  als 
gleichbedeutende  Worte  zu  brauchen,  und  dann  wieder  sich  des 
Wortes  Dialektik  zu  bedienen ,  um  den  Theil  seiner  Lehren  zu  be- 
zeichnen, welcher  die  BegTündung  für  die  übrigen  enthält.  Im 
letzteren  Sinne  wird  das  Wort  hinfort  hier  genommen. 

§.  77. 
Plato's  Dialektik. 

1.  Das  Studium  der  eleatischen  Lehren,  mit  denen  sich  Pinto 
nach  dem  Tode  des  Sokrnies  ernstlicher  beschäftigte ,  musste  ihm 
die ,  vom  Pnrmeiüdes  so  energisch  behauptete  Solidarität  des  Wis- 
sens mit  dem  Seyn  (s.  oben  §.  36,  2)  und  die  daraus  sich  erge- 
bende Nothwendigkeit  ontologischer  Untersuchungen  um  so  mehr 
nahe  legen,  als  das  Beispiel  der  Kyrenaiker  bewies,  dass  jede  An- 
näherung an  Heraklitisches  Leugnen  des  Seyns,  selbst  Sokratiker 
in  Gefahr  brachte,  alles  Wissen  in  ein  Meinen  zu  verwandeln. 
Es  ist  daher  begreiflich,  dass  er  im  Theaetet,  dem  Programm 
seiner  dialektischen  Untersuchungen,  den  Sophisten  und  Kyrenai- 
kern ,  nachdem  ihr  Sensualismus  auf  den  Heraklitischen  „Fluss  al- 
ler Dinge"  zurückgeführt  ist ,  die  Ansichten  der  Eleaten  entgegen- 
stellt. Nicht  aber  als  Solche,  welche  die  volle  Wahrheit  besässen. 
Schon  darin  dass  diese  Gegner  der  „Fliessenden '  gleichfalls  mit 
einem  Spottnamen  als  die  „Allverfestiger"  bezeichnet  werden  ist 
angedeutet,  was  nachher  ausdrücklich,  in  Uebereinstimmung  mit 
dem  gleichzeitig  geschriebenen  Kratylos  behauptet  wird,  dass  es 
gar  kein  unbewegtes  Seyn  gebe,  indem  Alles  an  Veränderung  und 
räumlicher  Bewegung  Theil  habe,  so  dass,  wie  jeder  Satz  als  Ver- 
knüpfung eines  ovo^a  und  ^^i«a,  ein  unbewegliches  und  bewegliches 
Element  in  sich  habe,  eben- so  auch  die  wahre  Erkenntniss  keines 
der  beiden  vernachlässigen  dürfe.  In  beiden  Dialogen  wird  übri- 
gens dieser  höhere  Standpunkt  von  Pluto  nur  angedeutet:  ihm 
träume  davon,  sagt  er. 

2.  Um  diesen  höheren  Standpunkt  zu  finden  musste  mit  der- 
selben Strenge,  wie  bisher  der  heraklitisch-kyrenaische,  der  elea- 
tisch-megarische  Standpunkt  kritisirt,  und  rausslen  beide  genauer 


94  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

verglichen  werden.  Dies  geschieht  nun  so ,  dass  die  Gedankenbe- 
stimmungen, auf  welchen  der  Gegensatz  beider  beruht,  in  der  dem 
Zeno  eigenthüralichen  antinomischen  Weise  erörtert  werden,  wobei 
natürlich  nicht  Sokrutes  sondern  Eleaten  als  Leiter  des  Gesprächs 
erscheinen ,  darum  aber  auch  die  Sokratische  Weise ,  in  einem  wah- 
ren Gespräch  die  Sache  zu  fördern,  verschwindet,  und  dem  Doci- 
ren  von  einer,  dem  blossen  Zunicken  von  der  anderen  Seite,  Platz 
macht.  Im  P  arme  nid  es  sucht  Pinto  (gegen  dessen  Autorschaft 
freilich  oft,  neuerlichst  wieder  durch  IJcberireg .  sehr  gewicUtige 
Gründe  vorgebracht  sind)  zu  zeigen,  dass  der  Eleatismus  (und 
also  auch  die  megarische  Lehre)  wenn  er  in  Zenonischer  Weise 
Annahmen  durch  daraus  folgende  Widersprüche  widerlegt  glaubt, 
mit  seinen  eignen  Waffen  zu  schlagen  sey ,  da  seine  Annahme  dass 
das,  alle  Vielheit  ausschhessende,  Eine  wirklich  sey,  zu  gerade 
eben  so  vielen  Widersprüchen  führe  als  die  entgegengesetzte  (der 
verschiedenen  Physiologen),  dass  es  ein  solches  Eines  nicht,  son- 
dern nur  sein  Gegentheil  gebe.  Dass  die  Einleitung  und  der  erste 
Theil  des  Gesprächs  nach  den  Ideen  zu  suchen  verspricht,  ist  in 
jener  antinomischen  Untersuchung  nicht  vergessen ,  denn  die  Frage 
wie  sich  das  Eine  zu  dem  Vielen  (die  höchste  Idee  zu  den  vielen 
ihr  untergeordneten,  und  jede  derselben  zu  den  Einzelwesen)  ver- 
hält, ist  wirklich  Cardinalfrage  für  die  Ideenlehre.  Ausserdem  wird 
in  dem  ersten  Theile  entwickelt,  warum  die  Ideen  nicht  als  ganz 
von  den  Einzelwesen  getrennte  Allgemeinbegriffe  zu  fassen  seyen, 
und  im  zweiten,  freilich  uur  sehr  im  Fluge,  darauf  hingewiesen, 
dass  der  Vereinigungspunkt  des  Einen  und  Vielen,  der  mit  dem 
der  Ruhe  und  Bewegung  zusammenfällt,  als  zeitlos  („momentan") 
zu  fassen  sey.  Denselben  Gegenstand  wie  der  Parmenides,  behan- 
delt der  Sophist.  Dass  hier  ein  unbekannter  (nicht  ein  wirkli- 
cher sondern  ein  platonisch  -  idealisirter)  Eleat  das  Gespräch  leitet, 
scheint  für  das  Weitergehn  dieses  Dialogs  und  also  mehr  für  die 
Stcinhart\^Q\\^  Anordnung  als  für  die  Zellers  zu  sprechen.  Die 
Ausdrücke  sind  etwas  modificirt.  Neben  den  im  Parmenides  ge- 
brauchten kommt  auch  Ruhe  und  Bewegung,  besonders  aber  Sel- 
biges und  Anderes  vor,  was  mehr  auf  Correlata  als  auf  contra- 
dictorisch  Entgegengesetztes  hinweist.  Das  Resultat  bestätigt  auch, 
dass  sie  sich  so  verhalten,  dass  keins  ohne  das  andere  gedacht 
werden  dürfe,  und  dass  eben  deswegen  nach  dem  Einen  im  Vie- 
len, nach  dem  Selbigen  und  Beharrenden  in  dem  gesucht  werden 
muss,  dessen  Wesen  ist,  immer  Anderes  zu  seyn,  d.  h.  im  Ver- 
änderlichen und  Bewegten.  Wenn  auch  meistens  in  scherzhafter 
Weise,  wird  an  .tlieses  Resultat  antinoniischer  Untersuchung  ein 


V.  Piaton.     Plato's  Dialektik.     §.  77,  3.  95 

Versuch  dichotomischer  Zerlegimg  in  Arten  geknüpft,  die  ja  (s. 
oben  §.  76,  6)  jene  zur  vollständigen  Dialektik  ergänzte. 

3.  Jenen  Coincidenzpunkt  zu  suchen,  dazu  hatten  indem  sie 
ihn  nicht  befriedigten  die  megarisch-eleatischen  Lehren  den  Pluto 
gebracht;  ihn  zu  finden  dazu  verhalf  ihm,   dem  Sokratiker,   die 
gründlichere  Bekanntschaft  mit  den  Pythagoreern.    Erst  nach  sei- 
ner Rückkehr  aus   Italien  erscheint  seine  Lehre  ganz  begründet 
und  zu  einem  vollständigen  System  abgeschlossen.     So  schon  im 
Phädros,  wo  er  zu  verstehn  gibt  dass  ihm  die  schriftstellerische 
Thätigkeit  nicht  mehr  genüge ,  aber  auch  erklärt  dass  nur  der  als 
Lehrer  auftreten  dürfe ,  der  die  ganze  Natur  erforscht  habe.    Nicht 
nur  aber  im  Besitz  einer  Physik,   sondern  auch  in  dem  seiner 
Ideenlehre  findet  man  den   Plafo  überall,   wo  sich  .entschiedene 
Spuren  des  Pythagorismus  in  iJim  nachweisen  lassen.    Darum  aus- 
ser im  Phädros,  im  Symposion  und  namentlich  im  Phädon.    In 
keinem  seiner  Dialoge   aber   tritt  die  Begründung  derselben  und 
der  Zusammenhang  mit  den  früheren  Untersuchungen   so  deutlich 
hervor  als  im  Phile bos.    In  der  Streitfrage  ob  das  Gute  in  der 
Lust  oder  in  der  Einsicht  bestehe,   stellt  sich  Solrates.  der  weil 
es  eine  ethische  Frage,   hier  das  Gespräch  leitet,   zuerst  auf  die 
Seite  Derer,  welche  sich  für  die  Einsicht  erklären,  geht  dann  aber 
dazu  über  zu  zeigen ,  dass ,  wenn  man  in  kynischer  Weise  die  Ein- 
sicht zum  Gegentheil  der  Lust  mache,  dies  eben  so  einseitig  sey, 
als  wenn  die  Andern  übersehn  dass  Lust  ohne  Bewusstseyn,  und 
also  ohne  Einsicht,   unmöglich  sey.    Der  ethische  Gegensatz  der 
Lust  und  Einsicht  wird  dann   auf  dieselben  logischen  Gegensätze 
zurückgeführt,  um  die  es  sich  im  Pannenides  und  Sophisten  gehan- 
delt hatte ,  auf  den  des  Vielen  und  Einen ,  des  Werdens  {yhioig) 
und  Seyns  (ovala).    Aber  auch  bei  dieser  eleatischen  Fassung  bleibt 
Plato  nicht  stehn,    sondern  reducirt   sie  auf  die  pythagoreische 
Formel  (s.  §.  32,  2)  des  Unbestimmten  und  der  Begrenzung.    Wie 
in  der  bestimmten  Zahl  Beides  vereinigt  ist,  so  behauptet  nun 
Plato  trotz   alles  Vorzugs,   welchen  er  dem  zweitgenannten  Mo- 
mente einräumt,   dass  die  Wahrheit  nur  in  einem  Dritten,  einer 
Einheit  beider  also  einem  (ir/.röv  oder  einer  fiinrrj  ovaia  liege,  wel- 
che ihrerseits  zu  ihrem  Principe  {aXxiov)  den  vovg,  dieses  Höchste 
und  Vierte,  habe.    Abgesehn  von  dem  Resultate,  welche  diese  Sätze 
füi^die  ethische  Hauptfrage  ergeben,  dass  in  der  Reihe  der  Güter 
dem  vovq  die  höchste,  der  Einsicht  aber  als  dem  ihm  Verwandteren 
eine  höhere  Stelle  angewiesen  wird  als  der  Lust,  ist  ihre  Bedeutung 
für  die  Dialektik  diese,  dass  in  ihnen  ziemlich  klar  ausgesprochen, 
die  ganze  Summe  der  Platonischen  Ideenlehre  enthalten  ist. 


96  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

4.  Das  Eine  nämlich  in  und  über  dem  Vielen,  das  Seyn  in 
und  über  dem  Werden,  das  Selbige  in  und  über  dem  Wechseln- 
den, das  ist  das  was  Pluto  mit  den  allerverschiedensten  Namen 
bezeichnet,  bald  als  das  ovrcog  öv,  bald  als  ovaia,  bald  als  ccvto 
xcx&'avTÖ,  bald  als  das  avrS  To  — ,  wo  das  die  Ergänzung  bildet, 
von  dessen  Idee  die  Rede  ist,  bald  als  das  av^'  sKaatov,  bald  als 
das  0  h'anv  SKaarov ,  bald  als  eI§og,  bald  als  elöog  vorjröv ,  bald  als 
iSsa.  Der  letzte  Name,  obgleich  er  wenn  in  der  Vielzahl  gespro- 
chen wird  am  Seltensten  vorkommt  (u.  A.  Rep.  VI.  507  B.) ,  ist  der 
welcher  später  sich  am  Meisten  eingebürgert  hat.  Wo  wir  Ideen 
sagen,  sagt  PUdo  meistens  el'Srj.  Was  Pinto  unter  Ideen  versteht 
ist  schon  dadurch  angedeutet,  dass  er  sagt  es  gebe  so  viele  Ideen 
als  gemeinschaftliche  Namen.  Verbindet  man  damit,  dass  er  das, 
wozu  man  gelangt  wenn  man  von  den  individuellen  Unterschieden 
absieht,  Idee  nennt,  so  kann  man  sagen  die  Platonischen  Ideen 
sind,  wie  auch  der  Name  andeutet,  Arten  oder  Gattungen,  kurz 
Allgemeinheiten.  Sieht  man  weiter,  dass  was  den  Tisch  zum  Tisch, 
den  Menschen  zum  Menschen  macht  seine  Idee  genannt  wird,  so 
lässt  sich  der  Ilerbartische  Ausdruck ,  die  Platonischen  Ideen  seyen 
reine  Qualitäten  gleichfalls  hören.  Dieses  dem  Gleichnamigen  ge- 
meinschaftliche Wesen,  das  Pinto  Idee  nennt,  darf  aber  nicht  als 
Product  nur  des  abstrahirenden  Verstandes  als  eine  blosse  Vor- 
stellung genommen  werden,  sondern  es  subsistirt,  hat  Realität, 
ja  da  die  Einzehien  (die  Tliiere  z.B.)  vergelm,  das  Allgemeine 
aber  (das  Thier)  besteht,  so  ist  die  Idee  obgleich  nicht  sinnlich 
wahrnehmbar  sondern  ein  vorjxov,  doch  das  eigentlich  (ovrmg)  Reale, 
das  allein  Substanzielle ,  an  welchem  Theil  habend,  die  einzelnen 
Dinge  allein  existireii.  Damit  aber,  dass  die  Idee  das  Allgemeine 
in  einer  Klasse  von  Individuen  bezeichnet,  ist  ihr  Wesen  noch 
nicht  erschöpft.  Es  muss  zugleich  die  Anaxagorisch  -  Sokratische 
Zweckbestimmung  mit  hineingenommen  werden ,  da  die  Idee  eines 
Dinges  nicht  nur  angibt  was ,  sondern  auch  wozu  es  ist.  Darum 
nennt  Pinto  die  Ideen  naquödyiiaxu;  sie  sind  die  Bestimmungen 
der  Dinge  im  doppelten  Sinne  des  Wortes, 

5.  Ist  aber  jede  Idee  nicht  nur  das  gemeinschaftliche  Wesen 
und  wahre  Seyn  der  unter  ihr  befassten  Einzelwesen,  sondern 
auch  ihr  Zweck,  so  erklären  sich  die  verschiedenen  Ausdrücke 
deren  sich  Pinto  bedient,  um  den  ganzen  Complex  der  Ideen,  den 
xönog  voTirög  wie  er  ihn  nennt ,  zu  einer  Einheit  zusammenzufassen. 
Im  Phädon  wird,  mit  ausdrücklicher  Anknüpfung  an  den  Annxn- 
gorns,  davor  gewarnt  die  Bedingungen  der  Existenz  der  Dinge 
für  ihren  Grund  {akiov)  anzusehn,  denn  dieser  liege  in  ihrem  Zweck. 


V.  Piaton.     Plato's  Dialektik.     §.   77.  6  97 

Die  Zwecke  nun  der  einzelneu  Dinge  werden  dort  mit  den  Wor- 
ten das  Bessere,  das  Beste  d,  h.  als  das  relativ  Gute  bezeichnet, 
dagegen  der  letzte  Zweck,  in  dem  sich  alle  Zwecke  concentriren, 
als  das  ayaf^ov ,  d.  h.  als  das  nicht  comparativ  sondern  schlechthin 
Gute,  Nach  dem  eben  Gesagten  ist  dies  also  das  ahiov,  der 
Grund  und  das  Princip  aller  Zwecke.  Hält  man  nun  fest  dass  die 
Ideen  Zwecke  sind,  so  sind  sie  alle  dem  höchsten  Zwecke,  dem 
Guten,  als  ihrem  Principe  untergeordnet.  Als  die  Idee  der  Ideen, 
darum  als  die  Idee  schlechthin,  wird  nun  wirklich  von  Pinto  das 
Gute ,  oder  auch  die  Idee  des  Guten ,  überall  hingestellt.  (So  be- 
sonders in  der  Repub.).  Es  (sie)  ist  eben  darum  Princip  des  Alls, 
weil  es  (sie )  Endzweck  desselben  ist.  Es  bewegt  Alles ,  weil  Alles 
nach  ihm,  dem  Unbewegten  strebt.  Im  Philebos  wird  nicht  Idee 
des  Guten  gesagt ,  sondern  vovg  (auch  ao(f>la  und  Zeu?  kommt  vor). 
Wie  beim  Sotmtes  und  bei  den  Megarikern ,  so  ist  auch  bei  Pinto 
vovg  und  ayad-ov  ganz  Und  gar  dasselbe.  Wenn  man  darauf  Ge- 
wicht gelegt  hat,  dass  im  Philebos  der  vovg  als  der  Herrscher 
(ßaödEvg)  des  Himmels  und  der  Erde  bezeichnet  wird,  so  muss 
man  bedenken  dass  im  Staat  Pinto  von*  der  Idee  des  Guten  sagt 
dass  sie  in  der  himmlischen  Region  herrsche  (ßaadsvei).  Waren 
nun  die  Ideen  die  övrag  ovra,  so  ist  das  Gute  oder  die  Idee  des 
Guten  das  ovr(og  oVj  waren  sie  die  oiaiai,  so  wird  sie  als  über 
ihnen  stehend  sTcixnva  rrjg  ovalag  seyn.  Gerade  wie  die  unter  einer 
Idee  stehenden  Einzelwesen  durch  Theilnahme  an  ihr,  so  haben 
alle  Ideen  durch  Theilnahme  an  der  Idee  des  Guten  wahres  Seyn, 
so  dass  -sie  als  die  Sonne  bezeichnet  werden  kann,  durch  welche 
Alles  Wachsthum  und  Seyn  hat. 

6.  Indem  bei  Pinto  die  eine  Idee  (der  Endzweck)  vSich  in  einer 
Vielheit  von  Ideen  (Zwecken)  manifestirt ,  hat  er  in  seine  Dialektik 
Alles  aufgenommen,  was  die  bisherige  Metaphysik  geleistet  hat, 
und  ist  eben  damit  über  sie  hinausgegangen :  Wie  Pythagoreer 
und  Eleaten  sucht  er  nach  dem  einen  und  wahrhaften  Seyn,  und 
findet  es.  Zugleich  aber  hat  er  jenen  Begriff  mit  dem  vovg  des 
Annxngorns  und  dem  Guten  des  Snkrntcs  als  Eins  gesetzt.  Da- 
mit hätte  er  noch  nicht  mehr  geleistet  als  die  Megariker,  er  hätte 
eine  ethische  Monas,  den  absoluten  Zweck  als  alleiniges  Seyn. 
Jetzt  aber  haben  die  Untersuchungen  im  Parmenides,  Sophisten 
und  Philebos  die  Berechtigung  der  Vielheit  gleichfalls  nachgewie- 
sen, und  durch  die  Hereinnahme  dieses  Heraklitisch-atomistischen 
Momentes  wird  jene  Monas  zu  ^oväSig,  das  blosse  £v  zu  hädBg, 
welcher  Namen  er  sich  ausdrücklich  bedient  wenn  er  von  Ideen 
spricht,  natürlich  ohne  den   ethischen  (Zweck-)  Charakter  einzu- 

Erdmann  Gesch.  d.  Phil    I.  7 


"^  Alte  Philosophie.     Zweito  Periode  (Glanz). 

büssen.  Alle  diese  Ideen  (Einheiten)  sind  durch  ihre  Unterord- 
nung unter  die  höchste ,  sie  alle  befassende ,  Idee  ein  System,  und 
eben  deswegen  können  (Phileb.)  an  diesem  Inbegriff  gleichsam  als 
Seiten  desselben  die  Wahrheit,  Schönheit  und  Symmetrie  unter- 
schieden werden.  Unter  dem  Guten  also  ist  nichts  Anderes  zu 
verstehn,  als  das  Princip  aller,  der  natürlichen  sowol  als  der  sitt- 
lichen, Weltordnung.  Dieser  eine  W^eltzweck  ist  als  das  oV  ovrcag 
der  Gegenstand  der  Dialektik,  indem  sie  lehrt,  von  den  Ideen, 
diesen  Bestimmungen  der  Dinge,  zu  dem  Guten,  dieser  Bestim- 
mung aller  Bestimmungen,  oder  der  Bestimmung  des  Alls,  auf- 
zusteigen. 

7.  Nach  P/afo's  eigner  Forderung  muss  aber  der  Dialektiker 
nicht  nur  vom  Einzelnen  zum  Allgemeinen  hinaufsteigen,  sondern 
auch  umgekehrt  aus  diesem  jenes  ableiten,  und  so  ist  die  Frage 
zu  beantworten:  wie  wird  aus  dem  einen  tok/toV,  dem  Guten,  der 
ganze  Tonog  (in  späterer  Zeit  Koa^wg)  votjTÖ?,  der  ganze  Coinplex 
relativer  Zwecke?    Schon  uns  scheint,  da  wir  bei  solchen  Ablei- 
tungen  von   erster,   zweiter  u.  s.  w.  Ordnung  sprechen,   die  Zahl 
dazu  unentbehrlich   zu  seyn,   wie  viel  mehr  dem  Pinto,   der  mit 
Hülfe  der  Pythagoreer  zu  seiner  Ideenlehre  gekommen  war,  ja  im 
Philebos  geradezu  die  bestimmte  Zahl  als  ein  solches  Mittleres  zm- 
schen  Unbestimmtem  und  Grenze  erwähnt  hatte.    Aus  den  Nach- 
richten bei  Aristoteles ,  welche  sorgfältig  von  Trendcicnbury,  Zel- 
ler. Bramtis.  Stiscmlhl  und  Anderen  zusammengestellt  sind ,  geht 
hervor,  dass,  namentlich  in  späterer  Zeit,  Vlufn  es  hebte  die  Ideen 
mit  Zahlen  zu  bezeichnen.    Dass  diese  Zahlen  als  Idealzahlen  von 
den   gewöhnlichen   unterschieden  wurden,  dass  von  ihnen  gesagt 
wurde,  sie  wären  nicht  summirbar,   sie  stünden  in  Rangordnung, 
verhielten  sich  wie  verschiedene  Potenzen  u.  s.  w. ,  das  ist  erklär- 
bar.   Die  weiteren  Nachrichten   zeigen  grosse  Uebereinstimmung 
mit  den  Pythagoreern ,  denn  dass  ihr  amiqov  bei  Pinto  (aUqov  na\ 
(isyct  heisst ,  wird ,  wer  an  das  unendlich  Grosse  und  Kleine  denkt, 
kaum  eine  Aenderung  nennen.     Die  zugleich  geometrische  Bedeu- 
tung der  vier  ersten  Zahlen  ist  ganz  Pythagoreisch,  höchstens  die 
Auffassung  des  Punktes  bei .  Pinto  eigenthümlich.     Gleiches  gilt 
von  der  Zusammenstellung  der  vier  ersten  Zahlen  und  der  Er- 
kenntnissgrade (vgl.  §.32,  4.  5).    Wie  die  besonnenem  Pythago- 
reer mag  wohl  auch  Pinto  in  seinen  Deductionen  nicht  über  die 
Zehnzahl  hinaus  gegangen  seyn.    Uebrigens  geht  mit  der  verän- 
derten Bezeichnung  offenbar  eine  modificirte  Ansicht  Hand  in  Hand. 
Das  grössere  Verlangen  die  Kluft  zwischen  Einheit  und  Vielheit, 
daran  anschliessend  die  zwischen  Ideen  und  sinnlicher  Existenz 


V.  Piaton.     Platu'.<  Dial.-ktik      §.   77,  ?    9.  99 

auszufüllen,  ist  selbst  ein  Beweis,  dass  die  letztere  in  Achtung 
gestiegeu  ist,  beweist  also  eine  grössere  Entfernung  vom  Eleatis- 
mus.  Freilich  dass  diese  durch  immer  wachsendes  Pythagorisiren 
bewerkstelligt  wird,  enthält  etwas  dem  Rückfall  wenigstens  Aehn- 
liches.  Wie  dem  sey,  man  wird  kaum  behaupten  dürfen,  dass 
Alles,  was  Aristoteles  von  Pinto' s  Zahlenlehre  referirt,  ganz  mit 
dem  ül)ereinstinnne,  was  sich  in  seinen  Dialogen  findet. 

8.  Bei  der  oben  sub  1  in  Erinnerung  gebrachten  Solidarität 
von  Seyn  und  Wissen,  müssen  die  Ideen  als  die  ovxfog  ovxa  es 
auch  seyn,  welche  die  Sicherheit  der  Erkenntniss  ermöglichen. 
Die  Objecte  der  Wahrnehmung  gewährten  dieselbe  nicht,  sie  als 
ein  Mittleres  zwischen  Nichtseyn  und  Seyn  bewirkten  bloss  den 
Augenschein,  und  höchstens  Glauben  an  sie  (vgl.  §.  76,  2).  Die 
Erkenntniss  der  Ideen,  und  ihrer  Concentration ,  des  Guten,  gibt 
allein  volle  Sicherheit.  Da  sie  die  voriTÜ  waren,  wird  dieses  Er- 
kennen rovg ,  auch  1 07/01? ,  genaimt.  Darum  ist  Objcct  desselben 
nur  das,  welches,  und  in  sofern  es,  Theil  hat  am  Guten,  und  die 
Idee  des  Guten  wird  eben  darum  die  Sonne  genannt,  welche  die 
Dinge  sichtbar  (d.  h.  erkennbar)  macht.  Es  folgt  von  selljst  da- 
raus, dass  die  philosophische  Betrachtung  teleologisch  seyn  muss 
Zwischen  diesem  Wissen  und  den  beiden  Graden  der  6d^«  steht, 
bald  mit  dem  höheren  zusammen  unter  den  gemeinschaftlichen  Na- 
men ijTiörrj.ui;  gestellt  und  dann  als  Siävoia  von  jenem  unterschie- 
den, bald  aber  selbst  imGr^^u]  im  Gegensatz  gegen  den  voig  ge- 
nannt, das  discursive  Denken,  wie  es  namentlich  in  der  mathe- 
matischen Erkenntniss,  dann  aber  auch  dort  sich  zeigt,  wo  eine 
Theorie  in  Stand  setzt,  den  Grund  der  Erscheinungen  anzugeben. 
Im  Gorgias  wird  sie,  wie  später  von  Aristoteles,  r^im]  genannt. 
Ihr  01)ject  steht  als  das  Sempiterne  zwischen  dem  Ewigen,  womit 
sich  die  v6t]Gig,  und  dem  Vergänglichen,  womit  sich  die  6öi,a  be- 
schäftigt. In  dem  berühmten  Bilde  (Rep.  YII),  das  nebenbei  noch 
andere  Beziehungen  haben  mag,  zeigt  das  Sehen  der  von  der 
Sonne  geworfenen  Schatten  der  Bildsäulen ,  das  der  von  der  Sonne 
erleuchteten  Bildwerke  selbst,  das  der  eben  so  erleuchteten  Ori- 
ginale jener  Bildwerke,  endlich  das  Schauen  der  Alles  erleuchten- 
den Sonne  selbst,  diese  Stufenfolge. 

9.  Aber  nicht  nur  das  höchste,  oder  eigentlich  alleinige,  Seyn 
und  Gewusste  soll  das  Gute  seyn ,  sondern  auch  das ,  durch  Theil- 
nahme  an  welchem  allein  der  denkende  Menschengeist  es  und  alles 
Uebrige  zu  erkennen  vermag.  Nicht  nur  der  Dinge  Wachsthum 
und  Sichtbarkeit,  auch  des  Auges  Sehkraft  soll  die  Sonne  geben, 
die  das  höchste  ov,  das  höchste  vot^rov,  endlich  auch  das  vokitikov, 

1* 


.    100  Alte  Philosophie      Zweite  Periode  (Glanz). 

und  im  Philebos  vovg  genannt,  die  bekannte  Aristotelische  Defini- 
tion (s.  unten  §.  87,  8)  sehr  nahe  legt.     Dass  derselbe  Name  (vovg) 
das  Object  unseres  Wissens  und  unser  Wissen  selber  bezeichnet, 
ist  erklärlich  ^Yenn  Philo  unser  Wissen  so  an  jenem  Einen  Theil 
nehmen  lässt,  wie  unsere  Seele  Theil  ist  der  Weltseele,  unser  Kör- 
per des  Weltkörpers  (Phileb.).    Ist  aber  jenes  Eine  die  Krone  und 
der  Inbegriff  der  Ideen ,  so  versteht  sich's  wieder  von  selbst,  dass 
das  Erkennen  der  Ideen   aus  uns  selbst  geschöpft  wird.    Zur  Er- 
klärung dieses  Factums  ist  die  Präexistenz  der  Seele  und  das 
dem  irdischen  Leben  vorausgehende  Anschaun  der  Ideen,  an  welche 
der  Anblick  jedes  Schönen  die  Seele  wieder  erinnert,  von  der  der 
Phädros   spricht,  nicht  nötliig.     Eben  darum  aber,  und  weil  die 
Präexistenz  sehr  oft  mit  der  Postexistenz  in  Causalzusammenhang 
gebracht   wird,   endlich  aber  weil  P/alo  au  einer  Stelle,   die  gar 
nicht  von  der  Wiedererinnerung  handelt,   entschieden  behauptet, 
die  Zahl  der  existirenden  Seelen  nehme  weder  zu  noch  ab,   wird 
man  schwerlich  behaupten  können,   dass  Alles  was  jener  pracht- 
volle Mythus  im  Phädros  enthält,  blosse  Einkleidung  sey.    Vieles 
darin  ist  nachweisbar  pythagoreisch.    Wie  vieles  Aegyptische,  Phö- 
nicische,  ob  vielleicht  gar  Indisches  sich  eingemischt  habe,  möchte 
schwer  zu  entscheiden  seyn.    Die  Summe  der  Platonischen  Dia- 
lektik Hesse  sich  kurz   so  zusammenfassen:   die  Ideen  geben  den 
wechselnden  Erscheinungen  Halt  und  der  Erkenntuiss  Sicherheit. 
Man  gelangt  zu  ihnen  durch  Ausgleichung  der  fundamentalen  Ge- 
gensätze.    Sie  gipfeln  und  wurzeln  zugleich ,  in  der  höchsten  Idee, 
dem  Guten,  diesem  eigentlichen  Princip  alles  Seyns  und  alles  Wis- 
sens ,  von  dem  aus  sie  systematisch  abgeleitet  werden  können  nur 
mit  Hülfe  der  Zahlen.    Sie  leben  im  Geiste  des  Menschen,  dessen 
wahres  Erkennen  darin  besteht  dass  er  ihrer  bewusst  wird. 

§.  78. 
P  lato 's    Physik. 

Böckh    Ueber    die  Bildung    der  Weltseele    in  Daub's  und  Creuzer's  Studien.    III, 
1   ff.     H.  Martin  Etudes  sur  le  Timee  de  Piaton.  Paris  1841.  2  Volumes. 

1.  Wenn  die  Dialektik  das  Gute  als  das  alleinige  Wissensob- 
ject  erwiesen  hat,  so  kann  auch  die  Physik  nur  die  Aufgabe  ha- 
ben, das  Gute  in  seiner  sinnlichen  Erscheinung  zu  betrachten. 
Da  aber  die  Erscheinungen  von  der  Wahrnehmung  percipirt  wer- 
den ,  so  kann  natürlich  eine  so  strenge  Deduction ,  wie  in  der 
Dialektik,  hier  nicht  erwartet  werden.  Daher  die  ausdrückliche 
Erklärung  dass  man  sich  hier  oft  mit  dem  Wahrscheinlichen  be- 
gnügen, Mythen  anstatt  der  Beweise  gelten  lassen  müsse.  Zu- 
nächst entsteht  die  Frage:  was  ist  das,  was  zu  dem  Guten  oder 


V.  Piaton.     Plato's  Physik.     §    78,  1.  2.  101 

dem  Complex  der  Ideen  hinzukommen  muss,  damit  es  Natur,  d. 
h.   Gutes  in   sinnlicher  Erscheinung,   sey?     Natürlich  muss  dies 
Prädicate  bekommen,   die  denen  des  Guten  entgegengesetzt  sind, 
und  so  wird  es  denn  als  das  niemals  Seyende ,  als  das  Ordnungs- 
lose,  als   das  rastlos  Bewegte,   als  das  der  Ideen  Ledige,   nicht 
Wiss-  sondern  nur  Vorstellbare  bezeichnet,  das  sich  zu  ihm,  dem 
ev  als  das  ^uxqov  xal  niya,  zu  ihm  dem  stets  Selbigen  als  das  immer 
Andere,  verhalte.    Dass  unter  diesem  Principe,  das  seit  Aristo- 
teles ganz  allgemein  vXtj  ,  Materie,  genannt  wird,  und  von  dem, 
nach  dem  Gebrauche  den   P/nto  selbst  im  Philebos  von  diesem 
Worte  macht,  vermuthet  werden  kann,  dass  auch  er  es  in  seinen 
Lehrstunden  so  genannt  habe,   dass  unter  diesem  awalnov  der 
Welt  nicht  ein  bestimmter  Stoff  zu  verstehen  sey,  beweisen  die 
negativen  Prädicate:  qualitätslos,  gestaltlos,  unsichtbar  u.  a.,  die 
ihm  beigelegt  werden.    Was  aber  denn?    Nach  Aristoteles,   und 
damit  stimmt  Plato's  eigne  Erklärung  im  Timäos,  ist  es  der  Raum. 
Vielleicht  sagt  man  noch  besser:  die  Form  der  Aeusserlichkeit,  so 
dass  es  nicht  nur  die  Form  des  Neben-  sondern  auch  des  Nach- 
einanders,  aber  durchaus  nicht  Zeit,  oder  das  gemessene  Nach- 
einander, besagte.    Die  Hauptsache  ist,  dass  unter  jenem  hfiayBlov, 
welches   durch  das  Hineintretende  zu  wirklicher  Gestaltung  wird, 
durchaus  nicht  ein  irgendwie   bestimmter  Stoff  zu  verstehn  ist, 
sondern  blosse  des  Inhalts  harrende  Form ;  eben  darum  ist  es  für 
sich  genommen  Nichts,   es  ist  nur  eine  gewaltsame  Abstraction 
(vo^w  loytoficp  (XTtTov).    Wenn  daher  der  Dualismus  des  Plato  zwar 
nicht  ein  so  grober  ist,  wie  der  des  Annxogoras ^  so  kann  doch 
auch  er,   wie  das   ganze  Alterthum,  weil  ihm  der  concrete  Schö- 
pfungsbegriff mangelt,  den  Dualismus  nicht  überwinden.    Erbleibt 
Dualist,  weil  er  nicht  nachzuweisen  vermag,  warum  die  Ideen  in 
die  sinnliche  Erscheinung  treten.    Dass  er  einen  Zusammenhang 
annimmt  zwischen  dem  Grunde,  der  die  eine  Idee  (des  Guten)  in 
eine  Vielheit  von  Ideen  spaltet  und  dem,  warum  eine  jede  Idee 
sich  wieder  in  einer  Vielheit  von  Dingen  zeigt,  das  geht  klar  da- 
raus hervor,  dass  er  hier  wie  dort  die  Ausdrücke  citihqov ,  hikqov 
Kai  fjiiya,  nXij&og ,  ^i&e^ig ,  (ilfiijaig u.  S.W.  braucht,  aber  dass  ohne 
Weiteres   mit  der  Vielheit  der  Ideen  auch  schon  die  Vielheit  der 
Abbilder  einer  jeden  Idee   abgeleitet,    und  also  im  Parmenides, 
Sophisten  und  Philebos  schon  die  sinnliche  Welt  construirt  sey, 
ist  nicht  zuzugeben,  obgleich  wichtige  Autoritäten  dies  hinsichtlich 
des  Parmenides  und  Sophisten,  fast  Alle  vom  Philebos,  behaupten. 
2.  Der  eben  hervorgehobene  Punkt  ist  es,   bei  dem  sich  der 
Mangel  der  Platonischen  Lehre  zeigt,  welche  im  Phädros  die  Ideen 


102  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glänz.) 

in  einen  überweltlichen  {vmQovgdviog  vgl.  §.  32,  4)  Ort  versetzt. 
Wegen  dieser  ihrer  Transscendenz  vermögen  sie  niclit  von  selbst 
in  die  diesseitige  Welt  einzugreifen,  sind  energielos,  blosse  Objecte 
des  Schauens ,  nicht  sich  verwirklichend.  Was  sie  von  selbst  nicht 
vermögen,  das  kann,  soll  es  anders  geschehen,  nur  durch  eine 
hinzutretende  Macht  bewirkt  werden,  und  diese  ist  die  Gottheit, 
welche  so  der  Werkmeister  der  Dinge  ist.  Die  Behauptung,  dass 
bei  P/alo  die  Idee  des  Guten  mit  der  Gottheit  zusammenfalle,  ist 
nur  in  sofern  richtig,  als  in  seiner  Dialektik  er  wirklich  keiner 
Gottheit  neben  jener  Idee  bedarf.  Der  Endzweck  des  Alls  ist,  da 
der  Zweck  Grund  war,  zureichender  Grund  der  Ideen,  wenn  auch 
nicht  nachgewiesen  ist,  warum  der  Ideen  gerade  so  viele  sind. 
Eben  darum  ist  auch  das  (xhiov  im  Philebos  nicht  von  der  Idee 
des  Guten  unterschieden  und  die  Bezeichnung  vovg  für  dieselbe 
von  Soh'aics  und  den  Megarikern  herübergenommen.  Ganz  an- 
ders aber  gestaltet  sich  die  Sache,  wo  Pluto  zur  Physik  übergeht. 
Je  greller  der  Gegensatz  zwischen  dem  Guten  als  ov  owcog  und 
der  Materie  als  dem  ers^ov  und  also  /u?)  oV,  desto  mehr,  je  weni- 
ger grell  desto  weniger,  bedarf  es  eines  Dritten,  um  den  Eintritt 
jenes  in  diese  zu  erklären.  Darum  bedarf  Arisfoleles  (s,  §.  87,  9) 
und  auch  die  Emanationslehre  der  Neuplatoniker  (s,  §.  128,  2) 
nicht  mehr,  wohl  aber  bedarf  Pluto  eines  Dens  ex  machina.  Da- 
bei ist  der  Unterschied,  ob  man  sagt:  Gott  ist  bei  Pinto  ein  an- 
deres Wesen  als  das  Gute,  oder:  er  ist  nur  eine  andere  Seite  an 
der  Idee  des  Guten ,  nur  für  den  wichtig ,  welcher  mit  Fragen  zum 
Pinto  tritt,  zu  deren  Verständniss ,  und  also  mehr  noch  zu  ihrer 
Beantwortung,  Jahrhunderte  vergehen  mussten,  z.  B,  nach  der  Per- 
sonhchkeit  Gottes.  Die  Ideen,  diese  ewigen  Urbilder,  schaut 
Gott,  er  schaut  sie  aber  so  wie  der  Poet  seine  Ideale,  indem  er 
sie  zugleich  erzeugt  (Rep,) ,  und  pflanzt  nun  dieselben  der  Materie 
ein.  Die  Bezeichnung  für  Gott  dass  er  sey  od^^v  (pvirai,  für  die 
Materie  sie  sey:  Iv  w  ylyvtrai  xo  yiyv6i.uvov,  ist  eben  so  erklärlich, 
als  dass  Gott  die  Rolle  des  Vaters ,  der  Materie  aber  die  der  Mut- 
ter oder  auch  der  mütteriichen  Amme,  jenem  des  ainov  d,  h,  des 
Grundes,  dieser  des  öwmxwv  oder  der  Bedingung  übertragen  wird. 
Der,  nicht  sowol  zeitliche  als  logische,  Anfang  der  W^elt  ist  dem 
Pinto,  dass  das  Gute  durch  Vermittelung  der  selbst  guten  und 
neidlosen  Gottheit,  die  Alles  sich  möglichst  ähnlich  machen  will, 
der  Materie  eingepflanzt  oder  eingezeugt  wird,  und  so  die  Welt 
entsteht.  Darum  ist  sie  der  viog  (jiovoyivrig  der  Gottheit,  ist  sUcov 
Tov  9eov  weil  sie,  wie  die  Gottheit,  gut  ist;  sie  kann  vor  ihrem 
Entstehen  der  zukünftige  Gott ,  nach  demselben  der  wahrnehmbare 


V.  Piaton.     Plato's   Physik.     §.  78,  2.  3  103 

Gott,  der  zweite  geschaffene  Gott,  jedenfalls  aber  selige  Gottheit 
genannt  ^Yerden.  War  der  ganze  Complex  der  Ideen  ein  t<^ov  atSiov 
oder  vo}]t6v  ,  d.  h.  ein  ewigem  oder  inteUigibler  Organismus  genannt 
worden,  so  wird,  indem  jetzt  vernünftige  Zweckmässigkeit  (vovg) 
dem  an  sich  Ungeordneten  und  also  äkoyov,  in  welchem  nur  äussere 
Nothwendigkeit  herrscht,  als  ihrem  Leibe  eingepflanzt  ist,  das 
Ebenbild  jenes  ersteren  Organismus  ein  swov  iwovv  genannt  wer- 
den müssen.  Ueberall  in  diesem  Organismus  sind  daher  diese 
beiden  Momente  zu  unterscheiden:  das  Göttliche,  die  Zweckmäs- 
sigkeit, und  dann  wieder  das  bloss  Nothwendige,  das  jenem  als 
unerlässliche  Bedingung  dient. 

3.  Füi'  das  erste  Hineiutreten  zweckmässigen  Zusammenhanges 
in  die  Unordnung  bedurfte  Plato  einer,  die  Ordnung  setzenden, 
Gottheit.  Aber  auch  der  Bestand  dieser  Verbindung  scheint  ihm, 
zwar  nicht  der  immerwährenden  Dazwischenkunft  der  Gottheit,  die 
er  leugnet,  wohl  aber  eines  vermittelnden  Gliedes  zu  bedürfen. 
Ausser  dem,  dass  die,  durch  gleiche  Termini  angedeutete  Aelm- 
lichkeit  der  Aufgaben  den  Gedanken  nahe  legte,  so  wie  dort  wo 
die  Vielheit  der  Ideen  abgeleitet  ward,  so  auch  hier  wo  erklärt 
werden  soll  wie  jede  der  vielen  Ideen  wieder  in  einer  Vielheit 
existirt,  die  Hülfe  der  Zahlen  in  Anspruch  zunehmen,  ausser  dem 
ferner  dass  ja  wiederholt  die  Zahlen  als  das  Mittlere  zwischen 
dem  ro-i]t6v  und  ala&riröv  bezeichnet  waren,  hat  wohl  auch  dies 
den  Pfafo  bestimmt,  dass  er  wie  alle  Menschen  an  dem  mathe- 
matisch Regehnässigen  eine  Freude  hatte ,  die  der  an  einer  zweck- 
mässigen Ordnung  nahe  verwandt  ist,  kurz:  die  von  Zahlen  be- 
herrschte Harmonie  wird  von  ihm  zu  dem  Vermittelungsgliede  ge- 
macht, wodurch  zweckmässige  Ordnung  als  vovg  an  die  Aeusser- 
lichkeit  als  das  aaua  gebunden  wird.  Dass  sie  in  dieser  Mittel- 
stellung gerade  so  genannt  wird  wie  das,  was  im  menschlichen 
Individuum  den  Leib  mit  der  Vernunft  verbindet ,  nämlich  „Seele" 
ist  erklärlich,  und  unter  der  Weltseele  ist  schwerlich  etwas  An- 
deres zu  verstehn  als  die,  das  All  beherrschende  mathematische 
Ordnung  oder  die  in  ilim  waltenden  harmonischen  Verhältnisse. 
Dann  aber  ist  es  auch  ganz  begreiflich,  warum  Plato  die  Welt- 
seele als  eine  aus  doppelter  Natur  zusammengesetzte  bezeichnet, 
und  sie  darstellt  als  eine  Zahlenreihe,  die  so  entsteht  dass  die 
Potenzen  der  ersten  Geraden  (2)  und  ersten  Ungeraden  (3)  in 
einander  geschoben  und  die  Wurzel  aller  Zahlen  (1)  ihnen  vorge- 
setzt wird,  und  welche  wenn  die  von  P/(tto  selbst  angegebenen 
^Einschaltungen  vorgenommen  w^erden,  wie  Böclh  dies  ausführt,  eine 
diatonische  Tonleiter  von  etwas  mehr  als  vier  Octaven   darstellt. 


104  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

4,  Auch  die  weitere  Darstellung,  dass  die  so  geschaffene  "Welt- 
seele die  Form  zweier ,  nicht  in  einer  Ebene  liegenden ,  Kreise  mit 
gemeinschaftlichem  Mittelpunkte  erhalten  habe,  von  denen  der  in- 
nere, in  sieben  Kreise  gespaltene,  in  einer,  der  äussere,  unzer- 
spaltene,  in  der  entgegengesetzten  Richtung  sich  bewegt,  ist,  wenn 
man  an  den  Fixsternhinimel,  die  sieben  Planetenkreise  und  die  an 
die  Weltaxe  befestigte  Erde  denkt,  ganz  erklärlich.  ( Gruppe'' s 
Versuch ,  Pidio  viel  ausgebildetere  astronomische  Vorstellungen  zu 
vindiciren,  ist  von  Bock//  mit  Erfolg  bekämpft  worden.)  Vermit- 
telst der  mathematischen  Ordnung  ist  es  möglich,  dass  die  sinn- 
liche Welt  Erscheinung  der  absoluten  Zweckmässigkeit ,  des  Guten, 
darin  der  Gottheit  ähnlich,  und  vermöge  dieser  Gottähnlichkeit, 
so  weit  ihre  Natur  das  erlaubt,  der  göttlichen  Eigenschaften  theil- 
haft  wird.  So  wird  die  Welt,  weil  sie  es  der  eigentlichen  Ewig- 
keit nicht  werden  kann,  wenigstens  des  bewegten  Abbildes  der 
Ewigkeit,  der  Zeit,  theilhaft,  in  der  das  ruhige  Ist  der  Ewigkeit 
zum  War  und  Wirdseyn  ausgedehnt  ist.  Damit  aber  Zeit  sey, 
werden  an  die  Planetenkreise  die  Weltkörper  angeheftet,  vor  Allem 
Sonne  und  Mond ,  die  darum  vorzugsweise  Organe  der  Zeit  heissen. 
Aber  auch  Anderes  kommt  vermöge  ihrer  Gottähnlichkeit  der  Welt 
zu.  So  die  Einheit,  so  die  Vollkommenheit  in  Form  und  Bewe- 
gung. Die  Kugelform  ist  die  höchste  aller  Formen.  Alles  umfas- 
send erhält  sich  die  Welt  in  schöner  Selbstgenügsamkeit,  indem 
im  Kreislauf  aller  Di;\ge  sie  von  sich  selber  zehrt,  nichts  Fremdes 
einathmet;  endhch  ist  die  in  sich  selbst  zurückkehrende  Bewegung 
ein  Abbild  des  bei  sich  selbst  seyenden  Denkens. 

5.  Treten  in  den  letzten  Sätzen  Eleatische  Anklänge  hervor, 
so  dort  wo,  nicht  mehr  wie  bisher  die  ganze  W^elt,  sondern  die 
eine  Seite  derselben,  das  aäfxa  betrachtet,  und  namentlich  wo  mehr 
in  das  Detail  gegangen  wird,  neben  den  Anlehnungen  an  die  Py- 
thagoreer  auch  die  an  die  Physiologen.  Es  gibt  kaum  irgend  einen 
bedeutenden  Lehrpunkt  der  Früheren  den  Pluto  nicht  aufnähme. 
Wodurch  er  aber  sich  von  ihnen  unterscheidet  und  zugleich  mit 
sich  selbst,  der  doch  die  Grundbegriffe  der  früheren  Naturphiloso- 
phen (im  Parmenides  z.  B.)  bekämpft  hatte,  in  Einklang  bleibt, 
ist  die  durchweg  teleologische  Begründung  der  ganzen  Physik. 
Und  zwar  ist  es  eine  Teleologie  deren  Ziel  der  Mensch,  als  Trä- 
ger der  sittlichen  Ordnung  ist.  Obgleich  der  Timäos  der  Form 
nach  eine  Fortsetzung  des  Staates  ist ,  so  ist  doch,  wie  P/ato  selbst 
erklärt,  das  sachliche  Verhältniss  dies,  dass  der  Timäos  zeigt, 
wie  der  Mensch  ins  Daseyn  gerufen,  der  Staat  dagegen,  wie  er 
ausgebildet  wird.    In  jenem  soll  gezeigt  werden,   wie  die  Welt, 


V.  Piaton.     Plato's  Physik.     §.   78,  "i.  6.  105 

diese  unbewusste  Erscheinung  des  Guten,  endlich  bei  dem  Men- 
schen, dem  bewussten  Vollbringer  desselben,  anlangt.  Teleologisch 
ist  sogleich  die  Ableitung  der  Elemente:  Feuer  und  Erde  sind  noth- 
wendig  als  Mittel  der  Sicht-  und  Tastbarkeit ,  zwei  aber  bedürfen 
eines  Vermittelnden,  ja  zweier,  weil  die  Dreizahl  nur  Fläche  und 
erst  die  Vierzahl  ganze  Körperlichkeit  ist.  (Vgl.  §.  32,  4.)  Das 
beste,  ja  das  möglichst  harmonische,  Verhältniss  unter  diesen  ist 
die  stetige  Proportion ,  so  dass  sich  in  der  Alles  umfassenden  Welt 
das  Feuer  zur  Luft  wie  diese  zum  Wasser  und  wieder  dieses  zur 
Erde  verhält.  Da  die  primitive  Materie  bei  Pinto  nur  die  Form 
der  RäumUchkeit  ist,  so  muss  er  die  Unterschiede  jener  rein  aus 
Raumfigurationen  ableiten.  Wie  die  Pythagoreer  lässt  er  jedes 
dieser  Elemente  seine  eigne  Atomform  haben,  nur  unterscheidet  er 
sich  von  ihnen  darin,  dass  ihm  der  Aether  nur  feinere  Luft  ist, 
und  daher  das  Dodekaeder  ihm  übrig  bleibt,  welches  manchmal 
als  die  Form  der  Sterne  angegeben  wird ,  und  besonders  dadurch, 
dass  er  ihrer  stereometrischen  Construction  eine  planimetrische 
als  Begründung  vorausschickt.  Da  nämlich  die  Seiten  der  regel- 
mässigen Körper  entweder  Dreiecke  sind  oder  in  solche  zerfällt 
werden  können,  so  lässt  er  den  Raum  zuerst  in  lauter  Dreiecke 
zerfallen,  ein  planimetrischer  Atomismus,  bei  dem  die  Atome  der 
Pythagoreer  zu  Moleculen  zweiter  Ordnung  werden.  Dies  macht 
es  ihm  möglich ,  den  Uebergang  des  einen  Elementes  in  das  andre 
im  Gegensatz  zum  Empedoldcs  nicht  nur  anzunehmen,  sondern 
anschaulich  zu  machen.  Dagegen  schliesst  er  sich  dem  Empedo- 
Ides  an  im  Leugnen  des  Leeren ,  und  die  Unmöglichkeit  desselben 
benutzt  er  so  oft  zur  Erklärung  gewisser  Erscheinungen,  dass  er 
der  Urheber  der  Theorie  vom  horror  i-acui  genannt  werden  kann. 
Auch  dass  die  Freundschaft  die  kleinsten  Theilchen  verbindet,  er- 
innert an  Empedoldcs  .  dagegen  an  Aiwxayorus  und  die  Atomiker 
dass  es  die  gleichartigen  Theilchen  seyn  sollen,  die  sich  so  finden. 
Diese  Anziehung  des  Gleichartigen  dient  ihm  zugleich  zum  Ab- 
leiten des  Schweren  und  Leichten,  das  er  mit  dem  Dichten  und 
Dünnen  identificirt,  da,  indem  ja  der  Himmel  die  Erde  umgibt, 
er  eben  sowol  oben  als  unten  ist,  dieser  Unterschied  also  der 
frühern  Physiologen  ihm  keinen  Sinn  hat.  Aus  der  Verbindung 
der  vier  Elemente  entstehen  die  verschiedenen  Stoffe,  die  beson- 
ders nach  den  Wirkungen  betrachtet  werden ,  die  sie  auf  die  Sin- 
nesorgane äussern. 

6.  Das  eben  Gesagte  ist  schon  ein  Beweis,  dass  Plato  sich 
für  das  Unorganische  weniger  interessirt  als  für  das  Lebendige. 
Wie  die  Welt  nämlich,  um  dem  durch  sich  selbst  Lebenden  mög- 


106  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

liehst  ähnlich  zu  seyn ,  selbst  ein  Lebendiges  seyn  musste ,  so  auch 
alle  Arten  von  Lebendigem  befassen.  So  also  zunächst  Unsterb- 
liches. Das  sind  die  Gestirne,  die  geschatfenen  Gottheiten  die 
das  Volk  als  Götter  verehrt,  die  Fixsterne  als  die  ganz  in  sich 
befriedigten  darum  ruhigen ,  dann  die  rastlos  kreisenden  Planeten, 
endlich  die  Erde  die  ehrwürdigste  der  Gottheiten,  die  innerhalb  des 
Himmels  erzeugt  sind,  sie  deren  Kinder  die  olympischen  Götter 
sind.  Als  entstanden  shid  alle  diese  Götter  zwar  nicht  ewig  oder 
von  sich  aus  unsterblich,  aber  sie  werden  nie  aufhören.  Ihrer 
Thätigkeit  ist  das  Hervorbringen  des  Sterblichen  übergeben,  nur 
mit  der  Ausnahme ,  dass  im  Menschen  der  Keim  des  Unsterblichen 
vom  ersten  Werkmeister  abstammt,  der  eine  bestimmte  Zahl 
von  Seelen  schuf  und  dann,  sich  selbst  zur  Ruhe  setzend,  den 
jüngeren  Göttern  zur  Bekleidung  mit  einem  Leibe  überliess.  Die- 
ser Leib  nun  ist  hinsichtlich  seiner  Bestandtheile  gleichsam  ein 
Extract  aus  dem  ^vas  die  ganze  Welt  ist,  hinsichtlich  seiner  Form 
wenigstens  in  seinem  edelsten  Organ  eine  Wiederholung  des  Welt- 
alls, und  so  ist,  da  es  sich  mit  seiner  Vernunft  und  Seele  gerade 
so  verhält,  der  Mensch  die  Welt  im  Kleinen.  Ihm  zu  dienen,  ist 
die  Bestimmung  des  Uebrigen,  der  Pflanzen  dass  sie  seine  Nah- 
rung seyen,  der  Thiere  dass  sie  unwürdigen  Menschenseelen  zum 
Wohnort  dienen.  So  teleologisch  wie  hier  alles  Uebrige,  wird  auch 
der  Mensch  betrachtet.  Die  rein  physikalischen  Erklärungen  wer- 
den nicht  verworfen,  aber  für  unzureichend  erklärt,  sie  lehren  nur 
die  Bedingungen  kennen  unter  denen ,  nicht  den  eigentlichen  Grund 
warum  ein  Organ  fungirt.  Viel  mehr  Gewicht  als  darauf  wie  das 
Sehen  zu  Stande  kommt,  legt  Plato  darauf  dass  es  den  Zugang 
zum  höchsten  aller  Güter,  zum  Wissen,  eröffne. 

7.  Wie  im  Weltgauzen  vernünftige  Zweckmässigkeit  mit  star- 
rer Nothwendigkeit  verbunden  war ,  so  erscheint  in  dem  Menschen 
die  an  das  Haupt  gebundene  Vernunft  verknüpft  mit  der  auf  Be- 
friedigung der  nothwendigen  Bedürfnisse  gehenden  Begierde,  die 
ihr  Organ  an  dem  Unterleibe  hat,  dem  aber  die  Gnade  der  Gott- 
heit in  der  Leber  auch  ein  Organ  des  Wissens  gegeben  hat,  frei- 
lich des  niedrigsten,  des  mantischen,  der,  dem  Wahnsinn  ver- 
wandten ,  Almdung.  Wie  zwischen  beiden  Organen  die  Brust  sich 
findet ,  so  ist  auch  der  vernünftige  und  begierliche  Theil  der  Seele 
durch  den,  im  Herzen  thronenden  &v(i6g  verbunden,  jenem  that- 
kräftigen  männlichen  Theil  der  sterblichen,  von  den  zweiten  Göt- 
tern bereiteten  Seele,  dessen  Bestimmung  ist,  Werkzeug  des  Un- 
sterblichen im  Menschen,  der  vom  obersten  Werkmeister  kommen- 
den Vernunft,  zu  werden,  und  auf  ihren  Befehl  die  Begierden  in 


V.  Piaton.     Plato's  Ethik.     §    79,   1.  2.  107 

Zaum  zu  halten,  der  aber  freilich  oft  gerade  den  letzteren  dienst- 
bar wird.  Dass  diese  TripUcität  in  der  Seele ,  welche ,  wegen  der 
Aufgabe  des  Timäos,  in  diesem  Dialog  nur  von  ihrer  praktischen 
Seite  betrachtet  wird,  ganz  der  theoretischen  Dreiheit  von  Wahr- 
nehmung, Vorstellung  und  Wissen  correspondirt ,  ist  von  P/ato 
hinsichtlich  der  ersten  und  dritten  sehr  oft,  hinsichtlich  der  mitt- 
leren seltner  und  mein-  indirect,  aber  doch  auch  ausgesprochen. 
Da  die  Seele  das  eigentliche  Lebensprincip  ist ,  so  ist  es  ein  logi- 
scher Widerspruch ,  dass  sie  nicht  leben  sollte.  Die  Sempiternität 
derselben,  sowol  als  Prä-  als  auch  als  Post -Existenz  wird  von 
Pinto  auf  das  Entschiedenste  behauptet,  und  namenthch  im  Phä- 
don  sind  die  wesentlichsten  Gründe  dafür  zusammengestellt  wor- 
den ,  von  der  Unmöglichkeit  an ,  dass  ein  Einfaches  sich  auflöse, 
bis  zu  dem  Argument,  dass  der  Besitz  der  ewigen  Wahrheit  die 
Ewigkeit  dessen,  der  sie  besitzt,  verbürge. 

§.  79. 
Plato's   Ethik. 

1.  Wenn  die  ganze  Philosophie,  so  muss  natürhch  auch  die 
Ethik  auch  nur  das  Gute  betrachten.  Hier  aber  wird  es  betrachtet, 
wie  es  den  Inhalt  des  menschlichen  Wollens  bildet,  und  das  gibt, 
was  man  wol  das  höchste  Gut  zu  nennen  pflegt.  Auch  in  der  Be- 
stimmung dieses  stellt  sich  Pfalo  über  die  einseitigen  xVufi'assungen 
der  Früheren.  Gegen  die  Hedoniker  erklärt  er  sich  im  Theätet  so 
sehr,  dass  er  fast  daran  heranstreift,  die  Flucht  vor  der  Lust  anzu- 
rathen.  Dieser  zweiten  Einseitigkeit  aber  tritt  er  im  Philebos  ent- 
gegen, wo  er  gegen  beide  Uebertreibungen  dies  geltend  macht,  dass 
nur  das  Schöne  und  also  Maassvolle,  gut  seyn  könne.  Alles  Maass- 
lose und  Uebertriebne  in  dieser  Hinsicht  gilt  ihm  als  Krankheit  der 
Seele,  ihre  Gesundheit  s-ieht  er  in  der  durch  Einsicht  bedingten  Lust, 
in  der  Glückseligkeit  die  mit  der  Tugend  zusammenfällt,  weil  diese 
um  ihretseibst  willen  gewollt  wird.  Dieses  normale  Yerhältniss,  die 
wahre  Tugend,  ist  weder  Xaturgabe ,  denn  „Niemand  ist  von  Natur 
gut",  noch  ist  sie  Product  der  Willkühr,  denn  da  würden  Alle  tu- 
gendhaft seyn,  indem  niemand  ft-eiwillig  böse  ist,  sondern  wie  hin- 
sichtlich der  Philosophie  überhaupt  gezeigt  war,  so  muss  auch  bei  der 
wahren  (d.  h.  philosophischen)  Tugend  der  sittlichen  Anlage  die  Cul- 
tur  nachhelfen.  Die  Tugend  will  gelehrt  seyn,  und  die  Erziehung 
ist  in  Plato's  Ethik  einer  der  wichtigsten  Punkte. 

2.  Soh'utes  hatte  diese  dem  ^stqov  aQLarov  entsprechende  Tu- 
gend in  seinem  Leben  ohne  Härte  und  Uebertreibungen  dargestellt, 
dabei  aber  Gewicht  darauf  gelegt,  dass  die  Tugend,  weil  Einsicht, 
nur  Eine  sey.    Auch  aus  der  Begriflsbestimraung  der  Tugend  sucht 


108  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode    (Glanz). 

Plffio  den  abstracten  Charakter  zu  entfernen ,  und  fasst  daher  die- 
selbe als  concrete  Einheit,  d.  h.  als  einen  Inbegriff  oder  ein  Sy- 
stem von  Tugenden.  Es  sind  dies  die  berühmten  Cardinaltugen- 
den.  Im  Protagoras  werden  noch  fünf  Haupttugenden  augege- 
ben, und  diese  mögen  wirklich  vom  Protagoras  zuerst  aufgestellt 
seyn,  so  dass  Plato  durch  ihn  auf  seinen  Weg  gebracht  wurde. 
Indem  im  Eutyphron  die  eine  dieser  Tugenden,  die  oWrr/?  auf 
die  Gerechtigkeit  reducirt  wird,  ist  es  erklärlich,  wie  im  Sym- 
posion schon  bloss  von  vieren  die  Rede  seyn  kann.  Diese  nun 
werden  (Rep.)  so  mit  der  Platonischen  Psychologie  in  Verbindung 
gesetzt,  dass  durch  die  vernünftige  Regelung  des  loyiGxiKov  die 
aoq)la  im  Gegensatz  zur  fxcoQia^  des  d'vfioeiöig  die  avÖQin  im  Gegen- 
satz zur  öeiUa ,  endlich  des  im&v^tjTLKÖi'  die  acocpQoGvvr}  im  Gegen- 
satz  zur  ccKoknaia  entsteht.  Die  vierte  Tugend ,  die  öiKaioavvi], 
welche  in  dem  richtigen  Verhältnisse  aller  jener  Momente  besteht, 
kann  deshalb  die  formelle,  sie  kann  aber  auch  die  allumfassende 
Tugend  genannt  werden,  wie  denn  im  Staat  die  Ethik  sich  als 
die  Erforschung  des  Gerechten  ankündigt.  Dabei  ist  es  bei  jener 
Identification  von  Heiligkeit  und  Gerechtigkeit  kein  Widerspruch, 
wenn  dazwischen  z.  B.  im  Theaetet,  im  Phädros,  ja  im  Staate 
selbst  bei  Gelegenheit  der  Erziehung,  besonders  aber  in  den  Ge- 
setzen das  allergrösste  Gewicht  gerade  auf  jene,  und  die  mit  ihr 
zusammenfallende  Gottähnlichkeit  gelegt  wird. 

3.  Das  Weitere  aber  ist,  dass  P/afo  nicht  dabei  stehen  bleibt, 
das  System  der  Tugenden  an  dem  isolirten  Einzelwesen  darzu- 
stellen, sondern  sie  im  Staate,  wo  sie  im  vergrösserten  Maass- 
stabe-zu  sehn  sind,  betrachtet.  Der  Staat  ist  ihm  der  Mensch  im 
Grossen ,  und  der  Parallelismus  zwischen  seiner  Anthropologie  und 
seiner  Physiologie  des  Staates  zeigt  sich  überall.  Die  gesetzge- 
bende und  richtende  Thätigkeit  im  Staate  ist  ihm  ganz  dasselbe 
was  die  hygieinische  und  therapeutische  bei  der  Behandlung  des 
Menschen,  dort  wie  hier  handelt  es  sich  um  Schutz  der  Gesund- 
heit (Gerechtigkeit).  War  aber  der  Mensch  die  Welt  im  Kleinen, 
so  ergeben  sich  auch  die  Parallelen  zwischen  politischen  und  kos- 
mischen Verhältnissen  und  Gesetzen  von  selbst.  Die  ethischen 
und  politischen  Aufgaben  gehen  so  zusammen,  dass  einmal  nur 
die  Tugenden  der  Einzelnen  den  guten  Staat  erm()glichen ,  andrer- 
seits nur  der  gute  Staat  der  ganzen  Tugend  Spielraum  gibt  und 
sie  möglich  macht.  Das  sittliche  Leben  in  einem  guten  Staate  ist 
die  höchste  denkbare  Sittlichkeit.  Plafo  beginnt  seine  Untersu- 
chungen mit  der  Frage,  warum  (nicht  wie)  der  Staat  auch  nur 
als  Nothstaat  entsteht,  und  findet  den  Grund  in  den  verschiedenen 


V.  Platon.     Plato's  Ethik.     §.   79,  3.  4.  109 

Bedürfnissen,  welche  zu  einer  Theilung  der  Arbeit  und  darum  also, 
wenn  auch  in  minimo.  schon  dazu  führen,  dass  Jeder  seine  Stelle 
einnehme  und  das  ihm  Zukommende  thue,  worin  eben  die  Gerech- 
tigkeit besteht.  Viel  mehr  aber  als  in  dem  Nothstaat  realisirt  sich 
die  Gerechtigkeit  in  dem  organischen  f Vernunft-)  Staat,  der  wie 
ein  einziger  gerechter  Mann  erscheint,  indem  der  Dreihcit  der 
Seelenfunctionen  die  drei  Stände  (Nähr-,  Wehr-  und  Leit-  oder 
Lehrstand)  entsprechen,  deren  Gerechtigkeit  sich  so  zeigt,  dass 
der  erstere  besonders  die  Mässigung,  der  zweite  die^  Tapferkeit, 
der  dritte  die  Weisheit  repräsentirt.  Nicht  nur  die  persönlichen 
Verhältnisse  und  Erfahrungen  des  Pinto,  sondern  auch  seine  Me- 
taphysik ,  deren  Summe  war ,  dass  das  Einzelne  werthlos ,  mussten 
ihn  zu  einer  antidemokratischen  Politik  führen.  Dem  gemäss  be- 
stimmt er  die  Aristokratie  als  die  allein  vernünftige  Verfassung 
des  Staates ,  wobei  es  ihm  aber  als  ein  unwesentlicher  Unterschied 
erscheint ,  ob  derselbe  eine  monarchische  Spitze  hat ,  ob  nicht. 

4.  Je  mehr  Pinto  einsah,  dass  an  dem  Egoismus  der  parti- 
cularen  Interessen  Athen  zu  Grunde  ging,  um  sjo  mehr  schien  es 
ihm  nothwendig  diesem  seine  Quellen  abzuschneiden ,  und  Einrich- 
tungen zu  ersinnen  bei  denen  die  Menschen  gewöhnt  würden,  sich 
über  die  Ganzheit,  deren  Glieder  sie  sind,  zu  vergessen.  Zu  dem 
Letzteren  schien  das  Aufwachsen  in  ganz  bestimmten  Ständen, 
wobei  das  Kastenw^esen  nichthellenischer  Völker  vielleicht  nicht 
ohne  Einfluss  blieb,  obgleich  bei  Pinto  nicht  die  Geburt  sondern 
die,  das  Talent  berücksichtigende,  Regierung  den  Stand  des  Kin- 
des bestimmt,  ein  gutes  Mittel  zu  sej'n.  Das  Erstere  wieder  schien 
am  Sichersten  erreicht  zu  werden,  wenn  alles  Mein  und  Dein,  da- 
her das  Privateigenthum,  die  Privathäuslichkeit,  das  exclusive 
Eigenthum  an  Weib  und  Kind  u.  s.  w.  bei  den  activen  Bürgern, 
den  Vertheidigeni  und  den  Wächtern  des  Staates,  aufgehoben 
wird.  Dies  sind  die  leitenden  Gesichtspunkte  bei  seinen,  schon 
damals  von  Vielen  verlachten  Vorschlägen,  von  denen  übrigens 
keiner  rein  aus  der  Luft  gegi'iffen  ist,  sondeiii  zu  denen  er  An- 
näherungen in  der  Verfassung  fand,  die  er  überhaupt,  ohne  ihre 
Mängel  zu  verkennen,  am  höchsten  stellte,  in  der  Spartanischen. 
Da  gab  es  Heloten  und  Periökeu  zu  denen  er  seine  Arbeiter  macht, 
da  gab  es  Speisegenossenschaften,  da  gab  es  mehr  gelockerte  Ehen, 
da  wurden  die  Kinder  früh  ganz  Eigenthum  des  Staates,  da  gab 
es  ursprünglich  ein  Verbot  des  Geldes  u.  s.  w.  Alles  dies  wird 
nun  mit,  an  Ucbertreibung  streifender,  Consequenz  durchgeführt 
und,  dem  eingerissenen  Egoismus  gegenüber,  gefordert  dass  der 
Mensch  lediglich  Bürger  sey.    Da  dies  nui-  dort  geschehen  wird, 


110  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

WO  die  Liebe  zum  Wahren  (Guten)  die  durchdringt,  die  au  der 
Spitze  des  Staates  stehn,  so  ist  die  Erziehung  dieser,  der  Wäch- 
ter, ein  Hauptpunkt  in  der  Politik  Plaf.o\s.  Mit  der  Musik  beginnt 
dieselbe,  die  Gymnastik  folgt  ihr  erst  nach.  Daran  schliesst  sich 
die  Mathematik  in  allen  ihren  Theilen.  Endlich  im  dreissigsten 
Jahre  erfolgt  die  Einführung  in  die  Dialektik,  durch  welche  ge- 
schult die  Fünfzigjährigen  in  die  Staatsregieruug  eingreifen ,  nicht 
aus  Lust  sondern  weil  das  Wohl  des  Staates  dieses  fordert.  Al- 
les, was  irgend  wie  die  Begierden  und  Leidenschaften  aufregt,  muss 
aus  der  Erziehung  entfernt  werden,  daher  die  dramatischen  Auf- 
führungen und  eben  so  die  Erzählung  der  Götterfabeln ,  aus  wel- 
chen die  Dramen  gebildet  wurden.  Wie  ein  Staat,  in  dem  die 
Philosophen  herrschen,  sich  im  Frieden  gestaltet,  wie  er  die  grösste 
Gerechtigkeit  und  Glückseligkeit  vereint,  das  hatte  P/nio  in  sei- 
nem „Staate"  gezeigt;  der,  Bruchstück  gebliebene  „Kritias" 
sollte  an  dem  Beispiel  Athens  in  einer  fingirten  Urzeit  zeigen,  wie 
ein  solcher  Staat  auch  im  Kriege  sich  bewährt,  und  einen  viel 
grösseren  (Atlantis)  überwindet ,  in  dem  mehr  orientahsche  Pracht 
und  Sinnlichkeit  herrscht. 

5.  Pldto  sieht  sehr  gut  ein,  dass  eine  Aristokratie  nur  mög- 
lich ist  bei  einer  geringen  Ausdehnung  des  Staats.  Er  verlangt 
daher  dass  die  Wächter  nicht  nur  durch  ihre  Einwirkung  bei  den 
Eheschliessungen  die  VortreiTlichkeit ,  sondern  durch  Ehe-  und 
andere  Verbote  die  Zahl  der  Geburten  controlliren.  Abgesehn  von 
mathematischen  Gründen,  welche  bei  Gelegenheit  der  sprüchwört- 
lich gewordenen  schwierigen  Platonischen  Zahlen  angedeutet  wer- 
den (vgl.  Fries),  scheint  ihm  nach  den  Gesetzen  die  Zahl  5040 
die  beste  für  die  Hausstände  zu  seyn ,  deren  fünf  und  dreissig  eine 
(PQaTQia,  von  diesen  wieder  zwölf  eine  (pvkrj  bilden  würden.  Aus 
zwölf  Phylen  bestünde  dann  der  Staat.  Die  Vernachlässigung  der 
nothwendigen  Rücksichten  auf  die  normale  Vergrösserung  des  Staa- 
tes u.  dgl. ,  lässt  auch  den  besten  Staat  entarten,  und  neben  der 
ausführlichen  Physiologie  des  Staates  gibt  Plato  auch  eine  kurze 
Pathologie  desselben:  die  Entartungen  des  Staates  entsprechen 
ganz  den  unsittlichen  Zuständen  des  Einzelnen.  Dem  leidenschaft- 
hch  Ehrgeizigen  entspricht  die  Oligarchie ,  in  der  die  Reichen  herr- 
schen ;  dem  von  Begierden  hin  und  her  Gerissenen  die  Demokratie 
mit  ihrer  Gleichheit  und  ihrem  blossen  Schein  der  Freiheit.  End- 
lich wie  bei  dem  ayJXaaTog  sich  endlich  eine  einzige  Begierde  des 
ganzen  Menschen  bemächtigt,  so  endet  überall  die  Demokratie  in 
der  Tyrannis ,  der  sclilechtesten  Staatsform ,  wie  das  aristokratische 
Königthum  die  beste  gewiesen  war. 


V.  Piaton.     Plato's  Ethik.     §.   79.  6.  111 

6.  Und  doch  hat  gerade  die  schlimmste  aller  Entartungen  des 
Staates,  die  Gewaltherrschaft,  etwas  dem  P/a/o  AYillkommnes.  So 
wenig  er  nämlich  zugibt,  dass  sein  Staat  absolut  unausführbar,  so 
sieht  er  doch  ein ,  dass  der  gegenwärtige  Zustand  Athens  die  Be- 
dingungen zu  seiner  Verwirklichung  nicht  darbietet.  Ein  neues 
Geschlecht,  erzogen  fern  von  der  gegenwärtigen  Generation,  wäre 
allein  fällig,  einer  Verfassung,  wie  sie  Phito  sich  denkt,  sich  frei- 
willig zu  unterwerfen.  Da  aber  um  in  eine  solche  Erziehung  ihrer 
Kinder  zu  wiUigen,  die  heutige  Generation  vernünftig  schon  seyn 
müsste,  so  scheint  aus  diesem  Cirkel  nur  das  herauszuhelfen,  dass 
ein  weisheitsliebender  Gewaltherrscher  alle  diese  Eim'ichtungen  mit 
Gewalt  einführte.  Vielleicht  schwebte  dem  Plato  vor,  was  Pisi- 
siratos  für  die  Solonische  Verfassung  geworden  war,  als  er  den 
Versuch  machte,  den  jüngeren  Dloiufsios  der  Weisheit  zu  gewin- 
nen. Das  Fehlschlagen  dieses  Versuchs  Hess  ihn  nicht  an  der 
Ausführbarkeit  seiner  Vorschläge  verzweifeln.  Dass  sie,  auch  ohne 
diesen  Tyrannen  als  deus  ex  machina,  den  gegebenen  Verhältnis- 
sen angepasst  werden  könnten,  das  sollten  wohl  die  Werke  dar- 
thun,  die  später  als  der  Staat  sey  es  geschrieben,  sey  es  entwor- 
fen wurden.  In  dem  an  den  Kritias  sich  anschliessenden  Her- 
mokrates  sollte  vielleicht  gezeigt  werden,  dass  mindestens  in 
dorisch  organisirten  Staaten,  wie  die  durch  Hermohraies  verbun- 
denen sicilischen  Städte  waren,  durch  weise  Reformen  das  Ziel 
eriTeicht  werden  könne.  Und  als  habe  Plato,  je  älter  er  w^urde 
um  so  mehr  gewünscht,  die  Keime  zum  Besseren,  die  in  Sicilien 
auszustreuen  er  nicht  mehr  hoffen  durfte,  in  grösserer  Nähe  auf- 
gehn  zu  sehn,  macht  er  endlich  in  den  Gesetzen  den  Versuch 
zu  zeigen,  dass  selbst  in  seiner  so  verdorbenen  Zeit,  wenn  bei 
Gründung  einer  dorischen  Colonie  zugleich  Rücksicht  genommen 
werde  auf  attische  Bildung,  ein  Staat  entstehen  könne,  der  zwar 
nicht  der  in  der  Rep.  geschilderte  Vernunftstaat  seyn  werde,  wohl 
aber  der  zw^eitl^este ,  ein  Gesetzstaat  nämlich,  in  dem  gute  Gesetze 
die  Stelle  der,  das  Gesetz  unnütz  machenden  philosopliischen  Herr- 
scher, vertreten.  Die  Nachgiebigkeit  gegen  die  schlechte  Wirk- 
lichkeit, die  sich  in  der  Schilderung  dieses  Gesetzstaates  zeigt, 
und  die  zu  ihrer  nothwendigen  Folge  eine  populär  reflectirende, 
zum  gemeinen  Bewusstseyn  sich  herablassende  Darstellung  hat, 
ist  nicht  nur  als  eine,  durch  Pinto' s  Erfahrungen  auf  dem  politi- 
schen Gebiete  bewirkte  und  darum  auf  dieses  Gebiet  beschränkte, 
anzusehn.  Vielmehr  geht  sie  Hand  in  Hand  damit,  dass  er  im- 
mer mehr  die  Unmöglichkeit  einsah  auf  rein  dialektischem  Wege 
zu  den  einzelnen  Ideen  und  von  diesen  zu  den  Dingen  zu  gelangen. 


112  Alte  Philosophie      Zweite  Periode  (Glanz) 

Das  Verlangen,  die  Kluft  zwischen  dem  Idealen  und  Realen  zu 
füllen,  das  ihn  dahin  bringt  bei  der  in  der  Siävoia  wurzelnden 
Mathematik  Anlehen  zu  machen,  lässt  ihn  auch  hier  seine  Anfor- 
derungen herabstimmen.  Was  die  Gesetze  im  Vergleich  zur  Re- 
publik vor  Allem  bezeichnet ,  ist  eine  trübe  oft  an  Bitterkeit  strei- 
fende Weltansicht,  die  sich  zuletzt  sogar  zu  der,  freilich  nur  kurz 
angedeuteten,  Annahme  einer  bösen  Weltseele,  d.  h.  einer  neben 
der  die  Welt  beherrschenden  Ordnung  Alles  verwirrenden  Unord- 
nung, verirrt.  Das  Misstrauen  an  der  Ausführbarkeit  der  Ideen, 
die  der  Athenische  Gesetzgeber  (Philo)  dem  Kretenser  und  La- 
kedämonier  entwickelt,  erzeugt  diese  Stimmung.  Und  doch  hat 
der  Gesetzgeber  hier  schon  auf  Vieles  verzichtet ,  was  er  in  der 
Republik  noch  gefordert  hatte.  Die  Güter-  und  Weibergemeinschaft 
fehlt;  es  fehlt  die  an  Kasten  erinnernde  Trennung  der  Stände,  die 
hier  durch  eine  auf  Census  beruhende  Vier- Klassen -Eintheilung 
vertreten  wird.  Anderes ,  das  bei  einer  besseren  Ansicht  von  den 
Menschen  er  von  ihnen  erwartet  hätte,  wie  die  Theilnahme  der 
höheren  Klassen  an  den  Wahlen ,  findet  er  nothwendig  durch  An- 
drohung von  Strafen  dem  fingirten  Staate  sicher  zu  stellen.  Ueber- 
haupt  wird  eine  solche  Masse  von  Gesetzen  gegeben,  dass  es  er- 
sichtlich ist,  wie  weniges  Pluto  glaubt  der  Genialität  der  Regie- 
renden überlassen  zu  dürfen. 

7.  Aber  selbst  in  den  Stimmungen,  in  welchen  das  resignirende 
Einschiebsel  des  neunten  Buches  der  Republik  oder  in  welchen  die 
Gesetze  geschrieben  wurden,  kommt  Plaio  nicht  zu  der  entsagen- 
den Verzweiflung,  die  mit  dem  Glaukos  im  zweiten  Buche  des 
Staats  als  Regel  ausspricht,  dass  die  Ungerechtigkeit  zum  Wohl- 
seyn  führe,  der  ganz  Gerechte  aber  nach  Misshandlungen  aller  Art 
auf  den  Kreuzestod  gefasst  seyn  müsse.  Sondern  den  Missklang 
zwischen  dem  was  seyn  soll  und  was  ist,  löst  ihm  die,  nachdem 
Tode  zu  erwartende ,  Vergeltung.  Die  Möglichkeit  derselben  stand 
ihm  durch  seinen  Unsterblichkeitsglauben  fest.  Umgekehrt  aber 
wird,  wie  später  bei  Cicero  und  bei  Kant,  die  Nothwendigkeit 
einer  Vergeltung  jenseits  ihm  zu  einem  neuen  Beweise  für  die  Un- 
sterblichkeit, welche  in  der  Republik  besonders  so  begründet  wird 
dass,  wenn  selbst  die  Krankheit  und  das  Verderben  der  Seele 
(das  Böse)  sie  nicht  zu  Grunde  richtet,  dies  durch  Krankheit  und 
Verderben  eines  Anderen,  des  Leibes,  noch  weniger  geschehen 
könne.  Ausser  der  Belohnung  also ,  die  in  der  Tugend  selbst  liegt, 
wodurch  es  unmöglich  wird  dass  der  Tugendhafte  je  ganz  elend 
sey,  hat  sie  auch  die  Folge  dass,  wenn  der  neue  Kreislauf  des 
Lebens  beginnt,  der  wirküch  Tugendhafte  sich  das  Loos  erwählen 


V.  Piaton.     Plato's  Schule.     §.  80.  113 

wird,  welches  ihn  wahrhaft  fördert.  Dass  es  nicht  der  Götter 
sondern  des  Menschen  eigne  Schuld  ist,  die  über  ihn  dies  oder 
jenes  Loos  verhängte,  dies  dient  nicht  nur  zum  Trost  für  man- 
ches Missverhältniss ,  sondern  auch  zur  Erklärung  desselben.  Die 
gegenwärtige  Lage  des  Menschen  ist  seine  eigne  Wahl ,  die  er  dem 
gemäss  traf,  wozu  er  in  einem  früheren  Leben  geworden  war.  Die 
zweite  Hälfte  des  zehnten  Buchs  der  Republik  kann  als  der  erste 
Versuch  einer  Theodicee  bezeichnet  werden,  in  der  durch  die  be- 
hauptete Prä-  und  Postexistenz  der  Seelen  die  Gottheit  vor  allem 
Anschein  der  Ungerechtigkeit  so  wie  eines  willkührlichen  Eingi*ei- 
fens  in  die  Sphäre  der  Freiheit  sicher  gestellt  wird.  Der  Paral- 
lelismus der  natürlichen  und  sittlichen  Welt,  der  bei  Plato  sehr 
oft  hervortritt,  macht  hier  einer  wirklichen  Harmonie  Platz. 

Diog.   LaeH.  Lib.  111.      Rittpr  et  Preller  §.   244  —  280 

§.    80. 

Plato's  Schule. 
Als  Akademie  nach  dem  ersten  Lehrorte,  als  ältere  später 
wegen  des  Gegensatzes  zu  Modificationen  des  Piatonismus  bezeich- 
net, kam  nach  Pluto' s  eignem  Wunsclie  seine  Schule  unter  die 
Leitung  seines  Schwestersohnes  Spmisippos.  Sieben  Jahre  später 
übernahm  dieselbe  Xcnoliraies .  der  ihr  fünfzehn  Jahre  vorstand. 
Das  Hervortreten  der  Zahlenlehre,  dabei  ein  gewisser  gelehrter 
Zug ,  der  diesen  beiden  Männern  gemeinsam  ist,  würde,  wenn  man 
mehr  von  PUiU/s  mündlichen  Vorträgen  namentlich  aus  seiner 
letzten  Zeit  wüsste,  vielleicht  weniger  als  Abweichung  von  ihm 
erscheinen ,  als  wenn  man  bloss  an  seine  Dialogen  denkt.  Die  Ein- 
theilung  der  Philosophie  in  Dialektik,  Physik  und  Ethik,  die  dem 
Xenokrntes  zugeschrieben  wird ,  liegt  bei  dem  Platonischen  Systeme 
so  nahe,  dass  man  kaum  glauben  kann,  dass  Plato  sie  nicht  selbst 
ausdrücklich  sollte  angegeben  haben.  Wenigstens  einen  grossen 
Fund  wird  man  im  entgegengesetzten  Falle  kaum  darin  finden  dür- 
fen. Die  Annahme  eines  Neutralen  zwischen  dem  Guten  und  Bö- 
sen weist  auf  einen  besonnenen,  nicht  mit  jeder  Eintheilung  zufrie- 
denen Mann,  wie  ihn  schon  der  „des  Sporns  bedürftige"  Schüler 
verhiess.  Ausser  diesen  beiden  sind  Uerahluhs  aus  Pontus,  Pi.i- 
lippos  aus  Opus,  der  Herausgeber  der  Platonischen  Gesetze  und 
Verfasser  der  Epinomis,  Hestiüos  aus  Perinth  und  Eudo.cos  aus 
Knidos  als  mündliche  Schüler  des  Plato  zu  nennen.  Polemnn,  der 
dem  Xenokrafes  in  der  Leitung  der  Akademie  folgte ,  Krates  und 
Krantor  gehören  schon  der  folgenden  Generation  an,  die  durch 
Xenokrafes  gebildet  war.  Schüler  des  Krantor  war  der  Gründer 
der  neueren  Akademie  Arkesilaos  (s.  §.  101). 

Diog.  Laert.  IV,   eap.   1—5.     Bitter  et  Preller  %    281—292. 
Erdmaon,  Oesch.  d.  Philo«.   1.  Q 


114  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

§.  81. 

Was  der  griechische  Geist  der  Menschheit  für  alle  Zeiten  über- 
liefert hat,  der  Sinn  für  Schönheit  und  Wissenschaft,  das  concen- 
trirt  sich  mehr  als  in  irgend  Einem  in  Plalo.  Der  Platonismiis 
ist  die  griechischste  aller  Erscheinungen,  indem  er  alle  bisherige 
Philosophie  in  sich  aufgenommen  hat,  und  also  nicht,  wie  die  io- 
nische oder  eleatische  Lehre,  eine  bestimmte  Stammeigenthümlich- 
keit,  sondern  das  gesamnite  Griechenthum  in  sich  abspiegelt.  Eben 
darum  kann  er  auch  erst  dort  auftreten ,  wo  das  Leben  nicht  nur 
in  den  Colonien  loniens  oder  Grossgriechenlands,  sondern  wo  das 
frische  Leben  Griechenlands  überhaupt  welkt  und  erstirbt.  Alle 
Sehnsucht  nach  der  vergangenen  Herrlichkeit ,  die  wie  eine  ele- 
gische Klage  aus  Plaids  Schriften  herausklingt,  kann  das  Rad 
des  Schicksals  nicht  auflialten.  Griechenlands  Zeit  ist  abgelaufen. 
Seiner  Hand  das  Weltscepter  zu  entwinden  und  so  den  üebergang 
desselben  in  die  Hände  Rom's  zu  vermitteln,  dazu  war  die  ephe- 
mere Herrschaft  eines  Volks  bestimmt,  das,  griechisch  und  doch 
so  ungriechisch,  den  Römern  ihr  kommendes  Weltreich  vorgeträumt 
hat.  Philipp,  der  den  Griechen  den  Ruhm  der  Unbesiegbarkeit 
entriss,  sein  grösserer  Sohn  der,  indem  er  die  Schätze  griechi- 
scher Bildung  dem  Orient  preis  gibt,  das  wahre  Palladium  Grie- 
chenlands, das  Bewusstseyn,  die  geistige  Elite  zu  seyn,  den  Grie- 
chen raubt,  sie  l)eide  haben  dem  Griechenthum  den  Todesstoss 
versetzt.  Einer  Zeit ,  in  der  dies  neue  Princip  zur  Geltung  kommt, 
kann  die  Weltformel  eines  Philosophen  nicht  mehr  genügen,  der 
einen  durch  seine  Kleinheit  grossen  Staat  träumt,  sie  bedarf  eines 
solchen,  der  einen  König  zu  erziehen  vermag,  zu  dessen  Füssen 
drei  Welttheile  liegen,  der  selbst,  wie  sein  Zögling  den  Orient 
nicht  zu  gering  achtet  um  in  ihm  zu  residiren,  so  Nichts  zu  schlecht 
findet  um  es  zu  erforschen,  der  das  Erobern  und  Aufliäufen  aller 
Schätze  des  Wissens  nicht  für  einen  Raub  an  philosophischer  Ge- 
nialität hält.  Der  dichterisch  schaffende  Plato  muss  von  dem 
emsig  sammelnden  Aristoteles  abgelöst  werden. 

§■  82. 

Auch  hier  aber  muss,  neben  der  welthistorischen  Nothwen- 
digkeit  eines  neuen  philosophischen  Systems ,  aus  dem  Piatonismus 
selbst  dargethan  werden,  dass  über  ihn  hinaus-  und  zwar  zum 
Aristotelismus  fortgegangen  werden  müsse.  Ersteres  ist  geleistet 
sobald  gezeigt  ward,  dass  die  Forderungen,  die  Plato  selbst  an 
das  wahre  System  stellt,  von  ihm  nicht  erfüllt  wurden.  Letzteres 
wenn  sich  zeigen  sollte,  dass  Aristoteles  sie  mehr  erfüllt.  Im 
Programm  zu  seinen  dialektischen  Untersuchungen  verspricht  Plato, 


VI.  Aristoteles.     Leben  des  Aristoteles.     §.  83.  115 

Über  alle  Einseitigkeiten,  insbesondere  über  den  Gegensatz  der 
Physiologen  und  Metaphysiker  hinauszugehn ,  die  er  als  Anhänger 
des  Vielen  und  Einen  bezeichnet.  Wenn  er  nun  mit  den  Reprä- 
sentanten der  einen  Einseitigkeit,  den  Eleaten,  nicht  einen  der 
anderen,  z.B.  den  Jndiimeii  es .  zu  vermitteln  sucht,  sondernden 
IJeruld'd,  dem  nach  Plato\s  eignem  Vorgange  (s.  oben  §.  41)  die 
Stelle  eines  metaphysischen  Physiologen  angewiesen  wurde ,  so  wäre 
selbst  wenn  dem  Plato  die  Vermittelung  gelungen  wäre,  das  me- 
taphysische Moment  bevorzugt,  das  physiologische  verkürzt  wor- 
den. Nun  aber  kann  ausserdem  nicht  geleugnet  werden,  dass  in 
der  Verschmelzung  eleatischer  und  heraklitischer  Lehren  das  elea- 
tische  Element  von  PUdo  viel  mehr  betont  wird,  so  dass  ganz 
wie  bei  den  Eleaten  die  Materie  das  Nichtseyeude ,  darum  aber 
auch  die  Physik  wenn  auch  nicht  geradezu  Lehre,  vom  Schein,  so 
doch  ein  wahrscheinlicher  Mythus  l)leibt  u.  s.  w.  Was  Wunder 
wenn  Arisiotelcs .  der  die  Eleaten  nicht  mag,  bei  dem  die  Physik 
Lieblingswissenschaft  isif  und  der  darin  den  Amiximandros  und 
Ih'i'ti'nUl  so  ausbeutet,  dsi^s  Scf/leiej-mttclcr  den  Vorwurf  der  Pla- 
giate an  dem  Letzteren  auch  auf  den  Ersteren  hätte  ausdehnen 
können ,  wenn  dieser  auf  die  Platonische  Lehre  von  den  jenseitigen 
Ideen  als  auf  eine  Einseitigkeit  herabblickt,  und  mit  denselben 
Worten  sie  beurtheilt,  mit  denen  Pluto  sich  über  die  einseitig- 
eleatischen  Megariker  geäussert  hatte. , 

VI. 

Aristoteles. 

§.  83. 
Leben  des  Aristoteles. 

'ApiOTOTEÄou?  ßio?  xar' 'AfJL.uoviov  (-4nt»iomz  vita  Aristotelis).  'ApiaroTeXoy;  ßio; 
xal  G'JYYpafXfJiaTa  auToO  ("Anonymi  vita  Aristotelis).  (Beide  u.  A.  in  der  Didotschen 
Ausgabe  des  Diog.  Laert.)  Francisci  Pati-itü  Discussiouum  peripateticariim  tomi  I^' 
Basil.   1581.  Fol.     Ad.  Stahr  Aristotelia.  HaHe  1830. 

Aristoteles,  des  xVj/owmcAos  Sohn ,  ist  01.99,  1  (385  v.  Chr.) 
in  Stageiros,  später  Stageira  genannt,  einer  thracischen  nachmals 
macedonischen  Stadt  geboren;  wie  sein  Vater  so  war  auch  sein 
Grossvater,  Maehaon,  Arzt,  und  dieser  Beruf  mag,  wie  die  Sage 
von  der  Abstammung  vom  Ashlepios  wahrscheinlich  macht,  längst 
in  der  Familie  sich  fortgeerbt  haben.  Macht  dies  die  frühe  Nei- 
gung zur  Naturwissenschaft  erklärlich,  so  wieder  der  Umstand,  dass 
yiliomac/tos  Leibarzt  bei  Pliilipps  Vater  gewesen  war,  die  spätere 
Verbindung  mit  dem  macedonischen  Königshause.  Früh  vaterlos 
kam  der  17jährige  Aristoteles  zu  dem  45  Jahre  älteren  Plato,  der 


116  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

in  seinen  Vorträgen  damals  wohl  stark  pythagorisirte.  Die  spä- 
tere Polemik  des  Aristoteles  gegen  die  Platonische  Lehre,  eine 
Fortsetzung  des  schon  frühe  gezeigten  Hanges ,  weiter  zu  gehn  als 
der  Lehrer,  der  den  „Zügel"  für  nothwendig  hielt,  und  die  Veran- 
lassung gab,  dass  Aristote/es  so  oft  ein  undankbarer  Schüler  ge- 
nannt worden  ist,  hat  meistens  die  Lehre  P/atr/s  zum  Gegenstande 
wie  sie  in  diesen  Vorträgen,  nicht  wie  sie  in  den  Schriften  Pluto' s, 
entwickelt  wurde.  Nur  in  der  Rhetorik,  im  Gegensatz  zu  Isohra- 
tes ,  ist  Aristoteles  zu  Pinto' s  Lebzeiten  Lehrer  gewesen.  Mit 
Xenokrates  ging  er  nach  Pluto" s  Tode  zum  Hermeias.  Tyrannen 
von  Atarneus,  dessen  Brudeitochter  später  seine  Frau  ward.  In 
Mytilene,  wohin  er  nach  dem  Tode  des  Hcrmeius  gegangen  war, 
erreichte  ihn  die  Aufforderung  Philipps .  die  Erziehung  des  drei- 
zehnjährigen Ale.rnndcr  zu  übernehmen.  Vier  Jahre  war  Aristo- 
teles hier  mehr  als  ein  gewöhnlicher  Prinzen- Erzieher,  und  blieb 
dann  noch  weitere  vier  Jahre  in  Macedonien,  da,  wenn  auch  seine 
Xaturgeschichte  nicht  gerade  bestätigt  (Hss  sein  Zögling  aus  dem 
Orient  ihm  seltne  Thiere  zugeschickt  habe,  das  Verhältniss  mit 
ihm  sehr  gut  war.  Erst  als  Kftllisthenes .  des  -Aristoteles  Neffe, 
als  Anhänger  der  altgriechischen  Partei  in  Baktra  ein  Opfer  des 
königlichen  Misstrauens  geworden  war,  scheint  es  sich  getrübt  zu 
haben,  und  da  vertauscht  Aristoteles  seinen  Wohnsitz  in  Macedo- 
nien mit  dem  in  Athen ,  wo  er  dem  Lyceum  oder  der  peripateti- 
schen  Schule  vorsteht,  die  den  ersten  Namen  von  dem  Tempel 
des  Apollon  Lykeios,  vor  welchem,  den  zweiten  von  den  Säulen- 
hallen desselben  erhalten  hat,  in  welchen  Aristoteles  seine  Vor- 
träge gehalten  haben  soll.  Nur  dreizehn  Jahre  dauerte  dies.  Als 
Eurymedon.  zur  Freude  der  Gegner  Macedoniens,  mit  einer  An- 
klage gegen  Aristoteles  auftrat,  entzog  dieser  durch  seine  Entfer- 
nung von  Athen  dieser  Stadt  die  Gelegenheit  „sich  zum  zweiten 
Male  an  der  Philosophie  zu  versündigen."  Bald  darauf  ist  er  in 
Chalkis  Ol.  114,  2  gestorben. 

§.  84 
Schriften  des  Aristoteles. 
Brandü    De  perditis  Aristotelis  de  ideis  libris.    Bounae  1823.     Ders.    (Ueber  d. 
Schicks,  der  Arist.  Sehr.)  im  Rhein.  Mns.   1827.  I.  p.  236  flf. 

Der  Gegensatz  z\vischeu  Pluto  und  Aristoteles ,  der,  schon 
im  Aeusseren  sich  ankündigend,  in  Gemüths-  und  Denkweise  und 
eben  so  im  Styl  und  der  Behandlung  wissenschafthcher  Probleme 
sichtbar  ist,  zeigt  siech  auch  darin  dass,  wie  alle  Schriften  Plato's 
exoterische,  d.  h.  für  ein  grösseres  Publikum  berechnete  Kunst- 
werke, so  alle  Aristotelischen  esoterische,  d.h.  Werke  der  Schule 


VI.  Aristoteles.     Schriften  des  Aristoteles.     §.  84.  117 

sind.  (Trotz  des  rühmenden  Zeugnisses ,  das  Cicero  den  Dialogen 
des  Aristoteles  zollt,  und  der  meisterhaften  Vertheidigung  dessel- 
ben durch  Bernays  [Die  Dialoge  des  Aristoteles.  Berlin  1863],  war 
es  vielleicht  keine  Ungerechtigkeit  des  Schicksals  dass  sie  verloren 
sind.)  Vieles  von  dem,  ^Yas  erhalten  ist,  ward  wohl  während  sei- 
ner Vorträge  tachygraphisch  niedergeschrieben  und  hat  dann  bei 
einem  neuen  Cursus  als  Leitfaden  gedient,  woraus  sich  die  sich 
kreuzenden  Rückweisungen  erklären  Hessen.  Der  Zustand  in  dem 
die  Aristotehschen  Schriften  zu  uns  gekommen,  ist  zum  Theil 
schlimm  genug,  doch  aber  besser  als  dass  die,  von  Straho  erzählte 
Geschichte  vom  Schicksale  der  Aristotelischen  Manuscripte  von  dem 
Exemplare  richtig  seyn  sollte,  welchem  unsere  Ausgaben  nachge- 
bildet wurden.  Selbst  die  Metaphysik,  von  der  Glaser  jene  Er- 
zählimg  will  gelten  lassen,  würde  dann  wohl  einen  noch  traurigem 
Anbhck  gewähren,  als  jetzt.  Wie  vieles  verloren  gegangen,  hat 
aus  alten  Verzeichnissen  und  anderen  Anzeichen  Braiidis  gezeigt. 
Eine  Anordnung  der  erhaltenen  Schriften  nach  chronologischen  Ge- 
sichtspunkten ist  unmöglich,  eine  nach  systematischer  Ordnung  die 
einzig  durchführbare.  Die  unrichtige  Stelle,  welche  die  Metaphysik 
in  allen  Ausgaben  erhalten  hat ,  ist ,  da  sie  dem  Buche  seinen  Na- 
men gegeben  hat,  nicht  mehr  zu  ändern.  Von  Ausgaben  ist  als 
die  Princeps  die  Aldina  Venet.  1495—98  5  Bde.  Fol,  ferner  die 
griechisch  -  lateinische  Pariser  vom  J.  1619  in  2Bdn.  Fol. ,  die  ins 
Stocken  gerathene  von  Bul/le  (Zweibrücken  in  8'° ) ,  vor  allen  aber 
die  im  Auftrage  der  Berliner  Akademie  von  J.  Beller  und  Bran- 
dis*)  veranstaltete  (1831 — 35.  4  Bde.  in  4)  zu  nennen. 


*)  Da  die  beiden  ersten  Bände  der  Berliner  Ausgabe  des  Aristoteles .  ivelche 
den  griechischen  Text  enthalten  (der  dritte  enthält  eine  lateinische  Version,  der  vierte 
Auszüge  aus  den  älteren  Commentatoren) .  durchlaufende  Seitenzahl  haben  ,  so  kürzt 
es  die  Angabe  der  Belegstellen  ab ,  wenn  man  nach  dem  Vorgänge  Waitz's  und  An- 
derer nur  die  ^itenzahl  angibt.  Ein  vorausgeschicktes  Verzeichniss  sämmtlicher 
Aristotelischer  Schriften  nebst  der  Seitenzahl  derselben  in  der  genannten  Ausgabe, 
wie  es  hier  folgt ,  macht  es  dann  leicht ,  sogleich  aus  der  Seitenzahl  bei  einem  Citat 
zu  wissen  ,  welcher  Schrift  es  entnommen  ward.  1)  Das  später  sogenannte  Organen 
(p.  1  —  184)  enthält:  >taTT;Yopia'.  a  (Categoriae)  p.  1 — 15.  TztpX  'tp\xT,\da.^  a'  (de  interpre- 
tatione)  p.  17 — 24.  'AvaXuTtxa  S*  (Analytica  priora  et  posteriora)  (und  zwar  Kpi- 
T£pa  ß'  p.  24—70,  C(7T£pa  ß'  p.  71—100;.  ToTCtxa  b'  (Topica  VIUj  p.  100—164, 
Tiepl  ao9'.(3-uo3v  ikiyf^ui'i  a  (de  Sophisticis  elenchis)  p.  164 — 184.  Die  darauf  folgen- 
den 2)  physikalischen  Schriften  enthalten  :  9U(Jiy.i^  axpoaff'.;  3'  (Physica  auscultitio 
oder  auch  Physica  VIII)  p.  184—267,  r.tpi  oupavoy  S'  (de  coelo  IV)  p  268—313, 
T.zp\  YEvsaewc  xal  q>Sopäc  ß'  (de  gener.  et  corrupt.  II)  p.  314—338.  MeTSwpoXoytxa 
8'  (Meteorologica  IT)  p.  338—390,  -£pl  xo'a.uou  a  (de  mundo)  p.  391—401.  T:£p\  v|;u- 
X"n?  y'  (<^e  anima  111;  p.  402—435,  ;x£p\  aJa5r>i{ü?  xal  aia^T^TOüv.  7i£pl  .uvii.«.^?  xott 
otvaii.vTjO£(i);,    -£p\  ür:voü  xa\  £yPtQY2?=^-"?  >    ~^?^  iVü:r,»((i)v ,  Tt£p\  }ji,axpoß'.dTY]-o?  xa\ 


118  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

Aristoteles'    Lehre. 
Fr.  Biese  Die  Philosophie  des  Aristoteles.    Berlin  1835.  43.    2  Bde. 

§.85. 
Propädeutisches.  Gliederung  des  Systems. 
1.  Obgleich  die,  welche  den  Unterschied  zwischen  des  Pluto 
und  Aristoteles  Lehren  zu  einem  nur  formellen,  und  den  Letzte- 
ren zu  einem  blossen  Umarbeiter  machen,  viel  zu  weit  gehn,  so 
ist  doch  gegenüber  dem  entgegengesetzten  Extrem,  wonach  sie, 
wie  die  Repräsentanten  des  Ideahsmus  und  Realismus ,  des  Ratio- 
nalismus und  Empirismus,  einander  gegenüber  stelm  sollen,  jene 
einseitige  Ansicht  nicht  ausser  Acht  zu  lassen  und  es  thut  der 
Ehrfurcht  vor  Aristoteles  keinen  Al)bruch,  erleichtert  aber  das  Ver- 
ständniss  desselben,  wenn  an  mehr  Punkten  als  dies  gewöhnUch 
geschieht  nachgewiesen  wird,  dass  der  Philosoph,  dessen  nicht 
kleinster  Ruhm  es  ist ,  sehr  viel  gelernt  zu  haben ,  sehr  viel  gerade 
von  Pinto  gelernt  habe.  So  wird  gleich  anfänglich  auf  das  zurück- 
gewiesen werden  müssen  (s.  §.  76,  1),  wie  Plato  die  Philosophie 
abgegrenzt  hatte,  um  richtig  zu  würdigen,  wie  Aristoteles  hier 
verfährt.  Anknüpfend  an  das  Factum,  dass  der  Trieb  zu  wissen 
dem  Menschen  von  Natur  inwohiie,  zeigt  Aristoteles  (p.  980  ff.), 
dass  die  erste  Stufe  des  Wissens  die  Wahrnehmung  {cdG&iqGig)  sey, 
welche  es  mit  dem  Einzelnen  (x«^'  hMorov,  Pinto" s  xovro  oder  xoöz) 
zu  thun  habe.  Durch  wiederholte  Wahrnehmungen  und  das,  auf 
Erinnerung  beruhende,  Wiedererkennen  wird  daraus  die  Erfahrung 
{sfinsiQia,  welcher  Ausdruck  bei  Pinto  schon  vorkam).    Diese  hat 

ßpap[i(.dTTf]TO?  ,  TitpX  v£OTY]To;  xa\  YY^pw?»  ^£p^  Cwfj?  xa\  iaväiou ,  Ttept  avaTiMofjs 
(Parva  naturalia)  p.  436—486,  r.ipX  rd  Cwa  latopfai  (Historia  auimaliuni;  p.  486 — 638, 
TZzpX  ?wwv  fJLOptuv  S*  (de  partibus  animalium  IV)  p.  639—697,  Ktp\  ^w'uv  xivqaew; 
(de  motu  animalium)  p.  698 — 704  ,  ■rztpX  T:ops(ai;  ^w'uv  (de  incessu  animalium)  p. 
704 — 714,  Tztpl  C«(ov  Yeve'ae«?  i  (de  generatione  animalium  V)  p.  715 — 789.  Hier- 
auf folgen  im  2**^"  Bande  nach  einigen  kleineren  physikalischen  Abhandlungen  (K£p\ 
)^po)[j.ci(T(i)v ,  izzpX  äxouaTwv ,  <puaiOYvu;j.txa ,  ntpX  cpuTwv  ß' ,  TüepV  jaufjLaaiwv  axou- 
afJLQCTWV,  iJiYixavtxa)  p.  791—858,  TtpoßXY^jJ.'XTa  Xt)'  (Problemata  38)  p.  859—967, 
Ktp\  (XTo'[JLWV  yponxix(Z\  (de  iusecabilibus  lineis)  p.  968 — 972,  'Avsji.'»^''  ^sast?  y,yX 
Tzpo(Jr\yopioLt.  (ventorum  situs  et  appellationes)  p.  973.  Nach  Tztpl  Hsvo^dvou?,  Zti'vo)- 
vo?  xa\  FopYioi»  (de  Xenophane ,  Zenone  et  Gorgia)  p.  974—980  3)  Td  [XZTo.  tu 
(puatxd  v'  (Metaphysica  XIV)  p.  980 — 1093.  Hierauf  folgen  4)  die  ethischen  Schrif- 
ten p.  1094—1353  und  zwar  'HiJtxd  NtxojJidxeta  x'  (Ethica  ad  Nicomachum  X)  p. 
1094—1181,  'Hiixd  (J.EYdXa  ß'  (Magna  inoralia  II)  1181  —  1213,  'HtJtxd  Eu8Tfi[J.£tO! 
T)'  (Ethica  ad  Eudemum  VII)  p.  1213—1249  (das  4te ,  5te  und  Gte  Buch  fehlt),  r.EpX 
apertöv  xa\  xaxiwv  (de  virtutibus  et  vitiis)  p.  1249—1251.  IloXtnxd  i'  (Politica  VIII) 
p.  1252—1342,  O?X0V0fJLixd  ß'  (Oeconomica  II)  p.  1343—1353.  Hierzu  kommen  5)  die 
Schriften  über  Rhetorik  und  Poetik  :  Tepf)  pinTopixiQ  Y  (Rhetorica  III)  p.  1354—1420, 
'Pv]Top'.x-n  Kpo?  AX£'^av8pov  (Ehetorica  ad  Akxandruui)  p.  1420  —  1447,  TC£p\  toitqti- 
xy;?  (Poetica)  p.   1447  —  1462. 


VI.  Aristoteles.     Aristoteles'  Lehre.     Einleitendes.     §.  85,  l.  2.  119 

es  bereits  mit  einem  Allgemeinen  Kad-ökov  zu  thim  (p.  100),  ob- 
gleich verglichen  mit  dem  höheren  Allgemeinen  des  eigentlichen 
Wissens  der  Gegenstand  der  Erfahrung  wieder  ein  einzelner  ge- 
nannt werden  kann.  Der  Mangel  der  Erfahrung ,  den  sie  mit  der 
Wahrnehmung  theilt,  ist  dass  sie  nur  mit  dem  Thatbestande  (on), 
nicht  mit  den  Gründen  (Sia  ri)  zu  thun  hat.  Darum  geht  über 
beide  schon  die  Theorie ,  das  Verständniss  (Tsxvt]) ,  hinaus ,  welche 
ein  Wissen  um  das  Warum  und  darum  schon  Lehrfähigkeit  ent- 
hält. (Bei  diesem  ersten  Grade  des  Wissens  hatte  Pluto  immer 
an  den  Mathematiker  gedacht,  Aristoteles  denkt  mehr  an  den 
theoretisch  gebildeten  Arzt,  sonst  entspricht  seine  rixvrj  ziemlich 
der  Platonischen  Siavota.)  Bleibt  man  nun  bei  den  zuerst  gefun- 
denen Gründen  nicht  stehn,  sondern  sucht  und  findet  das  ihnen 
zu  Grunde  liegende,  die  Principien  (aQxc^i) ,  so  entsteht  dadurch 
eigentliches  Wissen  oder  Philosophie.  Aristoteles  macht  nämlich 
nicht,  wie  Plato ,  zwischen  aotpla  und  cpdoaoq^la  einen  Unterschied. 
Da  nun  vor  Allem  Princip  das  Allgemeine  ist ,  unter  welchem  Ari- 
stoteles sowol  das  Gemeinschaftliche  (xar«  nccvroe)  versteht,  als 
auch  den  schaffenden  Begriff  (das  kkO-'  avrö) ,  und  aus  Principien 
erkennen  so  viel  heisst  als:  dass  es  nicht  anders  seyn  kann,  so 
sind  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  die  eigentlichen  Kennzei- 
chen einer  philosophischen  Erkenntniss  (p.  88).  Wie  nach  Plato 
so  ist  auch  nach  Aristoteles  die  Verwunderung,  das  Gefühl  des 
Nichtwissens  und  Nichtverstehns,  der  Anfang  der  Philosophie  und 
die  Philosophie  das  Ende  von  jener.  Ist  aber  Verwunderung  ein 
unfreies  Verhalten,  so  die  philosophische  Erkenntniss  ein  freies, 
in  welchem  das  Wissende  nur  sich  weiss.  Gewisser  Massen  ist 
das  Erkennen  das  Erkannte,  und  der  voü?  selbst  die  vo^jt«  (p.  431. 
429).  Die  Philosophie  ist  aber  auch  noch  in  dem  andern  Sinne 
frei,  dass  sie  überhaupt  nicht  dient,  darum  auch  keinem  prakti- 
schen Zweck.  Darum  entsteht  sie  auch,  wie  Plato  das  von  der 
Geschichtschreibung  gesagt  hatte,  erst  dort,  wo  die  Menschen 
Müsse  haben.  Nur  um  des  Wissens  willen  forscht  die  Philosophie, 
darum  mag  es  nützlichere  Künste  geben,  aber  eine  bessere  nicht. 
Ja  man  muss  sie  eine  göttliche  nennen  in  dem  doppelten  Sinne, 
dass  die  Gottheit  sie  übt,  ^md  dass  sie  Gegenstand  derselben  ist. 
2:  Wie  Plato  so  grenzt  auch  Aristoteles  nicht  nur  den  philo- 
sophischen Standpunkt  gegen  den  unphilosophischen,  sondern  auch 
die  wahre  Philosophie  gegen  andere  philosophische  Ansichten  ab. 
Dabei  aber  hat  für  ihn  der  sophistische  Standpunkt,  als  längst 
(durch  Plato)  abgethan,  wenig  Interesse.  Er  behandelt  ihn  ver- 
ächtlich, sieht  in  dem  Sophisten  nur  einen  Geldmacher ,  in  seinen 


120  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

Fangschlüssen  nur  Täuschungen  u.  s.  w.    Eben  so  stehn  ihm  die 
kleineren  Sokratischen  Schulen   schon  so  fern,   dass  er  sie  wenig 
berücksichtigt.    Dagegen  ist  für  ihn  der  eigenthch  zu  bekämpfende 
Gegner  der  Platonische  Dialektiker.    Die  Dialektik  ist  ihm   keine 
unwahre,  wohl  aber  eine  untergeordnete  Kunst,  da  sie  nur  versucht 
was  die  Sophistik  zu  können  vorgibt,  die  Philosophie  hat  und  weiss 
(p.  1004).    Fast  mit  denselben  Worten,  mit  welchen  Plato  gegen 
die  Ueberhebung  der  Mathematik  gesprochen  hatte,   wirft  Aristo- 
teles der  Dialektik  vor ,  dass  sie  auf  Voraussetzungen  beruhe,  wäh- 
rend die  Philosophie  keine  mache,  dass  eben  darum  sie  nur  wahr- 
scheinlich mache,  überrede,  während  die  Philosophie  beweise  und 
überzeuge.    Darum  hat  es   die  Philosophie  mit  dem  Wissen  und 
der  Wahrheit ,  die  Dialektik  mit  der  Meinung  und  der  Wahrschein- 
lichkeit zu  thun   (p.  104).    Zur  Voruntersuchung  ist  sie  unerläss- 
lich,  aber  nur  dort  gehört  sie  hin ;  wenn  daher  bei  Pinto  dialektisch 
philosophiren  und  recht  philosophiren  gleichbedeutend  gewesen  war, 
so  setzt  Aristoteles  dLale/.riKcog  und  /.eväg  als  Synonyme.   Indem  sich 
also  Aristoteles  zu  der  Dialektik  beinahe  so  stellt  wie  Plato  sich  zu 
den  Sophisten,  oder  wenigstens  zu  den  Sokratikeru,  gestellt  hatte, 
ist  ihm  die  Philosophie  die  auf  die  Principieu,  also  auf  das  Allge- 
meine, gehende,  nicht  versuchende,  sondern  beweisende  Wissenschaft. 
3.   Was  die  Gliederung  des  Systems  betrifft,   so  kann  sowol 
die  Nachricht ,  dass  Aristoteles  die  Philosophie  in  theoretische  und 
praktische,  als  auch  die  andere,  dass  er  sie  in  Logik,  Physik  und 
Ethik  eingetheilt  habe,  sich  auf  seine  eignen  Aussprüche  berufen. 
Beide  vereinigen   sich  so ,  dass  die  erstere  dahin  erweitert  wird, 
dass  zu  jenen  beiden  Theilen  noch  die  poietische  Philosophie  hin- 
zutreten sollte  (p.  1025),   dass  aber  Aristoteles  von  der  theoreti- 
schen Pliilosophie ,  welche  die  ÖEoAoytx»)   (später  AoyiKrj  genannt) 

als  nQcorr],   die  (pvoiKrj   als  öevTi()C(   cpdoaorpicc  und  endlich  die   (i-a&rj- 

^aTiKri  enthalten  sollte  (p.  102G),  die  letztere  so  gut  wie  unbear- 
beitet gelassen  hat ,  dass  ein  Gleiches  von  dem  dritten  Haupttheil 
des  Systems  gilt,  der  das  noielv  betrachten  sollte,  und  dass  also 
jetzt  wirklich  alle  seine  Lehrsätze  entweder  logische  oder  physi- 
kalische oder  ethische  sind  (vgl.  p.  105).  In  keinen  dieser  drei 
Theile  passen  die  analytischen  Untersuchungen ,  welche  den  hohen 
Werth,  den  Aristoteles  auf  sie  legte,  nicht  verlieren,  wenn  man 
sie,  seinem  eignen  Winke  folgend  (p.  1005),  mit  seinen  Nachfol- 
gern als  unentbehrliches  Hülfsmittel  {oQynvov)  der  eigentlich  wis- 
senschaftlichen Untersuchungen  ansieht.  Sie  schhessen  sich  an  den 
eben  gemachten  Unterschied  des  sophistischen,  dialektischen  und 
apodeiktischen  Denkens  so  an,  dass  in  der  Schrift  von  den  Elenchen 


VI.  Aristoteles.    Die  analytischen  Untersuchungen  des  Aristoteles    §.  86,  i      121 

gezeigt  'VN'ird ,  vde  mit  den  Sophisten  umzuspringen  sey ,  in  den 
Topiken,  wie  man  zu  räsonniren  und  zu  disputiren  habe,  in  der 
Hermeneutik  endlich  und  den  beiden  Analytiken,  wie  sich  der  wis- 
senschaftliche Beweis  gestaltet.  Die  Schrift  über  die  Kategorien 
bahnt  dann  den  Uebergang  zu  den  Untersuchungen  der  Funda- 
mentalwissenschaft,  d.  h.  zu  denen,  welche  Aristoteles  schon  zur 
Philosophie  selbst  rechnet,  die  er  eben  darum  nicht  mehr  analy- 
tische nennt,  sondern  mit  anderen  Namen  bezeichnet,  unter  wel- 
chen auch  der  der  logischen  vorkommt. 

§.  86. 
Die  analytischen  Untersuchungen  des  Aristoteles. 

Aristotelis  Organon  ed.   Theod.    Waitz.    II  Voll.    Lips.   1844.  46.     C.  PranÜ  Ge- 
schichte der  Logik  im  Abendlaude.    Ir  Bd.    Leipz.  1855.   (2r   1861.) 

1.  ,Da  Aristoteles  das  Denken  und  Sprechen  nicht  so  trennt, 
wie  es  jetzt  geschieht,  bei  ihm  vielmehr  \6yoq  sowol  Gedanke  als 
Satz  heisst,  da  er  ferner  die  Gedanken  und  also  die  Wörter  (wie 

Philo   als   8t]X(öiicixn  so)    als    Ojuoiro^uar«  xav  TiQayiicircov    ansieht,    SO 

ist  es  erklärlich,  wie  die  Regeln,  welche  er  durch  Analysis  des 
Satzes  findet,  ihm  neben  der  grammatischen  Bedeutung  sogleich 
die  logische  bekommen ,  Normen  für  das  richtige  Denken  zu  seyu, 
endhch  aber  auch,  mit  mehr  oder  minder  Consequenz ,  als  Gesetze 
des  realen  Seyns  gelten.  Dieser  letzte  Gesichtspunkt  verschwindet 
zwar  nicht,  tritt  aber  sehr  gegen  die  beiden  anderen  zurück  in 
der  Schrift  Tteg]  iQ^rjviiag,  was  man,  anstatt  mit  de  interpretatione, 
besser  mit  de  enunciatione  wiedergegeben  hätte  (p.  16 — 24).  Mit 
wörtlichem  Anschluss  an  Pinto  definirt  Aristoteles,  nachdem  er 
das  Wort  als  eine  (pcavt]  Grj^iarriy.Ti]  Kaxa  6vv0i]Kij\'  bestimmt  und 
also  von  dem  blossen  Empfindungslaut  unterschieden  hat ,  den  Satz 
{Xoyog)  als  eine  Verbindung  von  Wörtern  [avunXoy.^  cpcoväv),  unter- 
scheidet dann  aber  sogleich  Sätze,  die  keine  Behauptung  enthal- 
ten (z.  B.  Bitten)  von  denen,  wo  dieses  Statt  findet  und  also  von 
Richtigkdt  und  Falschheit  die  Rede  seyn  kann.  Diese  letzteren 
nennt  er  Lrtheile  (A.oyoi  uTcocpavTinoi  oder  awoqxxvaeig ,  in  den  Ana- 
lytiken TiQoraaeig,  lat.  judicia) ,  und  zeigt  von  ihnen,  wie  vor  ihm 
Plato ,  dass  ein  solcher  Satz  nothwendig  aus  einem  Nomen  (övo^ia) 
und  Verbum  (o>},aa)  bestehe,  von  denen  jenes  das  vTcoy.du£i'ov  (sub- 
stans,  subjectum),  dieses  dagegen  das  xar?;yo()oi;(W£»'ov  (praedicatum) 
ausdrücke.  Dabei  wird  gezeigt,  dass  eine  wirkliche  Verbindung 
zwischen  beiden  nur  Statt  findet,  wenn  das  Verbum  eine  Tiräaig 
hat  d.  h.  flectirt  ist,  dass  aber  was  die  Flexionssylbe  andeutet 
auch  durch  ein  eignes  Wort  (tlvai)  vertreten  werden  kann ,  welches 
dann  nur  die  Zusammengehörigkeit  (6vyxHG9ai,  Copula)  jener  beiden 


122  Alte  Philosophie,     Zweite  Periode  (Glanz.) 

andeutet  uikI  eben  darum  eben  sowol  zum  ovoiia  als  zum  Qiifia  ge- 
hört (daher  später:  verbum  substantivum).  Besteht  das  Urtheil 
durch  die  Abtrennung  der  Copula  aus  drei  Wörtern ,  so  kann  das 
Prädicat  entweder  das  Subject  als  Theil  unter  sich  haben  und  wird 
dann  von  demselben  ausgesagt  als  von  dem  unter  ihm  Befassten 
(xa^'  imoKEiiisvov) ,  oder  es  kann  umgekehrt  etwas  angeben  was  in 
dem  Subjecte,  als  Substrate,  sich  findet  (ivvTcoKEiixha),  demselben 
inhärirt.  Es  ist  klar  dass  bei  jenen,  den  Subsumtionsurtheilen, 
Aristoteles  an  die  Fälle  denkt,  wo  das  Prädicat  ein  Hauptwort, 
bei  diesen ,  den  Inhärenzurtheilen ,  wo  es  ein  Eigenschaftswort  ist. 
Je  nachdem  in  einem  Urtheil  das  Prädicat  dem  Subject  zu-  oder 
abgesprochen  wird  (ein  KarriyoQ'rj^ia  xor«  oder  gtto  Tivog  Statt  findet), 
je  nachdem  ist  es  Koraqpafftg  oder  a7t6(paGi.g.  Jene  heisst  wohl  auch 
nQotaaig  Kari]yoQiKi}  (Judicium  positivum) ,  diese  GrEQrjriKt'i  (j.  nega- 
tivum).  (Dadurch  dass  Aristoteles  darauf  aufmerksam  macht,  dass 
die  Stelle  des  Subjects  auch  ein  '6vo(ia  aoQiarov  wie  ovk  -  ävd-Qconog, 
die  Stelle  des  Prädicats  ein  ^^fi«  aoQiGrov  wie  ov-rQi%eiv  einneh- 
men könne,  und  dass  die  ersten  Uebersetzer  ccoqictov  mit  infinitum 
übersetzten  anstatt  mit  indefinitum,  ist  man  in  der  Folge  dazu 
gekommen,  neben  jenen  beiden  allein  möglichen  Fällen  noch  den 
dritten  —  [warum  denn  nicht  auch  den  vierten?]  —  zu  statuiren, 
den  man  das  Judicium  infinitum  genannt  hat.)  Ausser  dem  Unter- 
schiede der  bejahenden  und  verneinenden  Urtheile  betrachtet  Ari- 
stoteles auch  den  zwischen  den  Urtheilen  die  im  Allgemeinen  etwas 
aussagen  (ai  y-a^ökov  anocptiGug  y.al  Kaxa(pci6iig)  und  denen,  die  es 
nicht  allgemein  thun  {Iv  (isqsi  in  den  Analytil^en ,  nctd-'  äKaerov  in 
der  Hermeneutik).  Die  Verbindung  dessen  was  von  der  Qualität 
und  Quantität  der  Urtheile  gesagt  war,  gibt  die  Regeln  über  den 
Gegensatz  zweier  Urtheile.  Ein  bejahendes  und  ein  verneinendes 
Urtheil  sind  avriKeijxeva  (opposita),  sie  können  dies  aber  avTirpan- 
aag  (coiitradictorie)  seyn  wenn  eines  das  andere  nur  aufiiebt  oder 
aber  havtlag  (contrarie)  wo  es  noch  ausserdem  eine  andere  Be- 
hauptung an  die  Stelle  setzt.  Der  letztere  Gegensatz  wird  auch 
der  h  SiafiitQov  genannt  und  findet  z.  B.  zwischen  allgemeiner  Be- 
jahung und  eben  solcher  Verneinung  Statt.  Hier  führt  nun  Ai'i- 
stoteles  auch  den  Satz  des  zu  vermeidenden  Widerspruchs  und  des 
ausgeschlossenen  Dritten  ein,  welche  er  gewöhnlich  (wie  Pluto 
immer)  so  begründet,  dass  sonst  nicht  feststünde  was  ein  Wort 
bedeutet.  —  An  die  Untersuchung  über  den  Gegensatz  der  Ur- 
theile wird  angeknüpft  und  mit  ihr  verbunden  die  über  Modalität 
der  Urtheile.  Es  wird  mit  Recht  hervorgehoben,  dass  die  moda- 
len Urtheile  eigentlich  zusammengesetzte  {cv^inUKo^Evai)  seyen,  und 


VI.  Aristoteles     Die  analytischen  Untersiicliungeu  des-  Aristoteles.    §.  86,  2.  IäO 

genau  erörtert  wie  die  Möglichkeit  zu  ihrem  Gegentheil  nicht  nur 
die  UnmögUchkeit ,  sondern  auch  die  Nothwendigkeit  habe  u.  s.  w. 
Der  Umstand,  dass  hier  das  Wort  höexofisvov  im  Gegensatz  zu 
övvarov  und  ava^xatov ,  dagegen  in  den  Analyticis  gebraucht  wird, 
um  das  Mögliche  zu  bezeichnen ,  hat  Einige  bewogen  anzunehmen, 
dass  Aristoteles  zwischen  logischer  und  realer  Möghchkeit  unter- 
scheide.   Andere  bestreiten  dies. 

2,  Die  Lehre  vom  Schluss  betreffend,  so  Hess  nicht  nur  der 
Umstand ,  dass  er  der  Erste  war  der  sie  bearbeitete  (p.  184)  den 
Aristoteles  so  grosses  Gewicht  auf  sie  legen,  sondern  dass  auf 
sie  die  Theorie  des  Beweises  sich  gründet ,  auf  die  es  ja  vor  Allem 
bei  den  analytischen  Untersuchungen  ankonnnt.  Darum  heisst  das 
Werk,  worin  er  den  Schluss  behandelt,  im  besonderen  Sinne  ra. 
avaXvri-ACi.  Zunächst  kommen  hier  nur  die  'AvctlvriKu  TCQÖxfqa  (p. 
24 — 70)  zur  Sprache.  Sie  sind  der  bestausgearbeitete  Theil  im 
ganzen  Organon.  Nachdem  zuerst  der  Schluss  {övUoyiG^iög)  defi- 
nirt  ist  als  ein  Satz ,  in  dem  aus  gewissen  Voraussetzungen  etwas 
Neues  mit  Nothwendigkeit  folgt,  werden  zuerst  Untersuchungen 
darüber  angestellt,  welche  Urtheile  und  wie  sie  umgekehrt  werden 
können,  und  dann  die  wesenthchen  Bestandtheile  des  Schlusses 
betrachtet.  Die  beiden  iiqozäGEig  (praemissae)  enthalten  die  uKqa 
(extrema)  und  den  o^o?  \is6og  (terminus  medius).  Die  ersteren, 
der  oQog  TtQonog  oder  äy.Qoi'  juft^ov  (terminus  major)  und  öqoq  eaia- 
Tog  oder  cckqov  h'karrov  (terminus  minor) ,  bilden  in  dem  av^insQaa^a 
(conclusio)  jenes  das  Prädicat,  dieses  das  Subject,  der  Mittelbe- 
griflf  dagegen,  welcher  den  Grund  der  Verbindung  enthält,  ver- 
schwindet. Er,  als  die  Seele  des  Schlusses,  bestimmt  die  eigent- 
liche Natur  desselben.  Je  nachdem  er  hinsichtlich  seines  Umfanges 
die  mittlere,  oberste  oder  unterste  Stelle  einnimmt  —  (d^sasi.  ^iaog, 
TiQcSrog  oder  h'aiatog,  d.  h.  positione  medius,  supremus  oder  infi[r]- 
mus  ist)  — ,  je  nachdem  ergel^en  sich  die  drei  einzig  möglichen 
axrjficcra  (figurae)  des  Schlusses.  Von  diesen  hat  die  erste,  weil 
sie  allein  allgemein  bejahende  Schlusssätze  haben  kann,  den  gröss- 
ten  wissenschaftlichen  Werth,  weil  die  Wissenschaft  aufs  Allge- 
meine ging  und  der  positive  und  directe  Beweis  mehr  Kraft  hat 
als  der  negative  und  indirecte.  Daher  schon  bei  Aristoteles  das 
Bestreben,  die  Schlüsse  der  anderen  Figuren  auf  die  der  ersten 
zu  reduciren.  Diese  Reduction  wird  von  ihm  mit  allen  vier  Modis 
der  zweiten  und  allen  sechs  der  dritten  Figur  durch  avxiGxqicpHv 
(conversio)  und  anaymyri  dg  a^vvarov  (reductio  ad  impossibile)  vor- 
genommen, so  dass  die  vierzehn  möglichen  Schlüsse  der  späteren 
Logiker,-  so  wie  ihre  Reductionen   der  zehn  letzten  auf  einen  der 


124  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

vier  ersten  sich  bereits  bei  Aristoteles  finden.  Nur  bei  der  Be- 
schreibung der  dritten  Figur  kann  ihm  ein  Feliler  vorgeworfen 
werden.  Eine  sehr  gründUche  Untersuchung  darüber ,  wie  sich  die 
Sache  gestaltet  je  nach  der  verschiedenen  Modahtät  der  Vorder- 
sätze ,  zeigt ,  wie  wenig  Scheu  er  hatte  vor  trocknen ,  aber  in  die 
Tiefe  gehenden,  Untersuchungen.  An  sie  schliessen  sich  die  über 
das  Auffinden  richtiger  Mittelbegriffe ,  über  die  Art  wie  durch  Auf- 
lösen der  Schlüsse  man  Lücken  in  ihnen  entdecken  könne  u.  s.  w. 
Sie  gehen  bis  zum  Schlüsse  des  ersten  Buches  und  ihnen  folgen 
im  zweiten  solche,  die  nicht  mehr,  wie  jene,  der  elementaren,  son- 
dern der  angewandten  Logik  angehören.  Es  wird  da  untersucht 
ob  und  wann  aus  falschen  Prämissen  ein  richtiger  Schluss  gezogen 
werden  kann ,  warum  aus  einem  falschen  Schlusssatz  auf  die  Falsch- 
heit wenigstens  einer  Prämisse  zu  schliessen  ist ,  welches  die  Fälle 
sind  wo ,  und  die  Grenzen  in  denen ,  im  Kreisverfahren  der  Schluss- 
satz zur  Prämisse  gemacht  werden  kann  um  eine  Prämisse  zu  be- 
weisen, oder  sein  Gegentheil  um  sie  zu  widerlegen.  Der  Fehler 
des  Iv  ccQxrj  airslßd-ai  (petitio  priucipü,  sollte  heissen  conclusionis 
oder  in  principio)  wird  gleichfalls  betrachtet  und  dann  übergegan- 
gen zu  den  Folgerungen  die,  ohne  strenge  Beweise  zu  seyn,  doch 
Glauben  erwecken.  (Vgl.  Ileydcr  Krit.  Darst.  und  Vergleichung 
der  Aristotelischen  und  Hegeischen  Dialektik.  Erlangen  1845.) 
Hierher  gehört  vor  Allem  die  iKctymyi]  (inductio),  welche  er,  da 
vermittelst  des  Einzelnen  auf  das  Allgemeine  geschlossen  wird, 
mit  der  dritten  Figur  vergleicht.  Noch  weniger  Beweiskraft  wird 
der  Berufung  auf  das  Beispiel  {naqähiyiiti)  eingeräumt,  welche  er 
nicht  streng  vom  analogischen  Verfahren  scheidet,  und  die  nach 
ihm  besonders  dem  rhetorischen  Gebiete  angehört,  wo  sie  eben 
so  die  Induction  vertritt,  wie  das  h&vfirjiia  (der  Wahrscheinlich- 
keitsschluss)  den  strengen  Schluss  (p.  1356). 

3.  Bei  Weitem  nicht  die  Abrundung  wie  die  bisherigen  Unter- 
suchungen zeigen  die  'Avakvrma  vGtiQa  (p.  71 — 100),  die  wahr- 
scheinlich nach  des  Aristoteles  Tode  aus  seinem  Nachlass  zusam- 
mengestellt wurden  und  welche  das  enthalten ,  was  man  nicht  mit 
Unrecht  seine  Wissenschaftslehre  genannt  hat.  Da  alle  wissen- 
schaftliche Erkenntniss  eine  bewiesene,  d.  h.  nach  dem  bisher  Ge- 
sagten: erschlossene,  ist,  so  muss  ihr  eine  andere  vorausgehn, 
welche  als  gewiss  gilt  und  auf  die  sie  sich  stützt.  Da  ist  nun 
der  doppelte  Fall  möglich ,  dass  der  Ausgangspunkt  ein  durch  die 
Wahrnehmung  Gegebenes  ist,  und  daraus  ein  Allgemeines  gefol- 
gert wird,  worin  das  inductive  Verfahren  besteht,  oder  aber  dass 
vom  Allgemeinen  ausgegangen  und  zum  Einzelnen  herabgestiegen 


VI.  Aristoteles.    Die  analytischen  Untersuchungen  des  Aristoteles.  §.86,  3.4.    125 

wird,  was  Aristoteles  als  das  syllogistisclie  Verfahren  bezeichnet. 
Beide  zeigen  den  Gegensatz,  dass  dort  von  dem  ausgegangen  wird, 
was  n^oq  rjfiäs  nQcoToi' ,  d.  h.  was  für  das  Subject  das  Erste  und 
Gewisseste  ist,  und  zu  dem  an  sich  Ersten  {cpvGzi,  oder  Ao'^m,  oder 
ctTiXoig  TXQÖxiiiov)  übergegangen,  hier  dagegen  der  umgekehrte  Weg 
eingeschlagen  wird.  (Wo  nQÖTiQov  und  vaziQov  ohne  Beisatz  vor- 
kommt ist  nicht  (pvan,  sondern  gerade  nQo?  rj^iäg  zu  suppliren. 
Uebrigens  formulirt  Aristoteles  den  Gegensatz  des  für  uns  und  an 
sich  Ersten  auch  so:  was  das  Letzte  ist  in  der  Analysis  ist  das 
Erste  in  der  Genesis  [p.  1112].)  Obgleich  das  inductive  Verfah- 
ren leichter  zu  überreden  pflegt,  ist  doch  das  deductive  wissen- 
schaftlicher. Dieses  letztere  kann  nun  entweder  auf  das  Dass 
gehn  und  dann  erzeugt  es  den  Beweis,  oder  auf  das  Was  und 
dann  führt  es  auf  den  ooiouög  (definitio).  Zunächst  wird  der  Be- 
weis betrachtet  und  gezeigt,  dass  er  ein  Schluss  aus  wahren  und 
nothwendigen  Prämissen  sey ,  eben  darum  nur  auf  Allgemeines  und 
Ewiges  gehe,  in  jeder  Wissenschaft  auf  gewissen,  innerhalb  dieser 
Wissenschaft  nicht  zu  beweisenden,  Principieu  und  Axiomen  beruhe, 
dass  und  warum  der  allgemeine  und  bejahende  so  wie  der  directe 
Beweis  den  Vorzug  verdiene  u.  s.  w.  Dann  wird  zur  Definition 
übergegangen ,  und  die  Berechtigung ,  auch  sie  zum  syllogistischen 
Verfahren  zu  rechnen,  dadurch  bewiesen,  dass  die  wahre  Definition 
den  Grund  des  Definirten  (d.  h.  einen  terminus  medius)  enthält. 
(Die  Definition  der  Mondfinsterniss :  „Dunkelheit  durch  Zwischen- 
treten der  Erde"  ist  leicht  in  die  Form  eines  Schlusses  zu  brin- 
gen.) Zu  diesem  Requisit  an  die  Definition  kommt  dann  das  For- 
melle, das  Aristoteles  mit  jener  zu  vermitteln  nicht  versucht  zu 
haben  scheint,  dass  die  Definition  ausser  dem  Genus  die  specifi- 
sche  Differenz  enthalte,  was  zu  seiner  Voraussetzung  die  Einthei- 
lung  hat  welche,  so  wichtig  sie  ist,  doch  nicht,  wie  bei  Pinto. 
die  Deduction  ersetzen  kann.  Positive  und  negative  Regeln  \m\- 
sichtlich  des  Definirens  schliessen  sich  daran  an. 

Cf.    Kühn   De   notionis   definitione    qualem    Aristoteles    constitiierit.    Hai.    1844. 
Rassmv  Aristotelis  de  notionis  definitione  doctrina.    Berol    1845. 

4.  Das  Beweisen  aber  und  das  Definiren  hat  seine  Grenzen, 
denn  sowol  wenn  es  sich  im  Kreise  bewegte  als  wenn  es  ins  End- 
(d.  h.  Zweck-  und  Ziel-)  lose  ginge,  gäbe  es  kein  Wissen.  Diese 
Grenzen  sind  für  beide  zweierlei,  indem  es  Solches  gibt,  was  über 
allem  Beweisen  und  Definiren,  und  wieder  Solches  das  unter  Bei- 
dem  steht.  Unter  Bcidem  steht  der  Gegenstand  der  sinnhchen 
Wahrnehmung,  weil  er  als  zufällig  nicht  bewiesen,  als  zahllose 
Merkmale  enthaltend  nicht  defiuirt  werden  kann  (p.  1039).    Dage- 


126  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

gen  gehen  über  beide  hinaus  die  allgemeinsten  Gattungen  und 
Principien,  welche  als  einfach  keine  Definition  gestatten,  und  die 
unzweifelhaften  Axiome,  welche  unmittelbar  gewiss  sind.  Solche 
unmittelbare,  für  den  Beweis  zu  hohe,  Urtheile  hat  jede  Wissen- 
schaft. So  auch  die  über  alle  hinausgehende  Grundwissenschaft, 
welche,  was  innerhalb  der  untergeordneten  Wissenschaften  unbe- 
weisbar, beweist.  Wie  das  Organ  für  das  Einzelne  und  Zufällige 
die  Wahrnehmung  war ,  so  für  diese  unmittelbar  gewissen  Urtheile 
der  vovg,  der  also  über  die  Ikigt)]^}],  das  mittelbare  Erkennen, 
hinausgeht.  Sein  unmittelbares  Erfassen  ist  ein  Anschauen,  aber 
kein  sinnliches  und  vielmehr  dem  zu  vergleichen,  womit  der  JNIa- 
thematiker  sich  seiner  Grundbegriffe  bemächtigt  (p.  1142).  An 
diese  anlä,  die  nicht  weiter  abzuleiten,  findet  sich  der  Geist  ge- 
rade so  gebunden,  wie  jeder  Sinn  an  seine  eigenthümlichen  Em- 
pfindungen. In  dieser  Sphäre  des  unmittelbaren  Erfassens  gibt 
es  nicht,  wie  bei  dem  vermittelten  Erkennen,  ein  richtiges  und 
falsches  Wissen,  sondern  nur  ein  Wissen  oder  Nichtwissen,  eben 
so  ist  hier  der  Unterschied  des  Dass  und  Was  verschwunden,  denn 
mit  dem  Augenblick,  dass  dieses  Höchste  erfasst  ist,  ist  auch 
seine  Realität  unmittelbar  gewiss  (p.  1051,  p.  203). 

5.  Wenn  gleich  die  Forderung  widersinnig  ist,  dass  diese  er- 
sten Grundlagen  alles  Beweises  bewiesen  werden  sollen ,  so  schwe- 
ben sie  doch  nicht,  wie  angeborne  Begriffe  und  Axiome,  ganz  iii 
der  liUft ,  sondern  als  Möglichkeit  liegen  jene  unmittelbaren  Ur- 
theile in  dem  erkennenden  Geiste ,  treten  hervor  vermöge  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung,  aus  welcher  der  Geist  das  Allgemeine  her- 
vorhebt ,  so  dass  also  auf  dem  Wege  der  Induction  die  Principien 
alles  apodeiktischen  Wissens  zwar  nicht  bewiesen  aber  klar  ge- 
macht werden.  Gerade  wie  P/ato,  den  er  auch  deshalb  lobt  (p. 
1095),  behauptet  also  auch  Aristoteles,  dass  die  Wissenschaft 
eben  so  sehr  zum  Allgemeinen  hinauf-  wie  von  da  zum  Einzelnen 
herabsteige.  Die  Induction ,  indem  sie  an  das  sinnlich  Wahrnehm- 
bare als  an  das  für  uns  Gewissere  anknüpft  und  zu  dem  an  sich 
Gewisseren  übergeht,  müsste,  um  völlige  Beweiskraft  zu  haben, 
vollständig  seyn.  Wäre  sie  dies,  hätten  wir  eine  Kemitniss  von 
allem  Einzelnen,  so  bedürfte  es  keines  apodeiktischen  Wissens,  die 
Induction,  welche  jetzt  einem  Schlüsse  dritter  Figur  gleicht,  würde 
dann  einem  der  ersten  gleichen.  Jetzt  aber  kann  auf  dem  Wege 
der  Induction  nur  Wahrscheinliches  nicht  Gewisses,  nur  Gemein- 
sames nicht  wahrhaft  Allgemeines  erreicht  werden.  Wie  nun  von 
jenem  zu  diesem  fortgegangen  werden  kann,  das  zeigt  durch  die 
That  Aristoteles  überall  wo   er  das  diu-ch  Induction  Gefundene 


VI.  Aristoteles.    Die  analytischen  Untersuchungen  des  Aristoteles.    §.  86,  5.    127 

durch  allgemeines  Räsouuemeut  der  wisseuscbaftlicheu  Erkeimtniss 
näher  bringt,  und  dazugeben  theoretische  Anleitung  seine  Totil-kü 
(p.  100 — 164)  indem  sie  Regeln  für  das  dialektische  Verfahren  und 
im  nahen  Zusammenhange  damit  Anweisung  geben,  wie  man  dem 
sophistischen  Spielen  mit  Worten  begegne  (p.  164 — 184).  Das 
eigentliche  Bereich  des  dialektischen  (d.  h.  räsonnirenden)  Denkens 
ist  das  xoii'o'v  und  svöo^ov.  Wie  es  dasselbe  zum  Ausgangspunkte 
macht,  so  ist  auch  sein  Zweck  immer  Allgemeineres  und  Wahr- 
scheinlicheres zu  finden.  Dadurch  aber  nähert  es  sich  dem  phi- 
losophischen Wissen,  denn  was  Allen  wahrscheinlich  ist,  das  ist 
gewiss  (p.  1172).  Die  Regeln  für  das  dialektische  Verfahren  wer- 
den demgemäss  ganz  besonders  dies  im  Auge  behalten  müssen, 
dass  ein  allgemeines  Einverständniss  erreicht  werden  soll,  demge- 
mäss sind  sie  Regeln  für  das  üeberreden  (d.  h.  rhetorische)  und 
für  das  Ausgleichen  von  Ansichten  (d.  h.  fürs  Disputiren).  Im 
Dienste  der  Wissenschaft  suchen  sie  zu  zeigen ,  wie  eine  Verstän- 
digung über  die  ersten  Principien  der  Wissenschaft  erzielt  werden 
kann.  Voraussetzung  ist  dabei  der  Wille  sich  zu  verständigen. 
Da  nun  dieses  unmöglich  wäre,  wenn  die  Verständiguiigsmittel, 
die  Worte,  nicht  ihre  Bedeutung  behielten,  so  ist  das  principium 
ideutitatis  höchster  Kanon  beim  Disputiren,  und  ein  nachgewiese- 
ner Verstoss  dagegen  ist  ein  Nachweis,  dass  der  Gegner  seine 
Stellung  aufgeben  muss  (cf.  p.  996).  Umgekehrt  wird  in  den  mei- 
sten Fällen ,  wo  die  Sophisten  meinen  Widersprüche  nachzuweisen, 
gezeigt  werden  können,  dass  sie  die  Vieldeutigkeit  eines  Worts 
nicht  beachteten.  Die  logische,  d.  h.  den  sprachlichen  Ausdruck  be- 
rücksichtigende, Genauigkeit  wird  wiederholt  eingeprägt.  Zum  Aus- 
gangspunkt des  Räsonnements  ist  Solches  zu  machen,  was  durch 
Autorität  für  gewiss  gilt.  Darum  bei  Aristoteles  das  emsige  Nach- 
forschen nach  dem  was  frühere  Philosophen  in  ihren  Schriften, 
mehr  noch  nach  dem  was  der  Geist  seines  Volkes  in  Sprüchwör- 
tern, vor  Allem  aber  was  derselbe  in  der  Sprache  schon  nieder- 
gelegt hat.  Seine  Untersuchungen  über  die  Bedeutung  der  Worte 
die  viel  seltner  etymologisch  den  Ursprung,  als  lexicographisch  die 
gegenwärtige  Bedeutung  ins  Auge  fassen,  sollen  ihm  zeigen  wie 
und  was  Alle  denken.  Das  Weitere  aber  ist,  dass  nicht  nur  die 
Autoritäten  sich  widerspreclten ,  sondern  ein  von  allen  Seiten  be- 
trachtendes Räsonnement  in  dem  was  ganz  sicher  scheint,  Wider- 
sprüche entdeckt.  Daher  bei  Aristoteles  jenes  antinomische  Ver- 
fahren, in  dem  sich  das  eristische  Verfahren  der  Sophisten,  die 
Ironie  des  Sokrates ,  die  negative  Seite  der  Platonischen  Dialektik 
(s.  §.  76,  6)  wiederholt,  und  das  nichts  Andres  hervorbringen  will 


128  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

als  die  anoQia,   weil  ohne  diese  es  keine  genügende  Lösung  gibt 
(vgl.  p.  995). 

6,  Zur  richtigen  Würdigung  der  so  entstehenden  Rathlosigkeit 
und  zur  Rettung  vor  derselben,  ist  nun  nothwendig  dass  die  Fra- 
gen richtig  gestellt  werden,  dies  aber  verlangt  vor  Allem  dass 
man  sich  nicht  darüber  täusche  in  welche  Klasse  des  Denkbaren 
das  gehört,  was  die  Wissenschaften  und  die  über  ihnen  allen  ste- 
hende Wissenschaft  zu  ihrem  Gegenstande  haben.  Von  den  Klas- 
sen des  Denkbaren  handeln  theils  die  Topiken  tlieils  die  Schrift 
KarrjYOQiai  (p.  1  —  15),  welcher  letzteren  freihch  von  bedeuten- 
den Autoritäten  der  Aristotelische  Ursprung,  sey  es  ganz  sey  es 
theilweis,  abgesprochen  wird.  Dass  bei  seiner  Ansicht  von  Spre- 
chen und  Denken  ArhfoipJes  diese  Klassen  dadurch  findet,  dass 
er  den  ausgesprocheneu  Gedanken,  den  Satz,  in  seine  Bestand- 
theile  zerfallen  lässt,  dass  sich  ihm  dabei  zunächst  ergibt,  dass 
Alles  was  wir  denken  entweder  als  Subject  oder  als  Prädicat  ge- 
dacht wird,  ist  sehr  erklärlich.  Dass  weiter  die  Reflexion  auf 
attributive  Bestimmungen  die  das  Subject  eines  Satzes  bekommen 
kann,  so  wie  auf  die  verschiedenen  grammatischen  Hauptformen 
des  Verbums ,  welches  ja  die  Prädicatstelle  einnahm ,  endlich  die 
Möglichkeit  näherer  Bestimmungen  dessell)en  durch  Adverbien,  der 
Grund  gewesen  sey ,  warum  er  gerade  diese  zehn  yht]  vtjg  Karrjyo- 
Qiag  oder  KaxYiyoQiai  annahm,  so  dass  also  die  ovala  oder  das  xl 
hri  dem  Substantiv,  das  noiöv  dem  attributiven  Adjectiv,  das 
noGÖv  dem  Zahlwort,  das  nqög  n  den  Worten  entspricht  die  eines 
ergänzenden  Casus  bedürfen,  dass  ferner  noulv,  tkxgihv.  Ksla^ai 
und  sxHv  dem  Activ,  Passiv,  Medium  und  Präteritum  entsprechen, 
endlich  nov  und  nori  als  Repräsentanten  der  Adverbia  da  stehen, 
dies  Alles  erscheint  nach  Trendelenhurgs  gründlichen  Untersuchun- 
gen sehr  wahrscheinlich.  Damit  ist  sehr  gut  zu  vereinigen,  dass, 
nachdem  sich  gezeigt  hatte ,  dass  alle  übrigen  Kategorien  nur  Sol- 
ches bezeichneten,  was  an  der  ovGla  als  Zustand  oder  Thätigkeit 
derselben  vorkommt ,  nun  auch  andere  Zustände  als  die  zuerst  auf-  • 
gezählten,  Kategorien  genannt  wurden.  Festzuhalten  ist  dabei  im- 
mer, dass,  da  sich  die  Dinge  in  dem  Denken  Aller  gleich  spie- 
geln, und  das  Sprechen  wieder  das  gemeinschaftliche  Denken  zur 
Erscheinung  bringt,  die  zunächst  grammatischen  Hauptklassen  (die, 
wenn  Aristoteles  eine  ausgebildete  Lehre  von  den  Redetheilen  vor- 
gefunden hätte,  vielleicht  andere  geworden  wären)  sogleich  logi- 
sche und  weiter  reale  Bedeutung  erhalten ,  so  dass  weil  wir  Alles 
entweder  als  ovaia  oder  als  eines  ihrer  nä&ri  denken  müssen,  alles 
Wirkliche  unter  die  Bestimmung  des  Substanziellen  oder  Acciden- 


VI    Aristoteles.     Die  Grundwissenschaft  des  Aristoteles.     §.  87,  1.  129 

teilen  fallen  muss.  Ovrna  (Wesenheit)  hat  also  zunächst  die  gram- 
matische Bedeutung ,  dass  damit  das  mögliche  Subject  eines  Satzes 
bezeichnet  \Nird.  Eben  darum  ist  vorzugsweise  und  ist  erste  Wesen- 
heit was  imr  Subject  uud  nie  Prädicat  seyn  kann,  das  Einzelwe- 
sen ,  z.  B,  Solches  was  durch  ein  nomen  proprium  bezeichnet  \Ndrd. 
Die  durch  nomina  appellativa  bezeichneten  Gattungen  können  so- 
wol  die  Subject-  als  (in  Subsumtionsurtheileu)  die  Prädicat-Stelle 
einnehmen;  sie  werden  daher  Wesenheiten  aber  zweite  genannt. 
Was  dagegen  in  einem  Inhärenz  -  Urtheile  die  Prädicatstelle  be- 
kommt, nur  Beschaffenheit  eines  Substrates  ist,  das  ist  gar  nicht 
Wesenheit.  Mit  der  Wesenheit  nun.  oder  dem  Was,  hat  es  alle 
Wissenschaft  zu  thun,  und  die  einzelnen  Wissenschaften  haben 
eben  verschiedene  Wesenheiten  zu  ihrem  Objecte  z.  B,  die  Geo- 
metrie die  räumliche,  die  ovr,ic(  d-en]  (p.  87).  Da  Wesenheit  und 
wahrhaft  Seyeudes  dasselbe  ist,  so  kann  die  Aufgabe  der  einzelnen 
Wissenschaften  darein  gesetzt  werden,  dass  sie  je  eine  Art  des 
Seyenden  darauf  hin  l)etrachten ,  was  demselben  zukommt.  Eben 
deswegen  hat  auch  eine  jede  ihre  eignen  Axiome  und.  Theoreme, 
die  für  die  anderen  ohne  Bedeutung  sind.  Ueber  ihnen  allen  wird 
diejenige  Wissenschaft  stehn ,  die ,  weil  sie  nicht  eine  Art  der  We- 
senheit sondern  die  Wesenheit  an  und  für  sich,  nicht  ein  irgend 
wie  bestimmtes  Seyn  sondern  das  Seyende  als  solches,  das  oV  rj  ov, 
betrachtet,  und,  was  für  dieses  gilt,  als  allgemein  gültiges  Gesetz  für 
alle  Arten  des  Seyenden,  und  darum  für  alle  Wissenschaften,  ausspre- 
chen wird  (p.  1003).  Diese  Wissenschaft  heisst  eben  darum  ttoco'dj 
q)doao(piti  d.  h,  Grundwissenschaft.  Wie  dieser  Name  ihrem  Ver- 
hältnisse zu  den  andern  Disciplinen  am  Meisten  entspricht .  so  der 
der  Ontologie  ihrem  Inhalte.  Dass  bei  der  Wichtigkeit,  welche 
ArisinieJes  diesem  Theile  der  Philosophie  beilegt,  er  ihn  oft  Phi- 
losophie schlechthin  nennt,  ist  eben  so  erklärlich  wie  dass  Pinto 
den  dialektischen  Theil  seines  Systems  öfter  so  genannt  hatte. 

Trenddenbiirg  Geschichte  der  Kategorienlehre.    Berlin  1846. 

§.87. 
Die  Grundwisseüschaft  des  Aristoteles. 
1.  Das  Werk  des  Aristoteles ,  welches,  weil  es  in  der  ersten 
Sammlung  seiner  Werke  hinter  die  physikalischen  Schriften  ge- 
stellt wurde,  den  Namen  Ta  (ßißhct)  fistd  t«  (pvaixä  erhielt  (p. 
980 — 1093),  und  dadurch  die  Veranlassung  wurde,  dass  die  darin 
behandelte  Grundwissenschaft  später  Metaphysik  genannt  worden 
ist,  enthält  im  ersten  Buche  (^  p.  980 — 993)  eine  historisch-kri- 
tische Einleitung  und  geht  dann  im  dritten  (ß  p.  995—1003) 
das  zweite  A  I'Acttov  scheint  nämlich  eingeschoben  zu  seyn,  dazu 

Erdmann,  Gesch.  d.  Phil.  I.  Q 


130  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

über,  die  Axiome  aufzuzählen,  in  welche  sich  das  Denken  über 
diese  Gegenstände  verwickelt  findet.  Unter  diesen  findet  sich  auch 
die  Frage,  ob  es  die  Aufgabe  einer  und  derselben  Wissenschaft 
sey,  die  mehr  formellen  Principicn  des  Beweisverfahrens  anzuge- 
ben, welche  jede  Wissenschaft  muss  gelten  lassen  und,  mehr  ma- 
teriell, das  festzustellen  was  von  allem  Seyenden  gilt.  Diese  Frage 
wird  in  dem  vierten  Buche  (T  p.  1003 — 1012)  bejaht  und  als 
oberstes  Princip  des  Beweisverfahrens,  also  als  formelles  Princip 
aller  Wissenschaften,  ganz  wie  in  den  Topiken,  das  Axiom  aufge- 
stellt ,  dass  man  nicht  von  demselben  Entgegengesetztes  prädiciren 
dürfe,  weil  dies  jede  bestinnntc  Wesenheit  aufliebe.  Nur  von  die- 
ser, d.h.  von  allem  wirklich  Seyenden,  gilt  jenes  Axiom,  so  wie 
das  des  ausgeschlossenen  Dritten.  Dagegen  soll  gar  nicht  geleug- 
net werden ,  dass  in  der  Möglichkeit  die  Bestimmungen  des  Seyns 
und  Nichtseyns  vereinigt  seyen;  dass  er,  was  von  der  Möglichkeit 
gilt,  auf  die  Wirklichkeit  anwandte,  das  soll  den  llertthlU  dahin 
gebracht  haben,  alles  Wirkliche  hi  den  steten  Fluss  zu  setzen. 
Das  fünfte  Buch  {^  p.  1012 — 1025)  enthält  synonymische  Er- 
örterungen, welche  den  Gang  der  Untersuchung  unterbrechen,  und 
kann  eben  so  wie  das  eilfte  (X  p.  1059—1069),  welches  einer  an- 
deren Redaction  der  ganzen  Grundphilosophie  anzugehören  scheint, 
endlich  können  auch  die  beiden  letzten  Bücher  (M  p.  1076 — 1087 
und  N  p.  1087 — 1093),  die  eine  Kritik  der  Platonischen  Ideeu- 
lehre enthalten ,  wenn  man  einen  Ueberblick  über  die  Aristotelische 
Grundwissenschaft  gewinnen  will,  zunächst  überschlagen  werden. 
Mit  dem  sechsten  Buche  (£p.  1025—1028)  wendet  sich  die 
Untersuchung  auf  die  eigentliche  Ontologie,  indem  sie  die  Frage: 
was  denn  das  eigenthch  Seyende  ist,  zu  lösen  versucht,  ganz  wie 
Plato  sich  dieselbe  Aufgabe  in  seiner  Dialektik  gestellt  hatte. 

2.  Will  die  Ontologie  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  seyn, 
so  muss  sie  (vgl.  oben  §.  85 ,  1)  das  Seyende  als  Solches  aus  Prin- 
cipicn ableiten.  Die  erste,  man  kann  sagen  vorbereitende,  Frage 
ist  also:  was  ist  unter  einem  Princip  zu  verstehnV  Die  Antwort, 
welche  der  Sprachgebrauch  durch  die  vierfache  Bedeutung  des 
Wortes  cthlci  und  aq-p']  (causa)  gibt,  findet  Aristoteles  bestätigt 
durch  die  Geschichte.  Aus  dem  Stoff  haben  die  Physiologen,  aus 
der  Form  die  Pythagoreer,  aus  der  bewegenden  Ursache  E7)ipe- 
dokles,  aus  dem  Zweck  Anuxagoras  das  Seyn  zu  erklären  ver- 
sucht (p.  984).  Unter  v\ri  (materia)  oder  Stoff  versteht  Aristoteles 
ein  jedes  i^  ov  oder  Woraus.  Darum  ist  nicht  nur  das  Erz  für 
die  Bildsäule,  sondern  auch  der  Saame  für  den  Baum,  die  Prä- 
missen  für  den  Schluss,  die  natürlichen  Triebe  für  die  Tugend, 


VI.  Aristoteles.     Die  Grundvrissenschaft  des  Aristoteles.     §.  87.  '2.  3.        131 

die  Töne  für  die  Octave,  ja  die  Cither  für  die  Töne  die  aus  ihr 
kommen ,  die  Buchstaben  aus  denen  es  besteht ,  oder  der  Laut  aus 
dem  es  entsteht ,  für  das  Wort  der  Stoff  oder  die  Materie.  Eben 
darum  fällt  dem  Aristoteles  der  Stotf  mit  dem  Unbestimmten  {unn- 
Qov ,  aÖQiGxov)  bloss  Bestimmbaren  zusammen,  und  daher  ist  in 
der  Definition  das  näher  zu  bestimmende  genus  die  vXi^,  eben  so 
ist  Materie  ihm  Eins  mit  dem ,  woraus  zweckmässige  Ordnung  erst 
wird ,  was  also  dieselbe  noch  nicht  zeigt.  Aus  Beidem  folgt,  dass 
der  blosse  Stoff  nicht  Object  des  Wissens  ist,  d.  h.  nicht  dass  er 
über ,  sondern  dass  er  unter  dem  Wissbaren  steht ,  so  dass  er  nur 
vermittelst  der  Analogie  verstanden  werden  kann  (vgl.  p,  207). 
Wie  diese  letzte  Behauptung  au  des  PUtto  vod^oq  loyiG^ioq  §.  78,  1 
erinnert ,  so  an  andere  Platonische  Aeusserungen ,  wenn  Aristoteles 
den  Stoff  als  Grund  aller  Vielheit,  als  Mitursache  und  als  weibli- 
ches Princip,  bezeichnet.  Auch  wo  er,  ganz  wie  Pluto,  zwischen 
Grand  und  unerlässlicher  Bedingung  unterscheidet ,  bedient  er  sich 
wie  Jener  für  die  letztere  des  Ausdrucks  rnnüad-cu  cog  8i'  vhjv 
(vgl.  p.  200).  Eigenthümhch  dagegen  und  der  Platonischen  Auf- 
fassung entgegengesetzt  ist  es,  wenn  Aristoteles  immer  die  Ma- 
terie als  övvauig  (potevt'ui)  d.  h.  als  Vermögen  und  Anlage  zum 
Geformtwerden  nimmt,  und  auf  den  Unterschied  zwischen  ihr  und 
der  blossen  arioriaig  (dein  Platonischen  ^tj  ov)  hinweist,  indem  sie 
ein  beziehungsweise  Nichtseyendes  sey  (p.  192) ,  d.  h.  sie  ist  das 
Noch- nicht -seyeude,  das  Unvollendete.  Weil  ihr  hier  viel  mehr 
Realität  eingeräumt  wird ,  als  bei  Pinto ,  deswegen  findet  sie  auch, 
anders  als  bei  Pinto,  ihren  Platz  unter  den  Principien  des  wah- 
ren Seyns,  in  der  Grundwissenschaft. 

3.  AVie  hier  die  Abweichung  vom  Pinto,  so  tritt  dagegen  die 
Uebereinstimmung  mit  ihm  besonders  hervor,  wo  Aristoteles  zum 
zweiten  Princip  übergeht.  Schon  in  der  Bezeichnung,  denn  anstatt 
fioog?)/'  (formn,  rniisn  formnlis)  sagt  er  eben  so  oft  köyog  und  tlSog 
(p.  198.  335).  Ja  selbst  naQciStiyiia  kommt  vor.  Zum  Stoffe  als 
dem  Principe  der  Passivität  verhält  sich  die  Form  als  das  Deter- 
minirende;  die  Gestalt  der  Bildsäule,  welche  das  Erz  empfängt, 
das  Verhältniss  1:2,  in  welches  die  Töne,  die  eine  Octave  bilden, 
hineingepasst  erscheinen,  die  beherrschende  Mitte  welcher  die 
Triebe  unterworfen,  das  Ganze  wozu  die  Theile  verbunden  wer- 
den, das  Gesetz  welches  die  Ordnung  regelt,  die  specifische  Diffe- 
renz welche  das  Genus  zur  Definition  ergänzt,  —  alles  dies  wird 
von  Aristoteles  als  Beispiel  des  Formalprincipes  angeführt,  das 
sich  also  zu  dem  Stoff  wie  das  n.iqaq  zum  ämiQov ,  wie  das  dg  o 
zu  dem  i|  ol  verhält  (p.  1070).    Dass  die  Form   welche  an  das 

9* 


132  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

Erz  gebraclit  wird ,  vorher  in  dem  Künstler  schon  war,  hat  viel- 
leicht den  Aufdruck  ro  xl  tjv  slvai  veranlasst,  dessen  sich  Aristo- 
teles mit  Vorliebe  für  dies  Princip  bedient ,  den  er  vielleicht  auch 
schon  vorfand.  (Essentia  ist  die  Uebersetzimg  die  derselbe  früh 
fand,  später  immer:  (jund  (jidd  erat.)  Fiel  nun  der  Begriff  des  Un- 
bestimmten oder  der  Materie  mit  der  8vva^ig  zusammen,  so  der 
der  Form  mit  der  ivi^ysia  (actus),  und  es  ist  erklärlich  dass  in 
dem,  vom  Aristoteles  beherrschten  Mittelalter  nicht  nur  die  Worte 
formalis  und  actnalis  gleichbedeutend  waren,  sondern  dass  der 
Aristotelische  Grundsatz ,  dass  ein  ämiQov  ivefjyeia  ov  eine  contra- 
dictio  in  adjecto  sey  (u.  A.  p.  207) ,  dem  unerschütterlichen  Axiom 
zu  Grunde  gelegt  wurde:  infinit  um  actu  non  datur ,  welches  oft 
geradezu  als  eben  so  unverbrüchlich  bezeiehnet  wird,  wie  das  prin- 
cipium  identitatis. 

4.  Der  Ausdruck  to  odev  )J  -Aivrjöig ,  dessen  sich  Aristoteles, 
anstatt  des  von  Plato  gebrauchte  aQxv  «tvfjöfw?,  bedient,  um  das 
dritte  Princip  zu  bezeichnen,  wechselt  mit  dem  ro  ahioi'  rjjg  fis- 
raßokijg  ab,  da  seine  Versuche  die  xlviiaig  und  fjisraßoh]  streng  zu 
sondern,  fehlschlagen.  Kürzer  wird  es  auch  a^xtj  oder  «irt«  ki- 
vovöa  (p.  1044)  und  jiivovv,  auch  aQp]  rtig  yeviöecjg  (p.  1033)  oder 
aQXV  ^ivririK't]    kuI   yEvvrjriKr}    (p,   742),    ferner  «^x*/  ^V9  7ton]öS(og    (p. 

192)  genannt;  auch  tcoiovv  ccI'tiov  kommt  vor,  welches  die  bekannte 
Uebersetzung  causa  efficiens  erklärlich  macht.  Wo  dem  Erz  die 
Gestalt  des  Hermes  mitgetheilt  wird,  ist  das  Princip  dieser  Um- 
gestaltung der  Bildhauer.  Da  aber  dieser  den  Impuls  dazu  von 
der  im  Geiste  geschauten  Gestalt  empfing,  so  ist  eigentlich  diese 
das  wahre  Kivt^riHÖv  und  es  fällt  die  causa  efpciens  mit  der  causa 
l'ormnlis  zusammen.  So  namentlich  bei  dem  Lebendigen ;  was  die 
Pflanze  zum  Wachsen  treibt ,  ist  ihr  löyog.  Uebrigens  begreift  sich 
schon  hier,  warum  Aristoteles  die  Seele,  dies  Bewegungsprincip 
im  Lebendigen,  Form  nannte  (p.  414). 

5.  Auch  das  vierte  Princip ,  das  ov  svbku  oder  rekog,  die  causa 
finalis ,  fällt  mit  den  beiden  zuletzt  genannten  zusammen,  wenn 
man  bedenkt ,  dass  der  Bildhauer  nichts  Andres  bezweckt ,  als  die 
Hermesgestalt.  Darum  kann  das  Hauen  als  das  xl  »}v  ihm  der 
Axt  bestimmt  werden,  so  dass  also  Z\veck  und  Form  Eins  wird, 
Zweck  wieder  und  Beweggrund  gilt  ja  auch  uns  noch  als  synonym. 
Eben  darum  aber  fallen  nun  auch  die  Begriffe  des  Unbestimmten 
und  Ziellosen  zusammen  und  ami^ov  und  ax^Ug  werden  eben  so 
zu  Synonymen,  wie  es  selbstverständlich  wird,  dass  alles  Vollen- 
dete etwas  Bestimmtes  und  Begrenztes  ist.  Die  ursprünglich  vier 
Principien  reduciren  sich  also  (p.  198)  auf  die  beiden  der  bvva^i^ 


VI.  Aristoteles.     Die  Gniiidwissenschaft  des  Aristoteles.     §.   87,  5.  6.       133 

und  ivsQyeia,  welche  letztere  nun  wegen  der  hineinspielenden  Zweck- 
bestimmung ivTBXs'/Ha  genannt  wird  (p.  415),  und  der  Gegensatz 
des  Vermögens  und  der  Kraftthätigkeit ,  oder  der  Möglichkeit  und 
Verwirklichung,  ist  das  eigentliche  Resultat  der  vorläufigen  Unter- 
suchungen über  die  Principien.  Da  sie  Correlata  sind ,  so  bekom- 
men diese  Begriffe  etwas  FHessendes:  Ein  und  dasselbe  kann  in 
einer  Beziehung  Verwirklichung  seyn ,  z.  B.  der  Baum  des  Saamens, 
und  wieder  in  einer  anderen  Möglichkeit,  z.  B.  einer  Bildsäule. 
Daher  werden  hier  die  Bestimmungen  erste  und  zweite  eingeführt 
und  u.  A.  die  Seele,  weil  sie  Bethätigung  des  Leibes  ist,  Ente- 
lechie ,  weil  sie  selbst  aber  im  Denken  sich  bethätigt ,  erste  Ente- 
lechie  genannt.  Erste  also  oder  blosse  Materie  wäre,  was  gar 
nicht  gestaltet,  gar  nicht  schon  etwas  Verwirklichtes  ist,  und  we- 
der letzte  Materie  wäre,  was  in  sofern  mit  der  Form  zusammen- 
fällt als  es  nicht  wieder  zu  einer  neuen  Verwirklichung  Stoff  ist 
(p.  1015.  1045).  Wie  hier  die  erste  und  zweite  Materie,  so  wird 
sonst  wohl  auch  nähere  und  weitere  Möglichkeit  unterschieden 
(p.  735). 

6.  Die  vorstehenden  Erörterungen  geben  die  Daten  zur  Beant- 
wortung der  ontologischen  Frage.  Zuerst  zu  der  negativen,  dass 
weder  die  blosse  Materie  noch  die  blosse  Form  Wesenheit  oder 
wahres  Seyn  ist.  Mit  der  grössten  Entschiedenheit  wird  dies  hin- 
sichtlich der  vXri  festgehalten  und  also  der  Standpunkt  der  Phy- 
siologen verworfen.  Die  blosse  Materie  ist  ein  Mittleres  zwischen 
Seyn  und  Nichtseyu,  ist  das  für  die  Wirklichkeit  nur  Empfäng- 
liche ,  blosser  Keim  derselben.  Geschieht  es  einmal ,  dass  sie  We- 
senheit genannt  wird,  so  wird  ein  beschränkendes  syyvg  hinzuge- 
fügt (p.  192).  Aber  auch  der  Form  kommt  kein  substanzielles 
Seyn  zu,  und  ein  grosser  Theil  der  Polemik  gegen  Plalo  dreht 
sich  darum ,  dass  derselbe  die  Reahtät  blosser  siöt]  annehme,  dass 
er  dieselben  als  von  allem  Stoffe  getrennte,  jenseits  und  ausser- 
halb der  Vielen  existirende  Einfache  setze,  von  denen  es  unbe- 
greiflich sey ,  wie  die  Kluft  zwischen  ihnen  und  dem  Stoffe  ausge- 
füllt werde ,  da  sie  nicht  fähig  seyen ,  sich  selbst  sinnliche  Existenz 
zu  geben  (p.  990  ff.  Met.  M  und  N).  Trotz  dieser  Polemik  aber 
geschieht  es  dem  Aristoteles  selbst  viel  häufiger  als  hinsichtlich 
der  Materie,  dass  er  die  blosse  Form  oicn'«  nennt,  was  sich  theils 
aus  der  höheren  Stellung  erklärt  die  auch  er  der  I'orm  einräumt, 
theils  aber  auch  aus  dem  Umstände,  dass  das  Wort  ovaia  sowol 
snbstantid  als  psaciiiid  bedeutet,  letzteres  aber,  wie  gezeigt  ward, 
wirklich  mit  der  Form  zusammenfie]  (p.  1032).  Wird  der  Begriff 
der  ovöia  als  der  wirklichen  Wesenheit  streng  fest  gehalten ,  so  ist 


134  Alte   PLilosopliif!.     Zweite  Periode  (GJaiiz). 

sie  als  Einheit  des  Stoffes  und  der  Form  zu  fassen ,  sie  ist  gleich- 
sam zusammengesetzt  aus  beiden,  ist  geformter  Stoff,  materiali- 
sirte  Form,  woher  auch  die  Definition,  welche  die  ganze  Wesen- 
heit ausdrücken  soll ,  eben  so  aus  zwei  Momenten  zusammengesetzt 
ist,  dem  (fcnus  und  der  dijjcrenlui,  die  dem  Stoffe  und  der  Form 
correspondiren.  Diese  Einheit  {ßvv^iaig)  beider  ist  nun  nicht  als 
ein  ruhiges  Seyn  zu  denken,  sondern  vielmehr  als  Uebergang,  mit 
welchem  Worte  oiivi^aig  um  so  eher  übersetzt  werden  darf,  als  Ari- 
stoteles selbst  sie  ein  ßadi^eiv  nennt,  unser  W^ort  Bewegung  aber 
eigentlich  nur  der  Art  der  mvrjoig  entspricht,  die  Aristoteles  cpoQa 
nennt.  Es  gibt  für  Aristoteles  kein  Reelles  als  das  in  die  Wirk- 
lichkeit Ucbergehende ,  und  in  gleichem  Gegensatze  zu  dem  Flusse 
des  Heraklit  und  dem  Stillstande  der  Floaten  ist  ihm  die  Ent- 
wicklung das  allein  Reale.  Dieser  Begriff  tritt  bei  ihm  an  die 
Stelle  des  absoluten  Werdens.  Einen  Uebergang  aus  dem  Nichts 
in  das  Seyn  gibt  es  nicht,  sondern  nur  aus  dem  Xochnichtseyn, 
dem  Stoff  oder  der  Anlage.  (Auch  wir  sagen:  in  dem  ist  Stoff 
zu  einem  Dichter.)  An  die  Stelle  der  Platonischen  blossen  For- 
men und  Gattungen  lässt  also  Aristoteles  die  Entelechien,  d.  h. 
die  nicht  jenseitigen  unveränderhchen ,  sondern  die  sich  als  Kraft 
bethätigenden  Formen,  das  sich  besondernde  Allgemeine,  treten. 
In  der  Selbstbethätigung,  welche  so  das  Wesen  alles  Realen  aus- 
macht, sind  die  beiden  Momente  des  Bewegten  und  Bewegenden, 
des  Passiven  und  Activen,  zu  unterscheiden.  Jenes  ist  die  Ma- 
terie, die  also  zu  ihrem  Zweck  sich  so  hinbewegl;,  wie  das  Eisen 
zum  Magnet;  indem  der  Zweck  (die  Form)  sie  nach  sich  zieht, 
benutzt  er  sie.  Darum  ist  das  eigentliche  Princip  aller  Bewegung 
immer  der  Zweck  und  die  Form,  sie  setzt,  die  Materie  erleidet 
die  Bewegung  (p.  202). 

7.  Was  von  jedem  wirkHch  Substanziellen  gilt,  das  natürlich 
auch  von  dem  Complex  alles  Wirklichen,  dem  All.  Auch  in  die- 
sem gibt  es  keinen  Stillstand,  es  gibt  KivQv^Bva  \m^  y.ivovvxa,  d.h. 
Zweckbethätigung.  Indem  aber  jedes  der  Bewegten  seinerseits  wie- 
der die  Bewegung  mittheilt,  muss  man,  wenn  man  nicht  den  AVi- 
dersinn  begehen  will  einen  wirklichen  endlosen  Progress  anzuneh- 
men (p.  256) ,  auf  ein  Princip  schliessen ,  welches  nur  bewegt  ohne 
selbst  bewegt  zu  werden,  auf  ein  ngarov  y.ivovv,  welches  als  oxt- 
vrixov  natürhch  alle  Materie  (d.  h.  Passivität)  ausschliesst,  also  civtv 
vk7]<; ,  blosse  ivsQysia  ist  (piirus  uetns).  Darum  liegt  der  letzte 
Grund  eines  Ucberganges  zur  Wirklichkeit  immer  in  einem  förm- 
lich oder  wirklich  Seyenden.  Der  Einwand,  dass  ein  Unbeweg- 
tes nicht  bewegen  könne,  vergisst,  dass  überall  der  angestrebte 
Zweck  dies  widerlegt ,  und  dass  der  erste  Beweger  der  Welt  eben 


VI.  Aristoteles..     Dii-   Grumhvissenschaft   des  Aristoteles.     §.   87.  7.  8.       135 

der  Endzweck ,  das  Beste ,  der  Welt  ist  (p.  1072,  292).  Damit  ist 
nicht  gesagt,  dass  Aristoteles  seine  Ursächlichkeit  leugne,  denn 
der  Zweck  hatte  sich  ja  als  die  eigentliche  emisa  efßciens  erme- 
sen  (p.  198).  Vor  Allem  ist  Priucip  der  Zweck,  ist  ein  Satz  der 
bei  Aristoteles  öfter  Vorkommt.  So  steht  also  alles  Wü-kliche  zwi- 
schen der  ersten  Materie,  welcher  Nichts,  und  dem  ersten  Bewe- 
genden ,  dem  Alles  zustrebt ,  das  seinerseits  fi^ei  ist  von  allem  Stre- 
ben und  aller  Bewegung.  Indem  dieses  erste  Bewegende  alle  l)losse 
Möghchkeit  ausschliesst ,  ist  es  das  nicht  anders  seyn  Könnende, 
ist  es  ohne  Vielheit  und  ohne  Vergäughchkeit ,  Eines  und  ewig 
(p.  1072,  1074,  258).  Nur  weil  es  dies  Alles  ist,  kann  es  ja  ein 
Object  des  wissenschafthchen  Erkeimens  werden.  Ist  aber  dieses 
Ziel  alles  Strebens  ewig,  so  auch  die  Bethätigung  des  Strebens, 
die  Bewegung  der  Welt  ist  ewig,  wie  sie  selbst. 

8.   Aus  dem  bisher  Entwickelten  folgt  aber  noch  Weiteres: 
War  in  jedem  Wirkhchen  das  bewegende  Princip  der  \6yoq  gewe- 
sen,  so  wu-d   das  eine  Alles  Bewegende   der  Inbegriff  aller  \6yoi 
und  Zwecke  seyn  müssen.     Als  solcher  war  seit  Ana.aigords  und 
hn  Philebos  auch  von  Pinto  der  voig  bestimmt  worden ,  sonst  das 
ayct&öv.    Beide  Ausdrücke   werden   von  Aristoteles   gebraucht   (p. 
1075)   um  den  Weltzweck  und  das  wahre  Object  des  Wissens  zu 
bezeichnen,   vorzüghch  aber  der  des  Anaxagoras ,   den  er  darum 
so  sehr  lobt  dass  er  den  vovg  zum  Princip  der  Bewegung  gemacht 
und  sich  damit  als  über  den  frühereu  Träumern  stehend  erwiesen 
habe  (p.  256,  984);  wie  Vieles  Pinto  dem  Ana.mfforns  danke  wird 
gleichfalls  von  Aristoteles  angedeutet.    Es  fi'agt  sich  weiter,   wie 
der  vovg.  diese  eigentliche  Gottheit  im  Systeme  des  Aristoteles,  ge- 
dacht  werden  muss,   wenn  er  wirklich  immateriell   und  leidenlos 
seyn  soll  V    Dächte  man  ihn  sich  handelnd  oder  auch  künstlerisch 
schaffend ,  so  wäre  er  durch  einen  Zweck  ausser  ihm  bestimmt  (p. 
1177).    Es  bleibt  also  nur  die   schöne  Müsse  des  theoretischen 
Verhaltens,  das  Denken,  in  welchem  die  Seligkeit,  Unsterblichkeit 
und  das  ewige  Leben  der  Gottheit  besteht  (p.  1072).    Aber  auch 
dies  muss  noch  näher  bestimmt  werden.    Eine  Beschäftigung  des 
voig  mit  irgend  Etwas  ausser  ihm  selbst,  würde  ihn  beschränken; 
wie  er  nicht  lieben  kann ,  sondern  nur  geliebt  werden ,  so  kann  er 
auch ,  ohne  sich  den  Genuss  der  Beschäftigung  mit  dem  Vollkom- 
mensten zu  stören,  nichts  Anderes  denken  als  sich  selbst.    Das 
Denken  der  Gottheit,   ja  ihr  Wesen  ist  Denken  des  Denkens,   im 
wandellosen  Betrachten  ihrer  selbst  besteht  ihre  ewige  und  reine 
Lust  (p.  1074).    Eben  darum  sind  die  Augenblicke,  wo  in  der  spe- 
culativen  Betrachtung  unser  Geist   sich  selbst  in  dem  Gedachten 


lob  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

wieder  findet,  die,  in  welchen  wir  eine  schwache  Vorstellung  von 
der  Seligkeit  haben,  deren  sich  die  Gottheit  ewig  erfreut.  Wenn 
aber  so  die  Untersuchungen  über  das  Seyende  zu  dem  Resultate 
geführt  haben ,  dass  das  aller  Realste ,  die  reine  Wirklichkeit  und 
das  Princip  alles  Wirklichen  die  eine  ewige  und  absolut  nothwen- 
dige  Gottheit  sey,  so  ist  es  erklärlich  warum  Aristoteles  die  Grund- 
wissenschaft Theologik  nennt ,  so  wie  auch  die  letzten  Bestimmun- 
gen über  das  Wesen  der  Gottheit  eine  Bestätigung  sind  davon, 
was  oben  (§.85,  1)  gesagt  war,  dass  die  Gottheit  Object  und  Sub- 
ject  der  philosophischen  Betrachtung  sey. 

9.  Die  Bestimmung,  dass  der  vovg  als  Denken  des  Denkens 
zu  fassen  sey,  von  Plato  nur  nahe  gelegt  (vgl.  §.  77,  9),  ist  hier 
mit  vollem  Bewusstseyn  und  nachdrücklich  hervorgehoben.  Mit 
diesem  Fortschritt  hängt  der  weitere  zusammen ,  dass  der  höchste 
Begriff,  bei  welchem  die  Grundwissenschaft  anlangt,  ausreicht  um 
die  daseyende  Welt  zu  begreifen,  es  nicht  ehies  hinzutretenden 
energischen  Principes  bedarf,  damit  das  Gute  in  die  Form  der 
Aeusserlichkeit  eingeführt  werde,  nicht  der  dazwischentretenden 
mathematischen  Ordnung,  damit  es  an  dieselbe  gebunden  bleibe 
(s.  oben  §.78,  2  u.  3).  Beide  Fortschritte  sind  eine  Folge  davon, 
dass  die  vh]  anders  gefasst  ist,  als  bei  Plato.  Indem  sie  aus  dem 
Nichtseyenden  zum  Nochnichtsey enden  geworden  ist,  also  ihr  der 
Zug  zum  Seyn  beigelegt  worden,  hat  die  Vielheit  und  die  sinn- 
liche Existenz  eine  metaphysische  Berechtigung  erhalten  und  ist 
die  Form,  die  diesen  Zug  auf  sie  ausübt,  aus  dem  überhimmlischen 
Räume  ihr  näher  gerückt.  Nicht  ein  'iv  nuQa  xa  KoXka  ist  nach 
Aristoteles  das  £töo?,  sondern  ein  sv  Kaxa  zäv  noUdiv  oder  auch 
iv  Toig  TcoUoig.  Eben  darum  haben  nicht  nur  die  Classen  der  Ein- 
zelwesen, sondern  diese  selbst,  wirkliche  Realität.  Während  Pinto 
in  einseitiger  Vorliebe  für  den  Monisnuis  der  Elcaten  die  sinnliche 
Welt  als  (w^enigstens  halbe)  Scheinwelt  ansieht,  und  nur  mit  Wi- 
derstreben Physiker  wird,  ja  selbst  dann  gern  Mathematiker  bleibt, 
kommt  bei  Aristoteles  der  Pluralismus,  fast  bis  zum  Anstreifen 
an  den  Atomismus,  zu  seinem  Rechte,  und  die  Naturwissenschaft 
als  Wissenschaft  vom  Qualitativen,  darum  von  der  Mathematik 
emancipirt ,  ist  sein  Lieblingsfach.  Ist  in  diesem  Allen  sein  Fort- 
schritt gegen  Pldto  unzweifelhaft,  so  bleibt  er  doch  in  einem  Punkte 
demselben  zu  nahe ,  als  dass  er  sich  von  allen  Inconsequenzen  be- 
freien könnte.  Nur  vermöge  des  stofflichen  Elementes,  das  er  in 
die  Platonischen  Ideen  hineinnahm ,  sind  diese  zu  wirksamen  Kräf- 
ten geworden.  Und  doch  wird  dieses  Element  von  dem  ausge- 
schlossen, was  das  Wirklichste  unter  dem  Wirklichen  seyn  soll. 


VI.   Aristoteles.     Die  Physik  des  Aristoteles.     §.  88.  1.  137 

aus  der  Gottheit.  Er  konnte  nicht  anders ,  denn  die  Zeit  ist  noch 
nicht  gekommen,  wo  die  Gottheit  geAvusst  wird  als  den  növog  auf 
sich  nehmend,  ohne  welchen  Gott  in  herzloser  um  Nichts  beküm- 
merter Lust  lebt,  durch  den  allein  aber  Gott  Liebe  ist  und  Schö- 
pfer. Wie  das  ganze  Alterthum,  so  ^ann  auch  Aristoteles  den 
Dualismus  nicht  überwinden,  weil  er  den  Stoff  aus  der  Gottheit 
ausschliesst ,  der  also,  wenn  auch  auf  die  blosse  Potenzialität  re- 
ducirt,  ihr  gegenüber  stehen  bleibt, 

§.  88. 
Die  Physik  des  Aristoteles, 
1,  Die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft, 
wie  man  sehr  passend  des  Aristoteles  Untersuchungen  in  seiner 
tpvaiKt]  uxooaaig  (p,  184 — 267)  genannt  hat,  beginnen  mit  einer 
Aufzählung  von  Schwierigkeiten  und  Lösungsversuchen.  Dann  A^rd 
dazu  übergegangen  die  Begriffe  der  Natur  und  des  Natürlichen  zu 
fixiren.  Es  geschieht  durch  den  Gegensatz  zum  künstlich,  oder 
gewaltsam.  Hervorgebrachten  und  führt  dazu,  dass  natürhch  nur 
sey  was  von  selbst  geschieht ,  oder  das  Princip  der  Veränderung 
in  sich  selbst  hat.  War  nun  in  der  Grundwissenschaft  als  das 
eigentliche  Princip  der  Veränderung  der  mit  der  Form  zusammen- 
fallende Zweck  erkannt,  so  wird  die  Natur  eines  Gegenstandes 
nicht  sowol  in  seinem  Stoff  als  vielmehr  in  dem  Begriff  und  Zweck 
liegen,  für  welche  jener  das  Material  und  die  Voraussetzung  bil- 
det (p.  194.  200),  wie  man  denn  auch  nach  der  Form  und  dem 
Zweck  die  Gegenstände  zu  benennen  pflegt.  Wie  die  Natur  des 
Einzelwesens,  eben  so  ist  auch  Natur  als  Ganzes  genommen  der 
Complex  vor  Allem  der  Zwecke ,  welchen  als  Bedingungen  die  wir- 
kenden Ursachen  dienen.  Damit  ist  sogleich  ausgeschlossen,  dass 
es  in  der  Natur  Zweckloses  gebe,  was  zweckwidrig  ist  ist  eben 
deshalb  auch  wider  die  Natur,  Zwar  nicht  der  Zwecke  bewusst, 
wohl  aber  zweckmässig  wirkt  die  Natur,  die  darum  nicht  wie  ein 
Gott,  wohl  aber  dämonisch  d.  h.  genial  und  instinctartig  wie  ein 
Künstler  wirkt  (p.  463),  War  nun  die  Bethätiguug  des  Zweckes 
Bewegung  gewesen ,  so  sind  sowol  die  Eleaten ,  weil  sie  diese  leug- 
nen, als  die  Pythagoreer,  die  als  Mathematiker  den  Zweckbegriff 
ignoriren,  nicht  fähig  eine  wahre  Naturwissenschaft  aufzustellen, 
vielmehr  ist  die  wahre  Naturbetrachtung  die  teleologische.  Diese 
schlicsst  die  Berücksichtigung  des  Causalzusammeiihanges  durch- 
aus nicht  aus,  nur  macht  sie  ihn  nicht  zur  Hauptsache,  sondern 
zur  Mitursache  und  zur  eoiulitio  sine  fjud  noji  (p.  642).  Diese  bis 
aufs  Wort  gehende  Uebereinstimmung  mit  P/ato  wird  dadurch  ge- 
ringer, dass  Pinto  den  Zweck  der  Dinge  ausserhalb  ihrer,  entweder 


loo  Alte  Pliilosopliie,     Zweite  Periode  i  Glanz. 'i 

in  die  jenseitigen  Urbilder,  oft  aucli  in  den  Nutzen  des  Menschen 
setzt,  während  Aristoieles  nach  dem  ihnen  immanenten  Zweck 
forscht,  sie  selbst  als  Entelechien  zu  fassen  sucht  und  die  Bezie- 
hung auf  die  Zwecke  der  Menschen  geradezu  tadelt.  Diese  innere 
Berechtigung,  welche  er  de!i  sinnlichen  Dingen,  hängt  mit  der  hö- 
heren Stellung  zusammen,  die  er  der  vlri  einräumt,  und  da  sie 
mit  dem  civayKalov ,  dagegen  das  ^v  mit  dem  Zweck  eben  so  zu- 
sammenfällt wie  bei  Pinto,  so  ist  es  selbstverständHch ,  dass  bei 
Aristoteles  die  wirkenden  Ursachen  viel  mehr  berücksichtigt  wer- 
den, und  er  sich  den  Physiologen  viel  mehr  annähert,  als  sein 
Vorgänger.  Auf  die  vir],  als  das  blosse  Gwalnov ,  führt  nun  Ari- 
stoteles alle  die  Erscheinungen  zurück,  wo  der  Naturzweck  ver- 
fehlt ward,  die  Missgeburten  und  alle  Wunder,  in  welchen  Er- 
scheinungen des  Irrationalen  der  Zufall  seine  Macht  zeigt.  Wenn 
er  von  dem  Physiker  fordert,  über  dergleichen  hinwegzugehn  und 
sich  an  das  zu  halten,  wo  die  Natur  ihre  Intentionen  erreichte, 
so  anticipirt  er  die  Verachtung,  welche  zwei  Jahrtausende  später 
Baeon  gegen  die  Possen  der  Natur  aussprach.  Uebrigens  bringt 
Aristoteles  zu  oft  die  Begritfe  der  tvm  und  des  aviö^xatov^  diese 
Gegensätze  der  zweckmässigen  Ordnung,  mit  der  menschlichen 
Willkühr  zusannnen,  als  dass  man  nicht  vermuthen  dürfte,  dass 
die  Widerstandsfähigkeit  des  Stofflichen  ihm  den  Anhaltspunkt  zur 
Antwort  gegeben  hätte ,  wenn  er  sich  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
des  Bösen  aufgeworfen  hätte.  Da  Zweck  und  Form  dasselbe  war, 
so  flieht  natürlich  die  Natur  das  Formlose  und  Unbestimmte.  Das 
Bestimmtere  ist  stets  das  Bessere  (p.  259).  Von  dem  schon  in 
der  Ontologie  entschiedenen  Grundsatz ,  dass  es  ein  wirkliches  Un- 
endliches nicht  gebe,  wird  in  der  Physik  fortwährend  Gebrauch 
gemacht ,  und  überall ,  namentlich  wo  die  endlose  Theilung  Schwie- 
rigkeiten bereitet,  festgehalten,  dass  die  Unendlichkeit  nur  mög- 
lich, nicht  wirklich  sey  (p.  204).  Wegen  der  Unmöghchkeit  aller 
Ziel-  und  Maasslosigkeit  zeigt  uns  auch  die  Natur  nirgends  un- 
vermittelte Extreme ;  wo  Etwas  ins  Maasslose  strebt  stellt  sie  ihm 
sein  Gegentheil  entgegen  (p.  652).  Die  Untersuchungen,  welche 
Aristoteles  auf  die  über  das  Unendliche  folgen  lässt ,  betrefifen  den 
Raum,  das  Leere  und  die  Zeit.  Die  Unmöglichkeit  des  Leeren 
wird  aus  den  verschiedensten  Gründen  gefolgert,  vom  Raum  aber 
und  der  Zeit  gezeigt,  dass  sie  ohne  Bewegung  gar  nicht  denkbar 
seyen,  indem  jeder  Raum  als  die  unbewegte  umfassende  Grenze 
eines  sich  Bewegenden,  der  Raum  als  die  unbewegte  Grenze  alles 
Bewegten,  d.  h.  des  Alls,  die  Zeit  aber  als  Zahl  und  Maass  der 
Bewegung,   darum  mittelbar  auch  der  Ruhe,   zu  denken  sey.    Es 


VI.   Aristoteles.     Die   Physik   des  Ari;i;toteles.     §.   88.   1.  2.  139 

wird  daraus  gefolgert,  dass  es  ohne  zählenden  Geist  keine  Zeit 
gäbe ,  und  dass  der  Kreislauf  der  Gestirne  wegen  seiner  Stetigkeit 
die  beste  Einheit  zum  Abzählen  der  Bewegungen  abgelte,  so  wie 
dass  Alles  was  weder  durch  Bewegung  noch  Euhe  tangirt  wird, 
das  absolut  Unbewegliche,  nicht  in  der  Zeit  sey.  Damit  ist  der 
Uebergang  zu  den  Büchern  der  Physik  gemacht,  welche  von  den 
älteren  Auslegern  als  die  von  den  Bewegungen  den  vier  Büchern 
von  den  Principien  pflegen  entgegengesetzt  zu  werden.  Ignorirt 
mau,  wie  Aristoteles  selbst  sehr  oft,  den  Unterschied  von  Wech- 
sel und  Uebergang  {n^xaßoU]  und  Kivrfiig) ,  so  sind  vier  Arten  des- 
selben anzunehmen,  nämlich  (relatives)  Entstehen  und  Yergehn, 
YsveGig  und  goO'o^a,  welches  die  Substanz,  Veränderung,  cdkolaßig, 
welche  die  Qualität,  Wachsthum  und  Abnahme,  aiit]aig  und  (p&iaig, 
welche  die  Quantität,  endlich  die  eigentliche  Bewegung,  (pogä, 
welche  das  nov  betrifft.  Die  übrigen  Kategorien  sollen  überhaupt 
nicht  auf  den  Wechsel,  auf  die  Tilrrjaig  im  engeren  Sinne  auch  die 
erste  Kategorie  nicht ,  weil  es  keine  entgegengesetzten  Substanzen 
gibt ,  anwendbar  seyn.  Alle  die  verschiedenen  Formen  des  Wech- 
sels haben  zu  ihrer  Voraussetzung  die  räumliche  Bewegung  (p.  260), 
die  eben  darum  als  die  erste  und  hauptsächhchste  in  der  Physik 
zu  betrachten  ist  Sie  ist  ewig  und  geht  darum  allem  Erzeugt- 
werden und  Vergehen  voraus.  Diesen  Charakter  der  Ewigkeit 
kann  aber  nur  die  in  sich  zurücklaufende  Kreisbewegung  haben, 
indem  die  geradlinichte  entweder  endlos  und  also  unvollkommen 
oder  hin  und  hergehend  und  also  durch  Ptuhepunkte  unterbrochen 
wäre.  Damit  aber  ist  auch  der  Uebergang  gemacht  zur  Unter- 
scheidung der  Erscheinungen,  in  welchen  die  unvergänglichen,  und 
derer  in  welchen  sich  die  vergänglichen  Bestandtheile  der  Welt 
zeigen.  Diese  fallen  nicht  mehr  in  die  allgemeinen  physikalischen 
Betrachtungen,  sondern  werden  in 

2.  der  Schrift  über  das  Weltall,  tisqI  ovQavov  (p.  268 — 313), 
behandelt  und  zwar  so,  dass  die  beiden  ersten  Bücher  die  kos- 
mologischen  Untersuchungen  enthalten.  Wie  Plato  so  versteht 
auch  Aristoteles  unter  oigavög  nicht  einen  Theil  der  W^elt,  sondern 
die  ganze  —  (manchmal  freilich  auch  nur  den  äussersten  Umkreis 
des  Alls)  —  und  er  setzt  sich  die  Aufgabe,  das  System  aller  räum- 
lichen Bewegungen  in  dem  All  darzustellen.  Zunächst  führt  er 
sie  zurück  auf  den  Gegensatz  der  kreisförmigen  Bewegung  um  ein 
Centrum,  und  der  geradlinichten  von  oder  zu  dem  Centrum.  Die 
erstere  nun  kommt  dem  Himmel  zu,  diesem  göttlichen  Körper, 
der  nicht  aus  dem  geradlinicht  nach  oben  strebenden  Feuer,  son- 
dern aus  dem  ewig  kreisenden  Aether  besteht.    Gründe- aller  Art 


140  Alte  Philosophie.     Zureite  Periode  (Glanz). 

Sprechen  dafüi',  dass  das  All  nur  Eines  ist,  so  wie  auch  unent- 
standen  und  unvergänglich,  unveränderlich  und  nie  alternd.  Es 
ist  begrenzt  und  von  sphärischer  Gestalt.  Nicht  als  wenn  es  aus- 
serhalb seiner  ein  räumlich  Existirendes  gäbe;  vielmehr  ist  was 
jenseits  der  äussersten  Sphäre  fällt,  weder  des  Raumes  noch  der 
Zeit  theilhaft  und  führt  ein  leidenloses  Leben ;  es  ist  das  unsterb- 
liche Göttliche,  dem  als  seinem  Ziele  jeder  Punkt  des  Alls  zustrebt. 
Eine  besondere  Seele ,  die  dem  All  beiwohnte  und  es  in  Bewegung 
setzte,  ist  nicht  anzunehmen.  Der  innere  Rand  des  Unbewegten 
ist  der  Raum,  der  also  nicht  in  der  Welt,  sondern  in  dem  viel- 
mehr sie  ist.  Die  Welt,  nächst  der  Gottheit  das  Höchste  und  da- 
rum ein  Göttliches ,  hat  wie  Alles  was  sich  selbst ,  von  Natur,  be- 
wegt, nicht  nur  ein  Oben  und  Unten,  sondern  auch  ein  Rechts 
und  Links.  Da  wir  uns  auf  der  unteren  Hälfte  der  Erde  und  also 
in  der  unteren  Hälfte  des  Alls  befinden,  indem  der  Polarstern  das 
untere  Ende  der  Weltaxe  angibt,  so  ist  die  Bewegung  des  Welt- 
alls ,  die  uns  als  nach  links  gehend  erscheint ,  eigenthch  die  nach 
rechts  gehende.  An  dem  äussersten  Kreise ,  dem  Fixsternhimmel, 
ist  sie  am  schnellsten ,  daher  zum  Maass  der  Bewegungen  am  taug- 
lichsten. Innerhalb  ihrer  befinden  sich  die  Planetensphären  mit 
den  denselben  fest  eingefügten,  nicht  rotirenden,  Sternen,  denen 
ausser  der  westwärtsgehenden  Bewegung  des  Alls  noch  eine  ent- 
gegengesetzte zukommt ,  wodurch  sie  scheinbar  gegen  die  Fixsterne 
zurückbleiben.  Aber  noch  eine  dritte,  ja  einigen  derselben  sogar 
noch  eine  vierte ,  Bewegung  muss  den  Planeten  zugeschrieben  wer- 
den, um  die  in  der  Erfahrung  gegebnen  Constellationen  zu  erklä- 
ren. Jeder  der  Planeten  hat  seinen  unbewegten  Beweger,  anstatt 
dessen  manchmal  wohl  auch  von  einer  Seele  des  Planeten  gespro- 
chen wird.  Vielleicht  dienten  ihm,  ähnlich  wie  dem  Pluto,  diese 
Stern geister  dazu,  sich  mit  der  Volksreligion  auseinander  zu  setzen. 
Die  kugelförmige  Erde  in  der  Mitte  des  Alls  steht  still ;  sie  bildet 
das  Centrum ,  ohne  welches  eine  Kreisbewegung  nicht  denkbar  ist. 
Ihr  Mittelpunkt  ist  zugleich  Mittelpunkt  des  Alls.  Damit  aber  ist 
in  dem  Universum  ein  Gegensatz  zwischen  Centrum  und  Periphe- 
rie gesetzt,  welcher  die  Grundlage  bildet  für  die  eigentlich  phy- 
sikalischen Lehren,  die  Aristoteles  in  den  zwei  folgenden  Büchern 
seiner  Sclirift  tisqI  ovqkvov  entwickelt,  welchen  sich,  fast  wie  eine 
Fortsetzung,  die  Schrift  nsgl  yersascog  nal  (p&oQÜg  (p.  313 — 338) 
anschliesst,  so  dass  in  beiden  Schriften  die  Welt  des  Veränderli- 
chen betrachtet  wird.  Eine  Widerlegung  des  Platonischen  geome- 
trischen, wie  des  Demokritischen  physikalischen  Atomismus,  fer- 
ner der  Lehren  des    Empedokles  und  Annxagoras ,   beginnt   die 


VI.  Aristoteles.     Die   Physik  des  Aristoteles.     §.  88,  2.  3.  141 

Erörterungen,  welche  dann  dazu  ilbergehn  an  jenen  Gegensatz  den 
der  centripetalen  und  centrifugalen  Bewegung  d.  li.  des  Schweren 
und  Leichten  zu  knüpfen,  den  jene  beiden  atoraistischen  Theorien 
eben  so  wenig  erklären  sollen  wie  die  anderen  Physiker.  Alle 
Versuche  der  Erklärung  führen  entweder  zu  der  widersinnigen 
Annahme  eines  leeren  Raums,  oder  können  wenigstens  nicht  er- 
klären, warum  die  grössere  Masse  Feuer  mehr  nach  oben  strebt 
als  die  geringere.  Absolut  leicht  ist  also  was  überhaupt,  relativ 
leicht  was  mehr  als  ein  Anderes  durch  seine  eigne  Natur  nach 
oben  strebt.  Jenes  tritt  im  Feuer,  wie  das  absolut  Schwere  in 
der  Erde,  hervor,  und  darum  fällt  der  Gegensatz  beider  sogleich 
mit  dem  des  Warmen  und  Kalten  zusammen.  Sie  verhalten  sich 
wie  Form  und  Stoff,  da  die  Form  das  Umschliessende  ist,  das 
Leichte  aber  nach  dem  Umkreise  strebt.  Indem  zu  dem  Gegensatz 
des  Warmen  und  Kalten  als  der  activen  Priucipien,  der  zweier  pas- 
siver, des  Trocknen  und  Feuchten  tritt,  sind  vier  Combinationen 
möglich,  die  also  die  vier,  als  einfach  erscheinenden,  Körper  sind, 
die  bei  Empcdohics  die  erste,  hier  dagegen  die  dritte  Stelle  ein- 
nehmen, da  ihnen  die  Gegensätze,  diesen  aber  wieder  der  ganz 
unbestimmte,  nie  für  sich  vorkommende,  nur  gewisser  Massen 
seyende  Stoff  vorgedacht  werden  müssen.  (Die  Aehnlichkeit  mit 
Anaximundros  §.  24  ist  augenfällig.)  Ein  besonders  starker  Ge- 
gensatz findet  zwischen  Feuer  und  Wasser  und  wieder  zwischen 
Luft  und  Erde  Statt ,  obgleich  dies  den  Uebergang  jedes  Elements 
in  jedes  andere  nicht  unmöglich  macht.  So  wird  aus  Dampf,  dem 
Geraisch  von  Luft  und  Erde,  durch  Hinzutreten  dei'  Wärme  Feuer 
u.  dgl.  Wenn  die  Elemente  sich  untereinander  so  innig  mischen, 
dass  sie  nicht  mehr  wirklich  sondern  nur  der  Möglichkeit  nach 
existiren,  entstehen  die  complicirteren  Substanzen  und  Dinge.  Der 
Kreislauf  solches  Entstehens,  dem  ein  analoges  Vergehen  ent- 
spricht, ist  ewig  wie  der  des  Alls.  Die  Schiefe  der  Ekliptik  ver- 
wandelt seine  Stetigkeit  in  Periodicität ,  so  dass  Alles  von  Zeit  zu 
Zeit  wiederkehrt,  wenn  auch  nicht  als  numerisch,  sondern  nur  in 
seiner  Art  dasselbe. 

3.  Gewisser  Massen  ein  Mittelglied  zwischen  den  allgemein 
physikahschen  Lehren  und  der  besonderen  Physik  bilden  die  Mt- 
vttoooXoyLKä  in  ihren  ersten  drei  Büchern  (p.  338—378).  In- 
dem sie  die  Erscheinungen  betrachten,  die  zwischen  der  Region 
der  Gestirne  und  der  Erde  vorgehn ,  versteht  sichs  ganz  von  selbst, 
dass  die  beiden  Elemente  zwischen  dem  Feuer  und  der  Erde,  na- 
mentlich als  Athmosphäre  und  Ocean ,  die  wichtigste  Rolle  spielen 
müssen.    Die  zwei  Arten  der  Verdunstung,   die  feuchte  und  die 


142  Alte  Philosophie.     Z-n-eite  Pei-iode  (Glanz). 

trockne,  ar/tt/g  und  avad-vfitaaig ,  dienen  dazu  nicht  nur  alle  wässe- 
rigen Niederschläge,  sondern  auch  die  Winde,  die  elektrischen 
Erscheinungen ,  die  Erdbeben  u.  s.  w.  zu  erklären ,  kurz  Alles  was 
in  die  mit  Dämpfen  geschwängerte  Athmosphäre  fällt,  wozu  Ji'i- 
sloteles  nicht  nur  die  Sternschnuppen,  sondern  auch  die  Kometen 
rechnet.  Schleiermacher  hat  Recht,  wenn  er  sich  wundert,  dass 
in  dieser  Partie  Ihrahlif  nicht  als  Gewährsmann  angeführt  wird. 
Oberhalb  der  Athmosphäre  bis  zu  den  Gestirnen  hin,  ist  es  weder 
Feuer  noch  Luft,  das  angenommen  wird  als  das  den  Eaum  erfül- 
lende, sondern  etwas  Reineres  als  beide.  Das  vierte  Buch  der 
MiTEcoQoXoyiyiä  (p.  378 — 390),  das  schwerlich  geschrieben  wurde 
um  mit  den  drei  anderen  ein  Ganzes  zu  bilden,  enthält  Untersu- 
chungen ,  welche  den  üebergang  zum  Organischen  vermitteln.  Sie 
betrefifen  nämlich  die  durch  Kälte  und  Wärme  bewirkten  Verände- 
rungen des  Feuchten  und  Trocknen,  die  sich  im  Schmelzen,  Sie- 
den, Austrocknen,  eben  so  aber  auch  in  der  Erzeugung,  Verdau- 
ung, im  Reifen  und  der  Verwesung  zeigen  sollen ,  und  gehen  dann 
zu  denjenigen  Substanzen  über,  welche  Aristoteles  die  gleichthei- 
ligen  {o^oio^tqrt)  nennt,  worunter  er  Mischungen  versteht,  die  so 
innig  sind  dass,  wie  weit  man  auch  mit  der  mechanischen  Thei- 
lung  gehe,  man  stets  dem  Ganzen  gleichartige  Theile  hat.  Mau 
denke  an  Holz-  oder  Knochensubstanz  und  dergleichen.  Obgleich 
es  vorkommt,  dass  auch  Wasser  ein  o,aoto|it£^£'?  genannt  wird,  so 
ist  im  Ganzen  doch  darunter  ein  Solches  zu  vcrstehn,  welches 
einerseits  (primäre,  secundäre  u.  s.  w.)  Mischung  von  Elementen, 
namenthch  des  Wassers  und  der  Erde ,  andrerseits  aber  noch  nicht 
ein  Gegliedertes  ist  wie  das  Antlitz,  das  zerschnitten  nicht  aus 
Antlitzen  besteht.  Alle  Metalle  unter  Anderem  gehören  zu  dem 
Gleichtheiligen.  Diese  Art  von  Substanzen  bildet  nun  den  Stoff 
und  das  Material,  aus  welchem  das  avo^oio^uQE?,  das  aus  verschie- 
denen Gliedern  zusammengesetzte  Organische  sich  bildet. 

4.  Die  Biologie  des  Aristoteles  ist  besonders  in  den  beiden 
ersten  Büchern  seiner  Schrift  m^X  fvi^jg  (p.  402 — 424)  entwi- 
ckelt. Die  materielle  Bedingung  des  Lebens  ist  ein  nicht  gleich- 
theiliger  sondern  organischer,  d.h.  aus  Gliedern  zusammengesetz- 
ter Körper,  der  sich  von  einer  Maschine  dadurch  unterscheidet, 
dass  sie  durch  Kunst,  er  dagegen  von  Natur  organisch  ist.  Die- 
ser allein  aber  gibt  noch  kein  Lebendiges,  denn  ein  Leichnam 
wird  nur  uneigentlich  Thier  oder  Mensch  genannt.  Sondern  es 
muss  dazu  kommen  der  diesem  Organismus  immanente  Zweck, 
welcher  den ,  der  Möglichkeit  nach  lebenden ,  Körper  zum  wirklich 
lebendigen  macht,    Lebensprincip  oder  Seele  ist  also  die  Entelechie 


VI.  Aristoteles.     Die  Physik  des  Aristoteles.     §.  88,  4.  143 

(Function)  eines  von  Natur  organischen  Körpers.  Die  Seele  als 
die  Form  und  der  immanente  Zweck  des  Leibes  ist  daher  weder 
Leib,  noch  ohne  Leib  denkbar,  sie  ist  für  den  Leib  was  das  Se- 
hen für  das  Auge  und  eine  Trennung  beider,  oder  gar  eine  Ver- 
bindung mit  einem  andern  Leibe,  ist  eben  so  unmöglich ,  wie  dass 
sich  Flötenkunst  in  Ambosen  oder  Schraiedekunst  in  Flöten  be- 
thätige.  Die  Seele  selbst  aber  bethätigt  sich  weder ,  und  da  diese 
ihre  Bethätigungen ,  das  Empfinden  u.  s.  w.  sich  zu  ihr  wieder  wie 
Energien,  Entelechien,  verhalten,  heisst  sie  erste  Entelechie  des 
Leibes.  Ihre  Functionen  bilden  eine  Stufenfolge ,  indem  die  nie- 
deren als  Voraussetzungen  der  höheren  in  diesen  enthalten  sind 
wie  das  Dreieck  im  Vieleck.  Die  allerniedrigste  Äeusserung  einer 
Seele,  und  deswegen  auch  bei  der  niedrigsten  Form  des  Lebens 
vorhanden ,  ist  das  »genriKÖv ,  d.  h.  Ernährung  und  Fortpflanzirag. 
Diese  fehlt  selbst  bei  den  Pflanzen  nicht,  die  zwar  beseelt  sind 
und  leben,  aber  weit  unter  den  Thieren  stehn.  Unter  Anderem 
auch  deswegen,  weil  sie  nur  den  für  die  Ernährung  nothwendigen 
Gegensatz  von  unten  und  oben,  d.  h.  Mund  (AYurzel)  und  Abson- 
derungs-  oder  Fortpfianzungsorgan  ( Blüthe)  zeigen ,  nicht  aber  den 
von  vorn  und  hinten,  rechts  und  links.  (Ein  eignes  Werk  über 
die  Pflanzen  hat  Aristoteles  nicht  geschrieben  oder  es  hat  sich 
nicht  erhalten.  Xur  vereinzelte  Bemerkungen  finden  sich,  wo  ihr 
Unterschied  von  den  Thieren  zur  Sprache  kommt.)  Zu  dieser  un- 
tersten Lebensstufe  tritt  nun  bei  dem  Thiere  die  sinnliche  "Wahr- 
nehmung hinzu,  mit  dieser  aber,  da  das  Fühlen,  das  die  Grund- 
lage alles  ^Yahrnehmens  bildet,  Lust-  und  Unlustempfindungen 
gibt,  ein  Trieb  die  letzteren  loszuwerden,  so  dass  also  das  «jg^?;- 
Tixov  und  oQSKxiTiöv  bei  allen,  das  aivririKov  x.kt«  t6v  xötiov  bei  den 
meisten  Thieren  vorkommen  muss.  Mit  dem  ersteren  dieser  Mo- 
mente bekommt  der  Gegensatz  von  vorn  (d.  h.  Sinnen seite)  und 
hinten,  mit  dem  zweiten  der  von  rechts  (d.  h.  Hauptseite)  und 
links  eine  Bedeutung.  Bei  dem  Menschen  als  dem  vollkommensten 
Wesen  fällt,  da  er  aufrecht  steht,  sein  oben  und  unten  mit  dem 
der  Welt  zusammen.  Es  werden  nun  die  einzelnen  Sinne  sehr 
ausführlich  diu'chgenommen  und  die  feinere  Ausbildung  des  Tast- 
sinns bei  dem  ^lenschen  wird  mit  seiner  grösseren  Vernünftigkeit 
in  Zusammenhang  gebracht  Hier  ist  die  Schrift  7t£^\  aia^^- 
c£w?  y.al  aia&riTüv  (p.  436—409)  ZU  vergleichen.  Allen  Sin- 
nesempfindungen ist  dies  gemeinschaftlich,  dass  darin  die  Form 
des  Gegenstandes  ohne  Materie  percipirt  wird ,  dass  Bewegung  da- 
bei mit  im  Spiele  ist,  und  dass  durch  ein  Medium  auf  die  Sinnes- 
organe  einge\\irkt   wird.     Auch  Geschmack  und  Tastsinn  machen 


144  Alte  Philosophie.     Z^veite  Periode    (Glauz). 

hinsichtlich  des  letzteren  keine  Ausnahme ,  da  ihr  eigentliches  Or- 
gan sich  in  der  Herzgegend  befindet.  Durch  den  Gemeinsinn  neh- 
men wir  wahr,  dass  wir  empfinden  und  vermögen  wir  die  Empfin- 
dungen mehrerer  Sinne  auf  einen  Gegenstand  zu  beziehn.  Das 
periodisch  eintretende  Aufliören  aller  Sinnesempfindungen  ist  der 
Schlaf,  der  eben  deswegen  bei  allen  Thieren  vorkommt.  Die  Spu- 
ren der  Wahrnehmungen  sind  Vorstellungen,  das  Bewahren  der- 
selben Erinnerung  fti'?/V?j.  Von  ihr,  die  auch  bei  den  Thieren 
vorhanden,  ist  zu  unterscheiden  die,  mehr  combinirende ,  Wieder- 
erinnerung ai'dixin]Gic ,  die  nur  der  Mensch  hat.  Es  verhält  sich 
mit  dieser  Steigerung  wie  mit  der  des  Triebes,  der  bei  den  nie- 
deren Thieren  nur  Begierde ,  bei  den  vollkommneren  auch  Gemüth 
(d-vfiog),  bei  den  Menschen  ausserdem  auch  noch  Wollen  ist. 

5.  An  die  Untersuchungen  im  zweiten  so  wie  am  Anfange 
des  dritten  Buches  der  Schrift  über  die  Seele,  schliesst  sich  das 
an,  was  Aristaldes  in  der  Zoologie  geleistet  hat.  Die  neun  Bü- 
cher seiner  Thiergeschichte  {tc^qX  xä  '^cpa  laroQiai,  p.  486—638)  (das 
zehnte  gehört  ihm  nicht  an)  sind  bestimmt,  das  historisch  gege- 
bene Material  übersichtlich  zu  ordnen,  enthalten  aber  ausserdem 
eine  Menge  Bemerkungen  von  nachlialtiger  Bedeutung  für  die  phi- 
losophische Naturbetrachtung.  Vor  Allem  ist  hervorzuheben  der 
Grundgedanke  der  späteren  vergleichenden  Anatomie,  dass  die  zu 
einem  Typus  gehörigen  Organe,  selbst  wo  äussere  Umstände  sie 
unnütz  machen ,  wenigstens  als  Rudiment  vorkommen ,  ferner  dass 
der  Bau  des  menschlichen ,  als  des  vollkommensten ,  Leibes  bei  der 
Betrachtung  des  thierischen  zur  Orientirung  stets  im  Auge  behal- 
ten werden  müsse  u.  a.  m.  Die  Eintheilung  in  Säugethiere ,  Vö- 
gel, Fische  und  Amphibien,  Insecten.  Schaalthiere ,  Weichschaal- 
thiere  und  Weichthiere ,  wo  die  ersten  vier  Klassen  als  lilutfüh- 
rende,  die  letzten  vier  als  blutlose  Thiere  zusammengefasst  wer- 
den, ist  Epoche  machend  geworden.  Nicht  nur  Vorarbeiten  zu 
einer  Philosophie  der  lebendigen  Natur,  sondern  diese  selbst  ent- 
hält die  Schrift  tieqI  ^aav  ixoqicov  (p.  639 — 697),  das,  in  sei- 
nem ersten  Buche  methodologisch,  in  den  folgenden  eine  Organo- 
logie  enthält,  die  durchweg  teleologisch  gehalten  ist,  ohne  dass 
die  Rücksicht  auf  die  wirkenden  Ursachen ,  namentHch  bei  der  Er- 
klärung mehr  accidenteller  Unterschiede  vernachlässigt  würde.  Der 
Unterschied  der  aus  homoiomerischen  Stoffen  gebildeten  Sinnes- 
werkzeuge, und  der  aus  ungleichtheiligen  geformten  übrigen  Or- 
gane ,  ein  Gegensatz  der  auf  das  Herz ,  wegen  seiner  Bestimmung, 
keine  Anwendung  findet,  die  Bedeutung  welche  dem  Blute  beige- 
legt wird,  aus  dem  sich  der  ganze  Organismus  zuerst  bildet  und 


VI.  Avistoteies      Die  Physik   des  Aristoteles.     §.   88.   '■.  6.  145 

von  dem  er  später  sich  nährt ,  sind  besonders  zu  erwähnen.  An 
diese  Schrift  schliessen  sich  dann  die  kleineren  Abhandlungen  über 
die  Bewegung  der  Thiere,  über  den  Gang  derselben,  und  die  grös- 
sere Schrift  71  £o)  ^Mfoi'  yfvsaecog  (p,  715 — 789),  so  wie  einige 
andere  Abhandlungen  in  den  Parvfs  iwtnraUbvs.  Die  Fortpflan- 
zung wird  als  das  Mittel  gefasst,  wodurch  Pflanzen  und  Thiere, 
die  als  Individuen  dem  Tode  verfallen ,  der  Unsterblichkeit,  wenig- 
stens der  Gattung,  theilhaft  werden.  Eine  Stufenfolge  der  Erzeu- 
gung wird  angenommen ,  in  welcher  die  univoke  vor  der  äquivoken 
den  Vorzug  hat,  die  durch  Trennung  der  Geschlechter  vermittelte 
die  höchste  Stelle  einnimmt.  Das ,  überhaupt  unvollkommnere, 
Weibliche  liefert  in  den  Katamenien  den  Stoß",  das  Männliche 
durch  den,  einen  Aether-ähnlichen  Hauch  enthaltenden,  Saamen  die 
Form.  Wie  bei  der  Erzeugung,  so  ist  auch  bei  dem  Erzeugten 
die  leibliche  Seite  auf  das  mütterliche,  die  seelische  auf  das  väter- 
liche Princip  zurückzuführen.  An  die  Lehre  von  der  Erzeugung, 
die  je  nach  Verschiedenheit  der  Thierklassen  verschieden  ist,  schlies- 
sen sich  Betrachtungen  über  die  Entwickelung  des  Fötus,  so  wie 
über  das  Erwachsen  und  Reifen  des  Geborenen.  Mit  diesen  hän- 
gen die  über  Länge  und  Kürze  des  Lebens,  über  Jugend  und  Al- 
ter, Leben  und  Tod  so  genau  zusammen,  dass  man  sich  nicht 
wundern  darf,  wenn  Artstote! rs  diese  kleinen  Abhandlungen  in 
den  Parris  natnrcüihvs.  als  Abschluss  dessen  bezeichnet,  was 
über  die  Thiere  zu  sagen  sey  (p.  467). 

F.  N.  Titze  Aristoteles  über  die  wissensch.  Behandlung  der  Naturkunde.  Prag  1819. 

6.  Die  Anthropologie  im  eigentlichen  Sinne ,  d.  h.  das  was  den 
Menschen  specifisch  von  allen  Thieren  unterscheidet,  wird  im  drit- 
ten Buche  der  Schrift  von  der  Seele  (p.  424— 435)  abgehandelt. 
Dieses  Unterscheidende  ist  der  vovg,  der  nicht  nur  eine  Steigerung 
des  an  die  Organe  gebundenen  Lebensprincipes  ist,  sondern  der, 
weil  mit  ihm  eine  ganz  neue  Reihe  von  Erscheinungen  beginnt, 
ein  Göttliches  genannt  werden  kann,  das  zu  den  blossen  Seelen- 
thätigkeiten  hhizutritt.  Daher  der  Ausdruck  ^vq^AHv  (p.  736). 
Durch  ihn  modificirt  sich  in  dem  Menschen  Alles  ,  was  er  mit  den 
Thieren  gemein  hat,  auf  eigenthümliche  Weise.  Seine  Bewegungen 
z.  B.  gehn  aus  Vorsatz  und  vernünftiger  Berathschlagung  hervor, 
seine  Wahrnehmungen  und -Vorstellungen  sind  mit  Fürwahrhalten 
oder  Gewissheit  begleitet  u.  s.  w.  Nur  der  voü?  ist ,  weil  mehr  als 
eine  Function  des  Leibes ,  von  diesem  trennbar  {imQiaxög) ,  unver- 
gänglich und  ewig.  Dies  aber  leidet  eine  Beschränkung.  Wie  in 
Allem,  so  ist  nämlich  auch  im  Geiste  ein  Doppeltes  zu  unterschei- 
den, das  Vermögen  und  die  Kraftthätigkeit ,   und   da  jenes  das 

Eidniuiia  Gesch.  d.  Phil.  1  1/) 


146  Alte  Philosopliie      Zweite   Periode  (Glanz). 

Princip  des  Leidens  gewesen  war,  so  wird  demgeniäss  ein  leiden- 
der und  ein  tliätiger  vovg  unterschieden ,  welcher  letztere  der  alles 
Leidens  ledige  ist.  Der  erstere,  TTa&ijziaog^  welcher  auch  vom  Den- 
ken dasjenige  befasst,  was  an  "Vorstellungen  und  also  zuletzt  an 
Wahrnehmungen  gebunden  ist,  das  empirische  Denken,  ist  nicht 
unabhängig  von  den  Organen  und  darum  ist  er  mit  seinen  Erin- 
nerungen u.  s.  w.  vergänglich  wie  die  Organe.  Zu  ihm  verhält 
sich  als  der  königliche  Beherrscher  der  vovi;  jtoi,tiTr/,6g ,  der,  da  er 
gewisser  Maasseu  selbst  das  ist  was  er  erkeinit,  von  nichts  An- 
derem bestimmt,  ganz  frei,  ist.  Dieser  ist  unsterblich  und  ewig. 
Dass  es  dieser  thätige  Geist  ist ,  der  in  den  Augenblicken  der  spe- 
culativen  Beschäftigung  im  Menschen  fungirt,  darüber  kann  kein 
Zweifel  Statt  finden.  Dagegen  sehr  viele  über  die  Grenzen  zwi- 
schen dem  thätigen  und  leidenden  Geiste.  Noch  mehr  über  das 
Verhältniss  des  ersteren  zum  göttlichen.  Dafür  dass  nur  der 
göttliche  Geist  ganz  frei  von  allen  Leiden,  darum  reine  Kraft- 
thätigkeit  und  unsterblich  sey,  dass  er  nur  für  die  Zeit  des  irdi- 
schen Lebens  mit  dem  einen  Individuo,  nach  dessen  Tode  mit 
einem  anderen,  verbunden  sey,  und  daher  nur  von  seiner,  nicht 
aber  von  der  ünsterbhchkeit  der  Einzelpersöulichkeit  die  Rede 
seyn  könne ,  dafür  kann  man  sich  auf  die  älteren  Aristoteliker  be- 
rufen. Andrerseits  haben  V^iele,  so  unter  den  Neueren  SviieU'my, 
Bruiidh  u.  A.,  auf  Aeusserungen  des  Aristoteles  Gewicht  gelegt, 
welche  den  thätigen  Geist  als  persönlich  bestinnnt  zu  fassen  schei- 
nen, woraus  sich  dann  die  persönliche  Unsterblichkeit  von  selbst 
ergibt.  Vergleicht  man  den  Standpunkt  des  Aristoteles  mit  dem 
des  Pinto  und  bedenkt,  dass  es  diesem  letzteren  gewiss  Ernst 
war  mit  der  persönlichen  Unsterblichkeit,  so  wird  die  Präsumtion 
dafür  bei  Aristoteles,  bei  dem  das  Einzelwesen  ja  viel  mehr  berech- 
tigt erscheint  als  bei  Pluto .  noch  grösser  seyn  müssen.  Freilich, 
wie  er  sich  die  Unsterblichkeit  gedacht  hat,  ist,  da  er  ausdrück- 
hch  Erinnerungen ,  Vorstellungen  u.  s.  w,  als  vom  Körper  abhängig 
und  vergänglich  bezeichnet ,  nicht  zu  entscheiden ,  und  nur  dies 
zu  behaupten,  dass  die  theoretische,  speculative,  Natur  des  Gei-. 
stes  als  die  eigentliche  und  darum  unverlierbare  gefasst  wird. 

7.  Dass  Aristoteles,  hätte  er  eine  ausführhche  Darstellung 
der  Mathematik  gegeben,  dieselbe  hinter  die  Ontologie  gestellt 
hätte,  versteht  sich.  Aber  auch  die  Physik  muss,  worauf  auch 
der  Name  der  zweiten  (nicht  dritten)  Philosophie  hinweist ,  vor  die 
Mathematik  gestellt  werden,  da  sie  ihre  naturgemässe  Voraussetzung 
bildet.  Nicht  nur  ist  der  Raum,  dieser  Grundbegriff  der  Mathe- 
matik, in  der  Physik  entwickelt,  sondern  alle  mathematischen  Be- 


VI.  Aristoteles.     Die  Ethik  des  Aristoteles.     §.  89.   i.  147 

gi'ifife  entstehn  dem  Aristoteles  nicht,  wie  uns,  durch  eine  Con- 
struction  <i  prlofi ,  sondern  durch  Abstraction  von  dem  Sinnlichen 
i|  a(pai^£G£(og ,  SO  dass  sie  ihm  nicht,  wie  die  ontologischen ,  etwas 
wirklich  vom  Körperlichen  Getrenntes  bezeichnen,  sondern  Solches 
was  die  Mathematilier  nur  so  ansehn.  Natürlich  polemisirt  daher 
Aristoteles  gegen  die,  welche  die  Mathematik  an  die  Stelle  der 
Grundwissenschaft  stellen  wollen.  Der  Gegenstand  der  Mathematik 
ist  das  Quantitative.  Dieses  aber  ist ,  je  nachdem  es  zählbar  oder 
messbar,  Menge  oder  Grösse,  womit  der  Unterschied  zwischen 
Arithmetik  und  Geometrie  gegeben  ist.  Die  eine  hat  es  mit  Un- 
räumlichem, die  andere  mit  Räumlichem  zu  thun.  Eben  darum 
wird  auch  das  erste  Element  beider,  der  Punkt  und  die  Einheit, 
so  definirt,  dass  jener  ^lovag  d^iaiv  f/ovaa ,  diese  arly^nj  K&etog  sey, 
Definitionen,  welche  durch  die,  den  Alten  gewöhnliche,  Verbindung 
des  geometrischen  und  arithmetischen  Verfahrens  nahe  gelegt  wer- 
den, l'nter  den  vielen  Unterschieden  zwischen  Tiltj&og  und  jxiys&og 
wird  unter  anderen  auch  angeführt,  dass  es  im  Gebiete  der  Men- 
gen kein  Grösstes  gebe ,  wohl  aber  ein  Kleinstes ,  die  Einheit,  wäh- 
rend in  dem  andern  es  kein  Kleinstes  (Atom) ,  wohl  aber  ein  Gröss- 
tes (den  Raum)  gebe.  Gründliche  Untersuchungen  über  Continuität 
undDiscretion,  freilich  mehr  hn  physikalischen  als  mathematischen 
Interesse,  linden  sich  im  siebenten  Buche  der  Physik.  Ausser 
dem,  was  die  reine  Mathematik  betrifft,  findet  mau  in  des  Ari- 
stoteles Schriften  auch  Winke  über  die  angewandten  Theile  der- 
selben, so  über  Optik,  über  Mechanik  oder  die  Kunst  die  natür- 
lichen Schwierigkeiten  zu  überwinden  u.  s.  w. 

§•  «^J- 
Die  Ethik  des  Aristoteles. 
1.  Ganz  wie  Plato,  der  eben  deswegen  seine  Ethik  unter  den 
Ueberschriften  Staatsmann  und  Staat  abgehandelt  hatte,  so  ist 
auch  Aristoteles  überzeugt,  dass  der  Mensch  seine  sittliche  Be- 
stimmung nur  im  Staate  erfüllen  kann,  dessen  er  nicht  entbehren 
kann,  weil  er  kein  Gott  ist,  und  von  dem  sich  lösend  er  zum 
bösartigsten  und  gefährlichsten  Thier  wii-d.  Eben  darum  nennt  er 
sehr  oft  alle  Untersuchungen  über  die  Tugend  staatsmännische 
(p.  1094).  Dies  aber  hindert  ihn  nicht,  zuerst  Untersuchungen 
anzustellen  über  die,  freilich  nur  im  Staate  ganz  zu  realisirende, 
Besthnmung  des  einzelnen  Menschen ,  und  über  die  subjective  Be- 
schaffenheit, die  zu  solcher  Realisation  erforderlich  ist.  Diese 
sind  niedergelegt  in  den  zehn  Büchern,  die  er  selbst  wiederholt 
als  seine 'H^iKa  (p.  lu94— 1181)  citirt.  Sie  verhalten  sich  zu  der 
Politik  im  engeren  Sinne ,  wie  der  allgemeine  Theil  zum  augewaud- 

10* 


148  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz).  > 

ten.  In  dem  ersten  Buche  (p.  1094 — 1103)  wird  zuerst  die  Auf- 
gabe so  fixirt ,  dass  nicht  sowol  die  Idee  eines  absolut  Guten  auf- 
gestellt ,  als  vielmehr  dargestellt  werden  solle ,  welches  erreichbar 
ist,  dass  eben  darum  auf  zufällige  Umstände,  kurz  auf  Veränder- 
liches ,  Rücksicht  genommen  und  also  auf  wissenschaftliche  Strenge 
verzichtet  werden  müsse.  Da  die  Ethik  als  Wissenschaft  nur  das 
Warum  zu  dem  Dass  finden  will,  so  versteht  sichs  von  selbst, 
dass  zu  ihrem  Verständniss  die  innere  Erfahrung,  dass  dies  oder 
jenes  gut  sey,  die  Vorbedingung  bildet.  Zuerst  ist  die  Frage  zu 
beantworten :  welches  ist  das  höchste  durch  unser  Handeln  erreich- 
bare Gut?  Die  Uebereinstimmung  Aller,  zugleich  der  Doppelsinn 
in  dem  Ausdruck  sv  jigaTTsiv  bringt  den  Aristoteles  dahin,  nicht 
weiter  zu  bezweifeln,  dass  die  Glückseligkeit,  svöaifiovla,  dieses  Gut 
sey.  Die  neue  Schwierigkeit,  dass  unter  diesem  Worte  der  Eine 
Lust,  der  Andere  praktische  Thätigkeit  namentlich  im  Staate,  ein 
Dritter  Weisheit  versteht,  wird  vorläufig  damit  beseitigt,  dass  diese 
drei  sich  nicht  ausschliessen.  Im  zweiten  Buche  (p.  1103 — 1109) 
wird  untersucht,  durch  welche  Thätigkeit  jenes  Ziel  erreicht  wird, 
d.  h.  worin  die  Tugend  besteht?  Da  jenes  Ziel  ein  menschliches, 
so  kann  sie  nur  in  einem  specifisch  menschlichen  Thun  bestehn, 
darum  nicht  im  Vegetiren  oder  Leben,  sondern  in  der  Bethäti- 
gung  des  Vernunftwesens  als  solchen.  Wenn  nun  in  dem  Men- 
schen die  doppelte  Seite  der,  dem  Thierischen  verwandten  na&t}, 
d.  h.  der  mit  Lust  und  Unlust  begleiteten  praktischen  Zustände, 
und  der  Vernunft  unterschieden  werden  muss,  so  ergeben  sich 
daraus  zwei  Klassen  von  Tugenden:  einmal  die  ethischen  Tu- 
genden, d.  h.  solche  die  in  der  Herrschaft  der  Vernunft  über  die 
sinnhchen  Triebe,  zweitens  solche  die  in  der  Belebung  und  Stei- 
gerung der  Vernunft  bestehn.  Die  letzteren ,  die  dianoetischen 
Tugenden,  werden  zunächst  bei  Seite  gelassen  und,  in  Ueberein- 
stimmung mit  Pfato .  der  das  Gute  als  cvfifisTQov  gefasst  hatte, 
gezeigt,  dass  wenn  die  Tugend  dadurch  entsteht,  dass  an  die  na- 
türlichen Triebe,  als  Material,  der  ogO-Sg  Xoyog,  als  determinirende 
Form,  gebracht  wird,  eine  Mitte  zwischen  Extremen  daraus  her- 
vorgehn  muss.  Diese  ist  nicht  von  Natur  gegeben,  sondern  aus 
dem  Vorsatz  hervorgegangen,  auch  nicht  eine,  die  nur  einmal  vor- 
kommt, sondern  durch  Wiederholung  Gewohnheit  und  bleibender 
Zustand  geworden  ist.  Kurz,  die  Tugend  ist  s'§ig  nQoctiQrixixTt]  h 
lisaoTrjTi  Tivi  ovßa,  WOZU  noch  um  die  individuelle  Verschiedenheit 
zu  wahren:  rrj  rcQog  vjfxag  hinzugesetzt  wird.  Der  in  diese  Ent- 
wicklung hineingezogene  Begriff  des  Vorsätzlichen  bringt  dazu,  im 
dritten  Buche  (p.  1109— 1119)  denselben  so  wie  die  verwandten 


VI.  Aristoteles.     Die  Ethik  des  Aristoteles.     §.  89,  1.  149 

Begriffe  des  Freiwilligen  und  Unfreiwilligen ,  des  Versehns  und  der 
Absicht  genauer  zu  erörtern,   wobei  Aristoteles  direct  gegen  So- 
krates  poleniisirt,  der  die  Freiheit  geleugnet,  indirect  gegen  Ptato, 
der  sie  nicht  entschieden  genug  behauptet  hatte.    Dann  folgt  im 
vierten  Buche  (p,  1119 — 1128)  die  Tafel  der  (ethischen)  Tugen- 
den, deren  stillschweigend  vorausgesetzte  psychologische  Grund- 
lage die  verschiedenen  Formen  der  Selbstliebe  und  der  Neigung 
zu  seyn  scheinen.    Zu  den  Platonischen  Tugenden  der  Tapferkeit 
und  Massigkeit  treten  Liberalität,  Hochherzigkeit,  Ehrliebe,  Milde, 
Offenheit,  Artigkeit,  und  werden,  nicht  wie  hei  PI ato  einem,  son- 
dern je  zwei  Extremen  entgegengestellt  als  Mitten .  nicht  zwischen, 
sondern  über  ihnen.    Dass  die  Gerechtigkeit  abgesondert  im  fünf- 
ten Buche  (p.  1129 — 1138)  abgehandelt  wird,  hat  seinen  Grund 
theils   darin,   dass  Aristoteles   sich  nicht   davon  losmachen  kann, 
sie  mit  Plato  als  die  Grundlage  aller  ethischen  Tugenden  zu  fas- 
sen, theils  wieder  dass  durch  die  formelle  Begriffsbestimmung,  die 
sie  erhält,   sie  den  Uebergang  zu  bilden  scheint  zu  der  zweiten 
Klasse  der  Tugenden,   theils  eudhch   dass  durch  ihre  Beziehung 
zum  Gesetzgeber  sie  überhaupt  über  die  Tugendlehre  hinausweist. 
Uebrigens  ist  die  mathematische  Formulirung  des  Gerechtigkeits- 
begrifts  in  dem,  der  geometrischen  und  arithmetischen  Proportion 
entsprechend,  die  vertheilende  und  ausgleichende  Gerechtigkeit  die 
Arten  bilden,  ein  Beweis  wie  trotz  seiner  Polemik  gegen  die  Py- 
thagoreer  gerade  in  diesem  Punkte ,  Aristoteles  die  Natur  des  Al- 
les zusammenfassenden  Philosophen  auch  hinsichtlich  ihrer  nicht 
verleugnet.    Wie  der  Begriff  der  Gerechtigkeit,  so  weist  noch  mehr 
der  der  Billigkeit,  als  der  Ergänzung  des  gesetzlich  Bestimmten,  auf 
Staatsverhältnisse  hinüber.    Das  sechste  Buch  (p.  1138 — 1143) 
ist  den  dianoetischen  Tugenden  gewidmet.    Nicht  sowol  eine  auf 
ausgesprochenem  oder  vorausgesetztem  Theilungsgrunde  beruhende 
Darstellung  disjuncter  Glieder,  als  vielmehr  eine  Stufenleiter  der 
Auffassungen  der  Wahrheit  wird  hier  gegeben,  und  dem  unmittel- 
bar das  Wahre  ergreifenden  vovg  der  Vorzug  vor  Allen  eingeräumt. 
Die  Weisheit ,  wie  sie  befasst  was  er  und  was  die  beweisende  Wis- 
senschaft lehrt,  ist  die  wahre  Glückseligkeit  und  das  eigentliche  Ziel 
des  menschlichen  Strebens.    Für  das  praktische  Leben  aber  ist  von 
mehr  unmittelbarer  Wichtigkeit  die  Vernünftigkeit  und  Wohlbera- 
thenheit  {(pQovriöis  und  evßovUa) ,  die  beide  auf  das  Einzelne  gehn. 
Durch  sie   wird   selbst   die  Kunst  zu   einer  Tugend  (Virtuosität?) 
und  wird  allen  niederen  Stufen  der  Weg  zur  Weisheit  gewiesen  als 
zu  dem  Ziel,  das  nur  Einzelne  in  einzelnen  Momenten  erreichen. 
Das  siebente  Buch  (1145—1154)  untersucht  die  Zustände,  wo  die 


150  Alte   Philosophie.      Zweite  Periode  (GlanzV 

gewöhnlichen  menschlichen  Tugenden  aufhören,  die  Verthierung, 
wo  der  Mensch  gar  kein  Gesetz  mehr  gelten  lässt,  und  die  he- 
roische Tugend,  wo  er  sich  über  das  Gesetz,  das  nur  dort  gilt, 
wo  Ungerechtigkeit  ist,  erhebt  und  sich  selber  Gesetz  ist.  Aus- 
serdem werden  die  Zustände  der  Abhärtung  und  Enthaltsamkeit 
nebst  ihren  Gegensätzen  in  einer  Weise  erörtert,  die  es  zw^eifel- 
haft  erscheinen  lässt,  ob  sie  wirklich  Tugenden  zu  nennen  sind 
oder  etwas  den  Tugenden  nur  Aehnliches.  Es  schliesst  sich  daran 
eine  Untersuchung  über  die  Lust  an,  welche  sowol  wegen  der 
Stelle  die  sie  einnimmt,  als  auch  wegen  ihres  Inhalts  den  Kriti- 
kern verdächtig  geworden  ist.  Das  achte  und  neunte  Buch 
(p.  1155—1172)  enthalten  eine  Abhandlung  über  die  Freundschaft, 
die,  so  viel  Treffliches  sie  auch  enthält,  doch  so  wenig  mit  dem 
Vorhergehenden  und  Nachfolgenden  zusammenhängt,  dass  es  be- 
zweifelt worden  ist,  ob  sie  überhaupt  dem  Aristoteles  angehört, 
oder  auch,  ob  sie  bestimmt  gewesen  sey  der  Ethik  einverleibt  zu 
werden.  Ausser  dem  Verhältniss  zu  Freunden  kommt  hier  auch  das 
zu  sich  selbst  zur  Sprache  und  wird  dabei  hervorgehoben,  dass 
der  G7cov6ciiog  6(.toyvoa^ovH  savtco ,  Während  der  q)avkog  im  Wider- 
spruch mit  sich  selbst  stehe  und  sich  befeinde,  eine  Formel,  die 
ganz  mit  der  späteren  stoischen  (s.  §.  97,  4)  übereinstimmt.  Das 
zehnte  Buch  (p.  1172  —  1181)  kehrt  wieder  zu  der  Frage  nach 
der  Glückseligkeit  zurück.  Die  ersten  fünf  Capitel  enthalten  eine 
Abhandlung  über  die  Lust  zu  der  die  sitthche  Handlungweise 
werden,  und  welche  jede  Tugend  begleiten  muss;  dann  wird  zur 
höchsten  dianoetischen  Tugend  zurückgekehrt  und  abermals  die 
contemplative  Weisheit  als  die  höchste  Glückseligkeit  gepriesen, 
der  freilich  nur  der  reine  Geist  theilhaft  werden  kann,  nicht  die, 
durch  ihre  sinnlichen  Triebe  an  den  Leib  gebundene  Seele.  Wenn 
in  der  Ethik  des  Aristoteles  Vieles  abgehandelt  wird,  was  nicht 
zu  den  ethischen  Tugenden,  zu  denen  sich  P/r//o'.v  Tapferkeit  und 
Massigkeit  entfaltet  hatten,  noch  auch  zu  den  dianoetischen  (Pla- 
io's  Weisheit)  passt ,  so  kann  auch  hierin  wieder  eine  Bestätigung 
dazu  gefunden  werden ,  dass  er  in  sein  System  Alles  aufgenommen 
habe,  was  die  früheren  geleistet  hatten.  Das  Gestähltseyn  gegen 
Schmerz  und  Genuss,  welches  die  Kyniker  so  hoch  stellten,  tritt 
hier  als  Enthaltsamkeit  und  Abhärtung  hervor,  Anklänge  an  das 
Aristippische  wird  man  anerkennen  müssen  in  den  Aeusseruiigen 
über  die  Lust  und  über  die  Freundschaft,  so  weit  sie  auf  Genuss 
und  Nutzen  abzielt.  Zu  der  negativen  Bestimmung  des  Aristote- 
les ^  dass  dies  Alles  nicht  zu  den  ethischen  und  dianoetischen  Tu- 
genden  gehöre,   so   wenig  wie   der  mehr   physische  Zustand   der 


"^^.  Aristoteles       Die  Politik    les   Aristotfle?      §.   89,  -2.  151 

Scliaam,  haben  Spätere  die,  sehr  nahe  liegende,  positive  Ergän- 
zung gefügt,  es  gebe  eine  dritte  Klasse  von  Tugenden,  die  phy- 
sischen, d.  h.  körperlichen,  als  deren  eine  übrigens  Aristoteles 
selbst  die  Gesundheit  angeführt  hatte  (p.  408). 

2.  Der  Schluss  der  Aristotelischen  Ethik  zeigt  deutlich,  dass 
seine   UoXiriy.ä  (p.  1252—1342)  nicht  sowol  einen  andern  Ge- 
genstand ,  als  denselben  unter  einem  andern  Gesichtspunkt  betrach- 
ten sollen.-    Es  handelt  sich  nämlich  darum,  mit  Hülfe  kritischer 
Vergleichung  der  verschiednen  Staatsformen  die  zu  finden,  in  wel- 
cher der  Mensch  am  Tugendhaftesten  seyn  kann.    In  dem  ersten 
Buche  (p.  1252—1260)  wird  als  auf  die  einfachsten  Bestandtheile 
des  Staats  auf  die  Verbindungen  zurückgegangen,   welche  durch 
Mann  und  Weib,   als  die  nicht  ohne  einander  leben  können,   ent- 
stehn,   also  auf  das  Haus.    Zu  dem  Hausrath,   ohne  welchen  ein 
Haus  nicht  bestehen  kann,   rechnet  Aristoteles  auch  die  Sklaven, 
denen,  weil  sie  innerlich  unselbstständig  sind,  nur  ihr  Recht  ge- 
schieht wenn  sie  als  solche  behandelt  werden.    Hellenen  zu  Skla- 
ven zu  machen  erscheint  ihm  darum ,   ganz  wie  Pldio .   als  ein 
Unrecht.    Das  Weib  dem  Sklaven  gleich  zu  stellen  ist  nach  ihm 
die  Weise  barbarischer  Völker.    Durch  die  Kinder  vollendet  sich 
der  Hausstand  und  fasst  dann  in  dem  dreifachen  Verhältniss  des 
Hausvaters  zu  Weib,  Kind  und  Sklaven,  ein  Abbild  des  republi- 
kanischen,  königlichen   und  despotischen  Lebens  in  sich.    Durch 
Verdienen   und  Verwalten  des  Verdienten   erhält  sich   das  Haus. 
Die  Winke,  welche  Aristoteles  hinsichtlich  beider  Thätigkeiten  gibt, 
sind  von  Späteren  in  den,  ihm  zugeschiiebenen ,  OiKovou.iy.otg  aus- 
gesponneu.    Landbau,  Handel  und  die  z\\ischen  beiden  liegende 
Lohnarbeit  des  Handwerkers   gehören   zur  erwerbenden,   das  Be- 
herrschen der  Sklaven,  Erziehen  der  Kinder,  Leiten  des  Weibes 
zur  verwaltenden  Thätigkeit.    Wie  aus  mehreren  Hauswesen  die 
Gemeinde,   so  entsteht  aus  mehreren   Gemeinden  der  Staat,   zu 
welchem  der  Mensch,   wie  schon  die  Sprachfähigkeit   zeigt,   von 
Natur  bestimmt  ist  und  welcher,  wenn  auch  sein  Ursprung  durch 
das  Bedttrfuiss  bedingt  war ,  doch  nicht  bloss  Sache  der  Noth  ist, 
denn  sonst  könnten  auch  Thiere  oder  Sklaven  einen  Staat  bilden, 
auch  nicht  bloss  Sicherheitsanstalt  wie  ein  Schutz  -  und  Trutzbünd- 
niss,  sondern   zu  seinem  Zweck  und  Princip   das   glückhche  und 
tugendhafte  Leben  hat,  und  der  das  prius  für  Haus  und  Gemeinde 
so  ist.   wie   überall   das   aus  den  Ghedern  bestehende  Ganze  für 
diese,    weil   es   sie   erst  zu  Gliedern   macht.     Das  ganze   zweite 
Buch  (p.  1260—1274)  ist  einer  Kritik  theils  politischer  Theorien, 
theils  bestehender  Verfassungen  gewidmet.    Namentlich  wird  P/t/- 


152  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz.) 

to's  Theorie  erörtert  und  ihm  der  Vorwurf  gemacht,  dass,  indem 
darin   die  Selbstständigkeit  der  Glieder  des  Staats  nicht  gehörig 
beachtet  werde,  die  (communistischen)  Vorschläge  eine  Menge  von 
Tugenden ,  welche  den  Privatbesitz  und  eignen  Hausstand  voraus- 
setzen, unmöglich  machen.    Im  dritten  Buche  (p.  1274 — 1288) 
wird  der  Staat  definirt  als  eine  Gesammtheit  von  Bürgern,   unter 
einem  Bürger  aber  Einer  verstanden,  der,  im  Gegensatz  zum  Skla- 
ven, um  des  Guten  willen  zu  befehlen  und  zu  gehorchen  weiss 
und,  in  gleichem  Gegensatz,   Theil  hat  an  der  berathenden  und 
richtenden  Thätigkeit.    Eine  mittlere  Stellung  zwischen  dem  Bür- 
ger und  dem  Sklaven  wird  dem  angewiesen,   der  als  Sklave  des 
Publikums  Lohnarbeit  thut,  dem  ßävuvßog.    Da  die  Bürgertugend 
darin  besteht,   dass  Alles  für  die  Staatsverfassung  gethan  wird, 
so  führt  die  Frage,  ob  der  gute  Bürger  nothwendig  tugendhaft 
sey,  auf  die  nach  der  besten  Verfassung.    Nur  die  kann  auf  den 
Kamen  einer  guten  Anspruch  machen ,  welche  das  Wohl  der  Bür- 
ger bezweckt  und  in  welcher  das  Gesetz  herrscht.    Beides  kann 
nun  Statt  finden  sowol  bei  der  ßaoikeia  als  der  aQiaroHQCitla ,  als 
endlich  der  noXixtia,   welche  eben   darum  als  gute  Verfassungen 
bezeichnet  werden,  deren  jede,  je  nach  der  verschiedenen  Beschaf- 
fenheit der  Gheder  eines  Staats ,  die  zweckmässigste  seyn  kann. 
Jede  derselben  kann,   indem  anstatt  des  Wohls  des  Staates   das 
des  Machthabers  angestrebt  wird,   ausarten  und  die  jenen  drei 
entsprechenden  TtaQSKßäasig  sind  die  rv^awig,  die  ohya^iia  und  die 
6r]iKoy.qaxia.    Gründe  und  Gegengründe  für  den  Vorzug  der  einen 
oder  der  andern  dieser  Verfassungen   werden   aufgezählt,   dabei 
aber  hervorgehoben,  dass  wo  einmal  eine  Alles  überragende  Gott 
gleiche  Heroentugend  hervortrete,    das  demokratische  Mittel  des 
Ostracismus  unsitthch,  und  die  Unterwerfung  unter  einen  solchen 
König  das  Beste  sey.    Im   natürlichen  Zusammenhange   mit  dem 
dritten  Buche  steht,  wie  seit  den  gründlichen  Untersuchungen  von 
BnrtJiefemy  Sf.  flilairc  und  S])en(/el  die  Meisten  zugeben,  nicht  das 
vierte,  sondern  das  siebente  und  achte  Buch  (p.  1323 — 1342). 
Es  werden   darin    die  Bedingungen    erörtert,    unter  welchen    die 
Bürger  eines  Staats  der  wahren  Glückseligkeit  theilhaft  werden 
können ,  indem  die  persönliche  und  Bürger-  Tugend  ganz  Eins  wer- 
den.   Unerlässhche  Naturbedingung  ist  eine  gewisse  Beschaffenheit 
des  Landes,   Nähe  des  Meeres,   nicht  zu  dichte  noch  zu  dünne 
Bevölkerung,   ein  gewisses   mit  der  geographischen  Lage  zusam- 
menhängendes Naturell   der  Bewohner,    alles   Umstände,   die   in 
Griechenland  sich  vereinigen.    Für  weiter  Unerlässliches  hat  die 
Gesetzgebung  zu  sorgen.     Sie  regelt  die  Eigenthumsverhältnisse : 


VI.  Alistoteies      Die  Politik  des  Aristoteles.     §.  89,  2.  153 

neben  den  Staats-  gibt  es  Privat -Lcändereien,  beide  von  Sklaven, 
bearbeitet,  da  die  Bürger  ihre  Zeit  frei  haben  müssen.  Eben  so 
sorgt  das  Gesetz  dafür ,  dass  aus  der  jüngeren  Generation  gute 
Bürger  hervorgehn.  Schon  die  Eheschliessungen  stehen  unter  dem, 
nur  prohibitiv  eintretenden,  Gesetz.  Mehr  noch  die  Erziehung. 
Mit  dem  achten  Jahre  wird  diese  Sache  des  Staats.  Zuerst  ist 
sie  mehr  physisch.  Gymnastili  bewirkt  Enthaltsamkeit  und  Abhär- 
tung, Musik  feine  Gesittung  (Schaamhaftigkeit?).  Vor  Allem  muss 
auf  die  Ausbildung  der  Gerechtigkeit  und  Mässigung  hingearbeitet 
werden,  da  die  Tapferkeit  nur  für  die  Kriegs-,  die  theoretische 
Weisheit  nur  für  die  Friedens -Zeit  einen  Spielraum  findet,  jene 
beiden  aber  immer.  Alle  Bürger  sind  in  ihren  verschiedenen  Le- 
bensaltern Schützer  des  Staates  nach  Aussen  und  Bewahrer  des 
Rechts  nach  Innen.  Also  keine  Krieger-  wie  überhaupt  keine 
Kaste.  In  dem  vierten  Buche  (p.  1288—1301)  wird  nun  An- 
stalt gemacht  zu  finden,  bei  welcher  der  verschiednen  Verfassun- 
gen die  eben  auseinandergesetzten  Forderungen  erfüllt  werden  kön- 
nen. Hier  kommt  nun  auch  das  eigentliche  Eintheilungsprincip 
zum  Vorschein.  In  dem  Leben  des  Staates  sind  nämlich  verschie- 
dene Functionen  zu  unterscheiden,  das  ßovhvonevov  (Berathschla^ 
gen),  das  öUa^ov  (Richten),  über  welchem  als  das  y.voioi'  die  Macht 
steht ,  über  Krieg  und  Frieden  zu  entscheiden.  Je  nachdem  diese, 
die  übrigens  bald  Sv%>afiig,  bald  ro  thq]  Tag  a^yäg  und  noch  anders 
genannt  wird,  durch  Einen,  durch  die  Reichen  und  Vornehmen 
also  durch  einige,  oder  durch  alle  Bürger  ausgeübt  wird,  je  nach- 
dem hat  man  eine  Monarchie  (gesund  im  Königthum,  ausgeartet 
in  der  Tyrannis),  Aristokratie  (ausgeartet  in  der  Oligarchie)  oder 
Politie  (ausgeartet  in  der  Demokratie).  Uebrigens  ist  Aristoteles 
so  weit  davon  entfernt  durch  diese  Reduction  die  Unterschiede  zu 
verwischen,  dass,  wie  er  im  dritten  Buche  fünf  verschiedene  For- 
men des  Königthums  aufgezählt  hatte ,  so  in  dem  vierten  eben  so 
viele  der  Demokratie  und  vier  der  Oligarchie  von  ihm  charakte- 
risirt  w-erden,  offenbar  mit  steter  Rücksicht  auf  gegebene  Staaten. 
In  dem  sechsten  Buche  (p.  1316 — 1323),  welches  sich  enger 
an  das  vierte  auschliesst,  als  das  fünfte,  gibt  Aristoteles,  von  dem 
Gesichtspunkte  geleitet ,  dass  es  schlimmere  Verbrechen  nicht  gebe, 
als  gegen  die  Verfassung  des  Staates,  die  Umstände  an,  unter 
welchen,  und  die  Mittel,  durch  welche  die  aufgestellten  Arten  der 
Demokratie  und  Ohgarchie  begründet  werden  können.  Eine  da- 
ran sich  anschliessende  Betrachtung  stellt  das  fünfte  Buch  (p. 
1301 — 1316)  an,  in  welchem  auf  der  genausten  Beobachtung  ru- 
hende Bemerkungen  über  die  Gründe  und  Veranlassungen  zu  Staats- 


154  Alte  Philosophie.     Zweite  Periode  (Glanz). 

Umwälzungen  gemacht ,  und  zugleich  die  Mittel  angegeben  werden, 
wie  ihnen ,  namentlich  in  Monarchien ,  zu  begegnen  sey.  (Wenn 
man  in  neurer  Zeit  oft  darauf  aufmerksam  gemacht  hat,  dass  der 
Ruhm  Montesquieu'' s  zum  Theil  durch  Entlehnungen  aus  Aristo- 
teles erworben  sey,  so  könnte  andrerseits  auf  das  fünfte  Buch  der 
Aristotelischen  Politilc  verwiesen  werden ,  wenn  man  für  Mucc/na- 
velfi's  Anweisungen  einen  Vorgänger  sucht.)  Was  die  allendliche 
Entscheidung  über  die  beste  Verfassung  betriift,  so  kann  diese 
nur  hinsichtlich  eines  bestimmten  Volks  und  einer  bestimmten  Zeit 
gegeben  werden,  also  für  das  damalige  Griechenland.  Da  entfernt 
sich  Aristoteles  entschieden  von  der  Platonischen  Aristokratie. 
Zur  Demokratie  hin,  indem  er  gerade  dem  von  PUdo  zum  He- 
lotenthume  verdammten  Mittelstande  die  grösste  Macht  einräumen 
will.  Zur  Monarchie  hin,  indem  er  bemerkt,  dass  die  hervorra- 
gende Tugend,  die  doch  allein  zum  Herrschen  berechtigt  ist,  sich 
leichter  bei  Einem  finden  werde  als  bei  Vielen.  Wenn  er  dabei 
die  Herrschaft  des  Königs  beschränkt  haben  will  durch  die  Macht 
des  Mittelstandes,  so  denkt  man  unwillkührlich  an  die  moderne 
Formel:  Monarchie  mit  demokratischen  Institutionen.  An  anderen 
Orten  scheint  er  mehr  für  ein  Mittleres  zwischen  Demokratie  und 
Oligarchie  zu  seyn;  kurz  für  eine  reine  Verfassung  scheint  ihm 
die  Zeit  nicht  reif  zu  seyn,  und  man  wird  sich  bei  dem  bestmög- 
lichen Gemisch  derselben  beruhigen  müssen.  Was  der  Aristoteli- 
schen Politik  ihren  bleibenden  Werth  gibt,  ist  das  gleichzeitige 
Festhalten  gewisser  durch  die  Philosophie  gefundener  Principien 
und  die  Achtung  vor  gegebnen  Zuständen.  Weder  der  ideenlose 
Routinier  noch  der  Doctrinair  mit  seinen  utopistischen  Planen  wird 
in  ihr  seine  Rechnung  finden. 

§.  90. 
Die  Poetik  des  Aristoteles. 
1.  Den  dritten  Haupttheil  des  Aristotelischen  Systems  (vergl. 
§.  85,  3)  ])ilden  die  Betrachtungen  über  das  Schöne  und  das  Kunst- 
werk. Leider  besitzen  wir  von  diesen  nur  die,  Fragment  geblie- 
bene UoirjTiK'^  (p.  1447  — 1462).  (Die  Rhetorik,  an  die  man  viel- 
leicht noch  denken  möchte,  hat  Iristoteies  so  sehr  in  den  Dienst 
der  Staatslenkung  gestellt,  dass  er  sie  selbst  zur  praktischen 
Philosophie  rechnet.  Fast  mit  demselben  Rechte  konnte  sie  als 
Fortsetzung  der  in  den  Topiken  gegebenen  dialektischen  Unterwei- 
sungen angesehen  werden.)  Das  Schöne  bildet,  als  das  uya&6v 
Ttonjröv^  zu  dem  noay.rov  ^ytvO'oi'  oder  dem  Guten  gerade  denselben 
Gegensatz  wie  das  künstlerische  Schäften  zum  sittlichen  Handeln. 
Vermöge  dieses  Gegensatzes  wird  die  künstlerische  Thätigkeit  und 


VI.   Aristoteles     Die  Poetik   de=;  Aristoteles.     §.  !>C.  1.  2.  155 

der  Kunstgeniiss  in  nahe  Nachbarschaft  zur  theoretischen  Beschäf- 
tigung gesetzt.  Wie  diese  in  dem.  angebornen  \Yissenstriebe,  so 
ist  jene  in  dem  damit  nahezu  zusammenfallenden  Triebe  der  Nach- 
ahmung begründet,  zu  welchem  der  ursprüngliche  Sinn  für  Har- 
monie und  Rhythmus  sich  gesellt.  Beiden  wird  ferner  zu  ihrem 
Ruhme  nachgesagt,  dass  sie  keinen  Nutzen  haben,  sondern  zum 
Luxus  des  Lebens  gehören.  Beide  weiter  gewcähren  die  reinste, 
keines  Uebermaasses  fähige ,  Lust.  Endlich  ist  auch  darin  die  Kunst 
der  \Yissenschaft  verwandt,  dass  sie,  da  sie  die  Gegenstände  dar- 
stellt olci  av  yhoiTo,  d.h.  sie  ideaUsirt,  das  Allgemeine  zu  ihrem 
Eigenthum  hat  und  philosophischer  ist ,  als  die ,  bei  dem  Einzelnen 
stehen  bleibende,  Geschichtsschreibung.  Wie  Phito,  so  fordert  auch 
Aristoteles,  dass  die  Begeisterung ,  aus  der  das  Kunstwerk  hervor- 
geht, sich  durch  die  Besonnenheit  von  der  Raserei  unterscheide; 
wie  Jenem,  so  ist  auch  ihm  die  maassvolle  Harmonie  das  eigent- 
liche Wesen  des  Schönen.  Mit  Pinto' s  sowohl  als  mit  den  eig- 
nen Principien  stimmt  es  gut  zusammen,  wenn  er  fordert,  dass 
jeder  Theil  mit  dem  Ganzen  organisch  verbunden  sei. 

2.  Von  den  einzelnen  Künsten,  zu  welchen  nach  den  allge- 
meinen Bemerkungen  über  das  Kunstschöne  Aristoteles  übergeht, 
hat  er  in  dem  was  wir  besitzen ,  nur  die  Poesie  behandelt  und  in- 
nerhalb derselben  besonders  das  Drama.  Das  Epos  wird  mehr  bei- 
läufig, die  Lyrik  gar  nicht  berücksichtigt.  Das  Wichtigste  in  dem 
Drama ,  gleichsam  die  Seele  desselben  ist  die  Fabel .  gegen  sie  soll 
sogar  die  Durchführung  der  Charaktere  zurückstehn.  Ob  dieselbe 
geschichtlich,  oder  erfunden,  das  ist  gleichgültig,  da  es  nicht  auf 
die  Richtigkeit,  sondern  auf  die  innere  Wahrheit  und  Wahrschein- 
lichkeit ankommt.  Die  Einheit  der  Handlung  ist  die  erste  Forde- 
rung, die  der  Zeit  und  des  Raumes,  welche  für  den  Historiker 
das  allein  Maassgebende  sind,  wird  vom  Aristoteles  mehr  als  Ob- 
servanz denn  als  strenges  Gesetz  aufgeführt.  Das  Hinausgehn  über 
die  blosse  Wirklichkeit  zeigt  sich  in  der  Tragödie  und  Komödie 
auf  verschiedene  Weise:  jene  schildert  ihre  Helden  besser,  diese 
schlechter  als  sie  sind.  Nur  die  erstere  wird  in  der  Poetik  behan- 
delt ,  Untersuchungen  über  die  letztere  werden  versprochen.  (Einige 
dersell)en  hat  Beritatfs  bei  einem  späteren  Grammatiker  aufgefun- 
den und  veröffentlicht.)  Furcht  und  Mitleid  werden  als  das  ange- 
geben, wodurch  sich  der  Zuschauer  mit  der  Handlung  identificirt, 
und  als  das  zu  erreichende  Ziel  des  Drama's  wird  die  Reinigung 
der  Leidenschaften  bestimmt.  Während  die  Meisten  hier  an  die 
Wirkung  im  Zuschauen  denken,  hat  Cöl/ie  und  nach  ihm  Sta/'V 
diese  Worte  viel   mehr  auf  die  dargestellten  Leidenschaften  bezo- 


156      Alte  Philosophie.    Zweite  Periode  (Glanz).    Aeltere  Aristoteliker.    §.  91. 

gen.  Es  wird  dabei  stets  urgirt,  dass  die  tragische  Befriedigung 
nur  möglich  sei,  wo  Schuld  und  Unschuld  des  Leidenden  zugleich 
gegeben  ist.  Ausser  der  Fabel  und  den  Charakteren  wird  die 
Diction  erörtert  und  dabei  auf  grammatische  Untersuchungen  zu- 
rückgegangen. War  es  gleich  eine  Verirrung,  in  so  sklavischer 
Weise ,  wie  die  französischen  Klassiker  thaten ,  die  Regeln  der  Ari- 
stotelischen Poetik  zur  Norm  zu  machen ,  so  wird  man  doch  zuge- 
stehn  müssen,  dass  ein  Verstoss  gegen  den  Geist  derselben  sich 
immer  gestraft  hat.  Wie  von  so  vielen  Wissenschaften ,  so  ist  auch 
von  der  Kunstphilosophie  Aristoteles  der  Vater. 

Diog.  Laert.    V,  1.      Bitter  et  Prellej-  §.  293  —  335. 

§.  91. 
Die  älteren  Aristoteliker. 
Dem  Theoplirastos  von  Lesbos,  geb.  Ol.  102,  welcher  nach 
des  Anstotelcs  Tode  die  Leitung  der  peripatetischen  Schule  über- 
nahm ,  folgte  darin  Eiidemos  von  Khodus.  Von  Beiden  sind  Werke 
erhalten.  Von  dem  Ersteren  die  Charaktere,  sowie  eine  Schrift 
über  Empfindungen  und  Empfindbares.  (Die  Metaphyhik,  die  sei- 
sen  Namen  führt,  ist  vielleicht  nicht,  dagegen  die  dem  Aristoteles 
zugeschriebene  Schrift  de  Meliss.  Zen.  et  Gorgia  vielleicht  wol  von 
ihm.)  Von  dem  Letzteren  haben  wir  die  nach  ihm  genannte  Ethik 
in  den  Sanmilungen  der  Aristotelischen  Werke.  Beide  zeigen  we- 
nig Origiuellos,  und  sind  sich  in  der  gelehrten  Richtung,  die  ihr 
Philosophiren  nimmt ,  verwandt.  Am  bedeutendsten  möchten  sie  in 
den  analytischen  Arbeiten  gewesen  sein,  wo  sie  den  hypotheti- 
schen und  disjunctiven  Schluss  betrachtet  haben.  Die  auf  sie  fol- 
genden Peripatetiker  scheinen  w-eniger  das  ganze  System  als  ein- 
zelne Theile  desselben  behandelt  zu  haben,  namentlich  die  Partie 
der  Physik,  welche  die  Seele  betrifft.  Dabei  wird  die  Lehre  im- 
mer mehr  naturalistisch.  Dass  nach  Cicero  der  Aristoteliker  Ari- 
stoxciws.  der  Musiker  genannt,  die  Seele  als  perfeciio  corporis 
gefasst,  dass  Dilaiarchos  aus  Messene  aus  diesem  ihrem  Begriff 
ihre  Sterblichkeit  gefolgert  habe ,  dass  endlich  Straton  von  Lamp- 
sakus,  darin  mit  ihnen  einverstanden ,  an  die  Stelle  der  Gottheit 
eine  blinde  Naturkraft  gesetzt  habe,  wird  auch  durch  andere  Ge- 
währsmänner bestätigt.  Krifoldfts,  der  mit  zu  der  Gesandtschaft 
gehört,  seit  welcher  in  Rom  Philosophie  getrieben  wurde,  scheint, 
eben  so  wie  Lylon.  Ariston  und  Andere,  die  Ethik  des  Aristote- 
les popularisirt  und  mehr  rhetorisch  behandelt  zu  haben.  Sein 
Nachfolger  DtoiUiros  von  Tyrus,  die  noch  späteren  Slaseas  von 
Neapel,    Krullppos ^  sowie  der  unbekannte  Verfasser  der  pseudo- 


Alte  Philosophie.    Dritte  Periode  ("Verfall).     Einleitung.     §.92.93.  157 

aristotelischen  Schrift  Tts^l  xoGiiov  vermischen  die  Aristotelische  Lehre 
mit  anderen  Ansichten. 

Diog.  Laert.    V.  2  —  4.     Bitter  et  Preller  1.  c.   §.  336  —  344. 


Der  alten  Philosophie  dritte  Periode. 

Der  g-riechischen  Philosophie  Verfallperiode. 
(Griechisch  -  römische  Philosophie.) 

§.  92. 
Indem  Aristoteles  den  Geist  als  Denken  seiner  selbst  bestimmt 
und  ihn  zugleich  zum  Princip  von  Allem  macht,  weil  er  der  End- 
zweck von  Allem ,  hat  die  T.^nbestimmtheit  des  AiKt.nigavds  und 
haben  die  einseitigen  Bestimmungen  der  folgenden  Philosophen  der 
allseitigen  Bestimmtheit  Platz  gemacht ,  und  das  Griechenthum,  das 
in  dem  Philosophiren  des  Anaxugoms ,  der  Sophisten  u.  s.  w,  sich 
gezeigt  hatte,  ist  in  dem  Aristotelismus  begriffen.  Darin  liegt  aber 
auch  die  Schranke  dieses  Systems  und  die  Noth wendigkeit ,  dass 
die  Philosophie  darüber  hinaus  gehe.  Dass  in  ihm  nur  das  Grie- 
chenthum begriffen  wurde,  weist  auf  die  welthistorische,  dass  aber 
das  Griechenthiun  in  ihm  sich  als  begriffenes  findet,  auf  die  phi- 
losophiehistorische Nothwendigkeit  solches  Fortschrittes  hin   (vgl. 

§.  11)- 

§.93. 
Wo  das,  durch  die  Macedonische  Herrschaft  den  Händen  Grie- 
chenlands entwundene,  Scepter  der  "Weltgeschichte  den  Römern  über- 
tragen wird,  einem  Volke  welches,  wie  in  den  Mythen,  die  es  zur 
Erklärung  seines  Wesens  dichtet,  so  in  dem  worin  es  der  Lehrer 
aller  kommenden  Geschlechter  wurde,  der  Rechtsbildung,  wie  in 
seinem  ernst  prosaischen  Wesen  so  in  seiner  Erobemngslust ,  dies 
Eine  stets  verräth:  dass  ihm  die  Einzelperson  und  seine  prakti- 
schen Aufgaben  einen  absoluten  Werth  haben  und  dass  durch  Sum- 
miren von  Einzelnem  (den  Theilen)  die  Ganzheit  entsteht ,  da  kann 
eine  Philosophie  wie  die  Aristotelische  nicht  mehr  die  Weltformel 
bleiben.  An  die  Stelle  einer  Philosophie,  die,  acht  griechisch,  das 
Ganze  vor  den  Theilen  seyniässt  und  welche  speculative  Hingabe 
an  die  allgemeine  Vernunft  ist,  muss,  weil  die  Zeit  römisch  ge- 
worden, eine  solche  treten  in  der  das  vereinzelte  Subject  absolu- 
ten Werth  erhält  und  nie  sich  ganz  an  die  Sache  verliert,  sondern 
stets  sein  eignes  Verhältniss  dazu  mit  berücksichtigt.  An  die  Stelle 
einer  Philosophie,  der  die  Theorie  als  das  Höchste  galt,  muss  eine 


158  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

andere  treten,  welche  der  Verwirklichung  der  Zwecke  jede  Theorie 
als  Mittel  unterordnet.  Nur  eine  Reflexionsphilosophie,  in  welcher 
die  Ethik  der  Haupttheil  ist,  kann  dem  römischen  Geiste  gefallen, 
denn  nur  eine  solche  kann  begriflfenes  Römerthum  heissen. 

§.  94. 
Zu  demselben  Resultate  kommt  man  auch  ohne  Rücksicht  auf 
die  veränderte  Zeit ,  wenn  mau  bedenkt,  dass  das  Wesen  des  Grie- 
chenthums  in  der  Unmittelbarkeit  und  Naivetät  besteht,  mit  der 
der  Einzelne  sich  vom  Geiste  des  Allgemeinen  durchdringen  lässt, 
und  dass  also ,  wie  alles  Naive ,  so  auch  das  Griechenthum ,  sobald 
es  begriffen  wird,  verschwindet.  Daher  beginnt  bei  Arisloteles  die 
Trennung  jenes  grösseren  und  kleineren  i-oti^  (vgl.  §.  53) ,  von  de- 
nen Ana.rmjor (LS  gesagt  hatte,  sie  seyen  dasselbe,  und  die  sich 
bei  Plato  so  durchdringen,  dass  ihm  nicht  möglich  gewesen  wäre, 
wie  Arisloteles  in  seinen  analytischen  Untersuchungen  nur  das 
subjective  Denken  zu  betrachten,  und  wieder  in  ganzen  Partien 
der  Thiergeschichte  sich  mit  der  blossen  Realität  angelegentlich 
zu  beschäftigen,  ohne  zu  fragen:  ob  darin  auch  die  Forderungen 
unseres  Denkens  erfüllt  sind.  Auch  die  vielen  räsonnirenden  Er- 
örterungen, durch  welche  Aristoteles  bei  jeder  Untersuchung  erst 
zu  dem  Punkte  gelaugt,  auf  dem  Plalo  von  Anfang  an  steht,  sind 
ein  praktischer  Beleg  zu  seiner  Behauptung,  dass  der  Geist  von 
aussen  in  den  Menschen  komme,  d.  h.  dass  das  Subject  nicht  un- 
mittelbar mit  demselben  Eins  sey.  Indem  dieses  Auseinanderfallen 
des  subjectiven  und  objectiven  Momentes  der  Speculation,  nach 
Aristoteles  viel  weiter  geht,  entstehen  durch  die  Trennung  der, 
bei  Pinto  verbundenen  und  bei  Aristoteles  immer  wieder  vereinig- 
ten ,  Momente  einseitige  Richtungen ,  die  grosse  Verwandtschaft  mit 
den  kleineren  sokratischen  Schulen  (s.  §.  67  —  73)  zeigen  müssen, 
da  ja  Philo  und  Aristoteles  nur  den  verklärten  und  vollendeten 
Sokratismus  gelehrt  hatten.  Wie  jene  den  Sokratismus,  so  zeigen 
diese  überhaupt  die  griechische  Philosophie  in  ihrer  Auflösung. 
Was  aber  vom  griechischen  Standpunkt  aus  nur  als  Verfall,  das 
erscheint  vom  w'elthistorischen  aus  auch  als  Fortschritt.  Die  jetzt 
auftretenden  Systeme,  obgleich  von  Griechen  zuerst  aufgestellt,  fin- 
den ihren  Anklang  und  ihre  bedeutendsten  Repräsentanten  in  der 
römischen  Welt.  Sie  formuliren  den  Zwiespalt  und  das  innere  Un- 
glück, an  welchem  die  Menschheit  vor  dem  Eintritt  des  Christeu- 
thuins  leidet.  Zunächst  sind  hier  zu  betrachten  die  beiden  dogma- 
tischen Systeme  des  Epikureismus  und  Stoicismus. 


I.    Die  Dogmarikei.     A    Die  Epikureer.     §.  95.  96,  i.  159 

I. 

Die  Doginatiker. 

§.  9ö. 
Trotz  des  Subjectivismus ,  welcher  oben  in  der  Kyrenaischen 
und  Kynischen  Lehre  nachgewiesen  wurde,  haben  beide  Schulen 
doch  immer  das  Subject  als  concretes,  mit  dem  Ganzen  verbunde- 
nes, gedacht,  so  dass  im  Praktischen  die  Losimg  ist,  im  Frieden 
mit  der  Gesellschaft  oder  mit  der  Natur  zu  leben,  im  Theoreti- 
schen die  eine  nicht  zweifelt,  dass  der  Sinn,  die  andere  nicht,  dass 
das  Denken,  uns  wirkliche  Erkenntniss  gebe.  Nach  dem  Verfall 
des  Aristotelismus  treten  die  beiden  von  ihnen  vertretenen  Eich- 
tungen wieder  hervor,  aber  abstract  und  mit  dem  Charakter  der 
Reflexionsphilosophie.  \Yas  dem  Aristoteles  selbstverständlich  war, 
dass  unser  Wahrnehmen  und  Denken  das  Reale  abspiegelt,  das 
wird  jetzt  in  Frage  gestellt  und  es  entsteht  das  Bedürfniss  nach 
einem  Kriterium  der  Wahrheit,  und  wieder  die  Ueberzeugung  des 
Iristoteles ,  dass  der  Mensch  von  Natur  zum  Leben  in  den  sitt- 
lichen Gemeinschaften  bestimmt  sey  und  ausserhalb  derselben  zum 
schlimmsten  Thier  verwildere,  diese  wird  gleichfalls  aufgegeben 
und  der  einsame  Weise  genügt  sich  und  weiss  diese  Vereinsamung 
als  Gottgieichheit.  In  diesen  l)eiden  Punkten  stimmen  Epikureer 
und  Stoiker  überein,  so  wie  auch  darin  dass  dieses  Sichgenügeu 
der  letzte  Zweck  sei,  auf  den  auch  alle  theoretischen  Untersuchun- 
gen als  blosse  Mittel  sich  l)eziehen.  Ihr  diametraler  Gegensatz 
liegt  darin,  dass  jene  das  Subject  als  sinnliches,  diese  als  denken- 
des fassen,  jene  darum  ein  simüiches  Wahrheitskriterium  und  sinn- 
Uehe  Befriedigung  suchen,  diese  dagegen  beides  so  wollen,  dass  es 
dem  Menschen  als  denkendem  genüge.  Wie  überall  so  ist  auch 
hier  der  diametrale  Gegensatz  nur  dadurch  möglich,  dass  beide 
durch  vielfache  Uebereinstimmung  auf  einem  Niveau  stehn. 

§.  96. 

4. 

Die  Epikureer. 

1.  Eplhinos.  der  als  Sohn  eines  Attischen  Colonisten  auf  Sa- 
mos  Ol.  109,  3  (342  v.  Chr.)  geboren  wurde,  kam  in  seinem  acht- 
zehnten Jahre  nach  Athen,  als  Xenokrntes  dort  und  Aristoteles  in 
Chalkis  lehrte.  Trotz  dem,  dass  er  sich  gern  Autodidact  nennt, 
dankt  er  jenen  beiden  sehr  viel ;  mindestens  eben  so  viel  aber  dem 
Studium  der  Kyrenaiker  und  des  Demohrit.     In  seinem  32'^"  Jahre 


160  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall;. 

fing  er  an  in  Mitylene,  vier  Jahre  später  in  Athen  zu  lehren.  Das 
Leben  in  seinen  Gärten  ist  von  Freunden  mehr  idealisirt,  von 
P'einden  mehr  verschrieen,  als  recht  ist.  Von  seinen  vielen  Schrif- 
ten sind  nur  Fragmente  zu  uns  gekommen ,  die  nichts  Bedeutendes 
enthalten.  Diogenes  Laerluts,  dessen  ganzes  zehntes  Buch  dem  Epi- 
kur  gewidmet  ist,  gibt  nicht  nur  die  Titel  von  vielen  seiner  Werke, 
sondern  theilt  zwei  Briefe  von  ihm  mit,  so  wie  eine  ausführliche 
Nachricht  von  seinen  Lehren.  Dabei  hat  sich  Manches  eingeschli- 
chen, was  offenbar  seineu  Gegnern,  den  Stoikern,  angehört. 

2.  Da  die  Philosophie  nach  Epthir  nichts  Andres  seyn  soll 
als  die  Fähigkeit  und  Kunst,  glückselig  zu  leben,  so  würde,  wenn 
nicht  der  Aberglaube  den  Menschen  ängstigte  und  quälte,  es  kei- 
ner Physik,  und  wenn  nicht  Irrthümer  dem  Menschen  Leid  bräch- 
ten, es  keiner  Anweisung  zum  richtigen  Denken  bedürfen.  Jetzt 
aber  ist  Beides  dem  eigentlichen  Haupttheil,  der  Ethik,  vorauszu- 
schicken, wobei  es,  eben  dieser  untergeordneten  Stellung  halber, 
erklärlich  ist,  dass  die  Mühe  des  Selbsterfindens  durch  Entlehnun- 
gen erleichtert  wurde.  Die  Logik,  oder  wie  die  Epikureer  sie  nach 
dem  Werke  ihrer  Meisters  nannten,  die  Kanonik  gibt  eine  Theo- 
rie des  Erkennens,  um  zu  einem  sicheren  Kriterium  der  Gewiss- 
heit zu  kommen.  Die  cA'ad-i^aic.  welche  m\i  Ar islol eleu  als  die  erste 
Form  des  Wissens  genommen  wird ,  erhält  hier  zugleich  die  höch- 
ste Dignität.  In  ihrer  Reinheit,  wo  sie  nur  die  Affection  des  Or- 
gans zum  Bewusstseyn  bringt,  nicht  von  einem  folgenden  Urtheil 
begleitet  ist,  schliesst  sie  jeden  Irrthum  aus  und  gibt  Augen- 
scheinlichkeit, haQysia.  Wiederholte  Empfindungen  lassen  eine  Spur 
in  uns  nach,  verm()ge  der  wir  das  Aehnliche  wieder  erwarten. 
Diese  nooXtjU'cig,  mit  welchen  auch  die  Bezeichnung  durch  Worte 
zusammenhängen  soll,  erinnern  sehr  an  die  mit  Hülfe  der  Erinne- 
rung entstehende  Erfahrung  Philo' s  und  Anstoteles'.  Was  mit  der 
Empfindung  und  diesen  Anticipationen  übereinstimmt,  das  kann 
man  als  gewiss  ansehn,  es  bildet  den  Inhalt  einer  ojjO'»}  (Jo^g  oder 
einer  vnöhiyi^ig ,  und  darum  ist  jede  Uebereilung  zu  scheuen,  da- 
mit jene  Vorerwartung  Zeit  habe ,  durch  die  hinzugekommene  Be- 
stätigung ein  wirklich  Annehmbares,  8o's,aGröv,  zu  werden.  Andere 
Untersuchungen  logischer  Art  scheint  Epif.nr  nicht  angestellt  zu 
haben.  Die  Definitionen  soll  er  aufgehoben,  über  Eintheilungen 
und  Schlüsse  nichts  gesagt  haben ,  was  Alles  Cicero  (de  finib.  I,  7) 
streng  tadelt. 

3.  Die  Physik  hat  den  ausgesprochenen  Zweck,  vor  den 
Schrecken  des  Aberglaubens  zu  schützen.  Da  dem  Epikur  die 
Religion  ganz  mit  dem  Aberglauben  zusammenfällt,  jede  teleologi- 


I.   Die  Dogmatiker.     A.  Die  Epikureer.     §.  96,  3.  4.  161 

sehe  Betrachtung  aber  gewiss,  jedes  Zurückführen  aller  Erschei- 
nungen auf  gleiche  und  wenige  Gesetze  sehr  leicht,  zur  religiösen 
Betrachtung  bringt,  so  spottet  er  der  erstereu  —  (die  Sprache  ist 
nicht  Zweck,  sondern  Wirkung  der  Zunge)  —  und  räth  an,  bei  je- 
der Erscheinung  eingedenk  zu  bleiben,  dass  dieselbe  auf  die  aller- 
verschiedenste  Weise  erklärt  werden  kann.  (z.B.  der  Sonnenunter- 
gang durch  ihre  Kreisbewegung  oder  durch  ihr  Verlöschen).  Die 
atomistische  Theorie  des  Denwkr'd,  die  aus  dem  zufälligen  Zusam- 
mentreffen der  im  Leeren  sich  bewegenden  xitome  Alles  entstehen 
lässt ,  scheint  ihm  darum  die  verständigste.  Er  modificirt  sie  nur, 
indem  er  den  Atomen  ausser  Gestalt  und  Grösse  (vgl.  §.  47 ,  4) 
auch  Schwere  zuschreibt,  und  sie  von  der  geraden  Linie  abwei- 
chen lässt;  jenes  um  die  Bewegung  zu  erklären,  dieses  weil  es  al- 
lein ihr  Zusammenballen  erklärt,  und  um  schon  hier  eine  Grund- 
lage für  die,  sonst  unerklärliche,  Willkühr  zu  gewinnen.  Im  In- 
teresse für  diese  wollen  die  Epikureer  auch  von  der  Vorsehung  der 
Stoiker  nichts  wissen.  Unzählige  Welten,  verschieden  an  Form  und 
Grösse,  entstehen  auf  solche  Weise.  In  den  Räumen  zwischen  ih- 
nen wohnen,  aber  unbekümmert  um  die  Welten  und  ohne  in  sie 
einzugreifen,  die  Götter,  welche  theils  wegen  des  consensus  gen- 
tium ,  theils  um  Ideale  des  nur  geniessenden  Lebens  zu  haben,  an- 
genommen werden.  Was  die  Mythen  der  Volksreligion  betrifft,  so 
scheint  es,  dass  die  Epikureer,  wo  sie  dieselben  nicht  geradezu 
leugneten,  dem  Beispiel  des  Eucmeros  (s.  §.  70,  3)  folgten.  Da- 
her die  Nachricht,  dass  er  aus  ihrer  Schule  hervorgegangen  sey. 
Wie  Alles,  so  ist  auch  der  Mensch  ein  Aggregat  von  Atomen;  so- 
wol  die  aus  feinen  Atomen  bestehende,  darum  hauch-  oder  feuer- 
artige Seele,  als  ihre  aus  gröberen  Bestandtheilen  zusammenge- 
setzte Bekleidung,  der  Leib.  Beide  sind,  wie  alles  Uebrige,  auf- 
lösbar und  obgleich  ein  Thor  ist  wer  den  Tod  sucht,  so  ist  doch 
ihn  zu  fürchten  gleichfalls  eine  Thorheit,  da  wen  er  trifft  ja  nicht 
mehr  ist.  Der  Theil  der  Seele,  der  in  der  Brust  seinen  Sitz  hat, 
ist  der  edelste.  Es  ist  der  vernünftige,  in  dem  die  von  den  Din- 
gen sich  absondernden  elöcoka ,  welche  die  Sinnesorgane  treffen,  zu- 
letzt das  Empfinden  bewirken.  Die  Reduction  aller  Affectionen  auf 
Schmerz  und  Lust  lehrt  den  Uebergang 

4.  zur  Ethik.  Als  selbstverständlich  wird  hier  angenommen, 
dass  die  Lust  das  einzig  wahre  Gut  sey,  und  dass  alle  Tugenden, 
welche  die  Peripatetiker  preisen,  nur  Werth  haben,  weil  sie  zur 
Lust  führen.  Diese  selbst  aber  wird  im  Gegensatz  zu  den  Kyre- 
naikern  einmal  negativ  als  Schmerzlosigkeit  bestimmt,  dann  aber, 
in  ganz  gleichem  Gegensatz  zu  jenen,  als  reflectirte,  indem  sie  in 

Erdmaim,  Gesch.  d.  Philob,    1.  11 


162  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

der  grösstmögliclien  Summe  der  Genüsse  besteht ,  darum  aber  auch, 
wo  es  nöthig,  durch  Leiden  erkauft  werden  soll.  Die  Glückselig- 
keitslehre des  EpiLur  ist  nicht  der  leichtsinnige  Hedonismus  Ari- 
süpjfs,  sie  ist  nüchtern  und  raffinirt.  Weil  die  Lust,  nach  der 
er  strebt,  durch  Berechnung  gefunden  ist,  deswegen  nennt  er  sie 
geistige  oder  Lust  der  Seele,  allein  wenn  man  bedenkt,  was  Alles 
unter  diese  geistige  Lust  gerechnet  wird,  so  kann  man  zweifelhaft 
werden,  ob  die  Kyrenaiker  bei  allem  ^'orzuge,  den  sie  der  sinnlichen 
Lust  geben,  nicht  am  Ende  moralisch  höher  stehu  als  die  Epiku- 
reer. Nur  als  Mittel  zur  Lust,  nicht  um  ihretselbstwillen  übt  der 
Weise  die  Tugend ;  würde  die  Befriedigung  aller  Lüste  von  Unruhe 
und  Furcht  befrein,  so  würde  er  sich  ihnen  hingeben.  Eben  so 
ist  es  nur  die  Rücksicht  auf  Sicherheit,  die  den  Weisen  im  Staate, 
am  Liebsten  in  einer  Monarchie,  leben  und  den  Vertrag  respecti- 
ren  lässt,  den  man  Recht  nennt.  Die  Ehe  wird  ziemlich  gleich- 
gültig behandelt,  am  Höchsten  die  Freundschaft,  diese  subjectiv- 
ste  und  zufälligste  aller  Verbindungen  gestellt,  aber  auch  ihr  der 
Nutzen  als  Grundlage  zugewiesen.  Die  Praxis  des  Epilnir  war 
besser  als  seine  Theorie,  und  seine  Nachfolger  suchten  auch  die 
letztere  zu  mildern. 

5.  Von  Schülern  des  Epi/.iir  sind  zu  nennen:  Mctradoros, 
sein  Lieblingsschüler,  den  er  überlebte,  dann  Ilermachos,  sein 
Nachfolger.  In  der  römischen  Welt  werden  von  Cicero  als  die 
ersten  Epikureer  Amaj'unhis  und  Uahirius  genannt.  Dann  sind  zu 
erwähnen  Cicero'^  Lehrer  Zeno^  so  wie  Pl/ärlros,  von  dem  Frag- 
mente erhalten  sind,  die  Petersen  gesammelt  hat.  Nicht  nur  für 
uns,  weil  sein  Werk  sich  erhalten  hat,  sondern  wohl  auch  an  sich 
ist  der  Bedeutendste  unter  ihnen  TUns  Lncretius  Carus  (95 — 52 
V.  Chr.),  welcher  in  seinem  berühmten  Lehrgedicht  {de  rerum 
natura ,  Libb.  VI)  besonders  dies  sich  zum  Ziel  setzt,  die  Welt 
von  dem  Schrecken  zu  befrein,  mit  dem  der  Aberglaube,  d.  h.  die 
Religion,  sie  erfülle,  und  der  mit  allem  Feuer  dichterischer  Kraft 
den  trocknen  Stoff  atomistischer  Physik  zu  verklären  sucht.  Die  Na- 
tur, diese  seine  einzige  Göttin,  erscheint  oft  fast  wie  ein  persönliches 
Wesen,  eben  so  die  Abweichung  der  Atome  fast  wie  eine  jedem 
einzelnen  inwohnende  Lebensregung.  Die  strenge  Gesetzmässigkeit 
hält  er  mehr  fest,  als  Epikur.  Im  Ethischen  zeigt  er,  wie  über- 
haupt die  Römer,  einen  grösseren  Ernst,  oft  auf  Kosten  der  Con- 
sequenz.  So  weit  freilich  entfernt  er  sich  nicht  von  dem  Sinn  der 
Epikureischen  Lehre  wie  Andere,  von  denen  Cicero  erzählt,  dass  sie 
die  reine  Freude  an  der  Tugend  auch  unter  die  Lüste  gestellt  haben. 

Dioy.  Laürt.  X.     Bitter  et  Preller  1.  e.   354  —  372. 


I.    Die  Dogmatiker.     B.  Die  Stoiker.     §.  97,  1.  163 

§.  97. 

B. 

Die  Stoiker. 

Tiedemann  System  der  stoischen  Philosophie.  3  Thle.  Leipz.  1776.  Petersen 
Philosophiae  Chrysippeae  fundamenta.     Altonae  1824. 

1.  Zenon,  in  Kittion  auf  Kypros  340  v.  Chr.  geboren,  soll  zu- 
erst die  Sokratischen  Lehren  und  Schriften  kennen  gelernt,  dann 
aber  den  Kyniker  Krates ,  den  ^Nlegariker  Stiipo  und  den  Akade- 
miker Polemon  gehört  haben,  und  nachdem  er  zwanzig  Jahre  Schü- 
ler gewesen,  als  Lehrer  der  Philosophie  in  der  aroa  Ttor/Akrj  aufge- 
treten seyn,  von  der  seine  Schule  den  Namen  führt.  Nach  mehr 
als  fünfzigjähiiger  Lehrthätigkeit  soll  er  sein,  durch  Massigkeit 
ausgezeichnetes,  Leben  durch  Selbstmord  beschlossen  haben.  Von 
seinen  Schriften  ist  Nichts  erhalten.  Seine  Schüler  haben  sich 
wohl  von  dem  Kynismus  mehr  entfernt  als  er  selbst;  am  Wenig- 
sten, so  scheint  es,  der  Chier  Ari^ton.  Unter  seinen  Schülern  ist 
der  durch  seinen  Eifer  ausgezeichnete  Kleontlies  aus  Assos  in  Troas, 
der  sein  Nachfolger  wurde,  zu  nennen.  Diesem  folgte  der  Bedeu- 
tendste, namentlich  was  logische  Schärfe  betrifft,  Chnjsippns  aus 
Soloi,  282 — 209  v.  Chr.,  „das  Messer  der  akademischen  Knoten", 
ein  sehr  fruchtbarer  Schriftsteller,  dessen  Fragmente  hagiiel  1821 
gesammelt  und  Petersen  nach  aufgefundenen  Papyrusrollen  ergänzt 
hat.  Des  Diog.  Laerl.  siebentes  Buch  gibt  ausführliche  Nachrich- 
ten über  die  genannten  und  noch  andere  Stoiker.  Nach  Rom  kommt 
die  erste  Kunde  der  Stoischen  Philosophie  diu-ch  einen  Schüler 
C/injsipp's,  Diogenes  j  welcher  mit  Krilolaos  (s.  §.  91)  und  Kar- 
nrades  (s.  §.  100,  2)  zu  der  dahin  geschickten  Gesandtschaft  ge- 
hörte. Wirklich  dahin  verpflanzt  ward  sie  erst  durch  Panaetios 
(175  — 112  V.  Chr.).  der  ein  Schüler  des  Anlipaler  von  Tarsus, 
und  dessen  Schüler  Posidonios  (135 — 51  v.  Chr.)  ein  Lehrer  Cieen/s 
ist.  An  diese  schliessen  sich  die  römischen  Stoiker  L.  Annans 
Cornuius,  20  —  68  n.Chr.,  C.  Mnsonius  Bnfns  und  sein  Freund 
der  Satyriker  A.  Persins  F/acciis,  dann  die  griechisch  schreiben- 
den Epiktet  der  Freigelassene,  dessen  Lehren  Avir  aus  dem  von 
Arrian  niedergeschriebenen  Eucheiridion ,  und  Marens  Aure/ins 
Antoninns  der  Kaiser,  121 — 180  n.  Chr. ,  dessen  Ansichten  wiv  aus 
seinen  nachgelasseneu  Schriften  kennen. 

2.  Im  völligen  Gegensatz  zu  Sohruies,  Pluto  und  Aristoteles 
wird  von  den  Stoikern  das  Theoretische  dem  Praktischen  so  unter- 
geordnet, dass  nicht  nur  die  Philosophie  als  Kunst  der  Tugend, 
oder  als  Streben  nach  ihr,  definirt,  sondern  der  Grund  warum  sie 

U* 


164  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

in  Logik,  Physik  und  Ethik  zerfalle,  darin  gefunden   wird,  dass 
es  logische,  ethische  und  physische  Tugenden  gibt.    In  dem  Ver- 
langen,  möglichst  bald  bei  der  Ethik,   dieser  Seele  des  Systems, 
anzulangen ,  haben  auch  sie  wie  die  Epikureer ,  auf  dem  Wege  da- 
hin die  Mühe  des  Selbsterfindens  nicht  auf  sich  genommen,   son- 
dern  in   der   Logik   an    Aristoteles,    in    der  Physik   an   Herahlit 
sich  angelehnt,  w^elche  letztere  Wahl,  so  wie  ihre  Hinneigung  zum 
Pantheismus  der  Eleaten,  ihren  Gegensatz  zu  den  Epikureern  be- 
dingt.    Der  erste  Theil  des  Systems,  welchem,  übereinstimmend 
mit  den  späteren  Peripatetikern ,  die  Stoiker  den  Namen  Logik 
gegeben  haben,   weil  hier  der  löyog,  d.h.  der  Gedanke  oder  das 
Wort  und  das  Hervorbringen  beider  betrachtet  wird,  zerfällt,  weil 
man  entweder  für  sich  oder  für  Andere  und  mit  Anderen  sprechen 
kann,  in  die  Rhetorik,   die  Kunst  des  monologischen  und  die 
Dialektik,   die  Kunst  des  dialogischen  Sprechens.     Sie  ist  eine 
Hülfswissenschaft  der  Ethik,  weil  sie  lehrt  Irrthümer  zu  vermei- 
den.   Dies  geschieht  einmal  durch  die  Erkemitnisstheorie ,  in  wel- 
cher die  Seele  zunächst  wie  eine  unbeschriebene  Tafel  gedacht  wird, 
auf  der   der  Gegenstand,  sey   es  nun  durch  wirkliche  Eindrücke, 
sey  es  durch  Alteration  des  Seelenzustandes ,  eine  Vorstellung  {(pav- 
TctGia)  hervorbringt ,  aus  der  in  Folge  von  Wiederholungen  eine  Vor- 
erwartung,  endlich  eine  Erfahrung  wird.     Eben  darum  behaupten 
die  Stoiker  auch ,  dass  die  Gattungen  nur  unsere  Vorstellungen  und 
nichts  Reales  seyen.    Zu  diesen,  auch  von  den  Epikureern  ange- 
nommenen, Momenten  kommt  nun  aber,  wo  es  zu  einer  wirklichen 
Gewissheit  kommen  soll,  der  Beifall  oder  die  Zustimmung  und  Be- 
jahung, avy-Actrüd^zaiQ ,   vermöge  der  die  Alfection  der  Seele  für  et- 
was Gegenständliches  erklärt  wird.     Obgleich  diese  Zustimmung  in 
manchen  Fällen  zurückgehalten  werden  kann,   so  doch  nicht,  wie 
die  Skeptiker  behaupten,  in  allen.    Eine  Vorstellung,  bei  der  wir 
es  nicht  können  und  die  uns  also  zwingt  sie  als  objectiv  zu  be- 
jahen, ist  mit  Ueberzeugung,  Karälri'xpK;,  begleitet,  so  dass  das  eigent- 
liche Kriterium  der  Wahrheit  in  dem  Erzwingen  der  Zustimmung 
liegt,  d.  h.  in  dem,   was  man  später  Denknothwendigkeit  genannt 
hat.    Ein  solches  Kriterium  aber  muss  es  geben,  weil  es  sonst  kein 
sichres  Handeln  gäbe.    Aus  den  Ueberzeugungen  wird  Wissenschaft 
durch   die   kunstgerechte  Form,    deren   Betrachtung   den   zweiten 
Hauptbestandtheil  der  Stoischen  Logik  ausmacht.    Es  wird  hier 
nicht  getrennt,  was  die  Bildung  des  richtigen  Gedankens  und  was 
ihren  Ausdruck  betrifft,   und  mit  einer  ausführlichen  Theorie  der 
Redetheile  (deren   fünf  angenommen  werden),   so  wie  mit  Unter- 
suchungen über  Barbarismen  und  Solöcismen  die  über  Paralogis- 


I.    Die  Dogmatiker.     B.  Die  Stoiker.     §.  97,  2.  3.  165 

men  verbunden ,  zu  deren  Begründung  die  Lehre  vom  Schluss  aus- 
führlich durchgenommen  wird.  Ausser  einigen  Aenderungen  der 
Aristotelischen  Terminologie  ist  besonders  dies  zu  bemerken,  dass 
die  von  Aristoteles  gar  nicht,  von  seineu  Nachfolgern  schon,  be- 
rücksichtigten hypothetischen  und  die  mehrgliediigen  Schlüsse,  jetzt 
in  den  Vordergrund  treten.  Die  letzteren  besonders  um  den  apa- 
gogischen  Beweis  zu  retten,  um  deswillen  wohl  auch  zu  dem  eben 
angeführten  Kriterium  der  Wahrheit  die  logische  Bestimnumg  hin- 
zugefügt wird,  dass  nur  Solches  als  wahr  gelten  könne,  wovon  es 
ein  Gegentheil  gibt.  Wie  bei  Aristoteles,  so  bildet  auch  bei  den 
Stoikern  den  Uebergang  von  den  formell  -  logischen  Untersuchungen 
zu  den  realen  Erkenntnissen  die  Lehre  von  den  Kategorien.  Dass 
hier,,  unter  verändertem  Namen,  nur  die  vier  ersten  des  Aristote- 
les, welche  dem  Substrat  und  seinen  Zuständen  entsprechen,  bei- 
behalten, die  übrigen,  w^elche  Thätigkeiten  ausdrücken,  weggelassen 
werden,  ist  charakteristisch  für  ein  System,  das  in 

3.  seiner  Physik  zu  einem  solchen  Materialismus  gelangt,  wie 
das  stoische.  Die  Behauptung ,  dass  Nichts  Realität  und  Wirksam- 
keit habe,  als  das  in  drei  Dimensionen  ausgedehnte  Körperliche, 
wü'd  selbst  auf  Seelenzustände,  z.B.  Tugenden,  ausgedehnt  w'eil 
sie  wirken,  d.  h.  Bewegungen  hervorbringen.  Indem  aber  ein  fei- 
neres Körperliches  von  dem  gröberen  unterschieden  und  jenem  ein 
activer,  diesem  ein  leidender  Charakter  beigelegt  wird,  kann  un- 
beschadet des  völligen  Materialismus  der  Aristotelische  Gegensatz 
von  Form  mid  Materie  hereingenommen  werden.  Das  formirende 
Princip,  welches  bald  löyog,  bald  vovg,  bald  Seele,  bald  Zeus,  bald 
Nothweudigkeit,  bald  Aether  genannt  wird,  ist  feuerähnlich  gedacht, 
heisst  wohl  auch  geradezu  Feuer,  nur  dass  es  im  Gegensatz  zum 
gewöhnlichen  Feuer,  das  bloss  verzehrt,  auch  als  das  Wachsthum 
gebende,  architektonische,  gedacht  wii'd.  Dieses  Feuer,  die  eigent- 
liche Gottheit  der  Stoiker,  lässt,  als  wechselnde  Formen,  die  Dinge 
aus  sich  heraus-  und  in  sich  zurückgehn;  in  ersterer  Beziehung 
ist  die  Gottheit  ihr  Saame,  in  zweiter  ihr  Grab.  Daher  ihre  Lehre 
vom  Ao'yog  aniQuaxiKÖg  und  von  der  hnvQwGig.  Diese  Modificatio- 
nen  der  Gottheit  bilden  eine  Stufenfolge,  je  nachdem  ihnen  nur 
'iiig ,  oder  auch  (pvaig ,  oder  ausser  beiden  noch  fvir],  oder  endlich 
nebst  jenen  allen  auch  vovff' zukommt.  Auch  die  vernünftige  Seele 
übrigens  ist  ein  feuerähnlicher  Körper,  bei  dessen  Entstehung  und  Er- 
haltung das  Einathmen  der  kühleren  Luft  eine  wichtige  Rolle  spielt. 
Den  Pantheismus,  den  z.  B.  Kleanllrs  Lobgesang  auf  Zeus  athmet, 
haben  die  Stoiker  mit  den  religiösen  Volks  Vorstellungen  durch  phy- 
sikalische Deutung  der  Mythen  in  Einklang  gebracht,  und  zeigen 


166  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

auch  hierin  wieder  ihren  Gegensatz  zu  den  Epikureern  mit  ihrem 
Euemerismus.  Vermöge  dieser  Umdeutung  war  es  ihnen  möglich, 
in  einer  Menge  von  Ansichten  und  Gebräuchen  des  Volks ,  die  von 
den  Aufgeklärten  verlacht  wurden,  allen  Ernstes  einen  tieferen 
Sinn  zu  sehn,  was  sowol  die  Epikureer  als  die  Skeptiker  gegen 
sie  aufbrachte.  Auch  den  Cicero.  Mit  dem  Pantheismus  der  Stoi- 
ker geht  ein  völliger  Fatalismus  Hand  in  Hand.  Ihre  Vorsehung 
ist  nichts  Andres  als  das  unveränderliche  Schicksal. 

4.  In  der  Ethik,  als  der  Krone  des  Systems,  haben  die  Stoi- 
ker sich  an  die  Kyniker  angelehnt,  allmählich  aber  von  ihnen  ent- 
fernt und  zwar  dadurch,  dass  sie  den  Menschen  immer  mehr  iso- 
liren.  Die  Formel  des  Zeno  und  Kfeanth,  dass  der  Mensch  in 
'  Uebereinstimmung  mit  der  Natur  zu  leben  habe,  bekommt  schon 
bei  Clinjsipp  die  beschränkte  Bedeutung  der  Uebereinstimmung  nur 
mit  der  eignen  Natur,  in  Folge  der  auch  der  Weise  nicht  mehr 
die,  sondern  nur  seine,  Natur  zu  kennen  braucht.  Und  so  macht 
sich  allmählich  der  Uebergang  zu  der  ganz  formellen  Bestimmung, 
dass  man  übereinstimmend,  d.h.  consequent  zu  handeln  habe ,  eine 
Formel,  die  hier  nicht  wie  bei  Aristoteles  (s.  §.  89,  1),  die  inhalts- 
vollere begleitet,  sondern  sie  vertritt.  Diese  Consequenz  ist  die 
revta  ratio,  Avelche  die  römischen  Stoiker  rühmen.  Indem  die 
Stoiker  immer  mehr  dazu  kommen,  den  Menschen  nur  in  der  den- 
kenden Seite  seines  Wesens  zu  sehn,  schliesst  sich  an  jene  formelle 
Bestimmung  die  materielle,  dass  die  nü^i]  nicht,  wie  Aristoteles 
gelehrt  hatte,  durch  Uebertreibung  krankhaft  werden  können,  son- 
dern dass  sie  von  vorn  herein  Uebertreibungen  und  krankhaft  seyen. 
Daraus  ergibt  sich  wenigstens  eine  Annäherung  an  den,  bis  dahin 
in  der  griechischen  Philosophie  unerhörten,  Pflichtbegriff,  der  die 
Verwandtschaft  der  stoischen  und  christlichen  Anschauungen,  so 
wie  die  Entstehung  mancher  Fabeln,  z.  B.  vom  Verkehr  des  Seneca 
mit  dem  Apostel  Punlvs,  erklärt.  Das  na^riKov,  das  Cicero  nur 
mit  officium  zu  übersetzen  weiss,  ist  wesentlich  von  der  Aristote- 
lischen Tugend  unterschieden,  da  es  nicht,  wie  sie,  den  natürli- 
chen Trieb  regelt,  sondern  negirt.  In  der  Unterscheidung  dessel- 
ben von  dem  Karöq^co^ia  zeigt  sich  ausser  dem  Gradunterschied 
eine  Annäherung  an  den  Gegensatz  des  Legalen  und  Moralischen. 
Da  alle  nad^iq  entweder  Lust  oder  Schmerz  erregen,  so  folgt  aus 
der  Krankhaftigkeit  jener" die  Werthlosigkeit  dieser  beiden,  und 
dem  Stoiker  ist  gleichgültig,  sowol  was  dem  Kyrenaiker  als  was 
dem  Kyniker  das  Höchste  war.  Darum  i)reist  er  als  das  Höchste 
die  ccTccc^Hci,  wie  der  Epikureer  gleichfalls  die  Schmerzlosigkeit  ge- 
priesen hatte.     Sie  macht  unangreifbar,  da  der  Gleichgültige  sich 


I     Die  Dogmatikev.     B.  Die  Stoiker.     §.  97,  4.  167 

erhaben  weiss  über  Allem.  Der  Mensch  gelangt  zu  ihr  und  wird 
zum  Weisen ,  indem  er  nur  Solchem  einen  Werth  beilegt,  was,  von 
allen  äusseren  Umständen  unabhängig,  ganz  in  seiner  Macht  steht. 
Darum  trägt  der  Weise  sein  Glück  in  sich;  es  wird  ihm  nie  ge- 
schmälert, selbst  dann  nicht,  wenn  er  in  die  Kuh  des  Phaluris 
gesperrt  würde.  Dieses  sich  über  Allem  erhaben  und  mit  sich 
selbst  im  Einklänge  wissen  ist  so  sehr  die  Hauptsache,  dass  nur 
dadurch  die  einzelnen  Handlungen  einen  Werth  bekommen:  der 
Weise  thut  Alles  am  Besten,  kann  Alles,  beneidet  Niemand,  selbst 
den  Zeus  nicht,  ist  König,  ist  reich,  ist  allein  schön  u.  s.  w.  Der 
Thor  dagegen  kann  Nichts,  thut  nichts  gut.  Ihr  Gegensatz  ist 
diametral,  darum  giebt  es  weder  Individuen,  die  zwischen  Weis- 
heit und  Thorheit  in  der  Mitte  stehn ,  noch  auch  Zeiten  des  Ueber- 
ganges,  sondern  er  geht  plötzlich  vor  sich.  Auch  aller  graduelle 
Unterschied  innerhalb  der  Weisheit  und  Thorheit  wird  geleugnet. 
Entweder  ganz  oder  gar  nicht  ist  Einer  Thor  oder  Weiser.  Einige 
Härten  des  Systems  wurden  später  dadurch  gemildert,  dass  unter 
den,  an  sich  gleichgültigen,  Dingen  doch  unterschieden  wurde,  je 
nachdem  sie  „vorgezogen"  oder  „nachgesetzt"  werden,  womit,  wie 
schon  Cicero  nachweist,  der  eben  geleugnete  quantitative  Unterschied 
unter  den  Gütern  wieder  eingeschwärzt  ist.  Ganz  eben  so  wird 
ihre  prahlerische  Behauptung,  dass  der  Schmerz  kein  Uebel  sey, 
ziemlich  nichtssagend  durch  die  Beschränkung,  dass  man  ihn  den- 
noch fliehen  müsse,  weil  er  unangenehm,  weil  er  wider  die  Natur 
sey  u.  s.  f.  Weil  das  Bei  sich  seyn  der  einzige  Zweck,  deswegen 
erscheint  das  Leben  in  sittlichen  Gemeinschaften  ledighch  als  Mit- 
tel dazu,  wenn  es  nicht  gar  als  Hinderniss  angesehn  wird.  Die 
Fragen ,  ob  der  Weise  Ehemann ,  ob  Staatsbürger  seyn  solle,  wer- 
den z.  B.  von  Epiktel  verneint.  Was  die  Pietät  gegen  Sitte  und 
Herkommen  fordert,  wie  Sorge  für  die  Todten,  wird  verhöhnt. 
Kosmopolitismus  und  enge  Freundschaft  unter  den  gleichgesinnten 
Weisen,  die  Epiktct  als  Avahre  Brüderschaft  denkt,  in  der  was 
Einem,  Allen  nützt,  treten  hier  an  die  Stelle  der  natürlichen  und 
sittlichen  Bande.  In  vielen,  vielleicht  den  meisten  Sätzen  der 
stoischen  Ethik,  wäre  es  leicht  Vorahnungen,  wenn  gleich  öfter 
carrikirte,  dessen  nachzuweisen,  was  später  in  der  christlichen 
Gemeinde  für  wahr  gilt.  Dies  war  es,  was  zu  allen  Zeiten  Chri- 
sten vor  der  stoischen  Lehre  Hochachtung  eingeflösst  hat.  Auf 
der  andern  Seite  enthält  sie  sehr  Vieles ,  was  sie  dem  selbstsüch- 
tigsten aller  Völker,  den  Römern,  werth  machen  musste.  Dazu 
gehört  ihr  Tugendstolz,  dazu  weiter  die  Resignation  in  den  Welt- 
lauf begleitet  mit  dem  steten  Bewusstseyn,  dass  der  Selbstmord 


168  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

allem  Leiden  ein  Ende  mache.  Das  Hervorheben  der  Gesinnung 
als  des  Einzigen  was  in  des  Menschen  Macht  stehe,  die  Anerkennt- 
niss  der  eignen  Ohnmacht  im  Verhältniss  zur  Gottheit  und  ihrer 
Wirksamkeit ,  u.  A.  wird  bei  den  späteren  Stoikern ,  einem  Epiktet 
und  Marc  Aurcl ,  in  Aussprüchen  formulirt,  die  man  oft  für  Ent- 
lehnungen aus  dem  Evangelio  gehalten  hat.  Wenigstens  bewuss- 
ter  Weise  waren  sie  es  nicht.  Dass  bei  solchen  Annäherungen  an 
das  Christliche  Maix  Aiirel  das  Christenthum  liasst,  darf  nicht 
befremden.    Dergleichen  wiederholt  sich  überall. 

Diog.  Laert.  Lib.   YII.     Bitter  et  Preller  1.  c.  §.   373—413. 

§.  98. 
Im  Gegensatz  zu  der  Speculation  des  Plafo  und  Aristoteles^ 
muss  die  Lehre  der  Epikureer  und  Stoiker,  da  sie  eines  Kriteriums 
der  Wahrheit  bedarf  und  auf  festen  Voraussetzungen  beruht,  Dogma- 
tismus genannt  werden.  Unter  sich  bilden  sie  einen  Gegensatz,  der, 
gerade  weil  er  diametral,  über  sich  hinausweist.  Die  verständige 
Berechnung,  deren  Resultat  die  Glückseligkeit  der  Epikureer  ist, 
zeigt  dass  ihrer  Lust  das  Denken  immanent  ist,  und  weiter  ist 
dem  Stoiker,  um  sich  über  die  Genüsse  des  Lebens  erhoben  zu 
wissen,  der  Genuss  nothwendig.  Darum  sind  die,  namentlich  die 
römischen  Epikureer,  verständige  Männer  gewesen,  und  die  Stoi- 
ker haben  gewusst  mit  Geschmack  ihr  Leben  zu  geniessen.  Diese 
ihre  Begegnung  im  Leben  hat  zu  ihrer  theoretischen  Ergänzung, 
dass  ihnen  ein  Standpunkt  entgegentritt,  der  die  ihrigen  so  ver- 
bindet ,  dass  je  von  den  festen  Voraussetzungen  des  einen  aus  die 
des  anderen  widerlegt  werden,  wobei  freilich  jedes  positive  Resul- 
tat verloren  geht.  Dies  ist  der  Skepticismus,  der  sich  zu  der 
Antinomik  und  Aporetik  des  Plato  und  Aristoteles  gerade  so  ver- 
hält, wie  der  Dogmatismus  zu  den  positiven  Elementen  in  der 
Speculation  Beider.  Das  kyrenaische  und  kynische  Element,  die 
sich  im  Piatonismus  und  also  im  Aristotelismus  durchdrungen  hat- 
ten, sie  hatten  sich  in  ihrem  Freiwerden  in  die  eben  betrachteten 
dogmatischen  Reflexionsphilosophien  verwandelt.  Eine  ganz  ähn- 
liche Veränderung  zeigt  sich  hier,  indem  die  (vgl.  §.  76,  6)  anti- 
nomische  Seite  der  Dialektik  eine  Rückbildung  in  blosse  Eristik 
erfährt  (s.  §.  68,  1).  Die  Skeptiker  verhalten  sich  zu  den  Mega- 
rikern  ungefähr  wie  Epihir  zum  Arislipp  und  Chrysipp  zum  An- 
tisthenes. 


II.  Die  Skeptiker      A.  Pyrrho.     §    99.  169 

II. 

Die  Skeptiker. 

§.  99. 

4. 
Pyrrho. 

Pyrrhfjn  aus  Elis  trat,  nachdem  er  vorher  Maler  gewesen 
und  auch  den  Feldzug  des  Alexander  in  Indien  mit  gemacht  hatte, 
zuerst  in  seiner  Vaterstadt  als  Lehrer  auf.  Neben  der  früheren 
elischen  und  der  megarischeu  Schule  soll  auch  ein  Schüler  des 
Demoh'it ,  der  dessen  Lehre  von  den  Sinnestäuschungen  in  skep- 
tischem Interesse  ausgebeutet  hatte,  auf  ihn  eingewirkt  haben. 
Da  alle  Nachrichten  über  ihn  durch  Vermitteluug  des  Arztes  und 
Sillendichters  Timoii  aus  Phlius  zu  uns  herübergekommen  sind, 
so  ist  nicht  zu  trennen  Nvas  dem  Lehrer  und  Schüler  angehört. 
Von  dem  was  Diogenes  von  Laerte  und  Sextus  Empiricus  als 
Lehre  des  Pyrrho  angeben,  gehört  Vieles  der  späteren  Skepsis 
an.  Was  gewiss  sein,  ist  auf  folgende  Sätze  zurückzuführen :  Wer 
das  Lebensziel,  die  Glücksehgkeit ,  erreichen  will,  der  muss  fol- 
gende drei  Punkte  erwägen:  wie  die  Dinge  beschaffen  sind?  was 
unser  Verhalten  zu  ihnen  seyn  muss?  endhch  aber:  was  der  Er- 
folg dieses  richtigen  Verhaltens  seyn  wird?  (Fast  gleichlautend 
formulirt  nach  zwei  Jahrtausenden  Kant  die  Aufgabe  der  Philoso- 
phie.) lieber  den  ersten  Punkt  ist  nichts  Gewisses  zu  sagen, 
da  jedem  Satz  seine  Verneinung  mit  demselben  Rechte  entgegen- 
gestellt werden  kann,  und  weder  Empfindung  noch  Vernunft  ein 
sicheres  Kriterium  abgeben ,  auf  beide  zugleich  aber  sich  zu  beru- 
fen eine  Lächerlichkeit  ist.  Dann  aber  folgt  hinsichtlich  des  zwei- 
ten, dass  das  einzig  richtige  Verhalten  das  ist,  nichts  von  den 
Dingen  auszusagen  {cicpaöla)  oder  sein  Urtheil  über  sie  zurückzu- 
halten (ettox»/),  denn  wer  sich  für  Etwas  verbürgt,  dem  ist  der 
Schade  nahe.  Demgemäss  ist  jede  Entscheidung  abzulehnen,  auf 
jede  Frage  zu  antworten :  Ich  bestimme  Nichts,  Vielleicht  oder  dergl, 
und  anstatt  zu  behaupten :  so  ist  es ,  nur  zu  erzählen :  so  erscheint 
es  mir.  Dies  gilt  ganz  gleich  von  Erkenntnissen  wie  von  sittli- 
chen Vorschriften,  denn  wie  Nichts  für  Alle  wahr,  so  ist  auch 
Nichts  an  sich  gut  oder  schändlich.  Je  mehr  man  nun  dieser 
Weisung  folgt,  um  so  sicherer  wird  drittens  die  Unerschütter- 
lichkeit (ar«^of|tc)  erreicht,  welche  allein  den  Namen  der  anü^na 
verdient.  Da  die  gewöhnlichen  Menschen  stets  von  ihren  nä^tcii 
geleitet  werden,  so  kann  es  als  die  Aufgabe  des  Weisen  bestimmt 
werden ,  den  Menschen  auszuziehn.    Für  das  praktische  Leben  ist 


170  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

diese  Skepsis  ganz  ungefährlich.  Hier  gilt  die  Weisung,  dem  zu 
folgen  was  allgemeine  Gewohnheit  ist,  also  dem  was  Allen  gut 
scheint. 

Diorj.  Laert.   IX,    11.   12.     Ritter  et  Prellcr  1.   c.  §.   345  —  353. 

§.    100. 

Obgleich  die  Lehre  des  Pyrrho  und  Tlmon  namentlich  bei  den 
Aerzten  Anklang  fand,  so  tritt  doch  die  ganze  Richtung  für  eine 
Zeitlang  mehr  in  Verborgenheit,  bis,  veranlasst  durch  die  Erörte- 
rungen der  Dogmatiker  über  die  Kriterien  der  Wahrheit,  eine 
schulmässig  ausgebildete  Skeptik  ins  Leben  tritt ,  und  zwar  zuerst 
in  der  gemilderten  Form  der  neueren  Akademie,  die  ihrerseits, 
wo  sie  sich  im  Lauf  der  Zeiten  immer  mehr  dem  Dogmatismus 
annähert ,  als  Reaction  gegen  sich  die  Wiedererneuerung  der  Pyr- 
rhonischen  Skepsis  hervorruft,  bereichert  um  eine  streng  wissen- 
schaftliche Form.  Obgleich  in  Vielem  einander  verwandt,  stehn 
sie  doch  in  vieler  Beziehung  einander  feindselig  gegenüber,  und 
werden  deshalb  in  der  Darstellung  von  einander  zu  trennen  seyn. 

§.  101. 

B. 

Die  neiiere  Akademie. 

1.  Arkesilnos  (Ol.  115,  1  — 138,  4)  aus  Pytana  in  Aeolien  ge- 
bürtig, soll  zuerst  von  Rhetoren,  dann  von  Theoplirast  (§.  91), 
weiter  von  dem  Akademiker  Krantor  (§.  80)  gebildet  worden  seyn, 
zugleich  aber  auch  mit  Meuedemos ,  Dtodoros  und  Pij7T//on  Um- 
gang gehabt  haben,  und  ist  nach  dem  Tode  des  Krales  in  der 
Akademie  als  Lehrer  aufgetreten.  Die  dialogische  Form  seiner 
Lehren,  von  der  einige  Nachrichten  sprechen,  bestand  vielleicht 
in  Reden  für  und  gegen.  Schriftliches  von  ihm  existirt  nicht.  Sein 
gutmüthiger  Charakter  wird  gerühmt,  doch  aber  auch  allerlei  Un- 
rühmliches ihm  nachgesagt.  Wegen  seiner  Abweichungen  von  Plato 
wird  er  Stifter  der  neueren,  oder  auch,  je  nachdem  man  die  Mo- 
dificationen  der  Lehre  zählt,  der  mittleren,  endlich  der  zweiten 
Akademie  genannt.  Seine  Skepsis  hat  er  besonders  im  Gegensatz 
zu  den  Stoikern  entwickelt,  an  denen  er  erstlich  tadelt,  dass  sie 
die  Ueberzeugung  als  ein  Drittes  neben  die  Meinung  und  das  Wis- 
sen stellen,  da  sie  doch  beide  begleiten  kann,  dann  aber  dass  sie 
überhaupt  eine  mit  Ueberzeugung  begleitete  Vorstellung,  q)avtaaia 
KctruhjTiTiKi] ,  statuiren.  Es  gibt  keine  Ueberzeugung,  da  weder 
die  sinnliche  Wahrnehmung  noch  das  Denken  eine  Sicherheit  ge- 
währt. Dabei  ist  es  ein  Irrthum,  dass  ohne  ein  Kriterium  der 
Wahrheit  die  Sicherheit  des  Handehis  aufhöre;  für  dieses  reicht 
die  Wahrscheinlichkeit  aus.    Die  Zurückhaltung  des  Urtheils  führt 


II.  Die  Skeptiker      B.   Die  neuere  Akademie.     §.   101.  2  171 

zur  Unerschütterlidikeit ,  der  wahren  Glückseligkeit.  —  Als  der 
nächste  Nachfolger  des  Arkcsiluos  wird  Lahjdes  genannt,  von 
dem  Einige  erst  die  neuere  Akademie  datiren  wollen,  weil  Arhe- 
silnos  noch  an  dem  alten  Orte  lehrte.  Dem  Lahydes  folgten  Emm- 
dros  und  Hegesias.     Sie  alle  verschwinden  gegen 

2.  Kurneades  von  Kyrene  (Ol.  141,  2  —  162,4),  der  auch  als 
Stifter  der  dritten  Akademie  gilt,  und  der,  in  Athen  sehr  geehrt, 
als  das  Haupt  der,  im  J.  158  nach  Rom  geschickten  Gesandtschaft, 
hier  durch  seine  Prunkredeu  für  und  gegen  die  Gerechtigkeit  den 
verspäteten  Zorn  des  Odo  hervorrief.  Was  er  geschrieben  hat, 
ist  verloren  gegangen.  Nachrichten  über  ihn  geben  ausser  Dio- 
genes von  Laerte  Se.vtns  nach  den  Berichten  seines  Schülers  Klei- 
fomachos  und  vor  Allen  Cicero.  Auch  Kurneades  kommt  zu  sei- 
nen skeptischen  Resultaten  durch  Bestreitung  der  Stoiker.  Na- 
mentlich des  Clmjsipp ,  von  dem  ganz  abhängig  zu  seyn,  er  oft 
scherzhaft  behauptet.  Um  die  Unmöglichkeit  eines  Kriteriums  und 
der,  darauf  sich  stützenden,  Ueberzeugung  darzuthun,  analysirt 
er  die  Vorstellung  und  findet ,  dass  dieselbe  ein  Verhältniss  habe, 
sowol  zu  dem  Gegenstande,  durch  den,  als  zu  dem  Subjecte,  in 
dem  sie  entsteht.  Uebereinstimmung  mit  jenem  gibt  Wahrheit, 
vom  Verhältniss  zu  diesem  hängt  die  Wahrscheinlichkeit  ab.  Ueber 
die  erstere  zu  entscheiden ,  haben  wir  weder  an  der  Wahrnehmung 
noch  an  dem  Denken  ein  Mittel.  Ja,  eine  Vergleichuug  der  Vor- 
stellung mit  dem  Gegenstande  ist  eine  Unmöglichkeit ,  indem  wenn 
wir  sie  versuchen,  es  immer  der  schon  vorgestellte  Gegenstand 
ist ,  den  wir  in  die  Vergleichung  ziehn.  Auf  eine  eigentliche  xa- 
r<!(h]t\)iq  muss  also  verzichtet  werden;  selbst  in  der  Mathematik. 
Wir  müssen  uns  mit  der  Wahrscheinlichkeit ,  ni&avÖTriq,  begnügen, 
welche  verschiedene  Grade  hat,  indem  wahrscheinliche,  unzweifel- 
hafte und  allseitig  geprüfte  Vorstellungen  unterschieden  werden 
können.  Zu  welchen  Widersprüchen  es  führe,  wenn  man  mehr 
will  als  Wahrscheinlichkeit,  davon  seyen  die  Stoiker  ein  Beweis. 
Namentlich  in  dem  Schlusspunkte  ihrer  Physik,  der  Lehre  von 
Gott.  Die  Annahme  eines  unvergänglichen  und  unveränderlichen 
Wesens  soll  nicht  nur  mit  den  übrigen  Stoischen  Lehren ,  sondern 
mit  sich  selbst  in  Widerspruch  stehn.  So  wenig  von  einem  theo- 
retischen Satze  gesagt  werden  kann,  dass  er  absolute  Wahrheit 
habe,  so  wenig  von  einem  praktischen  Grundsatz.  Nichts  ist  von 
Natur  oder  für  Alle  gut,  sondern  Alles  durch  Satzung  und  je  für 
verschiedene  Subjecte.  Wenn  darum  der  Weise  sich  überall  nach 
der  bestehenden  Sitte  richten  wird,  so  wird  er  doch  in  allen 
praktischen,  gerade  wie  in  den  theoretischen  Fragen  sich  jedes 


172  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

Urtlieils  enthalten ;  er  wird  Nichts  für  gewiss  halten ,  nicht  einmal 
dass  Alles  ungewiss  sey.  Diese  Zurückhaltung,  welche  die  Uner- 
schütterlichkeit zur  Folge  hat,  soll  Karneades  praktisch  so  geübt 
haben,  dass  Kleitomachos  behauptet,  selbst  er  sey  nie  im  Stande 
gewesen  zu  merken,  welcher  von  zwei  entgegengesetzten  Behaup- 
tungen der  Meister  sich  zuneige. 

3.  Philo  von  Larissa,  der  in  Rom  lehrte,  wird  nebst  dem 
Cliiirmldas  oft  als  Stifter  der  vierten  Akademie  bezeichnet.  Im 
Anüovhüs  von  Askalou,  den  Cicero  in  Athen  hörte  und  welchen 
man  die  fünfte  Akademie  gründen  lässt,  trägt  die  -fortwährende 
Polemik  gegen  die  Stoiker  die  natürliche  Frucht,  dass  die  Skepsis 
sich  mit  stoischen  Elementen  vermischt.  Diese  Annäherung  recht- 
fertigt er  dadurch,  dass  er  den  Unterschied  der  ursprünglichen 
und  der  neueren  Akademie  leugnet,  mit  der  ersteren  aber  die 
Stoiker  mehr,  als  ihr  veränderter  Sprachgebrauch  zugestehen  wolle, 
übereinstimmen  lässt.  Diese  Verschmelzung  rief  die  Reaction  der 
strengeren  Skepsis  hervor. 

Diog.  Laert.  IV,   6.     ßäter  et  Prellcr  1.  c.   §.  414—428. 

c. 

Rückkehr  zur  Pyrrhonischcu  Skepsis. 

§.  102. 
a.  A  e  n  e  s  i  d  e  m. 
1.  Aincsidemos  von  Knossos,  ein  jüngerer  Zeitgenosse  des 
Cicero,  der  in  Alexandrien  lehrte,  ward  durch  die  Weise,  in  wel- 
cher Aidiocltos  die  Stoiker  bekämpfte  und  die  ihm  ganz  dogma- 
tisch erschien,  wieder  auf  die  consequentere  Skepsis  des  Pyrrho 
zurückgeführt  und  nannte  darum  die  (verloren  gegangenen)  acht 
Bücher  Untersuchungen:  Pyrrhonische.  Die  einzigen  sicheren  Nach- 
richten über  ihn  danken  wir  dem  Pliotius;  Sexlns  trennt  nicht 
immer,  was  Aenesidem  und  was  seine  Schüler  und  Nachfolger  ge- 
sagt haben.  Nur  von  diesen,  wenn  überhaupt  der  ganzen  Nach- 
richt nicht  ein  Missverständniss  zu  Grunde  liegt ,  kann  gelten  was 
er  sagt,  dass  die  Skepsis  als  Vorbereitung  zum  Herakhtismus  ge- 
dient habe.  Aincsidemos  hat  vielmehr  die  strenge  Skepsis  als 
das  Ziel,  die  akademischen  Zweifel  nur  als  Vorübung  dazu  ange- 
sehn.  Der  wahre  Skeptiker  erlaubt  sich  nicht,  wie  der  Akademi- 
ker, zu  behaupten,  dass  es  keine  Gewissheit  sondern  nur  Wahr- 
scheinlichkeit gebe.  Dies  wäre  schon  ein  böy^a.  Er  bejaht  nicht, 
verneint  nicht,  bezweifelt  nicht,  sondern  untersucht.  ZxsipLg  ist 
nicht  cySj^ig.  Das  Wesentliche  ist,  dass  er  gar  Nichts  behauptet, 
so  dass  die  Ausdrücke:  Vielleicht,  Ich  bestimme  nichts  u.  dergl. 
die  einzigen  sind,   die  er  sich  erlaubt.    Zu  dieser  Zurückhaltung 


n.  Die  Skeptiker.     C.  Strengere  Skepsis,     b.  Sextus  Empiricus.     §.  103,  1.    173 

gelangt  man  nun  am  Schnellsten,  wenn  man  Alles  unter  gewissen 
Gesichtspunkten  (roTtoi  oder  tqötioi  rijg  ßxiipeag)  betrachtet,  deren 
Ahieiildemos .  oder  seine  Schule,  zehn  gebraucht  hat,  welche  Sex- 
tvs  aufzählt.  Die  Verschiedenheit  der  gleichen  Sinnesorgane  bei 
verschiedenen  Subjecten,  der  Widerstreit  der  Wahrnehmungen  ver- 
schiedner  Sinne ,  die  Relativität  der  meisten  Prädicate  die  wir  bei- 
legen u.  s.  w. ,  sollen  die  Gründe  seyn ,  warum  es  keine  objectiv 
gewissen  Aussagen  gebe,  sondern  eigenthch Jeder  nur  seinen  eig- 
nen Zustand  beschreiben  und  aussagen  dürfe,  wie  ihm  Etwas  er- 
scheine. Unter  jenen  Topen,  welche  theoretischer,  praktischer, 
religiöser  Art  sind,  findet  sich  nun  auch  die  Unhaltbarkeit  des 
Causalitätsbegriffes ,  dieses  Angriffspunktes  auch  für  manche  viel 
spätere  Skeptik.  Einige  Gründe  gegen  diesen  Begriff  erscheinen 
ziemlich  flach,  andere,  z.  B.  die  Behauptung  der  Gleichzeitigkeit 
von  Ursache  und  Wirkung,  gehen  tiefer  in  die  Sache  ein. 

2.  Ein  Nachfolger  des  Ainesidemos ,  Agrippa,  soll  die  zehn 
Tropen  auf  fünf  reducirt  haben  und  als  solche  die  Verschiedenheit 
des  Wortsinnes,  dass  jedes  Räsonnement  auf  den  endlichen  Pro- 
gress  hinausführe,  dass  Alles  relativ  sey,  auf  bestreitbaren  Vor- 
aussetzungen beruhe,  endlich  dass  jedes  Räsonnement  sich  im 
Kreise  bewege,  angeführt  haben.  Diogenes  von  Laerte  gibt  eine 
Menge  von  Namen  an,  welche  die  fast  zwei  Jahrhunderte  zwischen 
Ainesidemos  und  Sextus  ausfüllen  sollen, 

§.  103. 
b.  Sextus  Empiricus. 

1,  Der  Arzt  Sextos,  wegen  der  von  PMJinos  begonnenen  Rich- 
tung, der  er  angehörte,  Empeirihis  genannt,  lebte  gegen  Ende 
des  2ten  Jahrhunderts  nach  Christo  wahrscheinlich  in  Athen  und 
dann  in  Alexandrien.  Für  uns  gewiss,  weil  seine  Schriften  sich 
erhalten  haben,  wahrscheinlich  aber  auch  an  sich,  ist  er  der  Be- 
deutendste unter  den  Skeptikern.  Seine  drei  Bücher  Pyrrhonischer 
Hypotyposen  enthalten  die  Charakteristik  des  skeptischen  Stand- 
punktes und  erörtern  von  ihm  aus  die  Hauptbegriffe.  Nur  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  überhaupt ,  nicht  für  die  Kenntniss  des 
skeptischen  Standpunktes  insbesondere,  ist  sein  Hauptwerk  wich- 
tiger. Es  sind  dies  die  eilf  Bücher  gegen  die  Mathematiker,  d.  h. 
gegen  alle  Dogmatiker ,  in  welchen  im  I.Buch  die  Grammatik,  im 
2.  die  Rhetorik,  im  3.  die  Geometrie,  im  4.  die  Arithmetik,  im 
5.  die  Astronomie,  im  6.  die  Musik,  im  7.  und  8.  die  Logik,  im 
9.  und  10.  die  Physik,  im  11.  die  Ethik  kritisirt  und  als  unsicher 
dargestellt  werden.  Die  fünf  letzten  Bücher  werden  oft  auch  als 
Schrift  gegen  die  Philosophen  angeführt,  und  J.  Belker  hat  sie 


174  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

in  seiner  Ausgabe  des  Sextiis  (Berol.  1842)  unter  der  Ueberschrift 
TCQog  Joy^axiKovg  den  übrigen  Büchern  vorausgestellt.  Die  Schrif- 
ten des  Sextäs  pflegen  citirt  zu  werden  nach  der  Ausgabe  von 
Fnhricius  Leipz.  1718.  Fol.  mit  lateinischer  Version.  Ein  guter 
Abdruck  dieser  Ausgabe  ist  in  Leipzig  bei  Ki'tlm  im  J.  1842  in 
2  Bdn.  8.  erschienen. 

2.  Zuerst  fixirt  Sexlas  den  Begriff  der  Skepsis  so,  dass  er 
den  Dogmatikern,  \y eiche  wie  Aristoteles  und  die  Stoiker  die  Er- 
kennbarkeit der  Dinge  festhalten,  die  Akademiker  entgegenstellt, 
welche  die  Unerkennbarkeit  derselben  behaupten.  Von  beiden  sind 
unterschieden ,  die  gar  Nichts  behaupten  und  wegen  dieser  Zurück- 
haltung Ephektiker ,  weil  sie  die  Wahrheit  weder  meinen  gefunden 
zu  haben,  noch  an  ihr  verzweifeln,  sondern  sie  suchen  Zetetiker 
oder  Skeptiker,  weil  sie  in  jeder  Untersuchung  die  Schwierigkei- 
ten aufsuchen,  Aporetiker  genannt  werden  können.  Der  wahre 
Skeptiker  behauptet  nicht,  dass  jedem  Satz  der  entgegengesetzte 
entgegengestellt  werden  kann,  sondern  sieht  zu  ob  es  nicht  ge- 
schehen könne.  Hülfsmittel  bei  diesem  prüfenden  Zusehn  sind 
jene  verschiedenen  Tropen,  welche  auf  drei  zurückgeführt  werden 
können,  indem  sie  entweder  das  Verhältniss  der  Vorstellung  zu 
dem  Object,  oder  zu  dem  Subject,  oder  endhch  zu  beiden  betref- 
fen; ja  man  kann  sie  alle  drei  als  verschiedene  Arten  des  einen 
Tropus  von  der  Relativität  ansehn.  Gegenstand  der  Untersuchung 
sind  sowol  die  (paivö^tva^  als  die  voov^uva,  und  da  in  der  Unter- 
suchung sich  findet,  dass  hinsichtlich  beider  die  gleiche  Berechti- 
gung {iGoG^evEia)  entgegengesetzter  Behauptungen  zugegeben  wer- 
den muss,  so  führt  die  Skepsis  zur  Zurückhaltung  alles  Urtheils, 
diese  aber  zur  Unerschütterlichkeit.  Der  wahre  Skeptiker  sieht  - 
Alles  als  unentschieden  an,  selbst  dies,  dass  Alles  unentschieden 
ist.  An  anderen  Orten  wird  dies  freilich  beschränkt  und  der  Aus- 
spruch, dass  Alles  unsicher  sey,  dem  verglichen:  Zeus  ist  der 
Vater  aller  Götter ,  der  ja  auch  eine,  freilich  nur  eine,  Ausnahme 
in  sich  enthalte.  Anstatt  daher  von  den  Gegenständen  irgend 
etwas  zu  behaupten,  beschreibt  der  wahre  Skeptiker  nur  sein  Af- 
ficirtwerden  von  ihnen,  sagt  Nichts  über  die  Erscheinungen  aus, 
sondern  nur  Einiges  über  ihr  Erscheinen.  Im  Praktischen  zeigt 
er  dieselbe  Zurückhaltung.  Obgleich  er  überall  thun  wird,  was 
der  Landesgebrauch  fordert,  wird  er  sich  doch  sehr  hüten  von 
Irgend  etwas  zu  sagen ,  es  sey  an  und  für  sich  gut  oder  schlecht. 
Sehr  ausführlich  werden  die  gewöhnlichen  Antworten  der  Skepti- 
ker: Vielleicht,  nicht  mehr  als  das  Gegentheil,  Ich  weiss  nicht 
u.  s.  w.  durchgenommen  und  dann  gezeigt,  dass,  wenn  es  Ernst 
mit  ihnen  ist,   die  völlige  Unangreifbarkeit  die  Folge  seyn  muss. 


in.  Die  Synkretisten.     §.   105.  175 

3.  Aus  dem  grösseren  Werke  des  Sextus  sind  für  die  richtige 
Würdigung  seines  Slvepticismus  besonders  die  Angriffe  gegen  die 
Logik,  Physik  und  Ethik  wichtig.  Der  ersteren  wird  die  ünhalt- 
barkeit  aller  Kriterien  der  Wahrheit  und  die  Unsicherheit  des 
syllogistischen  Verfahrens  vorgerückt.  Der  zweiten  werden  die 
Schwierigkeiten  und  Widersprüche  im  Raum-  und  Zeitbegriff  vor- 
gehalten. Die  Ethik  endlich  muss  sich  die  Verschiedenheit  der 
sittlichen  Vorschriften  bei  verschiedenen  Völkern  vorerzählen  las- 
sen, aus  der  sich  ergebe,  dass  Nichts  von  Natur  und  für  Alle 
gut  oder  schlecht  sey.  Genug,  der  völlige  Subjectivismus  im  Theo- 
retischen und  Praktischen  ist  das  Resultat,  das  sich  ergibt. 

Ding.  Lacrt.  IX,    12.     Ritter  et   Preller  1.  c.  §.  467—476. 

§.  104. 
Dass  der  Skepticismus  beide  Formen  des  Dogmatismus  zu- 
gleich angriff,  musste  diese  einander  näher,  und  ihnen  zum  Be- 
wusstseyn  bringen,  in  wie  Vielem  sie  einig  waren.  Daher,  je  län- 
ger jener  Kampf  dauert,  um  so  mehr  die  Lehren  der  Epikureer 
und  Stoiker  eine  eklektische  Färbung  annehmen.  Der  Umstand, 
dass  der  römische  Geist ,  wo  er  mit  ihnen  bekannt  wird ,  zugleich 
den  Skepticismus  kennen  lernt,  so  dass  die  Philosophie  nicht  von 
ihm  erzeugt  wird,  sondern  in  Form  fertiger,  noch  dazu  ausländi- 
scher, Systeme  an  ihn  gebracht  wird,  seine  ganze  Natur  ferner, 
die  ihn  die  Speculation  niclit  um  ihret  selbst  willen,  sondern  we- 
gen praktischer  (Aufklärungs  -  und  oratorischer)  Zwecke  treiben 
und  darum  überall  annehmbar  finden  lässt,  was  diesem  Zwecke 
dienen  kann,  Beides  zusammen  macht  es  erldärlich,  dass  in  der 
römischen  Welt  sich  ein  Synkretismus  bildet,  in  welchem,  je  ver- 
verschiedner  die  verbundenen  Elemente,  um  so  mehr  der  Skepti- 
cismus sich  als  der  einzige  Kitt  derselben  erweist.  Melu'  oder 
minder  sind  Alle,  die  in  Rom  philosophirten ,  Synki-etisten  gewe- 
sen, nur  dass  in  den  Einen  wie  z.  B.  LvcuUus,  Brutus,  Varro, 
Cato  j.  das  stoische,  in  Anderen  wie  Pomp.  Atücus  und  C.  Cas- 
sius  das  epikureische,  in  noch  Anderen  wie  im  M.  P.  Piso  das 
peripatetische  Element  vorwiegt.  Der  Synkretismus  ist  eben  so 
sehr  Dogmatismus  wie  Skepticismus,  worin  eben  seine  formelle 
Inconsequenz,  und  seine  Hauptschwäche,  als  System  genommen, 
besteht. 

III. 
Die  S^'nkretisten. 

§.  105. 
Die  Entstehung  des  Synkretismus  ist  aber  nicht  nur  erklärlich, 


176  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

wie  dies  auch  krankhafte  Erscheinungen  sind,  sondern  in  der  rö- 
mischen Welt  ist  sie  eine  Nothwendigkeit ,  und  darum  hat  der 
Synkretismus  der  Kömerzeit  eine  so  grosse  und  nachhaltige  Wir- 
kung gezeigt.  Das  Princip  des  römischen  Geistes  (s.  §.  93)  nöthigt 
ihn,  Avo  er  nach  Grösse  strebt,  diese  darein  zu  setzen,  dass  das 
römische  Volk  eine  Summe  vieler ,  wo  möglich  aller ,  Völker  werde. 
Ein  Volk  aber,  das  sich  rühmt  als  eine  coUiuhcs  entstanden  zu 
seyn,  das  nicht  müde  wird  durch  Juxtaposition  zu  wachsen,  das 
den  Erdkreis  als  das  ihm  verheissene  Land  ansieht,  dessen  Tem- 
pel ein  Pantheon  ist,  das  kann  die  wahre  und  seine  Philosophie 
nur  in  einer  solchen  sehen,  welche  Platz  hat  für  alle,  auch  die 
verschiedensten  Lehren.  Nur  unter  einer  Herrschaft  wie  die  all- 
umfassende römische  ist  der  philosophische  Synkretismus  das  Ge- 
heimniss  aller  denkenden  Menschen,  da  aber  hat  er  sein  welthi- 
storisches Recht,  ist  eine  grosse,  darum  nachhaltige ,  Erscheinung. 
Der  Synkretismus  tritt  aber  auf  in  zwei  wesentlich  verschiedenen 
Formen.  In  der  einen  kann  er  nach  seinem  Hauptsitz  der  römi- 
sche, nach  seinem  Hauptrepräsentanten  der  Ciceronische,  nach  den 
Elementen,  die  in  ihm  gemischt  werden,  der  klassische  genannt 
werden.  Da  hier  nur  gemischt  wird,  was  die  Philosophie  bereits 
besessen  hatte,  so  sind  es  nicht  neue  Ideen,  die  sein  Verdienst 
ausmachen,  sondern  die  geschmackvolle  Weise  und  die  schöne 
Form  des  Philosophirens :  sie  sind  es  wegen  der,  als  im  späteren 
Mittelalter  die  Philosophie  zur  äussersten  Geschmacklosigkeit  ge- 
kommen war,  auf  Cicero  als  den  wahren  Autibarbarus  hingewie- 
sen werden  konnte  (s.  §.  239,  2).  Ganz  anders  ist  die  Stellung 
des  Synkretismus  in  seiner  zweiten  Form,  wo  er  nach  seinem 
Hauptsitz  der  Alexandrinische,  nach  seinem  Hauptvertreter  der 
Philonische,  nach  seinem  Inhalte  der  hellenistische  genannt  wer- 
den kann.  Das  Hineinnehmen  religiöser,  namentlich  aber  orienta- 
lischer Ideen  in  die  Philosophie  bereichert  sie  so,  dass,  verglichen 
mit  dem  oft  so  tiefen  Inhalt  bei  den  Alexandrinischen  Synkreti- 
sten,  die  Lehre  des  Cicero  flach  erscheinen  kann.  Aber  da  jene 
Ideen  auf  einem  ganz  anderen  Boden  erwuchsen,  als  die  mit  de- 
nen sie  jetzt  verschmolzen  werden  sollen ,  so  wird  die  Verbindung 
form-  und  geschmacklos,  oft  monströs,  und  in  der  Form  ist  Ci- 
cero dem  Philo  weit  überlegen.  Eben  darum  hat,  gleichfalls  im 
späteren  Mittelalter,  als  die  Philosophie  fast  allen  Inhalt  verloren 
hatte,  und  sich  in  bloss  formellen  Spielereien  gefiel,  die  Erinne- 
rung an  Alexandrinische  und  ihnen  verwandte  Lehren  als  Heil- 
mittel gedient. 


in.  Syiikretisten.    A.  Klassischer  Synkretismns     a.  Cicero.    §.  106,  1  '2.      1<7 


Der  klassische  Synkretismus. 

§.  106. 
a.   Cicero. 

1.  M.  Tulliiis  Cicero,  107  v.Chr.  in  Arpiuum  geboren,  44  v. 
Chr.  ermordet,  verdankt,  wie  er  das  oft  ausgesprochen  hat,  seine 
Bildung  Griechenland ,  das  er  als  junger  Mann  für  mehrere  Jahre 
zum  Wohnsitz  nahm.  Besonders  als  Redner,  aber  auch  als  Staats- 
mann und  Philosoph  ist  er  berühmt  geworden,  in  letzterer  Bezie- 
hung bei  der  Nachwelt  mehr  als  bei  den  Zeitgenossen.  Zuerst 
vom  Epikureer  Phüdnis  in  die  Philosophie  eingeführt,  hat  er  spä- 
ter den  Unterricht  des  Epikureers  Zeno.  der  Akademiker  Philo 
und  Aiüioclnis ,  der  Stoiker  Diodotns  und  Posidonius  genossen, 
ausserdem  aber  ungeheuer  viel  gelesen.  Seine  philosophische  Be- 
schäftigung, die  er  immer  wieder  vornahm,  wenn  er  vom  Staats- 
dienste zurückgedrängt  war,  hat  besonders  zum  Zweck  gehabt, 
seinen  Landsleuten  in  der  eignen  Sprache  und  von  allen  Einsei- 
tigkeiten befreit,  das  zu  sagen,  was  die  griechischen  Philosophen 
ergrübelt  hatten.  Darum  ist  er  oft  bloss  Uebersetzer.  Dabei  ver- 
leugnet sich  in  der  Form  nie  der  Redner,  in  der  Tendenz  nie  der 
praktische  Römer.  Das  Publicum,  das  er  sich  denkt,  besteht  aus 
gebildeten  und  verständigen  Männern  höheren  Standes,  mit  denen 
er  im  geistreichen  Räsonnement  sich  ergeht.  Wie  die  Sophisten 
in  Athen  den  Boden  für  die  Saat  wahrer  Philosophie  vorbereite- 
ten ,  so  hat  für  weitere  Kreise  und  zu  verschiedenen  Zeiten  Cicero 
ein  Gleiches  geleistet.  Seine  Werke  sind  durch  Jahrtausende  die 
Schulbücher  gewesen ,  welche  selbst  in  den  dunkelsten  Zeiten  die 
Kunde  von  dem,  und  das  Interesse  an  dem  erhielten,  womit  sich 
Griechenlands  Philosophen  beschäftigt  hatten. 

2.  Da  der  Hortensius,  in  welchem  Cicero  den  Werth  der 
Philosophie  überhaupt  besprochen  hat,  verloren  gegangen  ist,  so 
sind  für  seine  Philosophie  die  wichtigsten  Werke :  hinsichtlich  sei- 
nes ganzen  Standpunkts  die,  aus  zwei  verschiednen  Redactionen 
verschmolzenen,  nicht  vollständig  erhaltenen  zwei  Bücher  (von  vie- 
ren) Academica,  für  die  theoretische  Philosophie  die  Schriften  de 
natui-a  Dcorum  Lil)b.  III  und- de  divinatione  Libb.  II,  für  die  prak- 
tische: De  finibus  bonorum  et  malorum  Libb.  V,  die  Tusculanae 
quaestiones  Libb.  V ,  de  officiis  Libb.  111  und  was  von  seinen  Bü- 
chern de  republica  erhalten  ist.  Die  anderen  Schriften  praktischen 
Inhalts  sind  mehr  populäre  Declamationen  als  Abhandlungen  zu 
nennen.    Der  Ausgaben  seiner  Werke  gibt  es  bekanntlich  sehr  viele. 

Erdmann,  Gesch   d.  Phil    1.  lO 


178  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

3.  Dem  ganzen  Naturell  des  Cicero,  so  wie  der  Aufgabe,  die 
er  sich  gestellt  hatte ,  entsprach  am  Meisten  ein  gemässigter  Skep- 
ticismus,  wie  derselbe  stets  die  Theorie  der  Weltmänner  zu  seyn 
pflegt.  Dies  der  Grund,  warum  er  als  seine  Philosophie  die  der 
neueren  Akademie  zu  bezeichnen  pflegt,  die  ihn  in  Stand  setze, 
ohne  sich  einem  bestimmten  Systeme  zu  verpflichten,  vereinzelte 
Untersuchungen  anzustellen  und,  was  ihm  am  Wahrscheinlichsten 
sey,  anzunehmen.  Die  Art  der  neueren  Akademie,  Gründe  für 
und  gegen  Alles  aufzusuchen,  hat  darum  seinen  vollen  Beifall; 
sie  erlaubt,  was  namenthch  dem  Redner  so  wichtig  ist  (vgl.  de 
fato  1,  Tusc.  II,  3),  nach  Umständen  dies  oder  jenes  geltend  zu 
machen.  Endlich,  was  nicht  ihr  kleinster  Vorzug,  sie  macht  be- 
scheiden und  schützt  vor  den  abgeschmackten  Uebertreibungen,  in 
denen  sich  die  anderen  Systeme  gefallen,  die  nicht  auf  die  allge- 
meine Meinung  achten.  Zu  diesen  Uebertreibungen  rechnet  Cicero 
die  deklamatorischen  Beschreibungen  des  Weisen  bei  Epikureern 
und  Stoikern ,  bei  welchen  es  zuletzt  darauf  hinausläuft ,  dass  es 
nie  einen  Weisen  gegeben  hat.  Im  Sinne  dieser,  ist  er  keiner  und 
will  es  nicht"  seyn.  Er  will  auch  nicht  schildern  was  der  voll- 
kommne  Weise  weiss  und  vermag ,  sondern  was  dem  verständigen 
Manne  wahrscheinlich  ist ,  und  wie  er  sich  zu  betragen  hat.  Seine 
Aufgabe  ist  nicht,  ein  neues  System  aufzustellen,  sondern  indem 
er  in  geschmackvoller  Weise  und  in  reiner  lateinischer  Sprache 
logische,  physikahsche,  besonders  aber  ethische  Untersuchungen 
anstellt,  dazu  beizutragen,  dass  zu  den  übrigen  Siegeskräuzen,  die 
Rom  den  Griechen  eutriss,  auch  der  der  Wissenschaften  und  na- 
mentlich der  Philosophie  hinzu  komme  (u.  A,  Tusc.  II,  2).  Nach 
dem  Plato  und  den  Akademikern  stellt  Cicero  den  Aristoteles 
und  die  Stoiker  am  Höchsten.  Am  Wenigsten  hält  er  von  der 
Lehre  des  Epikitr.  Sie  ist  ihm  so  leichtfertig  und  darum  so  un- 
römisch, dass  er  behauptet,  die  Epikureer  wagten  in  römischer 
Gesellschaft  gar  nicht,  offen  zu  reden.  Ihr  eigentlicher  Lehrmei- 
ster, Demohrit,  steht  ihm  viel  höher  als  sie. 

4.  Sondert  man,  was  Cicero  über  die  einzelnen  philosophi- 
schen Disciplinen  gesagt  hat,  so  findet  man  über  die  Logik  meist 
Negatives.  Er  tadelt  die  Epikureer ,  dass  sie  die  Definitionen,  die 
Eintheilungen ,  die  Syllogistik  vernachlässigt  haben ,  und  preist  im 
Gegensatz  dazu  die  Peripatetiker.  Er  bestreitet  sowol  Epikureer 
als  Stoiker ,  wenn  sie  meinen  ein  sicheres  Kriterium  der  Wahrheit 
zu  besitzen ;  ein  solches  gibt  es  nicht ,  obgleich  die  Sinne ,  nament- 
lich der  gesunde  Menschenverstand,  einen  genügenden  Grad  von 
Wahrscheinlichkeit  gewähren,  um  mit  Sicherheit  handeln  zu  können. 


m.  Synkretisten.     A.  Klassischer  Synkretisimis.     a.   Cicero.     §.   106,  ü.      179 

5.  Was  die  Physik  betrifft,  so  liebt  es  Cicero  auf  die  Lü- 
cken in  dieser  Wissenschaft,  und  darauf  hinzuweisen,  dass  es  kaum 
einen  Punkt  gebe,  der  nicht  streitig  sey.  Er  will  aber  gerade 
darum,  dass  das  Studium  derselben  getrieben  werde,  es  wird  dazu 
dienen  die  Anmassung  des  Wissens  zu  dämpfen  und  bescheiden 
zu  machen.  Ausserdem  muss  man  in  Einem  selbst  den  Epiku- 
reern Pi  echt  geben,  nämlich  dass  die  Beschäftigung  mit  der  Natur- 
kunde das  beste  Mittel  ist,  von  Furcht  und  Aberglauben  befreit 
zu  werden.  (Nur  nuiss  man  die  Wirkung  dieses  Studiums  nicht 
darauf  beschränken ,  es  erhebt  auch  und  bessert.)  In  diesem  Punkte 
haben  es  nun  die  Stoiker  sehr  an  dem  fehlen  lassen,  was  Cicero 
von  einem  verständigen  Manne,  und  nun  gar  von  einem  Philoso- 
phen, erwartet.  So  sehr  er  nämhch  selbst  dafür  ist,  dass  die  re- 
hgiösen  Vorstellungen  des  Volks  geschont  werden,  da  sie  zum 
Wohl  des  Staates  für  die  Masse  nothwendig  sind,  so  fällt  es  ihm 
docli  nicht  ein,  die  Erzählungen  von  den  vielen  Göttern,  eben  so 
die  Untrüglichkeit  der  Augurieu  und  aller  übrigen  Orakel  für  wahr 
zu  halten,  die  Stoiker  mit  ihrer  philosophischen  Begründung  des 
Polytheismus  erscheinen  ihm  darum  als  Patrone  des  Obscurantis- 
mus.  Eben  so  ist  ihm,  schon  aus  ethischen  Gründen,  weil  da- 
mit keine  Freiheit  vereinbar,  das  Fatum  der  Stoiker  ein  AVahn. 
Er  selbst  kommt  durch  die  teleologische  Betrachtung  der  Welt 
zur  Gottheit,  wie  ihm  auch  das  vorkommende  Unzweckmässige 
die  meisten  Scrupel  hinsichtlich  dieses  Punktes  macht.  Er  denkt 
sich  die  Gottheit  als  Eine,  sie  ist  unserem  Geiste  wesensgleich, 
wie  sie  denn  auch  der  Welt  gerade  so  innewohnt  wie  unser  Geist 
unserem  Leibe.  Diese  Wesensgleichheit  wird  oft  so  hervorgeho- 
ben, dass  es  fast  pautheistisch  klingt.  Dass  Gott  bald  als  ein 
immaterielles  Wesen  bezeichnet  wird,  und  bald  wieder  mit  einer 
feuerähnlichen  Substanz  oder  auch  dem  Aristotelischen  Aether  iden- 
tificirt  wird,  hat  seinen  Grund  in  einem  ganz  ähnlichen  Schwan- 
ken hinsichtlich  des  menschlichen  Geistes,  üebrigens  will  Cicei'o 
durchaus  nicht ,  dass  alles  Einzelne  auf  die  götthche  Wirksamkeit 
zurückgeführt  werde:  gar  Vieles  wirkt  die  Xatur  öderes  geschieht 
von  selbst.  Ausser  der  Gottheit  ist  dem  Cicero  in  der  Physik 
Nichts  so  wichtig,  wie  der  menschliche  Geist.  Dass  er  mehr  ist, 
als  die  grob  materiellen  Bestandtheile  der  Welt,  das  steht  ihm 
fest,  eben  so  die  Freiheit.  Auch  die  Unsterblichkeit  ist  ihm  im 
höchsten  Grade  wahrscheinhch ,  obgleich  er  davor  warnt,  den  phi- 
losophischen Beweisen  dafür  zu  viel  Glauben  zu  schenken.  Was 
die  Beschaffenheit  des  Lebens  nach  dem  Tode  betrifft,  so  soll  es 

12  * 


180  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

glücklich  seyn;  Alles  was  von  Strafen  und  Qualen  erzählt  wird, 
erklärt  er  für  Aberglauben. 

6,  Mit  der  grössten  Vorliebe  beschäftigt  sich  Cicero  mit  der 
Ethik;  früher  oder  später  führt  jede  Untersuchung  ihn  auf  ethi- 
sche Fragen,  und  er  erklärt  wiederholt,  dass  die  Philosophie  die 
Kunst  des  Lebens  sey,  und  dass  die  Untersuchungen  über  das 
höchste  Gut  die  Hauptsache  in  der  Philosophie  ausmachen.  Der 
Standpunkt,  den  er  dabei  einnimmt,  nähert  sich  in  sehr  Vielem 
dem  Stoischen.  In  den  Paradoxen  commentirt  er  die  Lieblings- 
formeln der  Stoiker  so  als  gehörte  er  ganz  zu  ihnen.  Dabei  aber 
mildert  er  durch  das  Hineinnehmen  Peripatetischer  Elemente  ihre 
Härten.  Dadurch  erscheint  er  oft  schwankend.  Nur  in  Einem 
bleibt  er  consequent,  das  ist  die  Bekämpfung  der  Epikureischen 
Lehre,  deren  Darstellung  und  Widerlegung  die  ersten  beiden  Bü- 
cher der  Schrift  de  finibus  gewidmet  sind.  Schon  bei  den  unter- 
menschlichen Wesen  lasse  sich  nachweisen ,  dass  es  etwas  Höheres 
gebe  als  die  blosse  Lust,  nun  gar  bei  dem  Menschen,  der  ja  selbst 
beim  Essen  mehr  verlangt  als  imr  sie.  Der  Tadel  der  Peripate- 
tiker,  dass  sie  die  Tugend  in  die  Mässigung  statt  in  die  Unter- 
drückung der  Triebe  gesetzt  hätten,  die  Behauptung,  dass  alle 
Affecte  krankhaft,  dass  mit  einer  Tugend  alle  gegeben  seyen,  dass 
die  Tugend  in  sich  selbst  ihren  Lohn  habe ,  dass  das  wahre  Glück 
selbst  in  die  Kuh  des  PhaUiris  hinabsteigen  könne  u.  s.  w.  alles 
dies  erinnert  an  die  Stoiker  und  ihre  Declamationen.  Dann  aber 
besinnt  sich  Cicero  wieder;  alles  dies  gilt  nur  von  dem  wirklich 
Weisen,  der  nirgends  vorkommt,  und  von  dem  allein  man  das 
rede  factum  (xaroQd-coiia)  prädiciren  könne,  während  bei  dem  wirk- 
lichen Menschen  es  schon  hinreiche,  wenn  er  nicht  hinter  dem 
officium  {Kci&ijKov)  zurückbleibe ;  für  das  wirkliche  Leben  ist  Glück- 
seUgkeit,  ohne  dass  auch  Glück  dazu  käme,  nicht  denkbar;  eine 
massige  Lust  ist  durchaus  nicht  zu  verschmähn;  im  Grunde  ist 
der  Schmerz  doch  ein  Uebel  u.  s.  w.  Kurz ,  es  ist  als  hörte  man 
einen  Peripatetiker.  Er  selbst  findet  darin  keine  Inconsequenz, 
denn  der  Unterschied  zwischen  Stoikern  und  Peripatetikern  soll 
mehr  in  den  Worten  hegen.  Was  er  an  den  Stoikern  besonders 
tadelt  ist,  dass  sie  nicht  den  ganzen  Menschen,  sondern  nur  einen 
Theil  von  ihm,  das  Geistige,  ins  Auge  fassen,  und  darum  das 
höchste  Gut  verkümmern,  welches  nur  dann  vollständig  gefasst 
wird,  wenn  darin  das  der  (natürlich  ganzen)  eignen  Natur  Ge- 
mässseyn  aufgenommen  ist. 

7.  Charakteristisch  ist  nun,  wie  Alles,  was  die  griechischen 
Philosophen  gelehrt  hatten,  von  dem  römischen  Uebersetzer  nicht 


III.  Synkietisten.     A.  Klassischer  Synkretismus,     b.  Seneca.     §.   107,  1.    181 

nur  in  die  Sprache,  sondern  auch  den  Geist  seines  Volks  über- 
tragen wird.  Wo  der  künstlerische  Grieche  „schön"  zu  sagen 
pflegte,  da  begegnet  man  bei  Cicero  immer  dem  Ehrenvollen  und 
Wohlanständigen  (honestum,  deconim).  Zwar  protestirt  er  dage- 
gen, dass  hier  der  Werth  der  Handlung  abhängig  gemacht  werde 
von  der  Beurtheikmg  Andrer,  denn  auch  ungelobt  bleibe  das  Löb- 
hche  löblich,  allein,  wie  sehr  der  bürgerliche  Gesichtspunkt  des 
Anerkanntseyns  hervortritt ,  zeigt  nicht  nur  die  Bezeichnung  tiirpe 
für  das  Schlechte,  sondern  die  Art,  wie  er  in  der  Ehrliebe  der 
Knaben  die  ersten  Spuren  der  Tugend  nachweist,  und  dem  Ruhm 
eine  Aehnlichkeit  mit  der  Tugend  zuschreibt.  Durch  das  Hinein- 
nehmen dieses  bürgerlichen  Gesichtspunktes  modificirt  sich  nun 
auch  die  Unterscheidung  zwischen  dem  juridisch  und  moralisch 
Verwerflichen ,  wie  dies  z.  B.  dort  hervortritt ,  wo  die  buchstäbliche 
Befolgung  der  lex  Voconia  eine  schändliche  That  genannt  wird, 
während  es  doch  sonst  entschuldigt  wird,  wenn  man  mn  eines 
Freundes  willen  die  Gesetze  rabulistisch  auslegt.  Das  Eine  ist 
gegen  die  consnehido ,  das  Andere  nicht,  es  ist  nicht  anständig 
wie  Jener,  es  ist  nobel,  wie  dieser  zu  handeln.  Die  ganz  reine 
Subjectivität  des  modernen  Gewissens  fehlt  hier  noch ,  und  es  bleibt 
Phrase,  wenn  er  auf  den  Ehrenmann  die  sprüchwörtliche  Redens- 
art anwendet,  dass  man  mit  ihm  im  Dunkeln  würfeln  könne. 

Ritter  et  Preller  1.  c.  §.  436—446. 

§.  107. 
b.  Seneca. 

Böhm    Seneca  und   sein  "Werth.    Berlin  1856.      Holzhei-r  Der  Philosoph  Lucius 
Annäus  Seneca.    Rastatt  1858. 

1.  Auch  Lucius  Annäus  Seneca,  geb.  im  J.  5  n.  Chr.  in  Cor- 
duba,  gest.  65  n.  Chr.,  ist  wie  er  das  wiederholt  ausspricht  Syn- 
kretist,  obgleich  das  Stoische  Element  in  ihm  vorwiegt.  Das  grosse 
Ansehn,  welches  er  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  christlichen 
Zeit  genoss ,  Hess  die  Sage  von  seiner  Bekehrung  durch  den  Apo- 
stel Paulus  eutstehn ,  und  diese  wieder  stützte  seine  Autorität  im 
Mittelalter,  dem,  neben  Plinius,  Seneca  der  Hauptlehrer  in  der 
Physik  war.  Bei  dem  Erwachen  des  philologischen  Interesses  ge- 
gen Ende  des  Mittelalters  ward  er  fast  eben  so  wie  Cicero  cul- 
tivirt.  Wie  für  diesen,  so -kam  auch  für  Seneca  eine  Zeit  über- 
triebener Nichtachtung ,  die  zum  Theil  noch  fortdauert.  Unter  den 
vielen  Ausgaben  seiner  Werke  kann  die  ältere  des  Lipsius  Antw. 
1605  und  die  neueste  von  Jfaasc  Leipz.  1852  genannt  werden. 
Die  meisten  seiner  Schriften  sind  populäre  Behandlungen  ethischer 
Fragen  (de  ira,  de  consolatione ,  de  animi  tranquillitate ,  de  con- 


1"'^  Alte  Pliilosopliie.     Dritte  Periode  (Vertallj. 

stautia  sapieiitis ,  de  dementia) ,  andere  betreffen  die  Physik  (Quae- 
stiones  naturales),  noch  andere  Eehgiöses  (de  Providentia).  Die 
grösste  Vielseitigkeit  zeigt  sein  Hauptwerk,  die  hundert  und  vier 
und  zwanzig  Briefe  ad  Lucilium. 

2.  Die  Herrschaft  der  Vernunft  über  die  Sinnlichkeit,  die  durch 
sittliches  Handeln  anzustrebende  Gottähnlichkeit,  welche  sich  in 
dem  gleichniüthigen  Ertragen  aller  Umstände  zeigt,  so  dass  die 
liu'ta^  jMiupcrtas  und  das  pati  posse  diritms  den  Weisen  charak- 
terisirt,  die  Selbstgenügsamkeit,  die  sogar  ohne  Freund  leben 
kann,  das  ist  was  er  fortwährend  anräth  und  wofür  er  fast  eben 
so  oft  die  Autorität  des  Epikiir  als  der  Stoiker  anruft.  Vor  Al- 
lem ist  ihm  die  Philosophie  praktisch,  j'acere  doccl ,  höh  Hlcerc 
sagt  er;  sie  ist  stvdhnn  virtuiis ;  die  Tugend  aber  oder  die  Weis- 
heit setzt  er  vor  Allem  in  die  Consequenz:  SapieHtis  est  scmpcr 
idem  velle  at.qvc  idem  noile.  Dies,  so  wie  die  häufigen  Behaup- 
tungen, dass  der  Schmerz  unbedeutend,  der  Selbstmord  letztes 
Auskunftsmittel  sey,  ist  rein  Stoisch,  eben  so  wenn  er  sagt,  dass 
es  Eins  gebe,  worin  der  Weise  selbst  über  der  Gottheit  stehe, 
dass  er  nicht  von  Natur,  sondern  durch  sich,  weise  sey.  Dann 
aber  spricht  er  sich  auch  sehr  oft  gegen  die  Stoiker  aus,  sein 
praktischer  Sinn  lässt  ihn  ihre  spitzfindigen  Untersuchungen ,  sein 
Weltverstand  ihre  Uebertreibungcn  tadeln,  namentlich  in  dem  theo- 
retischen Theil  seiner  Philosophie  zeigt  er  eine  Neigung  zum  Skep- 
ticismus  der  neueren  Akademie. 

3.  Vor  Allem  ist  ihm  charakteristisch  die  Abtrennung  der 
Moral  von  der  naturalistischen  Grundlage,  die  sie  bei  den  Stoi- 
kern hatte,  das  Anknüpfen  derselben  an  religiöse  Motive,  an  ein 
angebornes  sittliches  Gefühl  und  an  den  Zorn  über  die  verdorbene 
Welt,  was  Alles  seiner  Weltanschauung  jene  an  die  christliche 
erinnernde  Färbung  gibt,  die  Jeden  überrascht.  Viele  blendet. 
Die  Erhebung  über  die  Schranken  der  Nationalität  zum  Gedanken 
einer  rein  menschlichen  Tugend,  die  den  Standesunterschied  auf- 
hebt und  keinen  zwischen  Feind  und  Freund  statnirt,  die  Aner- 
kennung der  Schwäche  der  menschlichen  Natur,  die  manchmal  caro 
genannt  wird,  die  Nothwendigkeit  des  göttlichen  Beistandes  zur 
Tugend,  die  Lehre,  dass  die  ymigQ  Hingabe  an  Gott  die  wahre 
Freiheit  sey  u.  s.  w.,  alles  dies  hat  Manche,  namentlich  Franzo- 
sen ,  dahin  gebracht  den  Seneca  einen  vom  Christenthum  angereg- 
ten Mann  zu  nennen.  Wir  möchten  ihm  vielmehr  die  Stellung 
eines  Vorläufers  desselben  anweisen,  mit  der  es  verträglich  ist, 
dass   er  die  Christen   sceleraUssima  gens  nennt.     Der  Ausdruck 


III.  Syukretbteu.     B.  Der  lielleiiisti.'^che  Synkretismus      §.  108.   109.       183 

des  Erasmus:  si  legns  eiim  ut  pagamim  scripsit  Christiane ,  si  iit 
christianum  scripsit  pagaiiice  ist  sehr  treffend. 

Ritter  et  Pi-eller  1.  c.  §.  452.  453. 

B. 

Der  helleuistische  Synkretismus. 

J.  A.   D.  LuttcrbecJc   Die  ueutestamentllcheu  LehrbegriflFe.     Mainz   1852.     2  Bde. 

§.  108. 
Alexander  des  Grossen  kurze  Weltherrschaft  ward  von  dem 
ewigen  Werke  überdauert,   von  dem  seine  Vermählung  mit  einer 
Orientalin  das  Symbol  geworden  ist.    Seine  Gründung  Alexandria's, 
die  fast  so  wichtig  geworden  ist,  wie  die  Rom's,  schuf  einen  neu- 
tralen Boden,  auf  dem  das  Griechenthum  dem  Orientahsmus,  und 
namentlich  der  Form  desselben  begegnet,  die  zu  ihm  den  schroff- 
sten Gegensatz   bildet.     Während   die  Schönheit  des  griechischen 
Wesens  in  der  Lust  an  dem  Sinnlichen  wurzelt  und  untrennbar 
ist  von  der  Ansicht,   dass,  was  geschehen  möge,   von  selbst  ge- 
schieht oder  Naturlauf  ist ,  besteht  die  Erhabenheit  des  Judenthums 
darin,   dass  es  den  nicht- sinnhchen  Gott  Alles  beliebig  schaffen 
lässt,  so  dass  es  eine  Natur  im  eigentlichen  Sinne  gar  nicht  gibt, 
sondern  die  Welt  und  was  darinnen,  nur  ein,  stets  neues,  Werk 
des  Allmächtigen  ist.     Dieser  Gegensatz,   welcher  den  Griechen 
dahin  bringt,  nach  Naturgemässheit,  den  Juden  dazu,  nach  über- 
(d.  h.  nicht-)  natürlicher  Heiligkeit  zu  trachten,   muss  beide  sich 
gegenseitig  zum  Aergerniss  und  zur  Thorheit  machen.    Unter  dem 
Schutze  der  Ptolemäer,  auf  die  sich  Alexanders  Judenfreundschaft 
fortgepflanzt  hatte,  entwickelt  sich,  besonders  durch  den  Umstand 
hervorgerufen ,  dass  sie  anfangen  griechisch  zu  sprechen ,  d.  h.  zu 
denken,  in  den  Juden  ein  Verlangen,  Alles  sich  anzueignen  was 
der  griechische  Geist  ersonnen  hatte.    Und  wieder  die  Griechen, 
denen  die  beiden  grossen  Macedonier  den  Ruhm  geraubt  hatten, 
die  allein  Unbesiegten  und  allein  Gebildeten  zu  seyn,  und  deren 
Weisheit  sich  im  Skepticismus  bankerott  erklärt  hatte,  suchen  ihrer 
Armuth  durch   Aneignung   orientalischer  Ideen    abzuhelfen.     Aus 
diesem  gegenseitigen  Verlangen  erzeugt  sich  ein  ganz  neuer  Geist, 
den  man ,  die  gewöhnliche  Bedeutung  des  Wortes  etwas  erweiternd, 
den  hellenistischen  nennen  kann,   er  ist  das  Bewusstseyn  des 
Dranges ,  welcher  den  Alexander  zur  Gründung  seines  Weltreiches 
trieb ,  und  kann ,  wo  sich  Alexanders  Aufgabe  auf  die  Römer  ver- 
erbt, nur  immer  neue  Nahrung  finden. 

§.  109. 
Indem  der  Grieche  den  hellenischen,   der  Jude  den  orientali- 
schen Ideenkreis  mit  dem  hellenistischen,  d.  h.  aus  Hellenismus 


184  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

und  Orieutalismus  gemischten,  vertauscht,  bekommt  Jener  ein  In- 
teresse für  Solches,  was  den  Naturlauf  zu  unterbrechen  scheint, 
für  Wunder  und  Weissagungen.  Dies  streitet  eben  so  mit  dem 
acht  griechischen  Geiste,  in  welchem  Aristoteles  die  Wunder  mit 
den  Missgeburten  gleich  stellte,  Plato  die  Mantik  dem  unteren 
Menschen  zuwies,  wie  es  wieder  mit  dem  altjüdischeu  Geiste  strei- 
tet, dass  jetzt  die  geistig  Begabtesten  unter  den  Juden  anfangen, 
mit  Naturwissenschaften  und  ärzthcher  Kunst  sich  zu  beschäftigen, 
dass  eine  Neigung  zum  Fatalismus  sich  bei  ihnen  entwickelt,  und 
dass  in  den  Apokryphen,  die  in  dieser  Zeit  entstehn,  die  Schön- 
heit gepriesen  Avird.  Wie  bei  jedem  Gemisch,  so  ist  auch  bei  die- 
sem die  Möglichkeit  gegeben,  dass  je  eines  der  beiden  Elemente 
vorwiege,  und  so  werden  zu  den  Erscheinungen  des  hellenistischen 
Geistes  sowol  die  orientalisirenden  Griechen,  als  die  hellenisirenden 
Juden  zu  rechnen  seyn.  Dass  bei  jenen  die  Philosophie,  bei  die- 
sen die  Rehgion  die  Grundlage  bilden ,  dort  die  Philosopheme  eine 
religiöse  Färbung  annehmen,  hier  an  die  religiöse  Satzung  Specu- 
lation  sich  ansetzen  wird,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Eben 
so  dass  in  beiden  Richtungen  das  hinzutretende  Element  nur  all- 
mählich immer  sichtbarer  hervortreten  wird. 

a.  Orientalisir  ende  Hellenen. 
§.  110. 
Der  Name  Neupythagoreer,  mit  dem  man  die  orientalisi- 
renden Griechen  dieser  Zeit  bezeichnet,  ist  nur  in  sofern  richtig, 
als  man  Cicero  einen  Akademiker  nennen  kann.  Neben  dem  näm- 
lich, was  sie  wirklich  dem  Pijihügoras  entnehmen,  finden  sich 
Platonische,  Aristotelische,  Stoische,  ja  selbst  Epikureische  Ele- 
mente in  ihnen.  Ausserdem  Orientalisches,  besonders  Solches,  wo- 
rin Dualismus  hervortritt,  mit  dem  sich  sowol  die  Zahlenlehre  der 
Pythagoreer,  als  auch  der  Piatonismus  leicht  verbinden  Hess.  Per- 
sische, namentlich  aber  Aegyptische  Lehren  mussten  sich  den,  gros- 
sentheils  in  Alexandria  gebildeten ,  Männern  empfehlen.  Wäre  die 
Ansicht  llöths  (s.  §.  31)  richtig,  so  würde  erst  in  dieser  Zeit  die 
ächte  Lehre  des  Pythagoras  anfangen ,  über  die  bisher  allein  wirk- 
same seiner  unächten  Schüler  das  Uebergewicht  zu  erhalten.  Vom 
Niyidius  Figuius  haben  wir  durch  Cicero,  vom  Sexlias  und  un- 
ter dessen  Schülern  vom  Sotion  durch  Seneca  einige  spärliche 
Nachrichten.  Beide  scheinen  ihre  Anregung  in  Alexandria  empfan- 
gen zu  haben ,  wo  der  Pythagorismus  mächtig  sein  Haupt  erhoben 
hatte,  und  die  untergeschobenen  Schriften  des  Archytus ,  Ocellns 
Lucanus  u.  A.  entstanden.    Dabei  scheinen  sich  bald  zwei  verschie- 


III.  Syukretiijteu.  B.  Hellenistischer  S.    a.  Orieutalisireude  Helleneu.  §.  111.  185 

dene  Riclitimgen  geschieden  zu  haben,  von  denen  freilich  die 
Repräsentanten,  welche  uns  bekannt  geworden  sind,  einer  späte- 
ren Zeit  angehören.  Moder atiis  aus  Gades  und  ISilomachos  aus 
Gerusa  in  Arabien  haben  die  Zahlenlehre  mehr  betont,  ApoUonius 
von  Tyana  dagegen  scheint  mehr  die  religiösen  und  ethischen  Ele- 
mente des  Pythagorismus  ausgebildet  zu  haben.  Wir  wissen  we- 
nig von  ihm,  denn  der  Tendenzroman  des  Pldlostratos ,  der  ihn 
zum  Gegenstande  hat,  ist  mehr  eine  Quelle  unserer  Kenntuiss  des 
späteren,  gegen  das  Christenthum  reagirenden  Neupythagorismus 
im  2**"^  und  3*"'  Jahrhundert  nach  Christo.  Der  grösste  Theil  der 
Orphica  möchte  um  diese  Zeit  entstanden  seyn. 

Baur  Apollouius  von  Tyana  und  Christus.    Tübingen  1852. 

§.   111. 

1.  Die  bestimmteste  Vorstellung  eines  hellenischen  aber  orien- 
talisirenden  Philosophirens  gewähren  uns  die  Schriften  des  Plutar- 
chos  von  Chäronea  (50 — 120  n.  Chr.),  die,  obgleich  sehr  viele  da- 
von verloren  gegangen  sind,  uns  deutlich  zeigen,  wie  in  ihm  mit 
Platonischen,  Pythagoreischen,  Peripatetischen,  ja  (trotz  seiner  Po- 
lemik dagegen)  auch  Stoischen,  Philosophemen  sich  religiöse  Vor- 
stellungen vermischen,  die  Persischen  und  Aegyptischen  Ursprung 
verrathen.  Da  Plutarch  nicht  einmal  die  Juden  genau  genug  kennt, 
um  ihre  Religion  von  der  Syrischen  zu  unterscheiden,  geschweige 
denn  dass  er  von  christlichen  Lehren  Notiz  genommen  hätte,  so 
muss  er  von  manchen  ihm  sonst  geistverwandten  Männern,  wie 
z.  B.  dem  Numenius,  geschieden,  und  ganz  dem  Alterthum  zuge- 
wiesen werden.  Freilich  steht  er  ganz  an  der  Grenze  desselben, 
und  diese  Stellung  macht  es  erklärlich,  dass,  wie  Eniige  durch 
das  Studium  des  Seiieca ,  so  noch  Mehrere  durch  das  des  Plutarch 
zu  einem  lebendigen  Christenthum  gebracht  worden  sind.  Plii- 
tarclis  Werke  sind  oft  herausgegeben  worden.  Die  Ausgaben  von 
//.  Stephanns  in  13  Bdn.  1572,  von  Reiske  12  Bde.  1774—82, 
von  Hütten  14  Bde.  1791 — 1804  sind  die  berühmtesten. 

2.  Obgleich  Plutarch  selbst  sich  zu  den  Akademikern  rechnet 
und  oft,  gerade  wie  sein  Lehrer  Attlcus,  dessen  Philosophiren 
mehr  ein  philologisches  Commentiren  des  Plato  scheint  gewesen 
zu  seyn,  eine  fast  sklavische  Furcht  zeigt,  vom  Pluto  abzuweichen, 
so  entfernt  er  sich  doch  von  ihm  tlieils  indem  er  seine  Lehren  im 
Aristotehschen  Sinne  umdeutet,  theils  indem  er  im  Geiste  der 
Nacharistoteliker  die  Theorie  der  Praxis  unterordnet,  theils  end- 
lich durch  seinen  Dualismus,  dessen  Verwandtschaft  mit  Persischen 
und  Aegyptischen  Lehren  er  selbst  anerkennt,  und  nach  welchem 
ein  gutes  und  ein  böses  Urwesen  auf  die  indifferente  Materie  ge- 


186  Alte  Philosophie.     Dritle  Periode  (V^erfall.) 

staltend  einwirken.  Die  böse  Weltseele,  von  der  PlcUo  in  den 
Gesetzen  gesproclien  hatte  (§.  79,  6),  ist  ihm  daher  sehr  willkom- 
men. Die  Macht  des  guten  ürwesens  ist  die  grössere,  es  selbst 
daher  der  erste  Gott.  Sein  Walten  ist  die  Vorsehung.  Unter 
derselben  steht,  gleichsam  eine  zweite  Vorsehung,  die  Herrschaft 
der  untergeordneten  Götter,  der  Gestirne;  unter  dieser  endlich  die 
Wirksamkeit  der  guten  sowol  als  bösen  Dämonen,  welcher  Plutarch 
trotz  aller  seiner  Polemik  gegen  allen  Aberglauben,  namentlich 
hinsichtlich  der  Orakel  und  alles  Mantischen,  sehr  viel  einräumt. 
Aus  dem  Einfluss  der  Gestirne  folgt,  da  alle  Constellationen  von 
Zeit  zu  Zeit  Aviederkehren  müssen,  die  periodische  Wiederkehr  aller 
Begebenheiten,  die  Plnlarch  in  Uebereinstimmung  mit  den  Stoi- 
kern behauptet.  Wie  mit  den  Stoikern  geht  es  ihm  auch  mit  den 
Epikureern  und  Skeptikern,  er  bekämpft  sie  und  entlehnt  ihnen 
doch  sehr  Vieles. 

3.  Geistesverwandte ,  obgleich  lange  nicht  ebenbürtige  Geistes- 
genossen, sind  Mnxhnus  von  Tyrus  und  Apulejns^  an  welche  sich 
dann  später  der  Christenbekämpfer  Celsus  schResst. 

Bitter  et  Preller  1.  c.  §.   496  —  500. 

b.  Hellen! sirende  Juden. 

Gfrörer  Philo  und  die  ale.\audrinische  Theosophie.  Stuttg.  1831.  Dähne  Ge- 
schichtliche Diustelluug  der  jüd.  alexaudr.  Religionsphilos.  Halle  1834.  Vgl.  dazu 
die  Recensioii  aoii  Baur  in  deu  Jahrb.  f.  wissensch.  Kr.  1835.  Nov.  und  Oeorgii  in 
Ittgens  Zeitschr.  f.  histor.  Theol.    1839.    S^es  Heft. 

§.  112. 
Von  grösserer  Bedeutung,  nicht  nur  für  das  christliche  Dog- 
ma, sondern  auch  für  die  weitere  Entwicklung  der  Philosophie,  ist 
der  hellenisirende  Judaismus  geworden.  Zuerst  aus  der  allgemei- 
nen Bildung,  dann  in  Folge  des  entstandenen  Interesses  daran  aus 
Büchern,  die  kein  Ort  so  sehr  wie  Alexandria  zugänglich  machte, 
eigneten  sich  die  gebildeten  Juden  viele  Ideen  griechischer  Philo- 
sophen, namentlich  des  Plaio  und  Aristoteles ,  an.  Dies  erzeugt, 
indem  sie  dabei  festhalten,  dass  die  Juden  im  ausschliesslichen 
Besitze  der  geoffenbarten  Wahrheit  seyen,  einen  Widerspruch  in 
ihrem  Bewusstseyn,  dessen  Lösung  in  der,  nicht  aus  Reflexion, 
sondern  von  selbst  und  zugleich  mit  jenem  Interesse  entstehenden, 
Vorstellung  gefunden  wird,  dass  die  Griechen  ihre  Weisheit,  wenn 
auch  auf  einem  Umwege ,  aus  dem  alten  Testamente  geschöpft  ha- 
ben. Nicht  weniger  steht  die,  dem  Plato  und  Aristoteles  ent- 
lehnte, Ansicht  von  dem  Unwerthe  alles  Materiellen,  und  die  Lehre 
der  Stoiker  von  dem  Werthe  nur  der  Gesinnung  und  der  Gleich- 
gültigkeit jeder  äusseren  Handlung  im  Widerspruch  mit  Vielem, 


ni.  Synkietisteu.    B.  Hellemstischer  S.     b.  HelleuisLrende  Juden.    §.113.     187 

was  das  Alte  Testament  von  Tlieophauieu  und  dergl.  erzählt,  so 
wie  mit  dem  Werthe,  den  dasselbe  auf  manches  ganz  äusseiiiche 
Thun  legt.  Auch  hier  findet,  nicht  die  Reflexion,  sondern  der 
Instinct  ein  Auskunftsmittel :  die  allegorische  Erklärungsweise,  nach 
der  neben  dem  buchstäblichen  Sinne  in  den  bibhschen  Erzählun- 
gen ein  tieferer,  namentlich  ethischer  enthalten  seyn  soll,  ist  keine 
Unredhchkeit ,  sondern  sie  ist  die  ganz  natürliche  Weise,  \de  die 
griechischen  Philosopheme  an  die  religiöse  Tradition  angeknüpft 
werden. 

§.  113. 
Deutliche  Spuren  des  Platonisirens  finden  sich  schon  in  der, 
wahrscheinlich  auf  Befehl  des  Rathes  der  Siebzig  veranstalteten, 
und  darum  LXX  genannten,  griechischen  Uebersetzung  des  Alten 
Testaments.  Sie  selbst  wird  dann  wieder  Anhaltepunkt  für  wei- 
teres Hellenisiren  In  den  Apokryphen  des  Alten  Testaments, 
vor  Allem  in  der  Weisheit  des  (Pseudo-j  Salomon  geht  es  schon 
sehr  weit.  Melleicht  gar  Verfasser  dieses  Buchs,  gewiss  aber 
von  gleichen  Ansichten  beseelt,  war  Arislohidas ,  der  Erzieher 
des  siebenten  Ptolemäers ,  aus  dessen  'E^riyrixiy.olg  uns  Clemens 
und  Eusehius  Fragmente  überliefert  haben.  Es  geht  aus  densel- 
ben hervor,  dass  er  selbst  Einschiebungen  nicht  verschmäht  hat, 
um  zu  beweisen,  dass  Orpheus,  Pijthaynras ,  Plato  ihre  Lehren 
aus  dem  Alten  Testamente  haben ,  und  eben  so  dass  er  viele  ganz 
Platonische  Lelu'en  vermöge  der  Allegorie  aus  seinen  heiligen 
Schriften  herauslas.  Dass  die  Aegyptischen  Therapeuten  sich  Vie- 
les aus  der  hellenisirenden ,  namentlich  pythagorisirenden ,  Theo- 
sopliie  aneigneten,  kann  als  erwiesen  angesehn  werden.  Streitig 
ist  es  hinsichtlich  der  Essener,  seit  gewichtige  Stimmen  sich  da- 
für erhoben  haben,  dass  iln-  Standpunkt  nur  die  consequente  Durch- 
führung einer  rein  jüdischen  Idee  zeige.  Wenigstens  in  ihrer  spä- 
teren Verbindung  mit  den  Therapeuten  werden  auch  sie  als  Trä- 
ger des  hellenistischen  Geistes  angesehn  werden  müssen.  Erzeug- 
nisse desselben  Geistes  sind  das  Buch  Henoch ,  der  grössere  Theil 
der  zu  uns  herüber  gekommenen  sibyllinischen  Weissagungen,  viel- 
leicht auch  ein  Theil  der  Schriften,  die  den  Namen  des  Heimes 
Trismeyislos  führen,  und  die  allerältesten  Elemente  der,  mehr 
als  ein  Jahrtausend  später  ausgebildeten  Cabbalah.  Für  uns  ist 
der  wichtigste  Repräsentant  dieses  Standpunkts: 


188  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall), 

§.  114. 
Philo  Judaeus. 

G^rossmanii    Quaestioues  Philoneae.     Lpz.  1829.       Steinhart    v.  Pliilo    iu  Pauly's 
Realeucyclopädie.  V.  p.  1449. 

1.  Der  Jude  Pliilo,  der  nicht  nur  die  wichtigste  Quelle  für 
unsere  Keuntniss  dieser  Richtung,  sondern  wohl  auch  ihr  bedeu- 
tendster Repräsentant  ist,  wozu  ihn  gerade  sein  mehr  sammeln- 
der als  ei-findender  Geist  geschickt  machte,  ist  einige  Jahre  vor 
Christo  in  Alexandria  geboren.  Obgleich  viele  seiner  Schriften 
verloren  gegangen  sind,  so  ist  doch  der  grössere  und  wahrschein- 
lich der  bedeutendere  Theil  auf  uns  herübergekommen.  Die  Pa- 
riser Ausgabe  von  Turnehns  1525  ist  1691  in  Frankfurt  abge- 
druckt. Die  Londoner  von  Manyey  2  Bde.  1742,  die  Erlanger 
von  Pfeiffer  5  Bde.  1785,  die  Leipziger  von  Richter  8  Bde.  1828 
sind  die  besten.  Meistens  in  allegorisirenden  Commentaren  des 
Alten  Testamentes  entwickelt  Philo  folgende  Lehren: 

2.  Da  die  Sinne  täuschen  und  auch  Vernunftgründe  keine  voll- 
ständige Sicherheit  gewähren,  so  beruht  zuletzt  alle  sichere  Er- 
kenntniss  auf  der,  im  Glauben  aufzunehmenden  Erleuchtung,  zu 
der  als  einer  göttlichen  Gnadengabe  der  Mensch  sich  lediglich 
empfangend  verhält.  Das  Werkzeug,  durch  welches  Gott  diese 
Offenbarung  gegeben,  ist  vor  Allen  Moses  gewesen,  daher  die 
jüdischen  Priester  am  Leichtesten  zur  wahren  Philosophie  gelan- 
gen können.  Auch  die  Griechen  übrigens  gelangten  zu  ilir  durch 
Moses,  nur  indireet,  indem  Pythogoras,  Pinto,  Aristoteles  und 
alle  Uebrigen  aus  Moses  geschöpft  haben.  Den  Inhalt  der  Offen- 
barung, und  darum  auch  der  Philosophie,  Ijildet  vor  Allem  Gott. 
Dieser  niuss,  da  jede  Veränderung  eine  Un Vollkommenheit  invol- 
virt,  als  absolut  unveränderlich,  darum  als  der  schlechthin  (nicht 
werdende,  sondern)  Seyende,  als  das  alle  Mannigfaltigkeit  aus- 
schliessende  Eins  gedacht  werden.  "Ev,  ov,  oder  besser  o  coV ,  sind 
deswegen  die  besten  Bezeichnungen  für  Gott.  Wie  durch  die  un- 
terschiedslose Einheit  alle  quantitativen,  eben  so  sind  auch  alle 
qualitativen  Bestimmungen  aus  Gott  ausgeschlossen ;  Er  ist  cctioios, 
woraus  weiter  folgt,  dass  auch  der  betrachtende  Geist  nichts  in 
Ihm  unterscheiden  d.  h.  Ihn  nicht  erkennen  kann.  Das  Verbot, 
Gott  bei  Seinem  eigenthchen  Namen  zu  nennen,  wird  damit  ge- 
rechtfertigt ,  dass  seine  wahre  vroa^iliq  stets  verborgen  bleibe.  Auch 
die  vierte  Aristotelische  Kategorie  findet ,  wie  die  zweite  und  dritte, 
keine  Anwendung  auf  Gott;  als  der  schlechthin  Absolute  steht 
Gott  in  keinerlei  Relation,   die  Dinge  sind  daher  nicht  öi   avxov. 


m.  Synkretisten.  B.  Hellenistischer  S.  b.  Hellenis.  Juden.    Philo.    §.  114,  3.  189 

was  ihn,  den  Heiligen,  in  eine  verunreinigende  Nähe  zu  der  Ma- 
terie bringen  wüi'de. 

3.  Der  scheinbare  Widerspruch ,  dass  Philo  dennoch  teleo- 
logisch von  der  Ordnung  in  der  Welt  auf  das  Daseyn  Gottes 
schliesst  und  darum  die  Welt  das  Eingangsthor  in  den  Himmel 
nennt,  dieser  löst  sich  einmal  dadurch,  dass  er  eben  nicht  aus 
dem  Daseyn  der  Mateiie  auf  ihre,  sondern  aus  der  Ordnung  in 
der  Materie  auf  deren  Ursache  zurückschliesst ,  wodurch  Gott  nur 
zum  Weltorduer  wird,  dann  aber  dadurch,  dass  er  auch  die  ord- 
nende Thätigkeit  Gottes  nicht  unmittelbar  auf  den  Stoff  einwirken 
lässt,  sondern  ein  Mittelwesen  als  Werkzeug,  ogyavov ,  zwischen 
beide  setzt ,  durch  {8uc)  welches  die  von  {vn6)  Gott  gesetzte  Ord- 
nung an  die  Materie  kommt.  Dies  ]\Iittelwesen  ist  der  Logos ,  der 
Inbegriff  aller  Ideen  oder  Urbilder  der  Dinge,  der  als  der  löyog 
yiviv.äxaxog  alle  Begriffe  in  sich  enthält,  in  dem  also  die  Dinge 
in  unkörperhcher  Weise  präexistiren.  Je  nachdem  dieser  Welt- 
plan als  von  Gott  nur  gedacht,  oder  als  schon  ausgesprochen, 
gedacht  wird,  nennt  Philo  ihn,  den  Logos,  entweder  die  Weis- 
heit oder  das  Wort  {Gocpia  oder  ?^fia).  Sein  Verhältniss  zu  Gott 
wird  häutig  als  Ausstrahlung,  Emanation,  beschrieben  und  die, 
jenem  v.öa^oq  aacö^iaxog  als  ihrem  Urbilde  nachgebildete ,  Welt  öfter 
mit  Plato  der  eingeborene  Sohn  Gottes  genannt.  Die  Ueberein- 
stimmung  mit  Plato  hört  aber  dadurch  auf,  dass  Alles ,  was  Vor- 
bedingung der  wirklichen  Dinge  ist,  von  Philo  personificirt  und 
mit  der,  zu  seiner  Zeit  sehr  ausgebildeten.  Engellehre  in  Verbin- 
dung gesetzt  wird.  Ausser  den  Musterbildern  der  Dinge  gehört 
zu  ihrer  Existenz  auch ,  dass  Gott  die  Kraft  und  den  Willen  habe, 
sie  zu  schaffen  u.  s.  w.  Diese  Eigenschaften  Gottes,  seine  d^BTui, 
ävvd^Eig,  e^ovaun  werden  sogleich  hypostasirt  und  damit  die  esse- 
nischen Vorstellungen  von  Engeln  und  engelähnlichen  Wesen  in 
der,  auch  im  N.  T.  erwähnten  Stufenfolge,  verbunden.  Aber  nicht 
nur  diese  Vorstellungen  hellenisirender  Juden,  sondern  eben  so 
die  orientalisirender  Hellenen  finden  dadurch  in  Philo^s  Lehre 
Platz;  die  Gestirne  werden  bei  ihm  zu  gottähnlichen  Wesen,  die 
Dämonen  zu  Luftgeistern,  die  Heroen  zu  Halbgöttern,  und  er  er- 
klärt den  Götzendienst  aus  einer  Ueberschätzung  von  Solchem, 
was  wirklich  verehrungswürdig.  Da  diese  ganze  Stufenfolge  zu 
den  Vorbedingungen  der  Welt  gehört,  so  bekommt  das  Wort  Lo- 
gos, der  eigentliche  Xame  für  jenes  Werkzeug,  bald  eine  weitere, 
bald  eine  engere  Bedeutung.  Von  der  späteren  christlichen  Lo- 
goslehre ist  die  Philonische  wesentlich  unterschieden,  indem  sein 


190  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode  (Verfall). 

Logos  nur  Welt -Idee  ist,  und  er  deshalb  ausdrücklicli  erklärt, 
dieser  Schatten  Gottes  dürfe  nicht  Gott  genannt  werden. 

4.  Gleich  der  Lichtstärke  in  immer  grösseren  Kreisen  lässt 
Philo  die  Grade  des  Seyns  abnehmen,  und  dasselbe  endlich  seine 
Grenze  finden  an  der  Materie,  welche  bald  Platonisch- Aristotelisch 
nur  als  fii]  ov,  bald  wieder,  mehr  im  Einklänge  mit  den  späteren 
Physiologen  und  den  Stoikern,  als  ein  Gemisch  der  trägen  unbe- 
seelten Principien  gefasst  wird,  welches  dann  der  Ordner  der 
Dinge  durch  Scheidung  in  gesetzmässige  Form  bringt.  Je  nach 
dem  Vorwiegen  der  Materie  oder  Form  ergibt  sich  die  Stufenfolge 
der  Wesen ,  welche  schon  die  Stoiker  aufgestellt  hatten  (s.  §.  07,  3). 
Damit  werden  die  Ijiologischen  Lehren  des  Aristoteles  so  verbun- 
den,  dass   den   Pflanzen,  welchen  nicht  nur  T^ig,   sondern    auch 

(pvßig  zukommt,    auch  die  ■d-gsmiK')] ,    iisraßh]riKr] ,    avhjTixri   (sc.   6v- 

va(xic)  zugeschrieben  wird,  die  e'ixii^vxa  ausserdem  al'ö&t]atg,  cpavta- 
ölci,  fivii'j^y]  und  oQjx^  haben  sollen,  während  nur  der  ^>vxri  Xoyizt] 
(auch  wohl  schlechthin  ^v^ri  genannt)  vovg  oder  Xoyog  zukommt. 
Weil  das  Vernunftwesen,  der  Mensch,  an  allen  untergeordneten 
Zuständen  auch  Theil  hat,  deswegen  wird  er  die  Welt  im  Kleinen 
genannt,  und  Philo  führt  hn  Einzelnen  durch,  wie  sich  Unorga- 
nisches, Pflanzliches  u.  s.  w.  im  menschlichen  Organismus  zeige. 
Er  setzt  aber  das  Menschliche  dem  Untermenschlichen  nicht  nur 
als  Ganzes  den  Theileu  entgegen,  sondern  um  seine  specifische 
Würde  gehörig  hervorzuheben,  lässt  er  bei  seiner  Erschaffung  bald 
ein  eignes  Princip,  das  7tv£V(.ia  d-sov  thätig  seyn,  bald  Avieder  ruft 
er  die  essenischen  Vorstellungen  von,  die  Erde  umkreisenden, 
Luftgeistern  zu  Hülfe. 

5.  Die  Materie  als  die  Schranke  alles  Seyns,  d.  h.  aller  Voll- 
kommenheit, wird  consequenter  Weise  auch  als  Hinderniss  des 
vollkommnen  Handelns  gefasst  und  die  ganze  Ethik  des  Philo 
kommt  eigentlich  auf  die  Weisung  hinaus,  sich  von  der  Materie 
frei  zu  machen.  Der  Selbstmord,  dies  Auskunftsmittel  der  Stoi- 
ker, würde  dies  nicht  leisten;  vielmehr,  da  nur  die  Lust  an  die 
Materie  bindet,  ist  diese  zu  ertödten,  und  ein  Zustand  anzustre- 
ben, in  dem  nur  die  Nothwendigkeit ,  nicht  eigne  Neigung,  an 
den  Leib  bindet.  Da  in  der  allegorischen  Schriftauslegung  des 
Philo  die  Erzählungen  des  A.  T.  ausser  ihrer  historischen  Kich- 
tigkeit  auch  noch  tiefere,  ethische,  Wahrheit  enthalten,  und  was 
von  Adam  und  Eva  erzählt  wird,  zugleich  die  Geschichte  des 
Geistes  ist,  der  von  der  Sinnlichkeit  verführt  wird,  da  in  dersel- 
ben Aegypten  das  Symbol  der  Fleischlichkeit  ist,  so  kann  er  jene 
ethische  Forderung  auch  so  ausdrücken :  Jeder  solle  darnach  trach- 


Schlussbemerkung  zur  alten   Philosophie.     §.   115.  191 

teil,  ein  Moses  zu  werden,  der  nur  gezwungen  in  Aegypten  lebt, 
dessen  Wille  aber  ist ,  auszuziehn  in  das  Land  des  Geistes  u.  s.  w. 
Die  wesentlichsten  Durchgangsstufen  bis  zu  dieser  Vollendung 
hin,  werden  in  den  vornehmsten  Patriarchen  wieder  erkannt. 

BiUer  et  R-eller  1.  c.  §.  477  —  493. 

§.  115. 

S  c  h  1  u  s  s  b  e  m  e  r  k  u  n  g. 
Wie  das  römische  Weltreich  den  Orient  und  Occident,  kurz 
die  ganze  civilisirte  Welt  befasst,  so  ist  in  dem  Synkretismus 
Alles,  was  morgenländische  und  abendländische  Weisheit  zu  Tage 
gefiirdert  hat,  zusammengefasst  worden.  Mechanisch,  wie  dort 
die  Einheit  des  Reichs,  ist  hier  die  der  verschiedenartigsten  Leh- 
ren zu  Stande  gebracht,  und  die  sie  zu  Stande  bringen,  A\ic  Ci- 
cero oder  P/ulo,  erscheinen  wegen  jener  Verschiedenheit  als  in- 
consequente  Denker.  Wie  aber  bei  Gelegenheit  der  Sophisten 
gezeigt  ward  (§.  5G  und  §.  62),  dass  das  Gemenge  der  verschie- 
densten Ansichten  vorausgehen  musste,  ehe  eine  organische  Ver- 
schmelzung derselben  möglich  war,  gerade  so  gilt  das  Gleiche 
auch  hier.  Jenes  Gemenge  von  ganz  verschiedenen  Lehren  lässt 
jede  als  eine  iiothwendige  Ergänzung  der  anderen  erscheinen,  und 
macht  für  die  Folgezeit  das  Geltendinachen  nur  einer  derselben 
so  unmöglich,  wie  es  durch  die  Sophisten  unmöglich  geworden  war, 
dass  hinfort  der  Eleatismus  allein  herrsche.  Es  ist  dies  ein  Ge- 
genbild dazu,  dass,  nachdem  der  abstracte  Civismus  des  Römer- 
thums  gewaltet  hatte,  jeder  Versuch  nur  eine  Nationalität  gelten 
zu  lassen,  weil  alle  berechtigt  sind,  fehlschlagen  musste.  Weiter 
aber,  indem  jedem  Synkretismus  ein  gewisser  Skepticismus  zu 
Grunde  liegt,  macht  das  Vermengen  occidentalischer  und  orien- 
talischer AVeisheit  misstrauisch  gegen  alle  F'ormen  der  bisherigen 
Wissenschaft,  gerade  wie  innerhalb  der  römischen  Weltherrschaft 
die  Menschen  nicht  nur  frei  wurden  von  der  Nationalbeschränkt- 
heit, sondern  irre  an  allen  Interessen,  welche  sie  bis  dahin  be- 
herrscht hatten.  Beides  aber,  die  Wahrheit  und  wieder  die  Un- 
wahrheit aller  bisherigen  Weisheit  muss  anerkannt  seyn,  wenn 
eine  Weltanschauung  geltend  gemacht  werden  soll,  zu  der  sich 
die  bisherigen  nur  wie  die"  unreifen  Anfänge  verhalten.  Diese 
über  den  Orientalismus  und  Occideiitalismus  hinausgehende  ist 
die  im  Orient  entsprungene,  im  Occident  ausgebildete  christliche. 
Das  Christenthum  erweist  sich  als  ein  Alles  umgestaltendes  Prin- 
cip  auch  in  dem  Gebiete  der  Philosophie.  So  weit  diese  gelangen 
konnte,  ohne  von  diesem  neuen  Princip  einen  Impuls  zu  erhalten, 


192  Alte  Philosophie.     Dritte  Periode    (Verfall).     Schluss.     §.  115. 

SO  weit  ist  sie  in  dem  Gange  gediehen,  der  dem  Zurückbleiben- 
den unwillkührlich  den  Verlauf  manches  weltberühmten  Stroms 
vor  das  Auge  führt:  In  der  ersten  Periode  zeigte  sich,  was  den 
aller  verschiedensten  Quellen  entsprang,  als  sich  allmählich  einan- 
der nähernd ,  in  der  zweiten  hatten  alle  diese  Arme  sich  zu  einem 
grossen  majestätisch  daher  fliessenden  Strome  vereinigt,  in  der 
dritten  ging  er  wieder  in  viele  Arme  auseinander,  die  theils  im 
Sande  des  Skepticismus,  theils  im  Sumpfe  des  Synkretismus  sich 
zu  verheren  scheinen,  in  der  That  aber  doch  dem  Ocean  christ- 
licher Philosophie  Nahrung  zuführen. 


ZWEITER   THEIL. 


PHILOSOPHIE  DES  MITTELALTERS. 


EiduUim  Ge>cU.  d.  i'ial  1. 


13 


Einleitung. 

§.  116. 
Die  Art  und  Weise,  wie  das  Römerthum  die  nationalen  Be- 
schränktheiten, von  oben  herab  durch  die  Gründung  eines  Welt- 
reichs, von  unten  herauf  durch  das  Hervorheben  des  Privat -In- 
teresses ,  auslöscht ,  kann  ein  Zerrbild  dessen  genannt  werden,  was 
das  Christenthum  leistet.  Das  letztere  geht  einmal  weiter,  indem 
es  nicht  nur  den  Unterschied  der  Griechen  und  Juden ,  sondern 
auch  den  der  Freien  und  Unfreien,  Mündigen  und  Unmündigen, 
negirt,  und  indem  es  nicht  nur  die  eine  Seite  des  Menschen,  nach 
welcher  er  Rechtssubject  ist,  sondern  die  ganze  Persönlichkeit 
desselben  für  berechtigt  erklärt.  Eben  so  aber  geht  es  auch  nicht 
so  weit,  indem  ihm  Mündigkeit  und  Eigeuthum  nicht  hinreichen, 
damit  der  Mensch  einen  wahren  Wertli  habe ,  sondern  es  dazu 
noch  fordert,  dass  das  Subject  sich  mit  einem  objectiven,  göttli- 
chen, Inhalt  erfülle.  Diese  Doppelstellung  dem  Römerthum  ge- 
genüber nimmt  das  Christenthum  dadurch  ein,  dass,  während  das 
letztere  zwischen  zwei  Extremen  schwankt,  indem  es  bald  (hoch- 
müthig)  dem  einzelnen  Menschen  eine  gottgleiche  Würde  einräumt, 
bald  (sich  wegwerfend)  Allem  was  menschlich  ist,  jeglichen  Werth 
abspricht,  das  Christenthum  Beides  zu  dem  (demüthig- stolzen) 
Gedanken  verbindet,  dass  der  an  sich  werthlose  Mensch  durch 
das  Aufgeben  seiner  werthlosen  Einzelheit  die  Würde  eines  Got- 
teskindes erlange,  eine  Gerechtigkeit,  die  sich  von  der  heiteren 
Selbstgerechtigkeit  des  Griechenthums  durch  das,  in  jener  aufge- 
hobene Moment  der  Verworfenheit  unterscheidet ,  und  Bewusstseyu 
ist  von  wieder  erlangter  Einheit  mit  Gott,  d.  h.  von  Versöhnung 
mit  Ihm. 

§.  117. 
Christenthum  als  bewusstes  Versöhntseyn  der  Menschheit  mit 
Gott,  kann  Einheit  beider,  oder  auch  Gott -Menschheit,  genannt 
werden ,  Ausdrücke ,  die  dem  bibhschen :  Himmelreich  entsprechen. 
Da  das  Ziel  ist ,  dass  Keiner  ohne  seine  Schuld  sich  ausser  dieser 
Einheit  befinde,  so  muss  das  Versöhntseyn  der  Menschheit  mit 
Gott  in  einer  Weise  beginnen ,  dass  es  Allen  ohne  Unterschied  des 
Talentes  und  der  Bildung  gewiss  gemacht  werden  kann;  d.  h.  die 

13* 


196  Mittelalterliche  Philosophie. 

Gott  -  Menschheit  muss  zuerst  als  ein  sinnlich  percipirbarer  Gott- 
mensch erscheinen ,  der  und  dessen  Geschichte  den  ganzen  Inhalt 
der  Heilsbotschaft  bildet,  der,  weil  er  das  Christenthum  in  vuce, 
eben  darum  der  (d.  h.  der  einzige)  Christ  ist.  Damit  ist  aber 
nicht  gesagt,  dass  dieser  Anfang  des  Christenthums  die  seinem 
Begriffe  adäquate  Existenzweise  sey.  Vielmehr,  wie  jeder  Anfang, 
muss  sich  auch  dieser  aufheben;  der  Zustand,  wo  die  Gottmensch- 
heit als  ein  Gott  mensch  existirt,  muss,  als  der  niedrigere,  dem 
höheren  (die  Erniedrigiing  der  Erhöhung  und  Herrlichkeit)  Platz 
machen,  wo  der  Christ  in  den  Christen  existirt,  wie  der  Mensch 
in  den  Menschen,  wo  das  Evangelium  von  Ihm  zum  Evangelio 
vom  Reich  geworden ,  und  an  die  Stelle  des  Wortes :  Es  ist  nur 
ein  Name,  in  dem  wir  selig  werden,  die  nothwendige  Ergänzung 
desselben  getreten  ist:  extra  ecclcslam  nulla  salus.  Beide  Sätze 
besagen  ganz  dasselbe:  dass  die  Versöhnung  mit  Gott  Alles  in 
Allem  ist. 

§.  118. 
Ist  Sich  versöhnt  wissen  mit  Gott  das  eigentliche  Princip  des 
christUchen  Geistes  oder  des  Christenthums,  so  wird  jede  Zeit  als 
von  diesem  Geiste  gefärbt  oder  als  christlich  zu  bezeichnen  seyn, 
in  welcher  diese  Idee  die  Geister  bewegt.  Ein  Gleiches  wird  von 
der  Philosophie  zu  sagen  seyn,  wo  die  Versöhnungs-Idee  in  ihr 
Platz  gewinnt,  und  mit  dieser  zugleich  der  Begriff  der  Sünde 
Wichtigkeit  bekommt,  der  seinerseits  auf  den  Schöpfungsbegriff 
zurückweist.  Eine  jede  Philosophie,  in  der  dies  Statt  findet,  ist 
Ausdruck  der  christlichen  Zeit,  und  kann  nicht  mehr  zu  den  Sy- 
stemen des  Alterthums  gerechnet  werden.  Dabei  ist  nicht  nur 
möghch ,  sondern  von  vorn  herein  zu  vermuthen ,  dass  die  Ersten, 
welche  in  diesem  neuen  Geiste  philosophiren,  gar  nicht  oder  we- 
nigstens nicht  sehr  innig  mit  der  christlichen  Gemeinde  verbunden 
seyn  werden.  Diejenigen  Glieder  der  Gemeinde,  deren  geistige 
Begabung  gross  genug  ist,  um  Philosophen  zu  werden,  sind  an- 
derweitig, mit  der  Verkündigung  des  erschienenen  Heils ,  beschäf- 
tigt. Und  wieder:  die  kühle  Besonnenheit,  ohne  welche  ein  phi- 
losophisches System  nicht  zu  Stande  kommt,  ist  in  einer  Zeit,  wo 
nur  der  rücksichtslose  Feuereifer  (die  göttliche  Thorheit)  das  Zei- 
chen des  wahren  Gemeindegliedes  ist,  ein  Beweis  von  Lauheit. 
In  der  ersten  Zeit  einer  Gemeinde  müssen  apostolische  Naturen 
Gegner  der  Philosophie  seyn,  darum  sind  Paulus  und  Lutlier  es 
gewesen.  Wie  später  Dcscartes  und  Spinoza  (s.  §.  2ßß.  267.  271), 
das  heisst  ein  Katholik  und  ein  Jude,  die  Ersten  gewesen  sind 
die  den  Geist  des  Protestantismus  in   der  Philosophie  geltend 


Einleitung.     §.   119.   120  197 

machten,  so  aus  ganz  gleichem  Grunde  Häretiker  und  Heiden  die 
Ersten,  deren  Philosophie  die  Einwirkung  des  christlichen  Gei- 
stes verräth. 

Vgl.  Mussmann  Grundiiss  der  aUgemeineu  Geschichte  der  christlichen  Philoso- 
phie. Halle  1830.  -  H.  Bitter  Die  christliche  Philosophie  nach  ihrem  BegrifiF  und 
ihren  äusseren  Verhältnissen  und  in  ihrer  Geschichte  his  auf  die  neuste  Zeit.  2  Bde. 
Göttingen  1858. 

§.  119. 
Wie  jedes  Epoche  machende  Princip,  so  tritt  auch  das  Chri- 
stenthum,  die  grösste  aller  Neuerungen,  negativ  auf  gegen  das 
bisher  Bestehende.  (Nicht  den  Frieden  bringt  Er,  sondern  das 
Schwert.)  Nennt  man  den  Coraplex  alles  Bestehenden  Welt,  so 
wird  also  der  neue  (der  christliche)  Geist  sich  als  Gegner  der 
Welt  zeigen,  darum  aber  auch  denen,  welche  sich  als  Kinder  der 
(natürlichen  und  sittlichen)  Welt  wissen,  ein  Gegenstand  des  Ab- 
sehens seyn  müssen.  Der  Hass  eines  Seneca,  Tucitns ,  Trojan, 
Marens  Aurelius.  Julian,  gegen  eine  Religion,  die  sich  dess 
rühmt,  dass  ihr  Stifter  wider  den  Naturlauf  geboren,  und  den 
Tod  gestorben  sey,  der  in  der  bürgerlichen  Welt  der  schmach- 
vollste, ist  ganz  erklärlich.  Die  P'orderung,  Geist  zu  seyn  ver- 
möge der  Negation  der  Welt,  fällt  mit  der  des  Geistlichseyns  zu- 
sammen. Sie  erscheint  als  die  höchste  in  der  ersten  Hauptpe- 
riode der  christlichen  Zeit,  dem  Mittelalter.  Erst  die  darauf 
folgende,  die  Neuzeit,  vernimmt  das  höhere  Gebot,  die  Welt  durch 
den  Geist  zu  verklären,  d.  h.  das  Gebot  nicht  des  Geistlich-,  son- 
dern des  Geistig- seyns.  Den  mittelalterlich  Gesinnten,  denen  Ent- 
weltlichuug  das  Höchste  war,  erscheint  dieses  Vergeistigen  der 
Welt  als  ein  Rückfall  zu  den  Aufgaben  des  Alterthums,  als  Ver- 
weltlichung. In  Wahrheit  vereinigt  es ,  was  Alterthum  und  Mittel- 
alter gewollt  und  gesollt  hatten. 

§.  120. 
Die  Philosophie  des  Mittelalters  kann  nicht  wie  die  des  Al- 
terthums, welche  durchweg  Weltw^eisheit  gewesen  w^ar,  zu  ihren 
Haupttheilen  die  Physik  und  Politik  machen.  Diese  werden  zurück-, 
dagegen  in  den  Vordergrund  alle  die  Untersuchungen  treten,  welche 
das  Verhältniss  des  Einzelnen  zur  Gottheit  und  diese  selbst  be- 
treffen. Religionslehre  und  Theologie  werden  zur  Hauptsache. 
Neben  ihnen  macht  sich  die  Moral  geltend,  früh  mit  einer  aske- 
tischen Färbung,  die  der  antiken  Anschauung  widersprechend, 
höchstens  Anknüpfungen  erlaubt  an  das,  was  beim  Verfall  der 
griechischen  Speculation  aufgetaucht  war.  Dass  nicht  mehr,  wie 
im  Alterthum,  in  weltlichen  Angelegenheiten   erfahrene  Männer, 


'9H  Mittelalterlklie  Philosophie.      Erste  Periode   (Patristik). 

dass  unpraktische  Stubengelehrte  und,  namentlich  später,  Geist- 
liche ihre  Philosophenie  entwickeln,  gehört  gleichfalls  zu  den  be- 
deutsamen Unterschieden  zwischen  alter  und  mittelaltedicher  Phi- 
losophie. 


Der  mittelalterlichen  Philosophie  erste  Periode. 

(Die  Patristik.    Vgl.  §.  148.) 

§.  121. 
Die  negative  Stellung  des  christlichen  Geistes  zur  Welt  zeigt 
sich  zuerst  als  Flucht  vor  derselben.    Daher  die  Neigung  zu  über- 
(oder  vielmehr  nicht-)  natürlicher,  mönchischer,  Heihgkeit,  so  wie 
dazu,  ausserhalb  jeder  bürgerlichen  Gemeinschaft  zu  stehn.     In 
dieser,  von  der  Welt  zurückgezogenen  Stellung  nuiss  das  Flämm- 
chen,  wozu  der  zündende  Funke  geworden,   erstarken,  um  später 
die  Welt  in  Brand   stecken  zu  können.    Wie  unheimliche  Fremd- 
linge  stehen   in  der  Welt  die  ersten  Christen,   deren  Grundsätze 
zu  den  bestehenden  Einrichtungen  nicht  passen,  die  eben  darum, 
wo   sie  mit  ihnen  in  Berührung  kommen,  sie  antasten,  und  ihre 
rächende  Reaction  erfahren.    Diesem  Gegensatze  des  neuen  Prin- 
cips  zu  der  bestehenden  Welt  entspricht  im  Gebiete  der  Philoso- 
phie ein  ganz  ähnlicher  zwischen  den  neuen  Ideen  und  der  bishe- 
rigen Weltweisheit.    Wo  sie  zuerst  in  Contact  kommen,  muss  ein 
gewaltsames  Aufbrausen  erfolgen.    Diese  Gährung,  entstanden  durch 
das  Zusammentreten  der  neuen  Ideen  mit  dem  alten  Gedanken- 
kreise, ist,  da  jene  zunächst  nur  als  Geschichte  offenbar  werden, 
hinsichtlich  ihrer  Form  ein  Kampf  zwischen  Geschichte  und  Phi- 
losophem.    Damit  ist  aber  sogleich  erklärlich ,  warum  dieser  Stand- 
punkt in  der  Geschichte  der  Philosophie  von  zwei  diametral  ent- 
gegengesetzten Richtungen   repräsentirt  wird,  in  welchen  einer- 
seits  den   neuen   Ideen   die  philosophische  Form   geopfert   und 
Begriffsentwicklungen  in  Geschichte  verwandelt  werden,  anderer- 
seits  wieder  die  Achtung  vor  der  Form    des  Philosophems   das 
bloss  Geschichtliche  verachten ,  darum  aber  auch  gegen  die  neuen 
Ideen  ungerecht  werden  lässt.    Bei  den  Ersteren,  den  Gnosti- 
kern,   kann  man  daher  zweifelhaft  werden,  ob  sie  zu  den  Philo- 
sophen, bei  den  Anderen,  den  Neupia  tonikern,  ob  sie  zu  der 
christlichen  Zeit  zu  rechnen  seyen.    Diese  beiden  Richtungen,   so 
wie  die  über  beide  hinausgehende  der  Kirchenväter,   in  denen 
sich   die  trübe  Gährung  klärt,    sie   bilden  den  Inhalt  der  ersten 
Periode. 


I.  Die  Guustiker      §.   122-  199 

I. 

Die  dnostiker. 

Massud  Dissertatt.  praeviae  in  Irenaei  libros.  Paris.  1710.  Beausobre  Histolre 
critique  de  Manichee  et  du  Manicheisme.  2  Vol.  Ämst.  1734—39.  Mosheim  Institu- 
tiones  liistoriae  ecclesiae  christiaaae.  Heimst.  1748.  Neander  Geuetisclie  Entwick- 
lung der  vornehmsten  guostischen  Systeme.  Berlin  1818.  Matter  Histoire  critique 
du  gnosticisme.  1828.  2te  Aufl.  1843.  v.  Bavr  Die  christliche  Gnosis.  Tübing.  1835. 
Lipsius  Der  Gnosticismus,  sein  "Wesen,  Urspning  imd  Entwickelungsgang.  Leipz.  1860. 

§.  122. 
Das  Verlangen,  was  der  Glaube  lehrt  vor  der  Veraunft  zu 
rechtfertigen ,  muss ,  da  die  Vernunft  auch  den  NichtChristen  nicht 
abgeht,  dazu  führen,  über  das  Verhältniss  der  verschiedenen  Re- 
ligionen nachzudenken.  Was  daher  von  verschiedenen  Gelehrten 
als  das  Wesentlichste  bei  der  Gnosis  angegeben  worden  ist:  das 
Verhältniss  der  rrlong  und  yvomg,  und  wieder:  das  Verhältniss. 
des  Christenthums  und  Judenthums  fällt  nothwendig  zusammen. 
Die  Gnostiker  sind  darum  nicht  nur  Urheber  einer  rationalen  Theo- 
logie, sondern  auch  einer  comparativen  Religionslehre,  und  da 
beides  zugleich  Aufgabe  der  Religionsphilosophie  ist,  dürfen  sie 
Rehgionsphilosopheu  genannt  werden.  Man  kann  es  unphiloso- 
phisch nennen  und  als  solches  tadeln,  dass  der  Inhalt  des  Glau- 
bens überall  die  Nonii  bildet  und  demgemäss,  da  jeuer  Inhalt 
Geschichte  ist,  an  die  Stelle  der  Begrififsdeductionen  Geschichten 
(Genealogien  der  Aeonen  und  dgl.)  treten,  und  die  Theologie  zu 
einer  Entwicklungsgeschichte  der  Gottheit  gemacht  wird.  Was  die 
Gnosis  dem  Philosophen  zu  wenig  zu  thun  scheint,  ist  dem  Gläu- 
bigen schon  viel  zu  viel.  Dass  überhaupt,  wenn  auch  in  Form 
der  Geschichte,  philosophirt  wird,  ist  der  Gemeinde  anstössig,  und 
mit  Recht  sieht  sie  zu  einer  Zeit,  wo  das  Philosophiren  über  den 
Glauben  als  ein  in  Frage  stellen  desselben,  häretisch  ist,  in  jedem 
Religionsphilosophen  einen  Häretiker.  Die  ersten  Spuren  gnosti- 
scher  Häresien  zeigen  sich  schon  in  der  apostolischen  Zeit,  nur 
nicht  in  der  späteren  schulmässigen  Form,  sondern  mehr  als  Ge- 
heimlehreu,  weil  ihre  antiiiomistische  Tendenz  sie  das  Licht  scheuen 
liess.  Hierher  gehören  die  "Irrlehren  der,  an  den  Simon  Magns 
sich  anschliessenden  Simonianer,  hierher  die  Irrlehren  in  Corinth, 
Thessalonich,  Ephesus,  Colossä,  auf  welche  PonJns  Rücksicht 
nimmt,  hierher  endhch  Cerhdlt ,  so  wie  manche  von  den  Erschei- 
nungen ,  welche  die  jugendliche  Gemeinde  unter  dem  Namen  des 
Ebionitisnuis  zusammen  gefasst  hat.  Von  den  jüdischen  Lehren 
der  Essener  und  des  PI/lIo  trennt  sie  alle  die,  mit  dem  Juden- 
thume  unvereinbare,   dem  Christenthum  allein  angehörende  Lehre 


200  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  fPatristik). 

von  dem  Fleisch  Gewordcnseyn,   sey  es  nun  der  Gottheit,   sey  es 
des  Logos,  sey  es  des  heiligen  Geistes. 

§.  123. 

1.  Als  offene,  eine  Stellung  in  der  Gemeinde  fordernde  Secte 
tritt  der  Gnosticismus  erst  im  zweiten  Jahrhundert  nach  Christo 
auf,  und  zwar  ziemlich  gleichzeitig  in  Aegypten  und  Syrien.  Die 
ägyptische  Gnosis ,  welche  sich  in  Alexandria  und  zwar  nicht  ohne 
Anlehnung  an  den  hellenisirenden  Orientahsmus  (s.  §.  112),  aus- 
bildet, ist  in  philosophischer  Hinsicht  die  interessanteste.  Sie 
räumt  zugleich  dem  Judenthum  eine  relativ  sehr  hohe  Stelle  ein, 
und  kann  mit  Nemuh'?-  die  judaisi r ende  genannt  werden.  Bn- 
silides,  der  zuerst  hier  zu  nennen,  erinnert  durch  seinen  unge- 
nannten Gott,  den  er  an  die  Spitze  stellt,  an  Philo,  eben  so 
durch  die  verschiedenen  hypostasirten  Kräfte,  deren  je  sieben  eine 
der,  aus  dem  höchsten  Gotte  emanirenden,  Sohnschaften  bilden. 
Auch  der  heilige  Geist,  der  hier  die  Brücke  von  dem  göttlichen 
nXrjQcojiia  zu  dem  Gegensatze  desselben  bildet,  war  schon  bei 
PInh  vorgekommen  (§.  114,  4).  Eigenthümlich  aber,  und  über 
den  Philonischen  Standpunkt  hinausgehend  ist  die  Lehre,  dass 
die,  als  ungeordnetes  Gemisch  gedachte,  Materie  von  Gott  gesetzt 
sey.  Dass  ein,  ihm  untergeordneter  aQXMv  dazu  bestimmt  sey, 
diesen  ungeordneten  Stoff  zu  formen,  darf  als  keine  Neuerung 
angesehn  werden.  Dass  derselbe  bewusstlos  die  Absichten  des 
höchsten  Gottes  vollführt,  und  von  den  Juden  (die  wenigen  Aus- 
erwählten abgerechnet)  für  diesen  selbst  gehalten  worden  sey,  hatte 
schon  Cerivf/f  gelehrt.  Unter  dem  Archon  stehen,  gleichfalls  in 
Hebdomaden  vertheilt,  die  ihm  untergeordneten  Wesen,  mit  ihm 
zusammen  die  Zahl  365  (aßQa^ag)  bildend ,  durch  welche  sich  die 
Weltregierung  (yrQovoia)  vollführt.  Wahrscheinlich  ist  dies  an 
Aegyptische  Theologumena  angeknüpft,  die  er  entweder  direct  von 
Aegyptischen  Priestern,  oder  durch  Verniittelung  der  Lehren  des 
Plicrehjdes,  dem  er  Vieles  entlehnt,  angenommen  hat.  Auch  Je- 
sus ist  ein  Werk  des  Archon,  nur  dass  sich  ihm  bei  der  Taufe, 
zur  Ueberraschung  seines  Schöpfers ,  die  erste  Emanation  des  höch- 
sten Gottes,  der  vovg  oder  diä^ovog,  verbindet,  der  das  Erlösungs- 
werk vollbringt  und  dann  den  Menschen  Jesus  verlässt  und  seinen 
Leiden  preis  gibt.  Das  Erlösungswerk  eignet  der  Mensch  sich  an 
durch  den  Glauben,  den  Basilides  selbst  rein  theoretisch  fasst, 
während  sein  Sohn  und  Schüler  Isidorus  dazu  die  praktische  Er- 
gänzung zu  geben  versucht  hat. 

2.  Viel  grösseres  Aufselm  hat,   vielleicht  auch   weil  er  nicht 
nur  in  Alexandria,  sondern  auch  in  Rom  lehrte,  und  hier  als  Ketzer 


I.  Die  Gnostiker.     Judaisirende      §.   123.  1.  3.  201 

aus  der  Gemeinde  geschlossen  ward,  des  BasiUdes  Zeitgenosse 
Vnlentinus  gemacht,  welcher  die  aus  dem  Urvater  oder  der 
Tiefe  {TtQOTTaTcoQ ,  ßcO^og)  hervorgehenden  Kräfte,  die  er  wegen 
ihrer  Ewigkeit  ai'covEg  nennt,  dem  geschlechtlichen  Gegensatze  un- 
terliegen und  paarweise  aus  dem  Urgründe  emaniren  lässt,  eine 
Ansicht,  die  wohl  durch  pythagoreische  Einäüsse  veranlasst  Avurde, 
Dem  Urgründe  wird  bald  keine,  bald  das  Schweigen  als  Gattin 
beigelegt,  dem  vocg  dagegen  die  Wahrheit,  dem  Xoyog  das  Leben 
zugesellt  und  an  die  unterste  Stelle  der  xheXrjrog  und  die  ancfla 
gestellt.  Durch  das  ungeregelte  Verlangen  der  letzteren  nach  einer 
Vereinigung  mit  dem  Höchsten  entsteht  die  niedere,  in  der  (ganz 
Platonisch  gefassten)  Materie  gehaltene  und  darin  waltende  Weis- 
heit (Achamoth),  welche  den,  unter  ihn  stehenden  Demiurgos,  den 
Gott  des  Alten  Bundes,  ihm  selber  unbewusst  dahin  bringt,  ihren 
und  aller  Dinge  Rückgang  in  die  Fülle  des  Seyns  zu  vermitteln. 
Hierzu  dient  besonders  der  Mensch,  den  die  Achamoth  zwar  zu- 
erst dahin  bringt,  durch  den  Genuss  der  verbotenen  Frucht  sich 
zum  IXr/.og  zu  machen,  dadurch  aber  auch  in  Stand  setzt,  das 
materielle  Seyn  selbst  zu  heiligen.  Je  nach  dem  verschiedenen 
Verhalten  zur  Materie  ist  der  Mensch  Hyliker,  Psychiker,  Pneu- 
matiker. Aus  den  letzteren  wählt  der  (selbst  psychische)  Demiurg 
instinctartig  die  Könige  und  Propheten,  zuletzt  auch  den,  durch 
seine  Propheten  verheisscnen ,  Christus,  der  durch  die  Verbindung 
mit  einem  der  höchsten  Aeonen  zum  Erlösei-  wird,  durch  den  die 
Achamoth  und  alle  Pneumatiker  in  das  Pleroma  übergehn,  der 
Demiurg  aber  in  die  Stelle  der  Weisheit  einrückt,  und  dort  ver- 
harrt bis  die  Materie  dem  Nichtseyn  verfällt.  Unter  den  zahlrei- 
chen Anhängern  des  Valcnl'imis  stechen  die  Namen  Urradeon, 
Plolemäns  und  Marcus  hervor.  Auch  der  Syrer  Bardesanes,  ein 
zu  Edessa ,  wahrscheinlich  im  J.  L54  geborner  Mann ,  dessen  Eifer 
für  die  Ausbreitung  des  Christenthums  ihm  den  Namen  eines  Be- 
kenners  eingebracht  hat,  nähert  sich  in  vielen  Punkten  dem  Vn- 
Icnümis  an ,  dessen  Lehre  er  nach  den  Einen  nur  in  seiner  ersten, 
nach  Anderen  gerade  in  seiner  letzten  Zeit,  endlich  wieder  nach 
Anderen  immer,  aber  eigenthümhch  modificirt,  so  dass  sie  nur 
Ausgangspunkt  für  ihn  war,  verkündigt  haben  soll.  (Vgl.  llUgenfpld 
Bardesanes  der  letzte  Gnostiker.  Leipz.  1864.) 

3.  Bis  zum  Extrem  geht  die  Anerkennung  des  Judenthums 
in  den,  fälschlich  dem  Cle.uicvs  von  Rom  zugeschriebenen  Homi- 
lien  und  Recognitionen ,  in  welchen  der  Apostel  Petrus  als  der 
Lehrer  einer  judenchristlichon  Gnosis  vorgeführt  wird. 


202  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

§.  124. 
Den  diametralen  Gegensatz  zu  den  judaisirenden  Gnostikern 
bilden  die,  welche  paganisirende  genannt  werden  können,  indem 
sie  durch  ihren  Hass  gegen  das  Judentimm  dahin  gebracht  \\Tir- 
den,  ganz  heidnische  Ideen  an  die  Stelle  der  christlichen  Lehre 
zu  setzen.  Am  Meisten  gilt  dies  von  dem  Karpolratcs  und  sei- 
nen Anhängern ,  welche  dem  Pytlagorns  und  Pluto  gleiche  Digni- 
tät  mit  Jpsii  zuschrieben,  dagegen  den  jüdischen  Standpunkt  ver- 
achteten ,  und  von  der  etwas  später  auftretenden  Schule  des  Muni, 
dessen  theils  dem  Parsismus,  theils  dem  Buddhaismus  entlehnte 
Lehren  der  Grund  waren ,  dass  er  als  Häretiker  hingerichtet  ward. 
Seine  Reformversuche  haben  zum  Zweck,  die  christliche  Lehre 
durch  das  Ausscheiden  der  jüdischen,  und  durch  das  Hineinneh- 
men dualistischer  Elemente  zu  der,  von  Paulus  versprochenen,  hö- 
heren Erkenntniss  zu  bringen.  Seine  Sectc,  die  Manichäer,  erhielt 
sich  ziemlich  lange.  Nicht  so  weit,  wie  die  eben  Genannten,  gehen 
in  ihrer  paganisirendefi  Tendenz  die,  mit  Valcnihws  verwandten 
Ophiten  und  die,  vielleicht  mit  BnsUldes  zusammenhängenden  Kai- 
niten,  welche  gerade  dem,  was  nach  dem  V.  T,  vorzugsweise  als 
böse  gilt,  der  Schlange,  dem  Kain  u.  s.  w.  die  Bedeutung  beileg- 
ten, die  Inhaber  der  wahren  Weisheit  zu  seyn.  Uebrigens  haben 
diese  ketzerischen  Richtungen  weniger  speculatives  Interesse  als 
praktisches.  Die  negative  Stellung  zum  V.  T. ,  hat  Einige  aus 
derselben  zu  völligem  Antinomismus  geführt.  Andere ,  namentlich 
die  Manichäer,  haben  nur  dem  Ceremonialgesetz  den  Krieg  erklärt, 
dagegen  aber  strenge  Sittlichkeit  gefordert,  nur  dass  hier,  wie  im 
Parsismus,  das  Ethische  mit  dem  Physischen  sehr  verschmolzen 
wird,  und  der  Process  der  Erlösung  sich  beinahe  wie  ein  Natur- 
process  gestaltet. 

V.   Baur  Ueber  das  manichäische  Reügionssystem.    Tübingen  1831- 

§.  125. 
Endlich  sind  als  eine  dritte  Klasse  die  christianisirenden 
Gnostiker  zu  nennen,  welche,  wenn  sie  dem  Judenthum  eine  sehr 
untergeordnete  Stellung  einräumen ,  damit  durchaus  nicht  das  Hei- 
denthum,  sondern  nur  die  specitische  Würde  des  Christenthums 
erheben  wollen.  Hierher  gehört  Saturimufs ,  ganz  besonders  aber 
M(trciou ,  dessen  abstracte  Auffassung  des  Paulinismus  ihn  zu 
PtHilvs  in  dieselbe  Stellung  bringt,  in  der  Antistf/enes  zu  Sokra- 
ios  gestanden  hatte  (s.  §.  71).  Wie  die  Natur  den  Heiden  höch- 
stens den  Allmächtigen,  so  soll  das  Gesetz  den  Juden  höchstens 
den  Gerechten  kennen  lehren;  die  Offenbarung  des  Gütigen  und 
Barmherzigen  im  Christeuthum  ist  als  eine  völlig  neue,  eben  darum 


II.   Die  Xeuplatoniker.     §.   126.  203 

plötzliche  zu  fassen.  Es  steht  hier  das  Christenthum  in  einem 
ganz  negativen  Verhältniss  zum  Heidenthum  sowol,  als  zum  Ju- 
denthum.  Aus  dem  erstereu  folgt  der  Doketismus  des  Marcion, 
der  bis  zur  Leuguung  der  Geburt  Cf/risti  geht,  aus  dem  zweiten 
seine  V^erachtung  gegen  den  Gottes-  und  Messias -Begriff  des 
Alten  Testamentes.  C/iristl  Tod  und  die  Christenverfolgungen 
werden  als  ein  Werk  des  Demiurgen,  d.  h.  des  Juden  gottes  ange- 
sehn.  So  grosse  Bedeutung  Mdrcinn  für  die  Kirchengeschichte 
hat,  so  ist  seine  vorwiegend  praktische  Tendenz  ein  Grund,  wa- 
rum in  einer  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  er  kür- 
zer behandelt  werden  darf. 

IL 

Die  \ciiplatoiiiker. 

Vacherot  Histoire  critique  de  l'ecole   d'Alexandrie.    Paris.   3  Bde.     J.  Simon  Hi- 
stoire  de  IVcole  d'Alexandiie.  Paris.  2  Bde.     Steinhart  in  Pauh/s  Realencydop.  Bd  V. 

§.  126. 
Gerade  was  oberflächliche  Betrachter  dahin  bringen  konnte, 
die  Gnostiker  und  Xeuplatoniker  zu  identificiren ,  macht  sie  zu 
diametralen  Gegensätzen :  dass  in  ihren  Lehren  dieselben  Momente 
enthalten  sind.  Mag  von  Manchen  das  orientalische,  und  weiter 
das  christliche,  Element  in  den  Neuplatonikern  zu  sehr  betont 
worden  seyn,  ganz  leugnen  werden  es  die  am  Wenigsten  können, 
welche  den  Neoplatonismus  eine  Reaction  gegen  den  eindringen- 
den neuen  Geist  nennen.  Der  Name  Neoplatonismus,  der  als  ein- 
gebürgert beibehalten  werden  kann ,  ist  eigentlich  zu  enge  und 
mit  Recht  gegen  ihn  bemerkt  worden,  dass  seine  Anhänger  eben 
so  gut  Neu  -  Aristoteliker  genannt  werden  könnten.  Aber  auch  dies 
reicht  nicht  aus,  denn  auch  Vor- platonische  und  Nach- aristote- 
lische Elemente  sind  in  ihren  Lehren  wieder  zu  erkennen,  und 
nicht  synkretistisch  wie  die  Sophisten  und  Cicero,  sondern  in 
systematischer  Form,  wie  Ewpedohles  und  die  Atomiker,  vereini- 
gen sie  Alles,  was  die  Philosophie  vor  ihnen  erarbeitet  hatte, 
zu  einer  eigenthümlicheu  Weltanschauung.  Doch  alier  haben  die, 
welche  sie  zum  Culminationspunkt  griechischer  Speculation  zu  ma- 
chen versuchten,  geirrt.  SiB  bedachten  nicht,  dass  durch  Zeit, 
Nationalität  und  Wohnort,  vor  Allem  aber  durch  ihr  theils  posi- 
tives theils  negatives  Verhalten  zu  Ideen ,  welche  erst  seit  dem 
Eintritt  des  Christenthums  die  Geister  beschäftigen,  Ploüniis,  Jam- 
hlklnts  und  Prohins  von  den  Repräsentanten  der  klassischen  grie- 
chischen Philosophie  weit  gesrliieden  sind.  Emanationslehre  und 
asketische  Moral  kann   zur  Noth  mit   dem  Buchstaben,  mit  dem 


204  Mittelalterliche  Philosophie.     Eiste  Periode  (Patristik). 

Geiste  aber  Platonischer  und  Aristotelischer  Philosophie  nimmer- 
mehr, vereinigt  werden. 

§.  127. 
Wie  die  Gnosis  an  den  hellenisirenden  Juden,  so  hat  der 
Neoplatonismus  seine  unmittelbaren  Vorgänger  an  den  orientali- 
sirenden  Hellenen  (§.  110  u.  111),  sowol  an  den  mehr  mathema- 
tisch gebildeten  pythagorisirenden ,  als  an  den  philologisch  com- 
mentirenden  Auslegern  des  Plttfo.  Wären  im  Plutarch  christliche, 
oder  auch  nur  jüdische,  Elemente  nachweisbar,  so  wäre  ihm  die 
Stelle  anzuweisen,  die  jetzt  dem  Nnmeiiius  zukommt,  einem 
unter  Anlomnus  Pias  gebornen  Syrer,  welcher,  indem  er  zwischen 
den  ersten  Gott  oder  das  Gute,  und  den  dritten  Gott  oder  die 
Welt ,  Avelche  er  mit  Pinto  den  eingebornen  Sohn  des  ersten  Got- 
tes nennt,  den  beiden  zugewandten  demiurgischen  Gott  schiebt, 
so  nahe  an  die  Lehre  des  P!o1ni  heranstreift,  dass  dieser  Letz- 
tere frühe  als  ein  Plagiarius  an  des  I\iimcnh!s  Lehren  bezeichnet 
worden  ist.  Mehr  noch  als  auf  den  Ninnenius  haben  christliche 
Ideen  eingewirkt  auf  den  Annu  onlits  Saccas  (gestorben  243), 
den  eine  Sage  zum  Apostaten  vom  Christenthum  macht,  welchem  er 
durch  die,  Künsten  und  Wissenschaften  al)holde,  Richtung  seiner 
Anhänger  entfremdet  seyii  soll.  Als  seine  Hauptlehre  ist  jeden- 
falls die  von  der  vöüigen  Uebereinstimmung  des  Plalo  und  Arl- 
stolcles  anzusehn,  denen  beiden  er,  so  scheint  es,  gleich  sehr  ge- 
recht werden  wollte.  Wahrscheinlich  ist  in  seine  Auslegung  Beider 
manches  orientalisirende  Element,  namentlich  emanatistische  und 
asketische  liohren,  hineingenommen,  und  gewiss  eine  polemische 
Tendenz  gegen  die  Religionsgemeinschaft ,  von  der  er  sich  getrennt 
hatte.  Darum  ist  es  nicht  nur  seine  Lehrthätigkeit  in  Alexandria, 
die  ihn  von  jeher  als  den  eigenthchen  Gründer  des  Neoplatonis- 
raus  ansehn  Hess ,  sondern  er  verdient  diese  Stelle  auch  deswegen, 
weil  die  verschiedenen  Richtungen ,  welche  bald  innerhalb  des  Krei- 
ses seiner  Nachfolger  sich  geltend  machen ,  sich  ganz  gleichmässig 
an  den  Ammonms  anlehnen,  und  je  eine  Seite  von  ihm  besonders 
hervorheben.  In  dem  römischen  Neoplatonismus,  wie  ihn  Plo- 
tin  repräsentirt,  tritt  ganz  besonders  das  Platonische  Element 
hervor,  oft  bis  zu  einer,  an  den  Niimevurs  mahnenden  Ungerech- 
tigkeit gegen  den  ^n\v/o^e?eÄ.  Inder  syrischen  Richtung,  deren 
Typus  Jamhllchns  ist,  wiegt  orientalisirender  Pythagorismus ,  so 
wie,  gleichfalls  orientalisirende,  Neigung  zu  theurgischem  Treiben 
vor.  In  dem  schulmässig  ausgebildeten  Athenischen  Neuplato- 
nismus  endlich,  welchen  Proldus  repräsentirt,  der  in  dem  einen 
seiner  Hauptwerke  nur  den  Plolin  excerpirt,   während  er  in  den 


II.  Die  Neuplatoniker.     A.  Plotiii  u.  der  römische  Neoplaton.     §.  128^,  1.    205 

übrigen  sich  gauz  au  Jumhlichus  auschliesst,  tritt,  schon  wegen 
der  formellen  Vollendung,  die  hier  dem  System  gegeben  wird,  das 
Aristotelische  Element  mehr  hervor.  Alle  drei  Richtungen  aber 
theilen  den  Hass  oder  die  Verachtung  gegen  die  christliche  Lehre, 
SC}'  sie  nun  gnostisch,  sey  sie  antignostisch  gefärbt,  und  stellen 
ihr ,  als  der  Wissenschaftsfeindin ,  das  Heidenthum  als  den  Boden 
der  Wissenschaft  entgegen,  die  ihm  jetzt  so  dankt,  dass  sie  es 
mit  Veruunftgrüuden  stützt  und  in  seinen  Mythen  Begriffsverknü- 
pfuugen  im  geschichthchen  Gewände  nachzuweisen  sucht.  Die  logi- 
schen ümdeutungen,  die  Homer  hier  erfährt,  sind  der  diametrale 
Gegensatz  zu  der  Verwandlung  abstracter  Begriflsentwicklungen 
in  phantastische  Geschichten  bei  den  Gnostikern. 

§.  128. 

4. 

Plofiu  uutl  der  römische  Neoplatouismus. 

Steinhart  Quaestiones  de  dialectiea  Plotini  ratione.  1829.  Dess.  Meletemata  Ploti- 
niana.  1840.  JDers.  iu  Fauhfs  Philol.  Real -Encydopädie  v.  Plotin.  Kirchner  Die 
Philosophie  des  Plotiu.    Halle  1854. 

1.  Plotinos  ist  im  Jahre  205  in  Lykopolis  in  Aegypten  gebo- 
ren, und,  nachdem  sein  wissenschaftliches  Streben  bei  den  ver- 
schiedensten Lehrern  vergeblich  Befriedigung  gesucht  hatte,  in 
seinem  acht  und  zwanzigsten  Jahre  Schüler  des  Ammonius  gewor- 
den, und  bis  zu  dessen  Tode  gebheben,  um  orientahscher  Weis- 
heit theilhaft  zu  werden ,  soll  er  an  Gordlan's  Feldzug  gegen  Per- 
sien Theil  genommen  haben,  und  hat  dann  in  seinem  vierzigsten 
Jahre  seine  Schule  in  Rom  gegründet,  der  er  bis  zu  seinem  Tode 
vorstand.  Seinem,  dem  Meister  gegebenen  Worte,  die  Lelu-e  nur 
mündlich  fortzupflanzen,  soll  er  erst  untreu  geworden  seyn,  als 
er  sah,  dass  seine  Mitschüler  tlei-cnnuts  und  Oriyeiies  das  ihre 
nicht  hielten.  Auch  Loiigiims  hat  das  Gebot  des  Ammoiüas  über- 
treten. Die  21  Abhandlungen,  welche,  als  Porplnjrius  zum  IHonn 
kam,  schon  geschrieben  waren,  hat  mit  den  später  geschriebenen 
33  Porplnjrum  nach  der  Verwandtschaft  des  Inhaltes  in  Gruppen 
von  je  neun  Schriften  (Enneaden)  zusammengestellt,  die  chrono- 
logische Reihenfolge  aber  auch  angegeben.  Die  lateinische  Ueber- 
setzung  des  Marsilias  Ficimis,-  in  der  Plotiu' s  Werke  zuerst  (1492) 
erschienen,  so  wie  die  griechische  Ausgabe  des  P.  Perna  (Basel 
1580)  waren  lange  die  einzigen  Ausgaben.  Im  Jahre  1825  gab 
Creuzer  den  Text  und  die  Uebersetzung  des  MursUivs  in  der 
Oxforder  Ausgabe  in  3  Quartbänden,  und  veranstaltete,  unter- 
stützt von  Moser,  im  J.  1855  bei  Didol  in  Paris  einen  viel 
wohlfeileren  und  dabei  correcteren  Abdi-uck  derselben.    Den  An- 


206  Mittelalterliche  Philoso^ihie.     Erste  Periode  (Patristik). 

forderungeu  philologischer  Kritik  entspricht  viel  mehr:  Plotini 
Opera  recogn.  ^d.  Kirchhof.  Lips.  1856.  2  Voll.  8.,  wo  nur  der 
griechische  Text  gegeben,  die  chronologische  Reihenfolge  wieder 
hergestellt,  zugleich  aber  die  Enneade  so  wie  die  Seitenzahl  der 
Oxforder  Ausgabe  mit  angegeben  ist,  so  dass  das  Nachschlagen, 
wenn  irgendwo  nach  der  gewöhnlichen  Art  citirt  wird,  leicht  ist. 
2.  Da  Plolin  nicht,  wie  Pluto  und  Aristoteles,  sich  aufstei- 
gend seinem  eigentlichen  Principe  nähert,  sondern  es  unmittelbar, 
durch  intellectuelle  Anschauung,  erfasst,  und  von  ihm,  als  dem 
aller  Gewissesten,  ausgeht,  so  muss  er  noch  mehr  als  seine  Vor- 
gänger urgiren,  dass  es  das  völhg  Unbedingte,  in  keiner  Weise 
Relative,  sey.  Eins,  Seyendes,  Gutes,  Gott  sind  die  verschiede- 
nen Ausdrücke  für  dieses  oberste  Princip,  welches  weder  von  den 
Platonischen  Kategorien  Ruhe  und  Bewegung,  Selbigkeit  und  An- 
derheit, noch  auch  von  den  Aristotelischen  Substanz  und  Acci- 
dens,  berührt  wird,  sondern  vielmehr  das  LreQocaiov  ist,  in  wel- 
chem gar  kein  Gegensatz  existirt,  darum  auch  nicht  der  von  Wol- 
len und  Soyn:  es  ist,  weil  es  will,  und  will,  weil  es  ist.  Dieser 
■/cQMiog  i)€og,  der  nicht  als  ein  Jenseitiges  zu  fassen  ist,  sondern 
so  in  Allem  ist,  und  Alles  umfasst,  dass  wenn  er  sich  will  und 
liebt ,  er  Alles  liebt  und  will ,  dieser  sey  was  Pluto  bald  das  Gute 
und  bald  Gott  genannt  habe  (Eim.  III,  8.  VI,  8).  Wie  der  Aus- 
druck „erster  Gott"  schon  andeutet,  bleibt  Plolin  bei  diesem  er- 
sten Princip  nicht  stehn;  obgleich  er  die  Schwierigkeit  nicht  ver- 
kennt, die  sich  einem  Hervorgange  der  Vielheit  aus  der  Einheit 
entgegen  stellt  (V,  1.  6),  so  versucht  er  doch  sie  zu  heben.  Manch- 
mal rein  logisch,  indem  er  darauf  hinweist,  dass  die,  vom  Einen 
ausgeschlossene  Vielheit  eben  deswegen  aus  ihm ,  und  ausser  ihm, 
seyn  müsse,  gewöhnlich  aber  so,  dass  er  das  Erste  als  Erzeu- 
gendes fasst,  welches,  wie  die  Flamme- Licht,  der  Schnee  Kälte 
verbreitet,  so,  weder  bewusstlos  noch  auch  ganz  willkührhch,  ein 
Zweites  als  ein  ewig  Gezeugtes  von  sich  ausgehen  lasse.  Das 
ausdrücklich  ausgesprochene  Princip,  dass  das  Zweite  immer  we- 
niger enthalte,  als  das  Erste  (III,  2.  7),  macht  sein  System  zum 
Gegentheil  einer  jeden  Evolutionslehre,  d.h.  zu  einem  Emanations- 
system. Die  erste  Abschwächung  des  Seyns,  der  Ersterzeugte 
Gottes,  ist  nach  Plotin  der  pocg,  der,  indem  er  aus  dem  Einen 
heraustritt,  dasselbe  aber  zu  seinem  wahren  Grunde,  und  also 
Zwecke  und  Ziele,  hat,  in  diesem  Rückgewandtseyn  {IniOTQocpij) 
Wissen  vom  Einen  wird,  so  dass,  obgleich  das  Eine  selbst  nicht 
denkt,  dennoch  das  es  Denkende  als  seine  ehxöv  zu  bezeichnen 
ist  (V,  1.  7).    Wenn  dann  weiter  Plolin  das  Denken  des  vov^  im 


n.  Die  Neuplatoniker.     A.  Plotiu  u.  der  römische  Neoplatou.     §.  128,  2.  3.  207 

Gegensatz  zum  unfreieu,  mit  Anderem  beschäftigten,  als  freies 
und  reines ,  nur  auf  sieb  bezogenes  Denken  bezeichnet ,  so  ist  klar, 
dass  die  vom  Ammonius  überkommene  Verschmelzung  des  Plato 
und  Aristoteles  sich  bei  ihm  so  gestaltet,  dass  Plaif/s  ayaOov  bei 
ihm  die  erste,  der  vovg  des  Aristoteles  dagegen  die  zweite  Stelle 
bekommt.  Stand  das  Erste  so,  dass  keine  der  Kategorien  von 
ihr  galt,  so  mvd  dagegen  vom  porg  gesagt,  er  sey  sowol  Kühe 
als  Bewegung,  er  vereinige  in  sich  die  Einheit  und  den  Unter- 
schied. Die  je  erste  dieser  Kategorien  kommt  ihm  zu  als  Den- 
kendem, die  je  zweite  als  Gedachtem,  und  deswegen  ist  es  kein 
Sprung,  wenn  der  povg  ihm  zum  Inbegriff  alles  Gedachten  und 
aller  Urbilder  der  Dinge  wird  (V,  9.  (3),  in  dem,  wie  die  Arten 
in  der  Gattung,  so  alle  Begriffe  enthalten  sind,  so  dass  in  ihm 
als  dem  •/.oGf.wg  vorjrog  alle  Dinge,  selbst  die  sterblichen  und  ver- 
gänglichen, in  ewiger,  idealer,  Weise  existiren  (V,  «j.  Die  Aehn- 
lichkeit  mit  P/älo's  Lehre  ist  in  diesem  Punkte  schlagend  (s.  §. 
114,  3).  Aus  dem  voi}g  geht  nun  als  Drittes,  also  noch  mehr  un- 
tergeordnetes,  Princip  hervor  die  ipvxi],  d.  h.  das  allgemeine  Le- 
bensprincip  oder  die  Weltseele,  eine  abgeblasste  Copie  des  yovg, 
die  eben  deshalb  vernünftig ,  aber  ohne  Vernunft ,  wirkt ,  d.  h.  was 
Aristoteles  dämonisch  genannt  hatte  (s.  §.  88,  1).  \A'ie  die  unbe- 
dachten Kinder  mehr  nach  aussen  schaffen,  als  die  in  sich  ver- 
sunkenen ,  so  entfallen  gleichsam  die  Dinge  der  allgemeinen  Seele, 
die  ihi^e  Einfälle  nicht  für  sich  behält,  sondern  sogleich  ins  Werk 
setzt  (III,  8.  3).  In  allen  natürlichen  Vorgängen  ist  daher  Ge- 
danke {0€cjQ('a),  die  Ideen  nämhch,  welche  die  Seele  von  dem 
vovg  empfängt,  und  die  sie  als  löyog  Ojr€Qf.ic(Tr/.6g  in  die  Materie 
säet  oder  pflanzt.  Die  mittlere  Stellung,  welche  so  der  Seele  an- 
gewiesen wird,  bringt  dem  Plotin  öfter  dahin  von  einer  oberen, 
dem  vovg  zugewandten,  und  einer  unteren  an  die  Materie  heran- 
reichenden Seele  zu  sprechen,  die  dann  bei  seiner  Neigung,  an 
die  Mythen  anzuknüpfen,  die  Namen  der  himmlischen  und  irdi- 
schen Aphrodite  erhalten.  Die  letztere  wird  dann  auch  insbeson- 
dere (fvaig  genannt. 

3.  Das  (Platonische)  Gute ,  der  (Aristotelische)  vovg  und  das, 
manchmal  auch  Zeus  genannte  (Stoische)  Allleben  bilden  das,  was 
man  die  Trinität  des  Plotin  genannt  hat,  die  auch  insofern  wii'k- 
lich  der  christlichen  Lehre  näher  kommt  als  Philo,  als  der  vovg 
hier  nicht  nur  /.ÖG^iog  vot^rog,  sondern  auch  vorwog  ^eog  ist,  und 
ferner  die  Welt  nicht  nur  als  von  einer  Macht  ausser  ihr  in  Be- 
wegung gesetzte,  sondern  als  ihr  innewohnende  Bewegungsprinci- 
pien  besitzend  gewusst  wird.    Doch  aber  bleibt ,  wegen  des  Erna- 


208  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

nations  -  und  also  Subordinatioiisverhältnisses  der  Unterschied  sehr 
gross;  jene  aber  zu  überwinden  kann  dem  Platin  nicht  gehngen, 
weil  er  noch  nicht  wagt ,  die  Negation ,  die  keQorrjg  in  Gott  selbst 
zu  setzen.  Wie  dies  ihm  unmöglich  macht,  das  Subordinations- 
verhältniss,  eben  so  auch,  den  Platonisch -Aristotelischen  DuaUs- 
mus  zu  überwinden.  Zwar  ist  bei  ihm  die  Materie,  die  er  Gott 
gegenüberstellt,  ebensowenig,  wie  bei  jenen  Beiden,  ein  körperli- 
cher Stoff,  sie  ist  das  Qualitätslose,  das  Wesenlose,  Unwirkliche, 
die  Grenze  des  Seyns,  das  Xoch  nicht  seyn,  das  nur  in  dem  Sinne 
erkannt  wird  wie  das  Dunkel  gesehen  wird,  zu  dessen  Erkennen 
eine  Art  Wahnsinn  nöthig  u.  s.  w.,  ja  er  überbietet  Pluto,  indem 
er  schon  den  Raum  als  etwas  Geformtes  und  also  die  Materie  als 
etwas  noch  Abstracteres  ansieht,  und  überbietet  Aristoteles,  wenn 
er  sich  dagegen  erklärt,  dass  die  Materie  gtIqijgiq  sey  (u.  A.  II, 
4  —  III,  6).  Dazu  aber,  zu  zeigen  woher  die  Materie?  kommt 
auch  er  nicht.  Man  muss  es  ein  Schwanken  zwischen  Duahsmus 
und  Monismus  nennen,  wenn  er  die  Materie  bald  als  Abfall  vom 
Seyn ,  bald  -wieder  nur  durch  unser  Denken  gesetzt  seyn  lässt. 
Am  Meisten  scheint  er  diese  Extreme  noch  zu  vermeiden,  wenn 
er  sagt  die  Seele  habe,  den  AnbUck  der  Leere  nicht  ertragend, 
der  Arinuth  der  Materie  abgeholfen,  da  aber  beweist  die  Erzäh- 
lungsform die  Unfähigkeit  zu  begrifflicher  Entwicklung,  abgesehn 
davon,  dass  die  Frage  immer  bleibt:  woher  jene  Leere?  Mit  sol- 
cher Unentschiedenheit  hängt  zusammen,  dass  Plotiii,  worauf  sich 
besonders  seine  Polemik  gegen  Gnostiker  und  Christen  überhaupt 
stützt ,  die  Schönheit  der  himmlischen  AVeit  in  Schutz  nimmt,  und 
dann  doch  wieder  es  für  eine  Schmach  hält  geboren  zu  seyn,  und 
den  Geburtstag  als  Tag  der  Schande  verbirgt.  Das  Hineintreten 
des  Seyns  in  das  Nichtseyn  wird  nicht  begriffen ,  daher  bleibt  nur 
übrig,  es  zu  beklagen. 

4.  Sey  nun  aber  der  Grund  dazu  auch  verborgen,  genug  das 
Hineintreten  hat  Statt  gefunden,  und  deswegen  gibt  es  unterhalb 
der  bisher  betrachteten  Principien  eine  Stufenfolge  von  Wesen, 
deren  Betrachtung  die  Physik  gewidmet  ist.  Ein  neuer  Beweis 
für  die  Unterordnung  des  Aristoteles  unter  den  Pluto  ist  dieser, 
dass  des  letzteren  Kategorien  im  Gebiete  des  Intelligiblen,  die 
des  Ersteren  dagegen  hier,  im  Bereich  des  Sinnlichen  gelten  sol- 
len (ihre  Zahl  wird  indess  reducirt).  Die  oberste  Stufe  dieser 
Wesen  bilden  die  Götter,  die  unterste  die  unorganischen  Wesen, 
in  welchen  das  Leben  nur  schlummert.  Die  Götter  sind  die  Ge- 
stirne, deren  Seelen  im  Anschaun  des  Guten  schwelgen,  deren 
Körper  aber  auf  die  von  ihnen  umkreiste  Welt  einwirken  (II,  3.  9. 


II.  Die  Neuplatoniker.     A.  Plotin.  u.  der  römische  Neoplaton.     §.  128,  4.    209 

Vgl.  VI,  9.  8  —  9).  Unter  ihnen  stehen  die,  in  den  subkmaren 
Lufträumen  lebenden,  Dämonen,  zu  welchen  Plotin  öfter  die  Volks- 
götter rechnet  (III,  5.  6.  n,  9.  9).  Endlich  die,  von  einer  ver- 
nünftigen Seele  durchdrungene,  Erde  (IV,  4.  27)  trägt  ausser  den 
unorganischen  Wesen,  den  Pflanzen,  in  welchen  sich  schon  h'r/og, 
den  Thieren,  in  denen  sich  schon  diävoia  zeigt,  auch  noch  den 
Menschen,  der  ein  Bild  des  Weltalls,  die  Welt  im  Kleinen  ist. 
Wie  in  allen  Substanzen  die  Form  das  Höchste  ist,  so  auch  im 
Menschen  die  Seele.  Ursprünglich  mit  der  Allseele  eins,  ist  sie 
erst  dadurch ,  dass  sie  aufhört  nm-  den  vovq  anzuschauen  und  an- 
fängt, sich  selbst  zu  denken  und  zu  begehren,  an  einen  beson- 
deren Theil  des  körperhchen  Alls  gebunden  (III,  9.  2).  Der  Act 
der  Verkörperung  fällt  daher  mit  dem  Werden  zum  besonderen 
Bew'usstseyn  zusammen,  er  ist  frei  gewollt  und  Strafe  zugleich 
(V,  8.  7.  IV,  8.  4).  Mit  dem  Eintritt  in  den  Leib,  wird  auch  die 
Seele  von  dem  Umschwung  des  Ganzen  ergriffen,  dem  sie  als 
Theil  angehört.  Sie  kann  sich  nicht  beklagen ,  denn  ihre  Stellung 
darin  hat  sie  selbst  gewollt  (IV ,  3).  Freiheit  und  Xothwendigkeit 
streiten  hier  nicht,  denn  das  Schicksal  des  Menschen  ist  sein 
selbstgewählter  Dämon ,  die  Kolle ,  die  Jeder  im  Weltdrama  spielt, 
ihm  deshalb  aufgetragen,  weil  er  sie  wollte  (III,  2),  Das  Herab- 
steigen der  Seele  in  den  irdischen  Körper  geschieht  übrigens  all- 
mählich, so  dass  sie  zuerst  (göttlich)  an  die  himmlischen,  dann  (dä- 
monisch) an  die  feinen  athmosphärischen,  endlich  (in  der  Mensch- 
werdung) an  den  groben  irdischen  Körper  sich  bindet  (IV,  3).  In 
Folge  dieser  Vereinigung  ist  der  Mensch  ein  Zusammengesetztes, 
y.oivöv ,  dessen  Leib  ein  Theil  des  körperlichen  Alls  ist,  und  des- 
sen Seele  ähnlich,  sey  es  nun  als  Art  zur  Gattung,  sey  es  als 
Theil  zum  Ganzen ,  sich  zur  Allseele  verhält ,  und  der  mit  seinem 
höchsten  Bestandtheil,  dem  vovg,  über  die  Natur,  ja  über  die 
Allseele  hinaus  bis  in  den  Himmel  hineinreicht  (IV,  7).  Das  Ver- 
hältniss  dieser  drei  Principien,  die  oft  geradezu  als  der  erste, 
zweite  und  dritte  Mensch  bezeichnet  werden  (VI,  7.  6) ,  bildet  den 
Haupt -Inhalt  der  Plotinischen  Psychologie.  Der  Körper,  ein  Theil 
des  Alls  und  mit  ihm  in  Sympathie  stehend  (IV,  5.  3),  macht  die 
Seele,  die  ohne  ihn  ganz  in  der  Vernunftsphäre  leben  würde,  zur 
nährenden,  empfindenden,  überhaupt  zur  niederen.  In  ihr,  als 
dem  Bande  zwischen  Leib  und  Geist,  begegnen  sich  die  Eindrücke 
der  Sinne  mit  den  in  den  Geist  strömenden  Ideen ,  deren  Inbegriff 
der  vocg  gewesen  war,  und  die  wir  erkennen,  wenn  wir  ihn  be- 
trachten. Aus  der  doppelten  Beziehung,  in  welcher  die  Seele 
steht,  zur  Aussenwelt  und  zum  vovg,  ergeben  sich  drei  Gebiete 

Erdinann,  Gesch.  d.  Philos.    I.  -tA 


210  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

in  ihr:  das  unterste,  die  sinnliche  Seele,  deren  höchste  Function 
die  (favTcaia  ist  (IV,  3.  29),  ferner  die  mittlere,  oder  eigentlich 
menschliche  Seele,  der  die  Reflexion  zukommt,  die  didvoia  und 
das  loyittoiyai ,  durch  welche  nicht  nur  die  niedere  öo^a  zu  Stande 
kommt,  sondern  auch  die  jiiong  und  die  Wissenschaft  (I,  1.  7 
und  3.  4.  V,  8.  7).  Die  höchste  Partie  der  Seele  ist  die ,  mit  wel- 
cher sie  in  den  Himmel,  d.  h.  den  vovg  hineinreicht;  vermöge 
dieses  Antheils  an  dem  vovg  erhebt  sich  der  Mensch  zu  dem  un- 
mittelbaren, bewegungslosen  Anschauen  der  Ideen,  in  dem  er  be- 
sitzt, was  die  Reflexion  und  Wissenschaft  erstrebt  (IV,  4.  12), 
reines  voeIv  oder  fgovr^aig  ist,  und  das  Ewige  in  unmittelbarer 
Berührung  erfasst  (VI,  8.  11.  I,  2.  6).  Ist  nun  aber  die  mittlere 
Sphäre,  der  h'r/og,  dem  das  loyiCeaO^cu  zukommt,  zugleich  der 
eigentliche  Sitz  des  persönlichen  Selbstbewusstseyns,  so  folgt,  dass 
es  unbewusste  Erkenntnisse  gibt,  die  höher  stehen,  als  die  be- 
wussten.  Diese  treten  in  den  Momenten  der  Ekstase  hervor,  wo 
die  Selbstthätigkeit  der  Seele  ganz  aufhört ,  sie  ganz  zu  den  Ideen 
wird,  die  sie  anschaut,  ganz  zum  Stoff  für  den  voig,  der  in  ihr 
waltet  (IV,  4.  2).  In  diesen  Augenblicken  der  Ekstase  erschaut 
die  Seele  das  Ehie  nicht  als  ein  Fremdes ,  Aeusserliches ,  sondern 
in  sich  selbst,  und  ruht  in  ihm,  indem  sie  sich  in  völlige  Einheit 
mit  ihm  verliert,  ein  Zustand,  der  über  alle  Vernunft  und  Wis- 
senschaft hinausgeht  (VI,  9.  V,  5  und  sonst). 

5.  Diese  Erhebung  zum  inwendigen  oder  geistigen  Menschen 
ist  es  nun  auch,  was  die  Ethik  des  Plolin  als  das  Ziel  alles 
Handelns  darstellt.  Nicht  in  dem  Materiell -Seyn,  wohl  aber  in 
dem  innerlichen  an  der  Materie  Hängen,  besteht  das  Böse.  Da- 
rum wird  das  höchste  Ziel,  das  Freiseyn  von  der  Materie,  nicht 
durch  den  Selbstmord  erreicht,  wie  die  Stoiker  meinen.  Durch 
das  Sinnlichgesinntseyn  würde  die  Seele  sogleich  wieder  sinnliche 
Existenz  bekommen,  da  sie  nur  das  und  nur  so  ist,  was  und  wie 
sie  denkt  (I,  9).  Die  wahre  Befreiung  besteht  darin,  dass  die  Herr- 
schaft des  niederen  (sinnhchen)  Menschen  gebrochen  wird,  der  höhere 
Mensch  zur  Herrschaft  kommt.  Dies  geschieht  zunächst  so,  dass 
die,  durch  den  Leib  in  der  Seele  hervorgerufenen,  Begierden  und 
Affecte  der  Vernunft  unterworfen  werden.  Da  dies  der  Platonische 
Begriff  der  Tugend  gewesen  war,  so  stimmt  Plot'ui,  was  die  vier 
Cardinaltugenden  betrifft,  ganz  mit  ihm  überein.  Nur  darin  weicht 
er  von  ihm  ab,  dass  sie,  die  er  auch  die  politischen  Tugenden 
nennt,  für  ihn  nur  der  erste  Schritt  sind  bei  der  Lösung  der  sitt- 
lichen Aufgabe  (I,  2.  7).  Zum  eigentlichen  Ziele,  dass  wir  der 
Gottheit  ähnlich  {bf.ioovatog)  werden,  bringen  viel  näher  die  aske- 


II.  Die  Neuplatouiker.     A.  Plotiu  u.  der  römische  Neoplaton.     §.  128,  5.      ^H 

tischen  Reinigungen  {/.adaQasig} ,  welche  nicht  sowol  auf  die  Mäs- 
sigung  als  auf  die  Ausrottung  der  Triebe  gehn  (I,  1.  2).  In  der 
ajra(yeia  besteht  die  wahre  Gottähnlichkeit;  sie  ist  zugleich  die 
wahre  Freiheit,  denn  ganz  frei  und  bei  sich  selbst,  e(p  eavxov,  ist 
nur  der  vovg  und  wer  sich  ihn  zu  seinem  Dämon  nahm  (I,  2.  3. 
III ,  4.  6).  Nicht  darin ,  dass  der  Mensch  der  Natur  gemäss  lebt, 
denn  das  thun  auch  die  Pflanzen ,  sondern  darin ,  dass  der  vovg 
in  ihm  herrscht,  besteht  seine  wahre  Glückseligiveit  (I,  4. -1 — 4). 
Bei  Weitem  mehr  aber  als  die  praktische  Seite  der  Glückseligkeit, 
tritt  bei  Plotiu  die  theoretische  Seite  derselben  hervor.  Nicht 
das  Handeln  macht  glückselig,  sondern  das  Besitzen,  das  Denken 
und  die  innere  Thätigkeit.  Das  letzte  Ziel  ist  und  bleibt  das 
Schauen  des  Ewigen,  alle  Praxis  ist  um  der  Theorie  willen  (III,  8) 
und  der  Weise  ist  selig  in  seinem  Insichgewandtseyn ,  auch  wenn 
Niemand  seine  Seligkeit  sähe.  Er  hat  das  Ewige  erfasst  und  da- 
rin genügt  er  sich  selbst,  und  kein  Verlust  noch  Schmerz  berührt 
ihn.  Wer  noch  etwas  fürchtet,  ist  noch  nicht  vollendet  in  der 
wahren  Tugend  (I,  4).  Von  den  drei  Wegen ,  die  zu  diesem  Ziele 
führen,  bedarf  der  des  Erotikers  und  Musikers  des  Wegweisers, 
sichrer  ist  der  des  Dialektikers  oder  Philosophen  (I,  3),  der  von 
dem  Aeusseren  und  Sinnlichen  zum  Inneren  und  U ebersinnlichen 
leitet,  dazu  nämlich,  die  Ideen  zu  schauen.  Da  aber  der  die 
Ideen  umfassende  vovq  nicht  das  Höchste  gewesen  war,  so  geht 
über  das  voeiv  und  die  Philosophie  hinaus  die  Liebe  zu  dem  Einen 
und  Guten ,  wogegen  selbst  die  Herrschaft  der  Welt  als  ein  Nichts 
wegzuwerfen  ist  (VI,  7;  I,  6).  Ein  sich  Zurückziehen  von  der  ge- 
sammten  Aussenwelt  ist  zum  Gewinnen  dieses  Staudpunktes  noth- 
wendig.  Man  muss  ruhig  werden  bis  der  Gott  kommt,  oder  viel- 
mehr bis  er  zeigt,  dass  er  nicht  zu  kommen  braucht,  da  er  im- 
mer in  uns  war  (V,  5.  8).  Man  muss  glauben  an  dieses  Erleuch- 
tetseyn,  in  dem,  so  kühn  das  Wort  klingt,  das  Angeschaute  und 
Anschauende  Eins  werden,  so  dass  an  die  Stelle  des  Anschauens 
eines  Anderen,  Ekstase,  Hingabe,  wirkliche  Vereinigung  getreten 
ist  (V,  3.  14.  VI,  0.  10).  In  dieser  Einheit  besteht  die  wahre, 
auch  durch  den  Tod  nicht  zu  unterbrechende,  Seligkeit.  Wie  das 
Denken  an  das  Sinnliche  die  Seele  sinnlich  macht,  so  dass,  wer 
nur  ans  Vegetiren  denken  kann,  sich  selbst  zum  Pflanzenleben 
verdammt  (III,  4.  2),  so  wird,  wer  das  Irdische  vergisst  und  zur 
vollendeten  Innerlichkeit  gelangt  ist ,  über  allem  Wechsel  erhaben, 
als  mehr  denn  ein  einzelner  Mensch,  dem  Ganzen  leben  und  dem 
Einen  (V,  8.  7).  In  diesem  Zustande  wird,  da  ja  schon  hienie- 
den  der  Mensch ,  um  je  vollendeter  er  ist ,  um  so  mehr  Vaterland, 

14* 


212  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

Freunde  u.  s.  w.  vergisst,  er  noch  mehr  Alles,  ja  sich  selbst,  ver- 
gessen haben  (IV,  4.  1.  I,  5.  8).  Nichts  wird  dort  die  Anschau- 
ung des  Einen  stören  noch  unterbrechen,  die  Zeit  wird  in  der 
Ewigkeit  verschwinden,  und  die  Seligkeit  reine  Gegenwart  seyn 
(VI,  9.  I,  5). 

6.  Unter  denen,  welche  neben  Piotbi  den  römischen  Neopla- 
tonismus  vertreten,  verschwinden  die  Namen  des  Amelius,  Ensto- 
clnus  u.  A.  als  unbedeutend  gegen  den  im  J.  233  in  Phönicien 
(in  Tyrus  oder  Batanea)  gebornen  Alalchus ,  der  während  er  des 
Longiiins  Schule  besuchte,  seinen  Namen  in  den  des  Porphy- 
rios  gräcisirt  hatte,  und  in  seinem  30'**''"  Jahre  ein  persönlicher 
Schüler  des  Platin,  später  der  Ordner  seiner  Werke  und  sein 
Biograph  ward,  auch  nach  seinem  Tode  in  Rom  bis  zum  Jahre 
304  lehrte.  Ausser  dem  Leben  des  Biotin ,  mit  dem  er  die  Werke 
seines  Meisters  begleitete,  haben  wir  von  ihm  ein  Leben  des  Py- 
thagoras,  welches  vielleicht  ein  Bruchstück  einer  verloren  gegan- 
genen Geschichte  der  Philosophie  und  sehr  oft  gedruckt  ist  (u.  A. 
in  der  Didotscheu  Ausgabe  des  Diog.  Ld'ert.).  Sein  kritischer, 
in  der  Schule  des  Longin  wohl  noch  geschärfter,  Geist  Hess  ihn 
von  dem  Meister  abweichen,  wo  dieser  unkritisch  erschien.  Da- 
rum nimmt  er  die  Aristotelischen  Kategorien  in  Schutz  und  schreibt 
(vielleicht  geschah  dies  schon  ehe  er  zum  Ploiin  kam)  seine,  in 
vielen  Ausgaben  des  Aristotelischen  Organon  abgedruckte  Elacr/io- 
yrj  TiEQi  Ttov  TtivTE  (pcovaiv,  in  welchen  die  fünf  Begriffe  (später 
Praedicabilia ,  auch  wohl  Univcrsalia  genannt)  yevog,  öiacfOQd, 
sldog,  l'öiov  und  Grf.iߣßij/.6g  abgehandelt  werden,  und  aus  der  na- 
menthch  zwei  Punkte  in  der  Folgezeit  besonders  hervorgehoben 
worden  sind.  Einmal  die  sog.  Arbor  Porphyrii,  d.  h.  die  Abstu- 
fung von  dem  aller  allgemeinsten  {yeny.wrcaog)  Begriff  der  ovala 
durch  die  subalternirenden  Begriffe  acof^ta,  tjiipvxov  u.  s.w.  herab 
bis  zu  dem  eidi/uocaTov  {avS^QioiTog),  und  endlich  dem  aro/<oj'  (Illd- 
Tcov),  seit  welcher  in  den  Logiken  pflegt  wiederholt  zu  werden, 
Ens  sey  der  oßerste  aller  Begriffe.  Zweitens ,  dass  gleich  am  An- 
fange der  Schrift  als  ein  sehr  wichtiges,  hier  aber  nicht  zu  lösen- 
des, Problem  die  Frage  erwähnt  wird,  ob  Gattungen  und  Arten 
etwas  Wirkliches  ausser  uns  oder  blosse  Gedanken  seyen?  ferner: 
wenn  etwas  Wirkliches,  ob  körperlich  oder  unkörperlich?  endlich: 
wenn  unkörperlich,  ob  xiOQiatä  oder  ob  nur  in  den  Dingen  existi- 
rend?  Die  Beantwortung  der  ersten  Frage  hätte  das  Verhältniss 
des  Porphyrius  zu  den  epikureischen  Sensualisten,  der  zweiten 
zu  den  Stoikern,  der  dritten  zum  Plalo  und  Aristoteles  gezeigt. 
Wie  er  die  erste  und  zweite  beantwortet  hatte,  kann  aus  derKli- 


n.  Die  Neuplatoüiker.   B.  Jamblichus  u.  der  syrische  Neoplaton.    §.  129,  1.     213 

max ,  die  alle  drei  bilden ,  herausgelesen  werden.  Das  von  ihm 
aufgestellte  Problem  spielt  in  der  Folgezeit  (s.  unten  §.  158  if.) 
eine  sehr  wichtige  Rolle.  Zeigt  sich  in  dieser  Einleitung  Porp/iy- 
rlifs  dem  Aristoteles  mehr  zugeneigt,  als  sein  Meister,  so  stimmt 
er  dagegen  ganz  mit  diesem  überein  in  seinen  al  nqng  %a  vor^xa 
ucfnQf.(al  (zuerst  gedruckt  in  der  lateinischen  Paraphrase  des  Mar- 
silhfs  Ficiiins,  später  griechisch;  am  vollständigsten  in  der  Pari- 
ser Ausgabe  des  Creuzerschen  Plotin),  welche  einen  Auszug  aus 
des  Plotin  Geisteslehre  enthalten.  Auch  in  religiöser  Hinsicht 
sind  sie  ganz  einverstanden,  wie  sich  aus  des  Porphyrins  Um- 
deutung  der  Homerischen  Mythen  in  Begriffsentwicklungen,  und 
wieder  aus  seiner  Bekämpfung  nicht  nur  der  Gnostiker,  sondern 
der  Christen  überhaupt  ergibt.  Die  32  Capitel  Homerischer  Un- 
tersuchungen (Venet.  Aid.  1521),  so  wie  die  Allegorische  Deutung 
einer  Homerischen  Stelle  in  der  „Nympheugrotte"  sind  uns  erhal- 
ten. Dagegen  sind  die  fünfzehn  Bücher  gegen  die  Christen  da- 
durch, dass  ihnen  auf  Befehl  des  Theodosbis  H  sehr  nachgestellt 
wurde,  und  dass  auch  die  gegen  sie  gerichteten  Schriften  des 
Metl/odins  und  Eusehius  verloren  gegangen  sind,  bis  auf  einzelne 
ganz  unbedeutende  Nachrichten  bei  den  Kirchenvätern,  spurlos 
verschwunden.  Seine  Religiosität  war  übrigens  wie  die  des  Plotin 
vorwiegend  ethisch,  und  hatte,  verglichen  mit  gleichzeitigen  Er- 
scheinungen, einen  rein  griechischen  Charakter,  darum  seine  Po- 
lemik gegen  die  sich  vordrängende  theurgische  Tendenz,  mit  der 
sich  ein  diurch  ägyptische,  magische  und  andere  Elemente  ver- 
setzter Piatonismus  verband,  aus  der  sein  im  späten  Alter  ver- 
fasster  „Brief  an  den  Aegyptischen  Priester  Anebon"  hervorging, 
der  die  gleich  zu  erwähnende  Gegenschrift  hervorrief. 

§.  129. 
B. 

Jamblifhiis  iiud  der  syrische  Neoplatonismus. 

1.  Jitml)livhi(s  aus  Chalcis  in  Cölesyrien,  gleich  ausgezeichnet 
an  Kenntnissen  wie  an  Geist,  sclüiesst  sich  nicht  sowol  an  die 
mehr  philologischen  Platoniker  wie  Plutarch  gewesen  war,  als 
vielmehr  an  die  mathematisch  gebildeten  Neupythagoreer  und  hat, 
nicht  ohne  Einwirkung  orientalischer  Ideen,  eine  Speculation  in 
den  Neuplatonismus  eingeführt,  in  der  sich  Mathematik  und  My- 
stik seltsam  mischen ,  und  die  ihn  zu  einer  herben  Kritik  des  Am- 
mclins  und  Porpf/yriiis  gebracht  hat,  wegen  der  auch  eine  Schrift, 
über  welche  zuerst  Marsilius  Ficinns  in  einem  lateinischen  Re- 
ferat: de  mysteriis  Aegyptiorum,  berichtete  und  die  später  Gate 


214  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

im  griechischen  Urtext  herausgab,  von  Vielen  ihm  zugeschrieben 
■wird.  In  derselben  nimmt  sich  ein  Priester  Abamon  seines  Schü- 
lers, des  Anebfm,  an  den  Porphyrius  geschrieben  hatte,  an.  Jam- 
hiichvs  ist  schwerlich  der  Verfasser.  Von  den  zahlreichen  Schrif- 
ten, die  unzweifelhaft  dem  Jamhlichns  angehören,  sind  die  meisten 
verloren.  So  seine  Commentare  zu  den  Platonischen  Dialogen, 
von  denen  wir  nur  durch  Proklus  wissen,  eben  so  sein  Commen- 
tar  zu  den  Analytiken  des  Aristoteles.  Was  sich  erhalten  hat, 
scheint  Alles  zu  einem  grösseren  Werke  zu  gehören ,  dessen  er- 
stes Buch  nEQi  ßiov  IIv&ccyoQrA.ov  Arccnius  Theodoretus  zuerst 
1598  herausgab.  Daran  schlössen  sich  als  zweites  Buch  die  Aö- 
yot  TTQOTQEjTTrAOi  €ig  (filooofplciv ^  die  ein  Gemisch  Platonischer 
und  Pythagoreischer  Lehren  enthalten.  Sie  sind  von  Demselben, 
später  viel  besser  von  Kiesslivy  herausgegeben.  Das  dritte  Buch 
TTEQi  '/.oivrjg  fiad^r^ii(aTiy,r^g  eniGTrif.n]g  ist  u.  A.  von  Fries  in  Kopen- 
hagen, das  vierte  7r£Qi  rtjg  NrMf.icr/jn-  aQtOjiir]TrArjg  elaaycoyrjg  von 
Tennirliits  1668,  und  das  siebente  Q€nXoyovf.iEra  it^g  aqid^f^irjTix^g 
am  Besten  von  Ast  1817  in  Jjeipzig  edirt. 

2.  Die  ungemessene  Verehrung,  mit  der  nicht  nur  unbedeu- 
tendere Männer  wie  Clirysdiithuis  und  Maximiis,  die  Lehrer  und 
Freunde  des  Kaiser  Julian  und  dieser  selbst,  sondern  auch  Pro- 
lins den  Jamhlichus  ihren  Meister  nennen ,  spricht  für  die  Bedeu- 
tung des  Mannes.  In  der  That  ist  das  Meiste,  was  bei  Prokhis 
als  Zuthat  zur  Plotinischen  Lehre  erscheint,  schon  von  Jumhli- 
chns  gelehrt,  und  dies  nur  übersehen  worden,  weil  es,  da  seine 
eignen  Schriften  verloren  gegangen,  zu  grosser  Aufmerksamkeit 
auf  jeden  Wink  bei  ProUus  bedurfte.  (Kirchner  hat  diese  ge- 
habt.) Als  die  wichtigsten  Neuerungen  des  Jamhlichus  wird  man 
erstens  die  bis  ins  Einzelne  durchgehende  Durchführung  einer,  in 
Triaden  sich  bewegenden,  Begriffsentwicklung  ansehn  müssen,  wel- 
che bei  Proklus  (§.  130)  zur  Sprache  kommen  wird.  Zweitens 
aber,  was  ihn  ganz  besonders  berühmt  gemacht  hat ,  seine  Theorie 
von  den  Götterordnungen,  welche  für  eine  lange  Zeit  eine  Lieb- 
lingslehre namentlich  für  die  war,  die  mit  philosophischen  Grün- 
den das  Christenthum  bekämpften.  Wenn  nämlich  nach  Plotui 
die  Seele  an  dem  rote:,  dieser  an  dem  Einen  oder  Guten  Theil 
gehabt  hatte,  so  glaubte  Jamhlichus ,  dass  dieses  An  sich  Theil 
nehmen  lassen  die  Einheit  schon  trübe,  und  so  erhob  er  sich  zu 
dem  Gedanken  des  noch  abstracteren  tv  a/tiEd^EATor ,  nahm  dann 
aber  weiter  über  jeder  Klasse  von  Wesen  eine  solche  absolut  über- 
weltliche {ivTEQOvaiog)  Henade  an,  und  diese  Einheiten  sind  im 
höchsten  Sinne  seine  Götter.    Indem  er  aber  dann   immer  wieder 


II.  Die  Neuplatoniker.    C.  Der  Neoplatonismus  in  Athen.  Proklos.  §.  130,  1.  215 

nach  dem  Schema  der  Dreiheit  die  einzehien  Momente  eines  Be- 
griffs unterscheidet,  kommt  er  dazu  den  drei  Begiiflfen  vovg,  ipL^rj 
und  ffvoiQ  entsprechend  d^ml  voeqoi,  Lvregy.oai^iioi  und  ly/iöof^iioi 
zu  unterscheiden,  die  als  wirkliche  Götter  unter  der  Iväq  d^ied-- 
e-ATog  stehn.  Diese  ganze  Götterreihe  wird  nun  so  über  die  von 
P/oilii  festgestellte  Reihe  (Eins,  Geist,  Seele,  Natur)  gestellt,  dass 
eigentlich  Alles  zwei  Mal  gedacht  wird,  einmal  in  diesseitiger  Wirk- 
lichkeit, andrerseits  in  jenseitiger  Ueberwirklichkeit. 

3.  Unter  den  Nachfolgern  des  Jamhlichus  scheint  Theodoros 
in  der  Dreitheilung  noch  weiter  gegangen  und  durch  eine  verän- 
derte Terminologie  den  Andern  ein  Anstoss  geworden  zu  seyn. 
Die  Meisten  von  des  JamhlUlnts  Verehrern  aber  scheinen  viel  we- 
niger durch  seine  wissenschaftliche  Bedeutung  gewonnen  zu  seyn, 
als  dadurch,  dass  er  in  seiner  Schrift  über  die  Götterstatuen  und 
auch  sonst,  dem  damals  überall  (auch  bei  den  Christen)  herr- 
schenden Glauben  an  magische  Einwirkungen,  an  die  Macht  von 
Theurgen  u.  s.  w^  eine  philosophische  Grundlage  zu  geben  ver- 
suchte. Auch  die  Neuzeit  hat  oft  an  dem  Jambliclms  nur  diese 
Schwäche  seiner  ganzen  Zeit  bemerkt  und  getadelt. 

§.  130. 

€. 
Der  Neoplatonismus  in  Athen.     Proklos. 

1.  In  Athen,  wo  seit  Iladrian  und  Marc  Aurel  die  verschie- 
denen Schulen  der  griechischen  Philosophie  durch,  vom  Staate 
besoldete,  Lehrer  fortgepflanzt  wurden,  gründete  neben  denselben 
Plntarchns  des  Nc.slorios  Sohn  eine  Privatanstalt,  wo  er  im  Sinne 
des  Ammoiiius  und  der  mehr  philologischen  Neuplatoniker  den 
Pinto  und  Arisloteles  zugleich  commentirte.  Sein  Nachfolger  *S'^- 
rknios,  indem  er  beide  Philosophen,  namentlich  den  Aristoteles, 
als  blosse  "Vorbereitung  zur  wahren  Weisheit,  die  besonders  in 
den  Orphicis  verkündigt  sey,  behandelte,  lenkte  damit  mehr  in 
die  Richtung  der  Neupythagoreer  ein.  Schüler,  obgleich  nur  für 
eine  kurze  Zeit,  des  Ersteren,  Glied  und  sehr  bald  Mitarbeiter 
in  der  Schule  des  Zweiten,  war  der,  durch  welchen  der  Neopla- 
tonismus seine  höchste  formelle  Ausbildung  erhielt ,  und  den  schon 
sein  ganzer  Entwicklungsgang  dazu  befähigte:  Proklos  oder 
auch  Procubis.  Im  J.  412  in  Byzanz  geboren ,  ward  er  früh  nach 
Lykien  gebracht  und  dort  zum  Beruf  des  Rhetors  vorbereitet,  in 
dem  er  sich  dann  in  Alexandria  weiter  ausbildete  und,  so  wie 
als  Stylist,  grossen  Ruhm  erwarb.  Der  Aristoteliker  Olympiodo- 
ros  veranlasste  ihn ,  diese  Laufbahn  zu  verlassen.    Mathematische 


216  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

und  pliilosopliische  Studien  wurden  jetzt  die  einzigen  für  ihn,  na- 
mentlich fesselten  ihn  die  analytischen  Untersuchungen  des  Ari- 
stoteles, dessen  Organon  er  soll  auswendig  gewusst  haben.  Bis 
zu  seinem  Ende  hat  er  den  Jristoteles  eben  so  wie  den  Phito 
den  göttlichen  genannt.  Mit  dem  Letzteren  wurde  er  erst  in  Athen 
bekannt,  wo  er,  wie  gesagt,  zuerst  den  Plntarch  zum  Lehrer, 
den  Si/runi  zum  Helfer  in  seinen  Studien  hatte.  Des  Letzteren 
Nachfolger  ward  er,  und  auf  ihn,  nach  Anderen  auf  PUdo ,  be- 
zieht sich  der  Beiname  des  Prolins  Jiädoyog.  Neben  Pinto, 
dessen  Exeget  und  umdeutender  Commentator  er  bis  an  sein  Ende 
blieb,  hat  er  die  Orphica  und  andere  Erzeugnisse  des  neupytha- 
goreischen Geistes  sehr  hoch  gestellt,  dabei  in  alle  möglichen  My- 
sterien sich  einweihen  lassen,  und  seine  glühende  Frömmigkeit 
durch  das  Mit -Feiern  aller  möglichen  Feste  genährt,  so  dass  er 
sich  rühmt  Hierophant  der  ganzen  Welt  zu  seyn.  Dies  heisst  der 
vorchristlichen,  denn  das  Christenthum  hasst  und  bekämpft  er, 
ein  Hass,  der  darin  Entschuldigung  findet,  dass  zu  seiner  Zeit 
die  Christen  die  Rolle  der  Verfolger  übernommen  hatten,  und  er 
selbst  es  vielleicht  nur  den  monophysitischen  Streitigkeiten  dankt, 
dass  man  ihn  in  Ruhe  Hess,  Vor  dem ,  in  seinem  TS"'*""  Jahre 
erfolgten,  Tode  dieses  d^Eoaeßlöxacogcivr^Q,  wie  ihn  die  pomphafte 
Biographie  des  Mariiws  nennt,  soll  ihm  offenbart  worden  seyn, 
dass  er  zu  der  hermetischen  Kette  von  Trägern  der  mystischen 
Weisheit  gehöre.  Ausser  den  Hymnen  an  verschiedene  Götter, 
ausser  den  mathematischen  Schriften,  ausser  den  (angestrittenen) 
grammatischen  endlich ,  hat  Prohlos  vieles  Philosophische  verfasst. 
Meistens  in  Form  von  Commentaren  zum  Pluto ,  wo  oft  gerade 
wo  er  am  Schlechtesten  exegesirt,  er  sich  am  Meisten  als  Philo- 
soph zeigt.  Cousin's  Prodi  philosophi  Platonici  Opera  Paris  1820 
enthalten  die  Commentare  zum  Timäus ,  Alkibiades  und  Parme- 
nides.  Ausserdem  in  der  lateinischen  Uebersetzung  des  Wilhelm 
von  Moerbecha  die  (Jugend-)  Schriften  über  Fatum  und  Vorsehung. 
Ganz  selbstständige  Werke  sind  die  ^ror/ekoGig  i)eoloyrAri  und 
die  sechs  Bücher  eig  t))v  Ilhniovoq  ^eoloyiav,  welche  vom  Acmi- 
lius  Partus  Hainb.  1618  herausgegeben  sind.  Die  erstere  Schrift 
(Institutio  theologica)  enthält  einen  Abriss  des  Neoplatonismus, 
wie  er  sich  bei  Plotiu  gestaltet  hat,  und  ist  deswegen  ganz  pas- 
send in  die  Didotsche  Ausgabe  von  Creuzer's  Biotin  aufgenom- 
men. Dagegen  finden  sich  in  der  zweiten  (Theologia  Platonica) 
die  yonJamblichiis  gemachten  Aenderungen ,  welchen  Prohlos  sich 
anschliesst.  In  diesen  beiden  Schriften  erscheinen  daher  die  Ele- 
mente gesondert,  die  zu  verschmelzen  Proklos  bestimmt  war,  der 


II.  Die  Neuplatoniker.   C.  Der  Neoplatonismxts  in  Athen.  Proklos.  §.130,2.    217 

eben  deswegen,  trotz  seiner  Anlehnungen   an  beide,  eine  dritte 
Richtung  des  Neuplatonismus  repräsentirt 

2.  Dass  Proklos  die  Wissenschaft  Theologie  nennt,  kann  als 
gar  keine,  dass  er  anstatt  tv  oft  tvcooiq  sagt,  nur  als  sprachliche 
Abweichung  von  Plotin  angesehn  werden,  um  so  mehr  als  oV, 
aycid^ov  gleichfalls  vorkommt.  Dagegen  ist  es  eine  sachliche,  wenn 
er  mit  JambUcIms  dieses  erste  Princip  selbst  wieder  als  eine  Drei- 
heit  nimmt,  indem  er  an  den  Philebus  des  Pinto  anknüpfend  das 
ccjceiQov  und  :n:tQag  in  der  concreten  Einheit  verbunden  seyn  lässt, 
vermöge  welcher  Concretion  die  absolute  Einheit  zum  Inbegriff 
aller  Henaden ,  die  Gottheit  zum  Inbegriff  der  Götter  wird.  Diese 
drei  Momente  stehen  unter  einander  natürlich  nicht  im  Verhältniss 
des  Schwächerwerdens,  sondern  zeigen,  da  das  dritte  das  höchste 
ist,  vielmehr  eine  Evolution.  Dagegen  ist  es  nach  Prohlos  ganz 
wie  nach  Plotin  eine  Abschwächung  (vcpEaig)^  vermöge  der  aus 
jenem  ersten  (triadischen)  Princip  das  zweite  hervorgeht.  Ihr  Ver- 
hältniss ist,  dass  das  zweite  zum  Prädicat  hat,  was  das  erste  ist, 
als  allgemeine  Regel  aber  steht  fest:  das  Haben  steht  dem  Seyn 
nach  (Theol.  Plat.  130).  Prohlos  sucht  sich  die  Nothwendigkeit 
dieser  /cgoodog  klar  zu  machen ,  und  benutzt  dabei  einen  von  Plo- 
tin gegebenen  Wink:  weil  die  Einheit  die  Vielheit  ausschliesst, 
deswegen  muss  diese  jener  gegenüberstehn ,  die  Negation  der  Viel- 
heit, die  in  der  Einheit  liegt,  ist  nicht  als  öT£o/ynx?),  sondern  als 
yevvriTiyJj  zu  fassen  (Theol.  Plat.  108).  Das  Seyn,  als  das  Prädi- 
cat von  Allem ,  steht  natürlich  vor  und  über  Allem.  Da  aber  dem 
vovg  ausser  dem  Seyn  auch  Leben  zukommt,  so  muss  (was  übri- 
gens Plotin  selbst  angedeutet  hatte)  vor  ihn  die  tcoi]  gesetzt  wer- 
den, die  also  hier  die  zweite  Stelle  bekommt.  Auch  sie  muss 
wieder  als  ein  System  {didy.oo(.iog)^  also  als  eine  Trias,  gedacht 
werden,  in  welcher  dvvaf^ng  und  v^raq^ig  die  Momente  sind,  die 
sich  zur  tcor^  vorfiii  verbinden.  Wie  bei  der  ersten  Trias  Pinto, 
so  ist  bei  der  zweiten  Aristoteles  der  Führer  gewesen.  Auf  das 
Leben  folgt  dann  als  das  dritte  Princip  der  vovg.  Dass  in  die- 
sem als  die  drei  Momente  ^liveip,  Trqoitvai  und  LrtorQtfpeiv  an- 
gegeben werden,  ist  nach  dem  wie  Aristoteles  und  Plotin  den 
vovg  gedacht  hatten,  begreiflich.  Mehr  noch  wenn  an  das  ge- 
dacht wird,  was  Jnmblichns  gelehrt  hatte.  Diese  drei  Triaden, 
welche  den  Eingeweihten,  d.  h.  auf  mystische  W^eise,  das  Leben 
Gottes  offenbaren  und  die  manchmal  als  Gott,  Göttlichstes,  Gött- 
liches bezeichnet  werden,  enthalten  den  Inbegriff  alles  wahrhaft 
Sey enden,  die  erste  ovTtog,  die  zweite  Cwrr/wg,  die  diiitc  voeQtog. 
Der  Inbegriff  der  Einheiten  wird  drum  wohl  auch  mit  den  Göttern, 


218  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

der  Lebenspriiicipieii  mit  eleu  Dämonen,  endlich  das  System  des 
vovg  mit  der  Geisterwelt  zusammengestellt.  Wie  bei  Jmnhllclius, 
um  die  Siebenzahl  hervorzubringen,  so  tritt  auch  bei  Prohlos  in 
die  Dreiheiten  die  Vierzahl  und  vermittelst  ihrer  kommen  die 
Zwölfgötter  zu  ihrem  Rechte,  obgleich  sie  immer  untergeordnete 
Götter  bleiben.  Vergleicht  man  wie  oben  (§.  128,  3)  die  Lehre 
des  Platin,  so  hier  die  des  Promos  mit  der  christlichen  Trini- 
tätslehre,  so  wird  nicht  dies  die  grössere  Annäherung  an  sie  ge- 
ben, dass  bei  ProUos  dem  Geist  die  dritte  Stelle  zugewiesen 
wird ,  wohl  aber  dass  Prollos  auf  dem  Sprunge  steht  die  Emana- 
tion (nfeoig),  und  also  das  Subordinationsverhältniss ,  fallen  zu 
lassen.  Er  spricht  es  öfter  aus  (z.  B.  Theol.  Plat.  142),  dass  in 
den  drei  Triaden  sich  die  drei  Momente  des  vnvg  Aviederholen, 
eben  so  die  drei  des  ov.  Ward  Ernst  damit  gemacht,  so  niusste 
der  vovg  als  das  Höchste  gedacht  werden,  die  Abschwächung  der 
Steigerung,  die  Emanation  der  Evolution  Platz  machen.  Dies  ge- 
schieht aber  nicht;  jene  Aeusserungen  sind  vereinzelte  Gedanken- 
blitze, und  die  h'ioöig  wird  immer  als  das  bei  Weitem  Vornehmste 
im  System  behandelt. 

3.  In  der  Physik  weicht  Prohlos  wenig  von  Platin  ab.  Wie 
dieser  stimmt  er  darin  mit  ^ir istateles  iihere'm,  dass  in  jedem  We- 
sen Materie  und  Form  verbunden  seyen.  Die  Platonische  Unter- 
scheidung des  Zeitlichen ,  Sempiternen  und  Ewigen ,  welche  der 
Aristotelischen  Eintheilung  der  theoretischen  Philosophie  entspricht 
(s.  §.  85,  3),  wird  vom  Prohlos  aufgenommen  und  mit  dem  Un- 
terschiede des  Somatischen,  Psychischen  und  Intellectuellen  (Pneu- 
matischen) zusammengestellt.  Das  Erstere  steht  unter  dem  Fa- 
tum ,  das  Letztere  unter  der  Vorsehung.  Die  Seele  hat  die  Macht, 
je  nachdem  sie  durch  Hinneigung  zu  dem  einen  böse,  oder  zu 
dem  andern  gut  wird,  sich  dem  Fatum  oder  der  Vorsehung  un- 
terzustellen. 

4.  Auch  dem  Prohlos  ist  die  höchste  ethische  Aufgabe  die 
Ergreifung  des  Göttlichen.  Dazu  reicht  keiner  der  vier  Platonisch- 
Aristotehschen  Erkenntnissgrade  aus,  sondern  das  GöttHche  will 
erlebt,  mit  dein  ganzen  Wesen  (ciraq^ig)  der  Seele  ergriffen  seyn. 
Indem  diese  in  sich  geht,  und  in  ihr  eignes  advrnv  sich  einhüllt, 
erfasst  sie  den  Gott ,  der  in  ihr  lebt ;  dies  Weben  im  verborgeneu 
Menschen  wird  Enthusiasmus,  auch  wohl  heiliger  Wahnsinn,  ge- 
nannt. Weil  im  Platonischen  Alkibiades  -von  dem  Selbsterkenuen 
und  vom  Schauen  des  Göttlichen  die  Rede,  deswegen  steht  dem 
Prohlos  dieser  Diolog  so  hoch.  Dass  aber  bei  ihm  die  fiavia,  die 
auch  nloTiQ  genannt  wird,  die  nicht  auf  Gründen,  sondern  unmit- 


III.  Die  Kirchenväter.     §.  131.  219 

telbarer  Eiugebiiug  beruht,  die  höchste  Stelle  erhält,  coiitrastirt  selt- 
sam mit  den  Platonischen  und  Aristotelischen  Behauptungen.  Desto 
weniger  mit  dem,  was  der  Apostel  von  der  göttlichen  Thorheit 
sagt,  und  von  der  Gewissheit  dessen,  was  man  nicht  sielit.  Diese 
Gewissheit  soll  durch  Anrufungen  der  Götter,  durch  theurgische 
Handlungen,  gesteigert  werden,  in  deren  Verehrung  es  Prohlos 
dem  Jamhliclnis  und  dem  Verfasser  der  Aegyptischen  Mysterien 
gleich,  vielleicht  zuvor  thut,  während  seine  treue  Anhänglichkeit 
an  Pinto  ihn  dem  Plotin  zugesellt,  und  er  in  Verehrung  des 
Aristoteles  Jene  sowol  als  diesen  tibertrifit.  In  ihm  hat  der  Neo- 
platonismus  seinen  Culminationspuukt  erreicht.  Dies  bleibt  wahr, 
auch  wenn  man  die  geistige  Begabung  und  Originalität  des  Plotin 
sowol  als  des  Jamhlichus  über  die  seinige  stellt. 

5.  Neben  dem  Proklos  ist  sein  Biograph  Marinos.  ausser 
diesem  Isidoros.  Zcnodotos  und  Damascivs  zu  nennen,  Männer 
ohne  Originalität,  welche  überlieferten,  commentirten ,  höchstens 
bis  zur  Spielerei  ausspannen,  was  die  vor  ihnen  erfunden  hatten. 
Als  Justinidii  im  J.  529  die  Philosophenschulen  aus  Vorsorge  für 
die  Christenlehre  schliessen  Hess,  ahndete  er  nicht,  dass,  wenn 
er  sie  hätte  gewähren  lassen,  die  antichristliche  Philosophie,  weil 
sie  in  sich  erstorben,  ungefährlich  gewesen  wäre,  dass  aber,  ge- 
rade weil  sie  nach  dem  Oriente  auswandern  musste,  sie  nach  Jahr- 
hunderten eine  Einwirkung  auf  die  Denkweise  der  Christen  äus- 
sern werde,  so  gewaltig,  wie  er  selbst  sie  nie  gefürchtet  hatte. 

III. 
Die  Kirchenväter. 

Chr.  Fr.  Bössler  Bibliothek  der  Kirchenväter.  Leipz.  1776 — 86.  10  Bde.  J.  A. 
Möhler  Patro-logie  herausg.  v.  Reithmayr.  Regensb.  l""  Bd.  18-lÜ.  Joh.  Huber  Die 
Philosophie  der  Kirchenväter.    München   1859. 

§.  131. 
In  der,  von  der  Welt  zurückgezogenen  Stellung  erstarkt,  kann 
die  Gemeinde  zur  Lösung  einer  zweiten  Aufgabe  übergehn,  ohne 
dass  sie  darin  aufliört,  sich  negativ  gegen  die  Welt  zu  verhalten, 
worein  oben  (§,  119)  die  Bestimmung  des  Mittelalters  gesetzt  wurde. 
Diese  zweite  Aufgabe  ist  die  Unterwerfung  der  Welt.  Dazu  aber 
ist  nöthig,  dass  sie  sich  mit  dem  Gegner  auf  ein  Niveau  stelle, 
und  als  ein  von  der  Welt  anerkanntes,  in  so  fern  selbst  weltli- 
ches, Institut  existire.  Ganz  zuerst  also  hat  sie  dazu,  d.  h.  sie 
hat  zu  einer  Kirche,  zu  werden.  Was  die  jugendliche  Gemeinde 
nicht  hat  und  nicht  zu  haben  braucht,  ist  vom  Begriff  der  Kirche 
untrennbar:   ein  als   Statut  geltender  Lehrbegriff,  vermöge  dess 


220  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

die  Begriffe  der  Orthodoxie,  Heterodoxie  und  Ketzerei  einen  be- 
stimmten Sinn  bekommen.  Während  für  die  apostolische  Thätig- 
keit,  die  nur  auf  die  Verkündigung  des  erschienenen  Heils  ging, 
wissenschaftliche  Begründung  und  Hülfe  der  weltlichen  Macht  un- 
nöthig,  ja  ein  Hinderniss,  gewesen  wäre,  ist  zur  Verwandlung 
des  y.rjQvyi.ia  in  ein  doy/na  die  Wissenschaft,  und  zur  Einführung 
des  letztern  als  eines  gültigen  Statuts  die  Hülfe  des  Staats,  soll 
das  Statut  überall  (katholisch)  herrschen,  des  Universal  -  Staates 
nöthig.  Vermittelst  beider  wird  aus  der  Gemeinde  die  Kirche, 
oder  entsteht  die  letztere  als  solche.  Diejenigen,  welche  jene  Ver- 
wandlung vornehmen ,  werden  darum  mit  Recht  als  (Mit-)  Erzeuger 
oder  Väter  der  Kirche  bezeichnet, 

§.  132. 
Die  Dogmenbildung,  die  Verwandlung  der  Geschichte  in  ewige 
Wahrheit  als  solche,  geschieht  durch  Philosophie,  und  die  jene 
Verwandlung  vornehmen  sind  Philosophen.  Daraus  aber  folgt 
nicht,  dass  die  Dogmen  Philosopheme  sind.  Von  diesen  unter- 
scheiden sie  sich  dadurch,  dass  sie  nur  das  Resultat,  nicht  das 
Resultiren  mit,  aussprechen,  darum  nur  Behauptungen,  nie  Be- 
gründungen sind.  Indem  die  Kirchenväter  stets  die  geschichtliche 
Offenbarung  zum  Ausgangspunkte  machen,  dann  aber  zu  der  da- 
raus zu  folgernden  ewigen  Wahrheit  fortgehn,  ist  ihr  Verhältniss 
zur  Geschichte  positiv  und  negativ  zugleich ,  und  diese  Berührungs- 
punkte sowol  mit  den  Gnostikcrn  als  den  (neuplatonischen)  Phi- 
losophen ,  die  eben  so  auch  Djfferenzpunkte  von  beiden  sind,  haben 
ihnen  den  Namen  der  wahren  Gnostiker,  der  ächten  Philosophen 
eingebracht,  wie  sie  andrerseits  es  erklärlich  machen,  dass  sie 
sich  an  beide  anlehnen  und  beide  bekämpfen. 

§.  133. 
Da  es  sich  darum  handelt,  den  Inhalt  festzustellen,  der  als 
wahr  gelten  soll,  so  werden  sich  die  Kirchenväter  natürhch  an 
diejenige  Philosophie  anlehnen  müssen,  die  hinsichtlich  ihres  In- 
halts den  christlichen  Ideen  am  Nächsten  gekommen  war.  Dies 
ist  im  Praktischen  der  eklektisch  gemilderte  Stoicismus ,  im  Theo- 
retischen der  von  Alexandria  ausgegangene  Eklekticismus  und  Neu- 
platonismus.  Es  ist  daher  keine  Inconsequenz  darin  zu  sehn,  wenn 
in  dieser  Zeit  in  der  Gemeinde  Misstrauen  gegen  die  Antiplato- 
niker  herrscht  und  Peripatetiker  als  Ketzername  gilt,  während 
ein  Jahrtausend  später  sich  die  Sache  gerade  umkehrt :  es  ist  der 
richtige  Tact,  der  verschiedenen  Zeiten  verschiedene  Aufgaben 
zuweist.  Dieses  feine  Gefühl  für  Das,  was  vor-  oder  unzeitig,  und 
Das,  was  an  der  Zeit  ist,  muss  überhaupt  bei  der  Art,  wie  die 


TTT.  Die  Kirchenväter.     Die  Apologeten.     §.  134,  1.  ^^1 

gleichzeitige  und  spätere  Kirche  Einen  beurtheilt ,  an  erster  Stelle 
beriicksichtigt  werden.  Oft  viel  mehr,  als  der  Inhalt  der  von  der 
Kirche  beiirtheilten  Lehren.  Langsam  und  gleichsam  zögernd, 
gibt  die  Gemeinde  die  misstrauische  Stellung  gegen  die  Wissen- 
schaft auf.  Zuerst  duldet  sie  dieselbe  nui-  als  eine  Sache  der 
Xoth,  wo  sie  das  einzige  Mittel  scheint,  die  Gemeinde  vor  Angrif- 
fen aller  Art  zu  sichern.  Die  Apologeten  des  Christentimms 
gegen  Judenthum,  Heidenthum  und  Ketzerei  sind  darum  die  Er- 
sten, in  welchen  die  Philosophie  zugelassen,  und  nicht  mit  dem 
Ketzernamen  belegt  wird. 

§.  134. 
1.  Der  Erste  und  zugleich  Bedeutendste ,  der  hier  zu  nennen, 
ist  Jiistinus,  der  Philosoph  und  Martyr  (103—167).  Unter  den 
ihm  zugeschriebenen  Schriften  —  (zuerst  1551  von  fiob.  StepJta- 
mis,  dann  sehr  oft  herausgegeben,  u.  A.  von  Prndcnt.  Muranus 
Paris  1742  und  von  Otto  Jena  1842  in  3  Bden.  In  J.  P.  Mlgne 
Patrologiae  cursus  completus  füllen  sie  in  der  griechischen  Patro- 
logie  den  6'''"  Band)  —  gehören  gewiss  ihm  an  die  beiden  Apo- 
logien und  das  Gespräch  mit  dem  Juden  Tryphon.  Die  ersteren 
sind  an  die  römischen  Kaiser  Ant.  Pins  und  Marcus  Aurelius 
gerichtete  Schutzschriften  für  die  Christen,  in  welchen  der,  durch 
stoische  und  platonische  Philosophie  gebildete,  erst  später  Christ 
gewordene  Verfasser  die  Yerläumdungen  gegen  Lehre  und  Leben 
der  Christen  zurückweist,  und  dagegen  die  theoretische  und  prak- 
tische Schwäche  des  Heidenthums  darthut.  Dabei'  ist  er  aber  weit 
entfernt ,  allen  Heiden ,  namentlich  den  Philosophen ,  alle  Wahrheit 
abzusprechen:  im  Sokrates  sieht  er  eine  Offenbarung  des  Logos, 
den  Plato,  ja  den  Heraklit.  nennt  er  Christen.  In  der  dritten 
Schrift  wird  besonders  die  Abweichung  vom  jüdischen  Ritualgesetz 
so  wie  die,  den  Juden  so  anstössige,  Lehre  vom  Kreuzestode 
Christi  in  Schutz  genommen.  Die  Lehre  von  dem,  in  jedem  Ver- 
nünftigen wirksamen,  in  Christo  Fleisch  gewordenen  göttlichen 
Logos ,  die  ferner  von  dem  aus  der  Willensfreiheit  hervorgegange- 
nen Fall,  und  der  sich  daran  anschliessenden  Erbsünde ,  die  end- 
lich von  der  Wiedergeburt  des  Menschen  werden,  die  ersteren  nach 
Principien  des  Piatonismus,  die  letzte  oft  in  grosser  Uebereinstim- 
mung  mit  den  Stoikern,  erörtert.  Das  Subordinationsverhältniss 
in  der  Trinität,  indem  die  Zeugung  des  Sohnes  zwar  vor  die  Schö- 
pfung gesetzt,  aber  nicht  entschieden  als  ewig  gefasst,  der  h.  Geist 
sogar  unter  die  Engel  gesetzt  wird,  steht  der  Lehre  des  Philo 
mindestens  eben  so  nahe,  als  der  späteren  katholischen  Lehre. 
Dass  aber  seine  Apologien  an  der  Zeit  waren,  und  dass  er  für 


222  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

die  zweite  derselben  den  Martyrtod  erlitt ,  lässt  die  spätere  Kirche 
gegen  solche  Abweichungen  Nachsicht  üben. 

2.  Ein  Geistesverwandter  des  Justin  ist  Athenagoras ,  des- 
sen an  Marc  Aurcl  gerichtete  Apologie ,  und  Schrift  über  die  Auf- 
erstehung (die  erstere  zuerst  1541  von  Petrus  Nminius  in  Paris 
und  Löwen,  die  zweite  1551  von  /«.  Stephanus  in  Paris  heraus- 
gegeben) u.  A.  in  des  Mnrauiis  Ausgabe  der  Justinschen  Werke 
sich  finden.  Die  erstere  sucht  aus  dem  Begriffe  des  Durch  sich 
seyns  zu  beweisen,  dass  der  Monotheismus  die  einzig  vernünftige 
Religion  sey;  zugleich  wird  aber  gezeigt,  dass  damit  die  Lehre 
vom  Vater,  Sohn  und  Geist  nicht  streite,  während  der  Polytheis- 
mus auf  einer,  durcli  den  Trug  von  Dämonen  genährten,  Verwechs- 
lung von  Gott  und  Materie  beruhe.  Wie  Justin,  so  sieht  auch 
Athenngords  in  den  Lehren  der  Philosophen  die  Wirksamkeit  des 
göttlichen  Logos,  um-  dass  dieselben  gemeint  hätten,  die  Wahr- 
heit selbst  gefunden  zu  haben,  während  Propheten  und  Apostel 
es  wüssten,  dass  sie  nur  gleich  Blas  -  Instrumenten  sich  zum  Hauch 
Gottes  verhalten.  In  der  Schrift  über  die  Auferstehung  ist  der 
leitende  Gedanke,  dass  der  Mensch  nicht  nur  Seele,  dass  eine 
Menge  von  Verschuldungen  und  Tugenden  das  leibliche  Moment 
voraussetzen,  und  dass  Lohn  und  Strafe  den  ganzen  Menschen 
treffen  müssen. 

§.  135. 

1.  Zu  den  bisher  Genannten,  deren  Vertheidigungen  besonders 
die  Abwehr  der  äussern  Gewalt  bezwecken ,  gesellen  sich  zweitens 
Solche,  welche  durch  wissenschaftliche  Angriffe  auf  das  Christen- 
thum  zu  seiner  Vertheidigung  veranlasst  wurden.  Hier  nehmen 
des  Theojjliilus ,  eines  als  Heiden  gebornen,  als  Bischof  von  An- 
tiochia  im  J.  186  gestorbenen  Mannes  drei  Bücher  an  Autobjkos, 
einen  wissenschaftlich  gebildeten  Heiden,  einen  würdigen  Platz 
ein.  (Zuerst  1546  von  C.  Gesiter  in  Zürich,  dann  öfter,  u.  A. 
1742  von  Pnid.  Maranus  herausgegeben.)  Die  Lehre  von  der 
Dreiheit  in  Gott,  die  hier  zum  ersten  Male  als  Trias  bezeichnet 
wird,  die  ferner  von  dem  löyoq  hdiüderog  und  7rQO(fOQi/.6g  wer- 
den sehr  scharfsinnig  vertheidigt.  Nur  die  Lehre  vom  h.  Geist 
laborirt,  weil  derselbe  bald  mit  der  Weisheit  gleichgesetzt,  bald 
von  ihr  unterschieden  wird,  an  einer  grossen  Unbestimmtheit. 

2.  Zum  Theil  mit  nachweisbarer  Anlehnung  an  Theopkilus 
vertheidigt  Irenaeus  (Schüler  des  Poly/,arp,  als  Bischof  von  Lyon 
202  hingerichtet)  die  christliche  Lehre  nicht  sowol  gegen  die  heid- 
nische Philosophie,  als  gegen  die  daraus  hervorgegangenen  gno- 
stischen  Ketzereien.    Seine  Hauptschrift:  Gegen  die  fälschlich  so- 


in.  Die  Kirchenväter.     Die  Apologeten.     §.  136.  223 

genamite  Gnosis  in  fünf  Büchern ,  ist  nur  in  einer  alten  buchstäb- 
lich treuen  lateinischen  Version  (Adversus  haereses  zuerst  1526 
von  Erasmus  in  Basel,  dann  öfter  u.  A.  1710  von  Massnet,  zuletzt 
1853  von  Stieren  Lpz.  in  2  Bden.  herausg.,  bei  Miyne  a.  a.  0. 
Bd.  7j  zu  uns  gelangt.  01)gleich  seine  Argumentation  sich  beson- 
ders auf  Schrift  und  Tradition  beruft,  so  verschmäht  er  doch  auch 
das  Räsonnement  nicht,  um  die  Unhaltbarkeit  der  gnostischen 
Aeonenlehre  und  die  Richtigkeit  der  apostolischen  Lehre  darzuthun. 

3.  Von  einem  Schüler  des  Irena ns,  Hippolytns,  der  als 
Bischof  von  Portus  Romanus  den  Martyrtod  starb ,  wusste  man 
lange  Zeit  nur,  dass  er  ein  Werk  gegen  alle  Häresien  verfasst 
habe,  in  welchem  die  Schrift  des  Irenüus  benutzt  war.  Bimsen 
(Hippolytus  und  seine  Zeit  Leipz.  1852)  hat  bewiesen,  dass  die 
früher  dem  Origenes  zugeschriebenen  Philosophumena  das  erste, 
die  von  Em.  Miller  1851  herausgegebeneu  Bücher  die  sechs  letz- 
ten Bücher  dieses  "Eleyyoi  sind.  Es  fehlen  nur  das  zweite,  dritte 
und  halbe  vierte  Buch,  in  denen,  wie  im  ersten,  die  griechischen 
Systeme  dargestellt  waren,  aus  denen  die  Häretiker  geschöpft  ha- 
ben sollen.  In  dem  letzten  Buche  sind  die  eignen  Ansichten  des 
IJippolißtns  auseinandergesetzt.  Die  Lehre  von  dem  Einen  Gott, 
dem  die  vier  Elemente  nicht  gegenüberstehn,  sondern  ihren  Ur- 
sprung danken,  die  ferner  von  dem  Logos,  der  einmal  in  Gott 
ist  und  dann  wieder  die  in  Ilnu  enthalteneu  Gedanken  als  offen- 
barende Stimme  ausspricht,  endlich  aber  in  sichtbarer  Gestalt  er- 
scheint, —  das  sind  die  hervorstechenden  Punkte.  (Beste  Aus- 
gabe des  Hippolytus  von  Duncher  und  Schneid eivin.  Götting.  1830.) 

§.  136. 

Nicht  nur  bei  einzelnen  Verfolgungen  und  AngnÖ'en ,  sondern 
wegen  ihres  Berufes  fortwährend,  hatten  die  Lehrer  der  AI  ex  an - 
drinischen  Katechetenschule  Veranlassung,  die  christüche 
Lehre  als  die  veruunftgemässe  darzustellen.  Wie  Pantünns,  der 
gewöhnlich  als  der  Erste  in  ihrer  Reihe  angeführt  wird,  so  war 
sein  grosser  Schüler  Clemens  (zum  Unterschiede  vom  römischen 
Alexandriuus  genannt)  als  Heide  geboren,  aber  schon  früh  zum 
Christenthum  übergetreten.  Seit  189  Nachfolger  des  Pantünns 
ist  er  ums  Jahr  217  gestorben.  Von  seinen  Werken  —  (zuerst 
1550  von  Petrus  Victorius  in  Florenz,  dann  besser  von  Fr.  Sijl- 
burg  1592  in  Heidelberg,  von  Dun.  Heinsius  1616  in  Leyden  und 
viel  besser  von  Joh.  Potter  1715  in  Oxford  griechisch  und  latei- 
nisch herausgegeben,  bei  Migne  a.  a.  0.  Bd.  8  und  ^)  sucht  der 
Äo/og  TTQOTQenTi/Mg  oder  die  cohortatio  ad  gentes  das  Vernunft- 
widrige des  Heidenthums  nachzuweisen;  der  daran  sich  anschlies- 


224  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

sende  Trmdayor/og  zeigt  in  Christo  den  wahren  Führer  zur  Sitt- 
lichkeit, der  im  Alten  Bunde  durch  Furcht,  im  Neuen  durch  Liebe 
geleitet  habe;  endlich  das  dritte  und  wichtigste  Werk,  die  acht 
Bücher  ^TQtoficcTelg,  sucht  durchzuführen,  dass  das  Christenthum 
die  höchste  Philosophie  ifet,  zu  der  sich  die  griechische,  gerade 
wie  das  jüdische  Gesetz,  nur  wie  ein  Bruchstück  verhält.  Der 
Glaube  an  die  Offenbarung  {/riaug)  wird  als  die  Wurzel,  die  Er- 
kenntniss  {yrtoaig)  als  die  Krone  gefasst,  das  Mittel  zu  der  letz- 
teren zu  gelangen  ist  das  Vcrständniss  (ijiiGTrj/'tj)  des  Geglaub- 
ten. Von  der  falschen  Gnosis  unterscheidet  sich  die  wahre  da- 
durch, dass  sie  Früchte  der  Sittlichkeit  und  wahre  Bruderliebe 
erzeugt,  darum  al)er  auch  nicht  verächtlich  auf  den  Glauben  her- 
absieht. Damit  ist  der  Vorzug  vereinbar,  den  er  ihr  vor  dem 
Glauben  gibt ,  welchen  letztern  er  oft  mit  dem  Ueberredetseyn  und 
der  Verwunderung  zusammen-  und  also  der  richtigen  Meinung  des 
Pluto  (vgl.  §.  76,  2)  gleich  stellt. 

§•  137. 
1.  Dass  Origenes  (185  —  254),  des  Clemens  Schüler,  aber 
wahrscheinlich  auch  des  Ammonius  Saccus  Zuhörer,  hinsichtlich 
seiner  Rechtgläubigkeit  nicht  so  unangetastet  dasteht,  wie  sein 
Lehrer ,  ist  nicht  nur  aus  dem  Inhalt  seiner  Lehre  zu  erklären, 
denn  darin  steht  er  der  späteren  katholischen  Lehre  viel  näher 
als  Justin  der  Martyr ,  auch  nicht  aus  dem  Umstände ,  dass  Anns 
ihm  Vieles  entlehnt,  denn  dies  wird  dadurch  weit  aufgewogen, 
dass  er  sehr  bedeutende  Ketzer,  wie  den  Beryll  von  Bostra,  be- 
kehrt, dass  Dionysiiis  der  Grosse  und  Gregor  der  Wunderthäter 
seine  persönlichen,  ihn  sehr  verehrenden  Schüler,  sind,  und  dass 
Alhanasiiis  seinen  Schriften  viel  verdankt.  Sondern  der  eigent- 
liche Grund  liegt  darin,  dass  er  der  Erste  ist,  der  aus  eignem 
inneren  Drange  den  Versuch  macht,  das  Evangelium  als  ein  Sy- 
stem von  Lehren  darzustellen.  Vom  katholischen  Standpunkte 
aus  ist  darum  auch  seine  Jugendschrift  über  die  Grundlehreu  der 
christlichen  Religion  (in  vier  Büchern,  die  wir  indess  nur  in  der 
sehr  freien  Uebersetzung  des  Ixirfinns  besitzen)  weit  der  späteren, 
apologetisch  -  polemischen ,  gegen  Celsns  (in  acht  Büchern)  nach- 
gesetzt worden.  Nachdem  einzelne  seiner  Werke  schon  herausge- 
geben waren,  erschien  1512  in  Paris  die  erste  Gesammtausgabe 
von  Merlin.  Die  im  J.  1668  von  Uiiet  begonnene  Ausgabe  ist 
nicht  vollendet,  enthält  aber  eine  sehr  schätzbare  Einleitung  des 
Herausgebers.  Die  griechisch -lateinische  Ausgabe  des  Benedicti- 
ners  de  la  lliie  1733 — 39  ist  in  vier  Foliobänden  abgeschlossen. 
Ein  Abdruck  derselben  ist  die  von  Lommatzsch  Berlin  1831 — 47 


III.  Die  Kirchenväter.     Origenes.     §.  137,  2.  3.  225 

25  Bde.  {Migi}e  gibt  die  Werke  a.  a.  0.  Bd.  11—17.)  Uebri- 
gens  ist  der  grösste  Theil  von  des  Origenes  Schriften  (man  sagt 
sechs  tausend)  verloren  gegangen. 

2.  Dass  Origenes  nicht  nur  neben  dem  historischen  Sinn  der 
h.  Schrift,  der  ihm  als  der  somatische  gilt,  wie  Philo  einen  mo- 
ralischen (psychischen)  annimmt,  sondern  ausserdem  noch  einen 
speciüativen  (pneumatischen),  setzt  ihn  in  Stand,  neben  dgr  niong 
eine  yviZotg  zu  statuiren  und  dennoch  die  Umdeutungen  der  ketze- 
rischen Gnostiker  zu  bekämpfen.  Die  eben  angeführte  Reihenfolge 
zeigt,  dass  ihm  die  theoretische  Seite  der  Religion  am  Meisten  am 
Herzen  liegt,  ^ie  denn  auch  seine  Bekehrungen  meistens  in  der 
Widerlegung  von  Zweifeln  bestanden.  In  der  Trinitätslehre  macht 
er  gegen  Jirsfin  den  Fortschritt,  dass  er  die  Zeugung  des  Sohnes 
als  ewig,  den  h.  Geist  als  über  alle  Geschöpfe  erhaben  denkt,  je- 
doch über^\^ndet  auch  er  das  Subordinationsverhältniss  nicht  ganz. 
Die  Offenbarung  Gottes  ad  extra  betreffend,  lehrt  Oi'igcnes  zwar 
nicht  die  Ewigkeit  der  gegenwärtigen  Welt,  wohl  aber,  dass  der- 
selben viele  andere  Welten  vorausgegangen  seyen,  so  dass  die 
Schöpferthätigkeit  Gottes  nie  angefangen  habe.  Die  von  Ewigkeit 
her  existirenden  Geister  sind  gefallen,  und  je  nach  dem  Grade 
ihrer  Verschuldung  in  verschiedene  Daseynsgebiete,  einige  als  See- 
len in  menschliche  Leiber,  versetzt.  (An  die  Stelle  des  indivi- 
duellen Falls  jeder  Seele  trat  später  der  der  ganzen  Gattung,  was 
freilich  mit  der  Präexistenz  der  einzelnen  Geister  schwer  zu  ver- 
einigen ist.)  Die  materielle  Existenz  ist  daher  nicht  Grund,  son- 
dern Begleiterin  der  Sünde.  Christus,  mit  dessen,  gleichfalls  prä- 
existireuder ,  Seele  sich  der  Logos  verbindet,  wird  Fleisch,  um  in 
seinem  Tode  sich  als  Lösegeld  für  die  Menschen  dem  Satan  hinzu- 
geben. Sein  Verdienst  wird  im  Glauben  angeeignet,*  der  allein 
rechtfertigt,  der  aber  die  heiligen  Werke  zur  Frucht  hat.  Dabei 
wird  der  Glaube  nie  als  ein  nur  persönliches  Verhältniss  zu  Chri- 
sto, sondern  immer  als  ein  Stehen  in  der  Gemeinschaft  der  Gläu- 
bigen gedacht.  Da  zu  dieser  Gemeinschaft  Alle  Ijestimmt  sind,  so 
erscheint  es  dem  Origenes  als  ein  Verfehlen  des  göttlichen  Zwe- 
ckes, wenn  nicht  eine  Wiederbringung  aller  Dinge  Alles  ins  Geleis 
bringt.  Selbst  der  letzte  Feind  wird,  nicht  hinsichtlich  seiner  Sub- 
stanz, sondern  nur  so  vernichtet  werden,  dass  er  aufhört  Feind 
Gottes  zu  seyn. 

3.  Ein  halbes  Jahrhundert  nach  Origenes  stirbt  den  M.artyr- 
tod  Met// od  ins  —  (Werke  1644  von  Cambesis,  1656  von  Alla- 
liiis,  1672  abermals  von  Cambesis  herausgegeben,  bei  Migne  a.  a.  0. 
Bd.  18)  —  ein  heftiger  Gegner  des  Origenes  und  doch  ihm  gei- 

trdmann ,  Gesch.  d.  PUil.  I.  -i  r^ 


22Ö  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

stesverwandt,  dessen  tiefsinnige  Erörterungen  über  Adam  und  Chri- 
stus, Eva  und  die  Kirche,  so  wie  darüber,  dass  Jeder  gewisser 
Maassen  ein  Christus  sey,  zu  den  interessantesten  des  dritten  Jahr- 
hunderts gehören. 

§.  138. 

Wo  das  Gefühl,  zum  kleinen  auserwählten  Häuflein  zu  gehö- 
ren, dej-  Gemeinde  abhanden  kommt  und  Verfolgungen  es  nicht 
von  Neuem  hervorrufen,  da  hört  in  immer  Mehreren  das  Leben 
bloss  in  Erinnerungen  und  Hoffnungen  auf  und  es  entsteht  in  ihr 
das  Bedürfniss,  sich  dess  zu  getrösten,  was  das  ewig,  darum  aber 
auch  schon  in  der  Gegenwart,  Wahre  ist  in  den  Berichten  und  Ver- 
heissungen  der  Apostel.  Werden  nun  auf  die  Frage  darnach  ver- 
schiedene Antworten  gegeben,  so  entsteht  in  der  Gemeinde  das 
Bedürfniss,  in  bestimmten  Formeln  ausgesprochen  zu  haben,  was 
nicht  nur  wirklich  geschehen,  sondern  was  wahr  ist  und  was  Alle 
dafür  halten.  Diesem  Bedürfniss  begegnet  von  der  andern  Seite 
das  Verlangen  des  Staates,  der  wissen  muss,  welches  die  Grund- 
überzeugungen eines  so  grossen  Theils  seiner  Bürger  sind,  ehe  er 
sie  allen  übrigen  gleichstellen  kann,  und  der,  weil  Religionsstrei- 
tigkeiten gegen  sein  eignes  Interesse,  mit  allen  ihm  zu  Gebote  ste- 
henden Mitteln  darauf  hinwirken  wird,  dass  eine  Einigung  zu 
Stande  komme.  Treten  in  solcher  Zeit  Männer  auf,  die,  wie  Ori- 
gciics,  den  Innern  Drang  haben,  aus  der  geschichtlichen  Verkün- 
digung eine,  formulirte  Wahrheit  enthaltende,  Lehre  zu  machen, 
so  wird  dies  nicht  nur  den  Beifall  des  Staates  haben  müssen,  son- 
dern auch  die  Gemeinde  wird  sie  willkommen  heissen.  Mit  den 
Verfolgungen  hört  das  Bedürfniss  der  Vertheidigung  auf,  und  au 
die  Stelle  der,  von  der  Gemeinde  geduldeten,  Apologeten  treten 
jetzt  die,  ^on  ihr  geehrten  Dogmeubildner. 

§.  139. 

Je  mehr  die  eben  (§.  138)  angedeuteten  Umstände  zusammen- 
fallen, um  so  normaler  wird  die  Dogmenbildung  vor  sich  gehn. 
Darum  gewährt  den  erfreulichsten  Anblick  die  Entstehung  desje- 
nigen Dogma's,  mit  dessen  Feststellung  vernünftiger  Weise  der  An- 
fang gemacht  werden  muss,  weil  es  die  Voraussetzung  aller  an- 
deren bildet:  des  Dogma's  von  der  Trinltät.  Die  diametral 
entgegengesetzten  Einseitigkeiten  des  judaisirenden  Monarchianis- 
mus,  wie  ihn  u.  A.  Sabellhis  repräsentirt ,  und  des  dem  Paganis- 
mus zugewandten  Arlus,  machen  eine  Entscheidung  noth wendig. 
Gleichzeitig  herrscht  ein  Kaiser,  auf  dessen  Ruf  mehr  als  drei- 
hundert Bischöfe  sich  versammeln,  und  der,  ganz  Repräsentant 
des  Staatsinteresses,   vor  Allem  eine  bestimmte  Formel  will,   die 


III.    Die  Kirchenväter.     Athanasius.     §.  140,  1.  2.  272 

von  Allen  für  verbiudlicli  erklärt  ist,  dafür  aber  auch  verheisst, 
ihr  in  der  ganzen  gebildeten  Welt  Geltung  zu  verschaffen,  ja,  wenn 
es  nöthig  scheint,  zu  erzwingen.  Endlich  aber  wirkt  als  Organ 
der  Gemeinde  der  grösste  Kirchenvater,  den  das  Morgenland  er- 
zeugte. Mit  apostolischem  Eifer  hat  Athanasius  die  Botschaft  des 
Heils  ergriffen;  er  vertheidigt,  zum  Martyrthum  bereit.  Alles,  was 
die  Propheten  und  Apostel  erzählt  und  verheissen  haben,  und  ist 
dadurch  sicher  gewesen  vor  den  Umdeutungen  der  häretischen  Gno- 
stiker.  Tief  eingeweiht  aber  in  die  wahre  Gnosis  eines  Clemens 
und  Origenes,  erweist  er  sich  als  Geistesgenosse  gerade  des  letz- 
teren, wenn  er  nicht  damit  zufrieden  ist,  dass  bei  der  Feststellung 
des  Dogma's  nur  bil)hsche  Ausdrücke  gebraucht  werden.  Mit  Eecht, 
denn  es  handelt  sich  ja  eben  darum,  Solches  festzustellen,  was  die 
Bibel  nicht  festgestellt  hat.  Die  oft  an  Despotismus  streifende 
Strenge,  mit  der  er  auf  Ordnung  und  Einstimmigkeit  in  Lehre  und 
Cultus  hält,  macht  ihn  zu  einem  Gesinnungsgenossen  des  Cyprian 
und  anderer  abendländischer  Kirchenlehrer.  Endlich  aber  hat  er 
genug  von  der  wahren  Weltklugheit,  um  die  Hülfe  der  Weltmacht 
zum  Geltendmachen  des  festgestellten  Dogma's  nicht  zu  verschmä- 
hen, jeder  Einmischung  aber  in  die  Feststellungen  selbst  zu  wi- 
derstehn ,  während  die  Arianer  mehr  oder  minder  zu  Hoftheologen 
werden. 

§.  140. 
Athanasius. 

J.  A.  Möhler   Athanasius  der  Grosse  und  die  Kirche  seiner  Zeit.     Mainz   1827. 
2  Bde.     H.    Voigt  die  Lehre  des  Athanasius  von  Alexandria.     Bremen  1861. 

1.  Athanasius,  m  Alexandria  im  J.  296  geboren,  seit  327 
Bischof  daselbst,  und  373  gestorben,  hat,  obgleich  fünfmaliges  Exil 
ihn  zwanzig  Jahre  von  seinem  Bisthum  entfernt  hielt,  mit  dem 
grössten  Eifer  und  Erfolg  in  ihm  und  zugleich  als  Schriftsteller 
gewirkt.  Was  er  in  letzterer  Beziehung  geleistet,  darüber  gestat- 
ten seine  uns  erhaltenen  Werke  ein  Urtheil.  (Ausgaben:  Princ. 
Heidelberg  1601.  II  Vol.  Fol.  Ed.  Mouffancon  Paris  1698.  HI.  Fol. 
emend.  cur.  Giustiniani  Patav.  1777.  IV.  Fol.  bei  Migne  a.  a.  O. 
Bd.  25—28.) 

2.  Schon  vor  Ausbruch  der  Arianischen  Streitigkeiten  hatte  er 
in  seiner  Bekämpfung  des  Heidenthums  und  seiner  Vertheidigung 
der  Lehre  von  der  Menschwerdung  sich  als  einen  Mann  erwiesen, 
der  trotz  eines  Orif/enes  und  tiefer  als  dieser  in  die  Grundfragen 
christlicher  Lehre  einzugehen  wusste,  ohne  dass  dies  seine  Ehrfui'cht 
vor  dem  Buchstaben  der  h.  Schrift  und  der  Tradition  schwächte. 
Er  war  Diakon  und  Geheimschreiber  des  Bischofs  Alexander  von 

15* 


228  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

Alexaiidria,  als  dieser  sich  gegeu  die  Ketzerei  des  Arius  erklärte, 
und  in  dem  Briefe  desselben  an  die  katholische  Kirche  möchte  man 
den  Geist  des  Athunasius  erkennen.  Arius,  ein  durch  Gelehrsam- 
keit, dialektische  Schärfe  und  sittliche  Strenge  ausgezeichneter 
Presbyter,  sah,  weil  ihm  ein  directes  Verhältniss  der  Gottheit  zur 
Welt  die  erstere  zu  verunehren  schien,  in  dem  Logos  ein  demiur- 
gisches  Mittelwesen,  das  weder  ewig  sey,  noch  auch  die  adäquate 
Erkenntniss  habe  oder  mittheilen  könne.  Dieses  oberste  aller  Ge- 
schöpfe, dessen  Einheit  mit  dem  Vater  in  der  üebereinstimmung 
mit  dessen  Willen  besteht,  ist  in  Christo  veiieiblicht  und  vertritt 
daher  in  ihm  die  Stelle  der  vernünftigen  Seele.  Wie  Arius,  so 
lehrte  auch  Aster  ins,  ein  gewandter  Streiter,  aber  weder  an  Be- 
gabung noch  an  Ernst  der  Gesinnung  Jenem  gleich.  Auf  dem  Con- 
cil  von  Nicäa,  welches  besonders  wegen  des  Arius  gehalten  wurde, 
befand  sich  Alhunasius  als  Begleiter  seines  Bischofs,  bestritt  in 
mündlicher  Rede  den  Arius  und  trug  am  Meisten  dazu  bei,  dass 
nicht  eine,  aus  biblischen  Ausdrücken  zusammengesetzte  Formel, 
wie  sie  besonders  Eusebius  von  Cäsarea,  der  gelehrteste  Mann  sei- 
ner Zeit,  wünschte,  und  die  auch  den  Arianern  willkommen  gewe- 
sen wäre,  durchging,  sondern  die  Formel  ofionvaiog  angenommen 
wurde.  Seine  Hauptthätigkeit  aber  beginnt  erst  nach  dem  Concil, 
wo  er  sowol  gegen  die  Arianer  als  auch  gegen  den,  ihnen  sich  zu- 
neigenden, Eäsebias  die  Beschlüsse  von  Nicäa  in  mehreren  Schrif- 
ten vertheidigte.  (Besonders:  Ueber  die  Nicänische  Synode  und: 
Fünf  Reden  gegen  die  Arianer.)  Der  Hauptpunkt  ist  dabei,  dass 
dem  Arius  Hinneigung  zum  Heidenthum,  darum  üebereinstimmung 
mit  dem  Dualismus  Platd's  und  der  heidnischen  Neuplatoniker  vor- 
geworfen wird.  Die  Behauptung,  dass  zwischen  dem  unendlichen 
Gott  und  den  endlichen  Dingen  ein  Mittelwesen  anzunehmen,  sey 
eine  Gedankenlosigkeit,  da,  wenn  dieses  Mittel wesen  endlich,  zwi- 
schen ihm  und  Gott,  wenn  unendlich,  zwischen  ihm  und  den  Din- 
gen wieder  ein  Mittelwesen,  und  so  fort  ins  Endlose  nöthig  wäre. 
Ohne  die  richtige  Logoslehre  sey  der  wahre  Schöpfungsbegriff  nicht 
zu  fassen;  wenn  Gott  nicht  (ewig  sich)  offenbar  wäre,  so  könnte 
er  nicht  ohne  Wesensveränderung  (nach  aussen)  offenbar  werden. 
Der  Logos,  durch  den  also  die  Welt  geschaffen,  ist  nicht  ein  De- 
miurg,  sondern  der  ewige,  Gott  wesensgleiche,  Sohn,  die  weltbil- 
dende Kraft,  die  weder  als  Geschöpf  gedacht,  noch  wie  von  Sa- 
bellius  mit  dem  Vater  confundirt  werden  muss.  Wie  nicht  zeitlich, 
so  ist  die  Zeugung  des  Sohnes  auch  nicht  willkührlich.  Sie  ist 
nothwendig,  d.  h.  nicht  erzwungen,  sondern  folgt  aus  dem  Wesen 
Gottes  wie  seine  Güte,   die  auch  weder  Product  seines  Willens 


m.   Die  Kirchenväter.     Athanasius.     §.  141.  229 

noch  eines  auf  Ihn  geübten  Zwanges  ist.  Gerade  wie  der  Sohn, 
so  M'ird  im  Briefe  des  Atlmnashis  an  Serapion  auch  der  h.  Geist 
als  Gott  und  dem  Vater  wesensgleich  gefasst,  und  darum  der  Aus- 
druck Trias  adoptirt,  mit  dem  der  Unterschied  der  Personen  (tvro- 
ordoeig)  sich  ganz  gut  vereinigen  lasse.  (In  der  Schrift  gegen 
Apollinarh  heisst  irroGTaaig  so  viel  als  Natur,  und  zur  Bezeich- 
nung von  Person  wird  yrgnacoTtov  gebraucht.)  Nicht  eine  Creatur 
also,  sondern  der  ewige  Sohn  Gottes  ist  es,  welcher  in  Christo  den 
■Menschen  angezogen,  und  dadurch  eine  wirkliche  Erkenntniss  Got- 
tes ermöglicht,  auch  durch  Menschwerdung,  Tod  und  Auferstehung 
den  Menschen  von  dem  Todq ,  dem  er  durch  die  Sünde  verfallen 
war,  befreit  hat.  Die  Schöpferkraft,  die  der  Sohn  Gottes  darin 
zeigt,  dass  er  sich  selbst  incarnirt,  hat  er  weiter  in  seinen  Wun- 
dern und  endlich  in  dem  Erfolg  seines  Werkes  bewiesen.  Wie  sich 
in  Christo  das  Göttliche  zum  Menschlichen  verhält,  darüber  dog- 
matische Bestimmungen  zu  treffen,  war  noch  nicht  an  der  Zeit, 
und  im  Gefühl  davon  will  Athanasuis.  dass  man  sich  in  diesem 
Punkte  ganz  an  die  l)iblischen  Ausdrücke  halte.  Dass  dies  nicht 
in  seiner  eignen  Unentschiedenheit  seinen  Grund  hatte,  das  zeigt 
sich  in  der  Bestimmtheit,  mit  der  er  gegen  Jpollhiaris  dies  ur- 
girt,  dass  in  Christo  der  ewge  Sohn  Gottes  nicht  die  Stelle  der 
vernünftigen  Seele  vertrete,  und  eben  so  wenig  mit  einem  überirdi- 
schen Leibe  verbunden  habe,  sondern  dass  der  ganze  Mensch  von 
ihm  angezogen  und  eben  dämm  in  ihm  unvermischt  und  unge- 
schieden Gott  und  Mensch  verbunden  sey. 

§.  141. 
Mit  dem  Concil  von  Nicäa  waren  die  trinitarischen  Streitig- 
keiten nicht  zu  Ende.  Durch  das  Hineinziehen  des  Hofes  gelingt 
es  bald  den  ganz  entschiedenen  Arianern,  unter  welchen  später 
Eunomins  sich  auszeichnet,  bald  den  weniger  entschiedenen  Euse- 
bianern,  den  Athnnasivs  und  die  Bischöfe,  die  es  mit  ihm  hielten, 
von  ihren  Gemeinden  zu  trennen,  und  zu  Antiochia,  Philippopolis 
(Sardica),  Sirmium,  Bimini,  Seleucia  immer  neue  Vermittelungs- 
formeln  zu  ersinnen,  welchen  die  Hofgunst  ein  kurzes  Tagesleben 
verleiht.  Mit  dem  scheinbaren  Siege  des  Arianismus,  als  selbst 
der  römische  Bischof  Llherixs  sich  nachgiebig  erweist,  beginnt  sein 
definitiver  Fall.  Wie  im  Occident  an  llUarivs.  Bischof  von  Poi- 
tiers,  so  erwächst  im  Orient  an  dem  grossen  kappadocischen  Bi- 
schof BasUius  dem  Alhanasivs  ein  kräftiger  Genosse,  aber  erst 
sieben  Jahre  nach  seinem,  zwei  nach  des  Btisiiuis  Tode,  Arird  durch 
die  Bemühungen  der  beiden  kappadocischen  Gregore,  (von  Nyssa 
und  Nazianz)  und  des  damaligen  Staatsoberhauptes  das  Nicänum 


230  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

aiif  der  Synode  von  Constantinopel  bestätigt  und  durch  die  hinein 
genommene  Homousie  des  h.  Geistes  ergänzt.  Dass  hierbei  nicht 
Alles  aufgenommen  wurde,  was  schon  Alhanasius  dogmatisch  be- 
stimmt hatte,  hat  diesem  letzten  Dogma  eine  Unbestimmtheit  ge- 
lassen, an  die  sich  später  Streitigkeiten,  endlich  die  Trennung  der 
römischen  und  griechischen  Kirche  schliessen  konnte.  Dass  die 
letztere  dem  unbestimmteren  biblischen  Ausdrucke  näher  blieb,  ist 
kein  Vorzug  ihres  Dogma's. 

§.  142. 
Sachgemäss  schliessen  sich  an  die  Bestimmungen  über  die  Of- 
fenbarung Gottes  in  Ihm  selbst  die  über  Seine  Offenbarung  nach 
aussen  oder  an  den  Menschen,  und  da  diese  ihren  Culminations- 
punkt  in  Christo  hat,  über  die  Person  Christi.  Die  beiden  Ex- 
treme: das  Göttliche  und  Menscliliche  in  ihm  zu  confundiren  oder 
zu  zerreissen,  sieht  man  schon  zur  Zeit  des  Athanasiiis  in  den 
Ketzereien  des  ApoUinaris  und  Photinus  hervortreten.  Hinneigung 
zur  ersteren  Einseitigkeit  zeigt  sich  auch  in  der  Folgezeit  immer 
besonders  bei  den  aus  der  Alexandrinischen  Schule  hervorgehenden 
Theologen,  während  ihr  diametraler  Gegensatz,  die  Schule  von 
Antiochia,  mehr  zum  Gegentheil  neigt.  Dass  aber  Alhanasius  und 
Tlieodor  von  Mopsuesta  sich  ganz  gleichlautend  gegen  die  Vermi- 
schung und  Zerreissung  erklären ,  ist  ein  Beweis ,  dass  tiefe  Fröm- 
migkeit und  ernster  wissenschaftlicher  Eifer  in  beiden  Schulen  ge- 
deihen und  zu  gleichem  Ziele  führen  kann.  Als  der,  aus  der  An- 
tiochenischen  Schule  hervorgegangene  Ne  stör  ins ,  und  mehr  noch 
sein  Anhänger  Anastasuis  in  ihrer  Polemik  gegen  den  Ausdruck 
Gottgebärerin  zu  einer  völligen  Trennung  des  Göttlichen  und  Mensch- 
lichen fortgegangen  waren,  trat  leider  zu  ihrer  Widerlegung  kein 
Athanasuis  auf.  Der  unreine  Eifer  des  Cyrill  von  Alexandrien  und 
seines  Nachfolgers  Dlosluros,  der  Umstand,  dass  Entijc//es,  wel- 
cher das  entgegengesetzte  Extrem  zum  Nestorlus  bildet,  sich  ihnen 
anschloss,  macht  diese  Partie  der  Dogmengeschichte  zu  einer  der 
traurigsten.  Durch  Geld,  Weiber  und  Eunuchen  wird  auf  despo- 
tische Kaiser,  durch  diese  auf  eine,  grossen theils  klägliche  Geist- 
lichkeit, die  sich  ihren  Glauben  dictiren  lässt,  eingewirkt.  Nach- 
dem zu  Ephesus  Nesiorius  verdammt  ist,  trifft  in  Constantinopel 
den  Eut]jches  dasselbe  Schicksal.  Beide  mit  Recht.  Dagegen  ist 
die  zweite  Ephesinische  (Räuber-)  Synode,  auf  welcher  die  Mono- 
physiten  Rache  an  den  Nestorianern  nahmen,  ein  l)losser  Partei- 
sieg. Die  Bestimmungen,  welche  Leo  der  Grosse  in  seinem  Briefe 
an  Florian  ausspricht,  und  welche  auf  der  Synode  zu  Chalcedon 
symbolische  Bedeutung  bekommen,  sind  buchstäblich  die  des  Atha- 


m.    Die  Kirchenväter.     Anthropologie.     Augustin.     §.  144 .  1  231 

nasiifs  und  Theodor.  Von  den  Kaisern  dictirte  vermittelnde  Glau- 
bensbekenntnisse, wie  Zeno's  Henotikon,  Justinunis  Edict  de  tribus 
capitiilis  haben  es  eher  verhindert  als  beschleunigt,  dass  die  dog- 
matische Fassimg  allgemeine  Anerkenntniss  fand,  welche  nicht  zwi- 
schen dem  Nestorianismus  und  Eutychianismus  die  Mitte,  sondern 
über  ihnen  die  höhere  Einheit  bildet. 

§.  143. 
Der  Oecident,  der  zuerst  an  der  Dogmenbildung  sich  nur  in 
so  weit  betheiligt,  dass  die  Sanction  durch  den  römischen  Bischof 
ein  wesentliches  Moment  dabei  ist,  und  dessen  subjectiver  Cha- 
rakter es  erklärt,  warum  seine  bedeutendsten  Geister,  wie  Tertnl- 
liüii  und  Cyprian,  vorzugsweise  das  kirchliche  Leben  zu  fördern 
und  die  kirchliche  Ordnung  auszubilden  bemüht  sind,  oder  wie 
Hieronynuis  das  kritische,  wie  Ambrosbis  das  lyrische  Moment  in 
der  Kirche  vertreten,  kommt  endlich  auch  bei  der  Feststellung  des 
Dogma's  an  die  Reihe.  "Wie  es  seinem  Subjectivismus  entspricht 
dort,  wo  das  Verhältniss  des  Einzelnen  zu  der  in  ihm  wirkenden 
Gottheit,  also  das  der  Freiheit  zur  Gnade  formulirt  werden  soll. 
Rein  theoretisch  genommen  ist  dieses  Problem  das  schwierigste  und 
seine  Lösung  ist  nicht  möglich,  wo  die  klare  Einsicht  in  das  We- 
sen der  Gottheit  und  in  ihre  Vereinigung  mit  der  Menschheit  fehlt. 
AthaiKisins  und  Theodor  von  Mopsuesta  mussten  geleistet  haben, 
worin  ihr  Verdienst  besteht,  ehe  der  auftreten  konnte,  welcher, 
indem  er  die  Anthropologie  der  Kirche  formulirt,  zugleich  ihre 
Theologie  und  Christologie  zum  Abschluss  bringt.  Augustin  ist  der 
grösste  und  ist  der  letzte  Kirchenvater.  Es  finden  sich  in  ihm 
zugleich  die  Anfänge  einer  Thätigkeit,  die  über  die  der  Kirchen- 
väter hinausgeht  und  Aufgabe  der  folgenden  Periode  ist. 

§.  144. 
Augustin. 
C.  Bindemann    der    heilige  Augustinus.     1.  Bd.    Berl.  1844.     2.  Bd.   Lpz.  1855. 
3.  Bd.  fehlt. 

1.  Aurelius  Augustinus y  am  13.  Xovbr.  353  zu  Thagaste 
in  Numidien  geboren,  erhielt  von  seiner  Mutter  Monica  eine  fromme 
Erziehung.  Dennoch  zeigten  sich  schon  frühe  sehr  böse  Neigungen. 
Von  sittlichen  Verirrungen,  in  die  er  in  Carthago  gerieth,  durch 
ernstes  Studium,  namentlich  des  Cicero,  zurückgekommen,  verfiel 
er  in  religiöse  Zweifel,  die  ihn  der  manichäischen  Secte  (s.  §.  124) 
in  die  Arme  warfen.  Ihr  gehörte  er  an,  da  er  als  Lehrer  der  Rhe- 
torik in  Thagaste  auftrat,  ein  Beruf,  den  er  später  in  Carthago 
fortsetzte.  Die  Beschäftigung  mit  der  Astrologie  machte  ihn  zuerst 
an  der  Physik  der  Manichäer  irre ,  mehr  noch  entfremdete  er  sich 


232  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

der  Secte,  als  ihr  gefeierter  Bischof  Fausfus  seine  Bedenklichkei- 
ten nicht  zu  lösen  vermochte.    Im  J.  383  begab  er  sich  nach  Kom, 
wo  er  allmählich  ganz  dem  Skepticismus  der  neueren  Akademie  ver- 
fiel.    Im  folgenden  Jahre  erhielt   er  die  Stelle  eines  Lehrers  der 
Rhetorik  in  Mailand,  und  hier  vollendeten  die  Predigten  des  Jm- 
hrosiiis,   namentlich  seine  Erklärungen   des,   von  den  Manichäern 
verworfenen.  Alten  Testaments,  des  Antjusüns  Trennung  von  ihnen. 
Er  trat  wieder  in  die  Zahl  der  Katechumenen ,    aus   denen   er  zu 
den  Ketzern  übergetreten  war.     Das  Studium  lateinischer  Ueber- 
setzungen  Platonischer  und  Neuplatonischer   Schriften   wurde   das 
Mittel,  ihn  zu  überzeugen,  dass  in  theoretischer  Hinsicht  die  Lehre 
der  Schrift  am  Meisten  befriedige.     Die  beseligende  Erfahrung  ihrer 
praktischen  Gewalt  machte  er,  als  sie  ihm  die  Weisung  gab  Chri- 
stum  anzuziehn.     Nachdem   er  sein  Lehramt   niedergelegt  hatte, 
lebte  er  eine  Zeitlang  theils  in  theils  um  Mailand.     In  diese  Zeit 
fallen  seine  Schriften  contra  Academicos,  de  vita  beata,  de  ordine, 
soliloquia,    de  immortalitate  animae.     Andere  wurden  angefangen. 
Ein  Jahr  lang  hielt  er  sich  dann  in  Rom  auf,  wo  de  moribus  ec- 
clesiae,  de  moribus  Manichaeorum,  de  quantitate  animae,  das  erste 
Buch  de  libro  arbitrio  (II  und  III  erst  in  Hippo)  geschrieben  wur- 
den.   Im  J.  388  endlich  kehrte  er  nach  Africa  zurück  und  führte 
in  Thagaste  in  der  ererbten  Wohnung  eine  Art  Klosterleben,   das 
frommen  Hebungen,  Unterredungen  mit  Freunden  und  schriftstel- 
lerischen Arbeiten  gewidmet  war.     Die  Schriften  de  Genesi  contra 
Manichaeos,  de  musica,  de  magistro,  de  vera  religione  wurden  hier 
verfasst.     Auf  einer  Reise  nach  Hippo  regius   (heute  Bona)  ward 
er,  gegen  seinen  Willen,  vom  Bischof  Valcriiis  zum  Presbyter  ge- 
weiht und  ward,  aber  so  dass  er  sein  klösterliches  Leben  mit  gleich- 
gesinnten  Freunden  fortsetzte,    Prediger  an  der  Hauptkirche.     In 
seinen  Predigten  hat  er  alle  Punkte  des  Glaubens,  bis  in  die  schärf- 
sten dogmatischen  Bestimmungen  hinein,  erörtert.    Eben  so  in  sei- 
nen Katechesen,    über  deren  Absicht   er  sich  in   der  später  ge- 
schriebnen    Schrift    de    catechizandis    rudibus    ausspricht.      Seine 
schriftstellerische  Thätigkeit  in  dieser  Zeit  ist  theils  gegen  die  Ma- 
nichäer  gerichtet,  welchen  er  Manchen  zu  entreissen  sucht,  den  er 
früher  selbst  ihnen  zugeführt  hatte  (Liber  de  utilitate  credendi  ad 
Honoratum,    de  duabus  animis,   contra  Adimantum),    theils  gegen 
die  Donatisten.     (So  u.  A.  Liber  contra  epistolam  Donati,  Psalmus 
contra  partem  Donati.)     Ausserdem  hat  er   die  Auslegungen  der 
Bergpredigt,   einiger  Stellen  des  Römerbriefes,    des  Galaterbriefes, 
sein  Buch  de  fide  et  symbolo,  de  mendacio  geschrieben.    Im  J.  395 
ward  er  auf  den  Wunsch  des  Vulerias  zu  seinem  Mitbischof  er- 


III.  Die  Kirchenväter.     Augustin.     §.  114,  1.  2.  233 

nannt,  und  wenn  er  selbst  in  dieser  Stelle  stets  den  öiprian  als 
sein  Vorbild  ansah,  so  kann  er  eben  so  gut  auch  mit  Alhanasins 
verglichen  werden.  Unter  den  Schriften,  die  er  als  Bischof  schrieb, 
sind  zu  bemerken  die  vier  Bücher  de  doctrina  christiana,  Confes- 
siones,  die  Disputationen  gegen  die  Mauichäer  Faustus,  Felix  und 
Secund'nuis ,  die  fünfzehn  Bücher  de  trinitate,  die  vier  de  con- 
sensu  Evangelistarum,  Libri  tres  contra  epistolam  Parmeniani  Do- 
natistarum  episcopi,  de  baptismo  contra  Donatistas  libb.  \1I,  de 
bono  conjugali,  de  sancta  virginitate,  de  genesi  ad  literam  Libb. 
XII,  gegen  die  Donatisten  Pelilianns  und  Crescovivs.  In  diese 
Zeit  fallen  auch  die  Schriften  gegen  die  Pelagianische  Ketzerei. 
Zuerst  die  drei  Bücher  de  peccatorum  meritis  et  remissione,  die 
den  Pelagins  nicht  direct  angreifen,  dann  aber  de  fide  et  operibus 
und  de  natura  et  gratia.  Die  Schrift  de  civitate  Dei  hat  ihn  drei- 
zehn Jahre  lang  beschäftigt,  weil  er  nur  mit  Unterbrechungen  zu 
ihr  zurückkehren  konnte.  Sie  enthält  ausser  einer  Widerlegung 
der  heidnischen  Weltbetrachtung  eine  Darstellung  des  Verhältnisses 
der  civitas  Dei  zur  civitas  nuindi,  und  ist  nicht  mit  Unrecht  bald 
eine  Theodicee  bald  eiiie  Philosophie  der  Geschichte  genannt  wor- 
den. Auch  de  gratia  et  originali  peccato  I^ibb.  II,  de  anima  et 
ejus  origene  Libb.  IV,  contra  Julianum  Pelagianum  Libb.  VI,  de 
fide,  spe  et  caritate,  de  gratia  et  libero  arbitrio  wurden  in  dieser 
Zeit  geschrieben.  Im  Ganzen  zählt  AvgKsün  in  der  kurz  vor  sei- 
nem Tode  (am  28.  August  430)  verfassten  Revision  seiner  Werke 
(Retractationes)  drei  und  neunzig  derselben  auf,  wo  natürlich  die 
Briefe  nicht  mit  gezählt  sind.  Was  von  jenen  und  diesen  erhalten 
ist,  das  haben  die  Gesammtausgaben  seiner  Werke  zusammen  ge- 
stellt, unter  welchen  die  bekanntesten  sind:  die  Princeps  Basil. 
1506.  XI  fol.,  ex  emend.  Ernsmi  Basel  1523.  Xfol,  Antw.  1577. 
Xlfol.,  Paris  1679—1700.  XI  fol,  Paris  1835—40.  XL  4.  In 
Migne\s  Patrologiae  cursus  completus  bilden  die  Werke  des  Au- 
gustin die  Bände  32  —  47  der  lateinischen.  Von  den  einzelnen 
Werken  sind  besonders  oft  die  Confessionen  und  die  Civitas  Dei 
gedruckt. 

2.  Um  sich  vor  der  Skepsis  der  Akademie  zu  retten,  sucht 
Aitgiisiin  nach  einem  unerschütterlichen  Ausgangspunkte  für  alles 
Wissen  und  findet  diesen  in  "der  Selbstgewissheit,  mit  der  das  den- 
kende Wesen  seine  eigene  Existenz  behauptet,  die  ihm  bei  allen 
Zweifeln  gewiss  bleibt,  ja  durch  sie  gewiss  wird.  Von  diesem  Aus- 
gangspunkt, den  er  besonders  im  soliloquio,  in  de  libero  arbitrio 
und  de  vera  religione  als  unerschütterlich  behauptet,  geht  er  nun 
besonders  in  der  zweiten  Schrift  so  weiter,  dass  er  in  der  Selbstge- 


234  Mittelalterliche  Philosopliie.     Erste  Periode  (Patristik). 

wisslieit  die  Gewissheit  des  Seyns,  Lebens,  Empfindens  und  vernünf- 
tigen Erkennens  unterscheidet,  und  ihr  also  ein  vierfaches  Seyn  zum 
Inhalt  gibt.  Wird  nun  auf  die  höchste  Stufe  des  Seyns  reflectirt, 
so  findet  sich,  dass  unsere  Vernunft,  wo  sie  erkennt  und  urtheilt, 
gewisse.  Allen  gemeinschaftliche  Grundsätze  voraussetzt,  kurz  dass 
sie  von  der  einen  unwandelbaren  Wahrheit  beherrscht  ist,  die  sie 
eben  deswegen  über  sich  stellt.  Diese  unwandelbare  Wahrheit,  zu- 
gleich das  System  aller  Vernunftwahrheiten,  fällt  dem  Angusün 
ganz  mit  dem  göttlichen  Logos  zusammen  und  so  kommt  er,  ganz 
wie  später  Desraries  (s.  §.  267,  2)  von  der  zweifelsfreien  Selbstge- 
wissheit  zur  Gewissheit  Gottes,  in  dem  wir  Alles  erkennen  und 
beiu'theilen  (Conf.  X,  40.  XII,  25).  Bei  diesem  Zusammenfallen- 
lassen der  Erkenntniss  mit  dem  Leben  des  göttlichen  Logos  in  uns, 
ist  sich  Aiigvstin  seiner  LTebereinstimmung  mit  den  Piatonikern  be- 
woisst,  welche  er  sehr  oft  als  die  wahren  Philosophen  bezeichnet 
und  den  Aristotelikern  weit  vorzieht,  und  es  verschwindet  ihm  der 
Gegensatz  zwischen  Offenbarung  und  Vernunft,  Glauben  und  Wis- 
sen. Von  dem  ersteren  auszugehn,  um  zu  dem  letztern  sich  zu 
erheben,  das  ist  eiiigeständiger  Maassen  sein  Weg.  Ueberall  ist  der 
Glaube  der  Anfang  und  in  sofern  geht  er  und  geht  die  Autorität 
der  Vernunft  vor.  Dies  gilt  aber  nur  im  Sinne  der  Zeitfolge,  der 
Würde  nach  steht  die  Vernunft  und  die  Einsicht  höher;  sie  ist 
aber  nicht  für  die  Schwachen  und  wird  auch  von  den  Begabtesten 
hienieden  nie  ganz  erreicht,  (de  util.  cred.  c.  9,  21.  16,  31.  de 
ord.  II,  9,  2(S.  de  trinit.  IX,  1.)  Göttliche  Gnade  und  die  eigne, 
im  Willen  liegende,  Zustimmung  werden  oft  als  die  wesentlichen 
Momente  des  Glaubens  angeführt  (de  praedest.  sanct.  c.  2).  Zur 
ersteren  gehört  auch  das  Verleihen  der  irrthumslosen  Schrift.  Da 
der  Name  Philosoph  den  Weisheitsfreund  bezeichnet,  Gott  aber  die 
Weisheit  ist,  so  ist  der  Philosoph  der  Liebhaber  Gottes.  Nicht 
alle,  sondern  nur  die  Philosophie  dieser  Welt  gebietet  die  h.  Schrift 
zu  fliehn  (Civit.  Dei  VIII,  1.  10).  Gott  als  das  eigentliche  Object 
alles  Wissens  und  aller  Philosophie  kann  venuöge  der  gewöhnlichen 
Kategorien  nicht  erfasst  werden,  er  ist  gross  ohne  Quantität,  gut 
ohne  Qualität,  ohne  Kaum  gegenwärtig,  ohne  Zeit  ewig  u.  s.  w. 
(Conf.  IV,  16,  28.  29. j  Ja  er  ist  nicht  einmal  Substanz  zu  nennen, 
weil  ihm  keine  Accidenzien  zukommen,  und  wird  vielleicht  besser 
essentiü  genannt,  weil  Nichts  ausser  ihm  diesen  Namen  verdient 
(de  trinit.  VI,  5).  Indem  sein  Seyn  über  alle  Bestimmtheit  hinaus- 
geht, wird  sein  Wesen  richtiger  durch  Verneinungen  beschrieben 
als  auf  affirmativem  Wege  (Ep.  120,  3,  13).  Mit  der  Bestimmt- 
heit ist  auch  alle  Mannigfaltigkeit  aus  Gott  ausgeschlossen,  er  ist 


III.  Die  Kirchenväter.     Augustiu.     §.  144,  3.4-  235 

der  absolut  einfache  und  es  darf  nicht  einmal  ein  Unterschied  der 
Eigenschaften  in  ihm  statuirt  werden:  Seyn,  Wissen,  Wollen  sind 
in  ihm  Eins.  Ist  aber  Nichts  in  ihm  zu  unterscheiden ,  so  ist  er 
natürlich  der  Verborgene,  Unerkennbare. 

3.  Das  Weitere  aber  ist,  dass  Angustin  bei  diesem  verborge- 
nen Gott  nicht  stehen  bleibt,  sondern  dazu  übergeht,  ihn  zu  fas- 
sen, wie  er  sich  offenbart.  Dies  geschieht  in  der  Trinitätslehre, 
welche  Aitgiistin  vom  letzten  Rest  des  Subordinationsverhältnisses 
befreit,  indem  er  nicht  nur  den  Sohn  oder  den  Logos,  in  dem  das 
ewige  Seyn  sich  selber  offenbar  wird,  als  ewig  fasst,  sondern  eben 
so  auch  den  heiligen  Geist ,  diese  Gemeinschaft  des  Vaters  und 
Sohnes,  in  dem  sie  beide  sich  liebend  begegnen,  und  der  eben  des- 
wegen von  beiden  ausgeht.  Die  göttliche  Substanz  existirt  niu-  in 
den  drei  Personen,  existirt  aber  in  jeder  ganz ,  und  Angustin  wie- 
derholt, oft  auf  Kosten  des  Unterschieds  der  Personen,  dass  in 
jedem  göttlichen  Werk  sie  alle  drei  zusammenwirken.  Dabei  aber, 
die  Lehre  von  der  Drei -Einheit  Gottes  auf  Autorität  der  Schrift 
und  der  früheren  Kirchenväter  anzunehmen,  bleibt  Avgvsi'm  nicht 
stehn,  sondern  er  verbindet  damit,  was  später  die  einzige  Aufgabe 
der  Philosophen  wird,  das  Bestreben  diese  Lehre  begreiflich  zu 
machen.  Für  veniunftgemäss  musste  er  sie  um  so  mehr  halten, 
als  er  den  Besitz  derselben  den  Neuplatojiikern ,  die  keine  Offen- 
barung hatten,  zugesteht.  Namentlich  dem  Porpltyrhis ,  bei  wel- 
chem der  Fehler  des  Platin  verbessert  sey,  indem  das  postponere 
des  dritten  Momentes  dem  interponcre  Platz  gemacht  habe.  Dass 
bei  dem  Verständlichmachen  dieses  Dogma's  Analogien  gebraucht 
werden,  dass  auf  die  Trinität  des  allgemeinen,  besonderen  und  be- 
zogenen Seyns  in  allen  Dingen  (de  vera  relig.  VII,  13),  besonders 
aber  auf  das  esse,  nosse  und  relle,  oder  auf  die  memoria,  intelli- 
gentui  und  rotniitus  des  Menschen  (de  triuit.  X,  8  —  9),  als  auf« 
ein  Zeugniss  für  die  göttliche  Dreieinigkeit  hingewiesen  wird,  dies 
ist  eine  nothwendige  Folge  davon ,  dass  Angustin  in  der  Welt  eine 
Selbstotfenbarung,  namentlich  im  Menschen  aber  das  Ebenbild  Got- 
tes sieht  (Civit.  Dei  XI,  24). 

4.  Die  Gottheit  bleibt  nämlich  nicht  dabei  stehn,  ewig  sich 
selber  offenbar  zu  seyn,  sondern  geht  dazu  über,  auch  ad  extra 
sich  zu  offenbaren.  Dies  geschieht  in  der  Schöpfung,  welche  Au- 
gustin so  mit  der  ewigen  Zeugung  verbindet,  dass  seine  liOgoslehre 
das  Mittelglied  zwischen  Theologie  und  Kosmologie  wird.  Dadurch 
gelingt  es  ihm,  die  beiden  Klippen  zu  vermeiden,  an  denen  die 
Schöpfungstheorien  zu  scheitern  pflegen:  Einmal  den  Dualismus, 
der  ihm  nach  seinen  persönlichen  Erfahrungen  besonders  gefiihrlich 


236  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

erscheinen  musste.  Im  Gegensatz  zu  der  Behauptung  eines  gegen 
Gott  selbstständigen  Stoffes  urgirt  er,  dass  die  Welt  aus  Nichts 
geschaffen,  dass  sie  ahgesehn  von  dem  göttlichen  Willen  gar  Nichts 
sey.  In  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  dem  Alten  Testamente 
behauptet  er,  dass,  wenn  Gott  seine  schaffende  Macht  zurückzöge, 
die  Welt  sogleich  verschwände  (Civit.  D.  XII,  25),  so  dass  also 
der  Begriff  der  Erhaltung  von  dem  der  Erschaffung  absorbirt  wird. 
Mit  Nachdruck  unterscheidet  er  den  Sohn,  der  ile  Dco  rjcnitus,  von 
dem  invndus  de  nildlo  /'actus,  er  leugnet  also  alles  Gezeugtseyn 
der  Welt,  das  heisst,  da  genitnra  =  natura,  er  leugnet,  wie  der 
Jude,  dass  die  Welt  mehr  als  Machwerk  Gottes,  dass  sie  Natur 
sey.  Mit  dieser  Auffassung  hängt  auch  sein  späterer  Widerwille 
gegen  die,  früher  von  ihm  selbst  gehegte,  Annahme  einer  Welt- 
seele zusammen,  die  der  Welt  zu  viel  Selbstständigkeit  gäbe.  Bei 
der  behaupteten  völligen  Nichtigkeit  aller  Dinge  lag  die  Gefahr 
des  Pantheismus  nahe,  der  zweitens  bei  einer  Schöpfungstheorie 
zu  vermeiden  ist.  Diesem  zu  entgehn,  zeigt  sich  Atigustin  nicht 
so  beflissen,  so  dass  er  ihm  näher  bleibt  als  dem  entgegengesetz- 
ten Extrem.  Bei  allem  Unterschiede  zwischen  dem  ewig  gezeug- 
ten Sohne,  ohne  welchen  Gott  nicht  wäre,  und  der,  zwar  nicht  in 
aber  mit  der  Zeit  geschaffenen  Welt,  findet  doch  diese  Verwandt- 
schaft zwischen  beiden  Statt,  dass  der  Logos,  als  der  Complex 
sämmtlicher  Ideen,  den  der  neidlose  Gott  in  der  Welt  verwirk- 
lichte, das  Urbild  der  Welt,  sie  ein  Abbild  der  göttlichen  Weisheit 
ist,  nur  dass  jener  ausserdem  dass  er  die  Welt -Idee  auch  die  Idee 
Gottes,  der  alius  Dei,  während  die  Welt  das  aliud  Dei  ist  (Civit. 
D.  XI,  10.  XII,  25.  de  genes,  ad  lit.  IV,  16  u.  a.  a.  O.).  Die 
Beantwortung  der  drei  Fragen:  <jnis,  per  quid  und  propier  fpdd 
fccer it?  gibt  an,  wie  die  ganze  Dreieinigkeit  bei  der  Weltschöp- 
fung thätig  ist.  Wenn  gleich  sich  Aufjustin  dagegen  verwahrt, 
dass  das  Herausgesetztwerden  der  Dinge  aus  Gott  ein  nothwendi- 
ges  sey,  oder  dass  Gott  desselben  bedürfe,  so  kann  doch  andrer- 
seits nicht  geleugnet  werden,  dass  er  den  Dingen  ein,  nicht  nur 
scheinbares,  sondern  wahrhaftes  Daseyn  mehr  zuschreibt,  als  der 
Pantheismus  gestattet. 

5.  Dass  aber  Augustin  dem  letzteren  viel  näher  stehn  bleibt, 
als  dessen  Antagonisten,  dem  Dualismus,  das  zeigt  sich  besonders 
in  seiner  Lehre  vom  Menschen.  Dieser  ist  der  Mittelpunkt  der 
Schöpfung,  weil  er,  was  die  Engel  allein  sind,  mit  der  sichtbaren 
aus  Elementen  zusammengesetzten  Leiblichkeit  verbindet.  Der  Geist 
oder  die  Seele  des  Menschen  ist  eine,  vom  Leibe  unterschiedene 
(de  aiiim.  et  ej.  orig.  II,  2,  2),   wenigstens  relativ  einfache  (de 


ni.  Die  Kirchenväter.     Augustin.     §.  144,  5.  237 

trinit.  VI,  6,  8),  darum  unsterbliche  (soliloq.  de  immort.  an.)  Sub- 
stanz, die  mit  dem  Leibe  so  verbunden  ist,  dass  sie  ül)erall  ganz 
präsent  ist,  obgleich  bestimmte  Organe  bestimmten  Functionen,  so 
das  vordere  Gehirn  der  Empfindung,  das  hintere  der  Bewegung 
u.  s.  \v.  dienen  (de  genes,  ad  lit.  VII,  13).  Ausserdem  erscheint 
aber  der  Geist  auch  unabhängig  von  dem  Leibe ,  so  dass  in  ihm 
sieben  verschiedene  Stufen  unterschieden  werden  können,  deren  drei 
unterste,  aiüma  de  corpore,  in  corpore,  circa  corpus,  schon  Ari- 
stoteles richtig  unterschieden  habe,  zu  denen  aber  noch  anima  ad 
se,  in  se,  ad  Deum,  in  Deo  hinzu  kommen  (de  immort.  an.  —  de 
quantit.  an.).  Den  eigentlichen  Kern  und  Mittelpunkt  der  geistigen 
Persönlichkeit  bildet  der  Wille  des  Menschen,  der  Mensch  ist  ei- 
gentlich nichts  Andres  als  Wille  (Civit.  D.  XIV,  6).  Da  der  Mensch, 
wie  alle  Dinge,  Product  des  Se3'ns  und  Nichtseyns  ist,  so  kann 
der  Wille  entweder  jenes,  d.  h.  den  göttlichen  W'illen,  in  sich  wal- 
ten lassen  und  dann  ist  er  w' ahrer  oder  freier  Wille ,  oder  aber  er 
kann  sich  von  dem  Seyn  abwenden,  dann  ist  er  nichtiger  (Eigen-) 
Wille  und  ist  unfrei.  Versteht  man  mit  Aiigustin  unter  Freiheit 
das  Erfülltseyn  mit  dem  göttlichen  Willen,  die  bona  honi  necessi- 
tas,  so  ist  es  nicht  unmöglich,  ja  nicht  einmal  schwer,  die  Freiheit 
des  Menschen  mit  der  göttlichen  Allmacht  und  Allwissenheit  zu 
vereinigen.  Dieser  Begriff  der  Freiheit  ist  es  nun,  welcher  den 
Streit  mit  Pehiyius  zu  einem  unversöhnlichen  machen  musste,  auch 
wenn  das  sich  Hineinmischen  eines  Juristen  (Coelestius)  ihn  nicht 
verbittert  hätte.  Dem  in  mönchischer  Entsagung  Erzogenen  war 
der  grelle  Gegensatz  von  einem  Leben  ganz  ausser  der  Gnade  und 
der  Kirche  und  einem  in  beiden ,  mehr  fremd  geblieben ,  die  Ge- 
fahr aber  stolzer  W^erkheiligkeit  viel  näher  gerückt,  als  dem  An- 
ynstin ;  dem  Gliede  ferner  der  Britannischen  Kirche,  die  sich  orien- 
talischen, namentlich  antiochenischen,  Einflüssen  stets  offen  erhielt, 
musste  der  formelle  FreiheitsbegriÖ'  eines  Theodor  und  Clrysosto- 
7nus  der  geläufige  seyn.  Diese  formelle  Freiheit,  das  aefpiUibrium 
arhitrii,  in  dem  jeder  Mensch  sich  eben  so  gut  für  das  Gute,  wie 
für  das  Böse  entscheiden  kann,  ist  dem  Augustin  ein  unchristlicher 
Wahn.  Unchristlich,  denn  könnte  Jeder  das  Gute  erwählen,  wozu 
dann  ein  Erlöser?  Ein  Wahn,  denn  in  der  Wirklichkeit  sind  die 
Handlungen  des  Menschen  unausbleibliche  Früchte  eines  guten  oder 
schlechten  Baumes.  Der  natürliche  Mensch,  d.  h.  der  von  sich  aus 
oder  das  Seine  will,  ist  böse,  ist  Sklave.  Nur  die  göttliche  Gnade, 
theils  als  vorhergehende,  theils  als  wirkende,  theils  als  unterstü- 
tzende, theils  endlich  als  die  Ausdauer  {donum  perseveraniiae) 
verleihende,  welche  alle  frühereu  Wirkungen  besiegelt,  macht  den 


238  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode    (Patristik). 

Menschen  frei.  Welcher  es  wird,  hängt  darum  lediglich  von  Gott 
ab.  Er  prädestinirt  dazu  wen  Er  will.  Die  Uebrigen  haben  sich 
nicht  zu  beklagen,  wenn  Er  sie  in  dem  Zustande  lässt,  in  dem  sie 
sich  befinden.  Nur  Gottes  beständiges  Wirken  befähigt  den  Men- 
schen Gutes  zu  thun;  eigentlich  nicht  zu  thun,  denn  der  Mensch 
ist  dabei  ganz  passiv,  die  Gnade  ist  unwiderstehlich  (de  corr.  et 
grat.).  Gott  gibt  sie  nicht,  weil  wir  sie  wollen,  sondern  wir  wol- 
len sie,  weil  Er  sie  gibt  (Ep.  177,  5).  Alles  dies  sind  nothwen- 
dige  Folgerungen  daraus,  dass  die  Erhaltung  eine  fortwährende 
Erschaffung  aus  Nichts  ist.  In  einer  völlig  unselbstständigen  Welt 
kann  kein  Theil  derselben  Selbstthätigkeit  zeigen.  Gemildert  er- 
scheinen übrigens  diese  Behauptungen,  wenn  AiigusCm  sagt:  (fiii  te 
creavit  sine  te  noii  te  jiisti/icabit  sine  le ,  und  in  anderen  ähnli- 
chen Aussprüchen,  zu  denen  seine  praktische,  allem  Quietismus 
abholde ,  Natur  ihn  brachte.  Ob  ein  Mensch  zu  den  Auserwählten 
gehört,  kann  aus  einzelnen  guten  Werken  nicht  ersehen  werden, 
der  beste  Beweis  dafür  ist  das  domim  persererantUie  (de  corr.  et 
grat.  12—13). 

6.  Die  Unfähigkeit  zum  Guten  und  also  das  Verworfenseyn 
aller  derer,  die  Gott  nicht  von  der  Sünde  frei  macht,  ist  ein  Fac- 
tum. Es  ist  aber  dies  nicht  das  ursprüngliche  von  Gott  gesetzte 
Verhältniss.  Vielmehr  war  der  Mensch ,  der  zunächst ,  damit  alle 
Menschen  Blutsverwandte  seyen,  als  Ein  Mensch  existirte  (civit.  D. 
XII,  21),  ursprünglich  in  einem  Zustande,  in  welchem  er  auch 
nicht -sündigen  konnte.  Bestimmt,  dahin  zu  gelangen,  wo  er  gar 
nicht  mehr  sündigen  kann,  vom  posse  non  peccare  zum  non  posse 
peccare,  sollte  er  in  Gehorsam  gegen  Gott  das  posse  peccare  und 
damit  auch  die  Sterblichkeit  in  sich  tilgen  (de  corr.  et  grat.  12, 
13.  de  pecc.  mer.  I,  2,  2).  Dies  aber  geschah  nicht.  Vielmehr 
erkaltete  die  Gottesliebe  in  dem  Menschen,  und  den  schon  Gefal- 
lenen brachte  die  Versuchung  des,  vor  ihm  gefallenen,  Teufels  zum 
vollständigen  Abfall,  dessen  Strafe,  die  Unfähigkeit  zum  Guten, 
sich  auf  alle  Menschen  fortpflanzte ,  die  im  Keimzustande  in  Adam 
existirt,  und  also  gesündigt  hatten  (civit.  D.  XIV,  11.  de  corr. 
et  grat.  12,  37.  6,  9).  Dass  Auffiistin  sich  nur  zaghaft  für  den 
Traducianismus  (Generationismus)  der  Seele  ausspricht,  der  zu  sei- 
ner Theorie  von  der  Erbsünde  so  gut  passt  (vgl.  Ep.  190.  ad  Opt. 
4, 14.  15),  und  oft  zwischen  ihm  und  dem  Creatianismus  oder  auch 
der  Präexistenzlehre  schwankt  (vgl.  u.  A.  Retract.  1,1),  hat  sei- 
nen Grund  vielleicht  darin,  dass  des  TertuUian  Beispiel  zu  zeigen 
schien,  dass  der  Traducianismus  die  Körperlichkeit  der  Seele  be- 
haupten müsse.    Die  Nachkommen  des  gefallenen  Menschen,  in  der 


ni.  Die  Kirchenväter.     Augustin.     §.  144 ,  6.  T.  239 

Begierlichkeit  erzeugt  und  so  gleichsam  vergiftet,  sind  zum  Guten 
unfähig.  Schwieriger  als  dies  ist  einzusehn,  wie  der  nicht  sündig 
geborene  ursprüngliche  Mensch  von  Gott  abfallen  konnte.  In  dem- 
selben Maasse  nämlich,  als  Angustm  dem  Menschen  alle  Selbstthä- 
tigkeit  abspricht,  muss  die  Entstehung  des  Bösen,  d.  h.  der  Selbst- 
sucht, unmöglich  erscheinen,  wie  dies  von  jeher  der  cousequente 
Pantheismus  erfahren  hat.  Augustin,  der  nicht  so  weit  geht,  wie 
dieser,  streift  doch  oft  daran,  das  Böse  zu  leugnen.  So  weim  er 
Neigung  zeigt,  das  Böse  als  Alnvesenheit,  nicht  als  Gegensatz  des 
Guten  zu  fassen  (civit.  D.  XI,  9),  oder  wenn  er  sagt,  dass  das 
Böse  nur  an  dem  Guten  vorkomme  (de  lib.  arb.  III,  13),  dass  es 
nichts  Positives  sey  und  darum  keiner  causa  ej'ficiens  bedürfe,  nur 
eine  causa  deficiens  habe,  ein  iucausule  sey,  dass  das  Böse  kein 
Thun,  sondern  ein  Unterlassen  sey,  dass  man  das  Böse  aus  dem- 
selben Grunde  nicht  erkenne,  aus  dem  man  die  Finsterniss  nicht 
sehe  u.  s.  w.  (Civ.  Dei  XII,  7.  9  u.  a.  a.  0.).  Die  ungeheure 
Gewalt  der  Sünde  drängt  ihm  zwar  oft  das  (autipantheistische) 
Gestäudniss  ab,  dass  das  Böse  eine  positive,  Gott  sich  entgegen- 
stellende, Macht  sey,  aber  die  Furcht,  ein  Seyn  ausser  Gott  an- 
zunehmen, lässt  ihn  immer  'vsieder  dazu  zurückkommen,  das  Böse 
als  blossen  Schatten  im  Gemälde  der  Welt,  als  des  Contrastes  halber 
Nothwendiges  zu  fassen,  d.h.  eigentlich  seine  Realität  zu  leugnen. 
Die  Schwierigkeiten,  in  welche  die  Augustinische  Lehre  von  der 
absoluten  Selbstlosigkeit  der  Creatur  verwickelte,  förderten  das  Ge- 
deihen des  Seraipelagianismus.  Zwar  in  der  Form,  in  welcher  der- 
selbe bei  Cassianus  auftrat,  ward  er  verdammt,  gleichzeitig  aber 
wurden  auch  die  Prädestinatianer  (wahrscheinlich  reine  Augusti- 
nianer)  für  Ketzer  erklärt.  Der  kirchliche  Augustinismus  in  der 
Schrift,  wahrscheinlich  Leo's  des  Grossen,  de  vocatione  gentium 
ist  schon  gemildert.  Später  ward  es  sogar  kirchliche  Regel:  Au- 
gustinus eget  Thoma  iiiterpretc. 

7.  Das  Mittel,  wodurch  der  Mensch  der  Gnade  theilhaft  wird, 
der  Glaube,  ist  bei  August'ui  nicht  ein  selbstthätiges  Aneignen, 
sondern  eine  reine  Gnadengabe,  eine  übernatürliche  Erleuchtung 
(de  pecc.  merit.  I,  9.  de  praedest.  sanctt.  11,  12),  in  welcher  der 
Mensch  seines  Begnadigtseyns  gewiss  wird.  Eben  darum  bildet 
den  eigentlichen  Inhalt  des  Glaubens  die  Lehre  von  dem  Mensch 
gewordenen  Sohn  Gottes,  von  welcher  die  heidnischen  Philosophen 
nicht,  wie  von  der  Trinität  wohl,  eine  Ahndung  hatten.  Da  nun 
bloss  jenes  Handeln  einen  Werth  hat,  das  eine  Bethätigung  des 
Glaubens  ist,  so  folgt,  dass  auch  die  gepriesensten  Tugenden  der 
Heiden  werthlos,  ja  Laster,  sind  (Civit.  D.  XIX,  25).     Erst  bei 


240  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

den  Christen  wird  durch  die  wahre  Grundlage  die  Tapferkeit  zur 
Martyrfreudigkeit,  die  Massigkeit  zur  Ertödtung  der  Triebe  u.  s.  w. 
Der  Menschgewordene  ist  aber  nicht  nur  für  den  Einzelnen  der 
Befreier  von  Sünde  und  Schuld,  sondern  für  die  Menschheit  als 
Ganzes  ist  er  das  eigentliche  Centrum,  das  eben  deswegen  im  Mit- 
telpunkt ihrer  Geschichte  erscheint,  ein  Ziel  derer,  die  vor  ihm, 
ein  Ausgangspunkt  für  die,  die  nach  ihm  leben  (de  vera  relig.  16. 
de  grat.  et  lib.  arb.  3,  5).  Durch  die  ganze  Geschichte  der  Mensch- 
heit, welche  sich,  entsprechend  den  sechs  Schöpfungstagen,  in  sechs 
Perioden  theilt,  in  deren  letzter  wir  leben,  geht  der  Gegensatz  der 
Begnadigten,  welche  den  Gottesstaat,  die  clrllns  Del,  und  derer, 
die  sich  selbst  verdammten,  und  so  den  Staat  der  Welt  oder  des 
Teufels  bilden;  jene  sind  Gefässe  der  Barmherzigkeit,  diese  des 
Zorns  (Civ.  D.  XV,  1  ff.) ,  bei  jenen  herrscht  die  Gottesliebe ,  bei 
diesen  die  Selbstliebe  (ibid.  XIV,  28).  Kain  und  Abel  (nach  des- 
sen Tode  Seth)  zeigen  schon  diesen  Gegensatz,  welcher  zuletzt  in 
der  sittlichen  Verkommenheit  des  römischen  Staats  und  der  ihr 
entgegentretenden  Christengemeinde  seinen  Brennpunkt  zeigt  (ibid. 
XVIII,  2).  Das  Weltgericht  und  nach  ihm  die  von  den  Auferstan- 
denen bewohnte  neue  Erde  ist  das  Ziel  der  Geschichte.  Die  Ver- 
dammniss,  leiblich  und  geistig  zugleich,  ist,  wie  die  Seligkeit  der 
Auserwählten,  ewig  (ibid.  XXI,  9.  10.  23.  28.  XIX,  28).  Die  letz- 
tere besteht  in  der  vollständigen  Erkenntniss  Gottes  und  seiner 
Weltregierung,  und  eben  deswegen  wird  weder  die  Erinnerung  an 
das  eigene  Leiden,  noch  die  Strafe  der  Verworfenen  den  betrüben, 
der  Alles  mit  den  Augen  der  Wissenschaft  schauen  wird  (ibid. 
XXII,  29.  30). 

§.  145. 
Mit  dem  Siege  des  (gemilderten)  Augustinismus  schliesst  die 
Dogmen  bildende  Thätigkeit  der  Gemeinde  ab.  Weitere  Dogmen 
festzustellen  war  nicht  nöthig,  denn  was  unveränderliche  Lehre 
seyn  soll,  das  ist  gefunden,  auch  war  es  weiterhin  nicht  mehr 
möglich,  denn  mit  dem  Zurücktreten  der  republikanischen  Kirchen- 
verfassung fiel  auch  die  Sicherheit  weg,  dass  nur  das  Dogma,  und 
nicht  zugleich  die  Art,  me  sich  ein  Subject  dasselbe  begründete, 
zu  kanonischem  Ansehn  kommen  werde.  Wo  später,  zu  einer  Zeit, 
deren  Aufgabe  nicht  ist  Dogmen  zu  machen,  sondern  denselben 
eine  bestimmte  Form  zu  geben,  päpstliche  Autorität  Dogmen  fest- 
zustellen versucht  hat  (z.  B.  Transsubstanziation,  conccpüo  imma- 
culata  virgiiüs),  sind  es  Theologumena  gewesen,  die  man  zu  Dog- 
men stempeln  wollte.  Man  vergass  dabei,  dass  bei  den  Dogmen 
das  xrjQvyfia,  die  ursprüngliche  Offenbarung,  bei  Theologumeneu 


III.  Die  Kiicheuväter.     Sammler  und  Commentatoren.     §.   146.  241 

dagegen  das  daraus  gemachte  Dogma  den  Stoff  für  die  philoso- 
phische Reflexion  darbietet,  und  dass  sich  eben  deswegen  Dogma 
und  Theologumenon  wie  Lehre  und  BegTündung,  wie  Urtheil  und 
Urtheilsgründe,  verhalten,  ^yas  der  Kii'che  nach  zu  Stande  ge- 
brachtem Dogma  zunächst  obliegt,  ist,  sich  in  den  Lehrbegriff 
einzuleben  und  an  die  Verfassung  zu  gewöhnen,  die  sie  sich,  und 
durch  welche  sie  sich  selbst ,  gebildet  hat.  Sie  muss ,  gerade  wie 
früher  die  Gemeinde  ehe  sie  zur  Kirche  ward,  in  sich  erstarken, 
um  eine  Wirksamkeit  nach  aussen  beginnen  zu  können.  In  wem 
piiilosophischer  Geist  lebt,  d.  h.  wer  seine  Zeit  versteht,  wird  da- 
rum nicht  sowol  auf  die  Lösung  neuer  Aufgaben  ausgehn,  als 
darauf,  das  bisher  in  der  Philosophie  Erörterte  zu  erhalten  und 
zu  befestigen.  Dies  geschieht  indem  durch  Sammlungen,  Com- 
mentare  und  Uebersetzungen  die  Ergebnisse  der  bisherigen  Spe- 
culation  immer  grösseren  Kreisen  zugänghch ,  und  immer  mehr  zu 
allgemein  anerkannten  Wahrheiten  werden. 

§•  14ß. 
Verglichen  mit  der  dogmenbildenden  Thätigkeit  ist  die  zu- 
sammenstellende und  commentirende  eine  formelle,  daher  das  An- 
sehn gerade  der  Schriften  des  Alterthums,  die  die  Regeln  für  die 
Form  der  Wissenschaft  feststellen,  und  gerade  des  Philosophen, 
welcher  der  Alles  umfassende  Polyhistor  gewesen  war.  P/ato  fängt 
an  gegen  den  Aristoteles  ^  namenthch  gegen  den  Logiker  Aristo- 
teles,  zurückzustehn ,  und  wo  der  Piatonismus  die  höchste  Auto- 
rität bleibt,  da  ist  er  es  in  der  Form,  die  er  durch  Proldos  er- 
halten hatte,  bei  dem  (s.  §.  127  und  130)  das  Aristotelische  Ele- 
ment so  hervortrat.  In  der  morgenländischen  Kirche  mächen  sich 
bemerklich:  Nemesiiis  (de  natura  hominis,  u.  A.  in  der  Bibl.  vet. 
patr.  Paris  1624  Vol.  II  erschienen),  dessen  Argumentationen  Ari- 
stotelische und  bibhsche  Aussprüche  seltsam  mischen,  Aeneas  von 
Gaza  (dessen  im  J.  457  verfasstes  Gespräch  Theophrastus  den 
Nemesiiis  öfter  mit  Platonischen,  eben  so  aber  auch  die  Neupia- 
toniker  mit  bibhschen  Gründen  bestreitet),  Zacharias  Scholasticus, 
der  als  Bischof  von  Mitylene  auf  dem  Concil  zu  Constantinopel 
536  thätig  war,  und  dessen  Dialog  Ammonius  besonders  die  Ewig- 
keit der  Welt  bekämpft.  Dies  Letztere  thut  auch,  obgleich  er 
viel  mehr  Aristotehker  ist  als"  die  bisher  Genannten,  der  Alexan- 
driner Johannes  (Pldloponos  wie  die  Mitwelt,  Grammaticus  wie 
er  selbst  sich  zubenannte),  dessen  im  6'""  Jahrhundert  geschrie- 
bene Commentare  zu  Aristotelischen  Schriften  erhalten  und  öfter, 
namenthch  in  Venedig,  gedruckt  sind.  Sein  etwas  jüngerer  Zeit- 
genosse Simplicius  commentirt  den  Aristoteles  mehr  im  Sinne  der 

Erdraami,  Gesch.  d.  riiil.  I.  Ig 


242  Mittelalterliche  Philosophie.     Erste  Periode  (Patristik). 

Neuplatoniker,  und  ist,  so  weit  seine  Schriften  erhalten  sind,  für 
die  Geschichte  der  Philosophie  von  grossem  Werth.  Nicht,  wie 
Einige  gemeint  haben ,  Synesiiis,  der  jüngere  Zeitgenosse  des  Jii- 
gvsün,  sondern  ein  in  der  Schule  des  Proldos  gebildeter  Christ 
ist  der  Verfasser  der  Schriften,  die  unter  dem  Namen  des  Din- 
nyslvs  Areopogita  bekannt  sind.  (Oft  gedruckt;  in  Mkpic\s  Pa- 
trolog.  curs.  compl.  2  Bde.  Vgl.  Eiiycllmnlt  Die  angeblichen  Schrif- 
ten des  Areopagiten  Dionysius.  2  Bde.  Sulzb.  1823.)  Die  davon 
erhaltenen  (über  mystische  Theologie,  über  Gottesnamen,  über  die 
himmlische  Hierarchie ,  über  die  kirchliche  Hierarchie ,  Briefe)  ver- 
suchen mit  Hülfe  der  Proklusschen  Triaden  das  Esoterische  der 
christlichen  Lehre  zu  construiren,  als  deren  Ziel  die  völlige  Ver- 
einigung mit  Gott  dargestellt  wird.  Wie  grossentheils  die  Mystik, 
so  zeigt  sie  auch  hier  pantheistische  Anklänge.  Gott  wird  näm- 
lich als  das  alleinige  Seyn  gefasst,  dem  eben  darum  alle  Bestim- 
mungen als  Beschränkungen  abgesprochen  werden.  Im  Gegensatz 
zu  ihm  ist  das  Böse  blosse  Schranke,  Mangel,  und  es  kommt  ihm 
gar  kein  Scyn  zu.  Ganz  besonders  ist  berühmt  geworden  die  Glie- 
derung der  Engelwelt  in  drei  Triaden,  oder  die  himmlischen  Hie- 
rarchien, Seraplibn  Cheruhnn  Tf/voni,  dann  Dominafiones  Viriii- 
tes  Polest al PS,  endlich  Principaliis  Archimyeli  Augcli  steht  hin- 
fort als  die  abwärts  gehende  Stufenfolge  unwandelbar  fest;  nur 
den  Priuvipaliis  wird  von  Einigen ,  z.  B.  Gregor  ins  dem  Grossen, 
die  Stelle  vor  den  PofcsUtfihns  angewiesen,  so  dass  dann  anstatt 
ihrer  die  Virtutes  an  der  Spitze  der  dritten  Ordnung  (Hierarchie) 
stehen.  Das  alte  Testament  hat  die  Seraphim  und  Cherubim,  der 
Colosser-  und  Epheserbrief  die  fünf  folgenden  Stufen  gegeben, 
wozu  dann  endlich  die  häufig  erwähnten  Erzengel  und  Engel  kom- 
men. Dabei  will  aber  Dtovy suis  durchaus  nicht,  dass  diese  Ptang- 
ordnung  durch  die  successive  Emanation  einer  Classe  aus  der  an- 
deren erklärt  werde,  sondern  jede  derselben  ist  unmittelbar  aus 
Gott  hervorgegangen  oder  vielmehr  von  ihm  geschaffen.  Der  Schö- 
pfungsbegrift'  wird  nämlich  mit  der  grössten  Entschiedenheit  fest- 
gehalten ,  woher  auch  Dionysius  in  der  Folgezeit  immer  als  Auto- 
rität gegen  die  Neuplatoniker  angeführt-  wird.  Als  eifriger  Vereh- 
rer schliesst  sich  an  den  Areopagiten  der  Abt  Maximus  (580 — 662), 
mit  dem  verdienten  Ehrennamen  Confcssor  geziert,  der  in  seinen 
Werken  —  (ed.  Comhefisins  H  Vol.  Paris  1675 ,  wozu  ergänzend : 
Gehler  Anecdota  graeca  Tom.  I  Hai.  1857)  —  das  letzte  aber  glän- 
zende Aufflackern  des  speculativen  Geistes  in  der  griechischen 
Kirche  zeigt.  Dass  Gott  sich  durch  die  beiden  Bücher  der  Natur 
und  Schrift  offenbart,  dass  Er  nur  durch  negative  Prädicate  zu 


III.  Die  Kirchenväter.     Sammler  und  Commentatoreu.     §.   146.   147.       243 

beschreiben  ist,  dass  der  Logos  die  primitiveii  Ursaclieu  aller 
Dinge  in  sich  befasst,  dass  alles  wahre  Seyn  gut  und  darum  das 
Böse  weder  ein  Seyn  noch  ein  Object  des  göttlichen  Wissens  und 
Wollens  sey,  dass  die  Incarnation  auch  ohne  den  Sündenfall  des 
Menschen  Statt  gefunden  hätte,  weil  sie  nur  der  Gipfelpunkt  der 
vorhergehenden  Offenbarung  ist,  dass  Sinn,  Verstand  (ratio)  und 
Vernunft  (intdlccLns)  die  drei  Stufen  der  Erkenntuiss  bilden,  dass 
das  allendliche  Ziel  der  allgemeine  Sabbath ,  an  dem  Alles  in  Gott 
eingehen  werde  u.  s.  w.  —  das  sind  Behauptungen  des  Maximus, 
die  in  der  Folgezeit  eine  wichtige  Piolle  spielen.  —  Das  grosse 
Ansehn,  welches  Johannes  von  Damascus,  der  in  der  zweiten 
Hälfte  des  achten  Jahrhunderts  starb,  in  der  Orientalischen  Kirche 
noch  heute  geniesst,  dankt  er  nicht  seiner  Tiefe  und  Originalität, 
Vielmehr  zeigen  seine  Werke  (ed.  Letjinen  2  Voll.  Paris  1712)  einen 
blossen,  oft  geistlosen  Sammlerfleiss,  mit  dem  er  zusammenstellt, 
wie  die  Philosophen  definirt,  wie  die  Peripatetiker  eingetheilt, 
welche  Kategorien  die  Väter  angewandt  haben,  welche  Häresien 
aufgetreten  sind,  endlich  welche  Lehren  für  orthodox  galten.  Er 
wollte  aber  auch  nichts  Eignes  geben,  und  es  bedurfte  auch  in 
jener  Zeit  keiner  neuen  Erzeugnisse  des  pliilosophirenden  Geistes. 
Ein  Piepertorium  der  Lelnren  der  Väter  war  Bedürfniss  und  ihm 
hat  der  Damascener  abgeholfen,  indem  er  aus  der  patristischen 
Thätigkeit  die  abschliessende  Summe  zog.  Wie  er  selbst  schon, 
so  haben  die  nachfolgenden  griechischen  Theologen  sich  viel  mit 
Polemik  gegen  die  Muselmänner  beschäftigt.  Polemisches  und  Apo- 
logetisches ist  das  Einzige,  was  die  griechische  Kirche  noch  her- 
vorbringt. 

§.  147. 
Auch  in  der  Abendländischen  Kirche  hört  in  dieser  Zeit  die 
schöpferische  Thätigkeit  des  philosophirenden  Geistes  auf.  Des 
C/audianiis  Eccidius  Manier  Ins ,  eines  Presbyters  zu  Vienne  in 
Gallien,  Schrift  de  statu  animae  (ed.  Mosellanas  Basil.  1520,  ed. 
harth.  Cygn.  1655),  in  welcher  er  die  Lehre  von  der  Körperhch- 
keit  der  Seele  mit  Anwendung  der  Aristotehschen  Kategorien  be- 
streitet, ist  ohne  Bedeutung  und  Einfluss.  Den  letzteren  hat  in 
sehr  hohem  Grade  gehabt  Marcianns  Mineiis  Felix  Capeila,  des- 
sen im  J.  460  gescliriebencs  Satyricon  (Pr.  Vicent.  1499  dann 
oft  herausg.)  in  neun  Büchern  einen  kurzen  Abriss  aller  damals 
bekannten  Wissenschaften  enthält.  Bald  nach  ihm  lebt  Aniciiis 
Man  Uns  (Turquaius?)  Sererus  Boelhias  478—525,  dessen  bedeu- 
tender Einfluss  auf  die  spätere  Philosophie  sich  nicht  sowol  auf 
seine  im  eklektischen  Geiste  geschriebene  Originalschrift  (de  con- 

16* 


244  Mittelalterliche  Philossophie.    Erste  Periode  (Patristik).    Schlussbem.    §.  148. 

solatione  philosophiae  libri  V),  als  vielmehr  auf  seine  Uebersetzun- 
gen  aller,  und  seine  Commentare  zu  einigen,  analytischen  Schriften 
des  Aristoteles  j  so  wie  zu  der  des  Porphyr  ins  gründet,  wodurch 
er  u.  A.  der  Schöpfer  der  späteren ,  zum  Theil  noch  der  heutigen, 
Terminologie  geworden  ist.  Die  im  Mittelalter  hoch  geachtete 
Schrift  de  trinitate  gehört  ihm  nicht  an.  Eben  so  wenig  die,  wel- 
che, da  sie  sieben  ausgewählte  schwierige  Fragen  betrifft,  de  he- 
bdomadibus  genannt  worden  ist,  so  wie  die  Schriften  de  fide  chri- 
stiana  und  de  duabus  naturis  in  Christo.  Es  ist  sogar  bezweifelt 
worden,  ob  er  Christ  war;  dass  er  kein  sehr  eifriger  war,  geben 
selbst  die  zu,  die  ihn  für  einen  halten.  (Vgl.  F.  Nitzsch  Das  Sy- 
stem des  Boethius.  Berlin  1860.)  Seine  sämmtlichen  Werke  sind 
■zuerst  1492  in  Venedig,  dann  in  Basel  1546  und  später  sehr  oft, 
auch  in  Migne's  Patrologie,  erschienen.  —  Wie  Mnrciamis  Ca- 
pe/la,  so  hat  auch  Mngnus  Aiirclius  Oissiodorns  (469 — 508)  eine 
encyclopädische  Uebersicht  der  Wissenschaften  gegeben.  Seit  ihm 
stand  es  fest,  dass  der  systematische  Unterricht  zuerst  die  drei 
artes  (Grummatlca ,  DUilecticd ,  lihetorica ,  zusammen  auch  Lo- 
gica ,  auch  wohl  sclentiae  sermocinales  genannt),  dann  die  vier 
disciplinne  (Arithmelicu ,  Geomctria ,  Mnsica ,  Astronom'ui ,  zu- 
sammen iV/fl^Z/ew^^Z/rrt,  auch  wohl  scientiae  reales ,  später  Physica 
genannt)  befassen  oder  sich  als  irlvlinn  und  qaaclrirunn  gestalten 
müsse.  —  Endlich  ist  zu  erwähnen  Isklorns,  Bischof  von  Sevilla, 
gest.  636  (Opp.  ed.  de  la  Eigne  Paris  1580.  Fol.,  dann  öfter,  u. 
A.  in  jMigne's  Patrologie),  dessen  ein  und  zwanzig  Bücher  Origi- 
nes  oder  Etymologiae  für  lange  Zeit  das  Repertorium  waren,  aus 
welchem  die  gelehrten  Notizen  geschöpft  wurden,  ganz  wie  seine 
drei  Bücher  Sentenzen  für  Viele  die  einzige  Quelle  ihrer  Kennt- 
niss  der  Kirchenväter,  seine  Schriften  de  ordine  creaturarum  und 
de  natura  rerum  Hauptquelle  für  die  Naturerkenntniss  wurden. 

§•  148. 
Mit  der  Philosophie  der  Kirchenväter  schliesst  die  erste  Pe- 
riode der  mittelalterlichen  Philosophie  ab,  die,  weil  in  jener  die 
gnostische  und  die  neuplatouische  Philosophie  als  Momente  ent- 
halten sind,  a  potior i  als  die  patr istische  oder  als  die  Pe- 
riode der  Patristik  bezeichnet  werden  kann.  Zwar  nicht  die 
drei  betrachteten  Richtungen,  wohl  aber  ihr  Verhältniss  unter 
einander  kann  verglichen  werden  mit  dem,  was  die  erste  Periode 
der  griechischen  Philosophie  (§.  18  —  48)  gezeigt  hatte.  Wenn 
Origenes  mit  den  Waffen,  die  er  bei  Ammonius  führen  lernte, 
die  Gnostiker,  und  Athaimsius  mit  Gründen,  die  er  dem  Origenes 
entnahm,  die  Arianer  bekämpft,  wenn  August  in  durch  Plotin  und 


Zweite  Periode  (Scholastik).     Einleitung.     §.   149.   150.  245 

Porpliyriiis  vom  Manichäismus  befreit  wird,  und  der  Areopagite 
mit,  dem  Proklos  abgelernten,  Formeln  nachzuweisen  versucht, 
dass  die  christliche  Lehre  die  wahre  Weisheit  enthalte ,  und  wenn 
doch  auf  der  anderen  Seite  die  bedeutendsten  Neuplatoniker ,  in- 
dem sie  gar  keinen  Unterschied  zwischen  den  Gnostikern  und  den 
Kirchenvätern  machen,  auch  an  den  Letzteren  den  Welthass  und 
die  Weltverachtung ,  den  Mangel  an  Schönheitssinn  und  dgl.  mehr 
tadeln,  so  ist  dies  einzig  so  zu  erklären,  dass  die  Kirchenväter 
so  über  beiden  stehn,  wie  Empedoklcs  über  den  Eleaten  und  Phy- 
siologen gestanden  hatte. 


Der  mittelalteriicheii  Philosophie  zweite  Periode. 

(Di-e  Scholastik.) 

C.  E.  Buläus  Histoiia  uuiversitatis  Parisiensis  etc.  Paris  1665.  VI  Voll.  Fol. 
Haure.au  De  la  Philosophie  scolastique.  Paris  1850.  I>css.  Siugularite's  historiques 
et  literaires.   Paris  1861. 

§.  149. 

Erst  nachdem  sie  selbst  weltliche  Existenz  gewonnen  hat, 
oder  zur  Kirche  geworden  ist,  kann  die  Gemeinde  darauf  aus gehn, 
die  Welt  zu  besiegen.  Da  sie  aber  jene  Veränderung,  wenigstens 
mit,  der  Weltmacht  dankt,  so  hindert  dieses  töchterliche  Verhält- 
niss  zum  Staat  den  rücksichtslosen  Kampf,  ohne  den  kein  Sieg 
möglich  ist.  In  der  griechischen  Kirche  bleil)t  es  bei  diesem  Ver- 
hältniss,  und  hört  die  Cäsaropapie  nie  ganz  auf.  Dagegen  tritt 
die  römische  Kirche  schon  den  erobernden  Heiden  gegenüber,  noch 
mehr  aber  da ,  wo  sie  ihre  Sendboten  zu  den  heidnischen  Völkern 
aussendet ,  als  Geberinn  nicht  nur  des  Glaubens ,  sondern  auch  der 
staathchen  Ordnung  und  Gesittung  auf,  und  kommt  so  vielmehr 
in  ein  mütterliches  Verhältniss  zur  weltlichen  Macht.  Wo  dieses 
anerkannt  wird ,  gehn  Kirche  und  Staat  ganz  einen  Weg  und  findet 
gegenseitige  Anerkennung  Statt;  wo  nicht,  da  tritt  mit  Recht  die 
Kirche  solcher  Impietät  entgegen.  Im  Gegensatz  zur  orientali- 
schen Staatskirche  entwickelt  sich  im  Occident  der  Kirchenstaat. 
Extensiv  durch  Missionen,  denen  meistens  das  Schwert  des  Er- 
oberers die  Bahn  bricht,  intensiv  durch  energische  Päpste,  die 
Macht  der  Kirche  auszubreiten  und  zu  mehren,  oder  Alles  unter 
geistliche  Herrschaft  zu  bringen,  das  wird  jetzt  die  Losung. 

§.  150. 

Die  Aufgabe  der  Missionare   der  römischen  Kirche  ist  eine 
ganz  andere  als  die  der  Apostel  gewesen  war.    Nicht  die  frohe 


246  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Botschaft  von  dem  Heil,  das  erschienen  ist,  sondern  den  Lehrbe- 
griff der  römischen  Kirche  haben  sie  dem  Geiste  der,  namentlich 
der  germanischen,  Völker  zugänglich,  ihre  Verfassung  denselben 
zur  Gewohnheit  zu  machen.  Dazu  bedarf  es  nicht  nur  des  apo- 
stolischen Eifers ,  sondern  einer  gründlichen  Einsicht  in  das  ganze 
System  der  Dogmen,  und  wieder  einer  grossen  dialektischen  Fer- 
tigkeit, um  Lehren,  die  mit  Hülfe  einer  Philosophie  erzeugt  wa- 
ren, in  der  sich  vereinigt  hatte  was  der  klassische  und  orienta- 
lische Geist  auf  dem  Höhenpunkte  ihrer  Bildung  gemeinschaftlich 
hervorgebracht  hatten,  um  diese  dem  natürlichen  imverkünstelten 
Verstände  roher  Völker  annehmbar  zu  machen.  Es  entstehen  da- 
her Missionsschulen,  deren  Zöglinge,  wenn  sie  von  einer  zur  an- 
dern wandern,  sehr  oft  als  Lehrer  und  Schüler  zugleich  wirken, 
und  frühe  den  Namen  Scholaslici  bekommen. 

§.  15L 
Wie  dem  Drange  der  Gemeinde,  Kirche  zu  werden,  die  pa- 
tristische  Philosophie ,  so  entspricht  dem  Verlangen  der  Kirche, 
ihren  Dogmen  bei  dem  natürlichen  denkenden  Menschen  Eingang 
zu  verschaffen  ,  eine  Philosophie ,  die ,  wegen  der  Aehnlichkeit  ihrer 
Aufgabe  mit  der  jener  Missionäre,  mit  Recht  den  Namen  der 
Scholastik  oder  der  scholastischen  Philosophie  erhalten 
hat.  Ihre  Repräsentanten  haben  nicht  der  Kirche  zur  Existenz 
zu  verhelfen,  sondern  die  Lehre  derselben  zu  bearbeiten,  sie  sind 
daher  nicht  Pufres,  sondern  Magistri  ccclesine.  Ihre  und  der 
Kirchenväter  Aufgabe  kann  zwar  unter  ein  und  dieselbe  Formel 
gebracht  werden,  denn  Beide  wollen  was  der  Glaube  besitzt  der 
Vernunft  zugänglich  machen ,  nur  heisst  „Glaube"  bei  den  Kirchen- 
vätern: was  in  der  Bibel  steht,  dagegen  bei  den  Scholastikern: 
die  von  den  Vätern  festgestellten  Dogmen.  Die  Ersteren  haben 
das  Dogma  gemacht,  die  Letzteren  haben  es  verständig  zu  ordnen 
und  verständlich  zu  machen.  Wenn  daher  das  Philosophiren  der 
Scholastiker  immer  von,  durch  Autorität  feststehenden,  Sätzen 
ausgeht,  so  ist  dies  keine  Beschränktheit,  es  ist  die  nothwendige 
Beschränkung  auf  ihre  Aufgabe.  Die  Philosophie  der  Scholastiker 
ist  kirclüich,  daher  auch  ihre  Sprache  das  (Kirchen-)  Latein,  die 
eigentlich  katholische  Sprache,  vermöge  der  die  Glieder  der  aller- 
verschiedensten  Völker  gleichzeitig  in  ihrer  (der  Kirche)  eignen 
Sprache  das  Evangelium  vernehmen  und  auslegen.  Mit  der  ver- 
schiedenen Aufgabe  der  Kirchenväter  und  Scholastiker  hängt  es 
auch  zusammen,  dass,  während  die  Kirchenväter  sich  besonders 
an  solche  frühere  Philosophen  halten  nlussten,  deren  Lehren  hin- 
sichtlich des  Inhaltes  mit  dem  Evangelio  die  grösste  Aehnlichkeit 


I.  Die  Jugeudpeiiode  der  Scholastik.     §.  152.   153.  247 

zeigten,  die  Scholastiker  besonders  solche  Schriftsteller  hoch  stel- 
len, aus  denen  in  Bezug  auf  die  Form  am  Meisten  zu  lernen  ist. 
Darum  die  Hochachtung  Yor  logischen  und  encyclopädischen  Wer- 
ken, welche  es  erklärlich  macht,  dass,  als  später  der  ganze  Ari- 
stoteles wieder  bekannt  wurde,  dieser  Vater  der  Logik,  diese  le- 
bendige Encyclopädie  aller  Wissenschaften ,  der  anerkannte  Meister 
der  Scholastiker  wurde.  Gleich  anfänglich  aber  stehen  unter  den 
wenigen  Büchern  des  Alterthums,  die  nicht  vergessen  waren,  einige 
der  analytischen  Schriften  des  Aristoteles  und  die  Einleitung  des 
Porjj/njrins  in  der  üebersetzung  und  mit  den  Commentaren  des 
Boetliiiis  oben  an.  Die  Analytiken  und  Topiken  bleiben  lange  un- 
bekannt. Des  Boetliiits  Abhandlungen  über  den  kategorischen 
und  hypothetischen  Schluss,  so  wie  über  die  Topik  müssen  ihre 
Stelle  vertreten. 

I. 

Die  Jugciidperiode  der  Scholastik. 

§.  152. 

Das  Ziel,  nach  welchem  der  mittel alterhche  Geist  strebt,  die 
Welt  den  geistlichen  Interessen  dienstbar  zu  machen,  erscheint 
in  der  wunderbaren  Erscheinung  des  Fränkischen  Kaiserreiches 
so  sehr  erreicht,  dass  alle  späteren  Versuche  ihm  näher  zu  kom- 
men, mehr  oder  minder  bewusst,  darauf  ausgehn,  jene  Monarchie 
zu  wiederholen.  Das  letzte  Weihnachtsfest  des  achten  Jahrhun- 
derts zeigt  eine  Vermählung  von  Weltmonarchie  und  Welthierarchie, 
wie  sie  das  Mittelalter  grösser  nicht  wieder  gesehn  hat.  Kaum 
vorbereitet  findet  Karl  der  Grosse  die  Aufgabe  vor,  die  lediglich 
durch  die  Kraft  seines  Genies  gelöst  wird,  welches  sich  Aufgaben 
stellt,  die  erst  viele  Jahrhunderte  später  wieder  hervortreten.  Eben 
darum  aber  ist  auch  seine  Leistung  eine  vorübergehende  Erschei- 
nung, welche,  als  die  Epoche  machende,  den  späteren  Zeitaltern 
das  unverrückbare  Ziel  ihres  Strebens  vor  Augen  stellt:  einen  Re- 
genten der  Christenheit,  welcher  zugleich  Lehnsherr  und  liebster 
Sohn  der  kathoUschen  Kirche  ist. 

§.  153. 

Die  scholastische  Philosophie,  als  die  Weltforniel  dieser  Pe- 
riode, beginnt  ganz  eben  so  mit  einem  Manne,  der  durch  die  Kraft 
seines  Genie's  das  unmittelbar  erfasst,  was  die  auf  ihn  Folgenden 
langsam  zu  verarbeiten  haben;  die  völlige  Einheit  nämlich  des 
von  den  orientalischen  und  occidentaUschen  Vätern  festgestellten 
Kirchenglaubeus  mit  dem  was  der  Verstand  erforscht,  steht  ilim 
so  fest,  dass   er  sich  erbietet,  jeden  Zweifel  gegen  den  erstereu 


248  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

vermöge  des  letzteren  zu   widerlegen.     Dass  dieser  Epoche  ma- 
chende, welcher  verspricht,  was  in  ihrer  Vollendung  die  Scholastik 
leistet  (s.  §.  205),   einem  der,  ihre  Bildung  von  Rom  empfangen- 
den, Völker  angehört,  kann  nicht  als  etwas  Zufälliges  angeselm 
werden.    War  es  doch  diesen  besonders  wichtig,  dass  solche  Ueber- 
einstimmung  dargethan  wurde.    Dazu  kommt,  dass  in  seinem  Va- 
terlande,  zu  einer  Zeit,   wo   die  wissenschafthche  Cultur  überall 
sehr  darniederlag ,  die  Geistlichkeit  eine  sehr  rühmliche  Ausnahme 
bildete.    Die  hibernische  Weisheit  war  berühmt,  hibernisch  hiess 
die  durchs  irivinm  zum  fjnadririum  fortschreitende  Schulmethode. 
Von  Irland  pflanzte  sie  sich  nach  Schottland  und  England,  von  da 
auf  den  Continent  fort.    Die  Namen  Beilu  (673 — 735)  und  AIcuin 
(736 — 804),  welche  die  Schulen  zu  Weremouth  und  York  geziert 
haben,   gehören  nicht  nur  ihrem  Lande,   sondern   der  Welt  an. 
Alcmns  bediente  sich  Karl  der  Grosse,  um  in  seiner  Palastschule 
und  auch  sonst  (namentlich  in  der  von  Alcnin  gestifteten  Schule 
zu  Tours)  Lehrer  für  sein  Volk  bilden  zu  lassen.    Sein  Schüler 
und  Nachfolger  Frcdcgisus ,  eben  so  VHiahanus  Mau  ms  sind,  der 
eine  für  Frankreich,   der  andere  für  Deutschland,  die  Anfänger 
nicht  nur  des  gelehrten,   sondern  auch  des  philosophischen  Inter- 
esses geworden.    Unter  Alailn's  Schriften  ist  de  ratione  animae, 
unter  denen  des  Rhahamis  das  encyclopädische  Werk  de  universo, 
auch  wohl   de  naturis  genannt,   so  wie  seine  Commentare  zu  des 
Porplyrius  Einleitung   und  zur  Aristotelischen  Schrift  vom   Satz, 
nicht  fruchtlos  geblieben.    Ein  jüngerer  Zeitgenosse  dieser  beiden, 
in  Brittannien  geboren  und  gebildet,  ist  nun  der,   den  man  den 
Carolus  Magnus   der  scholastischen  Philosophie    nennen   möchte, 
Eriffena. 

A. 
Die  Scholastik  als  Yerschmelzimg  von  Religion  und  Vernunft. 

§.  154. 
E  r  i  g  e  n  a. 
P.  Hjort  Johannes  Scotus  Erigena  oder  Vom  Ursprünge  einer  christlichen  Phi- 
losophie. Kopenhagen  1823.  F.  A.  Staudenmaier  Jo.  Scot.  Erigena  und  die  Wissen- 
schaft seiner  Zeit,  ir  Th.  Frkf.  a.  M.  1834.  St.  Rene.  Taülandier  Scot  Erigena  et 
la  Philosophie  scolastique.  Strassb.  1843.  Th.  Christlieb  Leben  und  Lehre  des  Joh. 
Scot.  Erigena.    Gotha  1860.     Jo.  liiiher  Joh.   Scot.  Erigena.    München   1861. 

L  Dass  die  ältesten  Handschriften  bald  den  Namen  Joan- 
nes Scotus  (oder  auch  Scoiigena) ,  bald  Joannes  Jerugena 
(später  Erigena) ,  enthalten,  hat  Streitigkeiten  über  den  Ge- 
burtsort dieses  Mannes  entstehen  lassen.  Ergene  in  England,  Aire 
in  Schottland,  endlich  Irland  (iequ  vr^ong ,  ^Uqvyj,  Erin)  streiten  um 


I.  Jugendperiode.  A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernunftlehre.  Erigena.  §.  154,  1.  2.  249 

die  Ehre ,  die  wahrscheinlich  dem  letzteren  zukommt ,  wie  er  denn 
auch  immer  als  Repräsentant  der  hibernischen  Weisheit  citirt  wird. 
Geboren  zwischen  den  Jahren  800  und  815,  hat  er  877  noch  ge- 
lebt. Seine  Kenntniss  der  griechischen  Sprache  so  wie  seine  Hin- 
neigung zum  griechischen  Dogma  und  zur  Alexandrinischen  Phi- 
losophie macht  die  Nachricht,  dass  er,  namentlich  in  Griechenland, 
viele  Reisen  gemacht  habe,  glaublich,  obgleich  Beides  in  seinem 
Vaterlande  nicht  unerhört  war.  Von  Karl  dem  Kahlen  nach  Pa- 
ris gerufen,  hat  er  dort  der  Palast-  oder  einer  andern  Schule 
vorgestanden.  Er  war  wahrscheinhch  Laie  und  die  Nachricht, 
dass  er  als  Abt  von  Athelney  oder  nach  Anderen  von  Malmesbury 
umgebracht  sey,  beruht  wohl  auf  einer  Namensverwechslung.  Eben 
so  wenig  steht  es  fest,  dass  er,  von  Alfred  dahin  gerufen,  in 
Oxford  gelehrt  habe.  Schon  dass  er  überhaupt  einen  ganz  neuen 
Standpunkt  geltend  macht ,  dann  aber  die  Art  seiner  Bekämpfung 
der  Gottschalkschen  Lehre  über  Prädestination,  die  selbst  H'mk- 
mar  von  Rheims,  der  ihn  zu  seiner  Schrift  veranlasst  hatte,  ta- 
delte ,  machte  ihn  der  Geistlichkeit  verhasst.  Ihm  wurde  und  wird 
zum  Theil  noch  jetzt  die,  wahrscheinlich  von  Ftalrmnnus  verfasste, 
Schrift  über  das  Abendmahl  gegen  Paschashis  Badbert  zugeschrie- 
ben, die  auf  Befehl  der  Geistlichkeit  verbrannt  ward.  Die  ohne 
päpstliche  Erlaubniss  veröffentlichte  Uebersetzung  des  Dloinjsius 
Areo])(igita  im  J.  860  bewog  den  Papst  Nikolavs  I  die  Entfernung 
des  Erigena  von  Paris  zu  verlangen,  die  aber  nicht  erfolgte,  denn 
im  J.  873  war  er  gewiss  noch  in  Frankreich.  Sein  Hauptwerk: 
die  fünf  Bücher  de  divisione  naturae  {tteqI  <fvoeo}v  inEQiCfiov,  auch 
als  TieQL  cfvaeiog,  de  naturis,  peri  fision  merismu,  periphisis  u,  s.  w. 
citirt)  wurde  am  23.  Jan.  1225  feierlich  verbrannt,  und,  weil  man 
das  Werk  viel  bei  den  Albigensern  fand,  verfolgt  und  dadurch 
sehr  selten.  Es  ward  im  J.  1681  von  Gale  zuerst  veröffentlicht, 
im  J.  1830  von  SchHUer  neu  herausgegeben.  Viel  correcter  als 
beide  Ausgaben  ist  die  von  A.  J.  Floss,  welcher  das  Werk  zu- 
gleich mit  der  Schrift  über  die  Prädestination  und  der  Uebersetzung 
des  Areopagiten  im  J.  1853  als  122"^"  Band  in  Miguels  Patrolo- 
giae  cursus  completus,  mit  den  Vorreden  von  Gale  und  Scklnter 
dazu,  herausgegeben  hat.  Nur  den  von  Gale  angezweifelten  Com- 
mentar  zu  Marcianns  Capella  findet  man  in  der  Floss'schen  Aus- 
gabe nicht.    Diesen  hat  neuerlichst  Haiireau  herausgegeben. 

2.  Der  in  der  Schrift  über  Prädestination  (I,  1)  und  auch 
sonst  vom  Erigena  ausgesprochene  Satz ,  dass  die  wahre  Religion 
auch  die  wahre  Philosophie  und  umgekehrt  sey,  ist  das  Thema 
der  ganzen  scholastischen  Philosophie.    Die  daraus  sich  ergebende 


250  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Folgerung,  dass  jeder  Zweifel  gegen  die  Religion  durch  die  Phi- 
losophie widerlegt  werden  könne,  erschien  damals  noch  als  so 
unerhört,  dass  eine  Versammlung  fränkischer  Geistlicher  dies  für 
Wahnsinn  oder  Gotteslästerung  erklärte.  Religion  ist  ihm  in  ihrem 
Verhältniss  zur  Philosophie ,  was  Autorität  zur  Vernunft  ist.  Dem 
Range  nach  geht  die  Vernunft  vor,  ja  selbst  der  Zeit  nach,  da 
ja,  was  die  Autorität  der  Väter  lehre,  von  ihnen  mit  Hülfe  der 
Vernunft  gefunden  sey.  Die  Schwachen  haben  natürlich  sich  der 
Autorität  zu  unterwerfen ,  dagegen  die  minder  Schwachen  sich  um 
so  ^veniger  mit  ihr  begnügen  sollen,  als  die  Bildlichkeit  vieler 
Ausdrücke,  ferner  die  nicht  abzuleugnende  Accommodation  der  Vä- 
ter an  das  Verständniss  der  Ungebildeten,  den  Vernunftgebrauch 
als  Correctiv  fordern  (Div.  nat.  I,  69).  Unter  Vernunft  ist  aber 
nicht  die  bloss  subjective  Ansicht,  sondern  das  gemeinsame  Den- 
ken zu  verstehn,  welches  im  Gespräch  hervortritt,  wo  aus  zwei 
Vernunften  eine,  indem  Jeder  der  sich  Unterredenden  gleichsam 
zum  Andern,  wird  (IV,  9).  Das  Organ  dieses  allgemeinen  Denkens 
oder  der  eigen thchen  Speculation  ist  der  inteUectiis^  auch  wohl 
vovg  oder  ainmns  genannt,  welcher  über  der  ratio  oder  dem  loyog 
und  noch  mehr  über  dem  scnsus  internus  oder  der  didvoia  steht. 
Das  Eigcnthümliche  der  Speculation  wird  von  ihm  bald  darein  ge- 
setzt, dass  sie  nicht  bei  dem  Einzelnen  stehn  bleibt,  sondern  stets 
das  Ganze  ins  Auge  fasst ,  womit  dann  Hand  in  Hand  geht ,  dass 
sie  sich  über  alle  Gegensätze  erhebt,  bald  wieder  darein,  dass 
darin  der  Wissende  gewissermassen  zum  Gewussten  werde,  so  dass 
also  das  speculative  Erkennen  des  Erigena  Einheit  des  Subjecti- 
ven  und  Objectiven  ist  (H,  20).  Dabei  wird  seine  Unmittelbarkeit 
sehr  oft  dadurch  angedeutet,  dass  es  als  mtellectnafis  risio ,  als 
intnitns  gnosticns  oder  als  experimentum  bezeichnet  wird. 

3.  Die  Totalität  alles  Seyns,  bald  7iccv,  bald  cfvaig  (weshalb 
er  im  vierten  Buche  seine  ganze  Untersuchung  Physiologia  nennt), 
gewöhnlich  natura  genannt,  zerfällt  in  vier  Classen:  die  un ge- 
schaffene schaffende ,  die  geschaffene  schaffende,  die  geschaffene 
nicht  schaffende,  die  weder  geschaffene  noch  schaffende.  Da  von 
diesen  die  erste,  der  Grund  alles  Seyns,  und  die  vierte,  der  letzte 
Zweck,  über  den  eben  deswegen  Nichts  weiter  hinausgeht,  in  Gott 
fällt,  die  zweite  Classe  aber  den  diametralen  Gegensatz  zur  vier- 
ten, die  dritte  zur  ersten  bildet,  so  befassen  diese  beiden  das 
Geschöpf  in  sich ,  und  zwar  so ,  dass  die  zweite  Classe  durch  die 
zuerst  geschaffenen  causae  primordiales  aller  Dinge,  die  dritte 
durch  deren  Wirkungen,  die  Dinge  selbst,  gebildet  wird  (H,  2. 
V,  39  u.  a.  a.  0.).    Von  den  fünf  Büchern,  in  welche  das  Werk 


I.  Jiigendperiode.  A.  Schol.  als  Eelig'.- u.  Vernunftlelire.  Erigeua.  §.  154,  3.  4.  2bl 

des  Erigena  zerfällt,  betrachten  die  vier  ersten  je  eine  Classe 
des  Seyenden,  ohne  jedoch  sich  ängstlich  darauf  zu  beschränken; 
im  fünften  wird  die  Rückkehr  alles  Geschaffenen  in  den  Grund 
der  Schöpfung  dargestellt.  Das  Verfahren  ist  dabei,  dass  fort- 
während Vernunft-  und  Autoritäts  -  Gründe  in  einander  gemischt 
werden.  Was  die  letzteren  betrifft,  so  wird  die  h.  Schrift  mei- 
stens allegorisch  ausgelegt  und  er  folgt  dabei  direct  dem  Orlgeiies, 
indirect  dem  PliUo.  Ausser  der  Schrift  ruft  er  die  Väter,  die 
griechischen  sowol  als  die  lateinischen,  zu  Hülfe.  Unter  jenen 
werden  besonders  Orlgcncs,  die  kappadocischen  Gregore,  die  er 
aber  zu  einer  Person  macht,  der  Areopagite  und  Maximns  der 
Bekenner  ausgebeutet,  unter  diesen  Avgvst'm  und  fast'  noch  mehr 
der  allegorisirende  Schriftausleger  Amhrosins.  Was  die  Grössten 
des  Orients  und  Occidents  geleistet  hatten,  wird  so  für  ihn  zum 
Ausgangspunkt. 

4.  Von  Gott  als  dem  ungeschaffenen  Schöpfer  ist  besonders 
im  ersten  Buche  die  Rede.  Er  wird  gewöhnlich  summa  honilas 
genannt.  Als  der,  von  dem,  durch  den  und  zu  dem  Alles  ist, 
ist  er  Anfang,  Mitte,  Ende  und  darum  mit  Recht  als  die  Einheit 
dreier  Personen  bezeichnet,  etwas  was  um  so  weniger  Anstoss 
erregen  kann,  als  der  Mensch,  das  Ebenbild  Gottes,  die  Dreieinig- 
keit in  sich  selbst  trägt,  mag  man  sie  nun  mit  August  in  in  dem 
esse,  velle  und  scire,  mag  man  sie  mit  andern  Vätern  in  der 
essentia.  rirtus  und  operatio,  mag  man  sie  endlich  im  infellcctus, 
ratio  und  sensus  finden.  Alle  drei  Personen  bilden  das  ungeschaf- 
•fene  Schaffende,  denn  Pater  mit,  Filius  facit,  Spiritus  per  feit. 
Gott  ist  so  sehr  Grund  alles  Seyns,  dass  es  eigentlich  ausser  ihm 
gar  kein  Seyn  gibt,  Alles  nur  in  sofern  ist,  als  Gott  in  ihm  er- 
scheint; alles  Seyende  ist  Theophanie  (III,  4).  Das  Seyn  Gottes 
ist  in  keiner  Weise  beschränkt,  darum  ist  er  nicht  eigentlich  ein 
(juid ,  weiss  eigentlich  nicht,  was  Er  ist,  weil  er  über  jedes  (jiiid 
hinaus  ist,  und  in  sofern  itiJnl  genannt  werden  kann  (II,  28). 
Eben  so  muss  aus  Gott  jede  Vielheit,  auch  der  Eigenschaften, 
ausgeschlossen  werden :  sein  Wissen  ist  Wollen ,  sein  Wollen  Seyn, 
was  Gott  weiss,  das  will,  das  ist  Er.  Alles  ist  nur  in  so  weit 
wirldich,  als  es  in  Ihm,  ja  als  es  Gott  ist  (I,  12.  III,  17).  Das 
unendliche  Wesen  Gottes,  dieses  eigentliche  niliihivi.  aus  welchem 
die  Theologen  die  Dinge  hervorgehen  lassen ,  wird  in  seinen  .Theo- 
phanien  zu  bestimmtem  Seyn  (aliquid) ,  so  dass  Gott,  ohne  auf- 
zuhören über  den  Dingen  zu  seyn,  in  ihnen  wird  und  sich  selbst 
schafft  (III,  19.  20). 

5.  Der  erste  Uebergang  (progressio)  führt  nun.  zu  dem  Ge- 


252  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

gen  Stande  des  zweiten  Buches,  der  geschaffenen  und  selbst 
wieder  schaffenden  Natur.  Unter  dieser  ist  zu  verstehu  der  In- 
begriff der  causac  primordiales .  ideae,  formne,  protolypa  ^  im- 
midabiles  rationes  u.  s.  w.  in  dem  Verbum  Dei,  das  sie  alle  in 
sich  befasst,  als  der  Anfang,  in  dem  Gott  Alles  schuf,  als  die 
Weisheit,  in  der  Er  Alles  vor  sich  sah.  Obgleich  geschaffen,  sind 
sie  doch  ewig,  denn  wenn  eine  Zeit  wäre,  wo  Gott  nicht  schüfe, 
so  wäre  ihm  das'  Schaffen  accidentell  und  das  ist  unmöglich  (III, 
6).  Unter  diesen  ersten  Principien  aller  Dinge  werden  Güte,  We- 
senheit, Leben,  Seligkeit  u.  s.  w.  aufgezählt,  kurz  die  höchsten 
denkbaren  Prädicate,  unter  welchen  Alles  steht,  was  an  ihnen 
Theil  nimmt,  weil  das  purlicipatum  immer  mehr  ist  als  das  par- 
iicipcnis  (III,  1.  2).  Dass  Erigenn  es  an  Lobsprüchen  des  Plato 
nicht  fehlen  lässt ,  versteht  sich  hiernach  von  selbst.  In  ihrer  ewi- 
gen Existenz  in  dem  Worte  Gottes  bilden  die  caiisae  primordiales 
eine  Einheit,  sind  sie  ein  untrennbares  Ganzes  (individuumj.  Da- 
rum wird  das  "Wüst  -  und  Leerseyn  in  der  Mosaischen  Schöpfungs- 
geschichte auf  den  abyssus  der  primitiven  Ursachen  gedeutet,  und 
darauf  hingedeutet,  dass  es  der  „brütende"  Geist  sey,  durch  den 
jene  Einheit  sich  in  Gattungen  und  Arten  scheidet  (II,  18.  27). 
Dieser  Abgrund  der  Ursachen  oder  Principien  ist  der  einzige  Stoff, 
aus  dem  die  Dinge  wie  aus  ihrem  Saameii  hervorgehn.  Die  An- 
nahme einer  Materie,  ja  selbst  eines  privativen  Nichts,  ausser  Gott, 
wird  stets  dem  Maiiichäismus  gleich  gesetzt  (III,  14).  Was  nui- 
irgend  real  ist  an  den  Dingen,  ist  eine  Participation  an  der  schaf- 
fenden Wahrheit  (III,  9)  vermittelst  der  Principien,  welche  das* 
Höchste  nächst  Gott  sind  (II,  32). 

6.  Auf  diese  Ursachen  und  Principien  folgen  als  ihre  Princi- 
piate  und  Wirkungen  die  Dinge,  deren  Complex,  die  geschaffene 
nicht  schaffende  Natur,  im  dritten  Buche  besonders  betrachtet 
werden  soll.  Der  Uebergang  dazu  wird  durch  eine  allegorisirende 
Betrachtung  des  Sechstagewerks  gemacht,  in  dem  Erigena,  als 
successiv  dargestellt,  gleichzeitige  Acte  sieht:  Gott  hat  Alles  was 
er  that  zugleich  gethan,  Moses  kann  es  aber  nur  nach  einander 
schauen  und  erzählen.  In  den  Sinn  der  Schöpfungsgeschichte  ein- 
dringen zu  können,  daran  zweifelt  Erigeiia  nicht;  ist  doch  die 
Welt  nur  dazu  da,  dass  die  vernünftige  Creatur  sie  erkenne,  und 
hat  sie  also  den  Zweck,  zu  dem  die  neidlose  Gottheit  sie  schuf, 
erst  erreicht,  wo  sie  erkannt  wird  (V,  33).  Das  Sehen  ist  viel 
mehr  als  das  Gesehene,  das  Hören  als  das  Gehörte,  das  Erkannt- 
werden ist  die  höchste  Existenz  der  Dinge.  Eben  darum  gehört 
eigentüch  dei'  Mensch  nicht  zu  den  Dingen,  sondern  in  ihrer  Wahr- 


I.  Jugendperiode.  A.  Schol.  als  Relig.- u.  Vernunftlehre.  Erigena.  §.154,  6.  7.  253 

heit  sind  die  Dinge  in  ilim,  wenn  er  sie  erkennt  (IV,  8).  Dass 
nicht  nur  die  Bibel ,  sondern  auch  die  Xatur  den  Herrn  offenbare, 
lehrt  Abrahams  Beispiel,  der  ohne  heilige  Schrift  im  Sternenlaufe 
Gott  erkannte  (III,  35).  Dem  Wüst-  und  Leerseyn  folgt,  d.  h. 
aus  dem  AbgTunde  der  Principien  geht,  vermöge  des  li.  Geistes, 
der  nicht  nur  die  Gaben  vertheilt ,  sondern  überhaupt  alle  Mannig- 
faltigkeit setzt  (II,  32),  zunächst  hervor  der  Gegensatz  der  ob- 
srirritns  cansunim  und  der  chiritas  effcctimm.  Innerhalb  dieser 
letzteren  treten  die  Gegensätze  des  Himmels  und  der  Erde  (d.  h. 
des  spir'üus  und  corpus)  hervor,  zu  denen  als  ein  Mittleres  das 
Leben  oder  die  Beseelung  kommt.  Die  allgemeinen  (generaUa. 
oder  cathoHca)  Elemente  bilden  die  Zwischenstufe  zwischen  den 
Principien  und  den  Körpern,  sind  selbst  nichts  eigentlich  Körper- 
liches. In  dem  Menschen  vereinigt  sich  so  Alles,  dass  er  als  die 
off/chia  creaturarum  bezeichnet  wird.  Die  Engel  dürfen  nicht  so 
genannt  werden,  weil  sie  keinen  aus  den  Elementen  gebildeten 
Körper  haben  (IH,  26.  27),  Die  zweimalige  Erzählung  von  der 
Schöpfung  des  Menschen  weist  auf  eine  doppelte  Schöpfung  hin, 
auf  eine  (geschlechtlose)  zum  Ebenbilde  Gottes,  wozu  er,  wäre  er 
gehorsam  gewesen,  sogleich  geworden  wäre,  und  auf  eine,  füi- den 
Fall  der  Sünde  ihm  angeschaffene  thierische  (geschlechtliche)  Xa- 
tur (IV,  5.  6).  Die  letztere  tritt  hervor,  indem  der  Mensch,  des- 
sen in  der  Schrift  geschilderte  Unschuld  eben  so  wenig  ein  zeit- 
licher Zustand,  wie  das  Paradies  ein  räumhcher  Ort  ist  (IV,  12. 
17.  18),  sogleich,  nachdem  er  geschaffen,  noch  ehe  der  Teufel 
ihn  verführt,  durch  die  Stadien  der  mntabilitus  vohnilatis  und  des 
sopor  hindurch-,  dann,  nach  der  Verführung,  zur  Sünde  fortgeht 
und  seinen  ursprünglichen  Leib,  der  auch  wieder  sein  Verklä- 
rungslei-lj  seyn  wird,  vertiert  (IV,  13.  14).  Jetzt  ist  er  nicht  mehr 
im  Paradiese,  wo  aus  dem  einen  Lebensquell  die  vier  Ströme 
Weisheit,  Tapferkeit,  Mässigung  und  Gerechtigkeit  fliessen  (IV,  21). 
7.  Dabei  bleibt  es  aber  nicht;  vielmehr  ist  die  Rückkehr  des 
Menschen  zu  Gott  das  Ziel ;  und  diese ,  das  eigentliche  Thema  des 
vierten  Buches,  wd  fast  noch  mehr  als  in  diesem,  im  fünf- 
ten erörtert.  Dass  sie  nur  im  Zusammenhange  mit  der  Abkehr 
von  Gott,  d.  h.  mit  dem  Bösen,  betrachtet  werden  kann,  liegt  in 
der  Natur  der  Sache.  Der  Vorwiu-f  des  Pantheismus,  den  man 
der  Lehre  des  Erigena  vom  Bösen  gemacht  hat,  ist  nur  in  sofern 
verdient,  als  sie  wirklich  vor  dem  Dualismus  viel  mehr  Furcht 
zeigt,  als  vor  dem  entgegengesetzten  Extrem.  Da  nämlich  der 
Grund  alles  wahren  Seyns  in  Gott  fällt ,  und  wieder  Gott  nur  wah- 
res Seyn  will  und  weiss ,  so  kommt  dem  Bösen  kein  substanzielles 


254  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Seyii  ZU,  ja  man  kann  nicht  einmal  sagen,  dass  Gott  vom  Bösen 
weiss  (IV,  16.  V,  27).  Auch  der  Mensch,  wenn  er  sich  auf  den 
göttlichen  Standpunkt  versetzt,  d.  h.  wenn  er  das  All  in  seiner 
Ganzheit  betrachtet,  sieht  nichts  Böses,  sondern  vernimmt  eine 
Harmonie,  in  welcher  der  einzelne  Misston,  durch  den  Contrast, 
die  Schönheit  des  Ganzen  noch  erhöht  (V,  35.  36).  Weil  es  kein 
wahrhaftes  Seyn  ist ,  deswegen  hat  das  Böse  auch  keine  positive 
Ursache,  es  ist  iiwaiisdlc  (IV,  6).  Der  freie  Wille,  auf  den  Viele 
es  zurückgeführt  haben,  ist  etwas  Gutes,  ja  jedes  AVollen  ist  dies 
als  ein  Gerichtetscyn  auf  ein  Gut ;  was  es  zu  etwas  Bösem  macht, 
ist  nur  der  Wahn  und  Irrthum,  der  als  Gut  vorspiegelt,  was  kei- 
nes ist.  So  besteht  also  das  Böse  nur  in  der  verkehrten  Rich- 
tung des,  an  sich  guten,  Willens.  Weil  es  an  sich  Wahn  und 
Nichts,  deswegen  wird  es  zu  Nichte,  und  das  nennt  man  Strafe, 
daher  kann  nur  gestraft  werden  was  nicht  ist  (V,  35),  Diese 
Strafe  wird,  je  nachdem  der  Mensch,  der  sie  empfängt,  sich  zu 
Gott  oder  von  Ihm  abwendet,  Vergebung  oder  Qual  (V,  32).  Die 
letztere  besteht  in  dem  Nichtkönnen  dessen,  was  der  verkehrte 
Wille  möchte.  Darum  ist  die  Hölle  ein  innerer  Zustand,  gerade 
wie  das  Paradies;  nur  um  der  sinnlichen  Menschen  willen  haben 
die  Väter  beide  als  räumlich  und  zeitlich  existireud  dargestellt 
(V,  29).  Das  Daseyn  der  Hölle  stört,  da  sich  in  ihr  die  Gerech- 
tigkeit Gottes  zeigt,  die  Harmonie  des  Alls  nicht  (V,  35).  Da 
das  Object  der  Strafe  nicht  die,  von  Gott  gewollte,  Substanz  des 
Sünders,  sondern  das,  demselben  accidentelle,  nichtige  Wollen  ist, 
so  denkt  sich  Erlyeiui  als  das  allendliche  Ziel  eine  Wiederbrin- 
gung aller  Dinge,  von  der  er  mit  ausdrückhcher  Berufung  auf 
Origencs  (vgl.  §.  137,  2),  da  Ewigkeit  und  Bosheit  unvereinbar 
sey,  selbst  die  Dämonen  nicht  ganz  ausschliesst  (V,  27.  28).  Nur 
nicht  ganz.  Denn  die  Unterschiede  zwischen  Solchen,  welchen 
die  Erinnerung  ihrer  groben  Sünden  bliel),  und  Solchen,  die  keine 
dergleichen  haben,  leugnet  er  nicht,  und  bringt  sie  mit  den  ver- 
schiedenen Stufen  zusammen,  durch  welche  die  Rückkehr  der 
Dinge  zu  Gott  und  ihre  adnnatio  mit  Ihm  vor  sich  geht.  Als  Ge- 
genstück zu  dem  Ausgange  aus  Gott  muss  natürlich,  nur  in  um- 
gekehrter Ordnung,  sie  alle  die  Stufen  zeigen,  wie  die  abwärts- 
gehende Schöpfung.  Bei  dieser  entstand  zuerst  der  Unterschied 
von  Schöpfer  und  Geschöpf,  dann  innerhalb  des  letztern  der  zwi- 
schen dem  Intelligiblen  (den  Principien)  und  dem  Sinnlichen  (den 
Wirkungen),  dann  innerhalb  dieses  letzteren  der  Gegensatz  von 
Himmel  und  Erde ,  dann  auf  der  Erde  zwischen  Paradies  und  Erd- 
kreis, endhch  der  Gegensatz  von  Mann  und  Weib  und,  beim  Her- 


I.  Jugendperiode.    A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernuuftlelire.    Erigeua.    §.  155.     255 

austreten  aus  dem  Paradiese ,  die  grobmaterielle  Existenz  in  dem, 
aus  Elementen  zusammengesetzten,  Körper.  Von  diesem  befreit 
der  Tod ,  indem  die  Elemente  sich  trennen ;  mit  der  Auferstehung 
hört  der  Geschlechtsunterschied  auf;  dann  wird  der  Erdkreis  in 
das  Paradies  verwandelt;  dann  alles  Irdische  himmhsch;  dann 
geht  Alles  in  die  cmisae  primordiales  über;  endlich  findet  Tlieosts 
oder  Deificatio  Statt,  die  aber  nicht  als  Untergang  zu  denken 
ist,  sondern  bei  der  die  Individualität  bleibt,  indem  jene  Erhebung 
in  der  zur  vollen  Erkenntniss  Gottes  besteht,  in  dieser  aber  Er- 
kennendes und  Erkanntes  Eins  werden  (V,  37).  Wenn  nun  auch 
Alle  bis  zum  Paradiese  gelangen ,  so  sind  schon  in  diesem  viele 
Wohnungen  und  Rangstufen.  Namentlich  aber  werden  nur  wenige 
Auserwählte  die  Dei/icado  als  den  Sabbath  der  Sabbathe  schmecken. 

§.  155. 
Dass  das  Princip  der  Scholastik  im  Erigena  als  neues  oder 
unmittelbares  hervortritt ,  gibt  nicht  nur  ihm  die  Stellung  des,  der 
vorsichtigen  Kirche  verdächtigen ,  Neuerers ,  sondern  lässt  auch 
die  Einheit  der  Kirchenlehre  mit  der  Vernunft  als  unmittelbare, 
d.  h.  unterschiedslose  erscheinen.  Wegen  dieser  Unterschiedslo- 
sigkeit  ist  ihm  jeder  Vernunftgrund  ohne  Weiteres  Autorität,  und 
was  die  Autorität  sagt,  behandelt  er  sogleich  als  w^äre  es  ein  Ver- 
nunftgrund. Jenes  gibt  seinem  Philosophiren  den  heterodoxen, 
dieses  den  mystischen  Charakter.  Er  philosophirt  noch  zu  sehr 
in  der  Weise  der  Kirchenväter,  welche  die  Dogmen  zu  machen 
hatten,  und  doch  steht  ihm  dies  fest,  dass  es  nicht  nur  eine  Of- 
fenbarung und  heilige  Geschichte,  sondern  dass  es  eine  Kirchen- 
lehre von  unerschütterlicher  Gültigkeit  schon  gibt.  Dies  ist  ein 
Widerspruch.  Der  nächste  Fortschritt  wird  seyn,  dass  er  gelöst 
Avird ,  indem  auch  der  Unterschied  beider  Seiten  zu  seinem  Ptechte 
kommt ,  und  an  die  Stelle  des  unmittelbaren  iiiluilus  gnosüciis  die 
Reflexion  tritt ,  die  einerseits  von  dem  Dogma  als  einem  gegebnen 
aus  -  und  zu  dem  Begreifen  desselben  übergeht,  andrerseits  wieder 
den  Begriff  zum  Ausgangspunkt  macht  und  bei  dem  Dogma,  als 
einem  damit  Uebereinstimmenden ,  anlangt.  Wo  die  Einheit  der 
Kirchenlehre  und  der  Vernunft  eine  vermittelte  und  reflectirte  ist, 
können  beide  mehr  zu  ihrem  Rechte  kommen:  der  orthodoxe  und 
wieder  der  klar  verständige  Cliarakter  zeichnet  den  zweiten  Vater 
der  Scholastik  vor  dem  ersten  aus.  Dass  jene  Einheit  nicht  zum 
ersten  Male  behauptet  wird,  lässt  diese  Lehre  nicht  mehr  als 
Neuerung  ansehn,  und  darum  dulden:  der  zweite  Anhänger  der 
Scholastik  ist  ein  von  der  Kirche  hochgeehrter  Fürst  derselben. 
Die  anderthalb  Jahrhunderte,  die  zwischen  ihm  und  dem  ersten. 


2o6  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

dem  von  der  Kirche  angefeindeten  Laien,  liegen,  haben  keine 
grossen  philosophischen  Leistungen  aufzuweisen.  Das  zehnte  Jahr- 
hundert ist  zu  thatenreich,  als  dass  es  zum  Philosophiren  Zeit 
haben  sollte.  Gerbert,  einer  der  Wenigen,  der  es  könnte,  ist  an- 
derweitig beschäftigt.  Des  Berengar  von  Tours  speculative  Ver- 
suche erwiesen  sich  als  vor-,  d.  h.  unzeitig,  und  er  muss  daher 
dem  ganz  unspeculativen,  aber  gelehrten,  und  durch  seine  juristische 
Vergangenheit  geriebenen,  Laiifravr  weichen,  obgleich  seit  jener 
Zeit  der  Gegensatz  zwischen  den  „positiven"  und  „scholastischen" 
Theologen  nicht  wieder  aufgehört  hat. 

§.  156. 
A  n  s  e  1  m. 
F.  B.  Hasse  Auselm  von  Canterbury.    2  Thle.    Leipz.   1843.  52. 

1.  Anseimns ,  als  Glied  einer  lombardischen  Adelsfamilie  in 
Aosta  1035  geboren ,  erhielt  seine  theologische  Bildung  in  der  Nor- 
mandie,  zuerst  in  Avranches,  dann  im  Kloster  Bec,  wo  er  dem 
Laiffrmir  als  Prior  folgte  und  endlich  Abt  ward.  Die,  schon  vor 
ihm  berühmte  Schule  ward  durch  ihn  zur  ersten  in  der  christli- 
chen Welt,  namentlich  für  die  Dialektik.  Auch  im  Erzbisthum 
Canterbury  ward  Anselm  Lanf'rancs  Nachfolger  und  hat  vom  J. 
1093  bis  zu  seinem  am  21.  Apr.  1109  erfolgten  Tode,  nicht  ein- 
geschüchtert durch  ein  zweimaliges  Exil,  die  Rechte  der  Kirche 
siegreich  verfochten.  Seine  Werke  sind  von  Gabriel  Gerberon  in 
einem  Foliobande  in  Paris  (2''"  Ausg.  1721),  nebst  seiner  Biographie 
von  Eudmer ,  herausgegeben.  Von  Druckfehlern  gereinigt  bildet 
die  Gerberonsche  Ausgabe  den  Bd.  155  der  Migne'schen  Patrologia. 

2.  Wie  die  Kirchenväter,  so  citirt  auch  Aiisehn  sehr  oft  den 
alttestamentlichen  Spruch :  glaubet  Ihr  nicht,  so  erkennet  Ihr  nicht, 
um  dadurch  das  Verhältniss  von  Glauben  und  Wissen,  Autorität 
und  Vernunft,  zu  fixiren.  Der  Glaube  muss  vorausgehn  und  das 
Herz  gereinigt  haben,  ehe  zur  Ergründung  seiner  Lehren  gegan- 
gen wird ,  und  bei  denen ,  welche  zum  intelligerc  nicht  fähig,  reicht 
der  Glaube  und  die  sich  unterwerfende  veneratio  aus.  Wer  aber 
fähig  ist ,  zu  begreifen ,  bei  dem  wäre  es  Nachlässigkeit  und  Träg- 
heit, w^enn  er  nicht  vom  Mittel  zum  Zweck,  d.  h.  vom  Glauben 
zum  Wissen ,  überginge  (de  fide  trinit.  2.  Proslog.  1)  und  so  an 
die  Stelle  der  reneratio  die  defectaüo ,  das  freie  Erkennen,  setzte 
(Cur  D.  h.  1).  So  sehr  er  daher  betont,  dass  alle  seine  Lehren 
mit  der  h.  Schrift  und  den  Vätern ,  namentlich  dem  Aiigustin  über- 
einstimmen (Monol.  Praef.),  so  wiederholt  er  doch  auch  sehr  oft, 
dass  er  sie  entwickeln  wolle,  als  wenn  es  gar  keine  h.  Schrift  gäbe, 
aus  reiner  Vernunft ,  so  dass  sie  auch  dem  Ungläubigen  bewiesen 


I.  Jugendperiode.  A.Schol.  als Relig- u.  Vernunftlehre.  Anselm.  §.  156,  3.  4.  257 

werden  können,  wenn  er  nur  die  Vernunft,  diesen  obersten  Rich- 
ter, gelten  lässt  (Cur  D.  h.  Praef.).  Vernunftgründe,  denen  die 
Schrift  nicht  widerspricht,  haben  eo  ipso  die  Autorität  der  Schrift 
für  sich,  sagt  er  (De  conc.  praesc.  et  Üb.  arb.  III,  7).  Eben  da- 
rum ist  für  ein  gedeihhches  Philosophiren  ausser  der  Kenntniss 
der  Kirchenlehre  ein  Haupterforderniss  die  gründliche  dialektische 
Bildung.  Wer  z.  B.  der  häretischen  Dialektik  anhängt ,  nach  wel- 
cher die  Gattungen  blosse  ßafus  rocis.  nur  Worte  sind  (also  jene 
von  PorpL}jni:s  [vgl.  §.  128,  6]  aufgeworfene  Frage  anders  beant- 
wortet als  dieser  getlian  hatte) ,  der  macht  sichs  unmöglich,  irgend 
eines  der  wichtigsten  Dogmen  zu  begreifen  (de  fide  trinit.  2). 

3.  Dies  zeigt  sich  sogleich  bei  den  Untersuchungen  über  das 
Wesen  Gottes,  denen  das  Monologium  gewidmet  ist.  üeberein- 
stimmend  mit  P/ato  und  Proklos  hält  Ansehn  fest,  dass  jedes 
Prädicat  nur  Theilnahme  an  dem  ausdrücke ,  was  das  Prädicat  be- 
sagt, so  dass  das  Prädicat  gross  die  Grösse  u.  s.  w.  als  sein  prins 
voraussetze.  Darum  weisen  alle  Dinge  vermöge  ihrer  Prädicate 
auf  ein  Wesen,  das  alle  diese  Prädicate  nicht  nur  hat,  sondern 
ist.  Dasselbe  fällt ,  da  das  allgemeinste  Prädicat  aller  Dinge  dies 
ist,  dass  sie  sind,  mit  dem  absoluten  Seyn  zusammen,  der  essen- 
tin,  wie  Anselm  mit  Augnsiin  anstatt  suhstanüa  zu  sagen  vorzieht. 
Dieser  höchste  aller  Gedanken,  auf  den  alle  hin-,  der  aber  nicht 
über  sich  hinausweist ,  ist  der  Begriff  Gottes.  Gott  ist  also :  sum- 
tnum  omviinn  oikic  smii  oder  id  rjuo  vuijus  cogitari  nefjuit,  er  ist 
Alles  im  höchsten  Grade,  summe  cns ,  summe  vinens,  summe  bo- 
nirm  u.  s.  w.  und  ist  dieses  Alles  nicht  durch  Theilnahme,  sondern 
an  sich,  per  se.  Dieses  Wesen  muss  nothwendig  als  Eines  ge- 
dacht werden,  da  die  entgegengesetzte  Ansicht,  es  sey  Vieles, 
sich  vor  Widersinnigkeiten  nur  durch  die  stillschweigende  Voraus- 
setzung der  Einheit  rettet  (Monol.  1.  16.  26.  6.  4). 

4.  Der  gefundene  Begriff  der  Gottheit  wird  nun  von  Anselm 
zu  dem  ontologischen  Beweise  für  das  Daseyn  Gottes  benutzt ,  den 
er  in  seinem  Proslogium  entwickelt  hat,  einer  Schrift,  deren  zwei- 
ter Titel  ist:  fides  quaerens  intcllectum.  Anknüpfend  an  die  er- 
sten Worte  des  14'™  Psalms ,  sucht  er  dem  Insipiens ,  welcher  in 
seinem  Herzen  sagt:  es  sey  kein  Gott,  nachzuweisen,  dass  er  sich 
selber  widerspreche.  Er  mächt  dabei  nur  die  einzige  Voraus- 
setzung, dass  der  Gottesleugner  wisse,  was  er  spricht,  nicht  bloss 
sinnlose  Laute  ausstosse.  Versteht  derselbe  unter  Gott  Eines  quo 
nitdl  majiis  cogitari  polest,  und  muss  er  doch  auch  zugeben,  dass 
esse  in  intellectu  et  in  re  ein  tnajus  sey,  als  esse  in  solo  intel- 
h'ctn ,  so  muss  er  auch  zugestehn ,  dass  Dens  non  polest  cogitari 

Erdmann  ficsch.  d    Flui.  I.  -<  - 


258  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

nou  esse,  dass  er  also  gedankenlos  geschwatzt  habe.  Eben  des- 
wegen ist  Ansdm  auch  völlig  im  Recht,  wenn  er  auf  den  Einwand 
des  Gaunil o .  früheren  Herrn  roii  Moutigni,  der  als  hoher  Sieb- 
ziger ins  Kloster  von  Marinontier  ging ,  dort  gegen  die  neue  Theo- 
logie Anselms  schrieb,  und  derselben  vorwarf:  so  lasse  sich  auch 
das  Daseyn  einer  Insel  Atlantis  beweisen,  antw'ortet,  er  habe  sei- 
nen Ausgangspunkt  nicht  genominen  von  Einem  ijiwd  nutjns  Om- 
nibus est,  sondern  von  dem  <iUo  majus  coyilari  ne<juH  und  da- 
durch den  Insipiens  in  die  Lage  gebracht,  entweder  zuzugeben, 
dass  er  Gott  als  wirklich  existirend  denke ,  oder  aber  einzugestehn, 
er  sage  da  was  er  selbst  nicht  denke,  was  ihn  zu  emem  impudens 
conspuendus  machen  würde  (Lib.  apol.  c.  Gaunil.  5.  9).  Gerade 
durch  die  ganz  subjective  Wendung,  die  Anselm  seinem  Beweise 
gibt,  hat  derselbe  grösseren  Werth,  als  in  der  späteren  Form  bei 
Wolff  u.  A. 

5.  Was  das  Monologium  sonst  noch  enthält,  daran  schliesst 
sich  genau  an,  was  Anselm  poleinisireud  gegen  Roscellin  in  sei- 
ner Schrift  de  fide  trinitatis  et  de  incarnatione  Verbi  entwickelt. 
Es  ist  ein  Versuch  das  Dogma  von  der  Trinität  dem  Yerständniss 
zugänglich  zu  machen.  Das  höchste  Seyn,  mit  dem  verglichen 
die  Dinge  nicht  eigentlich  sind  (uix  sunt),  spricht  in  dem,  ihm 
consubstanziellen,  Worte  sich  selbst  und  zugleich  Alles  aus,  w^as  es 
schafft,  ähnlich  wie  der  Künstler  in  einem  Gedanken  das  Kunstwerk 
und  sich  als  Künstler  weiss  (Mouol.  28.  29.  33.  34).  In  diesem 
seinem  Worte  existirt  die  AVeit,  besser  und  schöner  denn  in  der 
Wirklichkeit,  als  Leben  und  Wahrheit;  während  unsere  Gedanken 
Nachbilder,  sind  die  göttlichen  die  Urbilder  der  Dinge.  Die  Worte 
Zeugung ,  Sohn ,  drücken  das  Verhältniss  zu  dem  consubstanziellen 
Worte  am  Besten  aus ,  so  wie  das  Wort  spirure  dem  Hervorgange 
aus  dem  Vater  und  dem  Sohne  entspricht,  deren  communitas  der 
Geist  ist  (ibid.  36.  39.  57).  Die  Trinität  ist  übrigens  gar  keine 
vernunftfeindhche  Lehre.  Dass,  wie  der  eine  Nil  Quelle,  Fluss 
und  See,  so  der  eine  Gott  Vater,  Sohn  und  Geist  ist,  darüber 
darf  sich  der  nicht  wundern,  welcher  bedenkt,  dass  in  dem  zum 
Ebenbilde  Gottes  geschaffenen  Menschen  sich  memoria  intelligen- 
iia  und  amor  finden,  die  alle  drei  Eins,  ja  in  deren  je  Einem 
die  beiden  anderen  enthalten  sind  (de  fid.  trin.  8.  Mouol.  60.  61. 
67).  Dabei  ist  nun  die  römische  Ansicht,  nach  welcher  sich  in 
der  processio  Vater  und  Sohn  ganz  gleich,  und  nicht  etwa  der 
Sohn  als  Mutter,  verhält,  der  Vernunft  gemäss,  und  darum  der 
griechischen  weit  vorzuziehn  (Monol.  53.  Cf.  de  proc.  Sp.  Sc.  c. 
Graec). 


I.  Jugendperiode.    A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernuuftlehre.  Anselm.    §.  156,  6.  259 

6.  Ganz  wie  in  den  bisher  genannten  Werken  die  Lehre  von 
Gott,  so  sucht  Anselm  auch  die  Soterologie  auf  dem  "Wege  des 
verständigen  Eäsonnements  auch  Solchen  klar  zu  machen,  welche 
die  Autorität  nicht  gelten  lassen.  Bei  dem  engen  Zusammenhange 
aber,  in  welchem  dieselbe  mit  der  Lehre  von  dem  Falle  steht, 
die  selbst  wieder  nicht  verstanden  werden  kann  ohne  die  Schöpfung 
freier  Creaturen,  ist  zuerst  zu  erwähnen,  was  Anselm  in  seinen 
drei  Dialogen  de  veritate,  de  libero  arbitrio  und  de  casu  Diaboli 
lehrt.  Die  Hauptpunkte  sind  da  folgende:  das  Seyn  der  Dinge 
ist  dem  göttlichen  nicht  gleich,  sondern  als  ein  geliehenes  ist  es 
kein  Seyn  durch  sich,  ist  es  kaum  ein  Seyn  zu  nennen.  Diesen 
Sinn  hat  es ,  wenn  gesagt  wird ,  dass  die  Welt  aus  Nichts  geschaf- 
fen ist.  Dies  heisst  nämlich  aus  einem  Zustande,  der  zu  ihrem, 
nicht  aber  aus  einem,  der  zu  Gottes  Seyn  einen  Gegensatz  bildet; 
vielmehr  waren  die  Dinge,  ehe  sie  geschaffen  wurden,  in  Gottes 
Denken  und  Willen  (Monol.  8.  9).  Die  eigentliche  Bestimmung 
der  Welt  ist  die  Ehre  Gottes,  ja  man  kann  sagen,  sie  ist  die  er- 
scheinende Ehre  Gottes  selbst,  indem  sich  in  ihrer  Ordnung  die 
Ehre  Gottes  abspiegelt,  woher  auch  jedes  Attentat  gegen  diese 
Ordnung  die  Ehre  Gottes  antastet.  Die  höchste  Stelle  unter  den 
geschaffenen  Dingen  nehmen  die  vernünftigen  Wesen  ein,  die  En- 
gel und  die  Menschen,  jene  vor  diesen  geschaffen.  Wie  alle  Dinge 
sind  auch  sie  zur  Ehre  Gottes  geschaffen,  nur  dass  in  ihnen,  als 
bewussten  Wesen,  die  Ehre  Gottes  gewusst  wird.  Gottes  Ehre 
ist,  erkannt  zu  werden.  Engeln  und  Menschen  kommt  Freiheit 
des  Willens  zu,  das  liberum  (irhitrhnn .  das  Anselm,  ganz  wie 
Aitgiisiin  im  Gegensatz  zu  Pelagiits .  nicht  als  die  Fähigkeit  des 
Sündigens  oder  nicht  Sündigens,  sondern  als  die  pntesfas  servandi 
rcelihtdhiem  rohnttatts  propter  ipsum  reetitudhiem  fasst  (de  lib. 
arb.  L  12).  Aber  auch  von  Angiisiin  weicht  er  ab,  indem  er  in 
der  Freiheit  den  Unterschied  von  PotentiaUtät  und  Actualität  ur- 
girt,  welcher  ihn  dahin  bringt,  die  Unverlierbarkeit  des  freien 
Willens  zu  behaupten,  auch  dort,  wo  der  Fall  es  unmöglich  ge- 
macht hat,  ohne  höhere  Unterstützung  die  Gerechtigkeit  zu  er- 
greifen. So  hat  der  Mensch  die  Fähigkeit  des  Sehens  auch  wo 
er,  weil  kein  Licht  scheint,  nicht  sehen  kann  (de  lib.  arb.  3).  Die 
Möglichkeit  des  Falls,  ohne  welche  Engel  und  Menschen  höchstens 
in  ihrem  ursprünglichen  Zustande  geblieben,  nicht  aiber  dazu  ge- 
kommen wären,  sich  selbst  des  höheren  Gutes  theilhaft  zu  ma- 
chen, wozu  Gott  sie  bestimmt  hat,  diese  liegt  darin,  dass  das 
Wollen  des  Geschöpfes  ein  doppeltes  Ziel  hat:  die  Glückseligkeit 
um  des  eignen  Selbstes  und  die  Gerechtigkeit  um  der  Ehre  Gottes 

17* 


260  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

willen.  Jedes  von  beiden  ist  natürlich  und  nothweudig,  mit  nur 
einem  von  beiden  wäre  von  Verdienstlichkeit  keine  Rede  (de  casu 
diab.  18.  13.  14).  Indem  beides  in  dem  Engel  sich  findet,  kann 
er  vermöge  seines  freien  Willens,  aber  nicht  vermöge  dessen  was 
ihn  frei  macht  —  d.  h.  er  kann  vermöge  seiner  Willktihr  —  die 
Glückseligkeit  allein  wollen  (de  lib.  arb.  2) ,  sein  Wohl  an  die  Stelle 
der  göttlichen  Ehre  setzen  und  so  in  ungehöriger  Weise  Gott  gleich, 
d.  h.  autonom,  seyn  wollen.  Oder  aber  er  kann  die  Glücksehg- 
keit  der  Gerechtigkeit,  sein  Wohl  der  Ehre  Gottes,  unterordnen. 
Im  erstem  Falle  verliert  er  die  Gerechtigkeit,  sein  Wille  wird 
böse,  d.  h.  ermangelt  dessen  was  er  soll;  im  zweiten  bestätigt  er 
sie  und  giebt  sie  sich  gewissermassen  selbst,  wodurch  sie  unver- 
lierbar wird.  Das  einzig  positive  Böse  ist  die  verkehrte  Richtung 
des  Wollens ;  das  Wollen  selbst  kommt  von  Gott  und  ist  gut,  eben 
so  ist  es  die  That,  d.  h.  die  in  der  Welt  hervorgebrachte  Verän- 
derung. Die  Ungerechtigkeit  ist  Abwesenheit  und  in  sofern  = 
Nichts,  das  W^ollen  dieses  Nichts  anstatt  des  vorgeschriebenen 
Etwas,  das  ist  das  Böse  (de  cas.  diab.  4.  18.  15.  10.  20).  Man 
darf  sich  auch  nicht  wundern,  dass  Gott  für  dieses  Nichts  den 
Sünder  straft.  Seine  Strafe  besteht  eben  darin,  dass  er  die  Lücke 
nicht  duldet,  dass  Er,  wo  Nichts  ist,  Etwas  verlangt  (de  conc. 
virg.  6).  Wie  die  Sünde  nur  in  dem  perversen  Willen  liegt,  so 
trifft  auch  die  Strafe  weder  die  Handlung  noch  das  Werk,  sondern 
den  Willen.  Fragt  man  endUch,  was  den  Teufel  dahin  brachte, 
anstatt  des  Positiven  das  Negative  zu  wollen,  fahren  zu  lassen 
anstatt  zu  behalten ,  so  ist  dies  etwas  Grundloses ;  das  böse  Wol- 
len ist  causa  e//iclens  und  e/fectns  zugleich,  es  liegt  lediglich  in 
der  Willkühr  (de  cas.  diab.  19.  20.  27). 

7.  Das  bisher  Gesagte  gilt  vom  Falle  der  Menschen  wie  von 
dem  der  Engel.  Nun  aber  stand  es  dem  Ansehn  fest,  dass  es 
für  die  gefallenen  Engel  nicht,  wohl  aber  für  die  Menschen  eine 
Erlösung  gebe  (cur  D.  h.  II,  21),  und  darum  musste  er  genauer 
auf  den  Unterschied  eingehn  zwischen  der  engelischen  und  mensch- 
lichen Sünde.  Diese  Untersuchung  fällt  mit  der  über  die  Erbsünde 
zusammen,  die  es,  weil  die  Engel  kein  durch  Fortpflanzung  sich 
mehrendes  Genus,  keine  der  Famiüe  ähnliche  Engellieit  bilden, 
bei  ihnen  nicht  geben  kann.  Besonders  kommt  hier  die  Schrift 
de  conceptu  *  virginali  et  originali  peccato  zur  Sprache.  Da  ist 
nun  von  der  grössten  Wichtigkeit,  dass  man  nie  verwechsle  die 
Natur,  oder  die  allgemeine  Wesenheit,  durch  die  jeder  von  uns 
Mensch,  und  die  indimdnitas  oder  besondere  W^esenheit,  wodurch 
er  Person,  wodurch  er  dieser  Mensch  ist.    In  Adam  war  die  mensch- 


I.  Jugendperiode    A.  Schol.  als  Relig.  u.  Vernunftlehre.  Anselin.  §.156,  7.  8.   261 

liehe  Natur  ganz,  da  sie  ausser  ihm  nicht  existirte,  daher  wird 
durch  seine  persönliche  Sünde  die  menschliche  Natur  befleckt,  und 
geht  die  Verschuldung  auf  die,  welche  in  der  poiesias  propagmidi 
Adams  sind,  als  Erb-  oder  natürliche  Schuld  über.    Jeder  der- 
selben ist  'per  crentiovcm  homo,  per  indlvkhiiiaicm  persona,  per 
propagriüonem   Adam ,    und   dieses   Familienband    macht   sie  zu 
Adams  Erben.    Da  die  Sünde  nur  im  vernünftigen  Willen  ihren 
■  Sitz  hat,  da  sie  darin  besteht,  dass  das,  für  sich  genommen  gute, 
!  Wollen   den,   für  sich  genommen   gleichfalls  guten,  Trieben  nach 
Genuss  unterworfen  wird ,  so  beginnt  die  Erbschuld  des  Menschen 
i  erst  da,  wo  er  zu  einer  raliomiUs  vohmtas  erwacht,  ist  auch,  als 
i  angeerbt,  nicht  so  gross  wie  die  persönliche  Verschuldung  Adams. 
Dennoch  wird  sie,  und  mit  Recht,  weil  was  Adam  that  nicht  ohne 
Betheiligung  der  Natur  geschah,  an  seinen  Nachkommen  gestraft, 
wobei  man  nur  die   verschiedenen   Grade  der  Strafliarkeit  nicht 
!  vergessen  darf  (de  conc.  virg.  1.  10.  23.  4.  7.  22.  28). 

8.  Mit  diesen  Sätzen  über  Entstehung  und  Fortpflanzung  der 
Sünde,    waren  nun  auch   die   Prämissen   zu   der  soterologischen 
Hauptfrage,  der  Satisfactionstheorie,  gegeben,  welche  Anselm  in 
seiner  berühmtesten  Schrift  Cur  Dens  homo?  entwickelt,  wieder,  wie 
er  selbst  sagt,   als  habe  nie  eine  Incarnation  Statt  gefunden  und 
als   solle  doch  ihre  Nothwendigkeit  dargestellt  werden.    Die  Ein- 
busse,  welche  die  zur  Seligkeit  bestimmten  Wesen  durch  den  Fall 
der  Engel  erlitten  hatten,  wird  durch  die  Schöpfung  der  Menschen, 
obgleich  dieselben  nicht  bloss  deswegen  geschafi'en  sind,  wieder  er- 
setzt.   Sie  sollen  den  Teufel  beschämen ,  indem  sie  trotz  der  Ver- 
suchung von  aussen  besser  bestanden  als  er,  der  sich  selber  ver- 
sucht hatte.    Nun  aber  fiel  der  Mensch  selbst,  und  da  er  dadurch 
zum  Triumph  des  Teufels  diente,  und  Gott  Seine  Ehre  stahl,  wo- 
für die   ganze  Welt  noch  nicht  Ersatz   liefert,  die  Duldung  des 
Bösen  aber  die   Unordnung  und  Ungehörigkeit  sanctioniren ,   die 
Ungerechtigkeit  für  berechtigt  erklären  würde ,   so  muss  für  jedes 
Vergehn,  ausser  der  Strafe,  welche  es  erfordert,  wenn  der  Mensch 
nicht  verloren  gehn  soll ,  Ersatz  geleistet  werden ,  etwas  was  frei- 
lich der  Mensch,  der  ihn  zu  leisten  hat,  nicht  vermag,  da  er  sich 
selbst  zur  Gerechtigkeit  unfähig  gemacht  hat  (Cur  D.  h.  I,  10,  16. 
21.  11.  12.  23.  24).    Andrerseits  hat  Gott  die  Nothwendigkeit  auf 
sich  genommen,  dass  sein  Werk  vollendet  werde,  welche  Noth- 
wendigkeit eben  seine  Gnade  ist,  und  ist  auch  nur  Er  im  Stande 
so  viel  zu  leisten  als   geleistet  werden  soll:   mehr  als  alle  Welt. 
Es  bleibt  also,  da  nur  Gott  es  leisten  kann,  der  Mensch  aber  es 
leisten  soll,   nur  übrig,  dass  Gott  als  Mensch  es  leiste,  dass  Er 


262  Mittelaltei-liche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ganz  Gott  und  ganz  Mensch,  nicht  sowol  sich  zur  Menschheit  er- 
niedrige, als  die  Menschheit  zu  sich  erhöhe,  und  nun  die  Resti- 
tution vollbringe,  die  der  Mensch  schuldig  ist  (ibid.  II,  5.  6.  7). 
Nun  entsteht  aber  die  Schwierigkeit ,  dass  durch  die  Annahme  der 
nienschhchen  Natur  Gott  auch  die ,  mit  derselben  verbundene,  Erb- 
schuld auf  sich  zu  laden  scheint?  Doch  nicht.  Denn  da  der 
Menschgewordene  nicht  auf  dem  Wege  der  natürlichen  Zeugung 
entsteht  (de  conc.  virg.  23),  sondern  so,  dass  zu  den  drei  ver- 
schiedenen Weisen ,  in  welchen  Gott  den  Adam ,  die  Eva  und  end- 
lich ihre  Nachkommen  schuf,  hier  als  vierte  die  nur  aus  dem 
Weibe  hinzukommt,  so  ist  durch  diese  wunderbar  eintretende 
Schöpferthat  Gottes  die  vererbende  Thätigkeit  des  Stammvaters 
unterbrochen,  und  selbst  ein  blosser  Mensch  hätte  unter  diesen 
Umständen  frei  von  der  Erbsünde  geboren  werden  können ,  zumal 
wenn,  wie  hier,  die  ihn  empfangende  Mutter  durch  hoffenden 
Glauben  an  den  Zukünftigen  von  der  Sündhaftigkeit  gereinigt  ist 
(Cur  D.  h.  II,  7.  16.  De  conc.  virg.  16).  Soll  also  die  Sünde  der 
Menschheit  gesühnt  w^erden,  so  muss  Gott  als  Mensch,  und  zwar 
als  schuldloser  Mensch  geboren  werden.  Es  fragt  sich  aber,  wa- 
rum gerade  Gott  der  Sohn?  Dass  alle  drei  Personen  mit  der 
Menschheit  zu  einer  Person  verbunden ,  wäre  ein  Widersinn.  Nur 
eine  also  kann  es  seyn.  Nur  der  Sohn  (Gottes)  wird,  indem  er 
Sohn  (der  Jungfrau)  wird ,  seine  (Sohnes)  Natur  nicht  verleugnen, 
besonders  aber  ist  dies  entscheidend,  dass,  dem  Bösen  als  der 
carrikirten  Gottähnlichkeit  gegenüber,  es  das  Geschäft  des  wahren 
Ebenbildes  Gottes  ist,  den  Sieg  zu  erfechten  (Cur  D.  h.  II,  9). 
Es  entsteht  die  weitere  Frage:  jener  Ersatz,  den  nur  der  Mensch- 
gewordene leisten  kann,  wie  wird  er  geleistet?  Durch  die  Erfül- 
lung der  eignen  Pflicht  natürlich  nicht.  Da  aber  eine  jede  ge- 
rechte That  des  Menschen  nichts  weiter  ist  als  Pflichterfüllung, 
so  kann  nur  ein  Leiden,  und  zwar  ein  unverdientes,  jenen  Er- 
satz leisten.  Hierin  liegt  nun  die  Bedeutung  des  Todes  Clivuli, 
in  dem  Aiiselm  nicht,  wie  die  meisten  Kirchenväter,  dies  hervor- 
hebt, dass  dem  Teufel  sein  Anrecht  auf  die  Menschen  abgekauft 
(oder  nach  Anderen  abgelistet)  sey,  sondern  vielmehr,  dass  der 
Menschgewordene  hier  Etw^as,  das  grösser  ist  als  Alles  das  nicht 
Gott  ist,  sich  selbst,  in  einer  Art,  auf  die  Gott  kein  Anrecht  hat, 
wie  auf  seinen  Gehorsam,  zum  Opfer  darbringt.  Diese  Selbstdar- 
bringung  des  Unschuldigen  sühnt  durch  den  unendlichen  Werth, 
den  das  Leben  desselben  hat,  die  durch  den  Sündenfall  zugezo- 
gene Schuld  gegen  Gott ,  und  zeigt  deshalb  einen  in  allen  Zügen 
nachw^eisbaren  Contrast  zum  Sündenfall:  was  Lust  verbrach,  das 


I.  Jugendperiode.  A.  Schol.  als  Relig.-u.  Vernunftlehre.  Anselm.  §.156.8.9.  263 

büsst  der  Schmerz,  den  Raub  an  Gott  sühnt  die  Schenkung  an 
Ihn  u.  s.  w.  Dass  diese  Darbringung  des  eignen  Lebens  in  der 
Form  des  leidenvollen  Sterbens  erfolgt,  macht  dann  weiter  den 
Erlöser  zum  Muster  und  Vorbild,  dies  ist  aber  nicht  die  Haupt- 
sache. Jene  Darbringung  ist  nothwendig,  nicht  in  dem  Sinne  als 
wenn  die  Freiwilligkeit  aufgehoben  wäre ,  denn  nur  diese ,  nur  das 
Nichtverpflichtetseyn  ist  es,  wodurch  der  Erlöser  ein  Anrecht  auf 
Entgelt  erlangt.  Da  ihm  selbst,  der  was  der  Vater  hat  auch  be- 
sitzt, nichts  gegeben  werden  kann,  so  wird  jener  Entgelt,  der 
Erlass,  dem  Menschengeschlecht  zu  Theil,  rückwirkend  den  Ah- 
nen, vorwärtswirkend  den  Brüdern,  die  sich  an  ihn  halten.  Da- 
rin, dass  die  Erbgerechtigkeit  die  Erbsünde  tilgt,  kommt  die  Ge- 
rechtigkeit und  Barmherzigkeit  ganz  gleich  zu  ihrem  Rechte.  Na- 
türlich kommt  aber  nur  dem  Menschen  diese  Erbgerechtigkeit  zu, 
denn  Mensch,  nicht  Engel,  ist  der  Sohn  Gottes  geworden,  und 
nur  der  Mensch  stand  unter  einer  Erbschuld  (Cur  Dens  homo 
II,  11.  18.  19.  20.  21). 

9.  Nachdem  so  gezeigt  worden  war,  dass  und  warum  nur  der 
Tod  des  Mensch  gewordenen  jene  Genugthuung  gewähren  konnte, 
ohne  die  kein  Mensch  selig  werden  kann ,  bedarf  es  endlich  noch 
eines  Nachweises,  dass  die  Art,  wie  die  von  C/.risto  vollbrachte 
Versöhnung  dem  Einzelnen  angeeignet  wird,  durchaus  nicht  ver- 
nunftwidrig ist.  Es  geschieht  dies  in  der  Abhandlung  de  concor- 
dia  praescientiae  praedestinatiouis  et  gratiae  cum  libero  arbitrio, 
die  er  erst  kurz  vor  seinem  Tode  beendigt  hat,  überzeugt,  dass 
wenn  Einer  ihm  die  Zweifel  so  widerlegt  hätte,  wie  er  es  dem 
Freunde  thut,  er  sich  zufrieden  gegeben  hätte  (de  conc.  praesc. 
etc.  quaest.  3,  14).  Hinsichtlich  des  Voraus -Wissens  und  Bestim- 
mens wird  dies  urgirt ,  dass  es  für  Gott  kein  Voraus  und  Nachher 
gebe,  und  man  eigentlich  nicht  sagen  dürfe  Gott  habe,  ehe  Etwas 
geschieht,  es  gewusst  oder  bestimmt,  ganz  besonders  aber  der 
Unterschied  z\\ischen  der  neccssitas  fjuae  se(jiiifiir,  nach  welcher, 
wenn  Etwas  gewusst  wird ,  freilich  (zurück)  zu  schliessen  ist,  dass 
es  seyn  muss,  und  der  necessitas  fjiinc  praccedit ,  welche  der 
zwingende  Gmnd  zu  einem  Geschehen  ist.  Folgt  schon  wegen 
dieses  Unterschiedes  daraus,  dass  Gott  mein  Thun  (voraus-)  weiss, 
nicht  meine  That,  sondern  -viel  mehr  aus  meiner  That  sein  (Vo- 
raus-) "Wissen,  so  verschwindet  alle  Bedenklichkeit,  wenn  wir  fest- 
halten, dass  Gott  diese  meine  That  ganz  kennt  und  darum  auch 
weiss,  dass  sie  aus  freiem  Antriebe  erfolgen  wird  (ibid.  Quaest. 
I,  4.  Quaest.  I,  7.  1).  Eben  so  wenig  wie  mit  der  göttlichen 
Präscienz  und  Prädestination  soll  die  menschliche  Freiheit  mit  der 


264  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Gnade  Gottes  in  Widerspruch  stehn.  Schon  darum  nicht,  weil 
die  Freiheit  des  unschuldigen  Menschen  selbst  ein  Geschenk  der 
göttlichen  Gnade  ist,  dem  gefallenen  Menschen  aber  Taufe  und 
Predigt  die  Freiheit,  d.  h.  die  Fähigkeit  die  gehörige  Richtung 
des  Willens  festzuhalten,  mittheilen.  Aber  auch  mit  der  be- 
gleitenden und  nachfolgenden  Gnade  streite  die  Freiheit  nicht; 
nur  Missverstand  hat  aus  der  Schrift  herausgelesen,  dass  nur  die 
Gnade  oder  dass  nur  der  freie  Wille  dem  Menschen  die  Gerech- 
tigkeit gebe,  Xur  hinsichtlich  der  kleinen  Kinder,  welche  getauft 
werden,  Messe  sich  das  Erstere  behaupten.  Sonst  ist  es  der  freie 
Wille,  durch  welchen  der  Mensch  im  steten  Kampfe  gegen  das 
Böse  den  Glauben  übt,  der  auch  eine  verdienstliche  Seite  hat,  und 
den  Menschen  dem  Zustande  näher  bringt,  der  freilich  hienieden 
unerreichbar  ist,  wo  er  gar  nicht  mehr  wird  fehlen  können.  Um 
diesen  kämpfenden  Glauben  hervorzurufen,  dazu  bleiben  auch  wo 
Taufe  oder  Martyrium  die  Schuld  tilgten,  die  Folgen  der  Sünden 
nach,  so  dass  erst  dann,  wenn  die  bestimmte  Zahl  der  Gläubigen 
voll  ist,  an  die  Stelle  der  Corruption  die  völlige  Incorruptibilität 
tritt  (ibid.  Quaest.  III,  3.  4.  6.  9). 

§.  157. 
Wie  oben  (§.  153)  der  erste  Urheber  de^  scholastischen  Phi- 
losophie mit  dem  genialen  Schöpfer  des  Fränkischen  Kaiserthums, 
so  kann  die  Thätigkeit  ihres  zweiten  Ahnherrn  mit  der  besonne- 
nen Consequenz  verglichen  werden,  mit  der  die  Ottonen  an  dem 
römischen  Reiche  deutscher  Nation  arbeiten.  Nicht  geniale  Ahn- 
dung, nicht  mystische  Anschauung,  sondern  das  klar  verständige 
Denken  lässt  ihn  eine  Theologie  aufstellen,  welche  verständlich 
macht,  was  in  Nicäa  und  Constantinopel,  eine  Christologie,  wel- 
che beweist,  was  in  Chalcedon  festgestellt  war,  endlich  eine  An- 
thropologie, welche  die  von  Avgvsün  fixirten  Dogmen  dem  gesun- 
den Menschenverstände,  wenn  nicht  anders  durch  Milderung  ihrer 
anstössigen  Härten ,  zugänglich  macht.  Die  Aussöhnung  des  Glau- 
bens mit  dem  Verstände  des  natürlichen  Menschen,  der  Ansdm 
seine  ganze  wissenschaftliche  Thätigkeit"  gewidmet  hat,  lässt  nach 
dem  objectiven  (materiellen)  und  subjectiven  (formellen)  Momente, 
das  sowol  der  Glaube  als  der  Verstand  in  sich  enthält,  vier  Auf- 
gaben in  sich  unterscheiden,  die  man  als  die  dogmatisch -syste- 
matische, psychologische,  dialektische  und  metaphysische  bezeich- 
nen kann,  welche  AnseJm  alle  und  die  er  immer  gleichzeitig  im 
Auge  hat.  Erstlich  muss  der  Inhalt  des  Glaubens ,  die  fides  (jnae 
creditnr,  verständig  geordnet  und  zu  einem  System  verbunden 
werden,  zweitens  muss  Vernunft  darin  nachgewiesen  werden,  dass 


I.  Jngendperiode.  A.  Schol.  alsKel,- u.  Vernunftl.  Realismus  u.Nomin.  §.  158.  265 

der  Mensch  sich  glaubend  verhält  oder,  was  dasselbe  lieisst,  in 
der  fules  fjua  cred'dur.  Drittens  muss  der  Verstand  die  for- 
melle Gewandtheit  erhalten,  die  aus  den  verschiedensten  Quellen 
stammenden  Lehren,  wenn  es  nöthig  ist  durch  Distinctionen,  zu 
vermitteln.  Viertens  endlich  muss  ihm  die  metaphysische  Ueber- 
zeugung  beigebracht  werden ,  dass  nicht  die  Welt  der  Dinge ,  son- 
dern das  Uebersinnliche  und  Ideale  allein  Wahrheit  habe.  Bei 
Anselm  ist  das  Denken  so  an  die  systematische  Form  gebunden, 
dass  die  chronologische  Folge  seiner  Werke  mit  der  vom  System 
geforderten  Reihe  zusammenfällt ,  er  kennt  dabei  die  Seligkeit  des 
Glaubens  aus  Erfahrung  und  hat  gründlich  über  die  Stufen  nach- 
gedacht, die  ihn  nach  unten  zu  von  der  sinnhcheu  Wahrnehmung, 
nach  oben  hin  vom  dereinstigeu  Schauen  trennen;  dabei  ist  er 
Dialektiker  bis  in  seine  Gebete  hinein,  und  seine  spitzfindigsten 
Argumentationen  kleiden  sich  in  die  Form  von  Anreden  an  Gott; 
endlich  aber  ruht  nicht  nur  seine  Metaphysik ,  sondern  seine  ganze 
Theologie  auf  der  Gewissheit,  dass  die  Universalien  wahrhafte 
Reahtät  haben,  d.  h.  dass  die  Ideen  als  die  Urbilder  den  Dingen, 
als  den  blossen  Abbildern,  weit  vorgehn. 

§.  158. 
Aus  dem  Streite  des  Anselm  gegen  die  tritheistischen  Vor- 
stellungen des  noscellinus  von  Compiegne  geht  hervor,  was  wir 
auch  sonst  wissen,  dass  dieser  zu  den  Dialektikern  gehörte,  wel- 
che, wie  schon  früher  u.  A.  Eric  von  Auxerre,  in  den  Universa- 
lien blosse  Worte,  oder  doch  nur  Abstractionen  des  Verstandes, 
sehen,  die  den  Dingen  nachgebildet  werden,  während  Anselm  au 
dem  Piatonismus  festhielt,  den  schon  mehr  als  ein  .Jahrhundert 
vor  ihm  llemiy'uts  von  Auxerre  in  seinen  Commentareu  zum  Mur- 
cinnits  Capelln ,  so  wie  später  dessen  Schüler  Otto  von  Cluguy 
geltend  gemacht  hatten,  und  den  man  noch  weiter  zurück  verfol- 
gen kann,  indem  Erigena ,  bei  dem  freilich,  als  dem  Epoche  ma- 
chenden, und  darum  Alles  was  die  Periode  bewegt  in  sich  ber- 
genden, auch  die  ersten  Keime  der  entgegengesetzten  iVnsicht 
nachweisbar  sind,  eben  so  platonisirt.  Dass  nun  die  Kirche  in 
diesem  Streite  nicht  nur  die  dogmatische  Ketzerei  verurtheilte, 
sondern  zugleich  sich  gegen  die  metaphysischen  Principien  erklärte, 
war  nicht  eine  Verleugnung  der  Weisheit,  die  sie  sonst  (z.  B.  bei 
dem  Streite  des  Augustinus  und  Pelagius  hinsichtlich  des  Tradu- 
cianismus)  gezeigt  hatte,  sondern  ging  aus  dem  ganz  richtigen 
Gefühle  hervor,  dass  wer  den  Dingen  mehr  Realität  einräume  als 
den  Ideen,  mehr  dieser  Welt  anhänge  als  dem  idealen  Himmel- 
reiche.   Darum  ist  es  nicht   ein  Verranntseyn  in  die  eignen  An- 


266  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

sichten,  welche  den  Aiisclm  solche  Dialektik  häretisch  nennen 
lässt,  sondern  für  jeden  aufmerksamen  Beobachter  wird  die  Be- 
deutung, die  Einer  den  Universalien  einräumt,  zum  Maassstab 
seiner  Stellung  zur  Kirche.  Von  dieser  Wichtigkeit  kommt  es, 
dass  in  dieser  Zeit  die  Namen  der  verschiedenen  Eichtungen  von 
den  Prädicaten  hergenommen  werden ,  die  jede  derselben  den  Uni- 
versalien beilegt.  Wer  von  dem  Grundsatz  ausgeht,  wie  Aiiselm, 
Ujiivejsalia  sinif  ante  res,  und  demgemäss  behauptet  sie  seyen 
selbst  renliu ,  heisst  ein  reali.s ^  später  ein  Realist;  wer  dagegen, 
wie  RosceUbi.  meint,  die  Universalien  seyen  von  den  Dingen  ab- 
strahirt,  also  jmst  res,  seyen  blosse  voces  oder  nomina ,  heisst 
darum  ein  rocalis  oder  nominalis ,  später  ein  Nominalist.  Wie 
es  kein  Zufall  ist ,  dass  die  Realisten  die  Kirchlicheren ,  so  keiner, 
dass  in  dieser  Zeit  die  Nominalisten  die  geistig  Unbedeutenderen 
sind.  In  dieser  Zeit;  denn  wo  es  sich  darum  handeln  wird,  die 
mittelalterliche,  weltbekämpfende,  Kirche  zu  untergraben,  werden 
sich  die  Nominalisten  als  die  Zeitverständigern ,  d.  h.  die  grösse- 
ren Philosophen  erweisen  (s.  weiterhin  §.  217). 

Vgl.  Cousin  in  s.  Ouvrages  inedits  d'Ahelard.  Paris  1836  und  s.  Fragmens  de 
Philosophie  de  moyen  äge.  Par.  1840.  50.  Besonders:  Prantl  Gesch.  der  Logik  im 
Abendlande.    2''  Bd.    Leipz.  1861. 

§.  159. 
Dass  der  Nominahsmus,  consequent  durchgeführt,  zur  Ver- 
götterung der  Dinge  führen  müsse,  war  keine  Verleumdung  des 
Anselm ,  es  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Was  er  nicht  sah,  ist, 
dass  die  äussersten  Consequenzen  des  Realit?mus  zum  entgegen- 
gesetzten Extrem,  zum  Akosmismus  oder  Pantheismus,  führen 
müssen.  Anselm  selbst  geht  nicht  so  weit.  Eben  so  wenig,  wie  es 
scheint,  sein  Schüler  Odon,  Bischof  von  Cambray,  der  in  seinem 
Liber  de  complexionibus  und  seinem  Tractatus  de  re  et  ente  den 
Nominalisten  Baunberl  von  Lille  angegriffen  haben  soll.  Viel  nä- 
her kommt  dem  Pantheismus  der  realistisch  gesinnte  lUldebcrt 
von  Tours,  sowol  in  seinen  Poesien,  als  auch  dem  Tractatus  theo- 
logicus,  der  ihm  zugeschrieben  wird.  Noch  mehr  gilt  das  von 
dem  Mann,  der,  wenigstens  unter  den  uns  bekannt  Gewordenen, 
den  Realismus  am  Weitesten  getrieben  hat,  von  Wilh elm ,  der 
im  J,  1070  in  Champeaux  geboren,  1121  als  Bischof  von  Chalons 
starb.  Von  Mnnegold  von  Lauterbach  und  Anselm  von  Laon  in 
der  Theologie,  von  RosreNin  in  der  Dialektik  unterrichtet,  trat 
er  in  Paris ,  wo  er ,  zuerst  in  der  Domschule ,  dann  in  dem  von 
ihm  gegründeten  Kloster  von  St.  Victor,  lehrte,  gegen  ihn  auf. 
Hatte  Roserltin  nur   dem  Individuum  Substanzialität  zugeschrie- 


I.  Jugendperiode.  A.  Schol.  als  Rel.- u.  Vernunftl.  Realismus  u.  Nomin.  §.  160.  267 

ben,  so  behauptet  dagegen  Wilhehn,  dass  im  Sokrates  nur  die 
Menschheit  etwas  Substanzielles ,  dagegen  die  Sokratität  das  bloss 
Accidentelle  sey;  und  nicht  nur  wirklichen  Gattungen  räumt  er 
diese  Priorität  ein,  sondern  jede  durch  Abstraction  gewonnene 
Allgeraeinheit  stellt  er  als  ein  universale  ante  res  hin,  und  be- 
hauptet demgemäss,  dass  rütioiuditas  und  (ilbedo  seyn  würden, 
auch  wenn  es  gar  kein  rationale  oder  album  gäbe.  Weil  die  in- 
dividuelle Verschiedenheit  gar  keine  wesentliche  ist,  deswegen  ur- 
girt  er,  dass  das  universale  sich  in  allen  Individuen  essenlialiter, 
totaUler  et  simal  befinde.  Neben  Wilhelm  kann  auch  Bernhard 
von  Chartres  erwähnt  werden,  welcher  bis  in  die  Mitte  des  12'*^° 
Jahrhunderts  hinein,  an  Plato's  Timäus  anknüpfenden  Realismus 
lehrte,  der  in  seinem  Megakosmus  und  Mikrokosmus  entwickelt 
ist.  Genauere  Nachrichten  über  seine  Lehre  von  den  drei  Princi- 
pien  Gott,  Seele  und  Materie  verdanken  wir  Cousin,  der  über 
ihn  berichtet  hat.  Später  scheint  Bernhard  sich  besonders  auf 
das  Studium  der  Alten  geworfen ,  und  nach  einer  eigenthümlichen 
Methode  seine  Schüler  zum  Studium  der  Grammatik  und  Rhetorik 
angeleitet  zu  haben. 

§.  160. 
Bei  diesem  Gegensatz,  wie  ihn  der  extreme  Realismus  des 
Wilhehn  und  vielleicht  auch  des  Bernhard  auf  der  einen,  des 
Roseellin  und  vielleicht  auch  des  Raimbert  auf  der  anderen  Seite 
bilden ,  bleibt  es  nicht ,  sondern  es  zeigen  sich  frühe  Yermittelungs- 
versuche,  die  man,  weil  einer  derselben  die  Universalia  coneeptus 
genannt  hatte,  dem  oben  angeführten  Principe  der  Nomenclatur 
gemäss  allesamt  als  Ansichten  der  eonrcptiKdes,  später  Concep- 
tualisten  bezeichnet  hat.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass 
diese  vermittelnden  Lehren  sich  entweder  dem  einen  oder  dem 
andern  Extreme  näher  stellen  können.  Dem  Realismus  scheinen 
sich  die  angenähert  zu  haben,  welche  als  Vertheidiger  der  non- 
di/f'ereittia  oder  indiff'erenlia  erwähnt  werden,  weil  sie  behauptet 
haben  sollen,  dass  das  wahre  Seyn  von  den  Differenzen  von  Gat- 
tung, Art  und  Individuum  gar  nicht  berührt  werde,  indem  ein 
und  dasselbe  als  Individuum  Plato,  als  Art  Mensch,  als  Gattung 
Lebendiges  sey.  Wer  der  Urheber  dieser  Ansicht,  darüber  wird 
gestritten.  Dieselben  Stellen  gleichzeitiger  Schriftsteller  werden 
von  den  Einen  (z.  B.  Haureau)  auf  Adclard  von  Bath,  den  üeber- 
setzer  des  Eukhd  aus  dem  Arabischen,  dessen  Schrift  de  eodem 
et  diverso  zwischen  1105  und  1117  verfasst  seyn  muss,  von  An- 
deren (z.  B.  //.  nuicr)  auf  Walter  von  Mortagne,  der  1174  als 
Bischof  von  Lyon  starb,  bezogen.     Noch  Andere  (so  Cousin)  be- 


268  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ziehen  sie  auf  eine  spätere  Lehre  des  Wilhelm  von  Champeaux 
und  berufen  sich  dafür  auf  das  Zeugniss  AbiUards  in  der  bist, 
calamit.,  was  allerdings  ihrer  Behauptung  ein  grosses  Gewicht 
gibt.  Dagegen  stellt  sich  offenbar  dem  Nominalismus  näher  der 
Verfasser  der  Schrift  de  generibus  et  speciebus,  welche  ihr  erster 
Herausgeber  Cousin  für  eine  Jugendschrift  Ahülanh ,  IL  Bit f er 
für  ein  Werk  des  Josrehjn  von  Soissons  hält,  den  Johann  von  Sa- 
lisbury  als  einen  berühmten  Conceptualisten  erwähnt.  Die  Uni- 
versalien werden  hier  als  Inbegriffe  (concepfits ,  collect iones)  ge- 
nommen, und  demgemäss  in  directem  Gegensatz  zu  dem  „iotali- 
tcr-'  des  Wilhelm  behauptet,  dass  nur  ein  Theil  der  Species  homo 
(als  Materie)  mit  der  Socratitas  (als  Form)  zu  einer  wirklichen 
Substanz ,  dem  Sohrates,  verbunden  sey.  Wichtiger  als  alle  übri- 
gen Conceptualisten,  am  Meisten  von  beiden  Einseitigkeiten  ent- 
fernt, ist  der  grösste  unter  den  französischen  Scholastikern,  Abä- 
liird.  Er  bringt  eigentlich  den  Streit  des  Realismus  und  Nomi- 
nalismus zum  Abschluss,  so  dass  diese  Streitfrage  aufhört,  das 
wichtigste  philosophische  Problem  zu  seyn. 

§.  161. 
Abälard, 
Charles  Rimusat  Abelard.    II  "Voll.    Paris  184.5. 

1.    Pierre  de  Pallct  (Peirvs  Pnlcdinus ,  bekannter  unter 
dem  Beinamen  Ahaelardus)  ist  1079  geboren,  und  hat  zuerst 
unter  lioscenin .  der  aus  England  vertrieben,  ehe  er  Canonicus  in 
BesauQon  ward,   im  Städtchen  Loches  in  Touraine  lehrte,  später 
in  Paris  unter  Wilhelm  von  Champeaux  die  Dialektik  studirt.    Das 
Resultat  war,   dass   die  Formeln  beider  ihm  als  widersinnig  er- 
schienen,  und  dass,  als  er,  nachdem  er  selbst  eine  Zeit  lang  in 
Melun  und  Corbeil   gelehrt  hatte,  nun  zu   Wilhelm  zurückkehrte, 
um  die  Rhetorik  bei  ihm  zu  hören,  er  in  einer  öffentlichen  Dis- 
putation denselben  zu  einer  Milderung  seines  extremen  Realismus 
brachte.    Seitdem  war  nur  noch  von  Abälard  als  dem  grössten 
Dialektiker  die  Rede,  und  er  selbst  nannte  sich  von  da  ab  Pcri- 
patedcns,  was  als  Synonymon  von  Dialecticus  galt.    Durch  seine 
Vorträge  auf  dem  Berge  St.  Geneviere  steigerte  sich  sein  Ruhm 
noch  mehr,  freilich  auch  der  Hass   Wilhelms,  welcher  zuerst  den 
h.  Bernhard  gegen  ihn   einnahm.     Abälards  Ansehn   stieg  noch, 
als   er,   von  Ansei m  von  Laon  in  die  Theologie  eingeführt,   auch 
in  dieser  als  Lehrer  auftrat.    Der  Liebeshandel  mit  der  Heloise, 
seine  Verheirathung  mit  ihr,  die  bekannte  Katastrophe  dieses  Ver- 
hältnisses ,  entfernt  ihn  aus  Paris  und  lässt  ihn ,  überall  von  den- 
selben Gegnern  angefeindet,  zuerst  im  Kloster  St.  Denys  als  Mönch, 


1.  Jugendperiode.    A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernunftl.    Abälard.    §.  161,  1.  2.  269 

dann  in  Maisonville  und  später  nahe  bei  Nogent  sur  Seine,  in  dem 
selbsterbauten  Kloster  zum  Paraklet,  als  Lehrer  wirken.  Eine  Zeit 
lang  leitet  er  als  Abt  das  Kloster  St.  Gildas  de  Ruits  in  der  Bre- 
tagne, lehrt  dann  wieder  in  Paris,  wird  auf  dem  Concil  zu  Sens 
1140  verdammt  und  endet,  durch  den  Bischof  Peter  von  Cluny 
mit  seinen  Gegnern  versöhnt,  sein  geplagtes  Leben  am  21.  April 
1142  im  Kloster  St.  Marcel  bei  Chalons.  Die  von  Duchesne  (Quer- 
celüiuis)  nach,  von  Fr.  Amholse  gesammelten,  Manuscripten  ver- 
anstaltete Ausgabe  seiner  Werke  (Paris  1616)  ist  nicht  vollstän- 
dig. Marlene  und  Durand  (Thesaurus  novus  anecdott.),  Bern- 
hard Pczins  (Thesaurus  anecd.  novissimus),  Uheimcald  (Anecd. 
ad  bist,  eccl,  pertin.  1831.  35)  und  Cousin  (Ouvrages  inedits  d'A- 
b61ard)  haben  wichtige  Nachträge  dazu  gehefert.  Der  Letztere 
hat  auch  eine  neue  Gesammtausgabe  der  Werke  Ahfilards  gege- 
ben (Bd.  L  1849.  Bd.  IL  1859).  Mit  Ausnahme  der  Dialektik  fin- 
den sie  sich  alle  im  178**""  Bande  von  Mignc's  Patrol.  curs.  compl. 

2.  Die  Logik,  von  der  Abälard  selbst  sagt,  sie  habe  das 
Unglück  seines  Lebens  gemacht,  war  und  blieb  dennoch  seine 
Göttin.  Unverhohlen  bekennt  er  seine  Ignoranz  in  der  Mathema- 
tik, so  dass  also  (vgl.  §.  147)  sein  Gebiet  das  trirlinn  blieb,  er 
das  (juadrininn  Anderen  überliess.  Die  Logik  führt  ihren  Namen 
vom  Logos,  d.  h.  vom  Sohn  Gottes  (Ep.  IV),  und  der  Logiker, 
namentlich  der,  welcher  die  Dialektik  treibt,  viel  mehr  als  der 
Grammatiker  und  Rhetoriker,  ist  der  wahre  Philosoph  (Ouvr.  ined. 
p.  453).  Seine  Dialektik  (Ibid.  p.  173—497)  kommt  daher  vor 
Allem  zur  Sprache.  Wie  sie,  von  Cousin,  aber  leider  nicht  ganz 
vollständig,  herausgegeben  uns  vorhegt,  so  hat  sie  in  ihrem  er- 
sten Theile,  der  die  Redetheile  (Partes)  behandelt,  sich  commen- 
tirend  an  des  Porplyrius  Isagoge,  so  wie  an  Aristoteles'  Katego- 
rien und  Hermeneutik  angeschlossen,  also  zuerst  die  anlepracdi- 
camenta  behandelt,  wozu  dann  die  praedicainenta,  endlich  die 
postpraedicamcnta  kommen.  Die  Lücken  sind  nur  sehr  schwer 
durch  das  zu  ergänzen,  was  Renmsal  über  Abälards  glossulis  ad 
Porphyr,  referirt.  Prantl  hat  sich  dieser  Mühe  unterzogen.  Der 
zweite  Theil  gibt  die  Lehre  vom  kategorischen  Schluss ,  der  dritte 
commentirt  die  Topiken,  der  vierte  behandelt  den  hypothetischen 
Schluss ,  der  fünfte  enthält  die  Theorie  der  Eintheilungen  und  De- 
finitionen (die  vier  letzten  eommentiren  die  Bearbeitungen  des  Boe- 
thius,  da  Abälard  weder  die  Analytiken  noch  die  Topiken  des 
Aristoteles  kennt).  Die  Hochachtung,  mit  welcher  Abälard  in 
diesem  Werke  stets  seines  Lehrers  (Wilhelms?)  gedenkt,  lässt 
auf  eine  frühe  Abfassung  desselben  schliessen.      Selbstständiger 


270  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

erscheint  Ahälard  in  den,  zwar  in  einem  theologischen  Werke  (der 
Theologia  christiana)  enthaltenen,  aber  rein  dialektischen  Unter- 
suchungen über  Einheit  und  Verschiedenheit.  In  mindestens  fün- 
ferlei Sinn  kann  Eines  mit  dem  Anderen  dasselbe  (idem)  oder  von 
ihm  verschieden  (dirersvm)  genannt  werden.  Es  ist  mit  ihm  we- 
sentlich (esseidialiler)  identisch,  w'cnn  beide  nur  ein  Wesen  aus- 
machen ,  wie  Lebendiges  und  Mensch  in  Sokrafes.  In  diesem  Falle 
sind  sie  auch  numerisch  dasselbe.  Dagegen  kann  zwar  die  essen- 
tielle Verschiedenheit  mit  der  numerischen  zusammenfallen,  braucht 
es  aber  nicht;  ein  Beispiel  des  ersteren  Falles  geben  zwei  Häu- 
ser, des  zweiten:  ein  Haus  und  seine  Mauer.  Als  dritte  Einheit 
und  Verschiedenheit  kommt  zu  jenen  beiden  die  der  Definition. 
Wo  daraus,  dass  etwas  Eines  ist,  auch  folgt,  dass  es  das  Andere 
ist,  sind  beide  der  Definition  nach  dasselbe,  so  miirro  und  avsis, 
dagegen  Solche,  die  ohne  einander  gedacht  werden  können,  sind 
der  Definition  nach  verschieden.  Was  der  Definition  nach  dasselbe 
ist,  ist  es  auch  wesentlich,  aber  nicht  umgekehrt.  Numerisch 
kann  es,  braucht  es  aber  nicht,  dasselbe  seyn,  wie  z.  B.  der  Satz 
midier  damnav'd  mundum  et  eadem  stünavit  richtig  ist,  wenn  en- 
dem  nach  der  Definition,  falsch  wenn  numerisch  verstanden  wird. 
Dasselbe  hinsichtlich  der  Eigenschaft  sind  Solche,  deren  jedes  an 
der  Eigenschaft  des  anderen  Theil  nimmt;  wie  wenn  Weisses  hart 
wird.  Verschiedenheit  der  Eigenschaft  ist  mit  numerischer  Ein- 
heit vereinbar,  wie  z.  B.  ein  Wachsbild  nicht  alle  Eigenschaften 
des  Wachses,  noch  das  Wachs  des  Bildes  annimmt.  Weiter  wird 
von  Selbigkeit  und  Verschiedenheit  gesprochen  in  Bezug  auf  Aehn- 
lichkeit,  d.  h.  bei  Enthalten  seyn  in  demselben  Gattungsbegriff. 
Endlich  kann  noch  an  die  Verschiedenheit  des  Inhalts  erinnert 
werden,  an  welche  wir  denken,  wenn  wir  den  Wein  im  Fasse  dem 
im  Keller  entgegenstellen;  obgleich  der  Wein  und  der  Raum,  den 
der  Wein  einnimmt,  nur  einer  ist.  Diese  Untersuchungen,  obgleich 
besonders  um  der  Trinitätslehre  willen  angestellt,  werden  für  den 
Abülard  wichtig  für  die  Tagesfrage  nach  den  Universalien.  Diese 
Frage  hat,  weil  er  über  den  streitenden  Parteien  steht,  für  ihn 
lange  nicht  mehr  die  Bedeutung ,  wie  für  die  Schule  des  WUlielm. 
Der  Formel  des  letzteren  ante  res .  eben  so  aber  der  des  Roscel- 
lin  post  res,  stellt  er  die  seinige  entgegen:  Uniüersalia  sunt  in 
rebus.  Er  steht  damit  jenen  beiden  gerade  so  gegenüber,  wie 
die  ächte  Peripatetische  Lehre  der  ihr  vorausgehenden  Platoni- 
schen und  der  ihr  nachfolgenden  Epikureischen.  Was  er  an  Wil- 
helm besonders  tadelt,  ist,  dass  er  die  inimanitas  tota  im  Sokra- 
tes  seyn  lasse,  was  zu  Absurditäten  führe,  dass  er  nicht  aner- 


I.  Jugendperiode.     A.  Schol.  als  Eelig.  u.  Veruunftl.    Abälard.     §.  161,  2.  3   271 

kenne  dass  sie  indlvidualiter  in  dem  einzelnen  Menschen  sich  finde; 
hieraus  folge ,  dass  der  individuelle  Unterschied  kein  accidenteller, 
sondern  ein  wesentlicher  sey.  FreiHch  Roscellins  Ansicht,  dass 
nur  das  Einzelne  wesentlich,  sey  absurd.  Die  letzte  Aeusserung 
ist  eine  schlagende  Widerlegung  aller  der,  die  Abälard  zum  No- 
minahsteu  machen.  Er  war  es  nur  mehr  als  Will/elm.  Darum 
freilich  den  Strengkirchlichen  verdächtig.  Auch  aus  dem  oft  an- 
geführten Worte  des  Joliannes  von  Sahsbury,  na.ch  Abälard  seyen 
die  Universalien  scrmones^  lässt  sich  sein  Xominalismus  nicht  fol- 
gern. Dass  er  in  ihnen  nicht  nur  eine  einfache  dlctin  sieht,  son- 
dern sermo ,  d.  h.  Urtheil,  hat  seinen  Grund  darin,  dass  sie  ihm 
natürliche  Prädicate  sind  .Ad  (jiiod  naUim  est  praedlcariJ' 

3.  Während  in  diesen  Untersuchungen  das  theologische  Ele- 
ment ganz  zurücktritt ,  hat  in  einem  anderen  Werke  Abälard  sich 
eine  ganz  andere  Aufgabe  gestellt:  was  die  bedeutendsten  Kir- 
chenlehrer behauptet  haben,  soll  als  ein  verständig  geordnetes 
Ganzes  dargestellt  werden.  Dies  ist  die  eigentliche  Bedeutung 
seines  Sic  et  non,  —  zuerst  bei  Cousin  erschienen,  dann  viel 
correcter  von  Henke  und  Lindenhol/l  1851  herausgegeben,  deren 
Text  bei  Miyne  abgedruckt  ist  — ,  eines  W^erkes,  das  man  viel 
richtiger  beurtheilt ,  wenn  man  es  den  Vorläufer  und  das  Vorbild 
aller  späteren  Sentenzensammluugen  und  Summen  nennt,  als  wenn 
man,  durch  den  blossen  Titel  verführt,  es  mit  den  Werken  der 
Skeptiker  vergleicht.  Erstlich,  ein  möglich  genaues,  dabei  syste- 
matisch geordnetes  Inventarium  dessen  zu  geben ,  was  bisher  in- 
nerhalb der  Kirche  gelehrt  worden  war ,  dann  wo  Entgegengesetz- 
tes behauptet  worden  war,  es  sich  gegenüber  zu  stellen,  um  zum 
Aufsuchen  des  Vermittelungspunktes  zu  reizen ,  dadurch  aber  sicher 
zu  stellen  gegen  das  allzuschnelle  Fertigseyn  und  das  träge  sich 
Beruhigen  bei  irgend  einer  kirchlichen  Autorität,  das  mögen  die 
leitenden  Gesichtspunkte  gewesen  seyn,  denen  Abälard  beim  Ab- 
fassen dieses  W^erkes  folgte ,  das ,  mehr  benutzt  als  genannt ,  Ver- 
anlassung zu  einer  Menge  von  Nachahmungen  gegeben  hat,  und 
dennoch  fnihe  in  Vergessenheit  sank,  während  sie  dauerten  und 
Ruhm  erwarben.  Bei  dieser  Trennung  aber  der  formell  dialekti- 
schen Untersuchungen  und  des  dogmatischen  Materials  lässt  es 
Abälard  nicht  bewenden;  beide  sind  ihm  nur  Vorarbeiten  zu  sei- 
ner Hauptaufgabe ,  deren  Lösung  er  in  seiner  Introductio  in  theo- 
logiam,  an  welche  sich  wie  eine  Ergänzung  die  Epitome  theolo- 
giae  christianae  anschhesst,  ausserdem  aber  in  seiner  Theologia 
christiana  versucht  hat,  von  denen  nui'  die  erste  Schrift  sich  in 
den  gesammelten  W^erken  findet,  wähi'eud  die  zweite  im  J.  1823 


272  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

von  Rheinwnld  herausgegeben  wurde,  die  dritte  in  Marlene  und 
Durnnd's  Thesaurus  zu  finden  ist.  (Miyne's  Patrol.  curs.  compl. 
enthält  sie  alle.)  Diese  Aufgabe  ist:  die  Uebereinstimmung  des 
Dogma's  mit  der  Vernunft  nachzuweisen,  daher  nicht  sowol  die 
Lehre  aufzustellen,  als  gegen  die  Zweifel  zu  vertheidigen ,  da  die 
Ketzer  nicht  durch  Gewalt ,  sondern  nur  durch  Vernunft  zu  wider- 
legen sind.  Von  der  Fähigkeit  der  letzteren  dazu  war  er  so  über- 
zeugt, dass  die  Gegner  ihm  vorwarfen,  er  maasse  sich  eine  ganz 
erschöpfende  Erkeniitniss  Gottes,  an.  Auch  darin  weicht  er  von 
den  sonst  gebräuchlichen  Formeln  ab,  dass  er  das  Wissen  weni- 
ger als  eine  Frucht  des  Glaubens ,  denn  als  kritisches  Schutzmittel 
gegen  den  blinden  Glauben  darstellt,  ohne  darum  jenes  Erstere 
zu  leugnen.  Seine  Sicherheit  gründet  sich  auf  seine  Hochachtung 
vor  der  Macht  der  Vernunft.  Der  Gebrauch  derselben  oder  die 
Philosophie  ist  es,  durch  welche  die  Heiden  den  Vorzug  der  Ju- 
den, das  Gesetz  und  die  Propheten  zu  haben,  nach  Abälard  aus- 
gleichen. Er  behandelt  die  Ersteren  mit  entschiedener  Vorliebe, 
tadelt  den  fleischlichen  Sinn  und  die  sinnlichen  Hoffnungen  der 
Juden,  stellt  dagegen  den  Sohrdtcs  den  Märtyrern  gleich,  lässt 
den  Pldto  die  Trinität ,  die  Siln/lle  und  den  Virgif  die  Incarnation 
verkündigen,  und  spricht  wiederholt  die  Ansicht  aus,  dass  der 
Besitz  der  Wahrheit  und  ihr  strenges  apostolisches  Leben,  von 
dem  er  nicht  müde  wird,  Beispiele  anzuführen,  den  heidnischen 
Philosophen  die  Seligkeit  sichere,  während  die  der  Katechumenen 
und  ungetauften  Christenkinder  ihm  sehr  zweifelhaft  scheint.  Weil 
der  Sohn  Gottes  die  Weisheit  ist,  deswegen  hört  er  überall  in  der 
Stimme  der  Weisheit  den  Sohn  Gottes,  und  die  Weisheit  im  Munde 
PlnUrs  eröffnet  ihm  das  Verständniss  des  christlichen  Glaubens. 
Der  letztere  betrifft  nun  theils  das  Wesen  Gottes,  theils  seine 
Gnadenerweisungen,  und  darum  sind  beide  nach  einander  zu  be- 
trachten. 

4.  Die  Summe  des  christlichen  Glaubens  ist  die  Lehre  von 
der  Trinität.  Da  wird  nun  zuerst  die  kirchliche  Lehre,  dann  die 
Zweifel  dagegen,  endlich  die  Lösung  derselben  angegeben,  Ahä- 
lard  legt  einen  starken  Ton  auf  die  von  den  älteren  Kirchenleh- 
rern behauptete  Einfachheit  der  göttlichen  Substanz,  vermöge  der 
Nichts  in  Gott  sey ,  was  nicht  Gott  ist ,  und  eben  darum  die  Macht, 
Weisheit  und  Güte  nicht  Formen  oder  Bestimmungen  seines  We- 
sens, sondern  dieses  sein  Wesen  selbst  sind.  Eben  darum  soll 
auch  von  Gott  nicht  im  eigentlichen  Sinne  gesagt  werden  dürfen, 
dass  er  Substanz  sey,  weil  ihm  da  Accidenzien  zukommen  würden. 
Diese  Leugnung  des  Unterschieds  zwischen  Wesen  und  Eigenschaft 


I.  Jugendperiode.    A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernunftlehre.  Abälard.   §.  161,  4.    273 

in  Gott,  in  Folge  der  behauptet  werden  muss,  dass  die  Welt  als 
Werk  der  göttlichen  Güte  Folge  seines  Wesens  sey,  ist  der  Grund, 
warum  in  neuerer  Zeit  Abälard  des  Pantheismus  geziehen  wird. 
{Fesslcr  hat  ganz  geschickt  Parallelstellen  zwischen  seiner  christ- 
lichen Theologie  und  Spinoza's  Ethik  zusammengestellt.)  Aus  die- 
ser absoluten  Einheit  des  göttlichen  Wesens  suchen  nun  die  Geg- 
ner des  christlichen  Glaubens  die  Unmöglichkeit  einer  Dreiheit  von 
Personen  abzuleiten  und  Abülard  führt  drei  und  zwanzig  Gründe 
gegen  die  Dreieinigkeit  an,  die  er  zu  widerlegen  sucht.  Er  iden- 
tificirt  dabei  immer  den  Unterschied  der  drei  Personen  mit  dem 
der  Macht,  Weisheit  und  Güte,  zwischen  welchen  ein  Unterschied 
der  Definition  Statt  findet,  und  tritt  der  Behauptung,  dass  eine 
Dreiheit  der  Personen  mit  der  Einheit  und  Untheilbarkeit  des  gött- 
lichen Wesens  unvereinbar  sey,  theils  damit  entgegen,  dass  es  des 
Sohrafes  Einheit  keinen  Eintrag  thue,  wenn  er  erste,  zweite  und 
dritte  Person  im  grammatischen  Sinne,  zugleich  sey,  theils  aber 
und  besonders  damit,  dass  der  Unterschied  der  Definition  nicht 
nothwendig  ein  essentieller  und  numerischer  sey.  Alle,  im  dritten 
Buche  angeführten,  Bedenken  sucht  nun  das  vierte  Buch  der  christ- 
lichen Theologie,  zwar  nicht  in  derselben  Reihenfolge,  aber  doch 
ziemlich  vollständig  zu  widerlegen.  Eben  so  auch  die,  welche  ge- 
gen seine  Identification  des  Vaters  mit  der  Macht  u.  s.  w.  anfüh- 
ren, dass  doch  der  Vater  auch  weise  und  gütig  sey,  was  Abälard 
gern  zugibt,  ohne  damit  aufzugeben,  dass  nur  nach  seiner  Theorie 
begreiflich  sey,  warum  die  Schöpfung  dem  Vater  d.  h.  der  Macht, 
die  Incarnation,  dieser  Act  der  Erleuchtung,  dem  Sohne,  der  als 
die  Weisheit  Logos  oder  Vernunft  heisst ,  eigne ,  so  wie  wanim 
von  dem  Geiste,  d.  h.  der  Güte  Gottes,  die  Jungfrau  den  Heiland 
und  der  Mensch  die  Vergebung  der  Sünden  empfange.  Dabei  ist 
die  Cooperation  der  anderen  Personen  gar  nicht  ausgeschlossen. 
Die  Einwände  gegen  die  Dreieinigkeitslehre  erscheinen  ihm  samt 
und  sonders  so  schwach,  sie  selbst  so  vernunftgemäss,  dass  er  auf 
den  Einwurf,  warum  denn  Heiden  und  Juden,  denen  doch  die  Ver- 
nunft nicht  abzusprechen,  die  Dreieinigkeit  nicht  lehrten,  erwidert: 
sie  thuen  es  auch  wirklich.  Namentlich  bei  den  Piatonikern  «vlll 
er  diese  Lehre  ganz  ausgebildet  finden.  Ueberhaupt  ist  ihm  Plato 
der  grösste  unter  allen,  Cicero  unter  allen  römischen,  Philosophen. 
Das  fünfte  Buch  beschränkt  sich  nicht  mehr  auf  den,  in  den  frü- 
hern oft  ausgesprocheneu,  Zweck  negativ,  durch  Widerlegung  der 
Zweifel,  die  Einheit  und  Dreiheit  Gottes  zu  beweisan,  sondern  geht 
zu  positiver  Beweisführung  über.  Dass  Gott  ist,  wird  aus  der 
Ordnung  der  Welt,  dass  er  Einer,  aus  dieser  und  aus  dem  Begriffe 

Krdmaan,  Gesch.  d.  Fhil.  I.  lu 


274  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

des  summum  bonum  gefolgert.  Dann  wird  zu  der  Dreiheit  der 
Personen  übergegangen,  hier  aber  nur  vom  Vater,  der  Macht,  ge- 
handelt, indem  die  Darstellung,  wie  sie  uns  vorliegt,  ziemlich  plötz- 
lich abbricht.  Mit  Nachdruck  wird  behauptet,  dass  es  der  All- 
macht Gottes  keinen  Abbruch  thue,  dass  Gott  Vieles,  z.  B.  gehen, 
sündigen  u.  s.  w.  nicht,  ja  dass  er  nicht  mehr  und  nicht  Anderes 
thun  kann,  als  er  wirklich  thut ;  Sätze,  die  wieder  an  das  erinnern, 
was  man  Ahälards  Spinozismus  genannt  hat. 

5.  Die  Lehre  von  der  Allmacht  Gottes,  die  in  der  Introductio 
ad  theologiam  noch  gründlicher  erörtert  ist  als  in  der  theol.  ehr., 
bildet  dann  weiter  den  Uebergang  zu  seiner  Schöpfungslehre,  bei 
der  er  zu  vereinigen  sucht,  dass  Gott  unveränderlich  und  also  ewig 
schaffe,  und  dennoch  die  Welt  zeitlich  geschaffen  sey.  In  seinem 
historisch  -  moralisch  -  mystischen  Commentar  zum  Sechstagewerk, 
den  er  für  die  Heloise  geschrieben  hat  {Marlene  &  Durand  1.  c. 
p.  1361  —  1416.  Migne's  Patrol.  1.  c.  p.  731  —  783),  ist  wiederholt 
ausgesprochen,  dass  unter  Natur  nur  die,  in  der  vollbrachten  Schöp- 
fung herrschenden  und  sie  erhaltenden  Gesetze  zu  verstehen  seyen, 
anstatt  welcher  im  Schöpfungsacte  der  schaffende  Wille  des  All- 
mächtigen wirkte.  Es  ist  nicht  mit  Unrecht  bemerkt  worden,  dass 
sowol  dort,  wo  das  Verhältniss  zwischen  Gott  und  Welt,  als  auch 
da,  wo  das  Verhältniss  des  Göttlichen  und  Menschlichen  in  Christo 
zur  Sprache  kommt,  Abülards  Furcht  vor  aller  mystischen  Imma- 
nenz, seiner  Lehre  zwar  grosse  Klarheit,  aber  auch  jenen  rationa- 
listischen Charakter  gibt,  welcher  so  Manchen,  vor  Allen  den  my- 
stisch gesinnten  Bernhard  von  Clairimnx  an  ihm  empörte. 

6.  Hatte  Abülard  in  seiner  Dialektik  nur  von  dem  logischen, 
in  seinem  Sic  et  non  nur  von  dem  systematischen,  in  seiner  Ein- 
leitung und  Christlichen  Theologie  vom  speculativ  -  theologischen 
Interesse  sich  leiten  lassen,  so  hat  er  endlich,  dass  die  subjective 
Frömmigkeit  ihm  nicht  gleichgültig  ist,  nicht  nur  in  seinem  Leben 
gezeigt ,  wo  sie  die  Bewunderung  des  Petrus  Vener abilis  von  Cluny 
hervorrief,  sondern  ihrer  Rechtfertigung  vor  der  Vernunft  ist  ein 
grosser  Theil  seiner  schriftstellerischen  Wirksamkeit  gewidmet.  Die 
Seligkeit  des  Glaubens  im  Gegensatz  zur  Werkheiligkeit  zu  prei- 
sen, war  eins  seiner  Hauptgeschäfte,  nicht  nur  in  seineu  Predig- 
ten, sondern  auch  in  seinen  wissenschaftlichen  Untersuchungen. 
Dass  er  so  geneigt  ist,  den  Griechen  einen  Vorzug  vor  den  Juden 
einzuräumen,  stützt  sich  grossentheils  darauf,  dass  der  gesetzliche 
Sinn  der  letzteren  der  Bekehrung  grössere  Schwierigkeiten  entge- 
genstelle. Vor  Allem  aber  tritt  dies  Moment  hervor  in  seiner  Ethik. 
Es  ist  kein  Zufall,  wenn  der  Titel,  unter  welchem  Abülard  seine 


I.  Jugendperiode.    A.  Schol.  als  Relig.-  u.  Vernunftlehre.    Abälard.  §.  161,  6.   275 

ethischen  Lehren  entwickelt:  Scito  te  ipsum  (zuerst  in  Pczii  Thes. 
noviss.  III  p.  617;  bei  M/yne  1.  c.  p.  633  —  676)  in  der  Geschichte 
der  Ethik  öfter  dort  hervortritt,  wo  eine  sehr  subjectivistische 
Lehre  aufgestellt  wird.  Abälard  ist  eigentlich  der  Erste,  der  eine 
Moral  im  modernen  Sinne  des  Worts  aufgestellt  hat,  indem  er  das 
sittliche  Subject  nicht  als  Glied  eines  (weltlichen  oder  Gottes-) 
Staates,  sondern  als  Einzelwesen  betrachtet,  und  nicht  sowol  in 
dem  Ganzen,  dem  der  Einzelne  angehört,  als  in  ihm  .selbst  die 
Norm  des  Handelns  aufsucht.  Daher  das  Gewicht,  das  er  auf  die 
eigne  Einwilligung  legt,  um  den  Begriff  des  peccatinn  zu  fixiren, 
darum  auf  der  anderen  Seite  die  Behauptung ,  dass  die  Vollendung 
desselben  zur  Verdammniss  nichts  beitrage,  sondern  diese  nur  auf 
den  covsotsus  und  die  Absicht  sich  stütze,  darum  endlich,  was 
den  Inhalt  der  Pflicht  betrifft,  der  Nachdruck,  mit  dem  die  Ueber- 
eiustimmung  mit  der  eignen  Ueberzeugung  und  dem  Gewissen  für 
die  Hauptsache  erklärt  wird.  Eben  deswegen  ist  auch  die  Erb- 
sünde zwar  ein  viüum,  aber  kein  eigentliches  peccatum,  und  Abu' 
lard  betont  in  der  Einwilligung  zum  Bösen  so  sehr  die  Freiheit, 
dass  er  die  Möglichkeit  statuirt.  Einer  könne  ganz  ohne  peccnta 
durchs  Leben  hindurchgehn.  Die  Vergebung  der  Sünde  ist  eben 
darum  ein  Einflössen  reuiger  Gesinnung,  die  Sünde  gegen  den  h. 
Geist  ist  die  völlige  Unfähigkeit  des  Bereuens,  welche  zusammen- 
fällt mit  dem  Handeln  gegen  das  Gewissen  und  der  Verzweiflung 
an  Gottes  Gnade,  und  keine  Entschuldigung  hat.  Gerade  wie  in 
diesem  grösseren  Werke ,  so  hat  Abälard  auch  in  dem  zuerst  von 
Cousin  herausgegebenen  Gedichte  an  seinen  Sohn  Asirahibuts  (bei 
Migvc  1.  c.  p.  1759)  die  Ueberzeugungstreue  als  das  alleinige  Mo- 
ralprincip  entwickelt.  Wenn  er  daher  oft  als  der  Rationalist  un- 
ter den  Scholastikern  bezeichnet  wird,  so  verdient  er  dies  nicht 
nur  wegen  seiner,  trotz  aller  Polemik  gegen  den  Sabellianismus 
sich  diesem  annähernden,  Trinitätslehre,  und  wegen  seiner  kriti- 
schen Versuche,  sondern  eben  auch  wegen  seiner  Ethik,  die  wirk- 
lich in  dem  Hauptpunkt  mit  manchem  moderneu  Rationalisten  ganz 
übereinstimmt.  Dass  alle  die,  in  welchen  der  kirchliche  Sinn  sehr 
mächtig  war,  dem  Abälard  abhold  waren,  hat  neben  der  oben 
bemerkten  Hinneigung  zum  Nominalismus,  oder  vielmehr  vom  ex- 
tremen Realismus  ab,  in  diesem  seinem  rationalistischen  Zuge  sei- 
nen Grund. 

§.  162. 
Der  Conflict  Abälards,  dieser  Incarnation  gerade  der  franzö- 
sischen Scholastik  mit  ihrer  Schärfe  und  Eleganz,   mit  der  Geist- 
lichkeit seines  Vaterlandes  lässt  daselbst  ein  weit  verbreitetes  Miss- 

18* 


276  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

trauen  gegen  die  Philosophie  entstehn.  Die  Folgen  desselben  müs- 
sen auch  solche  tragen,  die  mit  Abäluni  in  gar  keinem  Zusam- 
menhange stehn.  So  Willtclm  von  Conches  (1080 — 1154).  Ein 
Schüler  des  Bernlaird  von  Chartres,  hat  er  durch  seine  Jugend- 
schriften, de  Philosophia,  so  wie  in  seinen  Glossen  zum  Platoni- 
schen Timäus,  in  denen  er  einen  platonisirenden  Atomismus  vor- 
trägt, Anklagen  hervorgerufen,  vor  denen  er  sich  nur  durch  Wi- 
derruf, den  er  noch  später  in  seinem  Dragmaticon  philosophiae 
(gedr.  1583  in  Strasshurg  u.  d,  T.  Dialogus  de  substantiis  physicis 
confectus  a  Wilhelmo  Aneponymo  philosopho  .  .  .  industria  Guilielmi 
Grataroli)  wiederholt,  Ruhe  verschaffen  konnte.  (Ueber  seine  Schrif- 
ten gibt  Uanredu  in  s.  Singularites  historiques  et  litöraires,  Paris 
1861,  genaue  Nachricht.)  Später  hat  seine  Lehrthätigkeit  sich 
besonders  auf  die  Grammatik  und  die  Erklärung  der  Alten  be- 
schränkt. Dieses  Misstrauen  der  Kirche  gegen  die  Scholastik  ist 
dann  ferner  der  Grund,  warum  die  letztere,  indem  ihr  der  näh- 
rende Boden  entzogen  wird,  die  Kirchlichkeit,  anfängt  ihrer  Auf- 
lösung entgegenzugehn.  Ihr  Absterben  ist  im  eigentlichen  Sinne 
eine  Auflösung,  indem  nach  Abüluvd  die  Elemente,  welche  die 
Scholastik  in  sich  enthält,  und  die  in  Anselm  ganz  Eins  gewesen 
waren,  in  Abälard  sich  zu  sondern  begannen,  jetzt  völlig  auseiii- 
andergehn.  War  Abälard  bald  blosser  Logiker,  wie  in  seinen  Com- 
mentaren  zum  Boetliius,  bald  reiner  Metaphysiker ,  wie  in  seinen 
ontologischen  Streitigkeiten  mit  Willielm,  bald  nur  systematischer 
Ordner  der  kirchlichen  Tradition,  wie  in  seinem  Sic  et  non,  bald 
endlich  nur  Lobpreiser  der  subjectiven  Frömmigkeit,  wie  in  seinen 
Predigten  und  seiner  Ethik,  so  setzt  ihn  doch  sein  speculatives 
Talent  in  Stand,  diese  verschiedenen  Momente  in  sich  zu  vereini- 
gen, ähnlich  wie  früher  in  Sokvalcs  die  allerverschiedensten  Rich- 
tungen gebunden  waren.  Wer  eine  solche  Persönlichkeit  nicht  zu 
f.issen  vermag,  muss  an  ihr  irre  werden.  Sohraies  erscheint  als 
der  Wunderliche,  Abälard  wird  von  den  Freunden  Bernhards  für 
einen  Unredlichen  gehalten.  Trotz  dem  zeigt  seine  Persönlichkeit 
eine  solche  Gewalt,  dass  angezogen  oder  abgestossen  alle  Zeitge- 
nossen auf  Abälard  Rücksicht  nehmen,  und  eben  darum  in  Schüler 
oder  mindestens  Freunde,  und  Gegner  desselben  zerfallen.  Auch 
die  Ersteren  aber  vermögen  nicht  den  ganzen  Abälard,  sondern, 
wie  früher  (§.  QQ.  67)  die  kleineren  Sokratischen  Schulen,  nur  eine 
oder  die  andere  Seite  des  Meisters  zu  reproduciren,  und  wieder  die 
Letzteren  können,  indem  sie  nur  eine  oder  die  andere  Seite  des 
Mannes  bekämpfen,  es  nicht  vermeiden,  in  Vielem  ihm  beizustim- 
men und  von  ihm  zu  lernen.    Die  logische  und  metaphysische  Ar- 


I.  Jugendperiode.    B.  Scholastik  als  blosse  Vernunftlehre.    Gilbert.  §.  163,  1.     277 

beit  Übernimmt  Abälards  Geistesverwandter  GUhcrt  mit  einem  sol- 
chen Erfolg,  dass  dagegen  seine  theologischen  Leistungen  bald  ver- 
gessen werden.  Dagegen  wird  von  einem  der  heftigsten  Gegner 
Abülnrds,  Hugo,  die  materielle  und  formelle  Seite  des  Glaubens 
so  sehr  zum  Hauptobjecte  gemacht,  dass  er  nahe  an  Verachtung 
der  Dialektik  heranstreift.  Was  gebunden  gewesen  war,  trennt  sich 
und  neben  einander  erscheinen  die  Versuche,  die  Scholastik  in  blosse 
Vernunftlehre  oder  wieder  in  blosse  Religionslehre  zu  verwandeln. 
Zu  dem  Standpunkte  des  Eriffe/m^  bei  dem  beide  in  einer  unter- 
schiedslosen Einheit  verschmolzen  waren,  stehn  beide  Richtungen 
in  ganz  gleich  negativem  Verhältniss. 

B. 

Die  Scholastik  als  blosse  Yerniinfticbre. 

§.  163. 
1.  Gilbert  de  in  Porree  (Pcrretnnvs),  in  Poitiers  geboren 
und  durch  Bernlnrd  von  Clmrlres  gebildet,  lehrte  zuerst  in  Char- 
tres,  dann  in  Paris,  endlich  in  Poitiers,  an  welchem  Orte  er  1142 
zum  Bischof  ernannt  wurde.    Als  Dialektiker  berühmt,  darum  Pc- 
ripateticvs  genannt,   eben  darum  aber  dem  Bernhard  ron  C/air- 
vaiix  und  dem  Papste  verdächtig  geworden,   musste  er  sich  auf 
zwei  Concilien  vertheidigen ,  war  aber  fügsamer  und  darum  glück- 
licher als  sein  Geistesgenosse  AbüUtrd,   und  ist,  nicht  weiter  an- 
gefochten, im  Jahre  1154  gestorben.    Von  seinen  Schriften  ist  be- 
sonders die  de  sex  principiis  berühmt  geworden,  eine,  nur  wenige 
Blätter  umfassende,  Arbeit,  die  sich  in  manchen  alten  Uebersetzun- 
gen  des  Aristotelischen  Organon  findet,  u.  A.  in  dem  Venet.  1562 
apud  Junctos  erschienenen   p.  62  —  67.     Zu   dem  Organon  gehört 
sie  auch,  weil  sie  in  der  Absicht  verfasst  wurde,  zu  den  Erörte- 
rungen ü1)er  die  vier  ersten  Kategorien,  die  Aristoteles  selbst  ge- 
geben hatte   (s.  §.  86,  6),   eben  so  erschöpfende  über  die  sechs 
übrigen  zu  fügen,  was  auch  den  Titel  des  Werks  erklärt.    Dieser 
ist  indess  doch  nicht  ganz  genau,   da  ausser  den  sechs  Aristoteli- 
schen Kategorien  im  ersten  Capitel  von  der  Form ,  im  letzten  wie- 
der vom  Annehmen  der  Gradunterschiede   ausfühdich   gehandelt 
wird,    üebrigens  finden  sich  in  den  acht  Capiteln  dieses  Schrift- 
chens vielfache  Verweisungen^  auf  andere  Commentare  des  Verfas- 
sers zum  Aristoteles,  und  nur  weil  diese  filihe  verloren  gingen,  mag 
besonders  von  den  sex  principiis  die  Rede  gewesen  seyn.     Gilbert 
ist  der  Erste,  von  dem  man  nachweisen  kann,  dass  er  ausser  den 
bisher  bekannten  Stücken  des  Aristotelischen  Organon  auch  die 
Analytiken  kennt.    In  sofern  hatte  man  Recht,  ihn  mehr  als  An- 


278  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

dere  einen  Peripatetiker  zu  nennen.  Freilich  macht  er  wenig  Ge- 
brauch von  diesem  Zuwachs  an  Quellen,  und  operirt  mit  der  tra- 
ditionellen Schullogik,  wie  sie  Abälard  und  seine  übrigen  Zeitge- 
nossen allein  kannten  (s.  §.  151).  Seine,  oft  rein  lexicalischen, 
Untersuchungen  über  die  verschiedenen  Bedeutungen  von  vhi,  ha- 
heie  u.  s.  w.  sind  im  Mittelalter  als  sehr  wichtige  Nachträge  zu 
Aristolcles  angesehn  worden.  Uns  erscheinen  sie  ziemlich  unbe- 
deutend. 

2.  Ausser  dieser  Schrift  hat  sich  ein  Commentar  Gilhcrls  zu 
des  (Pseudo-)  BdiUlins  Schriften  de  trinitate  und  de  duabus  natu- 
ris  in  Christo  erhalten.  (Beide  in  der  Basler  Ausgabe  des  Boe- 
Ihlns  vom  J.  1570.J  Für  die  Metaphysik  des  Gilbert  ist  der  er- 
stere,  für  seine  Theologie  der  zweite  der  wichtigere.  Dort  nun 
wird  aus  dem  Satze,  dass  das  Seyn  die  Priorität  habe  vor  dem, 
was  ist,  gefolgert,  dass  die  Voraussetzung  von  Allem  dasjenige 
Seyn  ist,  das,  weil  es  nicht  ein  am  Seyn  nur  Theilhaben,  ganz 
einfach  oder,  wie  er  es  nennt,  abstract  ist.  Dieses  ganz  reine  Seyn 
ist  Gott,  von  dem  eben  deshalb  nicht  die  Gottheit  unterschieden 
werden  darf  wie  von  dem  Menschen  die  Menschheit,  an  der  er 
Theil  hat.  Nennt  man  Substanz  den  Träger  von  Accidenzien,  so 
ist  Gott  nicht  Substanz.  Er  ist  es.sentla  noii  (i/ir/irid  Wie  kein 
Unterschied  zwischen  Dcirs  und  diriniins,  so  existirt  auch  keiner 
zwischen  ihm  und  irgend  einer  seiner  Eigenschaften,  er  ist  durch- 
aus nicht  als  Vereinigung  von  Mannigfaltigem  zu  denken,  nicht 
als  etwas  Concretes.  Darum  kann  auch  unser  Denken  an  ihm 
nichts  zusammenfassen  und  er  ist  nicht  vomprehtnsibUis .  sondern 
nur  inteUUjibilis.  Von  diesem  ganz  einfachen  Seyn  sind  nun  we- 
sentlich verschieden  die  Substanzen  oder  Dinge,  die  als  Träger  von 
Accidenzien  eine  Zweiheit  in  sich  haben,  die  ihnen  durch  die  Ma- 
terie kommt.  Unter  dieser  ist  nicht  Körperlichkeit  zu  verstehn, 
obgleich  sie  das  Princip  der  Körperlichkeit  d.  h.  der  Scheinexistenz 
ist.  Die  Materie  ist  als  ein  negatives  Princip  anzusehu,  als  das 
entgegengesetzte  Extrem  zu  dem  blossen  oder  reinen  Seyn. 

3.  Zwischen  dem  absoluten  Seyn  und  den  Substanzen  stehen 
in  der  Mitte  die  Ideen  {ei'dr])  oder  Formen,  die  Urbilder,  wonach 
Alles  geschaffen  ist,  und  die  selbst  ihren  Grund  in  dem  Seyn,  als 
der  reinen  Form,  haben.  Da  ihnen  keine  Accidenzien  zukommen, 
so  kann  nicht  gesagt  werden,  dass  sie  si'bslnnt  oder  Substanzen 
sind,  da  sie  aber  doch  subsislunl .  so  werden  sie  subsislenliae  ge- 
nannt. Weder  dem  Sinne  noch  der  Einbildungskraft,  sondern  nur 
dem  Verstände  zugänglich,  sind  sie  pprpefii<)t\.  während  Gott  ne- 
terniis,   die  Dinge  iernporalcs  sind.     Zu  ihnen  werden  al)er  nicht 


I.  Jugendperiode.    B.  Scliolastik  als  blosse  Vernunftlehre.   Gilbert.  §.  163,  4.      279 

nur  Gattungen  und  Arten ,  sondern  alle  Abstracte  (z.  B.  albedo) 
gerechnet.  Indem  diese  Formen  sich  materialisiren ,  werden  sie 
formae  nnürne  oder,  da  das  materiell  Existirende  Substanz  ge^ 
wesen  war,  formae  svhstiinlialcs.  Als  diese  sind  sie  erst  eigent- 
liche niürersnUa ,  die  also  als  solche  in  rc  existiren.  (Ganz  wie 
AhülnrrJ.)  Damit  aber  streitet  gar  nicht,  dass  Gilberf,  in  Ueber- 
einstimmung  mit  seinem  Lehrer  Bernhard  und  mit  Willielm,  den 
Formen  abgesehn  von  ihrer  Materialisirung  und  vor  derselben  in 
der  übersinnlichen  Welt  Wirklichkeit  zuschreil)t.  In  dieser  dop- 
pelten Wirklichkeit  werden  sie  auch  durch  die  Ausdräcke  exempfa 
und  exemplaria  unterschieden.  —  Die  zum  Pantheismus  neigende 
Formel  Wilhelms,  dass  die  individuelle  Verschiedenheit  bloss  ac- 
cidentell  sey,  verwirft  Gilbert;  die  Accidentien  machen  nach  ihm 
nicht  die  individuelle  Verschiedenheit,  sondern  zeigen  sie  nur  {iwn 
faeinnt  sed  produuV).  Die  Subsistenzen  nämlich  oder  Formen  sind 
das  eigenthche  Wesen  der  Dinge,  das  zunächst  gar  kein  Verhält- 
niss  zu  Accidenzien  hat;  indem  aber  eine  Form  in  einer  Substanz 
existirt,  tritt  sie  in  ein  mittelbares  Verhältniss  zu  deren  Acciden- 
zien, die  nun  der  Substanz  insimf,  der  Form  ads/inf.  Vermöge 
dieses  mittelbaren  Verhältnisses  schliesst  die  Form  alle  Acciden- 
zien aus,  die  ihr  widersprechen,  lässt  nur  zu,  die  ihr  conform, 
und  kann  nun  aus  ihnen  auf  sie  zurückgeschlossen  werden. 

4.  Der  Unterschied,  den  Gilbert  mit  den  Piatonikern  zwischen 
Ewigem,  Zeitlichem  und  Sempiternem  macht,  lässt  ihn,  eben  so 
wie  sie  und  Aristoteles,  drei  Hauptwissenschaften  unterscheiden: 
Theologie,  Physik,  Mathematik,  welchen  die  drei  Weisen  des  Er- 
kennens:  intellectus,  ratio,  disciplinalis  specvlatio,  entsprechen, 
und  deren  jede  ihre  eignen  Grundsätze  haben  soll.  Indem  dabei 
namentlich  die  Theologie  von  den  andern  sehr  abgesondert  wird, 
da  auf  Gott  weder  die  Kategorien  passen,  noch  für  seine  Erkennt- 
niss  die  Sprache  ausreichen  soll ,  ist  eigentlich  schon  der  später 
so  berühmt  gewordene  Satz  vorbereitet,  dass  Etwas  in  der  Theo- 
logie wahr  sein  könne,  was  in  der  Philosophie  falsch  ist,  d.  h.  man 
nähert  sich  der  Trennung  beider.  Von  den  Dogmen  scheint  den 
Gilbert,  wie  Abülard,  besonders  die  Triuität  beschäftigt,  er  sie 
auch  ähnlich  wie  dieser  gefasst  zu  ha])en.  Die  wiederholte  Be- 
hauptung: die  Sprache  reiche  nicht  aus,  alle  Ausdrücke,  wie  Na- 
tur, Person  u.  s.  w.,  seyeii  in  einem  andern  als  dem  gewöhnlichen 
Sinne  zu  nehmen,  ist  genau  genommen  ein  Isoliren  der  Theologie, 
bei  dem  sie  aufhört  Wissenschaft  zu  seyn.  Dies  war,  wie  Gilberf 
durch  die  That  beweist,  für  ihn  besonders  die  Dialektik,  und  dar- 
aus ist  wohl  auch  die  Bereitwilligkeit  zu  erklären,  mit  der  er  seine, 


280  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ketzerisch  befundenen,  Theologumena  zurücknimmt:  den  Unter- 
schied zwischen  Substanzen  und  Subsistenzen  hätte  er  vielleicht 
zäher  festgehalten.  —  Neben  der  Dialektik  war  es  wohl  die  er- 
bauliche Exegese ,  mit  der .  er  sich  viel  beschäftigt  hat.  Wenig- 
stens wird  sein  Commentar  zum  Hohen  Liede  von  Bonaventura 
öfter  citirt. 

§•  1C4. 
Es  geschah  schwerlich  ohne  den  Einfluss  der  dialektischen  Un- 
tersuchungen Gilhrrls,  und  gewiss  durch  die  neue  Anregung,  wel- 
che durch  das  Wiederbekanntwerden  der  wichtigsten  analytischen 
Schriften  des  Aristoteles  gegeben  ward,  dass  sich  eine  Richtung 
in  der  Philosophie  ausbildete,  die  Johnnies  von  Saiishiiri/  (s.  §.  175) 
in  seinem  Metalogicus  durchhechelt,  die  nur  für  logische  Spitzfin- 
digkeiten Sinn  hatte  und  bei  der  damals  anerkannten  Zusammen- 
gehörigkeit der  drei  ,.sermoemates  setentiac''  endlich  in  blossen 
Wortspielereien  sich  gefiel,  die  einem  Eidlnjdemiis  und  Dionnso- 
doriis  Ehre  gemacht  hätten,  und  in  Folge  der  sich  eine  Verach- 
tung der  Logik  als  leerer  Schuliänkereien  auszubreiten  anfing,  die 
diese  ,./>"»•/  jtU/osopW^,  wie  sich  die  Logiker  nannten,  mit  einer 
gleichen  Verachtung  gegen  alles  reale  Wissen  scheinen  erwidert  zu 
haben.  An  sich  ohne  wissenschaftlichen  Werth,  haben  diese  Er- 
scheinungen doch  diese  Bedeutung,  dass  sie  zeigen,  wie  eines  der 
Momente,  welche  der  Scholastik  wesentlich  sind,  sich  in  dieser 
Zeit  von  den  andern  frei,  und  allein  geltend  zu  machen  sucht. 
War  aber  so,  durch  Gilbert  und  die  jurri  plrUosopf/i^  das  Organon 
aus  einer  Autorität  neben  der  h.  Schrift  und  den  Vätern,  zu  einer 
gemacht  worden,  die,  als  die  einzige,  jene  verdrängt  und  verges- 
sen macht,  so  ist  das  Hervortreten  der  entgegengesetzten  Einsei- 
tigkeit erklärlich.  Die  Dialektik  wird  zur  Nebensache,  die  Lehre 
des  Glaubens  zur  Hauptsache  werden.  Zu  Abälard,  der  Dialek- 
tiker und  Theolog  gleich  sehr  gewesen  war,  muss,  wer  nur  das 
letztere  ist  auf  Kosten  des  ersteren,  eine  doppelte  Stellung  ein- 
nehmen. Darum  ist  es  kein  Wunder,  wenn  er  so  viele  Dogmen 
ganz  wie  Abülard  behandelt  und  doch  kaum  anders  als  mit  Bit- 
terkeit von  ihm  spricht.  Die  Aehnlichkeit  findet  Statt  mit  dem 
Verfasser  der  Christlichen  Theologie,  der  Widerwille  gegen  den, 
der  die  Logik  seine  Göttin  nannte.  Der  Mann,  der  nicht  nach 
dem  Namen  des  Periptttctiens  trachtet,  den  aber  seine  Anhänger 
einen  Theologen  gleich  Aiiynstiii  genannt  haben,  der  dem  französi- 
schen Scharfsinn  AhültinJs.  welcher  sich  nur  zu  leicht  in  bloss 
formellen  Untersuchungen  gefällt,  den  inhaltsvollen  Tiefsiun  des 
deutschen  Geistes  entgegenstellt,  ist  llnyo. 


I.  Jugendperiode.     C.  Scholastik  als  blosse  Relig.lehre.     Hugo.    §.  165,  1.  2.      281 

c. 

Die  Scholastik  als  blosse  Religionslebre. 

§.  165. 
Hugo. 
Alb.  Lübner  Hugo  von  St.  Victor  und  die  theologischen  Richtungen  seiner  Zeit. 
Leipz.   1832      B.  Uanreav.  Hugues  de  Saint  -  Victor.     Nouvel  examen  de  l'edition  de 
ses  Oeuvres.     Paris  1850. 

1.  Hvgo  Graf  von  Blankenburg  ist  auf  seinem  väterlichen 
Schloss  am  Harz  im  J.  1096  geboren  und  war  schon  auf  deutschen 
Schiden  gründlich  gebildet,  als  er  in  seinem  18'*"  Jahr  in  das  von 
Willielin  roii  Clianipenmv  gegründete  Augustinerkloster  St.  Victor 
kam,  nach  dem  er  gewöhnlich  genannt  wird.  Er  verliess  es  nicht 
wieder,  und  ist  daselbst  im  J.  1141  gestorben.  Seine  Werke 
sind  nach  seinem  Tode  gesammelt  und  öfter  herausgegeben,  nicht 
ohne  dass  sich  ünächtes  eingeschlichen  hätte.  Die  Pariser  Aus- 
gabe vom  J,  1526  ist  die  erste.  Die  Venetianer  Ausgabe  von  1588 
in  3  Foliobänden  kommt  häufiger  vor.  In  der  Patrologischen  Samm- 
lung von  Mi(/ifc  sind  lhi<jo\^  Werke  in  den  Bänden  175  — 177  nach 
der  Ausgabe  von  Ronen  1648  Fol.  gedruckt.  Mit  welcher  Sorg- 
losigkeit, hat  Ihniräiu  gezeigt.  Nur  der  erste  Band  und  der 
zweite  bis  p.  1017  enthält  die  ächten,  der  Rest  des  zweiten  und 
der  ganze  dritte  Band  die  untergeschobenen  Werke,  zum  Theil  mit 
Angabe  der  wirklichen  Verfasser. 

2.  Was  den  Iliign  vor  den  meisten  seiner  Zeitgenossen  aus- 
zeichnet, ist,  dass  die  verschiedensten  theologischen  Richtungen 
auf  ihn  Einfluss  gewonnen  haben,  und  er  so  in  be\mnderuswerther 
Allseitigkeit  eine  nicht  geringere  Begeisterung  für  die  h.  Schrift 
zeigt  als  die,  welche  in  jener  Zeit  die  biblischen  Theologen  genannt 
werden,  zugleich  aber  von  Hochachtung  durchdrungen  ist  für  die 
gelehrte  Exegese  und  die  traditionell  gewordene  dreifache  (histo- 
rische, allegorische  und  anagogische  oder  tropologische)  Ausle- 
gungsweise. Er  kennt  die  Alten  gründlicher  als  die  meisten  sei- 
ner Zeitgenossen  und  liebt  sie ,  aber  er  weiss  zugleich ,  viel  mehr 
als  Ahühtrd  .^  den  specifischen  Unterschied  zwischen  heidnischer 
und  christlicher  Wissenschaft  festzuhalten,  und  urgirt,  dass  alle 
weltlicbe  Wissenschaft  nur  Yorbereitung  zur  Theologie  sey.  Als 
solche  wird  sie  von  ihm  in  den  drei  ersten  Büchern  seiner  Eradi- 
tio  didascalica  (bei  Migve  II,  739 — 838),  auch  Didascalos  und 
Didascalion  genannt,  in  encyclopädischer  Uebersicht  der  Einleitung 
in  die  Bibel  und  Kirchengeschichte  vorausgeschickt,  welche  den 
Inhalt  der  vier  letzten  Bücher  bildet.     Mit  Anknüpfung  an  den 


282  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Boell'bis  und  die  Peripatetiker  wird,  ausser  den  logischen  Unter- 
suchungen, die  in  dem  irlrio  allen  übrigen  vorauszuschicken  seyen, 
und  die  Ilugn  lediglich  als  Mittel  zum  correcten  und  folgerichti- 
gen Sprechen  duldet,  sonst  aber  ziemlich  verächtlich  behandelt, 
und  wo  sie  zum  Zweck  gemacht  werden,  für  gefährlich  hält,  das 
ganze  Gebiet  des  Wissens  und  die  Philosophie  in  die  theoretische, 
praktische  und  mechanische  (technische)  getheilt.  per  theoreti- 
sche Theil  zerfällt  in  die  Theologie,  die  es  mit  dem  Göttlichen, 
Ewigen,  Intellectiblen  zu  thun  hat,  in  die  Mathematik,  deren  Ge- 
genstand das  Sempiterne,  Intelligible  ist,  und  deren  vier  Theile 
das  (jmidr/rium  bilden,  und  in  die  Physik,  die  es  mit  dem  Zeit- 
lichen und  Sinnlichen  zu  thun  hat.  Die  praktische  Philosophie 
zei-fällt  in  Ethik,  Oekonomik  und  Politik.  Endlich  der  mechani- 
sche Theil  der  Wissenschaft  enthält  die  Anweisung  zu  sieben  Kün- 
sten (Weberei,  Schmiedekunst,  Schiffahrtskunde,  Ackerbau,  Jagd, 
Medicin,  Schauspielkunst).  Auf  diese  encyclopädische  Uebersicht 
lässt  lIii(/o  methodologische  Rathschläge  und  dann  eine  geschicht- 
liche Einleitung  in  die  Bibel  folgen.  Wie  für  jene  Cassiodor  und 
Islflor  von  Sevlita ,  so  ist  für  diese  besonders  liieronymus  sein 
Führer. 

3.  Bei  Weitem  selbstständiger  ist  Hvyo  in  seinen  theologischen 
Hauptwerken,  worunter  der  Dialogus  de  Sacramentis  legis  natu- 
ralis et  scriptae  (bei  Migne  1.  c,  II,  p.  18 — 42),  die  Summa  sen- 
tentiarum  (ibid.  p.  42  — 174)  und  seine  De  sacramentis  christianae 
fidei  Libri  duo  (ibid.  p.  174 — 618)  zu  verstehn  sind.  Sichtbar  ist 
der  Einfluss  Avgvsüns,  (ircgnr  des  Grossen,  Erigenn's,  den  er 
schon  als  Uebersetzer  des  von  ihm  selbst  commentirten  Areopagi- 
ten  kennen  und  schätzen  musste,  endlich,  obgleich  mehr  indirect, 
AbiUards.  gegen  den  er,  nicht  nur  wegen  seiner  Liebe  zu  Berii- 
linrd .  sondern  durch  die  ganz  verschiedene  Weise  des  Empfindens 
sehr  eingenommen  ist.  Beide  sind  darin  einverstanden,  dass  die 
Aufgabe  der  Theologie  das  Verständniss  des  Glaubens  sey;  wäh- 
rend aber  Ahälard  besonders  dies  betont,  dass  der  Zweifel  dies 
Verständniss  nothwendig  mache,  legt  Hugo  besonders  darauf  Ge- 
wicht, dass  das  Verständniss  nur  möglich  sey  durch  das  voraus- 
gegangene Erlebthaben.  Eben  so  sind  beide  darin  einig,  dass 
Nichts,  was  wider  die  Vernunft  sey,  geglaubt  werden  dürfe.  Nur 
scheint  es  dem  Hugo  das  Verdienst  des  Glaubens  zu  schmälern, 
wenn  seinen  Inhalt  nur  Solches  bildete,  was  aus  oder  nach  der 
Vernunft  ist.  Vielmehr  sollen  die  wichtigsten  Stücke  desselben 
über  der  Vernunft  stehn  (de  Sacr.  I,  3),  mit  welcher  Ueberver- 
nünftigkeit  auch  zusammenhängt,   dass  er,  wie  Erlgena .  den  ne- 


I.  Jugendperiode.    C.  Scholastik  als  blosse  Relig.lehre.    Hugo.   §   165,  3.4.      283 

gativen  Aussagen  über  Gott  vor  den  positiven  den  Vorzug  gibt. 
Dass  Gott  Geist  ist,  soll  nur  in  sofern  ganz  wahr  seyn,  dass  er 
kein  Körper  ist.  Der  Glaube  besteht  aus  zwei  Stücken ,  der  coyiii- 
tio  oder  dem,  fjiiod  fidc  crcdlliir,  der  materin  fidci,  und  dem  of- 
feclvs,  d.  h.  dem  crcdn-c ,  welche  subjective  Seite  er  immer  als 
die  eigentliche  fides  vor  der  anderen  hervorhebt,  die  Einer  auch 
haben  könne,  ohne  zu  glauben  (de  Sacr.  II,  10).  Dies  hat  ihn 
aber  nicht  gehindert,  in  seiner  Summa  sententiarum  eine  verstän- 
dig geordnete  Darsjtellung  gerade  des  Glaubensiuhaltes  zu  geben, 
bei  der  man  sich  kaum  des  Gedankens  erwehren  kann,  dass  den 
ersten  Anstoss  dazu  Jbä/ards  Sic  et  non  gegeben  habe.  Auch  in 
dieser  Schrift  übrigens  macht  sich,  wie  auch  sonst,  der  praktische 
Gesichtspunkt  sehr  geltend,  indem  zuerst  von  den  Tugenden  des 
Glaubens,  der  Hoffnung  und  der  Liebe,  als  der  Summa  aller  Theo- 
logie, gesprochen  und  dann,  wie  zu  einem  ersten  Theile,  zum  In- 
halt des  Glaubens  übergegangen  wird.  Nachdem  im  ersten  Tractat 
vom  Daseyn  und  den  Eigenschaften  Gottes,  so  wie  von  der  Drei- 
einigkeit (sehr  dem  Ahälard  ähnlich),  dann  von  der  Menschwer- 
dung gehandelt  ist ,  behandelt  der  zweite  die  Schöpfung  der  Engel 
und  ihren  Fall.  Der  dritte  Tractat  handelt  vom  Sechstagewerk, 
von  der  Schöpfung  und  dem  Falle  des  Menschen,  der  vierte  von 
den  Sakramenten  d.  h.  den  Heilsmitteln,  und  zwar  von  denen  des 
Alten  Bundes,  vornehmlich  vom  Gesetz,  bei  welcher  Gelegenheit 
die  ganze  Sittenlehre  abgehandelt  wird.  Die  folgenden  drei  Trac- 
tate  betreffen  die  Sakramente  des  Neuen  Bundes  und  zwar  der 
fünfte  die  Taufe,  der  sechste  die  Busse,  Schlüsselgewalt  und  das 
Abendmahl,  der  siebente  die  Ehe.  Eschatologisches  kommt  noch 
gar  nicht  vor. 

4.  Zu  dieser  ganz  objectiv,  fast  trocken  gehaltenen  Darstel- 
lung des  Glaubensinhaltes  bilden  die  subjective  Ergänzung  dieje- 
nigen Schriften ,  die  ihm  besonders  den  Namen  eines  Mystikers  zu- 
gezogen haben.  Hierher  gehört  ganz  besonders  das  Selbstgespräch 
mit  der  Seele  Soliloquium  de  arrha  animae  (ibid.  p.  951 — 970), 
ferner  die  drei  zusammengehörenden  Schriften :  de  arca  Noe  morali 
(ibid.  p.  618  ff.),  de  arca  Noe  mystica  (p.  681  ff.),  de  vanitate  mundi 
(p.  701 — 741)  und  einige  andere  minder  wichtige  Aufsätze.  Mit 
Vorliebe  und,  fast  spielender,  Genauigkeit  wird  der  Vergleich  der 
Arche  Noäh  bald  mit  der  Kirche  im  Ganzen,  bald  mit  der  Seele, 
wie  sie  auf  den  Wellen  der  Welt  zu  Gott  schifft,  bald  mit  ihr, 
wie  sie  in  Gott  ridit,  durchgeführt,  und  die  Stufenfolge  der  Zu- 
stände genau  fixirt,  durch  welche  die  Seele  hindurchgeht,  indem 
sie  sich  ihrem  letzten  Ziele  annähert.    Dieses  ist  das  unmittelbare 


284  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Anschauen  Gottes,  die  coniemplatin.  Nur  darin  weichen  die  ein- 
zelnen Darstellungen  von  einander  ab,  dass  als  die  Vorstufen  zu 
jenem  Schauen  bald  nur  die  cocjUaüo  und  medUatin ,  bald  aber 
die  ganze  Reihenfolge  derselben  von  der  Iccüo  an ,  an  welche  sich 
die  mcfUfalin,  oratio,  oppraüo  anzuschliessen  haben,  angegeben 
wird.  Cogiidüo,  mcdltntio  und  contemp'aüo  erscheinen  dann  als 
die  Functionen  der  drei  Augen,  durch  die  wir  erkennen,  von  de- 
nen das  äussere,  für  die  materiellen  Dinge  bestimmte,  durch  den 
Fall  am  Wenigsten  afficirt,  das  innere,  wodurch  wir  uns  selbst 
schauen,  sehr  schwach,  endlich  das  Auge  für  Gott  fast  blind  ge- 
worden ist.  Dass  diese  drei  Augen  mit  den  drei  Principien  Ma- 
terie, Seele,  Gott  parallel  gehn,  ist  klar.  Bei  allem  Werthe,  der 
auf  die  sittliche  Reinheit  gelegt  wird,  erscheint  das  Praktische  dem 
theoretischen  Genüsse,  der  oft  geradezu  ein  Schmecken  der  Gottheit 
genannt  wird,  untergeordnet.  Dieser  Zustand  ist  eben  sowol  Ver- 
tiefung in  das  eigne  Innere  als  in  Gott,  und  wird  immer  mit  dem 
sich  Abwenden  von  der  Welt,  noch  mehr  aber  mit  der  völligen 
Weltvergessenheit  zusammengestellt.  Wer  in  Ausdrücken  wie  die- 
ser: dass  in  diesem  Zustande  dem  Menschen  Nichts,  auch  nicht 
einmal  das  eigne  Selbst,  mehr  übrig  bleibe,  sogleich  Pantheismus 
sehn  wollte,  kennt  die  Sprache  der  Mystik  nicht. 

5.  Als  llifffo's  reifstes  Werk,  es  ist  auch  eines  seiner  letzten, 
muss  seine  Schrift  de  sacramentis  christianae  fidei  angesehen  wer- 
den, das,  weil  es  von  allen  Heilsmitteln  handelt,  seine  ganze  Dog- 
matil^ befasst.  In  diesem  durchdringt  sich  das  objective  und  sub- 
jective  Moment  seines  Glaubens,  die  verständige  Reflexion  und  die 
mystische  Tiefe  mehr  als  in  irgend  einer  anderen  seiner  Schriften, 
und  zeigt  sich  nicht  nur  Bekanntschaft  mit  der  Art,  wie  Andere 
dogmatisiren ,  sondern  eigne  dogmatische  Schärfe.  Da  Alles,  was 
ist,  in  solche  Werke  Gottes  zerfällt,  durch  welche  Nichtseyendes 
wird  (opera  rovditiovla),  und  wieder  Solches,  wodurch  Verdorbe- 
nes besser  wurde  {opera  rcstanrafioins)^  so  wird  in  dem  ersten 
Buche  (ibid.  p.  187  —  363)  von  Jenem  gehandelt,  also  im  Allge- 
meinen von  der  Schöpfung  und  den  damit  zusammenhängenden 
Fragen.  In  zwölf  Theilen,  deren  jeder  wieder  in  eine  Menge  von 
Capiteln  zerfällt,  wird  zuerst  von  dem  Daseyn  und  der  Beschaf- 
fenheit der  Welt  gehandelt,  von  dieser  auf  die  ihm  zu  Grunde 
liegenden  Ursachen  zurückgeschlossen,  und  so  zu  Gott  gelangt,  des- 
sen Dreieinigkeit  ganz  so  gefasst  und  abbildlich  in  den  Geschöpfen 
nachgewiesen  wird ,  wie  von  Abälard.  Es  folgen  dann  die  Unter- 
suchungen über  unser  Wissen  von  Gott,  wo  eben  die  bereits  an- 
gegebene Unterscheidung  des  Ueber-  und  Widervernünftigen  eut- 


I.  Jugendperiode.     C.  Scholastik  als  blosse  Religionslehre.     §.  166.        28o 

wickelt  wird.  Dann  wird  zur  Betrachtung  des  Willens  Gottes  über- 
gegangen und  durch  sehr  feine  Unterscheidungen  zwischen  Willen 
und  Zeichen  des  Willens,  so  wie  zwischen  dem  Wollen  des  Bösen 
und  dem  Wollen,  dass  Solches  sey,  was  böse  ist,  den  von  der  Exi- 
stenz des  Bösen  hergenommenen  Einwänden  begegnet.  Die  Schöp- 
fung der  Engel  und  ihr  Fall,  der  Menschen  und  ihr  Sündenfall 
folgt.  Daran  knüpft  sich  die  Betrachtung  der  Wiederherstellung 
und  der  Mittel  dazu,  zuerst  des  Glaubens,  dann  der  übrigen  Heils- 
mittel oder  sdcramenta,  und  zwar  sowol  der  vormosaischen  Zeit, 
sacr.  nalnruiis  legis  als  die  des  geschriebenen  Gesetzes.  Alles, 
was  in  diesem  Buche  abgehandelt  wurde,  bildet  gleichsam  die  Vor- 
halle zu  dem,  was  den  Inhalt  des  zweiten  (p.  363 — 618)  ausmacht, 
den  Heilsmitteln  des  neuen  Bundes.  Das  Buch  zerfällt  in  acht- 
zehn Theile  und  handelt  von  der  Incarnation,  deren  wenn  auch 
nicht  absolute  Xothweudigkeit ,  so  doch  Angemessenheit,  ganz  so 
wie  von  Ansehn  (s.  §.  156,  8)  dargethan  wird ,  dann  von  der  Ein- 
heit der  Kirche  als  des  Leibes  Christi,  den  kirchlichen  Ordnungen, 
den  heiligen  Gewändern,  der  Einweihung  der  Kirchen,  weiter  von 
der  Taufe,  Confirmatioii,  dem  Sacrameute  des  Leibes  und  Blutes 
Christi,  den  kleineren  Sacramenten,  d.  h.  allerlei  kirchlichen  Ge- 
bräuchen, wo  ein  Excurs  über  die  Simonie  eingeschoben  ^Yird,  fer- 
ner von  der  Ehe  und  den  Gelübden.  Die  Betrachtung  der  Tugen- 
den und  Laster  bahnt  den  Uebergaug  zur  Beichte,  Sündenverge- 
bung, letzten  Oelung.  Der  Tod,  das  Ende  der  Dinge,  das  Jenseits 
werden  in  den  letzten  drei  Theilen  dieses  Werks  behandelt,  zu 
denen  die  summa  senteutiai'um  sich  wie  eine,  mehr  historische, 
Vorarbeit  verhält. 

§.  166. 
In  Gilbert  und  den  puris  philosoplds  auf  der  einen,  und  in 
lluyo  auf  der  andern  Seite,  erscheint  getrennt,  was  in  Anselm  ganz 
Eins,  in  Abülard  wenigstens  eng  verbunden  gewesen  war.  Das 
Zerfallen  der  Scholastik  in  ihre  Elemente  geht  aber  noch  weiter, 
indem  an  die  Hugonische  Theologie  sich  Arbeiten  anschliessen,  die 
entweder  den  Glaubensinhalt,  das,  was  ILiyo  die  coynitio  oder  das 
quod  fide  crcdilur  nennt,  als  Hauptsache  aller  Wissenschaft  ansehen, 
oder  wieder  das  Glauben  selbst,  llugds  afecüo  und  ijmt  fides,  so 
über  Alles  stellen,  dass  ihnen  sogar  die  Gotteslehre  vor  der  Fröm- 
migkeitslehre zurücktritt,  und  sie  über  ihre  religiöse  Anthropologie 
Alles  vergessen.  Beide  Richtungen,  die  sich  zu  einander  verhal- 
ten, wie  später  im  achtzehnten  Jahrhundert  die  Orthodoxen  zu  den 
Pietisten,  können  den  Hugo  ausbeuten.  Nur  wird  die  erstere  in 
ihm  besonders  den  Verfasser  der  Summa  seuteutiarum  verehren, 


286  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

darum  aber  auch  im  Stande  seyu,  des  Ahülard  Vorarbeiten  zu 
benutzen,  dagegen  für  die  andere  wird  Hugo  besonders  ihr  Mann 
seyn.,  weil  er  die  arrha  animae  und  die  arca  moralis  und  mystica 
schrieb.  Gegen  die,  welchen  die  Dialektik  der  vornehmste  Theil 
der  Philosophie  war,  werden  beide,  wie  ihr  gemeinschaftlicher  Va- 
ter Jliiffo,  eine  negative  Stellung  einnehmen  müssen.  Je  einseitiger 
sie  sich  dabei  ausbilden,  desto  mehr  werden  sie  sich  auch  unter 
einander  anfeinden.  Während  die  llepräsentanten  der  ersteren  Rich- 
tung, die  Summenschreiber,  sich  von  solcher  Einseitigkeit  freier 
erhielten,  wozu  auch  dies  beitrug,  dass  sie  nicht  Schüler  nur  eines 
Meisters  waren,  steigert  sich  dieselbe  bei  den  Mönchen  des  Klo- 
sters von  St.  Victor,  die  nur  ihren  grossen  Theologen  als  Auto- 
rität gelten  lassen,  bis  zum  entschiedenen  Hass  gegen  jede  andere 
Richtung. 

§.  167. 
Die  Summisteu. 

Mit  dem  Namen  Summisten,  der  von  Bnlüus  geradezu  von 
liuyds  Summa  sententiarum  abgeleitet  wird,  hat  man  ganz  pas- 
send die  Verfasser  sogenannter  theologischer  „Summa c-'  bezeichnet, 
d.  h.  solcher  Schriften ,  die  wie  jene  Hugonische  und  schon  früher 
Abülaids  Sic  et  non,  nicht  sowol  zeigen  wollten,  was  ihre  Ver- 
fasser, als  vielmehr  was  die  bedeutendsten  Lehrer  der  Kirche  für 
wahr  hielten,  liöchstens  noch  darauf  ausgingen,  zu  zeigen,  was 
Ahülard  ganz  unterlassen  hatte,  wie  etwanige  Widersprüche  unter 
den  Autoritäten  zu  lösen  seyen.  Bald  nach  den  oben  genannten 
Werken  Ahälards  und  /Lu/o's,  vielleicht  gleichzeitig  mit  dem  letz- 
teren, erschien  das  Werk  des  Hohcrlns  Ptdlns,  welcher  die  Reihe 
der  blossen  Summisten  beginnt.  Viel  grösseres  Ansehii  hat,  trotz 
der  nachweisbaren  Entlehnungen  aus  jenem,  das  Werk  des  Petrus 
coli  Norara  erlangt,  dessen  Sentenzensammlung  allmählich  auch  die 
Werke  Abülurds  und  Ihiyo's  verdrängt.  Wie  am  Anfange  der  Scho- 
lastik, so  wird  auch  hier  der  genialere  Urheber  von  dem  verstän- 
digern Ordner,  der  Britte  vom  Italiäner  verdunkelt,  und  der  Glanz 
seines  Namens  ist  so  gross,  dass  darüber  der  geistreichste  unter 
den  Summenschreibern,  der  Deutsche  Alanns^  zum  verdienten  An- 
sehn nicht  hat  kommen  können.  Der  Chronologie  gemäss  soll  hier 
dem  frühsten  der  berühmteste,  diesem  der  begabteste  folgen. 

§.  168. 

1.  Hubertus  Pul  Ins  —  {Poalaln,  Pallcinus,  PaUanus,  Pol- 
lenuSy  Pollen,  Pulh/,  Piäcy,  Pudsy,  de  Pideaco,  BäUcnuSf  Bot- 
lenus  kommt  statt  dessen  vor)  —  ist  in  England  geboren,  hat  in 
Paris  und,   wie  es  scheint,  eine  Zeit  lang  (seit  1129)   in  Oxford 


I.  Jugendp.  C.  Scholast.  als  blosse  Eeliglehre.  Summisten.  PuUus.  §.  168.  1.  2.    287 

gelehrt,  ward  dann  nach  Rom  gerufen,  wo  er,  seit  1141  Cardinal, 
später  päpstlicher  Kanzler,  im  J.  1150  gestorben  ist.  Seine  Werke 
sind  von  Mathaud  in  Paris  1655  Fol.  herausgegeben.  Seine  Sen- 
tentiarum  libri  octo,  die  hier  allein  zur  Sprache  kommen,  finden 
sich  bei  Miyiic  1.  c.  im  Bd.  186  (p.  626  — 1152).  Sie  werden  auch 
als  seine  Theologie,  auch  als  Sententiae  de  sancta  trinitate  citirt. 
Sonst  werden  von  ihm  noch  angeführt :  In  psalmos,  in  Scti  Joannis 
apocalypsin,  super  doctorum  dictis  Libb.  IV,  de  contemptu  mundi, 
praelectioimm  lib.  I,  sermonum  lib.  I  et  alia  nonnulla. 

2.  Die  Eintheilung  des  Werkes,  für  dessen  Standpunkt  cha- 
rakteristisch ist ,  dass  sehr  oft  die  Lehre  der  Philosophie  dem  ent- 
gegengesetzt wird,  was  Christiani  lehren,  in  acht  Bücher  ist  ziem- 
lich äusserlich,  indem  manchmal  ein  Abschnitt  mitten  in  die  Un- 
tersuchung hinein  fällt.  Der  Gang  ist  aber  ganz  verständig  geordnet. 
Das  erste  Buch  zeigt  in  sechzehn  Capiteln,  dass  Gott  ist,  dass 
er  nur  Einer ,  aber  in  drei  Personen  existirt ,  dass  er  keinen  Acci- 
denzien  noch  wirklicher  Mannigfaltigkeit  unterliegt,  wie  sich  der 
Hervorgang  des  Sohnes  und  Geistes  verhalten,  wie  jeder  der  bei- 
den aliiis  iwn  aliud  (jiuim  puter  ist,  dass  Gott  überall  wie  die 
Seele  ilirem  Leibe  gegenwärtig,  was  Liebe,  Hass,  Zorn,  Wille  Got- 
tes lieisse,  wie  Gott  lohnt  und  straft,  dass  seiner  Allmacht  Vieles 
nicht  möglich,  dass  sie  aber  weiter  geht  als  sein  wirkliches  Wol- 
len, endlich  dass  Gott  Alles  vorsieht.  Immer  werden  Einwände 
gemacht  und  widerlegt.  Im  zweiten  Buche  (31  Capitel)  geht  er 
dazu  über,  dass  Gott,  um  an  seiner  Güte  und  Seligkeit  Theil  neh- 
men zu  lassen,  die  Welt  geschaffen,  den  Himmel  den  Engeln,  die 
Erde  den  Menschen  bestimmt  habe;  beiden  ist  Freiheit  gegeben. 
Die  Engel  befestigen  sich  durch  dieselbe  so  im  Guten,  dass  sie 
nur  gut,  der  Teufel  entfremdet  sich  ihm  so,  dass  er  nur  böse  seyn 
kann,  Teufel  also  ist  er  nur  durch  sich  selbst.  Den  Menschen  be- 
treffend, so  wird  noch  jetzt  die  Seele  in  dem  schon  geformten 
Leibe  geschaffen  und  empfängt  aus  dieser  ihrer  unreinen  Umge- 
bung ihre  Sündhaftigkeit.  Mit  ihr  ist  der  Leib  verbunden  und  der 
Mensch  nicht  etwa  ein  Drittes  ausser  beiden.  Die  Seele  hat  Ver- 
nunft, Gemüth  (ira)  und  Begierde  und  ist  durch  die  erstere  un- 
sterblich. Der  Mensch  geschaffen,  um,  w'enn  auch  nicht  an  Zahl, 
doch  an  Verdienst  zu  ersetzen,  was  Gott  durch  die  gefalleneu  En- 
gel verlor,  war  in  seinem  urspininglichen  Zustande  vollkommner 
als  wir,  unvollkommner  als  seine  einstige  Bestimmung.  Damals 
konnte  er  nur  sündigen  und  sterben,  jetzt  muss  er  es.  Als  der 
Saame  aller  übrigen  Menschen  pflanzt  Adam,  vermöge  der  die  Zeu- 


288  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Seholastik). 

gung  begleitenden  Begierlichkeit ,  die  Sünde  fort.    Das  Mittel  der 
Vererbung  vererbt  selbst. 

3.  Im  dritten  Buch  (30  Capitel)  werden  die  Mittel  betrach- 
tet, durch  welche  Gott  zuerst  Einigen,  dann  Allen  das  Heil  anbietet, 
und  wird,  nach  einer  Vergleichung  jener  besonderen  (jüdischen) 
Heilsökonomie  mit  der  allgemeinen,  christlichen,  zur  Menschwer- 
dung, zur  sündlosen  Empfängniss  und  Geburt  Christi,  zum  Ver- 
hältniss  beider  Naturen  in  ihm,  übergegangen.  Weil  die  Gottheit 
sich  mit  dem  ganzen  Menschen,  d.  h.  Leib  und  Seele,  verbindet, 
ist  Christus  persona  Iritim  subslduünrum  und  seine  Vereinigung 
mit  Gott  von  der  jedes  Gläubigen  wesentlich  verschieden.  Unter- 
suchungen daiiiber,  wie  sich  in  Christo  das  Göttliche  zum  Mensch- 
lichen, z.B.  in  den  Wundern,  verhalte,  schliessen  das  Buch.  Das 
vierte,  in  26  Capiteln,  beginnt  mit  der  Unterordnung  des  Mensch- 
gewordenen unter  Gott,  berührt,  ohne  eine  Entscheidung  zu  tref- 
fen, die  Frage,  ob  er  habe  sündigen  können,  ferner:  in  wie  weit 
ihm  Allmacht  zukomme,  wobei  bemerkt  wird,  die  h.  Schrift  pflege 
oft,  wo  sie  mehr  meine,  weniger  zu  sagen,  und  umgekehrt.  Die 
Frage,  warum  Christus  gebetet  habe,  und  wie  sich  dies  mit  All- 
macht und  Allwissenheit  vertrage,  wird  fein  beantwortet,  und  dann 
dazu  übergegangen,  zu  finden,  ob  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  in  ihm 
gewesen  sey?  Das  Schauen  hat  bei  ihm  das  Glauben  vertreten. 
Die  Nothwendigkeit  des  Kreuzestodes,  in  wiefern  trotz  derselben 
die  Mörder  Christi  sündigten ,  wie  Christus  nicht  dem  Teufel,  son- 
dern Gott  sich  dargebracht  habe,  was  die  Unterwelt  in  sich  fasse 
und  was  Christus  durch  seinen  descciisits  in  ihr  bewirkt  habe,  die- 
ses und  damit  verwandte  Fragen  bilden  den  Schluss  dieses  Buchs. 
Es  folgt  im  fünften  (52  Capitel)  die  Betrachtung  der  Auferste- 
hung, wobei  auch  das  Hervorgehn  der  Todten  aus  den  Gräbern 
für  eine  kurze  Zeit,  so  wie  die  Erscheinungen  des  Herrn  nach  sei- 
ner Himmelfahrt  berücksichtigt  werden.  Die  letztern  sind  ihm 
entweder  extatische  Zustände  der  Schauenden  oder  Engelserschei- 
nungen. Eine  genaue  Erörterung  der  Rechtfertigung  durch  den 
Glauben  und  der  Verdienstlichkeit  der  Werke,  über  die  Nothwen- 
digkeit der  Taufe  und  ihre  Ersetzbarkeit  durch  das  Martyrthum 
und  den  Glauben,  ist  nicht  frei  vom  Semipelagianismus ,  der  frei- 
lich damals  für  orthodox  galt.  Die  Taufe,  die  Gebräuche  bei  der- 
selben, die  Eröffnung  des  Himmels  bei  der  Taufe  und  durch  sie, 
werden  sehr  ausführlich,  eben  so  die  Beichte,  Sündenvergebung, 
die  todten  und  die  verdienstlichen  Werke,  die  verschiedenen  Grade 
des  geistlichen  Todes,  aus  denen  es  noch  Errettung  gibt,  so  wie 
des  höchsten,  der  keine  ziüässt,  nach  einander  durchgenommen. 


I.  Jugendp.  C.  Schol.  als  blosse  Religionsl.    Summisten.  Lombard.  §.  169,  1.  289 

4.  Das  sechste  Buch  (61  Cäpitel)  führt  zuerst  in  ein  ande- 
res Gebiet,  indem  die  neun  Ordnungen  der  guten,  und  die  ihnen 
entsprechenden  der  bösen  Engel  besprochen  werden.  Dann  kehrt 
die  Untersuchung  zum  Menschen  zurück,  und  zwar  zu  dem  An- 
theil,  den  an  seinen  guten  \Yerken  die  göttUche  Gnade,  und  den 
seine  eigne  Selbstthätigkeit  hat.  Die  letztere  wird  besonders  in 
das  Aufgeben  des  Widerstandes  gesetzt.  Die  einzelnen  Momente 
der  Busse  werden  angegeben,* und  die  Beichte  und  Absolution, 
sowol  von  Seiten  des  Beichtenden  als  des  Beiclitigers  betrachtet, 
in  einem  Sinne,  der  dort  dem  Leichtsinn,  hier  hierarchischen  Ge- 
lüsten des  Priesters,  entgegentritt.  Die  37  Capitel  des  siebenten 
Buches  betrachten  die  Sündenvergebung,  das  Leben  der  Begna- 
digten in  der  lürche ,  die  verschiedenen  Stände  derselben ,  endlich 
das  Leben  in  Staat  und  Familie,  besonders  ausführlich  die  Ehe. 
In  dem  achten  Buche  endlich  wird  in  zwei  und  dreissig  Capiteln 
zuerst  vom  Abendmahl,  seinem  .Verhältniss  zur  Passahfeier,  von 
Brotverwandlung,  Speisegesetzen,  endUch  sehr  ausführlich  von 
Tod,  Auferstehung,  Gericht,  ewiger  Verdammniss  und  Seligkeit, 
gesprochen.  Die  Erörterung  hat  durchgehends  einen  exegetischen 
Charakter.  Schwierigkeiten  werden  durch  ziemlich  bestimmte  Ent- 
scheidungen gehoben. 

§.  169. 

1.  Petrus,  in  Novara  geboren,  daher  gewöhnlich  Lo?;*/; ar- 
dirs  genannt,  als  Bischof  von  Paris  im  J.  1164  gestorben,  scheint 
ursprünglich  ein  Schüler  Ahälards  gewesen  zu  seyn,  hat  später 
wohl  den  Rnhertns  Piillus  gehört,  und  ist  endlich  durch  Bcrn- 
hnrd  dem  Thiyo  zugewiesen ,  der  ihn  vor  Allen  gefesselt  hat.  Sei- 
nen Ruhm  dankt  er  vor  Allem  seiner  Schrift  Sententiarmn  libri 
quatuor,  nach  welcher  er  gewöhnlich  als  der  Magister  sententia- 
rmn pflegt  bezeichnet  zu  werden.  Weil  dieses  Werk  gerade  so 
die  Grundlage  für  alle  dogmatischen  Untersuchungen  wurde,  wie 
das  Decretum  Gratiani  für  die  kirchenrechtlichen,  deswegen  hat 
die  Sage  entstehen  können ,  die  beiden  Zeitgenossen  seyen  Brüder. 
Ja  man  hat  ihnen  als  dritten  Bruder  den  Petrus  Comestor ,  den 
Verfasser  der  Historia  scholastica  noch  hinzugefügt.  Die  Ehre, 
für  einige  Jahrhunderte  allgemein  anerkanntes  Compendium  der 
Dogmatik  zu  werden,  so  dass  die  Lehrer  und  Hörer  dieser  Disci- 
plin  Sententianier  genannt  wurden,  dankt  das  Werk  gerade  dem, 
was,  wenn  man  es  mit  den  Sentenzen  des  Pnllus  vergleicht,  ein 
Mangel  genannt  werden  könnte :  es  zeigt  sich  weniger  Eigenthüra- 
lichkeit,  in  vielen  Punkten  weniger  Entschiedenheit,  als  dort.  Da- 
durch liess  es  aber  gerade  der  Selbstthätigkeit  derer  einen  grösse- 

Erdmann.  Gesch.  d.  Philos.  I.  i  C) 


290  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ren  Spielraum,  welche  es  ilueu  Vorlesungen  zu  Grunde  legten. 
In  der  von  AhiUard  aufgebrachten  Weise  werden  die  Ansichten  für 
und  gegen  aufgestellt,  dann  gezeigt,  dass  und  wie  die  Wider- 
sprüche zu  lösen  seyen,  doch  aber  die  Entscheidung  nicht  so  be- 
gründet, dass  nicht  der  Docent  sie  selbst  oder  wenigstens  ihre 
Begründung  modificiren  könnte.  So  konnte  es  kommen,  dass  der 
Jesuit  Possemn  schon  243  ihm  bekannte  Commeutare  zu  den  Sen- 
tenzen citiren  konnte.  Gedruckt  sind  sie  zuerst  1477  in  Venedig. 
Dann  unzähhge  Mal.  Die  Patrologie  von  Miynr .  welche  in  ihrem 
Bd.  191  den  Cominentar  des  Lombarden  zu  den  Psalmen  und 
seine  Collectaneeu  zu  den  Paulinischen  Briefen  enthält,  gibt  im 
folgenden  Bande  (p.  519 — 963)  die  Sentenzen  nach  der  von  Aleaume 
veranstalteten  Ausgabe  Antw.  1757. 

2.  Das  Werk  beginnt  damit,  auf  den  von  Augnslin  bemerkten 
und  auch  von  l[nyn  berücksichtigten  Unterschied  der  res  und  der 
sigiui  hinzuweisen,  der  auch  für  die  Gegenstände  des  Glaubens 
wichtig  sey,  indem  es  nicht  nur  Dinge,  sondern  auch  Zeichen 
gebe,  die  dem  Menschen  zum  Heile  gereichen:  die  Sacramente 
nämlich.  Diese  letzteren  werden  zunächst  bei  Seite  gelassen  und 
kommen  erst  im  vierten  Buch  wieder  in  Betracht.  Die  drei  er- 
steren  handeln  lediglich  von  den  zum  Heil  dienenden  Ptealitäten. 
Diese  selbst  aber  werden  weiter  eingetheilt.  Schon  Aiiynsün  hat 
den  Unterschied  fixirt  zwischen  dem  was  man  geniesst  (frni),  d.  h. 
um  seiner  selbst  willen  begehrt,  und  dem  was  man  braucht  (nti), 
d.  h.  um  eines  Andern  willen  will.  Dieser  Unterschied  dessen 
quo  fruendiim  und  y/'O  utendum  est  wird  nun  adoptirt,  und  das 
erstere  Prädicat  nur  Gott  beigelegt,  von  dem  nun  das  erste 
Buch  handelt.  Die  Abtheilungen  desselben,  so  wie  aller  anderen, 
werden  Distinctiones  genannt;  jede  enthält  mehrere  Fragen  von 
verschiedenen  Seiten  ventilirt  und  endlich  beantwortet.  In  den 
acht  und  vierzig  Distinctionen  des  ersten  Buchs  wird  die  Lehre 
von  dem  dreieinigen  Gott  so  abgehandelt,  dass  er  zeigt,  wie  die 
dagegen  vorgebrachten  Bedenklichkeiten  schon  bei  Aiigusün  und 
Andere  dadurch  widerlegt  seyen,  dass  sie  ein  Abbild  der  Dreieinig- 
keit auch  in  den  Geschöpfen ,  namentlich  im  Menschen ,  nachwie- 
sen, und  wie  die  Widersprüche  zwischen  den  verschiedenen  Auto- 
ritäten nur  scheinbar,  meist  auf  dem  Doppelsinn  der  Worte  be- 
ruhend und  darum  durch  Distinctionen  lösbar  seyen.  Er  polemisirt 
in  diesem  Theil  öfter  gegen  Abälard,  Die  wesentlichen  Prädicate 
Gottes,  seine  Allgegenwart,  Allwissenheit,  Allmacht,  so  wie  sein 
Wille,  werden  ausführlich  besprochen  und  dabei  Schwierigkeiten, 
zum  Theil  gelöst,  zum  Theil  nur  angedeutet.    In  dem  zweiten 


I.  Jugendp.  C.  Schol.  als  blosse  Religiousl.   Summisteu.  Lombard.  §.169,2.3.291 

Buche  wird  in  vier  und  zwanzig  Distinctionen  von  dem  gehan- 
delt, quo  utimnr ,  von  den  Creaturen,  und  zwar  zuerst  von  dem 
Schöpfungsact,  als  dessen  Grund  die  Güte  Gottes,  als  dessen  Zweck 
der  wahre  Nutzen  der  Creatur,  der  darin  besteht,  dass  sie  Gott 
dient  und  Gottes  geniesst,  bestimmt  wird.  Gegen  die  höchsten 
Autoritäten  der  Dialektiker,  den  Aristoteles  und  Pinto,  wird,  w^eil 
Jener  die  Ewigkeit  der  Welt,  dieser  wenigstens  eines  Weltstoffs 
gelehrt  habe,  Protest  eingelegt.  An  die  Betrachtung  des  Sechs- 
tagewerks, der  Engel  und  der  Menschen,  schliesst  sich  die  über 
das  Böse,  wo  Petrus  zu  dem  Resultate  kommt,  dass  die  dialekti- 
sche Regel  von  der  Unvereinbarkeit  der  Entgegengesetzten  bei 
dem  Bösen  eine  Ausnahme  erleide.  War  diese  Regel  aber  Fun- 
dament der  ganzen  Dialektik,  so  ist  es  begreiflich,  dass  er  gele- 
gentlich dazu  kommt  von  der  Dialektik  selbst  etwas  höhnisch  zu 
sprechen,  oder  auch,  ganz  wie  Pullas  die  Philosophen,  so  die 
Dialektiker,  den  Christen  entgegen  zu  setzen.  Das  dritte  Buch 
(vierzig  Distinctionen)  erörtert  zuerst  die  Menschwerdung,  die, 
wenn  auch  nicht  Nothwendigkeit ,  so  doch  Zweckmässigkeit,  dass 
dieselbe,  und  dass  die  durch  sie  vollbrachte  Erlösung  gerade  so, 
Statt  hatte.  Durch  die  Frage,  ob  in  Christo  Glaube,  Liebe  und 
Hoffnung  gewesen  sey,  wird  der  üebergang  zu  diesen  Tugenden 
gemacht,  und  hier  besonders  genau  die  Liebe  behandelt;  eine 
flüchtige  Betrachtung  der  vier  Cardinaltugenden ,  eine  ausführli- 
chere der  sieben  Gnadengaben  des  heiligen  Geistes  (nach  Jesaia 
1,  2)  schliessen  sich  dem  an.  Dann  wird  gezeigt,  dass  die  zehn 
Gebote  nur  Ausführungen  des  Gebots  der  Liebe  zu  Gott  und  den 
Nebenmenschen  seyen,  und  nach  einer  Besprechung  der  Lüge 
und  des  Meineids  zum  Schluss  das  Verhältniss  des  Alten  und 
Neuen  Bundes  erwogen.  Im  vierten  Buche  —  es  enthält  fünfzig 
Distinctionen  —  werden  die  heiligenden  Zeichen  abgehandelt,  der 
Begriff"  des  Sacraments  festgestellt,  und  dann  die  sieben  Sacra- 
mente,  unter  ihnen  am  Kürzesten  die  Confirmation,  am  Ausführ- 
lichsten die  Beiclite  abgehandelt,  und  endlich  zu  den  letzten  Din- 
gen übergegangen,  wo  ganz  am  Ende  die  Frage  aufgeworfen  wird: 
ob  die  Unseligkeit  der  Verdammten  die  Seligkeit  der  Begnadigten 
trüben  könne?  Die  Antwort  fällt  in  der  fünfzigsten  Distinction 
verneinend  aus. 

3.  Einer  der  eifrigsten  Anhänger  des  Lombardus  war  Petrus 
von  Poitiers,  der,  gegen  Ende  des  12**'"  Jahrhunderts  Kanzler  von 
Paris,  selbst  fünf  Bücher  Sentenzen  oder  Distinctionen  schrieb, 
und  dem  WUhetm,  Erzbischof  von  Sens,  dedicirte.  Sie  sind  zu- 
gleich mit  den  Werken  des  Bob.  PuUns  von  Mathaud  herausge- 

19* 


292  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

geben.  Das  erste  Buch  handelt  von  der  Dreiemigkeit,  das  zweite 
von  der  vernünftigen  Creatur,  das  dritte  vom  Fall  und  der  noth- 
wendigen  Wiederherstellung ,  das  vierte  von  der  durch  die  Mensch- 
werdung vollbrachten  Versöhnung,  das  fünfte  von  der  sich  wie- 
derholenden Versöhnung  vermöge  der  Sacramente.  Der  Gang  und 
der  wesenthche  Inhalt  des  Werks  stimmt  ganz  mit  dem  des  Lom- 
barden überein. 

§.  170. 

1.  Der  geistig  Begabteste  unter  den  Summisten  ist  der  Deutsche 
AI  an  US  (de  Jnsvlis,  weil  in  Ryssel  geboren),  dessen  langes 
Leben  und  ausgedehnte  Schriftstellerthätigkeit  Veranlassung  gege- 
ben hat,  zwei  dieses  Namens  anzunehmen.  Zuerst  Professor  in 
Paris,  dann  Cisterzienser  Mönch,  später  eine  Zeit  lang  Bischof 
von  Auxerre,  ist  er  im  Cisterzienserkloster  Clairveaux  im  J.  1203 
gestorben,  nachdem  er  sich  durch  seine  Schriften  und  Disputatio- 
nen gegen  die  Waldenser  und  Pateriiier  den  Beinamen  des  doctor 
iinwersalis  erworben  hatte.  Seine  Werke  sind  zuerst  von  Visck 
in  Amsterdam  1654  herausgegeben,  dazu  aber  sind  in  der  Biblio- 
theca  scriptorum  ordinis  Cisterciensis  Colon.  1G56  Nachträge  er- 
schienen. Diese  Ausgabe  ist  zu  Grunde  gelegt,  zugleich  aber 
Handschriften  verglichen  und  das,  bereits  1477  gedruckte,  lexico- 
graphische  Werk  des  Alauns:  Distinctiones  dictionum  theologica- 
lium  (auch  Oculus  SSae  genannt)  hinzugefügt  in  dem  120'''"  Bande 
von  Migne's  Patrol.  curs.  compl. 

2.  Das  kürzeste,  aber  bedeutendste  Werk  des  Alanus ,  die 
Schrift  de  arte  seu  de  articulis  catholicae  fidei  libri  quinque,  wel- 
che zuerst  von  Pczius  in  dem  Thes.  anecd.  noviss.  erschien  und 
sich  bei  Migiie  p.  593 — 617  befindet,  ist  eine  Summa,  nur  viel 
kürzer,  als  sie  sonst  zu  seyn  pflegen,  geschrieben  in  dem  Inter- 
esse, damit  den  Ketzern  und  Muhamedanern  entgegenzutreten. 
Eben  darum  werden  in  dem  Prologus  eine  Menge  von  Definitionen 
(descripüones) ,  Postulaten  (petiUoiics)  und  Axiomen  (commmies 
animi  conceptiones)  gegeben,  um  für  die  Disputation  mit  ihnen  einen 
festen  Boden  zu  gewinnen,  auf  dem  dann  streng  syllogistisch  ar- 
gumentirt  wird.  Das  erste  Buch  handelt  in  dreissig  Sätzen  von 
der  una  omnivm  causa,  von  Gott.  Aus  der  Unmöglichkeit,  dass 
irgend  Etwas  causa  sni  sey ,  wird  das  Daseyn  einer  causa  jwima 
gefolgert ,  die  nicht  Träger  von  Accidenzien ,  darum  unveränderlich 
und  ewig,  unendlich  und  unbegreiflich,  Gegenstand  nicht  sowol 
des  Wissens  als  des  Glaubens  ist,  d.  h.  einer  Annahme,  deren 
Verdiensthchkeit  mit  darin  besteht,  dass  sie  nicht  aufzwingenden 
Gründen  ruht.     Der  Glaube  steht  daher  über  der  Meinung  und 


r.  Jugendp.    A.  Schol.  als  blosse  Religionsl.    Summisten.  Älanus.  §.170,2.3.  293 

unter  dem  Wissen.  Alle  Eigenschaften,  welche  der,  völlig  einfa- 
chen, höchsten  Ursache  beigelegt  werden,  gelten  von  ihr  nur  un- 
eigentlich, indem  sie  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  übertra- 
gen wurden.  Durch  gleiche  Uebertragung  muss  daraus,  dass  in 
jedem  Dinge  sich  Materie,  Form  und  ihre  Einheit  (comjmgo)  fin- 
det, auf  die  Dreipersönlichkeit  in  Gott  zurückgeschlossen  werden, 
die  mit  seiner  Einheit  nicht  streitet.  Die  dreissig  Sätze  des  zwei- 
ten Buchs  behandeln  die  Welt  und  ihre  Schöpfung,  namentlich 
die  Engel  und  Menschen.  Die  mittheilende  Liebe,  verbunden  mit 
der  Macht  in  Gott,  drängt  ihn  zum  Schaffen  vernünftiger  Geister, 
die  in  der  Welt  seine  Güte  und  Macht  erkennen,  die  frei  sind, 
weil  nur  solchen  gegenüber  er  seine  Gerechtigkeit  zeigen  kann. 
Der  vernünftige ,  engelgleiche ,  Geist  ist  in  dem  Menschen  mit  dem 
Niedrigsten,  der  Erde,  verbunden.  Daher  seine  Gebrechhchkeit, 
in  Folge  der  er  fällt,  sich  an  Gott  vergeht  und  also  unendliche 
Strafe  auf  sich  zieht.  Das  dritte  Buch  betrachtet  in  sechzehn 
Lehrsätzen  die  Menschwerdung  und  Erlösung.  Sie  schliessen  sich 
in  ihi'em  Gange  ganz  an  Anselm's  Cur  Dens  homo ,  indem  sie  zei- 
gen, dass,  was  der  Mensch  leisten  musste,  Gott  allein  aber  leisten 
kann,  von  dem  Mensch  gewordenen  Gotte,  am  Passendsten  aber 
vom  Sohne,  weil  er  der  Grund  aller  Form  ist  und  also  der  De- 
fonnität  entgegensteht,  geleistet  wird,  der  die  härteste  der  Stra- 
fen, die  Todesstrafe  auf  sich  nimmt.  Dabei  wird  aber  ausdrück- 
lich bemerkt,  dass  Gott  auch  andere  Wege  hätte  einschlagen  kön- 
nen. Das  vierte  Buch,  das  in  neun  Lehrsätzen  von  den  Sacra- 
menten,  und  das  fünfte,  dessen  sechs  Sätze  die  Auferstehung 
behandeln,  enthalten  nichts  Eigenthümliches. 

3.  An  dieses  Werk  schliessen  sich  durch  ihren  Inhalt  zwei 
andere  an,  von  denen  es  schwer  ist,  zu  entscheiden  ob  sie  Vorar- 
beiten zu  dem,  oder  weitere  Auseinandersetzungen  dessen  sind, 
was  in  jenem  gesagt  ist.  Dabei  theilen  sie  sich  in  die  Aufgaben, 
welche  sich  das  Werk  de  arte  gesetzt  hatte,  so,  dass  die  Schrift 
de  fide  catholica  contra  haereticos  Libb.  IV  ganz  besonders  das 
polemische,  dagegen  die  Regulae  theologicae  mehr  das  systema- 
tische Element  hervorheben.  Die  Einleitung  in  das  letztere  Werk 
(Migne  p.  617 — 687)  erinnert  in  sofern  an  Gilbert  (§.  163,  4), 
als  behauptet  wird,  dass  jede  Wissenschaft  ihre  eignen,  durch  be- 
sondere Namen  unterschiedenen  Grundsätze  habe,  die  Dialektik 
ihre  mitximae.  die  Rhetorik  ihre  loci  commimes .  die  Mathematik 
ihre  axionuita  und  porismata  u.  s.  w.  Alle  haben  nur  Gültigkeit 
so  lange  der  gewohnte  Naturlauf  dauert;  einzig  und  allein  die 
regidac  oder  maximae  theologicue  haben  eine  unverbrüchliche  Noth- 


294  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

weiidigkeit,  da  sie  vom  Ewigen  und  Unveränderlichen  handeln. 
Diese  Grundsätze  sind  zum  Theil  allgemein  anerkannte ,  zum  Theil 
solche,  die  nur  dem  tiefer  Blickenden  feststehn.  Nur  diese  letz- 
teren sollen  hier  abgehandelt  werden.  Es  sind  besonders  solche, 
die  daraus  folgen ,  dass  Gott  nicht  nur  Einer ,  sondern  die  Einheit 
(moiifis)  selber  ist.  Viele  derselben  werden  in  paradox  klingen- 
den Formeln  ausgesprochen.  So :  Monas  est  alpha  et  omega  sine 
alpha  et  (»iirga ;  Monas  est  sphaera  cvjiis  cenfrnm  vhifpie  cir- 
cvihfcrentia  niisqvam  u.  dgl.  m.  Besonderes  Gewicht  wird  darauf 
gelegt,  dass  in  Gott  gar  kein  Unterschied  sey  zwischen  seinem 
Seyn  und  dem  was  er  ist,  dass  er  eben  darum  nicht  Subject  von 
Eigenschaften ,  und  dass  in  keinem  theologischen  Satz  von  Acci- 
dentellem  (conlivgcns)  die  Rede  seyn  darf,  Gott  als  die  Form 
selbst  ist  natürlich  ohne  Form,  wie  er,  als  das  Seyn  selbst,  kein 
Seyn  nur  hat.  Da  nun  alle  Prädicate  von  den  Formen  hergenom- 
men sind,  die  ein  Gegenstand  hat,  so  reichen  positive  Prädicate 
für  Gott  niclit  aus.  Sehr  ausführlich  wird  untersucht  ob  Substan- 
tiva  oder  Adjectiva,  ob  Abstracta  oder  Concreta,  ob  Verba,  ob 
Pronomina,  ob  Präpositionen  gebraucht  werden  dürfen,  wenn  von 
Gott  gesprochen  wird,  und  wie  sich  ihr  Sinn  modificirt.  Dann 
wird  auf  die  besonderen  Prädicate  eingegangen,  welche,  obgleich 
sie  allen  drei  Personen  des  göttlichen  Wesens  zukommen ,  so  doch 
im  besonderen  Sinne  je  einer  derselben  pflegen  beigelegt  zu  wer- 
den, wie  die  Macht  dem  Vater  u.  s.  w.  Die  Schwierigkeiten,  die 
gegen  die  Allmacht  vorgebracht  sind,  die  ferner,  welche  man  in 
der  Weisheit  und  dem  Vorherwissen  gefunden  hat,  werden  erwo- 
gen und  durch  die  Güte  der  Uebergang  dazu  gemacht,  dass  und 
in  wiefern  Alles  gut  sey.  Daran  knüpfen  sich  nun  ethische  Un- 
tersuchungen, von  denen  das  Buch  de  arte  nichts  enthielt.  Der 
Hauptsatz  ist,  dass  alles  Verdienst,  der  Strafe  sowol  als  des 
Lohnes,  nur  in  dem  Willen  liegt;  damit  soll  sehr  wohl  vereinbar 
sc3'n,  dass  die  Strafe  verdient,  der  Lohn  unverdient  sey,  denn 
der  Mensch  vollbringe  das  Böse  als  atitor,  das  Gute  als  ?nhnster. 
Durch  die  Unterscheidung  der  gratla  ad  mcritinn  und  der  grafta 
in  nicrito  sucht  Alanus  dem  Pelagianismus  und  extremen  Augu- 
stinismus zu  entgehn.  Das  ritimn,  sowol  als  Abwesenheit  der  vir- 
tus  als  in  seinem  Gegensatz  dazu,  wird  betrachtet,  die  charifas 
als  Quelle  aller  Tugenden  bestimmt ,  und  gezeigt ,  wie  sie  die  Ver- 
einigung mit  Gott  ist,  welche,  durch  die  Incarnation  des  Sohnes, 
der  als  Mensch  nichts  für  sich,  Alles  für  uns  verdient  hat,  begon- 
nen, durch  die  Sacramente  fortgesetzt  wird.  Einige  Sätze,  welche 
nicht  nur  für   die  Tlieologie,   sondern  auch  für  die  naiuralis  fa~ 


I.  Jugendp.    C.  Schol.  als  blosse  Religionsl.   Summisten.  Alanus.    §.170,4.5.295 

cuUns  gelten  sollen,  machen  den  Scbluss  des  in  ein  hundert  und 
fünf  und  zwanzig  Capitel  zerlegten  Buches,  welches  gleichsam  als 
ein  Inventarium  dessen,  was  der  theologische  sensvs  communis 
lehrt,  lange  Zeit  in  hoher  Achtung  gestanden  hat. 

4.  Wahrscheinlich  waren  es  die  vier  Bücher  de  fide  catholica 
contra  haereticos  (Migne  1.  c.  p.  305  —  428),  welche  den  Trithe- 
mius  und  nach  ihm  Andere  dahin  gebracht  hat ,  dem  Alnms  einen 
Commentar  zu  den  Sentenzen  des  Lombarden  anzudichten.  Das 
Buch  hat  indess  eine  ganz  andere,  rein  polemische  Tendenz.  In 
dem  ersten  Buche  werden  in  sechs  und  siebenzig  Capiteln  dua- 
listische, baptistische,  antisacramentale  u.  a.  Ketzereien  durch  die 
Autorität  von  Aussprüchen  der  Apostel  und  Väter  widerlegt.  Oft 
gewinnt  es  dabei  den  Anschein,  als  wenn  alle  diese  Behauptun- 
gen zugleich  von  einer  einzigen  Secte  ausgingen,  dann  aber  sieht 
man  wieder,  dass  er  verschiedene  gemeint  hat.  Das  zweite 
Buch,  speciell  gegen  die  Waldenser  gerichtet,  befasst  fünf  und 
zwanzig  Capitel  und  vertheidigt  namentlich  die  Priesterwürde,  tritt 
auch  der  rigoristischen  Moral  jener  Ketzer  entgegen.  Das  dritte 
Buch  (ein  und  zwanzig  Capitel)  bekämpft  die  Juden,  indem  darin 
ihre  Einwände  gegen  die  Trinität,  gegen  die  Abschaifung  des  Ce- 
remouialdienstes ,  gegen  das  Erschienenseyn  des  Messias  so  wie 
seine  Gottheit  und  Auferstehung,  mit  Gründen,  theils  des  Alten 
Testaments,  theils  der  Vernunft  widerlegt  werden.  Das  vierte 
Buch  endUch  ist  contra  paganos  seu  Mohametanos  gerichtet.  Es 
ist  das  Kürzeste,  indem  es  nur  vierzehn  Capitel  enthält;  bei  dem 
Dogma  der  Trinität  wird  auf  das  gegen  die  Juden  Gesagte  ver- 
wiesen, die  Empfängniss  vom  heihgen  Geiste  wird  gerechtfertigt, 
endlich  die  Verehrung  der  Bilder  in  Schutz  genommen,  die  für 
den  Laien  das  seyen,  was  das  geschriebene  Wort  für  den  Cleriker. 

5.  Mehr  noch ,  wenigstens  in  weitereu  Kreisen  als  diese  Werke, 
hat  den  AIuuks  ein  Gedicht  in  neun  Büchern  berühmt  gemacht, 
Anticlaudianus  (M'ujiie  1.  c.  p.  483  —  575)  betitelt,  manchmal  auch 
Antirufinus  genannt,  weil  er,  im  Gegensatz  zu  C/r/ //(//« /r ä  Rufinus, 
schildert ,  wie  die  Natur  nach  Gottes  Willen  einen  ganz  vollkomm- 
nen  Menschen  bildet.  Die  Tugenden  und  Laster,  welche  um  die, 
von  Gott  geschaffene,  von  der  Natur  mit  einem  trefflichen  Leibe 
ausgestattete,  Seele  kämpfen,  treten  personificirt  auf  in  diesem 
Gedichte,  welches,  indem  es  die  Reise  der  Weisheit  zu  Gott  be- 
schreibt, zugleich  eine  Encyclopädie  der  Wissenschaften  und  eine 
Darstellung  des  Universums  mit  seinen  Planetenkreiseu  und  Him- 
meln enthält.  Bei  der  himmlischen  Sphäre  angelangt,  muss  sich 
die  Weisheit  von  den  sieben  Künsten  und  Wissenschaften  trennen, 


296  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

die  Theologie  wird  ihre  Führerin,  der  Glaube  und  ein  Spiegel,  in 
dem  Alles  nur  im  Bilde  geschaut  wird,  werden  die  Mittel,  durch 
welche  sie  sich  Gott'  naht.  Mit  einer  gewissen  Freude  wird  her- 
vorgehoben, wie  die  theologischen  Lehren  mit  denen  des  Trivium 
und  quadrivium  streiten.  Eine  besonders  hohe  Stelle  räumt  er 
der  Logik  nicht  ein,  namentlich  die  Neuerungen,  welche  durch 
das  Bekanntwerden  der  Aristotelischen  Analytiken  in  ihr  vorge- 
nommen seyen,  beklagt  er. 

§.  171. 
Die  Victorine r. 
Den  Summisten  als  den  Orthodoxen  stellen  sich  als  die  Pie- 
tisten des  12**""  Jahrhunderts  die  religiösen  Anthropologen  oder 
Frömmigkeitslehrer  entgegen.  Ihr  Hauptsitz  ist  das  Kloster  von 
St.  Victor,  daher  Einige  sie  auch  als  die  Victoriner  bezeichnen. 
Wie  den  Summisten,  so  steht  auch  ihnen  der  Glaube  ohne  Beweis 
am  Höchsten.  Nur  betonen  sie  im  Glauben  viel  mehr  als  den 
Inhalt  den  Act  des  Glaubens  selbst,  sie  vergessen  zwar,  um  die 
später  gebräuchlichen  Modificationen  der  Hugonischen  Ausdrücke 
zu  brauchen,  über  die  //V/es  ijua  credUur  nicht  sogleich  die  fides 
(juae  crcd'dur  ganz  und  gar,  aber  mit  grösserer  Vorliebe  wird 
jene  doch  schon  von  dem  behandelt,  der  noch  am  Meisten  den 
Fusstapfen  lliiyo's  folgt.  Die  nach  ihm  kommen,  gehn  in  dieser 
Einseitigkeit  rasch  weiter,  und  feinden  darum  die  Sentenzen-  und 
Summenschreiber  nicht  weniger  an,  als  die  untheologischen  Dia- 
lektiker. Das  von  aller  wissenschaftlichen  Beschäftigung  zurück- 
gezogene, der  Andacht  gewidmete,  Leben  allein,  findet  bei  ihnen 
einen  vollen  Beifall. 

§.  172. 

J.  O.    V.  Engelhardt    Richard  von  St.  Victor  und  Johannes  Ruysbrock.     Erlan- 
gen  1838. 

1.  Txichardus,  ein  Schotte  von  Geburt,  von  1162  bis  an 
seinen  1173  erfolgten  Tod  Prior  des  Klosters  St.  Victor,  dessen 
Name  stets  zu  dem  seinen  gefügt  wird,  ist  durch  Hugo  gebildet, 
und  hat,  wie  seine  Schriften  über  die  Dreieinigkeit  beweisen,  zwar 
auch  die  doctrinelle  Seite  der  Theologie  nicht  ganz  vernachlässigt, 
doch  aber  ganz  besonderes  Gewicht  auf  die  mystische  Contempla- 
tion  gelegt,  deren  Beschreibung  und  Verherrlichung  seine  bedeu- 
tendsten Schriften  gewidmet  sind.  Auch  regt  sich  bei  ihm  ein 
Widerwille  gegen  diePliilosophen,  deren  Aufgeblasenheit  ihn  miss- 
trauisch  gegen  die  Philosophie  selbst  macht,  so  dass  er  derselben 
eigentlich  nur  Verdienste  um  die  Naturerkenntniss  zuzugestehn 
geneigt  ist.    Seine  Werke  sind  oft,  zuerst  in  Venedig  1506  in  8", 


1.  Jugendperiode.  C.  Scholast.  als  blosse  Religionsl.  Victoriner.    §.172,2.3.297 

dann  vollständiger  in  Folio  Paris  1518  und  sonst  herausgegeben. 
Bei  Migne  bilden  sie  den  Band  194  der  Patrologie. 

2.  Obgleich  Bicliards  de  trinitate  libri  sex  (bei  Miyne  p. 
887 — 992)  in  der  Folgezeit  oft  als  ein  Hauptwerk  citirt  -worden 
ist,  so  kann  es  hier  doch  füglich  übergangen  werden,  da  kaum 
etwas  darin  vorkommt  was  nicht  von  Htigo  und  den  in  den  vor- 
hergehenden §§.  geschilderten  Summisten  bereits ,  und  zum  Theil 
besser,  gesagt  wäre.  Dagegen  tritt  er  viel  eigeuthümlicher  her- 
vor in  den  Schriften,  die  man  die  mystischen  zu  nennen  pflegt. 
So  schon  in  der  Schrift  de  exterminatione  mali  et  promotione  boni 
(p.  1073 — 1116),  wo  in  tropologischer  Auslegung  der  Worte  Psalm 
113,  5  (jidd  est  tibi  mare  etc.  er  zeigt,  wie  die  Gläubigen  an  das 
bittere  Meer  der  Gewissensbisse  gerathen  müssen ,  wie  ihr  Gemüth 
(Jordan)  aufwärts,  der  Quelle  entgegen,  strömen  müsse  u.  s.  w. 
Eben  so  tropologisch  wird  in  der  Schrift  de  statu  interioris  hominis 
(p.  1116 — 1158)  an  Jes.  1,  5.  6  ontne  cajmt  languichim  u.  s.  w\  an- 
geknüpft und  die  Macht  des  freien  Willens  im  Gegensatz  zur  Will- 
kühr,  so  wie  die  Kraft  der  Demuth  und  des  hingebenden  Gebetes 
geschildert  und  gepriesen.  Die  drei  Bücher  de  eruditione  hominis 
interioris  (p.  1229—1366)  knüpfen  eben  so  an  den  Traum  des  Ne- 
bucaduezar  an ;  endlich  die  beiden  Haupts chrifteu  de  praeparatione 
animi  ad  contemplationem  (p.  1 — G4)  und  die  Libri  quinque  de  gratia 
contemplationis  (p.  63—202)  werden,  weil  sie  die  Geschichte  der 
Söhne  Jacobs .  besonders  des  Benjamin ,  zu  allegorischer  Deutung 
benutzen,  jene  als  Benjamin  minor .  diese  als  Benjamin  major 
bezeichnet,  neben  welchem  Titel  bei  Späteren  auch  de  arca  my- 
stica  vorkommt.  An  diese  schüessen  sich  dann  die  Schriften  de 
gradibus  charitatis  (p.  1195—1208  und  de  quatuor  gradibus  vio- 
lentae  charitatis  (p.  1207 — 1224),  welche  die  Sehnsucht  beschrei- 
ben, durch  welche  der  Zustand  der  Contemplation  bedingt  wird. 

3.  Die  Contemplation,  der  Benjamin,  der  erst  durch  den  Tod 
der  Baliel  (Vernunft)  geboren  wird,  hat  zu  ihrem  Inhalte  nicht 
nur  Solches,  das,  wie  Hugo  gesagt  hatte,  über  die  Vernunft  geht, 
sondern  auch  Solches,  das  ganz  ausser  ihr,  ja  wider  sie,  ist. 
Nur  in  einzelnen  Momenten  küssen  sich  Joseph  und  Benjamin, 
d.  h.  gehen  meditatio  und  content pl atio ,  Vernunft  und  Offenba- 
rung zusammen.  Ueberhaupt  ist  streng  zu  unterscheiden  zwischen 
der  cogitatio,  deren  Organ  die  Imagination  ist,  und  welche  weder 
Arbeit  noch  Frucht  kennt,  der  meditatio,  welche  der  ratio  ange- 
hört und  arbeitet  aber  nicht  Frucht  erntet,  und  endlich  der  con- 
tcmplatio,  deren  Organ  die  intelligentia,  deren  Lohn  die  Frucht 
ohne  Arbeit  ist.     Nimmt  man   aber   das  Wort  contemjilatio  im 


298  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

weiteren  Sinne,   so  können  sechs  Grade  derselben   unterschieden 
werden,    welche  in  den  hauptsächlichsten  Theilen,   aus  denen  die 
Bundeslade  zusammengesetzt  war,  mystisch  angedeutet  sind :  zwei 
nämlich,  die  der  Imagination   angehören  und   deren  niedere  der 
Imagination,  die  andere  der  Vernunft  conform  ist,  zwei  der  Ver- 
nunft angehörige,   deren  niedere   sich  an  die  Imagination  anlehnt 
und  der  Bilder  bedarf,  während  die  höhere  reine  Vernunfterkennt- 
niss  ist,   endlich  eine,   die  über  der  Vernunft,   aber  nicht  ausser 
ihr,   steht,   und  die   höchste,  die  ausser  der  Vernunft  steht  und 
gegen  sie  zu  seyn  scheint,  wie  z.  B.  die  Anschauung  der  Drei- 
einigkeit.   Das  Object  der  beiden  höchsten  Grade  wird  das  Intel- 
Icctible  genannt.    Alle  sechs  Gattungen  der  Contemplation  werden 
in   dem  Benjamin  major  ausführlich  durchgenommen  und  in  ver- 
schiedene Stufen  zerlegt,  dabei  wiederholt  darauf  hingewiesen,  dass 
Aristoteles  und  die  übrigen  Philosophen  ,  auf  den  niederen  Stufen 
stehen  geblieben  seyen.     Die  Selbsterkenntniss  und  die,  sich  daran 
anschliessende,   Selbstvergessenheit  werden   vor  Allem  gepriesen, 
der  höchste  Grad  der  Beschauung   als  ein   wirkliches  Hinausge- 
rücktseyn  aus  sich  selbst  bezeichnet,  und  die  verschiedenen  Wei- 
sen desselben  beschrieben.    Es  ist  ein  Werk  des  göttlichen  Wohl- 
gefallens und  das  sich  ganz  hingebende  Gebet  ist  das  Mittel,  es, 
wenn  wir  es  einmal  erlebten ,  wieder  hervortreten  zu  lassen.    Den 
Dialektikern  wird  von  Richard  unter  manchen  anderen  wiederholt 
auch  der  Vorwurf  gemacht ,  dass  sie  den  formellen  Charakter  ihrer 
Wissenschaft  ganz  vergessen ;  da  auch  richtige  Schlüsse  zu  falschen 
Resultaten  führen  können ,  so  kommt  es  auf  die  Wahrheit  der  Prä- 
missen und  Grundsätze  vor  allem  Andern  an.    Aber  nicht  nur  die 
Dialektiker  tadelt  er.    Es  ist  frühe  bemerkt  worden,  dass  Bichard 
oft  die  Gelegenheit  ergreife,  dem  Lombarden  irgend  einen  Vorwurf 
zu  machen,  so  dass  ihm  also  eine  Theologie,  die  nur  eine  Summe 
zu  Stande  bringt,  nicht  die  rechte  zu  seyn  scheint 

§.  173. 
1.  Nachfolger  des  Richard  war  Walt  her  von  St.  Victor, 
dessen  Schrift  gegen  die  Ketzereien  des  AhUlard,  Petrus  Lom- 
hardus.  Petrus  von  Poitiers  und  Gilbert,  wegen  eines  Ausdrucks 
in  ihrer  Vorrede  gewöhnlich  als:  in  quatuor  labyrinthos  Franciae 
citirt  wird,  und  durch  Auszüge  bei  Bulaeus  (1.  c.  II  p.  629  flf.) 
bekannt  geworden  ist.  Mit  ganz  gleichem  Zorne  verdammt  er 
die  Logiker  und  Metaphysiker,  die  über  dem  Aristoteles  die  Heils- 
lehre vergessen,  und  welche  in  ihren  feinen  Untersuchungen  über 
aliquid  endlich  dazu  kommen,  wahre  nihilislae  zu  werden,  eben 
so  aber  die  Summenschreiber,  welche  eben  so  viel  dafür  sagen, 


I.  Jugendperio^e.    C.  Scholast.  als  blosse  Religionsl.  Victoriner.    §.  173,  1.  2.  299 

dass  Gott  sey,  als  dagegen.  Er  selbst  stellt,  wenn  sie  von  Etwas 
sagen,  es  sey  gegen  die  Regeln  des  Aristoteles ,  die  Frage  ent- 
gegen: was  thiit  das'?  und  citirt  die  Warnung  des  Apostels  vor 
aller  Philosophie.  Er  ist  empört  darüber,  dass  sie  ohne  zu  ent- 
scheiden ,  die  verschiedenen  Ansichten  neben  einander  stellen,  und 
fordert ,  dass  sie  die  Ketzerei  verdammen ,  um  nicht  selbst  zu  Ke- 
tzern zu  werden.  Citate  aus  den  Kirchenvätern,  besonders  aus 
dem  Aiiyit still,  aber  auch  polternde  Scheltworte,  sind  die  Waffen, 
mit  welchen  er  eben  so  sehr  gegen  die  „Dialektiker"  polemisirt, 
deren  Lehrer  die  Heiden  Soh'atcs .  Aristoteles  \m^  Seneca  seyen, 
und  welche  nicht  bedenken,  dass  die  Richtigkeit  des  Schliessens 
noch  nicht  die  Wahrheit  des  Erschlossenen  verbürgt,  als  auf  der 
andern  Seite  gegen  die  „Theologen",  unter  welchen,  da  er  den 
Jo/niines  Damascemis  an  die  Spitze  stellt,  er  offenbar  die  Com- 
pilatoreu  der  verschiedenen  Ansichten  versteht,  und  nicht  minder 
gegen  die  „Pseudo  -  Scholastiker",  die  eine  Menge  unnützer  Fragen 
aufwerfen,  welche  nur  durch  Umwege  und  feine  Distinctionen  zu 
beantworten  sind.  Ihnen  allen  stellt  er  immer  den  lebendigen, 
die  Welt  überwindenden  Glauben  an  den  Sohn  Gottes  entgegen, 
der  Mensch  geworden  ist  mit  Haut  und  Fleisch ,  mit  Knochen  und 
Nerven,  den  Glauben,  der  zwar  der  Welt  eine  Thorheit  ist,  da- 
für aber  auch  Teufel  austreibt  und  Todte  erweckt. 

2.  Die  Einflüsse  des  Klosters  von  St.  Victor,  namentlich  seit 
in  demselben  die  subjective  Seite  der  Frömmigkeit  (der  affectus) 
sogar  auf  Kosten  des  objectiven  Elementes  der  Religion  (der  co- 
ffvitio)  sich  geltend  gemacht  hatte,  sind  nicht  zu  verkennen  in  der 
Tendenz  jener  Zeit,  anstatt  gelehrte  Theologie  zu  treiben,  viel- 
mehr das  Volk  durch  Predigten  zu  erwecken.  Der  wunderthätige 
Reiseprediger  Fiileo  von  Neuilly,  Domiiticus,  der  Stifter  des  Prä- 
dicantenordens,  sind  wenigstens  indirect,  die  Stifter  des  in  der 
Nähe  von  Langres  entstehenden  Ordens  der  Vallis-scholarimn, 
vier  Pariser  Professoren,  ganz  direct  von  den  Victorinern  ange- 
regt worden.  Die  unwissenschaftliche  Mystik  in  dieser,  die  wis- 
senschaftliche in  der  bald  folgenden  Zeit,  hat  kaum  irgendwo  mehr 
Nahrung  gefunden,  als  in  den  Schriften,  die  von  jenem  Kloster 
ausgingen,  und  zwar  in  den  späteren  fast  noch  mehr  als  in  den 
Werken  Hngo's,  ja  selbst  Uichards.  Sie  können  als  der  diame- 
trale Gegensatz,  und  darum"  als  das  entsprechende  Correlat  zu 
denen  angesehen  werden,  die  oben  (§,  164)  als  die pmi p/utosophi- 
bezeichnet  wurden. 


300  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

§.  174. 
Wenn  aber  so  aus  den  Scholastikern  blosse  Metaphysiker  ge- 
worden sind,  die  sich  um  Substanzen  und  Subsistenzen ,  um  niliü 
und  alif/nid,  mehr  kümmern,  als  um  den  Glauben,  oder  logische 
Klopffechter,  die  nicht  nach  der  Trinität  fragen,  sondern  darnach, 
ob  der  Schlächter  oder  der  Strick  das  Schlachtvieh  führe,  wenn 
auf  der  andern  Seite  sie  zu  theologischen  Sammlern  wurden,  de- 
nen eine  Autorität  höher  steht  als  alle  logischen  Denkgesetze,  oder 
zu  Lobpreisern  der  Frömmigkeit,  denen  das  fromme  Herz  alle 
Wissenschaft  ersetzen  soll,  —  so  ist  eigentlich  die  Scholastik  in 
ihre  Bestandtheile  auseinander-,  d.  h.  zu  Grunde  gegangen.  Wo 
innerhalb  ihrer  sich  Männer  finden,  denen  keine  dieser  Einseitig- 
keiten genügt,  die  aber  nicht  Geisteskraft  genug  besitzen,  der 
Scholastik  einen  neuen  Impuls  zu  geben,  da  werden  sie  entweder 
darauf  ausgehn ,  von  Allem  Kenntniss  zu  nehmen ,  was  im  Namen 
der  Philosophie  gelehrt  wird,  möglichst  Allen  gerecht  zu  werden, 
oder  aber  sie  werden  den  Versuch  machen,  auf  den  primitiven 
Zustand  der  Scholastik  zurückzugehn ,  in  dem  alle  ihre  Elemente 
noch  Eins  gewesen  waren,  wenn  sie  auch  ein  mehr  chaotisches 
Gemisch  gezeigt  hatten.  Ist  jenes  gelehrt  -  historische  Interesse 
mehr  oder  minder  skeptisch  gefärbt,  so  ist  dagegen  dieser  Ver- 
such, Vergangenes  zu  beleben,  in  sich  selbst  mystisch.  Wie  sehr 
oft  das  Verschwinden  des  speculativen  Geistes  sich  durch  Hervor- 
treten des  Skepticismus  und  Mysticismus  angekündigt  hat,  so  wird 
die  momentane  Erschöpfung  des  scholastischen  Geistes  durch  das 
Auftreten  des  mittelalterlichen  Akademikers  Joliaimes  von  Salis- 
hury,  und  durch  den  mystischen  Reactionsversuch  des  Amalrich 
von  Bcne  offenbar. 

§.175. 

G.  Schaarschmidt  Johannes  Sarisberiensis ,    nach  Leben  ,    Studien  ,  Schriften  und 
Philosophie.    Leipzig  1862.    (VLU.  360.) 

1.  Joannes  Parvns  (vielleicht  war  Short  oder  Small  sein 
Familienname),  von  Salisbury ,  wenn  er,  wie  gewöhnlich  ge- 
schieht, nach  seinem  Geburtsort,  von  Cliartres,  wenn  er  nach  sei- 
nem Bisthum  genannt  wird,  war  durch  seinen  Bildungsgang,  den 
er  in  seinem  Metalogicus  II,  10  selbst  beschreibt,  mehr  als  Einer 
befähigt,  ein  abschliessendes  Urtheil  über  die  bisherige  Scholastik 
zu  fällen.  Noch  sehr  jung,  aber  nicht  ohne  gründüche  Schulbil- 
dung, kam  er  im  J.  1136  nach  Paris  und  ward  dort  ein  eifriger 
Zuhörer  Ahälards ,  der  ihm  die  Hochachtung  vor  der  Logik  bei- 
brachte, die  er  nie  verloren  hat.  Dies  beweist  sein  in  reiferen 
Jahren  geschriebner  Metalogicus,  in  dessen  vier  Büchern  er  in 


I.  Jugendperiode.     Auflösung.     Joannes  Sarisberiensis.     §.  175,  1.         301 

der  Person  des  Corniftcms  diejenigen  bestreitet,  welche  die  Un- 
tersuchungen, mit  denen  man  sich  im  tririo  beschäftigte,  als  un- 
nütz verachteten.  Er  selbst  erklärt  sie  für  die  nothwendige  Grund- 
lage alles  wissenschafthchen  Studiums.  Nur  will  er,  dem  die 
Aristotelischen  Analytiken  und  dessen  Topik  bekannt  sind,  nicht, 
dass  man,  wie  noch  AhühircJ .  sich  an  der  alten  Logik,  d.  h.  der 
die  sich  mehr  an  Boeilnns  als  an  Aristoteles  hält,  genügen  lasse. 
Die  ächte  Aristotehsche  Logik,  vor  Allem  die  Topik,  weiss  er 
nicht  genug  zu  loben,  theils  weil  sie  der  Rhetorik ,  theils  weil  sie 
dem  wissenschaftlichen  Disputiren  so  grosse  Dienste  leistet.  Dies 
hindert  ihn  aber  gar  nicht,  die  Logik  besonders  als  ein  Studium 
der  Jünglingsjahre  zu  bezeichnen ,  und  sich  gegen  die  zu  erklären, 
die,  weil  sie  dieses  Studium  zum  allereinzigen  machen,  nicht  Phi- 
losophen, sondern  Eristiker  und  Sophisten  werden.  Die  von  ihm 
gegebene  Weisung  hat  er  übrigens  selbst  befolgt.  Nachdem  er 
mit  allem  Eifer  bei  Abälurd  die  alte  Logik  studirt  hatte,  begab 
er  sich,  da  dieser  seine  Vorträge  aufgab,  zu  dem  Äther ir/.-  in  die 
Lehre,  einem  der  heftigsten  P>ekämpfer  des  Nominalismus,  so  dass 
er  in  alle  Feinheiten  der  berühmten  Streitfrage  eingeweiht,  und 
in  Stand  gesetzt  ward,  später  über  alle  die  verschiedenen  Ver- 
mitteluugsversuche  zu  berichten.  Durch  Withelm  von  Conches, 
der  dann  drei  Jahre  sein  Lehrer  war,  durch  zwei  andere  Schüler 
des  Bernhard  von  Chartres  und  vielleicht  auch  durch  den  gi*eisen 
Meister  selbst,  ward  er  auf  ein  anderes  Gebiet  hingewiesen:  auf 
die  Alten,  die  er  jetzt  mit  grossem  Eifer  zu  studiren  anfing.  Ci- 
cero namentlich  fesselte  ihn ,  und  die  Rhetorik  ward  seitdem  für 
ihn  ein  Hauptzweck  bei  seinem  Studium.  Zugleich  führte  ihn  ein 
Deutscher,  Hartwin,  und  ein  Mann,  den  er  als  Richardus  Epi- 
scopifs  bezeichnet,  in  das  Quadrivium  ein.  Beide  Studien  erschüt- 
terten das  Ansehn  des  Aristoteles  bei  ihm,  dessen  Physik  und 
Ethik  ihm  mit  der  Glaubenslehre  zu  streiten  schien.  Dafür  aber 
wuchs  um  so  mehr  seine  Hochachtung  vor  dem  Aristoteles  als 
Logiker,  als  sein  Landsmann  Adam  durch  eine  neue  Uebersetzung 
die,  bis  jetzt  fast  unbekannt  gebliebenen,  Analytiken  und  die  To- 
pik in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  dem  studirenden  Publicum  zu- 
gänglicher machte,  und  nun  Johannes  unter  der  Leitung  Adams 
und  des  Wilhelm  von  Soissons  diese  „neue  Logik"  und  ihre  Frucht- 
barkeit für  die  Rhetorik  schätzen  lernte.  Sein  Lernen  ward  durch 
eine  dreijährige  Lehrthätigkeit  unterbrochen,  dann  kam  er  wieder 
nach  Paris  und  studirte  unter  Gilbert  Philosophie ,  hörte  aber  zu- 
gleich den  Robd'tus  Putins  und  einen  gewissen  Simon  über  Theo- 
logie, und  aus  der  Art,  wie  er  den  Hngo  von  St.  Victor  citirt, 


302  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

muss  man  schliessen ,  dass  er  sich  auch  mit  dessen  Ansichten 
vertraut  gemacht  habe,  so  dass  keine  einzige  der,  in  dieser  Pe- 
riode hervortretenden,  Richtungen  ihm  fremd  gebUeben  ist.  Da- 
durch ist  er  in  Stand  gesetzt  worden,  so  genau  wie  er  es  thut, 
über  die  verschiedenen  Modificationen  zu  berichten,  die  sich  inner- 
halb der  einzehien  streitenden  Parteien  gebildet  hatten.  In  der 
Frage  nach  den  Universalien  stellt  er  eine  vermittelnde  Formel 
auf,  der  gegenüber  die  des  Ahülunl  als  nominalistisch  erscheint. 
2.  In  der  Art,  wie  er  die  verschiedenen  Ansichten  sich  an- 
eignet, ist  ihm  Muster  der  von  ihm  bewunderte  Cicero,  dem  er 
auch  in  Reinheit  der  Sprache  nacheifert.  ^Yie  Jener,  nennt  auch 
er  sich  gern  einen  Akademiker,  will  keine  übertriebne  Zweifelsucht, 
eben  so  wenig  aber  ein  seine  Grenzen  verkennendes  Wissen;  wie 
Jener  pulemisirt  er  gegen  Aberglauben,  eben  so  aber  auch  gegen 
Irrehgiosität,  nur  dass,  wie  begreiflich,  bei  ihm  an  die  Stelle  der 
politischen  Rücksichten  die  kirchlichen  treten.  Sein  Interesse  aber 
ist  vorzüglich  ein  praktisches:  das  kirchliche  Leben  und  die  Frei- 
heit der  Kirche  steht  ihm  über  dem  Dogma.  Seine  Stellung  als 
Secretair  des  Erzbischofs  Tlieohald  von  Canterbury,  der,  so  wie 
auch  König  Heinrich  II,  den  Jo//annes  oft  zu  Gesandtschaften 
nach  Rom  verwandte,  wozu  seine  enge  Freundschaft  mit  Papst 
Adrian  IV  ihn  geschickt  machte,  bestärkt  ihn  immer  mehr  in 
dieser  Richtung.  Darum  fand  Tliomus  Becket ,  nüt  dem  er  bald 
nach  seiner  Rückkehr  nach  England  bekannt  geworden  war,  als 
er  die  Rechte  des  Erzbisthunis  gegen  die  Uebergriffe  des  Staats 
zu  vertheidigen  unternahm,  an  Jo/umnes  den  treusten  Diener  und 
Helfer,  der  selbst  in  Gefahr  kam,  den  Martyrtod  mit  ihm  zu  thei- 
len.  Seit  1176  Bischof  in  Chartres  ist  er  daselbst  im  J.  1180  ge- 
storben. Von  seinen  Schriften  ist  der  Policraticus  in  acht  Büchern, 
im  J.  1159  vollendet,  und  betrachtet  in  den  ersten  sechs  Büchern 
die  iDiyde  ctiridliiim ,  in  den  zwei  letzten  die  ccsiigia  pliilosopho- 
ruvi:  er  erschien  zuerst  ums  Jahr  1476  in  einer  Folioausgabe, 
von  der  die  Pariser  Quart-Ausgabe  von  1513  ein  blosser  Abdruck 
ist.  Die  Lyoner  Octav  -  Ausgabe  von  1513  benutzt  eine  andere 
Handschrift.  Beide  Ausgaben  wurden  benutzt  von  dem  Herausge- 
ber einer  dritten ,  Uapheleiigins  Leyden  1595.  8.  Diese  wiu'de  ab- 
gedruckt von  Jo.  Milire  Leyden  1639.  8.,  welcher  aber  damit  zu- 
gleich die  Herausgabe  des  mit  dem  Policraticus  gleichzeitig  ver- 
fassten,  im  J.  1610  in  Paris  zuerst  gedruckten,  Metalogicus  ver- 
band. Des  Johannes  Briefe  gab  IMasson  im  J.  1611  in  Paris,  sein 
Gedicht  Entheticus  de  dogmate  philosophorum  zuerst  Petersen  in 
Hamburg  1843  heraus.     Im  J.  1848  gab  J.  A.  Giles  in  Oxford 


I.  Jugendperiode.     Auflösung.     Amalrich.     §.  176.  ööo 

eine  sehr  incorrecte  Gesammtausgabe  der  Werke  des  Jolamnes  in 
fünf  Octavbändeu  heraus.  In  ^Jiyne's  Patrologie  bildet  ein  Ab- 
druck davon  den  199"^°  Band.  —  In  allen  seinen  Schriften  zeigt 
sich  mehr  Gelehrsamkeit,  als  damals  gewöhnlich,  gepaart  mit  einer 
für  jene  Zeit  unerhört  geschmackvollen  Darstellung.  Durchweg 
wiegt  das  Praktische  vor.  Die  Liebe  ist  ihm  die  Summe  aller 
Ethik,  und  bei  allen  theoretischen  Untersuchungen  drängt  sich 
ihm  immer  wieder  die  Frage  auf,  ob  dieselben  auch  einen  prakti- 
schen Werth  haben.  Dies  streift  manchmal  an  einen  sehr  prosai- 
schen ütilitarismus. 

§.  176. 
In  jeder  Beziehung  bildet  den  Gegensatz  zm  Johannes,  Amal- 
rich (es  findet  sich  auch  Almarich)  in  Bene  geboren,  nahe  bei 
Chartres,  daher  er  nach  beiden  Orten  genannt  wird,  welcher,  im 
J.  1204  von  der  Pariser  Universität,  wo  er  zuerst  Lehrer  der 
Künste,  d.  h.  Professor  der  philosophischen  Facultät,  gewesen 
war,  dann  aber  sich  auf  die  Theologie  geworfen  hatte,  wegen  sei- 
ner Irrlehren  verdammt,  im  Gefühl  seiner  Unschuld  an  Ptom  ap- 
pellirte,  dort  aber  eine  Bestätigung  seines  Urtheils  empfing,  und 
bald  nachdem  er  den  erzwungenen  Widerruf  geleistet  hatte,  im 
J.  1207,  starb.  Der  Satz,  der  allein  uns  als  sein  Irrthum  über- 
liefert worden  ist:  dass  jeder  Christ  sich  als  Glied  an  dem  Leibe 
des  Herrn  ansehn  müss^,  und  ohne  diesen  Glauben  nicht  selig 
werden  könne,  ist  es  schwerUch,  sondern  wahrscheinlich  ist  die 
Weise  der  Begründung  es  gewesen,  warum  er  verdammt  wurde. 
Das  Gericht  weiter,  das  im  J.  1209  über  seine  Gebeine  gehalten 
wurde,  ist  dadurch  veranlasst,  dass  Albigenser  und  andere  Ketzer, 
die  sich  an  die  apokalyptischen  Vorstellungen  des  Joachim  von 
Floris  und  anderer  Schwärmer  angeschlossen  hatten,  sich  häufig 
auf  Amalrich  beriefen.  Unter  den  Sätzen,  die  sie  nach  Biiläns 
behauptet  haben  sollen,  finden  sich  einige,  die  wörtlich  bei  Ei-i- 
gcna  vorkommen,  und  so  weit  die  späteren  Xachrichten  über 
Amalrich  selbst,  so  wie 'die  etw'as  vollständigeren  über  die  s.  g. 
Amalricaner  einen  Schluss  erlauben,  scheinen  die  Schriften  jenes 
Vaters  der  Scholastik  den  Amalrich  mehr  angesprochen  zu  haben 
als  die  Scholastiker  seiner  Tage.  Daher  der  von  seinen  Gegnern 
sehr  oft  wiederholte  Vorwurf,  dass  er  in  Allem  seine  besondere 
Meinung  geltend  machen  müsse,  daher  weiter  das  Gerücht,  er 
habe  ein  Buch  unter  dem  Namen  Pision  geschrieben,  unter  dem 
schwerlich  etwas  Anderes  zu  verstehn  ist,  als  des  Erigena  Buch, 
dessen  Titel  ja  längst  (s.  §.  154,  1)  ähnliche  Corruptionen  erfah- 
ren hatte.    Dabei  scheint,  wie  aus  der  Ai-t  zu  schliessen,  in  wel- 


304  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

eher  der  Cardinal  Ueinrich  von  Ostia  Sätze  aus  dem  Werke  Eri- 
gencCs  anführt,  Jmairk//  ganz  besonders  Alles  ergriffen  zu  haben, 
was  pantheistisch  gedeutet  werden  konnte,  eine  Erscheinung,  die 
bei  einem  mystischen  Reactionsversuch  am  Wenigsten  befremden 
kann.  Wie  viel  an  der,  bei  Späteren  sich  findenden,  Nachricht 
ist,  Amalrich  habe  sich  für  die  Ansicht  erklärt,  dass,  wie  die 
Herrschaft  des  Vaters  mit  dem  Alten  Bunde,  so  die  Herrschaft 
des  Sohnes  jetzt  abgelaufen  und  die  des  Geistes  im  Anzüge  sey, 
das  ist  nicht  zu  entscheiden. 

§.  177. 
Schlussbemerkung. 
Wenn  Johuiuies  von  Saltsbnn/  nur  ein  Inventar  von  dem  zu 
machen  weiss,  was  die  verschiedenen  Scholastiker  gewollt  haben, 
Amalrkh  dagegen  nur  den  Rath  zu  geben  vermag,  auf  den  Ur- 
zustand der  Scholastik  in  Erigeiw  zurückzugehn ,  endlich  WdUlier 
von  St.  Victor  nur  einen  Weheruf  hat  über  das,  wozu  die  Häupter 
der  scholastischen  Wissenschaft  dieselbe  entwickelt  hatten,  so  ist 
dies  Alles  nicht  viel  weniger  als  eine  Bankerotterklärung  des  scho- 
lastischen Geistes.  In  der  That  hat  er  sich  erschöpft  in  der  Lö- 
sung der  Aufgabe,  das  kirchliche  Dogma  dem  natürlichen  Ver- 
stände annehmbar  zu  machen ,  theils  indem  in  den  einzelnen  Dog- 
men Verstand,  in  ihrer  Gesammtheit  verständige  Ordnung  nach- 
gewiesen ward ,  theils  indem  der  natürliche  Verstand  geübt  wurde 
im  Aneignen  des  übersinnlichen  Stoffes,  und  iliiu  die  Stufen  ge- 
zeigt wurden,  durch  welche  er  sich  zum  Verständniss  des  Dogma's 
erheben  kann.  Einen  weiteren  Fortschritt  kann  die  Scholastik 
nur  machen,  wenn  sie  einen  neuen  Impuls  erhält.  Dieser  wird 
ihr  zugleich  mit  einer  neuen  Aufgabe  gegeben,  deren  Lösung  sie 
in  ihrer  Glanzperiode  versucht. 

n. 

Di«  Glanzperiode  der  Scholastik. 

§.  178. 
Je  mehr  der  Geist  des  Christenthums  ein  ganz  neuer  ist,  um 
so  mehr  muss  der  von  ihm  durchdrungenen  Gemeinde  der  vor- 
und  unchristliche  Geist  als  ungeistliches  Wesen,  als  weltlicher 
Sinn  erscheinen.  Daher  ist  der  Kampf  der  Gemeinde,  später  der 
Kirche,  gegen  die  Welt,  ein  fortgehender  Kampf  zugleich  gegen 
den  Culminationspunkt  des  klassischen  Heidenthums,  den  Helle- 
nismus, und  gegen  den  Gipfelpunkt  des  Orientalismus,  das  Juden- 
thura,  so  wie  endlich  gegen  das,  beide  in  sich  aufnehmende  Welt- 


n.  Glanzperiode.     Einleitung.     §.   178.   179.  305 

reich  der  Römer.  Dem  erstereu  tritt,  schon  in  der  apostolischen 
Zeit,  die  judaisirende  Richtung,  die  ihren  ersten  Anstoss  durch 
Petrus  und  Jokohus  erhielt,  dann  in  der  Zeit  der  jugendlichen 
Gemeinde  die  mönchische  Askese,  das  Suchen  des  Martyrtodes,  end- 
lich in  der  Kirche  das  Dogma  von  dem  Einen  heiligen  Gott  und 
von  der  Schöpfung  der  Welt  aus  Nichts  entgegen.  Den  Judais- 
mus bekämpft  gleich  anfänglich  das  an  Paulus  sich  anlehnende 
Heidenchristenthum ,  dann  contrastirt  mit  ihm  der  lebensfrische 
Geist  der  lediglich  aus  Priestern  bestehenden  Gemeinde,  später 
wird  ihm  das  Dogma  von  der  Trinität,  von  der  Erscheinung  Got- 
tes im  Fleisch,  von  der  Werthlosigkeit  alles  gesetzlichen  Thuns 
entgegengestellt.  Mit  dem  Römerthum  endlich  kämpfen  die  Chri- 
sten, wo  sie  an  den  Pfeilern  des  Rechts,  an  dem  Eigenthum  und 
der  Strafe,  rütteln,  und  wo  sie  die,  in  der  Kaiserverehrung  sym- 
bolisch angedeutete,  Vergötterung  des  Weltreichs,  welches  der 
römische  Staat  ist,  von  sich  abweisen.  Die  den  Griechen  eine 
Thorheit,  den  Juden  ein  Aergerniss,  den  Römern  wegen  ihres 
odii  generis  hmnaiii  eine  sreleraihshna  geiis  waren,  die  gaben 
jenen  solchen  Hass  reichlich  zurück ,  und  sahen  es  als  ihre  Auf- 
gabe an,  wo  nur  ihnen  Vorchristliches  oder  vom  christlichen  Geiste 
noch  nicht  Berührtes  entgegentritt,  nicht  zu  ruhen,  bis  es  der  geist- 
lichen Herrschaft  unterworfen  ist,  eine  Aufgabe,  die  gegen  Ende 
des  eilften  Jahrhunderts  ziemlich  gelöst  ist ,  wo  der  grösste  unter 
den  Päpsten,  ein  Gegenstück  zu  Carl  dem  Grossen,  die  Welt- 
hierarchie und  Weltmonarchie  verbindet,  indem  er  die  Welt  über- 
wunden hat,  die  demüthig  zu  seinen  Füssen  liegt. 

§•  179. 
Hatte,  schon  um  den  Kampf  nur  zu  beginnen,  das  Reich  Got- 
tes von  dieser  Welt  werden  müssen  (s.  §.  131),  so  hat  noch  mehr 
der  Kampf  selbst,  seine  Fortsetzung  und  lange  Dauer,  hier  wie 
überall,  eine  Ansteckung  mit  dem  Wesen  des  Bekämpften  zur  Folge 
gehabt.  Die  Kirche  ist  aus  ihrem  Siege  über  die  Welt  verwelt- 
licht hervorgegangen.  Sie  ist  jüdisch  geworden  durch  ihr,  dem 
alttestamentlichen  nachgebildetes,  Priesterthum  und  ihren,  wenn 
auch  gemilderten ,  Pelagianismus ,  der  sie  auf  den  Ceremonialdienst 
so  wie  auf  verdienstliche  Werke,  für  die  es  zuletzt  Aequivalente 
gibt,  ein  so  grosses  Gewicht  legen  lässt;  sie  ist  heidnisch  gewor- 
den ,  indem  sie  anstatt  bloss "  aus  Kindern  Gottes  oder  Priestern 
zu  bestehn,  auch  Weltkinder  in  sich  aufgenommen  hat,  welchen 
die  Minorität  als  die  (eigentliche)  Kirche  entgegengestellt  wird; 
sie  ist  heidnisch  geworden,  indem  sie  an  die  Stelle  der  früheren 
Jenseitigkeit  des  Heils  die  sinnliche  Diesseitigkeit  desselben  gesetzt 

Erdmann ,  Gesch.  d.  Phil.  I.  prj 


306  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

hat,  nach  welcher  ein  Gottesbild,  eine  Reliquie,  eine  Hostie,  kurz 
ein  sinnlich  existirendes  Ding,  das  Heil  präsent  macht,  und  Wun- 
der vermittelt.  Sie  ist  endlich  in  ihrer  Eroberungssucht  und  ihrer 
rabulistischen  Auslegung  der  Gesetze  eine  Schülerinn  Roms  ge- 
worden und  rühmt  sich  dess ,  als  Nachfolgerin  in  seine  Fusstapfen 
getreten  zu  seyn.  —  Wie  sehr  der  weltliclie  Sinn  Gewalt  bekom- 
men hat  über  die  Christenheit,  zeigt  sich,  mehr  noch  als  in  allem 
Jenem,  darin,  dass  sie  an  den  Conflict  mit  dem  unchristlichen 
Wesen  gewöhnt,  nicht  mehr  seine  Gesellschaft  missen  kann.  Xur 
mit  Christen  zu  thun  zu  haben,  genügt  nicht  mehr,  sondern  wie 
der  Säure  nach  der  Basis,  so  verlangt  dem  christlichen  Geiste 
dieser  Zeit  nach  einein  Zusammentreffen  mit  seinem  Gegensatz. 
In  verjüngter  Gestalt  ist  nun  Alles,  dem  je  das  Christenthum  ent- 
gegen getreten  war,  wieder  aufgetreten  im  Islam.  Heidenthuin, 
Judenthum  und  christliche  Ketzerei  waren  die  Lehrer  Muhammeds, 
und  was  sie  ihm  gaben  iiat  der  Schüler  im  Sinne  eines  römischen 
Welteroberers  zu  einer  Lehre  verschmolzen,  die  ganz  von  dieser 
Welt  ist,  so  dass  also  alle  die  verschiedenen  Züge,  welche  die 
apostolische  Zeit  dein  Antichrist  geliehen  hatte,  in  dem  Islam, 
dem  eigentlichen  Antichristenthum ,  sich  vereinigen.  Ein  Zusam- 
raentrelfen  mit  ihm,  dem  Antichrist,  wird  um  so  nielir  ein  allge- 
meines Verlangen,  als  dadurch  aucli  die  schönste  aller  Reliquien, 
die  bis  dahin  noch  gefehlt  hatte,  das  Grab  C/trlsli,  erlangt,  dem 
Scepter  des  heiligen  Vaters  die  schönste  Provinz ,  das  heihge  Land, 
unterworfen,  und  also  verdienstliclie  Werke  aller  Art  vollbracht 
werden  können.  Es  waren  also  alle  Wünsche  der  damaligen  Chri- 
stenheit zugleich,  welche  das  Oberhaupt  der  Kirche  für  den  Wil- 
len Gottes  erklärte,  als  von  ihm  der  Ruf  ausging:  bei  dem  Anti- 
christ durch  Eroberung  des  Schatzes,  den  er  besass,  das  Heil 
zu  finden. 

§.  180. 
Die  Philosophie,  als  Selbstverständniss  des  Geistes,  muss 
gleichfalls  ihre  Kreuzzüge  haben.  Sie  zeigen  uns  die  Scholastik, 
wie  sie  bei  den  antichristlichen  Philosophen  Weisheit  lernt.  Nicht 
mehr  darum  handelt  es  sich,  den  von  christlichen  Ideen  durch- 
zogenen Neoplatonismus  auszubeuten,  oder  von  Aristoteles  nur  in 
dem  sich  belehren  zu  lassen,  was  im  Alterthura  und  der  christli- 
chen Zeit  ganz  gleichmässig  gilt,  in  den  Regeln  des  verständigen 
Denkens.  Sondern  es  entsteht  das  Verlangen ,  den  ganzen  Inhalt 
rein  griechischer  Weisheit,  welchen  ArisfoieU's,  der  darum  der 
Erzheide  genannt  werden  kann ,  in  sich  concentrirt  hatte  (s.  §.  92) 
der  scholastischen  Philosophie  einzuverleiben,    so  dass  jetzt,  da 


n.  Glanzperiode.     A.  Muselmänner  und  Juden.     §.   181.  307 

die  Mämier,  welche  die  Kirche  als  ihre  w(i(/istri  ansieht,  den  Ari- 
stoteles zu  ihrem  Lehrer  annehmen,  dieser  den  Ehrennamen  des 
mngister  oder  pJ/Uosopfms  im  eminenten  Sinne  bekommt.  Dabei 
fehlt  nicht  etwa,  wie  bei  P//ilo  und  den  Kirclienvätern,  die  Ein- 
sicht, dass  es  sich  um  eine  Weisheit  handelt,  die  einer  ganz  an- 
deren Quelle  entspringt  als  die  Kirchenlehre.  Vielmehr  wird  dies 
besonders  hervorgehoben ,  denn ,  als  wäre  Aristoteles  noch  nicht 
unchristlich  genug,  muselmännische  und  jüdische  Commentatoren 
müssen  den  eigentlichen  Sinn  seiner  Lehren  aufscliliessen.  Dass 
die  Kirche  es  duldete ,  später  sogar  forderte ,  dass  ihre  Lehrer  zu 
den  Füssen  der  Antichristen  sassen,  um  Weisheit  zu  lernen,  ist 
gerade  so  auffallend,  wie  dass  sie  die  Gläubigen  zu  der  gefährli- 
chen Bemhrung  mit  den  Feinden  des  Glaubens  anspornte.  Erst 
in  der  Glanzperiode  der  Scholastik  können  ihre  Repräsentanten 
Aristoteliker  genannt  werden.  Da  sie  es  durch  die  morgenländi- 
schen Peripatetiker  wurden,  so  sind  diese  ihre  Lehrer  zuerst  zu 
betrachten.  Weil  dieselben  aber  hier  zur  Sprache  kommen  nur 
als  Lehrmeister  der  christlichen  Scholastiker,  so  hat,  wenn  die 
ersten  Uebersetzer  ihrer  W^erke  den  Sinn  derselben  nicht  richtig 
gefasst  haben  sollten  was  sie  daraus  machten  für  uns  grössere 
Wichtigkeit,  als  was  das  Quellenstudium  der  Xeueren  als  das  Rich- 
tige heraus  gebracht  hat.  Eben  so  müssen  Werke,  von  denen 
die  christlichen  Scholastiker  Nichts  wussten ,  selbst  wenn  sie  die 
bedeutendsten  gewesen  seyn  sollten,  weil  sie  ohne  Einfluss  geblie- 
ben sind,  gegen  die  zurückgestellt  werden,  welche  ihn  hatten. 

A. 
nuselniäuner  uud  Juden  als  Vorlaufer  der  christlichen  Aristoteliker. 

a.    Die  Aristoteliker  im  Morgenlande, 

Aug.  Schmölders  Documenta  philosophorum  Arabum.  Bonnae  1836.  Desselben 
Essai  sur  les  ecoles  pbilosophiques  chez  les  Arabes.  Paris  1842.  Abu-'l-Fatk' 
Muhammad  asch  -  Scharastani  Religionsparteien  und  Philosophenschuleu ,  übers,  v. 
Th.  Haarbrücher.  Halle  1850.  51.  2  Bde.  yfvnrlc  Dictionnaire  des  sciences  pbilo- 
sophiques.   Paris  1844  —  52.    VI  vol. 

§.  181. 
Ein  Synkretismus  \vie  der  Islam ,  noch  dazu  ein  Reactionsver- 
such  wie  jene  Weltanschauung  es  gegen  die  christliche  ist,  trägt 
keinen  Entwicklungskeim  in  sich.  Eben  so  wenig  die  Philosophie 
derer,  die  sich  zum  Islam  bekennen.  Die  Bestimmung  beider  ist, 
die  vorchristlichen  Ideen  lebendig  zu  erhalten,  damit  sie  im  Con- 
flict  mit  dem  christlichen  Geiste  diesem  zum  Sporn  und  Lebens- 
wecker werden.    Nachdem  dieses  geleistet  ist ,  sterben  sie  ab.    Die 

20* 


308  Mittelaltei-liche  Philosopliie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

oben  (§.  130,  5)  erwähnte  Vertreibung  der  Philosophen  durch  Jii- 
siinian  hatte  diese  zuerst  nach  Persien ,  dann  nacli  Syrien  gebracht. 
Hier  entstehen  schon  im  sechsten  Jahrhunderte  Uebersetzungen 
wenigstens  einiger  von  den  analytischen  Schriften  des  Arisloieles, 
so  wie  seiner,  namentlich  der  neuplatonischen,  Commentatoren. 
Bei  dem  Aufschwünge ,  den  unter  den  Abbasiden  das  Khalifat  von 
Bagdad  nahm,  ward  dieser  Ort  bald  Mittelpunkt  auch  wissenschaft- 
lichen Strebens.  Der  schon  früher  übersetzte  Galni  lenkt  die  Auf- 
merksamkeit auf  Phtto  und  Arlslotcles.  Der  nestorianische  Kxzi 
Jlanaiv  hvn  hhah  ,  später  oft  als  JolntvvHius  citirt  (800 — 873), 
Compilator  der  Apophthegmata  philosophorum ,  die  grossen  Paihm 
erworben  haben,  und  sein  Sohn  huuth .  beide  des  Syrischen  und 
Arabischen  gleich  niüchtig,  luil)en  in  beide  Sprachen  Schriften  des 
Platn ,  Arisloirlos .  Porp/njriiis .  T/winisfiiis  u.  A.  übertragen. 
Ihnen  schhessen  sich  bald  andere  Üe1)ersetzer  an,  welche  die  grie- 
chischen Autoren ,  meistens  aus  dem  Syrischen ,  manche  aber  auch 
direct  aus  dem  Griechischen,  ins  Arabische  übersetzen.  Durch 
sie  bildet  sich  allmählich  die  Schule  derer,  die  „Philosophen"  ge- 
nannt wurden,  d.  h.  der,  mehr  oder  minder  unsell)stständigen, 
Paraphrasten  des  mit  alexandrinischen  Vorstellungen  verschmol- 
zenen Aristotelismus.  Miigen  immerhin  die,  nur  aus  religiö- 
sem Bedürfniss  licrvorgegangenen ,  rein  arabischen ,  Speculationen 
mehr  Originalität  gehal)t  haben,  von  nachhaltiger  Wirkung  für 
den  Gang  der  Philosophie  sind  bloss  jene  Aristoteliker  gewesen. 
Von  ihren  Landsleuten  mit  Misstrauen  betrachtet,  haben  sie  frühe 
Anerkennung  bei  den  Juden  gefunden ,  deren  Schule  zu  Sora,  nahe 
von  Bagdad,  durch  Saadj«  und  Andere  früh  grossen  Ruhm  er- 
langte. Der  Aveltlichen  Pachtung  des  Islam  gemäss  behält  der  Ari- 
stotehsmus  hier  viel  mehr  den  ('harakter  der  Weltweisheit,  und 
bleibt  daher,  trotz  des  hineingenommenen  emanatistischen  Alexan- 
drinismus,  der  ursprünglichen  Form  desselben  näher,  als  bei  Man- 
chen seiner  christlichen  Anhänger. 

§.  182. 
Die  Reihe  der  Philosophen  ci'öfifnet  Ahn  Jussnf  Jahtb  Jim 
Isaak  al  K'mrU  ( AI kcndlv s) ,  in  Basra  wahrscheinlich  ganz  am 
Ende  des  achten  Jahrhunderts  geboren  und  gegen  Ende  des  neun- 
ten gestorben,  also  ein  Zeitgenosse  des  Erlgena  (s.  oben  §.  154). 
Der  Treffliche  des  Jahrhunderts ,  der  Einzige  seiner  Zeit ,  der  Phi- 
losoph der  Araber  u.  s.  w.  sind  seine  Ehrennamen.  Flügel  (in: 
Al-Kindi  genannt  der  Philosoph  der  Araber.  Leipz.  1857)  hat  durch 
die  Uebersetzung  des  im  Fihrist  gegebnen  Registers  aller  Schriften 
des  Alkendius  die  bei  Cusiri  (Bibl.  arab.  Escurial.  I,  353  ff.)  zu 


IL  Glanzperiode.     A.  Muselmäuner  und  Juden.     Aviceuna.     §.  184,  1.     309 

findenden  Nachweisiingen  vervollständigt.  Fast  alle  seine  dort 
genannten  Abhandlungen ,  zwei  hundert  drei  und  sechzig ,  worun- 
ter zwei  und  dreissig  über  Philosophie,  sind  verloren  gegangen. 
Aus  ihren  Titeln  aber  ergibt  sich,  dass  es  kaum  ein  Gebiet  gibt, 
in  dem  er  nicht  thätig  war.  Das  Logische  scheint  ihm  besonders 
beschäftigt  zuhaben,  und  er  kein  sklavischer  Uebersetzer,  sondern 
ein  selbstdeukender  Paraphrast  gewesen  zu  seyn.  Mathematik  gilt 
ihm  als  Grundlage  alles  Studiums,  Naturwissenschaft  als  ein  we- 
sentlicher Theil  der  Philosophie;  Roger  Buco  und  Cardunus  (s. 
unten  §.  212  und  242)  schätzen  ihn  sehr  hoch.  Letzterer  wohl 
wegen  des  Urgirens  der  Ein-  und  Ganzheit  der  Welt,  vermöge 
der  die  Erkenntniss  eines  Theils  die  des  Ganzen  enthalte. 

§.  183. 

Abu  Nasr  Midimnined  Ihn  Muhdmmed  Ihn  Torklmn,  nach  der 
Provinz,  wo  er  geboren  wurde,  al  Furahi  (Alpharah ins)  ge- 
nannt (auch  Ahunazar  kommt  vor),  der  im  J.  950  stirbt,  von 
dessen  Schriften  Casirl  (1.  c.  I,  190)  ein  ausführliches  Register 
gibt,  soll  bei  seinen  gründlichen  logischen  Arbeiten  oft  an  den  Al- 
kendius  angeknüpft  haben.  Vor  Allem  ist  seine  Encyclopädie  ge- 
rühmt worden,  ausser  der  er  aber  Untersuchungen  über  alle  mög- 
lichen Gegenstände  theils  in  Commcntaren  zum  Aristoteles,  theils 
selbstständig  angestellt  hat.  Die  Nachricht,  dass  er  die  Ueber- 
einstimmung  des  Phdo  und  Aristoteles  sehr  betont  habe,  weist 
auf  neuplatonische  Einflüsse.  Sel1)st  Gegner  haben  ihn  sehr  hoch 
gestellt.  Die  christlichen  Aristoteliker  citiren  ihn  sehi"  oft,  und 
namentlich  sein  Commentar  zu  den  Analyt.  post.  des  Aristoteles, 
der  als  de  demonstratioue  citirt  wird,  ist  für  ihre  logische  Ent- 
wicklung wichtig  geworden.  Eine  lateinische  Uebersetzung  seiner 
Werke:  Alpharabii,  vetustissinii  Aristotelis  interpretis  opera  om- 
nia.  Paris  1638.  8.  ist  sehr  selten  geworden.  Aus  dem  Arabischen 
hat  in  der  neueren  Zeit  Se/miölders  Einiges  übersetzt. 

§.  184. 

1.  Einstimmig  für  den  Ersten  unter  den  Philosophen  im  Mor- 
genlande wird  gehalten  Abu  Ali  al- Hussein  lim  Abdallah  Ibn 
Sina  (Avicenna) ,  der,  978  in  Bokhara  geboren,  an  verschie- 
denen Orten  gelebt  hat  und  in  Ispahan  im  J.  1036  gestorben 
ist,  nachdem  er  als  Arzt  und  Philosoph  einen  Ruf  erworben,  der 
viele  Jahrhunderte  gedauert  hat.  Schon  im  12**^"  Jahrhundert  wa- 
ren die  meisten  seiner  Werke  übersetzt.  Die  Venetianer  Ausgabe 
vom  J.  1495  bezeichnet  sie  als  opera  philosophi  facile  primi.  Ca- 
siri  gibt  (1.  c.  I,  26S  ff.)  eine  Menge  von  Schriften  an,  von  denen 
viele  verloren  sind.    Unter  diesen  auch  die  Orientahsche  Philoso- 


310  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

phie,  die  Roger  Baco  noch  kannte,  und  die  nach  Averroes  etwas 
pantheistisch  gewesen  seyn  muss.  Das  Werk  des  Schnrastani 
enthält  eine  genaue  Darstelhmg  von  Amcenmis  Logik,  Metaphy- 
sik und  Physik.  Der  Einfluss  des  Alfurubius  ist,  namentlich  in 
seiner  Logik,  sehr  sichtbar.  Von  dieser  liegt  in  lateinischer,  wie 
man  sagt  vom  Juden  Avciideiith  veranstalteten ,  Uebersetzung  nur 
der  Theil  vor ,  der  von  den  fünf  Universalien  des  Porpl/yrius  han- 
delt. Darin  ist  nun  das  Interessanteste,  dass  die  von  Porplüjrius 
flüchtig  berührte  Frage  (s.  oben  §.  128,  6)  hier  die  Antwort  er- 
hält, dass  nicht  nur  die  gener  a,  sondern  alle  nnir  er  salin  sowol 
ante  iniiltitudlnem  seyen,  im  göttlichen  Verstände  nämlich,  als 
auch  in  multitvdine  als  die  realen  gemeinschaftlichen  Prädicate 
der  Dinge,  endlich  aber  auch  post  mnltHndinem  als  unsere,  von 
den  Dingen  abstrahirten ,  Begriffe.  So  war  also,  wenn  man  ge- 
nauer zusieht  bis  in  die  verschiedenen  Modificationen  hinein  (vgl. 
Pranii  1.  c.  11 ,  350  ff.) ,  der  Streit  des  Realismus  und  Nominalis- 
mus im  Morgenlande  geschlichtet ,  ehe  er  im  Abendlande  entbrannt 
war.  Ausser  diesem  Bruchstück  aus  einem  grösseren  Werke,  sind 
zwei  compendiarische  üebersichten  der  Logik  auf  uns  gelangt,  eine 
in  Prosa,  von  der  P.  Vnilier  im  J.  1658  in  Paris  eine  französi- 
sche, und  eine  metrisch  verfasste,  von  der  Scinnölders  in  seinen 
Documentis  eine  lateinische  Uebersetzung  gegeben  hat. 

2.  Geht  man  von  der  Logik,  die  den  Arabern  nur  Werkzeug 
der  Wissenschaft  ist,  zu  dieser  selbst  über,  so  wird  das  absolut 
Einfache,  alle  blosse  Möglichkeit  von  sich  ausschliessende,  eben 
darum  aber  Undefinirbare  an  die  Spitze  gestellt,  mit  dessen  We- 
sen die  Existenz  gesetzt  ist,  das  absolut  Nothwendige  und  Voll- 
kommene. Dies  ist  das  Gute,  nach  dem  jedes  Ding  verlangt  und 
durch  welches  es  vollkommen  wird.  Es  ist,  weil  seine  Existenz 
die  sicherste  Gewissheit  ist,  zugleich  das  Wahre.  Unbeschadet 
seiner  Einheit  ist  es  Denken,  Denkendes  und  Gedachtes,  und 
denkt,  indem  es  sich  denkt,  alle  Dinge,  deren  Grund  es  durch 
sein  Wesen,  nicht  durch  Vorsatz,  ist.  Diesem  ganz  Abstracten 
{ywqioiov  bei  Aristoteles)  steht  gegenüber  das ,  dem  die  blosse 
Möglichkeit  als  Prädicat  zukommt,  die  matcria  oCiev/nfle.  die  zur 
Existenz  und  Nichtexistenz  ganz  gleich  sich  verhaltend,  um  zu 
existiren  eines  Andern  bedarf,  welches  der  Existenz  das  Ueberge- 
wicht  gebe.  Die  Materie,  kein  körperlicher  Stotf,  sondern  Nicht- 
seyn,  Schranke,  ist  das  Princip  jedes  Mangels,  deshalb  auch  des 
an  Ordnung,  Schönheit,  Vollkommenheit.  Was  zwischen  beiden 
in  der  Mitte  steht,  besteht  aus  Intelligiblem,  der  Form,  und  Sen- 
siblem,  der  Materie,  oder,   was  dasselbe  heisst,  es  ist  in  ihm 


II.  Glanzperiode.     A.  Muselmänner  und  Juden.     Avicenna.     §.  184,  3.  4.    Oll 

Möglichkeit  und  Existenz  zu  unterscheiden.  Eine  einzige  Ausnahme 
gibt  es  ,  sie  wird  gebiklet  von  dem  thätigen  Verstände ,  diesem  er- 
sten Ausflusse  aus  dem  nothwendig  Existirenden.  In  diesem  fin- 
det, weil  er  das  Erste  und  sich  selbst  denkt,  die  erste  Mannig- 
faltigkeit Statt,  ohne  welche,  da  die  reine  Einheit  nur  wieder 
Einheit  produciren  kann,  es  zu  einer  unendlichen  Reihe  von  Ein- 
heiten, nicht  aber  zu  einer  körperlichen  Welt,  kommen  würde. 
Da  der  thätige  Verstand  seine  Möglichkeit  in  sich,  seine  Existenz 
von  dem  Ersten  und  Einen  hat,  so  steht  er  trotz  seiner  völligen 
Immaterialität  und  Vollkommenheit  unter  dem  Letzteren,  welches 
darum  oft  als  das  Mehr- als -vollkommne  bezeichnet  wird. 

3.  Wie  der  vom  Ersten  ausgehende  thätige  Verstand  von  je- 
nem die  Einheit,  so  hat  wieder  die  von  ihm  selbst  ausgehende 
weitere  Emanation  von  ihm  die  Zweiheit  als  Mitgabe.  Darum  be- 
stehn  die  Himmelskreise  aus  Materie  und  Form,  d.  h.  jede  Sphäre 
ist  durch  eine  Seele  belebt.  In  jeder  aber  zeigt  sich,  weil  sie 
Emanation  aus  einem  denkenden  Principe,  auch  eine  Intelligenz, 
die  Arlcennn  oft  als  Engel  bezeichnet.  Alle  Himmelskreise  haben 
zu  ihrem  gemeinschaftlichen  Grunde  das  erste  Verursachte,  den 
thätigen  Verstand,  gehen  also  nicht  aus  einander  hervor.  Wohl 
aber  ist  der  alle  anderen  umfassende  Himmelskreis  (ob  Fixstern- 
himmel, ob  Krystallhimmel  über  demselben,  bleibt  unentschieden) 
der  Beweger  der  übrigen  unter  ihm.  Seine  eigne  Bewegung  be- 
treffend, so  ist  diese  nicht  in  dem  Sinne  natürlich  wie  die  des 
Feuers  nach  oben  u.  s.  w.,  denn  diese  letzteren  bestehen  nur  in 
einem  Bestreben  aus  einem  fremden  Aufenthaltsort  heraus  in  den 
eignen  zu  gelangen ,  dagegen  wird  der  Himmel  durch  die  ihm  im- 
manente Seele  bewegt,  die  sich  nach  dem  umgebenden  Urgründe 
sehnt,  und  darum  jedem  Punkte  desselben  sich  anzunähern  trach- 
tet, eine  Sehnsucht,  die  auch  die  Seelen  der  unteren  Kreise  thei- 
len.  Wie  überall,  so  ist  also  auch  hier  der  Zweck  das,  selbst 
unbewegte,  Movens.  Die  Himmelskreise  zeigen,  wenn  auch  nicht 
Vollkommenes  und  Ewiges,  so  doch  GenügendQg  und  Sempiternes, 
erst  unter  dem  letzten  beginnt  das  Gebiet  des  Ungenügenden  und 
Vergänghchen.  (Dass  eines  von  Aricemia's  Werken  sufficientia 
heisst,  findet  hier  seine  Erklärung.)  Im  Gebiete  des  Vergängli- 
chen zeigt  sich  die  geradlinichte  Bewegung,  die  räumliche  Erschei- 
nung des  Streljens ,  auf  dem*  kürzesten  Wege  seinen  natürlichen 
Platz  zu  erreichen;  die  Entfernung  vom  natürlichen  Zustande  ist 
das  Maass  dieser  Bewegung. 

4.  Aus  den  beiden  activen  Qualitäten  kalt  und  warm,  und 
den  zwei  passiven  trocken  und  feucht,  werden  als  die  möglichen 


312  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Combinatioiien  die  vier  Elemente  abgeleitet,  die,  wegen  der  ihnen 
zu  Grunde  liegenden  Materie,  in  einander  übergelin  können.    In 
dem  Erdkörper  liegen  sie  geschichtet  über  einander,   nur  Erhe- 
bungen und  Versenkungen  modificircn  die  natürliche  Ordnung.    Das 
J'euer,   durchsichtig  wie  Rauch   und  nur  durch  den  Rauch  farbig, 
bildet  über  den  vier  Luftschichten  eine  höhere,  in  der  eben  des- 
wegen  die  feurigen  Meteore  entstehen.    Warum  der  Regenbogen 
ein  Kreis,  das  sey  mathematisch  erklärlich,  nicht  aber  warum  er 
farbig.     Aus  den  in  der  Erde  eingeschlossenen  Dünsten  werden 
nicht  nur  die  Erdbeben ,   sondern ,  unter  Annahme  einer  Mitwir- 
kung der  Sterne,  auch  die  Enstehung  der  Metalle  erklärt.    Diese 
wieder  spielen  eine  sehr  wichtige  Rolle  bei  der  Zusammensetzung 
derjenigen  Körper,  die  durch  Hinzutreten  einer  Seele  zu  lebendi- 
gen werden.    Der  Begriff  der  Seele ,  die  drei  Stufen  derselben  nebst 
ihren  eigenthümlichen  Functionen,  stinnnt  fast  wörtlich  mit  Aristo- 
teles überein,  nui'  dass  durch  weiter  gehende,  meistens  dichoto- 
mischc,  Eintheilungen   noch  weiter  distinguirt   wird.     Die   Sinne 
werden  ausführlich   betrachtet,   und   da  in   dem  fünften  vier  ver- 
schiedene Empfindungen  unterschieden   werden   (Wärme,  Weiche, 
Trockenheit,   Glätte),   so  ist  oft  von   acht  Sinnen  die  Rede.    Zu 
ihnen  kommt  der  innere  oder  Gemein -Sinn,  den  mit  jenen  zusam- 
men Aricenna  mit   dem  griechischen  Worte  qavzaoia  bezeichnet. 
Ausser  ihr  kommt  der  anima  sensitiva  auch  noch  die  abschätzende 
oder  beurtheilende,  so  wie  die  erinnernde  Kraft  zu.    Durch  ge- 
wisse feine  Substanzen,  die  sphitiis  (in'nuales^  werden  die  einzel- 
nen Functionen  mit  den  einzelnen  Partien  des  Gehirns  verbunden. 
Was  nun  insbesondere  die  vernünftige  Seele  im  Menschen  betrifft, 
die  zwar  mit  dem  Leibe  entsteht,  aber,  weil  sie  von  anderen,  im- 
materiellen, Ursachen  hervorgebracht  wird,    ihn  überdauert,    so 
wird  in  ihr  die  handelnde  und  die  wissende  oder  speculative  Kraft 
unterschieden,  welche  letztere  sich  in  die  universellen,  von  der 
Materie  abgezogenen.  Formen  zu  versenken  vermag.    Dabei  sind 
die  Grade  der  Anlß,ge ,  des  Vorbereitetseyns  und  der  Fertigkeit  zu 
unterscheiden   (inteUectus  materialis  s.  posslbi/ls,  jyraeparatus  s. 
disposUns,  endlich  in  actit).    Um  zur  wirkhchen  Erkenntniss  der 
Formen  zu  gelangen  aber,  dazu  bedarf  es  einer  Eingiessung  von 
dem  ersten  Verursachten,   dem  thätigen  Verstände,  der,  weil  er 
in   allen  vernünftigen  Seelen  wirkt,   auch  der  allgemeine  genannt 
wird.    Diese  Erleuchtung,  die  oft  im  Traum ,  oft  im  Wachen  (wenn 
plötzlich,  Sih  raptiis)  eintritt,  ist  zu  jeder  Erkenntniss  nöthig.     Ihr 
höchster  Grad  ist  die  Prophetie,  die  oft  mit  Visionen  der  Einbil- 
dungskraft verbunden  ist.    Ein  Gegensatz  der  Vernunfterkenutniss 


II.  Glanzperiode.     A.  Muselmänner  und  Juden.     Algazel.     §.  185.         313 

zur  Lehre  des  (liöclisten)  Propheten  ist  darum  eine  Unmöglichkeit. 
Reinigungen  der  Seele,  asketische  Uebungen,  Gebet  und  Fasten, 
in  welchen  der  Mensch  von  dem  Bösen,  d.  h.  der  Schranke,  sich 
befreit,  ist  die  Vorbereitung  zu  jener  Eingiessung,  in  welcher  der 
Verstand  in  dem  Maasse,  als  er  Alles  erkennt,  zu  einer  intelligi- 
blen  Welt  wird;  dieses  Erfassen  der  Welt  und  ihrer  Gründe  ist 
die  stets  w^achsende  Glückseligkeit. 

§.  185. 
Dass  mit  Alfurabius  und  Aincenna  der  speculative  Geist  bei 
den  Arabern  sich  erschöpft  hat,  erhellt  daraus,  dass  schon  zwei 
Menschenalter  nach  dem  Letzteren  Abu  Huviid  Mahammed  Ihn 
Muhammcd  cd  -  Ghazzali  ( Alyazel)  die  Stellung  einnimmt, 
die  oben  (s.  §.  IT-l  fif.)  dem  Johannes  von  Salisbury  und  Amalrich 
von  Chartres  angewiesen  ward :  die  Philosophie  erklärt  durch  ihren 
üebergang  in  Skepsis  und  Mysticismus  ihi'en  Bankerott.  Cusiri 
a.  a.  0.,  Schiuölders  a.  a.  0. ,  namenthch  aber  Gosche  (lieber  Ghaz- 
zali's  Leben  und  Werke.  Berlin  1858)  geben  genauere  Nachrichten 
über  diesen  Mann,  der  im  J.  1059  in  einem  zu  der  persischen 
Stadt  Tüs  gehörigen  Städtchen  Ghazzalah  geboren,  zuerst  in  der 
Schaffiitischen  Theologie  gründlich  unterrichtet,  nach  einer  lang- 
jährigen Beschäftigung  mit  der  Vristotelischen  Philosophie  1091  in 
Bagdad  als  Lehrer  auftrat,  endlich  aber  sich  ganz  dem  Ssufismus 
hingegeben  hat,  und  in  klösterlicher  Einsamkeit  in  Tüs  im  J.  IUI 
gestorben  ist.  Sein,  von  Jugend  auf  mächtiges  Verlangen,  die 
verschiedensten  Ansichten  kennen  zu  lernen,  verräth  den  mehr 
sammelnden  als  schaffenden  Geist,  wie  denn  Encyclopädie  und 
Logik  seine  besondere  Stärke  geblieben  sind.  Der  Widerstreit 
der  philosophischen  Ansichten  macht  ihn  irre  an  der  Philosophie 
und  daraus  geht  sein  berühmtes  Werk  hervor:  die  gegenseitige 
Widerlegung  der  Philosophen  (Destructio  philosophorum) ,  die  wir 
durch  die  Widerlegung  des  Averroes  (s.  unten  §.  187)  kennen. 
Nur  als  Vorbereitung  zur  Theologie  lässt  Algazel  sie  später  gel- 
ten. So  in  seinem,  von  seinen  Landsleuten  besonders  geschätzten, 
Werke:  die  Wiederbelebung  der  Religionswissenschaften,  von  dem 
wir  erst  seit  1852  durch  Hitzig  etwas  Genaueres  wissen.  Ein, 
kurz  vor  seinem  Tode  geschriebenes,  von  Schiuölders  in  seinem 
Essai  p.  16  ff.  übersetztes,  Werk  führt  den  ganzen  Bildungsgang 
dieses  Mannes  vor,  wie  er  zuletzt  dazu  kommt  alle  Erkenntnisse 
in  solche  zu  theilen ,  die  der  Religion  nützlich  oder  schädlich  sind. 
Seine  früheren,  besonders  seine  logischen,  Schriften  sind  nament- 
lich von  Juden  sehr  geschätzt  und  darum  frühe  ins  Hebräische 
übersetzt  worden.    Lateinisch  erschien:  Logica  et  philosopliia  AI- 


314  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

gazelis  Arabis  Venet,  1506.  4.  (übers,  von  Liechtenstehi).  Die  An- 
regung, die  seine  „Wiederbelebung"  vielen  seiner  Landsleute  gab, 
ist  für  die  Entwicklung  der  Philosophie  ohne  Bedeutung  geblieben. 

b.  Die  Aristoteliker  in  Spanien. 
Emest  Benan  Averroes  et  l'Averroisme.    Paris  1852. 

§.  186. 
Das  zehnte  Jahrhundert  war  für  Spanien,  namentlich  Anda- 
lusien, das  goldene  Zeitalter.  Religiöse  Toleranz  ohne  Gleichen 
liess  eine  grosse  Zahl  hoher  Schulen  entstehn,  an  welchen  Chri- 
sten, Juden  und  Muselmänner  gleichzeitig  lehrten;  Bibliotheken 
wuchsen  riesenhaft  an  und  auch  eine  Reaction  des  blinden  Fana- 
tisiinis  konnte  den,  einmal  erwachten,  Trieb  nach  "Wissenschaft 
nicht  mehr  ersticken.  Gerade  als  im  Orient  die  Philosophie  ver- 
dorrt, blüht  sie  in  Spanien  recht  auf.  Angeregt  von  AJgazel, 
aber  im  Gegensatz  zu  dessen  späterer  Skepsis  und  Mystik,  lehrt 
Ahn  Bahr  Um  Alsaieyh  Ihn  Bad] eh  (AvempaceJ ^  der,  ein 
Zeitgenosse  des  Abähtrd  (s.  oben  §.  161),  in  Saragossa  geboren 
und  im  J.  1138  gestorben  ist.  Unter  seinen  Schriften,  deren  Re- 
gister Wi'tstenfeUl  (Geschichte  der  Arabischen  Aerzte  und  Natur- 
forscher. Göttingen  1840)  angibt,  ist  seine  „Diät  des  Einsamen" 
berühmt  geworden.  In  ihr,  w'ie  in  anderen  Werken,  wird  durchge- 
führt, dass  durch  die  natürliche  Steigerung  der  Vorstellung  zum 
Denken  u.  s.  w.  der  Mensch  im  Stande  sey,  zur  Erkenntniss  im- 
mer reinerer  Formen  zu  gelangen.  Diesen  selben ,  im  Verhältniss 
zu  Afffuzcl  rationalistischen,  Charakter  zeigt  ein  Schüler  von  ihm 
Ahn  Bclr  Ihn  TofdiJ  (bald  Ahif  hacer ,  bald  TophiiU  genannt), 
geboren  in  Sevilla,  wo  er  gegen  Ende  des  12*™  Jahrhunderts  starb, 
also  ein  Zeitgenosse  des  Johannes  von  SaUsbury  (s.  oben  §.  175). 
Sein  philosophischer  Roman  „der  p]rdensohn",  der  nach  Schmöl- 
ders  eine  Uebersetzung  aus  dem  Persischen,  nach  Anderen  dage- 
gen ein  Original  seyn  soll,  ist  von  Pocork  lateinisch  (Philosophus 
autodidactus) ,  nach  ihm  von  Eichhorn  deutsch  herausgegeben  wor- 
den, und  sucht  zu  zeigen,  dass,  ganz  abgesehn  von  aller  Offen- 
barung, der  Mensch  im  Stande  ist,  zur  Erkenntniss  der  Natur, 
und  durch  sie  Gottes,  zu  gelangen.  Was  ausser  dieser  natürli- 
chen Religion  in  den  positiven  Religionen  vorkommt,  ist  theils 
sinnbildliche  Verhüllung  der  Wahrheit,  theils  Accommodation.  Da 
Beides  für  die  Ungebildeten  und  Schwachen  nothwendig,  so  ist 
trotz  seines  Rationalismus  Abvhacer  ein  Feind  aller  religiösen 
Neuerungen. 


II.  Glanzperiode.     A.  Muselmänner  und  Juden.     Averroes.     §.   187,  1.2.    olo 

§.  187. 

1.  Mit  Abnhacer  befreundet,  mit  den  Schriften  des  Avcmpace 
und  seiner  orientalischen  Glaubensgenossen  so  vertraut,  dass  die 
bewundernde  Nachwelt  Manches ,  was  sie  fanden ,  ihm  zugeschrie- 
ben hat,  ist  Abu  Wulld  M nliaiumed  Ihn  Achmed  Ihn  Mnliam- 
med  Ihn  liosckd  (Averroes).  (Unter  den  vielen  Corruptionen 
seines  Namens,  die  Renan  anführt,  sind  viele,  wie  die  gewöhnliche 
eben  angegebne,  aus  dem  Patronymico  entstanden,  so  Aren  Tlois, 
Areroys,  Benroyst  u.  A.,  andere  aus  dem  Eigennamen ,  wie  i)/c?«- 
hucius ,  Mauviüns  u.  a.)  In  Cordova  im  J.  1120  geboren,  in  Ma- 
rocco  als  Leibarzt  gestorben,  hat  er  während  seines  Lebens  bald 
als  Arzt,  bald  als  Oberrichter  fungirt,  bald  im  intimsten  Verhält- 
niss  zum  Regenten  gestanden,  bald  wegen  verletzter  Etiquette  fast 
wie  ein  Verbannter  gelebt,  in  allen  Lagen  aber  sich  mit  Philoso- 
phie beschäftigt,  und  dadurch  den  Hass  und  die  Verfolgung  sei- 
ner Landslcute  auf  sich  geladen.  Seine  Werke,  deren  Register 
Casiri  a.  a.  0,,  vollständiger  Renan  a.  a.  0.  angibt,  und  von  wel- 
chen, ausser  seinen  Commentaren  und  Paraphrasen  Aristotelischer 
Schriften,  die  gegen  Alyazel  gerichtete  Destructio  destructionis, 
sein  oft  gedruckter  Tractat  de  substantia  orbis,  ferner  de  mundo 
et  coelo,  endlich  de  animae  beatitudine  für  seine  Grundanschauun- 
gen die  wichtigsten,  sind  in  lateinischer  Uebersetzung  zuerst  1472, 
dann  mehr  als  hundert  Mal  gedruckt  worden.  Als  beste  Ausgabe 
gilt  die  Venetianer  vom  Jahre  1553. 

2.  In  entschiedenem  Gegensatz  zu  jeder  Schöpfung  aus  Nichts, 
wie  sie  Johannes  P/.Uoponiis  (s.  oben  §.  146)  vertrat,  und  eben 
so  gegen  den  Amcenna ,  weil  er  die  Formen  au  die  Materie  heran- 
kommen lasse,  behauptet  Averroes,  dass  die  ewige  Materie  die 
Formen  in  sich  enthalte ,  so  dass  sie  bloss  aus  ihr  herausgezogen, 
d.  h.  in  Bewegung  gesetzt  zu  werden  brauchen,  um  wirklich  zu 
seyn.  Die  Ansicht  der  Theologen  aller  drei  Religionen  hebe  eigent- 
lich den  Begriff  der  Natur  auf,  setze  lauter  vereinzelte  Erschaf- 
fungen an  die  Stelle;  dagegen  behaupte  die  Philosophie  nur  ein 
Uebergehn  aus  der  Möglichkeit  in  die  Wirkhchkeit,  so  dass  alles 
Möghche  einmal  wirklich  wird,  ja,  im  Ganzen  der  Ewigkeit  be- 
trachtet ,  bereits  wirklich  ist ,  weil  in  Mitten  der  Ewigkeit ,  wo  der 
Philosoph  steht,  es  kein  Vorher  noch  Nachher  gibt,  so  dass  er 
eigentlich  nicht  sagen  kann,"  dass  die  Unordnung  der  Ordmmg 
vorausgegangen  sey.  Natürlich  ist  dieses  Uebergehn,  da  ewig,  auch 
nothwendig,  und  gilt  des  Avicennu  Behauptung,  der  erste  Bewe- 
ger sey  frei ,  dem  Averroes  als  eine  tadelnswerthe  Nachgiebigkeit 
gegen  die  Orthodoxen.    Zwischen  der  Materie  und  dem  ersten  Be- 


316  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik), 

weger  stellt  Ar.erroes ,  wie  Acicenna,  die  ganze  Reihe  der  We- 
sen, nur  dass  er  den  tliätigen  Verstand  nicht  über  den  Himmel, 
sondern  mit  ihm  als  Eins  setzt,  so  dass  also  der  Himmel,  weil 
er  selbst  Intelligenz  ist,  nach  dem  ersten  Bewegenden  verlangt 
und  sich,  eben  so  aber  alles  unter  ihm  Bcfasste,  ewig  in  kreisför- 
miger Bahn  bewegt.  Eben  so  erkennt  er  es,  nur  erstreckt  sich 
sein  Erkennen  nicht  auf  das  Einzelne,  hat  nur  das  Allgemeine 
zum  Gegenstande.  Eben  darum  ist ,  da  die  Gattungen  und  Arten 
dauern ,  in  dem  Erkennen  kein  Wechsel ,  es  bleibt  sich  ewig  gleich. 
Wie  dem  Himmel,  so  kommt  auch  den  unter  ihm  befassten  Him- 
melskreisen Wissen  zu,  so  dass  es  also  eine  Reihe  von  Intelligen- 
zen gibt,  deren  jede  die  unter  ihr  befindhchen  begreift,  nach  der 
über  ihr  strebt.  Steigt  mau  nun  immer  mehr  ab\Yärts,  so  kommt 
man  endlich  auf  die  Intelligenz,  welche  die  sublunarische  Welt 
durchdringt  und  beseelt.  Dies  ist  der  inleUe.ctus  nnlcersalis ,  an 
welcliem  als  an  dem  allgemeinen  Verstände  die  einzelnen  Men- 
schen Theil  nehmen,  welcher  einerseits  der  allen  Menschen  ge- 
meinsame, andrerseits  aber  als  der  Verstand  oder  Geist  der  sub- 
lunarischen  Welt  beschränkt ,  daher  mulcrlaUs,  ist.  Diese  Intel- 
ligenz, welche  also  in  den  Menschen  denkt  und  den  Mond  und 
Alles  unter  ihm  bewegt,  verbindet  sich  in  dem  einzelnen  Menschen 
mit  den,  an  die  Organe  gebundenen,  Thätigkeiten  oder  dem  in- 
iellectvs  paüens  (passivus),  und  wird  dadurch  zum  inteUectus 
/'actus  oder  receplus.  Dieses  eigenthüinhche  Denken  ist  nun  so 
vorübergehend,  wie  das  einzelne  Individuum  selbst.  Unsterblich 
ist,  wie  die  Menschengattung,  so  auch  der  Geist,  nicht  eines, 
sondern  des,  Menschen. 

3.  Durch  die  Thätigkeit  des  thätigen  (höchsten)  Verstandes 
und  sein  Herantreten  an  den  universellen  (Menschen-)  Verstand, 
entsteht  die  Philosophie,  welche  aber,  wegen  der  Beschränktheit 
des  letzteren,  keine  intuitive,  sondern  nur  eine  mittelbare  Erkennt- 
niss  des  Göttlichen  ist.  Wie  die  beiden  Factoren,  deren  Product 
sie,  so  ist  auch  die  Philosophie  selbst  unsterblich  und  ewig,  die 
Philosophen,  in  denen  sie  existirt,  sind  vergängliche  Exemplare, 
deren  Unsterblichkeit  in  dem  besteht,  was  sie  auch  für  die  Nach- 
welt Gültiges  gefunden  haben.  Diese  Lehre  von  der  Vergänglich- 
keit des  Individuums  ist  nach  Jrerroes  durchaus  der  Sittlichkeit 
nicht  hinderhch.  Vielmehr  befreit  gerade  sie  von  dem  servilen 
Handeln  um  des  Lohnes  und  der  Strafe  willen,  mit  dem  wahre 
Moralität  unvereinbar  ist.  Indess  gibt  er  zu,  dass  Religion  für 
die  Schwachen  nothwendig,  und  warnt  um  so  mehr  davor,  die- 
selbe anzugreifen,   als   sehr  oft  eine  genauere  Betrachtung  zeige, 


n.  Glanzperiode.    A.  Muselmänner  u.  Juden.    ÄTicembron.    §.  188.  189.      317 

(lass  unter  bildlichen  Ausdrücken  Solches  verborgen  sey,  was  auch 
der  Philosoph  behaupte. 

§.  188. 

Auch  in  Spanien  fanden  die  muselmännischen  Philosophen 
viel  weniger  Anklang  bei  ihren  Glaubensgenossen  als  bei  den  Ju- 
den; diese,  welche  schon  etwas  früher  im  südlichen  Frankreich 
durch  Schulen  aller  Art  einen  hohen  Culturgrad  erreicht  hatten, 
fanden  unter  der  maurischen  Herrschaft  in  Spanien  eine  Duldung, 
die  bis  dahin  unerhört  gewesen  war.  Gemeinschaftliche  Sprache, 
Mischehen,  trugen  dazu  bei,  dass  ihnen  bald  auch  die  Lehrämter 
nicht  verschlossen  waren,  und  so  haben,  gleichzeitig  mit  den 
Mauren,  vielleicht  gar  vor  ihnen,  wissenschaftlich  gebildete  Juden 
die  Bahnen  weiter  verfolgt ,  die  in  Bagdad  betreten  waren.  Mintck 
in  Paris  hat  im  J.  1846  bewiesen,  dass  die  im  Mittelalter  so  häu- 
fig citirte  Schrift  Föns  vitae  zu  ihrem  Verfasser  den  Juden  *SV//o- 
7non  heil  Gabirol  (J  ri ccmhronj  hat.  Was  er  aber  für  eine 
hebräische  Uebersetzung  dieses ,  bis  dahin  für  verloren  gehaltenen, 
Werks  erklärt  hat,  scheint  nur  ein  Auszug,  das  Manuscript  der 
Mnzariiic  dagegen  de  raateria  universali,  worüber  Seiier/eln  (Zel- 
lers Jahrbb.  Bd.  15)  berichtet  hat,  eine  vollständige  lateinische 
Uebersetzung  zu  seyn.  In  dialogischer  Form  A\ird  darin  durchge- 
fülu't,  dass  der  Gegensatz  von  Materie  imd  Form,  w^elcher  der- 
selbe sey  mit  dem  des  f/eiuis  und  der  diffcreiitiit ,  eben  so  sehr 
die  sinnliche,  wie  die  sittliche,  Welt  beherrscht,  dass  aber  wie 
über  der  Welt  so  auch  über  jenem  Gegensatze  das  Wesen  der 
Wesen  stehe,  das  el)en  darum  auch  als  das  Materialpriiicip  von 
Allem  zu  nehmen  sey.  Dieser  letzte  Satz,  so  wie  der,  auch  von 
den  Arabern  ausgesprochene,  dass  auch  die  übersinnlichen  Sub- 
stanzen nicht  ohne  Materie  seyen,  ward  später  sehr  bekämpft. 

§.  189. 

Ob  nicht  auch  die  Schrift  de  causis  (auch  als  de  intelligen- 
tiis,  de  Esse,  de  essentia  purae  bonitatis  citirt),  welche  von  dem 
Juden  David  ins  Lateinische  übersetzt,  später  aber  von  den  christ- 
lichen Aristotelikern  in  Vorlesungen  erklärt ,  in  Schriften  commen- 
tirt,  und  fortwährend  citirt  wurde,  ob  nicht  auch  sie  einen  Juden 
zum  Verfasser  habe,  ist  bis  jetzt  nicht  entschieden.  Vieles  spricht 
dafür.  Bei  ihren  Commentatoren  gilt  sie  theils  für  eine  acht  Ari- 
stotelische, theils  für  eine  Coitipilation  des  Juden  DaruJ  aus  Schrif- 
ten des  ArlstcAdcs  und  einiger  Araber ,  theils  endlich  für  ein  spä- 
ter restaurirtes  Werk  des  Prohhis.  steht  aber  im  Wesentlichen 
auf  dem  Standpunkt  des  Föns  vitae,  indem  sie,  ähnlich  wie  Ari- 
ceima ,   die  Uebereinstimmung  der  Religion  und   der  Philosophie 


318  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

noch  energischer  als  jene  Schrift,  festhcält.  Die  Stufenfolge  der 
ersten  Ursache,  die  vor  aller  Ewigkeit,  der  Intelligenz,  die  mit 
der  Ewigkeit,  endheh  der  Seele,  die  nach  der  Ewigkeit  aber  vor 
der  Zeit  ist,  w^eil  die  Zeit  einer  zählenden  Seele  bedürfe  (s.  oben 
§.  88,  1),  ferner  dass  das  Wesen  der  ersten  Ursache  reine  Güte 
sey ,  dass  aus  ihr  als  der  absoluten  Ruhe  die  folgenden  Principien 
emaniren  u.  s.  w.,  alles  dies  zeigt  eine  Verschmelzung  Aristoteli- 
scher und  Alexandrinischer  Vorstellungen,  die  natürlich  Berüh- 
rungspunkte mit  den  Neuplatonikern  (s.  oben  §.  126  ff.)  zeigen 
muss. 

§.  190. 
Gerade  wie  unter  den  Muselmännern  sich  der  supranaturali- 
stischen Richtung  des  Avicenna  die  naturalistische  des  Arerrniis 
entgegen  stellte ,  so  zeigt  sich  (gemildert  freilich)  ein  gleicher  Ge- 
gensatz unter  den  Juden.  Dem  Arcrroi's  dort  entspricht  hier  ein 
Mann,  der  wohl  nicht  bloss  deswegen,  weil  er  mit  yiverroes  aus 
denselben  Quellen  geschöpft  hat,  aus  den  Schriften  des  Ar  empöre 
und  dem  Unterricht  des  Ahiihacrr .  ein  Averroist  genannt  worden 
ist.  Es  ist  der  am  30.  März  1135  in  Cordova  geborene,  im  J. 
1204  gestorbene  Moses  hen  Mainion  (M (limonide s) ,  über  den 
Geiger  eine  gute  Monographie  geschrieben  hat  (Breslau  1835). 
Von  seinen  Schriften,  deren  ausführliches  Register  sich  bei  Oisiri 
(I,  p.  295)  findet,  ist  zu  nennen  sein  Tractat  Aboth,  der  eine 
Sammlung  rabbinischer  Sprüche  enthält,  zu  welchen  Moses  selbst 
eine  Einleitung  in  acht  Abschnitten  geschrieben  hat,  die  seine 
ethischen  (aristotelisch -thalmudischen)  Ansichten  enthält,  beson- 
ders aber  als  die  berühmteste  das  von  Biixtorf  ins  Lateinische 
übersetzte  More  Nevochim  (Doctor  perplexorum).  Es  zeigt  einen 
verständigen,  aller  Mystik  abholden  Mann,  der  in  seinen  Lehren 
von  einer  bloss  generellen  Providenz,  vom  universellen  Verstände 
u.  s.  w.  grosse  Verwandtschaft  mit  Arerroes  zeigt,  und  so  erklär- 
lich macht,  warum  ein  späterer  Verehrer  des  Maimonidcs ,  Spi- 
noza ,  sich  demselben  gleichfalls  annähert.  In  Anderem  weicht  er 
aber  auch  von  Jenem  sehr  ab.  Der  Gang  seines  dreitheiligen 
Werks  ist  dieser:  Nach  einer  kritischen  Sichtung  der  Gottesna- 
men wird  die  Lehre  von  den  göttlichen  Attributen  entwickelt,  da- 
bei sehr  gegen  alles  Authropopathische  polemisirt,  und  daran  die 
Eintheilung  alles  Existirenden  in  Makrokosmus  und  Mikrokosmus, 
Welt  und  Mensch,  angeknüpft.  Eine  kritische  Zusammenstellung 
der  orthodoxen  jüdischen  und  muselmännischen  Lehren  ist  damit 
verbunden.  Im  zweiten  Theile  entwickelt  er  die  Lehren  der  Peri- 
patetiker;  meistens  ihnen  zustimmend,  will  er  doch  keine  Ewigkeit 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Uebersetzer.     §.   191.      319 

der  Welt  «  parte  aide,  sondern  nur  a  parte  post.  Der  dritte 
Theil  betrachtet  den  Endzweck  der  AVelt,  die  göttliche  Vorsehung, 
das  Böse  so  wie  das  demselben  steuernde  Gesetz,  und  schhesst 
mit  Betrachtungen  über  Gotteserkenutniss  und  Gottesgemeinschaft. 

B. 
Der  Aristotclismus  in  der  christlichen  Scholastik. 

Jovrdain    Gieschiohte  ilev  Aristotelischen   Schriften  im  Mittelalter  übers,  von  Ad. 
Stahr.     Halle   1831. 

§.  191. 
Durch  Juden,  welche  fast  allein  in  jener  Zeit,  zunächst  im 
Handels -Interesse,  Reisen  machten  und  fremde  Sprachen  erlern- 
ten, kamen  die  ersten  Xachrichten  von  der  muselmännischen  Weis- 
heit nach  dem  christlichen  Europa.  Lateinische  Uehersetzungen, 
gleichfalls  von  Juden  augefertigt,  sehr  oft  mit  dem  Umwege,  dass 
zuerst  ins  Hebräische  übertragen  ward,  thaten  das  Weitere.  Me- 
dicinische  und  astronomische  Werke  eröffneten  liier  den  Reigen. 
Die  ersteren  finden  an  Constduthiiis  Afrlcunus  schon  in  der  Mitte 
des  eilfteu  Jahrhunderts,  die  zweiten  an  Adelard  von  Bath  ein 
halbes  Jahrhundert  später,  fleissige  Uebersetzer.  Dann  kamen  die 
philosophischen  Werke  an  die  Reihe,  namentlich  seit  lUnjminid 
Erzbischof  von  Toledo ,  Kanzler  von  Castilien ,  sich  der  Sache  an- 
nMim.  AlfanibL  Algazel ,  Anceinui  sind  die  ersten  Autoren,  die 
übersetzt  werden;  der  Archidiaconus  Domhiiviis  Gomalci,  der 
Jude  Johannes  Ben  Daitd  (gewöhnlich  Arendeaf//,  auch  Johannes 
Hispalensis  genannt),  ferner  der  Jude  Dacid  und  Jehuda  Ben 
Tibbon.  „der  Vater  der  Uebersetzer",  sind  die  ersten,  die  sich 
der  Arbeit  unterziehn,  und  ausser  jenen  auch  die  Schrift  de  cau- 
sis  übertragen.  Ausserdem  sind  Alfred  von  Morlay  (Anglkus) 
und  Gerard  von  Cremona  zu  nennen.  Etwas  später  wird  durch 
Michael  Scotus  (geb.  1190)  und  llermanniis  Alemaniins,  oder 
vielmehr  unter  ihrer  Aufsicht ,  an  dem  Hofe  des  durch  seinen  wis- 
senschaftlichen Eifer  eben  so  wie  durch  seine  Heterodoxie  bekann- 
ten Friedrich  II  auch  Acerrocs  ül)ersetzt.  Zugleich  entstehen 
Uehersetzungen  der,  bis  dahin  gar  nicht  gekannten.  Aristotelischen 
Metaphysik  und  seiner  physikalischen  Schriften.  Alle  aus  dem 
Arabischen,  denn  vor  1220  kommen  keine  anderen  vor.  llobert 
(Grcathcad ,  Grosse -tele)  (1175 — 1255),  zuerst  Lehrer  in  Paris 
und  Oxford,  dann  Bischof  von  Lincoln,  wird  als  einer  der  Ersten 
genannt,  welcher  dafür  gesorgt  habe,  dass  Uehersetzungen  aus 
dem  Griechischen  gemacht  wurden;  er  selbst  hat  u.  A.  apokryphi- 
sche  Schriften ,  wie  das  Testament  der  zwölf  Patriarchen,  übersetzt. 


320  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Nach  ihm  sind  die  Dominikaner  Thomas  von  Cantimpre  und  Wilhelm 
von  Moerbeka  zu  nennen,  an  die  sich  dann  Andere  angeschlossen 
haben.  Ho  ff  er  Baco  spricht  allen  diesen  Uebersetzern  die  gründ- 
liche Kenntniss  sowol  des  Arabischen  als  des  Griechischen  ab. 

§.  192. 
Dass  Ddvid  von  Dhianlo  ein  Buch  de  divisionibus  ge- 
schrieben hat,  und  dass,  als  im  J,  1209  seine  Lehre  verdammt 
ward,  zugleich  das  Anathem  über  Amalrlch  (s.  oben  §.  176)  er- 
neut wurde,  hat  dahin  gebracht  den  David  zu  einem  Schüler 
Amalrichs  zu  machen,  der  gleich  diesem  auf  Eriffena  zurückge- 
gangen sey.  Hätte  man  (wie  Kränlein  in  den  Studien  und  Kriti- 
ken mit  Recht  thut)  mehr  Gewicht  darauf  gelegt,  dass  in  das 
Verdammungsurtheil  über  ihn  auch  das,  ub&r  des,  Aristoteles  phy- 
sikalische Schriften  und  die  Commentare  dazu,  hineingenoramen 
ist,  und  dass,  bei  der  Erneuerung  dieses  Urtheils  im  J.  1215  ne- 
ben dem  Dfirifl  auch  ein  Mavritivs  Htspanns  verdammt  wird,  so 
wäre  man  zu  der  riclitigern  Ansicht  gekommen  —  (gesetzt  auch 
Mavriliiis  W'äre  nicht  Manriliiis  d,  h.  Arerroi's ,  s.  oben  §.  187, 
1)  —  dass  er  seine  Anregung  und  seinen  Pantheismus  von  mauri- 
schen Commentatoren  des  Arisfofelrs  empfangen  habe,  wofür  auch 
dies  spricht,  dass  er  oft  den  Ana.vimeii.es .  Demoln'H ,  Pliilareh, 
Orpheus  u.  A.  citirt,  deren  Namen  die  Araber  oft  anführen,  so  wie 
dass  Albert  d.  Gr.  seinen  Pantheismus  von  dem  des  Xenopharies 
ableitet.  Auch  seine  Classification  der  Dinge  in  materialia ,  spi- 
ritvalia  und  separafa,  welche  den  drei  P)egriffen  des  SKseipiens, 
mevs  und  Dens  parallel  gehen ,  streitet  nicht  mit  der  Annahme, 
dass  David  der  Erste  ist,  der  sich  als  Schüler  der  Muselmänner 
gerirt,  und  der  eben  darum  das  IjOos  des  Neuerers  erfährt,  wie 
vor  ihm  die  Gnostiker  (s.  oben  §.  122  ff.)  und  Eriffena  (s.  oben 
§.  154).  Seine  Reduction  der  drei  Principien  der  Platoniker,  von 
welchen  er  ausgeht,  auf  ein  einziges,  wodurch  Gott  zuletzt  auch 
zum  Materialprincip  aller  Dinge  gemacht  wird ,  ist  wohl  nicht  mit 
Unrecht  als  eine  Entlehnung  aus  dem  fons  vitae  angesehen  worden. 
Dass  im  Jahre  1209  die  physikalischen  Schriften  des  Aristoteles, 
im  J,  1215  sie  und  seine  Metaphysik  von  der  Kirche  verdammt 
•werden,  im  J.  1231  nur  das  Lesen  über  sie  bis  auf  Weiteres  un- 
tersagt wird,  im  J.  1254  aber  ohne  Widerspruch  der  Kirche  die  Pa- 
riser Universität  die  Zahl  der  Stunden  bestimmt,  die  der  Erklärung 
der  Metaphysik  und  der  hauptsächlichsten  physikalischen  Schriften 
des  Aristoteles  gewidmet  seyn  soll,  ja  dass  noch  kein  Jahrhundert 
nachher  die  Kirche  selbst  erklärt.  Niemand  solle  Magister  werden, 
der  nicht  über  den  Aristoteles ,  diesen  praecursor  Christi  in  na- 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     §.  193.  321 

iuralihns  sicvt  Joannes  Bnptisfa  in  grniuiüs ,   gelesen  habe,    dies 
zeigt  abermals ,  wie  consequent  die  Kirche  die  Zeiten  unterscheidet. 

§.  193. 

Wie  bei  den  Gnostikern,  bei  Origcnes ,  bei  Erigenn ,  so  ver- 
bindet sich  auch  hier  mit  der  Heterodoxie,  die  in  der  Neuerung 
als  solcher  liegt ,  bei  denen ,  welche  sich  von  den  Antichristen  be- 
lehren lassen,  eine  Neigung  zu  Behauptungen,  welche  die  Kirche 
nicht  dulden  kann.  Wie  bald  nach  dem  Bekanntwerden  der  Ari- 
stotelischen Schriften  und  ihrei-  Commentatoren ,  an  der  Pariser 
Universität,  namentlich  bei  der  Artisten  -  Facultcät  naturalistische 
Tendenzen  im  Sinne  des  Arcrroes  und  ihm  gleichgesinnter  Musel- 
männer sich  offenbarten,  dafür  spricht  der  Umstand,  dass  nicht 
nur  der,  in  diesen  Studien  nicht  unbewanderte  Bischof  Wilhelm 
(von  Auvergne) ,  dagegen  eifert ,  sondern  dass  die  Universität  selbst 
öfter  das  Hineinmischen  der  Philosophie  in  die  Theologie  verbietet. 
Nicht  mit  Verdammungsurtheilen  und  Verboten,  sondern  in  einer 
wirksameren  Weise,  suchen  die  Dominicaner  und  Franciscaner  die 
Gefahr,  welche  der  Kirche  von  den  Neuerern  droht,  zu  beseitigen. 
Ihr  Kampf  um  die  Lehrstühle  der  Universität  und,  als  sie  diese 
erkämpft  ha])en,  um  die  förmliche  Aufnahme  in  die  akademische 
Corporation,  ist  nicht  bloss  aus  ihrem  Ehrgeize  zu  erklären,  son- 
dern mehr  noch  aus  dem  Verlangen,  dem  kirchenfeindlichen  Trei- 
ben der  Neuerer  entgegenzutreten,  und  es  mit  seinen  eignen  Waf- 
fen, mit  der  Autorität  des  Aristo! des  und  Aricenna  zu  schlagen. 
Dass  gerade  die  Glieder  der  beiden  Bettelorden  sich  in  dieser  Pe- 
riode als  die  Wortführer  in  der  Philosophie  zeigen ,  darf  nicht  be- 
fremden. Ihnen,  diesen  Geisthchsten  unter  den  Geistlichen,  ziemte 
es  vor  Allem,  den  geisthchen  Charakter,  den  (s.  oben  §.119.  120) 
das  Mittelalter  trägt,  der  Philosophie  aufzuprägen;  ihnen,  die  das 
stehende  Heer  der  Kirche  bildeten ,  lag  es  mehr  als  allen  Uebrigen 
ob,  auch  die  Philosophie  in  eine  ganz  kirchliche  Wissenschaft  zu  ver- 
wandeln, wie  dies  oben  (§.  151)  als  die  Bestimmung  der  Scholastik 
angegeben  wurde.  Beides  war  sicherlich  dann  am  Meisten  erreicht, 
wenn  der  grösste  der  Weltweisen  mit  dem,  was  er  über  die  sinn- 
liche und  sittliche  Welt  ergrübelt  hatte,  und  wenn  die,  welche 
ihm  seine  Waffen  abgeborgt  hatten ,  um  damit  die  Lehre  des  Anti- 
christs  zu  vertheidigen,  wenn  diese  dazu  gebracht  wurden,  Zeug- 
niss  abzulegen  für  die  Dogmen  und  Decretalen  der  lürche. 

§.  194. 

Die  Aufnahme  des  Aristotelismus  in  die  Scholastik  darf  ein 
Fortschritt  nur  genannt  werden,  wenn  Nichts  von  dem  verloren 
geht,  was  die  früheren  Scholastiker  erobert  hatten,   dagegen  Sol- 

Erdmann,  Gesch.  d.  Phil    I.  Ol 


322  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ches,  was  bei  ihnen  fehlt,  hinzukommt.  So  aber  ist  es  wirklich: 
Indem  jetzt  die  Uebereiustimmung  der  kirchhchen  Lehre  mit  der 
Peripatetischeii  Philosophie  dargestellt  wird,  welche,  was  der  na- 
türliche Verstand  sagt,  auch,  ausserdem  aber  noch  vieles  Andere, 
weiss,  bildet,  was  bei  Ansclm  Alles  gewesen  war,  bei  den  jetzt 
Kommenden  nur  einen  Theil  der  Aufgabe.  Hatte  am  Schluss  der 
vorigen  Peiiode  gerade  durch  die  Theilung  der  scholastischen  Auf- 
gabe die  dialektische  Fertigkeit  einen  Grad  erreicht,  von  der  Eri- 
gena  weit  entfernt  war,  die  Frage  nach  den  Universahen  eine  viel 
bestimmtere  Fassung  und  viel  mehr  mögliche  Lösungen  erhalten 
als  bei  An  sehn ,  war  dabei  der  dogmatische  Stoff  zu  immer  ausführ- 
licheren Repertorien  angewachsen,  und  die  Erkenntniss  der  Gott- 
heit nicht  nur  als  das  Ziel  des  Gläubigen  bestimmt,  sondern  auch 
die  zu  durchlaufenden  Zwischenstufen  genau  angegeben,  so  zeigen 
die  scholastischen  Franciscaner  und  Dominicaner  des  dreizehnten 
Jahrhunderts,  indem  sie  die  Aufgabe  in  ihrer  Ganzheit  ^^ieder 
aufnehmen,  sich  in  jedem  ßestandtheile  derselben,  jenen  Einseiti- 
gen überlegen.  In  der  Kunst  zu  distinguireu  sind  Alexander,  Al- 
bert, T/ionuis  den  puris  pf/ilosop/ns  weit  überlegen,  sie  üben  die- 
selbe aber  so ,  dass  sie  immer  zugleich  die  Widersprüche  unter  den 
Autoritäten  der  Kirche  lösen.  Wie  es  sich  mit  Substanzen,  Sub- 
sistenzien  und  Universalien  verhalte,  das  hat  für  sie  ein  Interesse 
wie  für  (>UI>ert ,  aber  sie  betrachten  zugleich  andere  metaphysische 
Probleme,  und  auch  jenes  führt  sie  nicht  von  dem  Dogma  ab,  son- 
dern zu  einer  orthodoxen  Begründung  desselben.  Die  Summen  fer- 
ner des  Ui!<jo,  der  drei  Pciri,  des  PuUus  und  Alunns  zeigen 
lange  nicht  die  Belesenheit  als  die  der  drei  eben  Genannten,  und 
zugleich  fallen  die  Entscheidungen  derselben  viel  bestimmter  aus, 
als  die  jener.  Keiner  von  ihnen  endlich  steht  an  inniger  Fröm- 
migkeit dem  Iiu/arrd  von  St.  Victor  nach,  und  wie  genau  diese 
Periode  vermochte  die  Reise  der  Seele  zu  Gott  /ü  beschreiben,  das 
beweist  Bonarenhird.  Dieses  Hinausgehen  über  die  früheren,  ohne 
Etwas  fallen  zu  lassen,  was  dieselben  errangen,  hat  zu  seiner  na- 
türlichsten Form,  dass  die  eignen  Untersuchungen  an  die  der  Ael- 
teren,  als  an  den  Ausgangspunkt,  angeknüpft  werden.  Es  ist  also 
mehr  als  bloss  conventioneller  Gebrauch,  wenn  Sentenzensammlun- 
geu  der  vorhergegangenen  Periode,  oder  wenn  Gilberts  Buch  de 
sex  principiis  commentirt  werden,  um  die  eignen  Lehren  zu  ent- 
wickeln, so  dass  sich  die  Summen  des  dreizehnten  Jahrhunderts  zu 
denen  des  zwölften  etwa  so  verhalten,  wie  zu  des  Sablnns  libris 
juris  civilis  die  Commentare  der  späteren  römischen  Juristen.  An 
die  Stelle  der  Senteiizeu- Sammler  treten  hier  tue,  auf  ihi'en  Schul- 


U.    Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Alexander.    §.  195,  1.      323 

tern  stehenden,  Summen  -  Vertlieicliger ;  zu  den  Summisten  verhal- 
ten sich  diese  Sententiarier  ungefähr  so,  wie  sich  zu  einem  Atha- 
nasius  ein  Anselm  verhalten  hatte.  Dieses  ihres  Unterschiedes  sind 
sie  sich  auch  bewusst ,  indem  sie  ihre  selbstständigen  Werke  nicht 
als  Summae  seutentiarum ,  sondern  als  Summae  theologicae  be- 
zeichnen. Der  Erste,  welchem  es  gelingt,  die  Theologie  des  zwölf- 
ten Jahrhunderts  nicht  bloss  durch  natürliches  Räsonnement,  son- 
dern mit  den  Grundsätzen  der  peripatetischen  Philosophie  der  Un- 
gläubigen zu  vertheidigen ,  erhielt  den  durch  die  Grösse  seiner 
Aufgabe  gerechtfertigten  Beinamen  des  Theologornm  Moiiarcha. 
Es  ist  der  Franciscaner  Alexander  von  Haies. 

§.  195. 
Alexander. 
1 .  Alex (I  n der  de  Ales  (oder  Hnles,  daher  bald  Alensis,  bald 
Halensis  genannt),  ein  in  England,  in  der  Grafschaft  Glocester 
geborner  Mann,  der  als  der  berühmteste  Lehrer  in  Paris  in  den 
Franciscanerorden  trat,  und  im  J.  1245  starb,  ist  der  Erste,  bei 
dem  wir  nachweisen  können,  dass  er  Avicenna  und  Algazcl  (als 
Argazel .  Arghasel  u.  dgl.)  öfter  citirt.  Ob  er  bei  den  von  ihm 
bekämpften  Philosophen,  welche  die  Ewigkeit  der  Welt  lehren,  ob 
namentlich  da,  wo  er  die  Unsterbhchkeit  der  Seele  gegen  den 
Arabs  vertheidigt,  an  den  Averroes  gedacht  hat,  ist  kaum  zu 
entscheiden.  Er  soll  einen  Commentar  zu  des  Aristoteles  Schrift 
über  die  Seele  geschrieben  haben;  gewiss  ist.  dass  er  dessen  Me- 
taphysik gekannt  hat,  da  er  sie  .oft  citirt.  Die  Nachricht  bei  Bti- 
läns,  dass  er  zuerst  die  Sentenzen  des  Lombarden  commentirt 
habe,  womit  die  Angabe  des  P.  Posser  in  übereinstimmt,  der 
Alexander  Halensis  in  Mag.  Sent.  citirt,  hat  Viele  dazu  verleitet, 
Alexanders  Summa  theologica  als  diesen  Commentar  anzusehen. 
Das  ist  sie  nicht;  in  der  Bibliotheca  ecclesiastica  ed.  Fabricius 
Hamb.  1718  wird  in  einem  Scholio  des  Miraeus  zu  Henr.  Gandav. 
de  Script,  eccles.  gesagt,  ausser  der  Summa  \i?^}[)Q  Alexander  Com- 
mentare  zu  den  vier  Büchern  der  Sentenzen  geschrieben ,  und  die- 
selben seyen  Lugduni  1515  edita.  Ich  habe  sie  nicht  zu  Gesichte 
bekommen,  muss  auch  ehrlich  gestehn,  dass  ich,  wie  Viele  vor 
mir,  die  Existenz  eines  solchen  Werks  für  eben  so  unwahrschein- 
lich halte,  als  die  einer  Summa  virtutum,  die  man  auch  dem 
Alexander  zugeschrieben  hat.  Eben  so  wenig  kenne  ich  die  ebendas. 
angegebene  Ausgabe  der  Summa  theologica  Venet.  1577  in  nur  drei 
Foliobändeu.  Ich  kenne  bloss  die  in  \ier  Bänden,  gedruckt  bei 
Koburger  in  Nürnberg  1482.    Die  Summa  theologica  citirt  zwar  oft 

21  * 


324  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

den  Lombarden ,  schliesst  sich  aber  bei  Weitem  enger  an  die  Schrift 
de  sacramentis  christianae  fidei  des  Huyo  an  (s.  oben  §.  165,  5), 
deren  Eintheilung  z.  B.  sie  adoptirt.  Auch  die  Summa  sententia- 
rum  desselben  Verfassers  wird  mindestens  eben  so  oft  citirt  als 
die  Sentenzen  des  Lombarden,  und  von  einem  Commentiren  des 
Letzteren,  wie  bei  den  späteren  Scholastikern,  ist  hier  keine  Rede. 
2.  In  dem  ersten  Theile,  der  vier  und  siebenzig  Qnaestloncs 
enthält,  die  alle  wieder  in  mehrere  mcmbra,  die  letzteren  wieder 
manchmal  in  articitU  zerfallen,  wird  zuerst  auf  den  Unterschied 
aufmerksam  gemacht,  dass  in  loyic'is  die  Vernunft  und  der  Beweis 
den  Glauben  hervorbringe,  in  Üicolngiris  dagegen  der  Glaube  den 
Beweis  liefere,  dann  mit  Anknüpfung  an  Ansei  ms  ontologisches 
Argument  von  der  Wirklichkeit  Gottes,  weiter  von  seinem  Wesen, 
seiner  Unveränderlichkeit ,  Einfachheit,  ünermesslichkeit,  Einheit, 
Wahrheit,  Güte,  Macht,  Wissen  und  Wollen  gehandelt.  Dabei 
wird  immer  dieser  Gang  befolgt,  dass  zuerst  eine  Frage  aufge- 
Avorfen,  dann  die  bejahenden  und  verneinenden  Antworten  ange- 
führt werden.  Diese  sind  theils  anloriidies ,  d.  h.  Bibelsprüche 
und  Aussprüche  berühmter  Kirchenlehrer  (Aiiyusiln,  Ambrosiiis, 
Cypriauifs .  Jlierovymvs ,  Bfisiliirs,  Gregor  ron  Nttcianz,  Dlojty- 
sius,  Gregor  der  Grosse,  Joh.  Danntscrniis ,  Beda,  Alcitin ,  Aii- 
selm ,  JLkjo  und  Victor  }:oji  Sl.  Vicfor,  der  h.  Bernhard,  der 
Lombarde  u.  A.),  theils  rationes.  d.  h.  Lehren  der  Philosophen 
(P/ato,  P/filosopI/iis  d.h.  Arisloleles,  Hermes  Trismeyislos,  Cicero, 
Macrobivs,  Gafeuvs,  Boetlrius ,  Casslodorus,  Aviceniut,  Algazcl, 
Föns  vifae,  Tsaac ,  Philosaplms  de  cdiisis  u.  s.  w.).  Darauf  folgt 
die  Entscheidung;  oft  sehr  bestimmt,  manchmal  aber  auch  sine 
praejudicio,  mit  der  Warnung  Nichts  zu  entscheiden,  denn  wo  die 
Heiligen  Nichts  entschieden  hätten,  sey  jede  Ansicht  bloss  Mei- 
nung. Eine  sehr  wichtige  Rolle  spielen  bei  den  Entscheidungen 
die  verschiedenen  Bedeutungen  der  Worte ,  sowie  die  Distinctionen 
secundiim  cpud,  die  bis  dahin  Keiner  so  weit  getrieben  hatte,  wie 
Alexander.  So  ist  die  Schöpfung  als  Uebergang  vom  Nichtseyn 
zum  Seyn  allerdings  eine  mnfatio,  aber  nur  e.v  parle  creaturae, 
nicht  ex  parte  Dei.  Den  eben  angegebenen  Untersuchungen  schlies- 
sen  sich  die  über  die  verschiedenen  Namen  an ,  die  sowol  dem  gött- 
lichen Wesen  als  den  drei  Personen  in  ihm  beigelegt  werden,  und  na- 
mentlich wird  sehr  genau  erörtert,  ob  der  Ausdruck :  Gott  sendet  den 
heiligen  Geist,  einen  Vorgang  in  der  Trinität ,  oder  einen  bezeichne, 
der  nur  die  eine  Person  betrifft.  Von  der  missio  actice  dicta  wird 
die  passive  dicta  ^  von  der  unsichtbaren  Sendung  die  sichtbare, 
innerhalb  dieser  die  Incarnation  und  Erscheinung  in  Taubengestalt, 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristo telik er.    Alexander.    §.  195,  2.  3.      325 

unterschieden,  und  gezeigt  warum  nur  jene,  nicht  diese  in  einem 
Sacramente  sich  fortsetze.  Kaum  in  irgend  einer  anderen  Partie 
zeigt  Alexander  solchen  Scharfsinn  im  Distinguiren ,   wie  hier. 

3.  Der  zweite  Theil   zerfällt  in  ein  hundert  und  neun  und 
achtzig  Quästionen,   deren  jede,   mit   Ausnahme  zweier,   mehrere 
(zwei  bis  dreizehn)  membra  enthält.     Den  Inhalt  bildet  die  Lehre 
von   der   Creatur,    und   zwar  in   den  ersten  achtzehn  Quästionen 
die  Creatur  überhaupt,   von  der  neunzehnten  an  die  Eiigel.    Bei 
Gelegenheit   der  Frage   nach   der  Persönlichkeit   der  Engel   wird 
Aristoteles  als  Gewährsmann  angeführt,   dass  indh'uhätas  est  a 
inateria  rel  ab  nccidenie ,  was  aber  auf  die  Engel  keine  Anwendung 
finden   soll.     Mit  der  vier  und  vierzigsten  Quästion  geht  Alexan- 
der zu   den  körperhchen  Dingen  über.     Die  Materie  wird   nicht 
formlos,  sondern  alle  P'ormen  als  möglich  enthaltend  genannt;   ihr 
werden  die  Ideen,  deren  Inbegriff  Gott  ist,  eingepflanzt,  und  wer- 
den so  zu  mrklichen  Formen.    Das  Schöpfungswerk  wird  nach  den 
sechs  Tagen  betrachtet  und  dabei  die  spitzfindigsten  Fragen  und 
Zweifel  besprochen.    Mit  der  neun   und  fünfzigsten  Quästion  be- 
ginnt die  Betrachtung  der  Seele ,  aber  wie  es  heisst  nur  unter  dem 
theologischen  Gesichtspunkt ,  daher  kommt  es,  dass  unter  den  vie- 
len Definitionen   der  Seele  die  Aristotelische  nicht  vorkommt  und 
erst   später  ganz   flüchtig   berührt   wird.     Im  Gegensatz   zu  den 
Häretikern ,  welche  die  Seele  aus  der  göttlichen  Substanz ,  und  zu 
Philosophen,  die  sie  aus  körperlichem  Stoffe  ableiten,  erklärt  sich 
Alexander  für  ihre  Schöpfung  aus  Nichts  und  erst  darauf  folgende 
Verbindung  mit  dem  Körper,   welche  letztere  durch  gewisse  Me- 
dien  vermittelt  ist,   von  denen  lumor  und  sjnritus  dem  Körper, 
regetabilitas  und  sensibUitas  der  Seele  beigelegt  werden.     Darum 
soll  nur  sehr  bedingt  die  Verbindung  beider  der  zwischen  Materie 
und  Form  gleichen.     Die   einzelnen  Vermögen   der  Seele  werden 
ausführlich    durch-   und    ein    dreifacher    infellectus   angenommen, 
der    materiaiis    welcher    inseparabilis ,    der   possibtlis   der   sepa- 
rabilis    und    der    agcns    welcher   separatus   a   corpore    ist.     Die 
Lehre  von  dem  freien  Willen,  den,  als  das  eine  Stück  im  Erlösungs- 
werke, die  heidnischen  Philosophen  eben  so  wenig  begreifen  sollen, 
wie  das  zweite  Stück  die  Gnade,   wird  sehr  ausführlich  abgehan- 
delt, die  von  einander  abweichenden  Ansichten  des  Anytistin,  Jliigo 
und  Bernhard  als  durch  die  verschiedenen  Bedeutungen  des  Worts 
berechtigt,   zusammengestellt.    Dann  wird  zur  Lehre  vom  Gewis- 
sen übergegangen  und  zwar  zuerst  zur  sinder esis,  dieser  scintilla 
(onscieutiue  nach  Basilius,  Gregor  und  lUei'onymKs.  welche  als  der 
natürliche  Zug  zum  Guten  bezeichnet  werden  kann ,  im  Gegensatz 


326  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

zur  Sinnlichkeit,  die  zum  Bösen  verlockt.  An  sie  schliesst  sich 
die  cniiscienüu,  die  durch  ihre  Verwandtschaft  mit  der  Vernunft 
neben  ihrem  praktischen  Charakter  auch  einen  theoretischen  hat, 
zugleich  aber  dem  Irrthum  zugänglich  ist.  Mit  der  acht  und  sieb- 
zigsten Quaestion  wird  zu  der  Betrachtung  des  menschlichen  Lei- 
bes zuerst  des  Adam,  dann  der  Eva  übergegangen  und  von  der 
neun  und  achtzigsten  Quästion  an  der  ganze  (coitjnvctifsj  Mensch 
von  Seiten  seiner  Leidenschaftlichkeit,  Sterblichkeit  u.  s.  w.  be- 
trachtet, dabei  eine  Menge  von  Fragen  aufgeworfen,  die  den  Fall 
betreffen,  dass  der  Mensch  seine  Unschuld  nicht  verlor.  Die  Frage, 
in  wiefern  die  yraüa  gratis  dafa  und  die  gratid  gratinn  faviens 
dem  ersten  Menschen  bei  der  ersten  Schöpfung  zu  Theil  geworden, 
ferner  die  nach  der  graüa  superaddiia  wird  ausführlich  betrach- 
tet, eben  so  die  über  sein  erleuchtetes  Wissen.  \m  Ganzen  wird 
der  Gesichtspunkt  festgehalten,  dass  der  paradiesische  Zustand  die 
Mitte  bilde  zwischen  dem  des  Elends  und  der  allendlichen  HeiT- 
lichkeit.  Die  Herrschaft  des  Menschen  über  die  Welt,  und  von 
der  hundertsten  Quästion  an  (las  Böse,  wird  weiter  betrachtet.  Dass 
es  nur  eine  vwtsa  deficicns  habe  und  doch  im  lihero  arbitrlo  ge- 
gründet sei,  wird  vereinigt,  und  nachdem  über  sein  Wesen,  seine 
Zulassung,  gesprochen  ist,  in  der  hundert  und  neunten  Quästion 
zum  Fall  Lucifers  übergegangen.  Worin  derselbe  besteht,  worin 
er  seinen  Grund  hat,  wann  er  Statl  hatte,  wie  er  gestraft  wird, 
wie  andere  Engel  an  ihm  Theil  nehmen,  wie  Teufel  und  Dämonen 
als  Versucher  wirken  u.  s.  w.  wird  in  der  einmal  feststehenden 
Weise  besprochen  und  dann  durch  die  Versuchung  der  Uebergang 
gemacht  zu  der  Sünde  des  Menschen  (Qu.  120 — 189).  Nach  den 
drei  Fällen,  dass  die  Person  die  Natur  oder  die  Natur  die  Person 
oder  endlich  die  Person  die  Person  verderbt,  wird  das  pecmfinn 
prhnonun  jxirentiim ,  originale  und  actuale  unterschieden.  Das 
letztere  wird  am  ausführlichsten  betrachtet,  der  Unterschied  der 
Tod-  und  der  erlösslichen ,  der  Unterlassungs -  und  Begehungs- 
Sünden  wird  fixirt  und  dann  nach  einander  die  Sünden  der  Gedan- 
ken, Worte  und  W^erke  betrachtet,  und  hier  aus  der  Dreiheit  im 
Menschen  spirittts,  unima,  corpus,  die  sieben  Hauptsüuden  (sn- 
perbia,  ararilia,  luxuria,  iiividia,  gula ,  ira ,  acedia;  die  An- 
fangsbuchstaben geben  das  Wort  Saligia)  und  ihre  Tochtersünden 
abgeleitet.  Nach  den  Schw-achheits-  und  Irrthums  -  Sünden  wird 
die  Sünde  gegen  den  heiligen  Geist,  nach  dieser  die  Idolatrie  (wo 
zugleich  von  der  Toleranz  gegen  Juden  und  Heiden  die  Rede  ist), 
Häresie,  Apostasie,  Heuchelei,  Simonie  und  Kirchenraub  abgehan- 


II.  Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Alexander.    §.  195,  i-  5       327 

delt,   womit   die  harmatologisclien  Untersuchungen  und  der  erste 
Haupttheil  des  Werks  scliliesst. 

4.  Der  zweite,  welcher  nach  Hugo  das  opus  reparationis  be- 
trachtet, beginnt  mit  dem  dritten  Bande.   Gerade  wie  oben  zuerst 
der  Schöpfer  und  dann  sein  Werk  betrachtet  Avard,  gerade  so  hier 
zuerst  der  Erlöser,  dann  das  Erlösungswerk.     Die  ersten  fünf  und 
zwanzig  Quästiouen  besprechen  die  Möglichkeit  und  Zweckmässig- 
keit der  Incarnation,    den  Antheil,   den  jede  Person  der  Trinität 
daran  hat,   die  Vereinigung   des  Göttlichen   und  Menschlichen  in 
Christo,   die  Heiligung  seiner  Mutter  schon  im  Schoosse  der  ihri- 
gen, Christi  Annahme  der  menschlichen  Beschränktheit,  seine  Liebe, 
seinen  Tod,   die  Frage,   ob   er  wo  Leil)  und  Seele  sich  trennten 
noch  Mensch  war,  seine  Verklärung,  Auferstehung,  Himmelfahrt, 
Wiederkunft.     Die  sechs  und  zwanzigste  Quästion  beginnt  mit  der 
Bemerkung,   die  freilich   zur  ganzen  Gliederung  des  Werks  nicht 
recht  passt,  dass  die  Theologie  theils  jidem .  theils  mores  betreffe 
und  dass  jetzt ,   nachdem  von  jenen  gehandelt ,   zu  diesen  überzu- 
gehn  sey,  darum  zuerst  zur  Bedingung  aller  Sittlichkeit  zum  Ge- 
setz (Qu.  26 — 68).     Zuerst   kommt  die  lex  aefenia  zur  Sprache, 
die  mit  dem  göttlichen  Willen  zusammenfällt,   und  von  der  sowol 
die  lex  indUa  oder  ludnralis  als  die  lex  add'da  oder  scripta  ab- 
hängig ist.    Unter  der  letzteren  wird  zuerst  das  Gesetz  Mosis  be- 
trachtet,   sowol  der  Theil,   der  die  lex  mornlis  enthält,  d.h.  der 
Dekalog,    als   auch   die   lex  jndicUitis  (Qu.  40 — 53)  und  ceremo- 
nkdis  (Qu.  54  —  59).     Es  folgen   darauf:    lex  et  praecepta  evaii- 
gelii,   deren  Verhältniss  zum   natürlichen  imd  mosaischen  Gesetz, 
deren  Eintheilung  in  praecepta  und  coi}s'dia.  je  nachdem  es  sich 
um  opcra   necessdatis  oder  siipererogidionis  handelt,   angegeben 
wird.    Die  ersteren.  werden  in  dieselben  Arten  zerlegt  wie  die  Alt- 
testamentlichen  Gesetze,   nur  dass  hier  an  die  Stelle  der  Ceremo- 
nien  die  Sacramente  treten,   die  nicht  nur,  wie  die  Gesetze,  leh- 
ren was  zu  thun,  sondern  auch  Kraft  dazu  geben.    Darum  machen 
sie  den  Uebergang  zur  Gnade ,  von  der  von  der  neun  und  sechzig- 
sten Quästion  an,    die  Rede  ist.     Ihre  Nothwendigkeit ,   ihre  Em- 
pfänger ,  ihre  Eintheilung  in  gratia  gratis  data  und  gratvm  facicns, 
wird  angegeben,  dann  zu  ihren  ersten  Wirkungen  der  fides  infor- 
inis.  spes  informis  und  timor  serrilis,  von  da  zu  den  eigentlichen 
Tugenden,   der  fdcs  formata\   spes  formata  und  Caritas  überge- 
gangen.   Nur  der  Glaube,   sowol  nach  seinem  Subject  als  Object, 
wird  in  diesem  Bande  aljgehandelt.     Als  01)ject  des  Glaubens  wird 
der  Inhalt  der  drei  ökumenischen  Symbole  angegeben. 

5.  Der   vierte  Band   des  Werks  macht  den  Eindruck,   als 


328  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

finde  eine  Lücke  Statt  zmschen  seinem  Anfange  und  Dem,  womit 
der  dritte  schloss.  Er  behandelt  in  hundert  und  vierzehn  Quästio- 
nen  die  Heilmittel,  und  zwar  ganz  wie  dies  bei  Hugo  geschehen 
war,  zuerst  die  sucrumenta  udluraHs  legis  (Opfer  u.  s.  w.),  dann 
die  der  lex  Moijsis  (Beschneidung ,  Sabbathsfeier  u.  s.  w.) ,  endlich 
die  der  lex  emngcliea.  Das  Sacrament  wird  als  slgniim  graiiae 
gratis  datae  definirt;  in  ihrer  Siebenzahl  sollen  die  Sacramente 
den  sieben  Haupttugenden  correspondiren ,  die  zu  stützen  sie  be- 
stimmt sind.  Qu.  9 — 23  behandeln  die  Taufe,  24 — 28  die  Con- 
firmation,  29  —  53  das  Abendmahl,  wobei  die  ganze  Messordnung 
sehr  ausführlich  abgehandelt  und  in  allen  ihren  Zügen  gedeutet 
wird.  Es  folgt  (Qu.  54  — 114)  das  Sacrament  der  Busse,  deren 
einzelne  Bestandtheile  contritio  (von  der  wie  schon  früher  bei 
Alauns  die  aitritio  unterschieden  wird),  confcssio  und  saiisj actio 
durchgenommen  werden.  In  der  letzten  werden  als  die  einzelnen 
Momente  oratio,  jcjuninm  und  elecmosync  unterschieden;  mit  der 
letzteren  schliesst  der  Band.  Mindestens  einer ,  vielleicht  mehrere, 
hätten  ihm  folgen  müssen,  wenn  Alles,  was  im  Anfange  des  drit- 
ten Bandes  als  Gegenstand  angegeben  ist,  die  sacramenta  salutis 
per  praesentem  gratiam  et  praemia  sali/tis  per  firliiram  gloriam 
in  gleicher  Ausführlichkeit  abgehandelt  wäre,  wie  bisher.  Bedenkt 
man,  dass  Alexander  der  Erste  war,  der  dieses  dialektische  Zer- 
legen und  Beweisen  dessen,  Avas  die  Sentenzensammler  behauptet 
hatten,  einführte,  und  sieht  zugleich  darauf,  wie  weit  er  es  auf 
diesem  Wege  gebracht  hat,  so  wird  ihm  Keiner  hierin  vorzu- 
ziehn  seyn. 

6.  Ein  Lieblingsschüler  Alexanders,  und  von  ihm  selbst  im 
J.  1238  mit  der  Fortsetzung  seiner  Vorlesungen  betraut,  Johann 
ßon  llochelle  (de  Rupella) ,  der  einen  Commentar  zum  Lombar- 
den geschrieben  haben  soll,  scheint  nur  wiederholt  zu  haben,  was 
der  Meister  gelehrt  hatte.  Wenigstens  findet  sich,  was  Haureau 
nach  Pariser  Manuscripten  aus  psychologischen  Werken  desselben 
veröftentlicht  hat.  Alles,  wenn  auch  in  verschiedenen  Orten  zer- 
streut, in  der  Summa  seines  Meisters.  Die  Unterscheidung  der 
\)irtiis  sensitira  und  Intel lectiva ,  die  weitere  des  scnsiis  und  der 
imaginatio  in  jener,  der  ratio,  des  intellectus  und  der  Intel ligejitia 
in  dieser,  die  Unterscheidung  der  Seele  als  per/ectio  corjmris  von 
ihr  als  perfecta  und  tota  in  toto  corpore,  alles  dieses  findet  sich 
schon  bei  Alexander,  bei  dem  man  überhaupt,  je  mehr  man  in 
ihn  hineinlicst,  um  so  mehr  erstaunt  über  den  Fleiss  und  die  Ge- 
wissenhaftigkeit, mit  welchen  er  auch  den  kleinsten  Fragen  nicht 
aus  dem  Wege  geht. 


II  Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Bonaventura.    §.  196.  197,  1.    329 

§.  196. 
Hugo's  Theologie  hatte  nicht  nur  die  cogniüo,  den  Lehr -In- 
halt, betrachtet,  sondern  die  seiner  Schriften,  welche  man  die 
mystischen  zu  nennen  pflegt,  die  ihm  nicht  minderen  Ruhm  einge- 
bracht hatten  als  seine  Summa  und  seine  Schrift  de  sacramentis, 
diese  hatten  die  subjective  Seite  des  Glaubens,  den  aifectus^  den 
schon  er  selbst  als  den  eigentlichen  Glauben  bezeichnet,  zu  ihrem 
Gegenstande  gemacht.  Alexander  hat  sich  bei  seiner  weiteren 
Fortbildung  der  Theologie  nur  an  die  erstere  Seite  gehalten,  er 
ist  deswegen  ein  reiner  Sententiarier ,  ein  blosser  Summen -Ver- 
theidiger.  Soll  Nichts  verloren  gehn ,  was  der  grosse ,  dem  Augvsün 
so  oft  verglichene ,  Theolog  geleistet  hatte ,  ^o  wird  auch  die  zweite, 
durch  seinen  Schüler  Richard  noch  weiter  ausgebildete,  Seite  wie 
er  sie  in  seiner  arca  mystica  u.  s.  w.  gezeigt  hat,  der  commenti- 
rend- fortbildenden  Thätigkeit  unterworfen  werden  müssen.  Nicht 
nur  das  Dogma,  sondern  auch  die  Lehre  von  der  mystischen  Con- 
templation  wird  in  Einklang  gebracht  werden  müssen  mit  den  Leh- 
ren der  Peripatetiker,  ganz  wie  Aricenna  den  rapttis  der  Prophe- 
ten mit  dem  Ari'stotelismus  in  Einklang  gebracht  hatte.  Diese  Er- 
gänzung zu  dem,  was  Alexander  von  Haies  und  Johann  von  Ro- 
chelle geleistet  hatten,  die  eben,  weil  sie  eine  Ergänzung,  sich  sehr 
wohl  damit  verträgt,  dass  der  welcher  sie  bildet  auch,  wie  sie 
selbst,  Summen  commentirt,  gibt  der  Schüler  von  beiden,  Bona- 
ventura, ein  Mann,  dessen  Wesen  und  EntAvicklungsgang  ihn  zur 
Lösung  gerade  dieser  Aufgabe  bestimmen,  und  dessen  Verdienste 
andrerseits  nur  dann  richtig  gewürdigt  werden  können,  wenn  man 
immer  an  seine  Aufgabe  denkt. 

§.  197. 
Bonaventura. 
1.  Johannes  (nach  Trithem.  de  scr.  eccl.  und  anderen  Eusta- 
chiits)  Fidanza,  bekannter  unter  seinem,  wie  Einige  meinen  durch 
einen  Zufall  ihm  beigelegten,  Zunamen  Bonarc nttfra,  ist  im 
J.  1221  in  Bagnarea  (Bagno  regio)  im  Florentinischen  geboren. 
Schon  als  Kind  von  seiner  Mutter  dem  Franciscaner- Orden  be- 
stimmt, trat  er  in  seinem  zwei  und  zwanzigsten  Jahre  in  denselben 
und  hat  durch  seine  reine  Unschuld  nicht  nur  die  Bewunderung 
des  greisen  Alexander  von  Haies,  sondern  auch  die  aller  übrigen 
Ordensgenossen  erworben,  so  dass  ihm  sieben  Jahre  nach  seinem 
Eintritt  die  Voriesungen  über  die  Sentenzen,  sechs  Jahre  darauf 
sogar  die  Würde  des  Ordensgenerals  übertragen  ward;  endlich  aber 
ist    sie    der   Grund    gewesen,    warum    das   Prädikat   scraphiats, 


330  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

welches  sein  Orden  sich  so  gern  beilegte,  vorzugsweise  ihm, 
dem  Doctor  serapinrus  ist  beigelegt  worden.  Als  Cardinal  und 
Bischof  von  Al])ano  ist  er  während  des  Concils  von  Lyon  am 
13.  Jul.  1274  gestorben,  und  im  J.  1482  durch  Papst  Sbiirs  IV 
canonisirt.  Seine  Werke  sind  oft,  zuerst  1482,  dann  auf  Befehl 
Papst  Sixiifs  V  in  Rom  1588  in  sieben  Foliobänden  herausgegeben. 
Später  ist,  nach  dieser  und  einer  deutschen  Ausgabe  im  J.  1668, 
in  Lyon  eine  noch  vollständigere,  gleichfalls  in  sieben  Bänden  Fol., 
erschienen,  die  leider  viele  Druckfehler  enthält.  Li  derselben  fin- 
det sich  im  Ersten  Bande:  Principium  SSae,  Illuminationes  ec- 
clesiac  s.  Expositio  in  Hexaemeron  (nach  einer  Nachschrift  heraus- 
gegel)ene  im  Todesjahr  des  BoiutrenUira  gehaltene  Vorlesungen), 
Expositiones  in  Psalterium  Ecclesiasten  Sapientiam  et  Lamentatio- 
nes  Hieremiae;  im  zweiten  Bande:  Expositio  in  Cap.  VI  Evang. 
Matth.,  de  oratione  Domini,  in  Evang.  Luc,  Postilla  super  Jo- 
annen!, Collationes  praedicabiles  ex.  Jo.  Ev.  collectae;  im  dritten 
Bande:  Sermones  de  tempore  (Predigten  für  alle  Sonntage  des 
Kirchenjahrs),  Sermones  de  Sanctis  totius  anni,  Sermones  de  Sanctis 
in  genere;  im  vierten  und  fünften  Bande  die  Commentare  zu 
den  Sentenzen  des  Lombarden;  endlich  im  sechsten  und  sie- 
benten die  Opuscula,  nämlich:  (VI)  de  reductione  artium  ad 
theologiam,  Breviloquium ,  Centiloquium ,  Pharetra,  Declaratio  ter- 
minorum  theologiae,  Sententiae  sententiarum ,  de  quatuor  virtuti- 
bus  caj'dinalibus ,  de  Septem  donis  Sp.  Sti. ,  de  resurrectione  a  pec- 
cato,  de  tribus  ternariis  peccatorum  infamibus,  Diaetae  salutis, 
Meditationes  vitae  Christi,  Lignum  vitae,  de  quinque  festivitatibus 
pueri  Jesu;  (VII)  Sermones  de  decem  praeceptis,  viginti  quinque 
memorabilia,  de  regimine  animae,  Formula  aurea  de  gradibus  vir- 
tutum,  de  pugna  spirituali  contra  Septem  vitia  capitalia,  Speculum 
animae ,  Confessionale ,  de  praeparatione  ad  missam ,  de  instructione 
sacerdotis  etc.,  Expositio  missae,  de  sex  alis  Seraphim,  de  con- 
temptu  saeculi ,  de  septem  gradibus  coutemplationis ,  Exercitia  spi- 
ritualia,  Fascicularis ,  Soliloquium,  Itinerarium  (die  älteren  Ausga- 
ben haben  alle  Itinerarius)  nieiitis  ad  Deum,  de  Septem  itineribus 
aeternitatis ,  Incendium  amoris,  Stimuli  amoris,  Amatorium,  de 
ecclesiastica  hierarchia.  Hierauf  folgt  die  IjCgenda  Sti  Francisci 
und  eine  Reihe  von  Schriften,  welche  die  Ordensregel  theils  den 
Gliedern  des  Ordens  auseinandersetzt,  theils  gegen  Angriffe  ver- 
theidigt.  In  einem  Anhange  befinden  sich  die  Schriften,  deren 
Aechtheit  bezweifelt  wird,  darunter  die  Mystica  theologia,  die  sich 
selbst  als  Erklärung  der  gleichnamigen  Schrift  des  Dionys.  Areopag. 
ankündigt  und  das  Compendiura  theologicae  veritatis. 


II.  Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.     Bonaventura.    §.  197,  '-'.  3.    331 

2.  Gauz  ^Yie  seine  Vorgänger  Hugo  und  Alexander .  vereinigt 
auch  BoiKii'enlura  die  übrigen  Wissenschaften  und  namenthch  die 
Philosophie  mit  der  Theologie  so,  dass  sie  ihr  dienstbar  gemacht 
werden.  Seine  Behandlung  der  Wissenschaften  ist  daher  nur  eine 
praktische  Durchführung  dessen,  was  seine  kleine  Abhandlung  de  re- 
ductione  artium  ad  theologiam  entwickelt  hatte.  In  dieser 
sucht  er  nachzuweisen,  warum  das  l  innen  in  f er  ins.  durch  welches 
wir  der  sinnlichen  Erkenntuiss  theilhaft  werden,  gerade  dui'ch  die 
bekannten  fünf  Wege  in  uns  hineintrete,  warum  das  hnnen  exte- 
rius ,  vermöge  des  wir  der  mechanischen  Künste  fähig  sind,  gerade 
die  sieben  von  Hugo  aufgezählten  (s.  oben  §.  165,  2)  erzeuge,  geht 
dann  weiter  zu  der  Betrachtung  des  lumen  interius  über,  durch 
welches  wir  philosophische  Erkenutniss  haben,  und  zeigt,  wie  die 
drei  Theile  der  Philosophie  rdliomdls.  natiindis  und  moralls, 
jede  wieder  in  drei  zerfallen  (Grammutica  Logica  et  Rhetorica, 
Metupliysica  Mathemaüea  et  P/njsica ,  Monastica  Oeconomiea  et 
PoUticü),  wie  aber  alle  diese  nur  Hinweisungen  sind  auf  das  lu- 
men sifpcriiis  der  Gnade,  dessen  wir  theilhaft  werden  durch  die 
h.  Schrift.  Eben  weil  diese  die  eigentliche  Grundlage  alles  wah- 
ren Wissens  ist,  deswegen  entnimmt  sie  ihre  Gleichnisse  und 
Ausdrücke  allen  Gebieten  der  niederen  Erkenntuiss,  und  wer- 
den wieder  diese  nur  dann  richtig  gewürdigt,  wenn  man  stets  fest- 
hält, dass  in  Allem,  was  wir  wissen,  interins  Intet  Dens.  Frei- 
lich, um  dies  zu  erkennen,  darf  man  bei  dem  historischen  Sinn 
der  h.  Schrift  nicht  als  bei  dem  einzigen  stehen  bleiben,  sondern  man 
muss,  wie  Augustin  und  Anselm,  sie  allegorisch  auslegen,  um 
darin  den  verborgenen  Inhalt  des  Glaubens,  ferner  moralisch  oder 
tropologisch  wie  Gregor  und  Bernhard,  um  darin  verborgene 
Winke  für  das  Leben,  endlich  aber  anagogisch  oder  mystisch  wie 
der  Ai-eopagite  und  Eiehard .  um  darin  Winke  über  die  völlige  Ein- 
heit mit  Gott  zu  finden.  Hugo  sey  der  einzige  Theolog  gewesen, 
der  in  allen  drei  Weisen  ganz  gleiche  Stärke  gezeigt  habe. 

3.  Da  diese  höheren  Auslegungsweisen  ohne  ein  gehöriges  hi- 
storisches Yerständniss  der  h.  Schrift ,  dieses  aber  ohne  eine  Kennt- 
niss  der  ganzen  Heilsordnung  unmöglich  ist,  so  wird  in  dem  Bre- 
viloquium  diese,  kurz  ohne  allen  gelehrten  Apparat,  entwickelt, 
so  dass  immer  in  einigen  kurzen  Sätzen  die  katholische  Lehre  hinge- 
stellt, dann  aber  die  ratio  ad  intelligentiam  jrraedictoruni  hinzuge- 
fügt wird,  um  zu  zeigen,  dass  diese  Sätze  nicht  widervernünftig  sind. 
Nicht  nur  dass  für  die  Philosophie  immer  Aristoteles  als  Gewähi'S- 
mann  citirt  wird,  dass  sein  infnütuvi  aetu  von  datur  als  Axiom 
behandelt  wird,  das  selbst  die  göttliche  Allmacht  nicht  umstossen 


332  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

könne ,  sondern  alle  Lehren  über  das  Weltgebäude ,  die  Elemente, 
die  Seele,  ihre  Kräfte,  den  Willen  u.  s.  w.  zeigen  in  Bonaven- 
tura einen  Anhänger  der  peripatetischen  Lehre,  wie  sie  sich  bei 
den  neuplatonischen  und  arabischen  Commentatoren  gestaltet  hatte. 
Einen  Widerspruch  zwischen  dieser  Kosmologie  und  der  h.  Schrift 
findet  er  um  so  weniger,  als  die  letztere  ihm  vorzugsweise  das 
Buch  der  Erlösung  ist,  darum  aber  Alles,  was  die  Beschaffenheit 
der  Welt  betrifft,  aus  dem  über  creaiionis,  der  Natur,  herausge- 
lesen werden  muss.  Wii'd  dieses  letztere  mit  dem  richtigen  Sinn 
gelesen,  so  lehrt  es  auch  Gott  erkennen,  von  dem  die  unter- 
menschlichen  Wesen  das  i^cstlgiiim ,  der  Mensch  die  imaijo  zeigen. 
Als  elfte  Vorarbeit  zu  dem  Breviloquium  so  wie  zum  Centilo- 
quium  —  (so  genannt,  weil  darin  die  Lehre  vom  Bösen  und 
seiner  Schuld  und  Strafe ,  so  wie  vom  Guten  und  seiner  Bedingung 
(der  Gnade)  und  seinem  Ziel,  dem  Heil,  in  hundert  Sectionen  ab- 
gehandelt wird)  —  ist  die  Pharetra  anzusehn,  eine  Zusammen- 
stellung der  berühmtesten  Autoritäten  über  alle  die  Glaubenspunkte, 
welche  er  in  jenen  beiden  Schriften  bespricht.  Zeigen  schon  diese 
Werke,  wie  genau  Bonureninra  mit  den  Lehren  der  Kirche  ver- 
traut, und  wie  wichtig  ihm  die  systematische  Ordnung  derselben 
ist,  so  erhellt  das  noch  mehr  aus  seinem  Commentar  zu  den  Sen- 
tenzen des  Lombarden,  dessen  dritter  Theil  namentlich  von  den 
späteren  Theologen  eben  so  als  unübertroffen  pflegte  citirt  zu  wer- 
den, wie  sie  behaupteten,  dass  l^vvs  (s.  unten  §.  214)  in  seinem 
Commentar  zum  ersten,  Aeyid'iMs  Coionna  (s.  unten  §.  204.  4) 
zum  zweiten,  und  Richard  ran  M'iddletonn  (s.  unten  §.  204.  5) 
zum  vierten,  den  Preis  vor  Allen  verdient  habe.  Die  Sentenzen 
des  Lombarden  hat  übrigens  Bonaren/ irra  so  hoch  gehalten,  dass 
seine  Sententiae  sententiaruin  den  Inhalt  jeder  Distinction 
versificirt  enthalten,  ohne  Zweifel  um  es  dadurch  zu  erleichtern 
dieselben  ihrem  ganzen  Inhalt  nach  dem  Gedächtniss  einzuprägen. 
4.  Viel  wichtiger  aber  als  das  Dogma,  so  weit  es  Object  der 
Erkenntniss,  ist  dem  Bonareiilirra  die  Seite  der  Religion,  nach 
welcher  sie  affcvins  ist.  Was  das  Glauben  ist,  wie  man  dazu  ge- 
langt und  wie  über  dasselbe  hinausgeht?,  das  sind  Fragen,  zu 
deren  Beantwortung  er  sich  viel  mehr  angezogen  fühlt  als  zur 
Erörterung  der  Glaubenslehren.  Wie  er  bei  der  letztern  Aufgabe 
sich  an  den  Lombarden  anlehnte,  so  bei  jener  an  Hugo  und  Bi- 
chard  von  St.  Victor,  so  wie  an  den  ihm  geistesverwandten  Bern- 
hard von  Clairvaux.  Sein  Soliloquium  ist,  wie  er  das  selbst 
eingesteht,  Hiigc/s  arrha  animae  nachgebildet:  in  einem  Gespräch 
des  Menschen  mit  seiner  Seele  weist  er  dieselbe  an,  durcli  einen 


II.  Glanzperiode.     B.  Cliristliche  Aristoteliker.     Bonaventura.     §.   197,  4.    333 

Blick  in  sicli  selbst  zu  erkennen,  wie  sie  durcli  die  Sünde  ent- 
stellt sey,  dann  durch  einen  Blick  ausser  sich  die  Eitelkeit  der 
Welt,  durch  einen  unter  sich  die  Strafe  der  Unseligkeit,  durch 
einen  über  sich  die  Herrlichkeit  der  Seligkeit  zu  erkennen,  und 
demgemäss  ihr  ganzes  Verlangen  von  sich  selbst  und  der  Welt  ab, 
auf  Gott  zu  richten.  Eben  so  ist  in  seiner  Schrift  de  Septem 
itineribus  aeternitatis,  namentlich  dort,  wo  \on  der  medUutio 
gehandelt  wird,  sehr  Vieles  ganz  wörtlich  aus  RicI/ards  Benjamin 
major,  der  aber  als  arca  mystica  citirt  wird,  entlehnt.  Ausser  ihm 
aber  werden  noch  andere,  ältere  und  neuere,  Schriftsteller  excer- 
pirt,  so  dass  in  der  ganzen  Schrift  viel  weniger  Boiiarotfura  zu 
Worte  kommt,  als  seine  Gewährsmänner.  Am  selbstständigsten  er- 
scheint er  in  zwei  Schriften,  die  überhaupt  als  die  wichtigsten  in 
dieser  Classe  anzusehn  sind,  den  Diaetae  salutis  und  dem  Iti- 
nerarius  mentis  in  Deum.  In  dem  ersteren  werden  die  neun 
Td^ereisen  (diaetae)  dargestellt,  in  welchen  die  Seele  von  den  La- 
stern zur  Reue,  von  da  bis  zu  den  Geboten,  dann  zu  den  heiligen 
Rathschlägen  (der  Armuth,  Ehelosigkeit  und  Demuth),  weiter  bis  zu 
den  Tugenden,  ferner  bis  zu  den  sieben  Gaben  des  heiligen  Geistes 
(Jesai.  11,  2),  dann  bis  zu  den  sieben  Seligkeiten  (Matt//.  5,  3  if.), 
von  da  bis  zu  den  zwölf  Früchten  des  h.  Geistes  (Gal.  5,  22),  von 
da  bis  zum  Gericht,  endlich  bis  zum  Himmel  sich  erhebt,  und  mit 
einer  Schilderung  der  Verdammniss  und  Seligkeit  geschlossen.  Noch 
eigenthümlicher,  und  von  allen  seinen  Schriften  am  Meisten  gelesen 
und  gepriesen,  ist  der  Itinerarius.  Es  wird  in  dieser  im  J.  1263 
entworfenen  Schrift  der  Unterschied  des  restlgimn  und  der  Imago 
Dci  zum  Ausgangspunkt  genommen,  und  nun  gezeigt,  dass,  je  nach- 
dem die  Untersuchung  vom  ersteren  oder  letzteren,  oder  endlich 
von  dem  geoffenbarten  Worte  ausgehe,  es  drei  verschiedene  Wei- 
sen der  Erhebung  zu  Gott  oder  drei  verschiedene  Theologien  gebe, 
die  theologia  spnbollca ,  welche  von  dem  extra  nos  beginnt  und 
dem  sensu s  entspricht,  die  t/f.  proprla ,  welche  von  dem  beginnt 
was  intra  nos  ist,  und  der  ratio  entspricht,  endlich  die  theologia 
mystiea ,  welche  ihren  Ausgangspunkt  stipra  nos  nimmt,  und  die 
inteUigentia  zu  ihrem  Organ  hat.  Weil  aber  jede  dieser  Stufen 
wieder  verdoppelt  erscheint,  —  indem  man  Gott  entweder  per 
restigia  findet,  indem  man  aus  dem  pondns  ninnerns  et  mensura. 
in  den  Dingen  auf  die  Dreiheit  in  der  ersten  Ursache  zurück- 
schliesst,  oder  in  restigiis,  indem  die  Betrachtung  der  körperli- 
chen ,  geistigen  und  gemischten  Wesen  in  der  Welt  uns  gleichfalls 
auf  jene  Dreiheit  führt,  indem  man  ferner  eben  so  Gott  per  ima- 
gincni  erkennt,  weil  memoria  intellectus  und  vohmtns  in  uns  den 


334  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

dreieinigen  Gott  beweisen,  und  In  imagine,  weil  die  drei  theolo- 
gischen Tugenden  als  Wirkungen  des  dreieinigen  Gottes  seine  Prä- 
senz beweisen;  indem  endlich  wir  Gott  erkennen  per  ejus  nomen^ 
da  das  Seyn,  nach  dem  V.  T.  der  eigentliche  Name  Gottes,  nur 
seyend  gedacht  werden  kann,  und  in  eji/s  nomine,  da  Gott  als 
gut,  wie  ihn  das  K  T.  lehrt,  nur  gedacht  werden  kann,  wenn  er 
dreieinig  ist,  —  so  werden  sechs  verschiedene  Stufen  der  Erkennt- 
niss  unterschieden,  indem  zu  dem  sensiis  die  imnyiudtio ,  zur 
ratio  der  inteUectus ,  zu  der  inteUigenlia  der  apex  mentis  hinzu- 
tritt. Dass  Boiuirentiira  diesen  letzteren  auch  si/nderesis  nennt, 
beweist,  dass  er  durchaus  nicht  ein  bloss  theoretisches  Verhalten 
zu  Gott  für  das  höchste  hält,  sondern  dass  es  ihm  vor  Allem  auf 
das  Erleben  Gottes  ankommt,  auf  jene  experientia  (tjfeciunlis, 
welche  er  bald  ein  Schmecken  Gottes,  bald  ein  in  ihm  Trunken- 
werden nennt,  bald  wieder  als  ein  Uebergehn  in  Gott,  als  ein 
Gott  Anziehen,  ja  ein  in  Gott  Verwandeltwerden  bezeichnet;  so^in 
den  Stimulis  amoris.  Non  (Jisputdudo  scd  agcndo  scitiir  ars 
(imandi  sagt  er  u.  A.  in  seinem  Incendium  amoris. 

5.  Diese  völlige  Hingabe  an  Gott,  bald  (jnies,  bald  sopor 
pacis  genannt,  wird  nun  als  der  Sabbath  des  Lebens,  im  Gegen- 
satz zu  jenen  Vorstufen,  die  dem  Sechstagewerk  gleichen,  bezeich- 
net ;  er  ist  dem  Menschen  nur  erreichbar  durch  die  in  Christo  er- 
schienene Gnade.  Deshalb  handelt  es  sich  darum,  C/iristnm  ganz 
in  sich  aufzunehmen,  völlig  mit  ihm  Eins  zu  werden.  Nichts  er- 
leichtert dies  so  als  das  Sichvertiefen  in  seine  Geschichte ,  nament- 
lich in  die  seiner  Leiden.  In  der  Schrift  de  quinque  fcsti- 
vitatibus  pueri  Jesu  und  in  den  Stimuli  amoris  geht  die 
Schilderung,  wie  die  Seele  in  sich  alle  Zustände  der  Mutter  Jesu 
nach  der  Empfängniss  wiederholen  solle,  wie  die  Wunden  Christ i 
der  Eingang  seyen  in  die  Apotheke,  die  alle  Heilmittel  enthält, 
wie  die  Lanze  zu  beneiden  sey,  weil  sie  in  Jesu.  Seite  drang  u. 
s.  w.,  bis  zur  geschmacklosen  Spielerei.  Viel  würdiger  gehalten 
sind  die  Meditationes  vitae  Christi,  für  eine  Ordensschwester 
geschrieben,  in  denen  die  Lücken,  welche  die  Bibel  in  der  Ge- 
schichte Jesu  lässt,  durch  die  dichtende  Phantasie  ausgefüllt  wer- 
den ,  der  Streit ,  den  Gottes  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  vor 
der  Menschwerdung  führen,  wie  ihn  der  //.  Bernhard  dramatisirt 
hatte,  den  Eingang,  u-nd  Untersuchungen  über  Martha,  und  Maria, 
d.  h,  über  das  active  und  contemplative  Leben  den  Schluss  bilden. 
Kaum  weniger  heiss  als  die  Liebe  zu  Christo  spricht  sich  in  allen 
Schriften  Bonaventura's  die  zur  Jungfrau  Maria  aus.  Nach  die- 
ser  steht  bei  ihm   der  Gründer  seines  Ordens   in  den  höchsten 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Bonaventura.     §.  197.  S,     335 

Ehren.  Sie  beide  werden  auch  immer  als  die  Beispiele  der  alier- 
innigsten  Vereinigung  mit  Gott  angeführt.  Obgleich  nämlich  diese 
Vereinigung  mit  Gott,  die  manchmal  (z.B.  in  de  tribus  terua- 
riis  peccatorum)  als  die  Rückkehr  der  Seele  in  ihren  ewigen 
Ort  bezeichnet  wird ,  vermöge  der  sie  ewig  sey ,  da  ja  locus  est  con- 
serraüriis  locati ,  unde  res  c.iira  locum  non  cojiserratiir ,  manch- 
mal wieder  als  das  Wohnen  in  dem  manerio  aeterno,  obgleich 
sie  das  höchste  Ziel  ist,  so  gibt  es  doch  innerhalb  ihrer  verschie- 
dene Wohnungen,  die  in  einem  Rangverhältniss  stehn.  Bei  der 
grossen  Neigung  Boimventura's  Parallelen  zu  ziehn  mit  den  Sphä- 
ren und  Zeiten  der  Schöpfung,  namentlich  wo  es  sich  um  Lieb- 
lingszahlen handelt  —  (vor  Allem  die  Drei,  dann  aber  auch  die 
Sechs  als  erster  munerus  pcrfectus ,  ferner  Sieben,  wo  er  gern 
auf  den  scptl/'ormis  seplcnariiis  ritlorvni,  ririntam ,  scicramento- 
rnm,  donorum,  heatitnd'miim,  petiliomim ,  dotum  gloriosarum  hin- 
weist, endlich  Neun  wegen  der  himmlischen  Hierarchie)  —  ist  es 
erklärlich ,  wenn  er  innerhalb  des  Schmeckens  Gottes  bald  von  ver- 
schiedenen Graden  der  Trunkenheit  spricht,  bald  bestimmter  in  einer 
eignen  Schrift  die  .vr/>/ew  yradus  contemplationis  schildert, 
bald  endlich  und  zwar  am  Häufigsten  von  drei  Haupt-,  in  je  drei 
Neben -Stufen  zerfallenden  Stufen  der  Verehiigung  mit  Gott  spricht, 
deren  unterste  nach  der  seit  dem  Areopagiten  feststehenden  Ord- 
nung die  engelgleiche,  die  oberste  die  seraphische  heisst.  Diese 
Stufen  sollen  sich  gerade  so  verhalten  wie  die  Stände,  in  welche 
die  Menschheit  zerfällt,  an  deren  Spitze  die  drei  Ordnungen  der 
einsamen  Contemplativen  stehn,  auf  welche  die  drei  Ordnungen 
der  Vorgesetzten  (Praelutl)  folgen,  unter  denen  dann  eben  so  drei 
Ordnungen  der  Untergebnen  {Säbjectt)  stehn.  Es  ist  kein  Wun- 
der, dass  Bonaüentara  später  besonders  von  predigenden  Mysti- 
kern ausgebeutet  ward.  Die  feinen  Zerlegungen,  die  oft  in  sehr 
pointirter  Weise  formulirt  werden,  lassen  manche  seiner  Schriften 
wie  eine  Reihe  höchst  geistreicher  Predigt  -  Dispositionen  erschei- 
nen": Den  Diaetis  Salutis  hat  er  ausdrücklich  solche  Dispositionen 
als  Anhang  hinzugefügt. 

§.  198. 
Während  die  Franciscaner  sich  den  Theologontm  Monarvlai 
erobern,  unter  dessen  Augen  und  Pflege  in  ihrem  Schoosse  der  Doctor 
seraphicus  erwächst,  geht  in- dem  Dominicanerorden  ein  Doppel- 
gestirn von  Lehrer  und  Schüler  auf,  das  seine  Strahlen  bald  wei- 
ter verbreiten  sollte.  War  bei  jenen  beiden  nicht  nur  Hauptsache, 
sondern  auch  der  Ausgangspunkt  die  Theologie,  so  dass  sie  was 
die   grossen  Theologen  von  St.  Victor  gelehrt  hatten,   mit  Hülfe 


336  Mittelalterllclie  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

des  Aristoteles  zu  erklären  und  zu  vertheidigen  suchen ,  so  schlägt 
dagegen  der  Doctor  unir.ersalis  einen  anderen  Weg  ein:  der  Ge- 
genstand seines  Studiums  ist  von  Anfang  an  der  griechische  Welt- 
weise, wo  derselbe  eine  Lücke  liess  seine  Ergänzer,  wo  er  nicht 
klar  ist,  seine  Erklärer.  Mehr  als  zehn  Jahre  widmet  er  allein  der 
Aufgabe,  die  Weltweisheit  dieser  Männer  sich  anzueignen,  und 
eben  so  viele  Zeit  der  anderen,  als  Lehrer  und  Schriftsteller  die 
Bekanntschaft  mit  der  Peripatetischen  Lehre  zu  verbreiten.  Da- 
bei hindert  ihn  das  gar  nicht,  dass  der  einzige  Christ,  dessen 
Schrift  er,  als  den  Aristotelischen  ebenbürtig,  diesen  einordnet  und 
gleich  ihnen  commentirt,  der  der  Kirche  mindestens  verdächtige 
Gilbert  ist.  Erst  nachdem  er  diese  Aufgaben  gelöst  hat,  stellt  er 
sich,  wie  schon  der  Titel  seines  Hauptwerks  anzeigt,  eine  ähn- 
liche wie  der  Haien sis,  dessen  Arbeit  er  auch  fleissig  benutzt. 
Aber,  obgleich  er  den  Hugo  von  S.  Victor  eben  so  kennt  und 
schätzt  wie  Jener,  und  ein  mystischer  Zug,  den  er  vielleicht  mehr 
hat  als  Alexander,  ihn  zu  den  Victorinern  lockt,  lässt  er  sich 
doch  in  seinem  Gange  nicht  von  diesen  bestimmen,  sondern  von 
dem,  im  Vergleich  zu  ITncj')  prosaisch  verständigen  Lombarden, 
und  erzieht  seinen  Lieblingsschüler  nicht ,  wie  Jener ,  dazu  im  Sinne 
der  späteren  Victoriner  im  eignen  Innern  zu  wühlen  und  zu  schwel- 
gen, sondern  leitet  ihn  auf  die  Bahn  derer,  die  jenen  Musterndes 
Bonarentiira  als  verwirrende  Labyrinthe  gegolten  hatten  (s.  oben 
§.  173).  Wird  der  Ausdmck  nicht  gar  zu  sehr  gepresst,  so  kann 
man  sagen:  die  theologischen  Arbeiten  Albert s  verhalten  sich  zu 
denen  Alexanders ,  wie  die  Religionsphilosophie  zur  speculativen 
Dogmatik. 

Albert  der  Grosse. 
J.  Sighart  Albertus  Magnus.     Sein  Leben  und  seine  Wissenschaft.     Regensburg 
1857. 

§.  199. 
Leben  und  Schriften  Alberts. 

1.  Albert ,  der  älteste  Sohn  des  Herrn  von  Bollstädt,  ist  in 
der  schwäbischen  Stadt  Lauingen,  wo  sein  Vater  die  Rechte  des 
Kaisers  vertrat,  wahrscheinlich  im  J.  1193  geboren  und  hat  nach 
einer  sorgfältigen  Erziehung  im  J.  1212  die  Universität  Padua, 
wo  damals  ganz  besonders  die  nrtes  blühten ,  bezogen.  Sein  eifri- 
ges Studium  des  Aristoteles ,  das  nicht  recht  zu  dem  Misstrauen 
passt,  welches  die  Kirche  damals  noch  dagegen  hatte,  soll  aus- 
drückliches Gebot  der  Jungfrau  Maria  gewesen  seyn ,  und  erscheint 
daher  entschuldigt.  Dies  Studium  führte  dann  von  selbst  zu  dem 
der  Naturwissenschaften  und   der  Medicin.     Zehn  Jahre  beschäf- 


II.   Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristotcliker.     Albert.     §.  199,  1.         337 

tigte  er  sich  so,  von  seinen  Mitschülern  schon  als  der  Philosoph 
bezeichnet.  Den  Entschluss,  in  den  Dominicaneror^en  zu  treten, 
brachte  der  General  desselben,  der  deutsche  Jordanns  im  J.  1223 
zur  Reife,  und  von  da  ab  ward  erst,  in  Bologna,  Theologie,  d.  h. 
zuerst  der  Text  und  dann  die  Sentenzen ,  studirt.  In  seinem  sechs 
und  dreissigsten  Jahre  ward  Alheri  nach  Cöln,  wo  der  Orden  seit 
1221  ein  Haus  hatte,  gerufen,  um  dort  namentlich  die  weltlichen 
Wissenschaften  zu  lehren ,  und  ward  hier  bald  als  Lehrer  der  Phi- 
losophie so  berühmt,  dass  er  von  dem  Orden  bald  hier-  bald  dort- 
hin geschickt  wurde,  um  in  den  Häusern  desselben  die  Wissen- 
schaft in  Schwung  zu  bringen  und,  wo  möglich,  sich  Nachfolger 
zu  bilden.  So  hat  er  in  Regensburg,  Freiburg,  Strassburg,  Paris, 
Hildesheim  in  den  Jahren  1232 — ^1243  gelehrt,  in  welchem  Jahre 
er  nach  Cöln  zurückkehrt,  um  die  Leitung  der  Schule,  in  der 
jetzt  T/.omtts  von  Aquino  zu  glänzen  anfängt,  wieder  zu  überneh- 
men. Im  J.  1245  ist  er  wieder  in  Paris,  um  den,  eudhcli  erober- 
ten, Lehrstuhl  zu  zieren  und  wohl  auch  um  die  höchsten  gelehrten 
Würden  zu  erlangen.  Als  Doctor  kehrt  er  wieder  nach  Cöln  zu- 
rück, wo  die  Schide  jetzt  einer  Universität  ähnlich  eingerichtet 
wird.  Zum  Lehrer  der  Theologie  ernannt,  wendet  er  jetzt  seine 
Thätigkeit  mehr  dem  theologischen  und  dem  praktischen  Priester- 
beruf zu.  Den  Commentaren  zum  Aristoteles  und  zum  Areopagi- 
ten  folgen  jetzt  die  zur  h.  Schrift.  Zugleich  beschäftigen  ihn  Pre- 
digten und  praktische  Bearbeitungen  der  Glaubenslehre.  Xoch 
mehr  tritt  die  kirchhche  Wirksamkeit  hervor,  als  er  im  J.  1254 
zum  Provinzial  seines  Ordens  für  Deutschland  ernannt ,  die  Klöster 
zu  revidiren  erhielt.  Freilich  machte  ihn  dies  auch  mit  ihren 
Bibliotheken  bekannt,  und  jedes  neue  MSC,  das  er  sich  abschrieb 
oder  abschreiben  Hess,  mehrte  die  Kenntnisse  des  Mannes,  dem 
man  früh  schon  übernatürliche  zuschrieb.  Neuen  Ruhm  erwarb  er 
sich,  als  er,  eigens  dazu  nach  Anagni  berufen,  vor  Papst  und  Con- 
cil  die  Angriffe  der  Pariser  Universität  auf*die  Bettelordeu  sieg- 
reich zurückschlug,  und  gleichzeitig  vor  diesem  Kreise  das  Evan- 
gelium Johaiinis  erklärte  und  die  Ii-rlehren  des  Arerrocs  bekämpfte. 
Nach  Deutschland  zurückgekehrt ,  lag  er  den  beschwerlichen  Pflich- 
ten des  Provinzials  bis  zum  J.  1259  ob,  wo  er  endlich  derselben 
enthoben  ward,  freilich  um  die  noch  schwierigeren  eines  Bischofs 
von  Regensburg  auf  ausdrücklichen  Befehl  des  Papstes  zu  über- 
nehmen. Sein  Commentar  zum  Lucas  zeigt,  dass  er  von  seinen 
vielen  Geschäften  sich  die  Zeit  für  diese  seine  wichtigste  exegeti- 
sche Schrift  zu  erübrigen  wusste.  Doch  ward  ihm  die  Stellung 
immer  peinhcher  und  endlich  im  J.  1262  ward  seine  Resignation 

Erdmaiin  Gesch.  d.  Phil.  I.  90 


338  Mittelalterliche  Philosophie.      Zweite  Periode  (Scholastik). 

angenommen.  Das  Klosterleben,  in  das  er  zurückkehrte,  wurde 
für  eine  Zeit  lang  dadurch  unterbrochen,  dass  er  durch  Bayern 
und  Franken  als  Prediger  des  Kreuzes  wanderte.  Sonst  lebte  er 
bald  in  dem  einen  bald  in  dem  andern  Hause  seines  Ordens,  zu- 
letzt wieder  in  seinem  lieben  Cöln.  Im  J.  1274,  gleich  nachdem 
ihm  der  Tod  seines  Lieblingsschüleis  Tliomus  oifenbart  worden 
war,  wohnte  er  dem  Concil  von  Lyon  bei,  und  vertheidigte  auf 
seiner  Rückkehr  von  da  in  Paris  ööentlich  einige  Schriften  seines 
theuren  Jüngers.  In  Cöln  wurde  dann  die,  viel  früher  begonnene, 
theologische  Summa  in  ihrem  zweiten  Theile  beendigt.  Den  drit- 
ten und  vierten  zu  schreiben  hat  ihn  sein  Alter,  oder  dass  die 
Summa  des  T/.owas  ja  vorlag,  verhindert.  Die  kleine  Schrift  de 
adhaerendo  Deo  ist  die  letzte,  die  er,  in  einem  Alter  von  vier  und 
achtzig  Jahren ,  geschrieben  hat.  In  seinem  sieben  und  achtzigsten 
Jahre  hat  er  sein  frommes,  in  jeder  Beziehung  musterhaftes  Leben 
beschlossen,  das  ihm  die  beiden  Ehrennamen  des  Grossen  und  des 
doctor  universalis  eingetragen  hat. 

Alberts  Werke  sind  in  Lyon  von  Petr.  Jaiumi/  im  J.  1G51 
in  21  Fohobänden  herausgegeben.  Vieles  Unächte  ist  aufgenom- 
men, Anderes  wieder,  was  für  acht  gilt,  fehlt  darin.  Auch  ist 
der  Druck  nicht  sehr  correct.  Die  eigentlich  philosophischen 
Schriften  füllen  die  ersten  sechs  Bände,  von  denen  der  erste  die 
logischen  Schriften,  der  zweite  die  physikalischen,  der  dritte 
die  Schriften  über  Metaphysik  und  Psychologie,  der  vierte  die 
ethischen,  der  fünfte  die  kleineren  physikalischen  Schriften,  der 
sechste  die  Zoologie  enthält.  Dazu  kommt  der  ein  und  zwan- 
zigste Band  mit  der  Pliilosophia  pauperum. 

§.  200. 
Albert  als  Philosoph. 
1.  Wie  AcUenna,  der  ihm  auch  unter  den  Counnentatoren 
des  ^Iristotc/es  am  Höchsten  steht,  commentirt  Albert  die  Schrif- 
ten des  Ariatole/es  so,  dass  er  die  Lehren  desselben  aus  sich, 
darum  nicht  immer  mit  des  Artsfofrfcs  Worten ,  rcproducirt,  auch, 
wo  er  glaubt  eine  Lücke  zu  finden,  dieselbe  ergänzt.  Dabei  be- 
dient er  sich  fast  nur  solcher  Uebersetzungen ,  die  aus  dem  Ara- 
bischen gemacht  sind.  Nur  die  logischen  Schriften  machen  hievon 
in  sofern  eine  Ausnahme ,  als  ihm  die  Theile  des  Organon ,  welche 
die  alte  Logik  enthielten,  in  des  Bnelldiis  Uebersetzung ,  dagegen 
die  Analytiken  und  Topiken  in  ihren  Bearbeitungen  durch  Aija- 
rabi,  Ariccnnu  und  Arerrocs  den  Leitfaden  bilden.  Er  will  die 
Logik  nicht  als  eigentliche  Wissenschaft,   sondern  nur  als  Vor- 


II.  Giauzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Albert.     §.  200,  1.  2.       339 

bereitung  dazu  gelten  lassen,  weil  sie  nicht,  wie  die  übrigen  Theile 
der  Philosophie,  ein  bestimmtes  Se3'n  betrachtet ,  sondern  vielmehr 
alles  Seyn  wie  es  unter  den  sprachlichen  Ausdruck  fällt,  so  dass 
sie  zur  philosophia  scrmociiudis  gehört,  nicht  die  res.  sondern 
die  inieiüloiips,  d.  h.  Begriffe,  rernm  considerat.  Ihre  eigentliche 
Aufgabe  ist,  zu  zeigen  wie  vom  Bekannten  man  zur  Erkenntniss 
des  Unbekannten  gelange,  und  sie  zerfällt  darum,  wie  Aifarahi 
schon  richtig  gezeigt  hat,  da  das  Ijisher  Unbekannte  ein  incom- 
plr.iinn  oder  complcxiim  seyn  kann,  in  die  Lehre  von  der  Defi- 
nition und  in  die  vom  Schluss  und  Beweis.  Diesem  gemäss  wer- 
den die  Schriften  des  Organon  in  zwei  Hauptabtheilungen  zerlegt, 
je  nachdem  sie  die  Daten  für  die  richtige  Definition  herbeischaffen, 
wie  die  Schriften  de  praedicabilibus ,  de  praedicamentis,  de  sex 
principiis,  —  oder  aber  nicht  nur  die  Subjecte  und  Prädicate  zu 
Urtheilen  und  Schlüssen,  sondern  diese  selbst  zu  finden  lehren, 
Ane  die  anderen  Schriften  des  Organon. 

2.  Die  neun  Tractate  de  praedicabilibus,  auch  als  de  univer- 
salibus  citirt,  geben  eine  Paraphrase  der  Isagoge  des  Porphyrins. 
in  welcher  das  Verhältniss  der  Prädicabiheu  so  festgestellt  wird, 
dass  die  differentia  für  das  gcniis  das  ist,  was  da.s,  proprium  für 
die  speries .  und  das  accideus  für  das  indlridninn.  Dabei  ist  be- 
merkenswerth ,  dass  er  die  Frage  nach  den  Universali^n  gerade 
so  allseitig  beantwortet,  \vie  ihm  dies  von  Aricennd  (s.  oben  §. 
184,  1)  angezeigt  worden  war:  Sie  sind  (inte  res  als  Urbilder 
im  göttlichen  Verstände,  in  rebus,  indem  sie  das  (juid  est  esse 
derselben  angeben,  posi  res.  indem  unser  Verstand  sie  von  den 
einzelnen  Dingen  abstrahirt.  Die  Schrift  de  praedicamentis 
behandelt  unter  diesem  Namen  die  Aristotelischen  Kategorien,  die 
sogleich  so  geordnet  werden,  dass  der  suhstdiiiia  die  neun  übri- 
gen als  (iceideuf'ui  gegenüber  gestellt  werden ,  mit  der  ausdrück- 
lichen Erklärung,  dass,  wenn  die  priiu  ipia  esseudi  und  eogiwseendi 
nicht  dieselben  wären ,  unser  Wissen  ein  falsches  wäre ,  und  daher 
unserem  Unterscheiden  von  Substanz  und  Accidenz  der  des  sub- 
stanziellen  und  accidentellen  Seyns  parallel  gehe.  Bei  der  Unter- 
scheidung der  siibstdJdUi  prhiui  und  secnndd  (s.  oben  §.  86,  6) 
wird  die  erstere  als  ein  hoe  d/lijidd  bezeichnet,  das  maferiam  hd- 
hel  terminufam  et  siyudtam  aeetdentibiis  indicidiidutibiis^  und  ein 
eiis  perfeetiim  sey,  oder  nitimdm  perfeelionem  habe.  Solcher 
aeeidentid  individiidutid  werden  an  verschiedenen  Orten  mehrere, 
bis  sieben ,  unter  ihnen  das  hie  et  nnne,  angegeben.  Nach  der 
Quantität  wird  die  Qualität  und  das  (id  dlüjuid  abgehandelt,  und 
gezeigt,   dass  in  der  qualitds  auch  das  agere  und  pdti .   in  dem 

22* 


340  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

nd  nluptid  auch  vhi,  fpiavdo ,  posUio  und  lah'ilus  enthalten  sey. 
Mit  dieser  letzten  Behauptung,  an  die  sich  bei  Alhert  die  Lehre 
von  den  Postprädicainenten  schhesst,  streitet  eigentlich,  dass  er 
des  Gilbert  Buch  de  sex  principiis  (s.  oben  §.  1G3,  1),  das 
ja  hier  eine  Lücke  ausfüllen  sollte,  oben  so  gewissenhaft  commen- 
tirt,  als  wäre  es  ein  Aristotelisches  Buch. 

3.  Den  Uebergang  zur  Theorie  des  Schlusses  und  Beweises 
bilden  die  beiden ,  in  fünf  und  zwei  Tractate  zerfallenden ,  Bücher 
Periherineneias ,  welche  dem  Aristotelischen  Buche  (s.  oben  §. 
8(i,  1)  Schritt  für  Schritt  commentirend  und  vertheidigend  folgen. 
Es  folgen  die  neun  Tractate  des  Lib.  I  prior  um  analytico- 
rum,  welche  den  Schluss  auf  das  dici  de  onnii  cl  tnillo  stützen, 
dann  die  Fifjirnw  desselben  so  wie  deren  verschiedene  conjuga- 
tioves  entwickeln  und  dann  in  eine  sehr  genaue  Untersuchung  da- 
rüber eingehn ,  wie  sich  die  Sache  je  nach  dem  modalen  Charakter 
der  Prämissen  gestalte.  Am  Schluss  des  vierten  Tractats  werden 
die  Regeln  über  die  dreifache  mi.rlio  des  ncre.ssnrii.  et  iiiesse,  des 
incsse  et  eonthifjeiitis .  des  roiitivgentis  et  veeessaril  übersichtlich 
zusammengestellt.  Sehr  ausführlich  werden  die  Ileductionen  einer 
Figur  auf  die  andere,  nicht  nur  die  der  zweiten  und  dritten  auf 
die  erste,  sondern  auch  umgekehrt,  betrachtet.  Es  folgen  dann 
sieben  Tractate  über  Lib.  II  prior,  analyt.,  welches  den  zu 
Stande  gekommenen  Schluss ,  seine  Beweiskraft  so  wie  seine  mög- 
lichen Fehler  erörtert,  dabei  aber  immer  Streitigkeiten  der  Schule 
berücksichtigt.  Lib.  I  posterior  um  folgt  in  fünf,  diesem  Lib. 
II  p oster.  in  vier  Tractatcn.  Sie  enthalten  die  Untersuchungen, 
denen  Alhert  den  höchsten  Platz  einräumt,  weil  hier  nicht  mehr 
nur  die  formelle  ncressitas  eonsefpient'ute .  sondern  die  materielle 
Wahrheit  des  Schlusssatzes,  die  iiecessitus  conseqnentis  berück- 
sichtigt wird.  Da  dieselbe  von  der  Walniieit  und  Gewissheit  der 
Prämissen  abhängt,  so  werden  zuerst  dreizehn  Grade  der  Gewiss- 
heit unterschieden,  und  daran  ausführliche  Untersuchungen  über 
das  deductive  Verfahien  geknüpft,  und  gezeigt,  wie  das  Wissen 
und  wie  die  Unwissenheit  folgert.  Die  drei  Grade  des  über  den 
Beweis  hinausgelienden  hitrl/erfu.s .  der  nicht  an  den  Beweis  heran- 
reichenden sensifs  und  ophiio,  und  der  auf  dem  Beweise  beruhen- 
den srientiu,  deren  discursive  Erkenntniss  der  intuitiven  des  In- 
tellects  entgegen  gestellt  wird,  werden  unterschieden,  und  mit  der 
intelligentia  als  der  Erkenntniss  der,  nicht  mehr  zu  definirenden 
und  zu  beweisenden,  Principien  alles  Definirens  und  Beweisens 
geschlossen. 

4.  Zwischen  diesem  unbeweisbar  Gewissen   und  dem  ersten 


11.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Albert.     §.  200,  4.  5.       341 

Demonstrirbareii  bedarf  es  einer  Vermittelung.  Diese  kann  iu- 
ceiitio  genannt  werden,  und  während  bisher  die  ruüo  disserendi 
betrachtet  war,  wie  sie  ratio  judicundi  ist,  wird  jetzt  dieselbe 
betrachtet  werden  so  weit  sie  vdüo  mveniendl.  Dies  ist  der  Zweck 
der  acht  Bücher  Topicorum,  die  in  neun  und  zwanzig  Tractaten 
die  gleichnamige  Aristotelische  Schrift  (s.  oben  §.  86 ,  5)  begleiten. 
Es  soll  hier  gezeigt  werden,  wie  diu'ch  dialektische  Schlüsse  aus 
Wahrscheinlichem  das  im  höchsten  Grade  Gewisse  gefolgert  wer- 
den kann,  oder,  was  ziemlich  auf  dasselbe  hinausgeht,  wie  Pro- 
bleme gelöst  werden.  In  dem  ersten  Buche  wird  die  Dialektik  im 
Allgemeinen ,  in  den  sechs  folgenden  sie  in  Beziehung  auf  einzelne 
Probleme,  im  achten  als  Disputirkunst  betrachtet.  Daran  schlies- 
sen  sich  dann  die  beiden  Libri  elenchorum  an,  die  in  sieben 
und  fünf  Tractaten  den  sophistischen  Scheinbeweisen  Fehler,  sey 
es  in  der  Form,  sey  es  im  Inhalt,  gegen  die  Regeln  des  Schlies- 
sens  nachweisen.  Albert  rechtfertigt  dabei  die  Eintheilung  dieser 
Untersuchung  in  zwei  Bücher,  deren  Verhältniss  er  mit  dem  der 
Dialektik  und  Apodiktik  vergleicht. 

5.  Was  nun  die  eigentlichen  (essenlialcs)  Theile  der  Philoso- 
phie betrifft,  und  zwar  zuerst  den  theoretischen  (scicniia  theo- 
ricu,  realis .  speciihitira  u.  s.w.),  so  zerfällt  diese  in  Metaphysik, 
Mathematik  und  Physik,  die  es  mit  dem  intelligiblen ,  imagina- 
belen  und  sensiblen  Seyn  zu  thun  haben.  Obgleich  die  eben  an- 
gegebene Reihenfolge  die  sachliche,  so  soll  doch,  weil  unsere  Er- 
kenntniss  mit  dem  Sinnlicl^en  anfängt,  ordhte  doctrinae  mit  der 
Physik  begonnen  werden,  und  so  gibt  Albert,  indem  er  in  ähn- 
licher Weise  wie  bisher  das  Organon  so  die  physikalischen  Schrif- 
ten des  Aristoteles  (s.  oben  §.  88)  commentirt,  eine  Darstellung 
der  seieittiu  iiaivridis,  die  den  doppelten  Zweck  hat,  mit  dieser 
Wissenschaft  und  mit  der  liier a  des  Aristoteles  die  Leser,  zu- 
nächst in  seinem  Orden,  bekannt  zu  machen.  Der  zweite  Band 
der  gesammelten  Schriften  enthält  Physicorum  Libb.  VIII,  de  coelo 
et  mundo  Libb.  IV,  de  generatione  et  corruptione  Libb.  II,  de 
meteoris  Libb.  IV,  die  sich  ziemlich  genau  an  Aristoteles  halten, 
und  in  welchen  auch  die  Grundbegriffe  der  Mathematik  abgehan- 
delt werden ,  so  dass  Albert  von  diesen  Untersuchungen  als  von 
seinem  tjuadrimiim  sprechen ,  sie  als  seine  Lehren  über  die  scieii- 
liae  doctrinulcs  oder  discipliuares  (vgl.  oben  §.  147)  citiren  kann. 
An  die  Meteore  schliessen  sich  dann  die  ersten  hundert  Blätter  des 
dritten  Bandes  an,  welche  die  drei  Bücher  de  animu  enthalten,  einen 
Commentar,  der  durch  diyressiones  unterbrochen  wird ,  in  welchen 
andere  Ansichten  erwähnt  und,  wo  möglich,  mit  denen  des  Ari- 


342  Mittelalterliche  Plülosoi)hie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

sfoteles  vermittelt  werden.  Nicht  gerade  zum  Vortheil  der  Con- 
seqiieuz  wird  die  Seele  als  Entelecliie  des  Leibes  gefasst  und  doch, 
weil  einzelne  ihrer  Functionen  nicht  an  Organe  gebunden  seyen, 
behauptet,  diese  und  also  die  ganze  Seele  sey  sepanitd.  In  der 
Theorie  der  Sinne  spielen  die  von  den  Dingen  ausgehenden  spe- 
cies  oder  intenüones f  die,  weil  sie  immateriell,  spirituales  heisiieu, 
eine  grosse  Rolle.  An  die  fünf  Sinne  und  den  scnsvs  comminiis 
soll  sich  die  vis  bmiginalira  und  aestimaiira  schliessen,  die  allen, 
ferner  die  phantasln,  die  wenigstens  den  vollkommneren  Thieren 
zukommt,  endlich  die  mcmor'ui.  Kein  Punkt  wird  mit  so  viel 
Digressionen  besprochen,  Avie  der  infellecfiis  oder  die  pars  latio- 
nalis  der  menschhchcn  Seele.  Es  handelt  sich  hier  darum,  zu 
zeigen,  dass  er  unveränderlich,  von  der  Materie  unabhängig,  für 
das  Allgemeine  empfänglich  und  also  kein  hoc  aliquid  oder  iitdl- 
i'idnatmn  sey,  und  dass  demnach  jeder  Mensch  seinen  eignen  In- 
tellect  habe,  wodurch  er  eben  unsterblich  ist.  Dazu  werden  die 
Theorien  des  Alexander  von  Aphrodisias,  Thcmisthis,  Areuipiice, 
Abuhecher,  Averroes,  Aricembrnn.  früherer  Platoniker  und  Neue- 
rer, die  sich  ihnen  anschliessen,  kritisirt,  und  wird  gegen  sie  ver- 
theidigt,  was  nach  Albert  die  eigentliche  Meinung  des  Aristoteles 
ist.  Dabei  wd  gezeigt,  dass  der  i/ifcllectns  possibllis  in  einem 
ganz  anderen  Sinne  potentia  sey  als  die  Materie  dies  war.  Ueber 
den  liitellrrttfs  (igens  ist  weniger  gesagt,  es  wird  da  auf  die  Me- 
taphysik verwiesen.  Durch  den  hiiellectvs  practicns  wird  der 
Uebergang  gemacht  zu  der,  von  jenem  verschiedenen,  rohmtaSf 
welche  bei  dem  Menschen  an  die  Stelle  des  oppet'üiis  der  Thiere 
tritt.  Der  "Wille  ist  frei,  selbst  von  den  Beweisen  der  Vernunft 
nicht  zur  Wahl  genöthigt,  wirkt  als  reine  cuiisa  sui.  Wo  gehan- 
delt werden  soll,  müssen  beide  sich  vereinigen:  die  Vernunft  er- 
klärt für  gut  (discerint) .  der  Wille  nimmt  in  Angriff  (impctvm 
facif^.  Die  allgemeinen  und  angebornen  Grundsätze  des  intellc- 
ctiis  prncticiis  bilden  die  syndercsis.  welche  eben  so  wenig  irrt, 
wie  die  theoretischen  Vernunftaxiome ,  welchen  ihr  Inhalt  entspricht. 
Aus  der  Synderesis  als  Obersatz  und  der  erkennenden  Vernunft, 
die  den  Untersatz  liefert,  entsteht  die  conscientia.  Die  Verbin- 
dung des  intellectifs  und  der  roltuftds  gibt  das  Uberum  (trbitrinm, 
in  dem  der  Mensch  arblter  ist,  weil  er  Vernunft,  Über ,  weil  er 
Wille  ist.  Nicht  das  liberum  urbitrlnvi .  sondern  die  libertns  da- 
rin muss  als  der  Sitz  des  Bösen  angesehn  werden. 

G.  Die  vorstehenden  naturwissenschaftlichen  Untersuchungen, 
welche  alle  im  2^''''  und  3*""  Bande  der  Gesammtausgabe  zu  finden, 
sind  zu  einem  übersichtlichen  Auszuge  verschmolzen  in  der  Summa 


II.   Glanzpei-iode.     B.  Christliche  Aristoteliker      Albert.     §.  200,  6.         343 

philosopliiae  naturalis  (Bd.  21),   auch  wohl  Philosophia  pauperum 
genannt,   weil  dadurch  die  Glieder  des  Bettelordens  in  Stand  ge- 
setzt werden  sollten,  das  Ganze  der  Aristotelischen  Physik  kennen 
zu  lernen.    Manche  hezweifeln ,  dass  All/ert  seltet  diesen  Auszug 
gemacht  habe,  der  übrigens  in  verschiedenen  Redactionen  existirt, 
indem  z.  B.  in  der  von  Jac.   Thauvcr  Leipz.  1514  veranstalteten 
Ausgabe  Einiges  fehlt,   was  sich  bei  Jammij  findet.     So  der  Ab- 
schnitt über  die  Kometen.    Ausserdem  aber  finden  sich  im  zwei- 
ten Bande   der  Gesammt ausgäbe   fünf  Bücher  de  Mineralibus, 
die  Albert .   weil   er   bei  Ar  ist  ol  des  nur  vereinzelte  Winke  fand, 
aus  Arieenvü  und  anderen  Autoren,  aber  auch  aus  eignen  Beob- 
achtungen zusammenstellte.    Ein  alphabetisches  Register  der  Edel- 
steine, denen  er  wohlthätige  Wirkungen  zuschreibt,  und  eine,  für 
seine  Zeit   sehr  aufgeklärte,   Kritik  der  Goldmacherei  ist  das  In- 
teressanteste darin.     Welchen  Grund  Jammy  gehabt  hat,  die  Schrift 
de  sensu  et  sensato,   deren  genauen  Zusammenhang  mit  der 
von  der  Seele  Alber l  selbst  anerkennt,  so  wie  die  übrigen  Parva 
naturalia,   auf  welche  Albert   sich   in  seiner  Metaphysik  beruft, 
hinter  diese,  in  den  fünften  Band  zu  setzen,  ist  nicht  recht  klar. 
Das  Gleiche  gilt  von  den  sechs  und  zwanzig  Büchern  de  anima- 
libus,  welche  den  sechsten  Band  ausmachen,  und  in  welche  alles 
das  hineingearbeitet  ist,  was  die  Aristotelischen  Schriften  de  part. 
und  de  generat.  anim.   enthalten,   so  wie  Vieles  aus  der  Thierge- 
schichte.    (So  namenthch  in  den  neunzehn   ersten  Büchern,   die 
letzten  sieben  zeigen  grössere  Selbstständigkeit.)     Am  Meisten  zei- 
gen sich  Albert s  eigne  Studien  in  den  sieben  Büchern  de  vege- 
tabilibus  et  plantis,  die  von  Botanikern  von  Fach  noch  heute 
mit  Achtung  genannt  werden.     Ausserdem  sind  die  beiden  Schrif- 
ten   de  unitate  intellectus  contra  Averroera   und  de  in- 
tellectu  et  intelligibili  zu  erwähnen.    In  der  ersteren  werden 
den  dreissig  Gründen,  mit  welchen  nach  den  Anhängern  des  Aner- 
roes  die  Unsterblichkeit  der  Einzclpersönhchkeit  bestritten  werden 
kann,  sechs  und  dreissig  Gegengründe  entgegengesetzt,  aus  denen 
sich  ergeben  soll,   dass  jene  Behauptung  aus  der  Ideenlehre  her- 
vorgegangen,   dagegen   die   acht  Aristotehsche  Lehre   diese   sey, 
dass  Jeder  seinen,   nicht   nur  leidenden,   sondern   auch   thätigen, 
Verstand  habe.     In  der  zweiten  Schrift,  einer  Ergänzung  zu  der 
über  die  Seele,    wird   abermab  die  Frage   über  die  Universalien 
vorgenommen,  und  ganz  wie  oben  als  der  richtige  Standpunkt  der 
bestimmt,  der  ge^xisser  Maassen  die  Mitte  einschlage  zwischen  Xo- 
minalismus   und   Realisnms.     Xur  die  Terminologie   ist  hier  eine 
andere  als  in  der  Schrift  de  praedicabihbus :     Xur  wie  sie  ///  rebus 


344  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

sind,  sollen  die  Gattungen  viiiversalla  oder  auch  (juidltaies  seyn, 
dagegen  wie  anfe  res  seyen  sie  essenüae ,  me  post  res  intellectns 
zu  nennen.  Ausserdem  werden  in  dieser  Schrift  die  von  den  Ara- 
bern gemachten  Unterscheidungen  hinsichtlich  des  inleUeclns  so 
adoptirt,  dass  eine  Stufenfolge  angenommen  wird,  in  der  der  Ver- 
stand vom  possibtiis  zum  (igens ,  fornutlis,  in  cfl'cctu ,  adeplns, 
assbnildlirits ,  sancfits  wird,  welcher  letztere  die  Seele  als  in  Gott 
entrückt  zeige.     (Der  rapins  des  Ariceniia.) 

7.  Ganze  drei  Viertheil  des  dritten  Bandes  der  Werke  nimmt 
Alherts  Metaphysik  oder  prima  philosophia  ein,  die  er  auch  di- 
vina  philosophia  oder  theologia  nennt,  weil  sie  nur  durch  göttliche 
Erleuchtung  zu  Stande  kommt,  und  das  Göttliche  betrachtet.  In 
den  historischen  Erörterungen  des  ersten  Buches  werden  alle  ma- 
terialistischen Ansichten  nach  ihrem  Culminationspunkte  als  Epi- 
kureismus  zusammengestellt.  Epikurische  Philosophie  heisst  ihm 
immer  materialistische,  Epimrus  sehr  oft  ein  Materialist.  Eben 
weil  der  Name  hier  zum  uppplhiib:iim  geworden  ist,  hat  sein  (al- 
lerdings komisches)  Etymologisiren  doch  einen  Sinn.  Eben  so  er- 
hält der  Name  der  Gegner  des  l^pikirr,  Stoici,  auch  eine  weitere 
Bedeutung,  und  darum,  nicht  bloss  wegen  einer  Namensverwechs- 
lung, werden  Eleaten,  werden  Pi/tJ/nfforas ,  Solrates,  Pinto  als 
Stoiker  bezeichnet ,  d.  h.  als  Solche ,  nach  denen  nicht  die  Materie, 
sondern  die  Form  ..dat  esse''.  Die  Peripatetische  Ansicht  steht 
ihm  dann  über  beiden.  Im  weitern  Verlauf  Averden  die  Aristote- 
lischen Untersuchungen  oft  durch  Digressionen  unterbrochen;  so 
im  dritten  Buche,  wo  sieben  und  zwanzig  Dubitationes  (Apo- 
rien)  zuerst  mit  Aristotelischen,  dann  mit  eignen  Gründen  besei- 
tigt werden.  Das  vierte  Buch  exponirt  ohne  eigne  Digressionen, 
was  Aristoteles  über  den  Satz  des  NichtWiderspruchs  und  des  aus- 
geschlossenen Dritten  gesagt  hatte;  im  fünften,  synonymischen, 
hat  Albert  einige  hinzugefügt.  Die  wichtigste  ist,  dass  er  die 
vier  crnisac  aus  einem  gewissen  Princip  abzuleiten  versucht,  in- 
dem die  materialis  und  formalis  (quid  erat  esse,  (juidit(is)  als 
causa  intrinseca ,  die  efficiens  und  fnialis  als  extrinseca  zusam- 
mengefasst,  und  dann  auf  die  materia  das  hoc  esse,  auf  die /br- 
ma  das  esse  reducirt  wird.  Ausserdem  werden  Einheit,  Zahl,  erste 
Materie  (mit  deren  Begriff  es  streite  ohne  alle  Form  zu  seyn), 
das  Allgemeine,  die  Gattung  und  ihr  Verhältuiss  zur  Materie  u.  A. 
in  eignen  Digressionen  erörtert.  Der  Sprachgebrauch  hinsichtlich 
der  imiversalia  modificirt  sich  hier  abermals,  so  dass  darunter 
nur  verstanden  wird,  was  in  den  vergleichenden  Verstand  fällt, 
so  dass  es  also  jetzt  heisst:  nnirersale  non  est  ifisi  dtnn  iiiteHigitur. 


II.  Glauzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Albert.     §.  200,  7.  8.       345 

Eiue  Digression  zum  sechsten  Buch  sucht  die  Zufälligkeit  man- 
cher Ereignisse  mit  dem  Wissen  Gottes,  das  mit  seinem  Seyn  zu- 
sammenfällt, durch  die  Unterscheidung  der  ersten  und  der  näch- 
sten Ursache  zu  vereinigen.  Das  siebente  Buch  ist  eine  Para- 
phrase fast  ohne  alle  Digressionen,  das  achte  enthält  zum  Schluss 
eine  Erörterung,  in  der  ein  scheinbarer  Widerspruch  in  der  peri- 
patetischen  Lehre  hinsichtlich  der  Substantialität  der  Materie  und 
Form  durch  eine  Distinction  entfernt  wü'd.  Beiden  zusammen  hat 
er  die  Ueberschrift  de  substäntia  gegeben.  Das  neunte  Buch 
de  potentia  et  actu  paraphrasirt  nur  den  Aristoteles .  das  zehnte 
de  uno  et  multo  gleichfalls,  mit  Ausnahme  einer  ziemlich  unbe- 
deutenden Digression  über  das  Maass.  Das  eilfte  Buch  der  Ari- 
stoteHschen  Metaphysik  scheint  Jlhert  nicht  gekannt  zu  haben; 
wenigstens  ist  sein  eilftes  eine  Paraphrase  des  Buches  A,  so 
wie  sein  zwölftes  dem  dreizehnten,  sein  dreizehntes  dem  vier- 
zehnten des  Aristoteles  entspricht.  Nur  in  dem  eilften  finden  sich 
einige  Digressionen;  theils  Zusammenfassungen  des  früher  Ent- 
wickelten —  z.  B.  dass  der  Physiker  alles  in  Beziehung  auf  die 
Bewegung,  der  Metaphysiker  auf  den  Zweck  betrachte,  dass  alles 
Werden  ein  educi  e  wateria  sey  und  eines  (tctn  e.xistentis  be- 
dürfe u.  A.  —  theils  nähere  Bestimmungen  Aristotelischer  Sätze. 
Unter  diesen  sind  die  wichtigsten  die,  welche  die  Einfachheit  der 
ersten  Ursache  damit,  dass  sie  Denken  des  Denkens  ist,  so  wie 
mit  der  Vielheit  ihrer  Prädicate  zu  vereinigen  suchen.  Die  letz- 
teren sollen  ihr  nicht  vnivoee  mit  anderen  Subjecten  zukommen, 
sondern  nur  im  eminenten ,  oft  im  negativen  Sinn ,  so  dass  er  die 
eavsd  prima,  im  Unterschiede  von  der  intelligentia  prima  und 
muteria  prima ,  primissima  nennt.  Ferner  wird  ausführlich  erör- 
tert, wie  aus  der  ersten  Substanz  absteigend  die  himmhschen  In- 
telligenzen hervorgehn,  die  ihre  Individuation  durch  die  ihnen  zu- 
gewiesenen Himmelskreise  erhalten.  Endlich  lässt  er  sich  weit- 
läuftig  darüber  aus,  warum  über  den  Fixsternhimmel  zwei  stern- 
lose angenommen  werden  müssen,  deren  unterer  von  dem  im 
oberen  thronenden  höchsten  Gute,  als  seinem  Zweck  und  Ziel,  in 
Bewegung  gesetzt  wird.  Ein  System  einander  untergeordneter  In- 
telligenzen, welche  die  Hinimelskreise  bewegen  (vgl.  oben  §.  184,  3), 
soll  die  wahre  peripatetische  Lehre  seyn. 

8.  Ausser  der  theoretisclien  Philosophie  nimmt  Albert  nur 
noch  eine  praktische  an,  indem  er  die  Poetik  als  Gegenstück 
der  Rhetorik  zu  der  Logik  stellt.  Je  nachdem  die  Ethik  den  ein- 
zelnen Menschen  für  sich,  als  Ghed  des  Hauses  oder  .als  Bürger 
betrachtet,   ist   sie   ^Jonastiea ,    Oeeonomiea   oder   Politiea.     Nur 


346  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

die  ei'stere  hat  Alhcrt,  in  seinem  Commentar  zur  Nikomachischen 
Ethik  (s.  oben  §.  89,  1),  bearbeitet.  (Der  Commentar  zur  Politik, 
den  Jdinmii  im  vierten  Bande  der  Ethik  folgen  lässt,  verräth  schon 
in  der  äusseren  Form,  indem,  Avie  bei  Arerrol's  und  Thomas,  im- 
mer der  ganze  Aristotelische  Text  in  wörthcher  Uebersetzung  der 
Auseinandersetzung  vorausgeschickt  wird,  ausserdem  aber  auch 
in  der  Sprache,  einen  andern  Verfasser.)  Eignes  kommt  in  den 
paraphrasirenden  Erklärungen  des  Aristoteles  nicht  viel  vor,  man 
müsste  denn  dies  für  wichtig  halten ,  dass  rlrtKtes  eardinales  und 
(tdjiinetae  unterschieden  werden,  oder  dass  er  dem  siebenten  Buche 
die  Uebcrschrift  de  contincntia  gegeben  hat.  Manche  Tugenden 
werden  mit  ihren  griechischen  Namen  angegeben,  die  dann  mei- 
stens nach  einer  sehr  seltsamen  Etymologie  erklärt  werden.  Das 
achte  Buch  de  amicitia,  so  wie  das  neunte  de  impedimentis  ami- 
citiae  sucht  Albert  als  einen  nothwendigen  Bestandtheil  der  Ethik 
nachzuweisen.  Sonst  enthalten  beide  so  wenig  Neues  wie  das 
zehnte,  das  eine  bald  wörtliche,  bald  freie  Uebersetzung  des  All- 
st oteles  ist.  Hierin  wird  Albert  keinen  Tadel  sehn,  denn  am  Ende 
seiner  naturwissenschaftlichen  Arbeiten  spricht  er  mit  einer  Art 
Stolz  aus,  was  sich  am  Ende  des  Commentars  zur  Politik  fast 
wörtlich  wiederholt  findet:  er  habe  nur  die  Peripatetische  Lehre 
bekannt  machen  wollen ,  was  seine  eigne  Ansicht  sey ,  werde  Kei- 
ner herauslesen,  daher  dürfe  auch  nur  der  ihn  tadeln,  welcher 
seine  Darstellung  mit  des  Aristoteles  eigenen  Schriften  vergleiche. 
Zieht  man  in  Betracht ,  wie  wenig  Hülfsmittel  ihm  zu  Gebote  stan- 
den, so  wird  man  seinen  Stolz  gerechtfertigt  finden. 

9.  Die  zuletzt  angeführte  Aeusserung  lässt  die  Kluft  zwischen 
Alberts  eigner  und  der  Peripatetischen  Lehre  grösser  erscheinen, 
als  sie  ist.  Wirklich  getadelt  wird  Aristoteles  nur  in  zwei  Punk- 
ten, und  davon  wird  der  eine,  die  Ewigkeit  der  Welt,  als  Ver- 
leugnung der  Aristotelischen  Principien ,  der  andere ,  die  Definition 
der  Seele  als  einer  verbessernden  Ergänzung  fähig  ])ezeichnet. 
Dagegen  gibt  es  eine  Schrift  des  Albert .  welche,  eben  weil  sie 
nicht  die  Form  des  Commentars  hat,  am  Meisten  seine  Ueberein- 
stimmung  mit  dein  Aristoteles ,  so  wie  am  Klarsten  sein  Verhält- 
niss  zu  der  Schrift  de  causis  (s.  oben  §.  189)  und  anderen  raor- 
genländischen  Aristotelikern  ergibt.  Es  sind  dies  die  zwei  Bü- 
cher de  causis  et  processu  universitatis  (WW.  Bd.  V,  p. 
528 — 655),  von  denen  das  erste,  de  proprietatibus  primae  causae 
et  eorum  quae  a  prima  causa  procedunt,  in  vier,  das  zweite,  de 
terminatione  causarum  primariarum,  in  fünf  Tractate  zerfällt.  Nach 
einer  ausführlichen  Kritik  der  Epikurischen ,  d.  h.  materialistischen, 


II.  Glauzperiode.     B.  Christliclie  Aristoteliker.     Albert.     §.  200.  9.         347 

und  Stoischen,  d.  h.  idealistischen,  Ansicht,  so  wie  der  des  Jvi- 
cemhron  (s.  oben  §.  188) ,  wird  festgestellt ,  dass  ein  absolut  noth- 
wendiges  höchstes  Princip  an  der  Spitze  alles  Seyns  stehe,  von 
dessen  zwölf  Eigenschaften  für  den  weiteren  Fortgang  die  wich- 
tigste die  absolute  Einfachheit  ist,  vermöge  der  in  ihm  kein  Un- 
terschied Statt  findet  zwischen  dem  Esse  oder  dem  quo  aVujiiid 
est  und  dem  quod  est  oder  dem  (jno  alirjuid  est  hoc.  Dieser  Un- 
terschied, der  später  als  existentia  und  esscntki  eine  sehr  wich- 
tige Rolle  spielt,  grenzt,  zwar  nahe  an  den  der  /orma  und  ma- 
teriii ,  doch  will  Alhcrt  sie  nicht  ganz  confundiren ,  weil  ja  das 
(juod  est  auch  dem  immateriellen  Wesen  zukommt.  Das  omni- 
mode  et  omnbio  Se3'ende,  wenn  man  will  Ueberseyende ,  da  das 
Seyn  sein  Werk  ist,  ist  über  alle  bestimmten  Prädicate,  daher 
auch  alle  Namen ,  erhaben ,  so  dass  nur  im  eminenten  Sinne  ihm 
beigelegt  werden  darf,  was  ein  nicht  relativ,  sondern  allgemein 
Zuträgliches  bedeutet.  (Gut  seyn  ist  Allem,  golden  seyn  nicht 
Allem,  z.  B,  dem  Lebendigen  nicht,  zuträglich.)  Summa  bonitas, 
eiis  piimum  ,  prima  causa,  prhninn  priiicip'unn ,  fons  omnis  bo- 
nitatis .  sind  die  Namen,  unter  denen  das  oberste  Princip,  das 
dem  Albert  mit  dem  gnädigen  Gott  zusammenfällt,  besprochen 
wird.  Dasselbe  weiss  Alles ,  aber  das  Mannigfaltige  in  seiner  Ein- 
heit, das  Zeithche  als  ewig,  das  Negative  am  Positiven,  daher 
auch  das  Böse  niu'  als  Mangel  am  Guten.  Sein  Wissen,  als  von 
keiner  Schranke,  ist  von  keinem  Gegensatz  behaftet,  daher  weder 
universell  noch  individuell.  Als  causa  sui  ist  es  frei,  was  seiner 
Nothwendigkeit  keinen  Abbruch  thut ;  sein  Wille  ist  nur  durch  seine 
eigne  Güte  und  Weisheit  beschränkt,  vermöge  der  es  das  Wider- 
sinnige nicht  vermag.  Aus  diesem  ersten  Principe  fliessen  (fluunt), 
so  dass  je  weiter  sie  sich  von  ihm  entfernen  um  so  unvollkomm- 
ner  sie  sind,  alle  causirten,  Principien  sowol  als  Dinge.  Sein  Reich- 
thum  bringt  es  zum  Ueberfluthen ;  was  aus  ihm  floss  ist  ihm  zwar 
nicht  gleich  aber  ähnlich,  und  verlangt  daher  nach  ihm  zurück. 
Diese  Abnahme  der  Vollkommenheit  wird  bald  als  Uebergang  des 
Allgemeinen  in  die  Besonderheit ,  bald  als  Einschränkung  bezeich- 
net ,  auch  wohl  mit  dem  Juden  Isaac  gesagt ,  dass  das  je  Folgende 
im  Schatten  des  Früheren  entstehe,  und  diese  vmbra  zur  diffe- 
reiüia  coarctavs  gemacht.  Der  erste  Ausfluss  aus  jenem  Princip 
unterscheidet  sich  von  ihm  dadurch,  dass  er  nicht  mehr  absolut 
einfach  ist,  indem  in  ihm  das  Esse,  das  er  vom  ersten  Princip 
hat,  und  das  rpiod  est,  das  aus  dem  Nichts  stammt,  auseinander- 
fallen; es  ist  daher  In  esscntia  finitum,  in  vir  tute  in  f 'mit  um.  Diese 
erste  Emanation  ist  die  iiitelligentia ,   die  darum  nicht  mehr  Gott 


348  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

genannt  werden  darf,  Ihr  Wesen  ist  Erkennen.  Weil  sie  sich 
als  Wirkung  erkennt,  erkennt  sie  a  posteriori,  die  erste  Ursache 
dagegen  erkennt,  aus  dem  entgegengesetzten  Grunde,  Alles  a 
priori.  Zwar  nicht  vermöge  ihres  eignen  Wesens,  wohl  aber  kraft 
des  ihr  mitgetheilten  Seyns,  ist  auch  die  IntelUgenz  wieder  aus- 
fliessend und  wirksam;  und  ihr  Ausfluss,  also  die  zweite,  mittel- 
l)are ,  Ausstrahlung  aus  dem  ersten  Principe,  ist  die  (inima  nobi- 
/is,  das  beseelende  und  belebende  Princip  der  himmlischen  Sphä- 
ren. Diese  werden  also  durch  die  Intelligenz  bewegt,  weil  diese 
ihr  desidcrahnn  .  durch  die  (iiüma .  welche  ihr  motor  ist  Allen 
diesen  Emanationen  ist  gemeinschaftlich  das  Seyn ,  dieses  primiim 
(T'-iitinn,  ferner  dass  jede  als  eine  Vielheit  existirt,  freilich  nicht 
als  coordinirte,  denn  wie  die  animae  nobilcs  sich  zu  einander  ver- 
halten, wie  der  Saturnkreis  zum  Jupiterkreis  u.  s.  w. ,  so  besteht 
auch  jede  Intelligenzen -Ordnung  nur  aus  einem  einzigen  Indivi- 
duum. Dass  sie  immateriell  und  doch  individuell  sind,  soll  da- 
durch erklärt  werden,  dass  durch  den  Gegensatz  von  esse  und 
(jaod  est  ein  gewissermaassen  materielles  Princip  in  ihnen  sey.  (Es 
wird  manchmal  als  f/ij(eae/tim  von  der  I/)//e  unterschieden.)  Gott, 
in  dem  auch  dieser  Gegensatz  felilt ,  ist  deshalb  nicht  Individuum. 
Eher  noch  kann  man  zugestehn,  dass  Gott  //oc  iditjuid  ist,  man 
darf  aber,  da  das  snpposilum  in  Gott  ganz  mit  seinem  Seyn  zu- 
sammenfällt, dasselbe  durchaus  nicht  als  mutcria .  nicht  einmal 
als  hyleuehim  denken.  Als  ein  viertes  Princip,  hinter  jenen  dreien 
zurückbleibend  (depeiens) .  nennt  Albert  die  iwtnra .  die  forma 
eorporeitidis ,  das  Princip  der  niederen  körperlichen  Bewegungen. 
Die  animn  nun  und  die  ludunt  sind  die  Werkzeuge,  vermöge  der 
die  Intelligenz  die  Formen,  die  sie  als  ilir  Inbegriff  in  sich  ent- 
hält, in  die  viateria  hinein-  oder,  wie  sich  die  Sache  bei  Albert 
noch  öfter  gestaltet,  aus  der  Materie  als  der  indioidio  formae 
herausbringt.  Dadurch  entstehn  die  Dinge,  die  von  der  Form 
ihren  (Gattungs-)  Namen  und  ihre  (juiditds  haben,  während  die 
Materie  sie  zu  einem  hoc  olhpdd  contrahirt.  Der  erste  wirkliche 
(formale)  Körper  ist  der  Himmel;  wie  in  ihm  die  der  anima  inne- 
wohnenden Formen,  so  werden  die  der  nidiira  emgeströmten  For- 
men (formae  naturnies)  zunächst  in  den  Elementen  materialisirt, 
so  dass  zu  den  zuerst  genannten  vier  Principien  als  Grundlagen 
des  natttrhchen  Daseyns,  die  weiteren  vier:  Materie,  Form,  Him- 
mel, Elemente  hinzukommen.  Was  Albert  bei  Erörterung  dieser 
Begriffe  von  der  Materie  sagt ,  erscheint  dadurch  etwas  unentschie- 
den, dass  er  an  derselben  bald  das  positive  Moment  hervorhebt, 
dass  sie  supposifnm  oder  subjevium  {ijTO'Aeiuevov)  ist,  bald  wieder 


n.  Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Albert.    §.  201.  1.  2.         349 

das  negative,  dass  sie  prirath  {oreQr^aig)  (vgl.  oben  §.  87,  2) 
seyn  soll.  Da  der  Himmel  unvergänglich  ist,  so  ^Yill  er  ihm  nm- 
im  ersteren  Sinn  Materie  beilegen,  dagegen  wird  das  zweite  Mo- 
ment besonders  hervorgehoben ,  wo  die  Materialität  der  Dinge  mit 
ihrer  Nichtigkeit  als  Eins  gesetzt  wird.  Die  angeformte  Materie 
wird  von  ihm  oft  als  pene  nihil  bezeichnet,  weil  sie  die  Anlage 
zur  Form  und  der  Drang  dazu  ist. 

§.  201. 
Albert  als  Theolog. 

1.  Auch  seine  theologische  Laufl)ahn  beginnt  Alhcrt  als  Com- 
mentator,  zunächst  der  h.  Schrift,  dann  der  Sentenzen  des  Lom- 
barden. Der  Commentar  zu  diesen  letzteren  füllt  drei  Bände  der 
Gesammtausgabe  (Bd.  14  — 16).  Dem  wörthch  angeführten  Text 
der  Sentenzen,  folgt  die  dirisio  tejlns.  dieser  die  expnsHio ,  wel- 
che in  einzelnen  Artikeln  die  sich  ergebenden  Fragen  formulirt, 
die  Bejahungs-  und  Yerneinungsgründe  aufzählt,  endlich  die  Lö- 
sung gil)t.  Nur  l)ei  sehr  leicht  verständlichen  Paragraphen  fällt 
die  dirisio  weg.  Rückweisungen  auf  früher  im  Commentar  Gesag- 
tes vertreten  oft  die  Stelle  der  ausführlichen  Erörterungen.  Z.  B. 
wird  bei  den  Sacramenten  auf  das  über  die  Cardiualtugenden  Ge- 
sagte verwiesen.  Auch  auf  seine  früher  geschriebenen  philosophi- 
schen Werke  verweist  AWeri  manchmal,  namentlich  auf  den  Tractat 
über  die  Seele.  Nur  in  sehr  wenigen  Punkten  wird,  mit  Bezug 
auf  andere  moderni,  von  dem  abgewichen,  was  der  Lombarde  be- 
hauptet hat;  im  Ganzen  will  Albei't .  ganz  wie  in  seinen  Commeu- 
taren  zum  Aristoiclrs  nicht  die  eigne,  sondern  seines  Autors  An- 
sicht entwickeln. 

2.  Ganz  anders  dagegen ,  und  mit  der  Aufgabe  zu  vergleichen, 
die  oben  (§.  200,  0)  der  Schrift  de  causis  et  processu  universita- 
tis  zugewiesen  wurde,  ist  die,  welche  sich  Aihert  in  seiner  Summa 
theologiae  (Bd.  17.  18)  gesetzt  hat.  Titel,  Methode,  Bezeich- 
nung der  Abschnitte  erinnert  so  sehr  an  Alexander  von  Haies 
(s.  oben  §.  195),  dass  mau  sich  des  Gedankens  nicht  erwehren 
kann,  es  habe  hier  den  Dominikanern  Etwas  geboten  werden  sol- 
len, was  die  Franciscaner  bereits  hatten.  Dabei  stellt  sich  Albert 
zu  den  Sentenzen  des  Lombarden  ungefähr  so,  wie  sich  Alexander 
zu  der  Schrift  Ihigds  gestellt  hatte,  d.  h.  er  folgt  ihm  nicht  wie 
ein  Commentator,  sondern  wie  ein  P'ortl)ildner.  Eben  darum  nennt 
er  auch  sein  Werk  eine  theologische,  nicht  nur  eine  Lehr -Summa. 
Nachdem  in  dem  ersten  Tractat  der  Theologie  als  Wissenschaft 
zugestanden  ist,  dass  sie  Zweck  in  sich,   als  praktischer  Wissen- 


350  Mittelalterliehe  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Schaft  aber  die  Erreichung  der  Seligkeit  zum  Zweck  angewiesen 
wird,  geht  der  zweite  Tractat  zu  dem  Unterschiede  des  frui  und 
nti  über,  und  zeigt,  dass  wieder  das  Iriil  auf  das  Göttliche,  noch 
das  Vit  auf  das  Diesseits  beschränkt  ist.  Es  gibt  auch  ausser  Gott 
Solches  was  fruibile  und  nicht  nur  ///  rhi ,  sondern  auch  in  pntrui 
wird  es  Solches  geben,  das  titile  ist.  Im  dritten  Tractat,  der  von 
der  Erkennbarkeit  und  Beweisbarkeit  Gottes  handelt,  wird  dieselbe 
auf  das  «pda  est  beschränkt,  während  das  quid  est  nur  infmilc 
(d.  h.  nicht  positiv)  erkennbar  ist.  Das  rcsügium  Gottes  in  den 
untermenschlichen,  seine  iningo  in  den  menschlichen  Wesen  sind 
für  das  Erkennen  Gottes  der  Ausgangspunkt,  die  Erleuchtung  durch 
die  Gnade  muss  zu  der  natürlichen  hinzutreten,  um  es  zu  vol- 
lenden. Zu  den  fünf  Beweisen  des  Lombarden  für  die  Existenz 
Gottes  fügt  Albert  zwei,  dem  Aristoteles  und  Bol't/ntis  entlehnte, 
hinzu.  Alle  die  bisherigen  Untersuchungen  werden  als  praeam- 
hula  bezeichnet  und  mit  dem  vierten  Tractat  zu  dem  eigentlichen 
Gegenstande  ül)ergegaugen,  zu  Gott  als  dem  wahren  Seyn  {essen- 
tia) ,  von  dem  Ansei m  mit  Kecht  gesagt  habe,  dass  nur  wer  sich 
selbst  nicht  versteht,  es  als  nichtseyend  denken  kann.  Als  das 
absolut  Einfache,  in  dem  esse,  (/itod  est  und  n  quo  est  zusam- 
menfallen, ist  Gott  der  absolut  Unveränderliche.  Nachdem  im 
fünften  Tractat  die  Begriffe  neternitos,  (leriteruUns  (aemm)  und 
femp)fs  als  incommensurabel  dargethan  sind ,  weil  jedes  eine  andere 
Einheit  (niiuc)  zum  Maass  hat,  wird  in  dem  sechsten  vom  Einen 
Wahren  und  Guten  gehandelt.  Diese  drei  Prädicate,  die  übrigens 
allen  Wesen  zukommen  (cmn  ente  conrcrtiinti(r)  kommen  Gott  zu, 
das  erste  wegen  seines  Nicht -nichtseyn-könnens,  das  zweite  we- 
gen seines  Einfach  -  und  Ungemischtseyns,  das  dritte  wegen  seiner 
Un Veränderlichkeit  und  Ewigkeit.  Die  Unterscheidung  von  reritas 
rei  und  signi ,  die  hier  gemacht  wird,  dient  später  zur  Lösung 
mancher  Schwierigkeiten,  z.  B.  solcher,  die  das  göttliche  Vorher- 
wissen darbietet.  Nur  dem  Guten  wird  wahrhafte  Wesenhaftigkeit 
zugcschrieljen ,  das  Böse  kommt  nur  an  ihm  vor,  wie  das  Hinken 
am  Gehen.  Mit  dem  siebenten  Tractat  wendet  sich  die  Untersu- 
chung zur  Dreieinigkeit,  wo  vermöge  einer  Menge  von  Distinctio- 
nen,  z.  B.  der  proprielas  personalis  und  personac,  der  ewigen 
und  zeitlichen  processio  u.  s.  w.  die  kirchliche  Lehre  als  die  allein 
richtige  bestimmt  wird.  Im  achten  werden  über  die  Namen  der 
drei  Personen  sehr  subtile  Untersuchungen  angestellt,  z.B.  uirum 
Pater  pnter  est  quia  gener (d  rel  genernl  quin  ptder  est?  Fer- 
ner über  filius,  imngo ,  verbiim ,  Spiritus  sanctus ,  doniim,  amor. 
Der  neunte  betrachtet  die  Beziehung  und  Unterschiede  der  Perso- 


U.  Glauzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Albert.     §.201,  3.  351 

neu,  der  zehnte  die  Begriffe  vsia  (essentla),  usiosls  {suhsislentki). 
hypostasis  {suhstaniUi) ,  persona,  wobei  die  Uiitersclieidungeu  des 
Augustinus,  (Pseiido-)  Boethius,  Praepositlcus  und  gewisser  Neue- 
ren alle  rühmend  erwähnt  werden,  und  zuletzt  der  Sprachgebrauch 
der  Lateiner  als  der  vorsichtigste  empfohlen  wird.  Die  Ausdrücke 
trhiHs,  irlniis  et  unus,  trinitas,  trinUas  in  unitate  u.  A,  werden 
gleichfalls  durchgenommen.  Es  folgt  im  eilften  Tractat  die  Gleich- 
heit der  göttlichen  Personen,  vermöge  der  jede  jeder  und  jede  al- 
len gleich  ist.  Der  zwölfte  handelt  de  appropruäis,  d.  h.  den  se- 
eundären,  aus  der  Grundeigeuschaft  der  Personen  folgenden  xVttri- 
biiten  derselben,  wo  dem  Vater  die  Macht,  dem  Sohne  die  Weis- 
heit, dem  h.  Geiste  der  Wille  zwar  nicht  exclusiv,  aber  doch  im 
besonderen  Sinne  beigelegt  wird. 

3.  Unter  der  Ueberschrift  De  nominibus  (juae  teuiporaliter 
Deo  conveniuni  werden  im  dreizehnten  Tractat  die  Begriffe  Do- 
minus. Creator,  causa  erörtert,  und  gezeigt,  dass  Gott  einzige 
causa  forma /is  oder  e.remplaris  der  Dinge  sey,  weil  er,  indem  er 
sich  selbst  erkennt,  die  Ideen  aller  Dinge  weiss,  aber  so,  dass  sie 
in  ihm,  wie  die  Radien  im  Centro,  eine  Einheit  bilden.  Eben 
so  ist  er  einzige  causa  eff/cieus  und  /Inalis  aller  Dinge.  Im  vier- 
zehnten Tractat  werden  die  ül)ertragenen  und  l)ildliclien  Namen 
und  das  Recht  erörtert,  dem  absolut  Einfachen  viele  beizulegen. 
Der  fünfzehnte  betrift't  Wissen,  Vorherwissen  und  Vorhcrbestim- 
muug.  Die  in  der  Logik  gemachte  Unterscheidung  der  nccessitas 
consefjuentiac  und  consefjucntis ,  so  wie  die  theologische  zwischen 
praescientia  simplicis  inteUigentiae  und  heneplaciti  oder  approha- 
tionis  lassen  hier  die  Schwierigkeiten  lösen.  Im  sechszehnten  Tractat 
kommt  die  praktische  Präscienz,  die  Prädestination  zur  Sprache, 
und  durch  Unterscheidung  der  praeparatio ,  yratia  und  gloria 
zwischen  denen,  die  alle  Verdienstlichkeit  der  Menschen  leugnen, 
und  denen,  welche  sie  statuiren,  vermittelt.  Die  reprohatio  als 
Gegensatz  zur  Praedestinaiio .  so  wie  ihr  Verhältniss  zur  Verhär- 
tung kommt  zum  Schluss  hier  zur  Sprache.  Der  folgende  Tractat 
handelt  von  der  Vorsehung  und  dem  Fatum,  unter  welchem  letz- 
teren der,  von  jener  gesetzte  Causalzusammenhang  alles  Beweg- 
lichen verstanden  wird ,  dem  nur  die  unmittell)aren  Wirkungen 
Gottes  nicht  unterliegen,  das  aber  andere,  nächste,  Ursachen,  z.  B. 
den  freien  Willen ,  nicht  ausschliesst.  Zuletzt  wird  vom  Buche  des 
Lebens  gesprochen.  Der  achtzehnte  Tractat  kündigt  an,  dass, 
während  bisher  nur  von  den  Dingen  wie  sie  in  Gott  sind  gespro- 
chen worden  sey,  jetzt  zu  untersuchen  sey  wie  Gott  in  den  Din- 
gen ist.    Die  Allgegenwart  Gottes  wird  dahin  bestimmt,  dass  Gott 


352  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

essenliaUler .  praesentialUer ,  polenüaUtei'  in  allen  Dingen  sey, 
dann  zu  dem  Verhältniss  der  Engel  zu  der  Räumlichkeit  überge- 
gangen, und  dabei,  weil  hier  die  Philosophi  wenig  sagen  können, 
die  Belehrung  der  Sancti,  namentlich  des  Areopagiten  zu  Hülfe 
gerufen.  Der  neunzehnte  Tractat  betrachtet  die  Allmacht  Gottes, 
die  Alles  kann,  was  wirklich  Macht  und  nicht,  wie  das  Böse,  Uii- 
macht  zeigt.  Obgleich  Gegner  derer,  die  Gott  nur  vermögen  las- 
sen, was  er  wirklich  thut,  warnt -doch  Albert  davor,  die  Allmacht 
Gottes  auf  Kosten  der  Güte  und  Weisheit  zu  erheben,  durch  die 
Gott  sich  bestimmen  lässt.  Die  Untersuchungen  darüber,  ob  Gott 
das  Unmögliche  könne,  sind  zum  Theil  sehr  si)itzfindig.  Der  letzte 
Tractat  des  ersten  Buchs  handelt  vom  Willen  Gottes,  der,  wäh- 
rend sein  Wissen  Alles  (Gutes  und  Böses,  Wirkliches  und  Mög- 
liches), seine  Macht  alles  Gute  (das  mögliche  wie  das  wirkliche) 
befasste,  sich  auf  das  Gute  beschränkt,  das  wirklich  war,  ist  oder 
seyn  wird.  Der  Wille  Gottes  ist  grundlos,  nicht  determinirt.  In 
ihm  wird  Uidisis  und  rnlLsis  {!)th]mQ,  ßorhioig)  unterschieden. 
Er  ist  unwiderstehlich ,  und  der  Anschein  des  Gegentheils  ist  durch 
die  Unterscheidung  des  absoluten  und  bedingten  Wollens,  beson- 
ders aber  durch  die  vom  Willen  und  Willenserklärung,  zu  wider- 
legen. In  der  letzteren,  dem  siyninn  ro/imUills,  werden  die  fünf 
Arten  unterschieden,  die  der  Vers  pmedpil  et  pro/iihel,  eonsulit, 
imperJU,  implet  angibt.  Jede  derselben  enthält  dann  wieder  Unter- 
arten, indem  die  praeecpfio  theils  exeniioria,  theils  prohatorin, 
tlieils  tnstnictorid  seyn  kann. 

4.  Der  zweite  Theil  der  Summa  thcologiae  correspondirt  dem 
zweiten  Buche  der  Sentenzen,  und  knüpft  im  ersten  Tractat  an 
eine  tadelnde  Bemerkung  des  Loml)ar(len  eine  ausführliche  Diatribe 
gegen  die  Irrthümer  der  Philosophen.  Auch  Aristoteles  wird  eines 
solchen  geziehen  hinsichtlich  der  Ewigkeit  der  Welt,  da  doch  ge- 
rade seine  Lehre  darauf  hinführe ,  dass  die  Welt  nicht  natürlich 
entstanden  seyn  könne.  Moses  Malmon'ules'  Buch  wird  als  Diix 
iientrormn  öfter  citirt  und  getadelt.  In  den  folgenden  drei  Tracta- 
ten,  die  von  den  Engeln  handeln,  werden  sie  zwar  nicht  aus  ma- 
teria  und  forma ,  wohl  aber  als  aus  dem  (p(od  sunt  und  quo  sunt 
und  insofern  doch  als  aus  einem  malerude  und  formale  zusam- 
mengesetzt ,  bestimmt.  Die  neun  Ordnungen  der  himmlischen  Hier- 
archie werden,  da  die  Philosophie  Nichts  bestimme,  der  Autorität 
der  Heiligen  entlehnt.  Das  Wann  und  Wo  ihrer  Schöpfung,  ihre 
Eigenschaften,  ihre  Persönlichkeit,  die  zwar  nicht  auf  bestimmter 
Materie,  doch  aber  auf  einem  materiale,  dem  quod  est  des  En- 
gels, beruht,  und  sich  als  Verbindung  zwar  nicht  von  Accidenzen 


n.  Glanzperiode      B.  Cliristliclie  Aiistoteliker.     Albert.     §.  201,  4.  353 

aber  doch  von  Eigenschaften  offenbart,  dies  und  vieles  Andere 
wird  untersucht.  Im  fünften  Tractat  wird  der  Fall  der  Engel,  ver- 
anlasst durch  das  Verlangen  nach  vollkommener  Glückseligkeit, 
d.h.  Gottgleichheit,  also  durch  Hochrauth,  betrachtet,  in  dessen 
Folge  sich  Gewissensbisse  einstellen,  also  die  syncleresls  entsteht. 
Der  sechste  Tractat  betrachtet  die  Subordinationsverhältnisse  der 
Engel  und  ihre  Macht,  der  siebente  die  dämonischen  Versuchun- 
gen ,  deren  sechs  verschiedene  Arten  angegeben  werden.  Der  achte 
Tractat,  der  de  viiraru/o  cl.  mirahU}  handelt,  bestimmt  das  erstere 
als  aus  dem  Willen  Gottes  hervorgehende,  über  und  gegen  den 
gewöhnhchen  Naturlauf  geschehende  Begel)eidieit.  Dagegen  sind  die 
mtrahilid  Beschleunigungen  des  Naturlaufs,  welche  die  Zauberer 
für  Wunder  ausgeben.  Erweckung  des  Glaubens  ist  der  Zweck  der 
Wunder,  der  Glaul)e  ihre  Bedingung.  Der  neunte  und  zehnte 
Tractat  handelt  wieder  von  den  Engeln ,  ihrem  Boten  -  und  Schützer- 
Amt,  so  wie  ihren  bekamiten  neun  Ordnungen.  Mit  dem  eilften 
wird  zum  Sechstagewerk  übergegangen,  als  welches  die  in  einem 
Momente  vollbrachte  Schöpfung  dem  betrachtenden  Geiste  erscheine. 
Die  Erwartung,  mit  Avelcher  die  Engel  dem  Vollbringen  entgegen- 
sehn, ist  ihre  corpuiio  mriiiifani.  ihr  Lobpreisen  der  vollbrachten 
Schöpfung  die  cof/iiifio  rcspcrihia,  daher  die  Kunde,  die  Moses 
bekommt ,  eine  von  Abend  und  Morgen.  Da  Alles  zugleich  ge- 
schaffen ist,  SQ  ist  der  chaotische  Zustand  der  primitive,  dem 
dann  die  Acte  der  Sonderung  folgen.  Obgleich  nun  Albert  die 
Lehre  von  den  neun  Himmeln  mit  der  mosaischen  Erzählung  ver- 
einigt, indem  er  den  Krystallhimmel  zu  den  Wassern  über  der 
Feste  macht  w.  s.  w.,  so  kann  er  doch  nicht  umhin  zuzugestehn, 
dass  die  Peripatetische  Philosophie  Manches  lehre,  was  zu  glauben 
die  Kirche  verbiete.  Das  Vorfinden  eines  Stoffes,  das  Identificiren 
der  Sterngeister  mit  den  Engeln  u.  A.  tadelt  er  streng.  Der  zwölfte 
Tractat  betrachtet  die  Schöpfung  des  Menschen  von  Seiten  seiner 
Seele.  Die  verschiedenen  Definitionen  der  Seele  werden  durchge- 
nommen, die  des  Aris/ofe/es  wird  unzureichend  befunden.  Alles 
aber,  was  das  Verhältniss  ihrer  Hauptvermögen  betrifft,  aufge- 
nommen. Die  Seele,  aus  esse  (oder  f/iio  est)  und  (jiiod  est  zusam- 
mengesetzt, ist,  weil  nicht  absolut  einfach,  ein  lotum  pofcstati- 
riim.  Wenn  sie  auch  nicht  die  volle  imago  Dei  ist,  sondern  ad 
hndginem .  so  zeigt  sie  doch-  mehr  als  rcsfujinm  Dei  Die  Seele 
ist  weder  aus  Gott  noch  aus  irgend  einer  Materie,  sondern  aus 
Nichts  geschaffen.  Der  zweite  von  jenen  beiden  L-rthümern  wird 
begangen,  weil  man  der  Seele  nur  durch  materielle  Grundlage 
meint  die  Individuation   retten  zu  können.     Man  bedenkt  dabei 

Erdmann,  Gesch.  d.  Pliilos.  I.  23 


354  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

nicht,  dass  der  eigentliche  Grand  des  individuellen  Daseyns  darin 
liegt,  rjKod  est  hl  qiiod  est,  und  dass  genau  genommen  auch  in 
materiellen  Dingen  das  hie  und  nunc  dadurch  gesetzt  wird.  Der 
Traducianismus ,  die  Seelenwanderung,  die  Präexistenz  werden  be- 
stritten und  gezeigt,  dass  Gott,  unbeschadet  seines  Ruhens  (vom 
.SchaiTen  neuer  f/enera)  die  einzelnen  Seelen  unmittelbar  schaffe. 
Der  formelle  Grund  der  Schöpfung  ist  die  Ebenbildlichkeit  Gottes, 
ihr  Zweck  Erkeimtniss  und  Genuss  Gottes,  Nel)enzweck:  Ersatz 
für  die  gefallenen  Engel.  Nachdem  als  die  Verbindungsglieder  zwi- 
schen Leib  und  Seele  die  sensaalitus  und  der  rulor  mUuralis  von 
seiner,  der  spirltus  plKintasiictis  oder  ru-ijiciis  von  ihrer  Seite  an- 
gegeben worden,  wird  die  ganze  Controverse  mit  den  Averroisten 
(s.  oben  §.  200,  6)  wiederholt,  und  festgehalten,  dass  die  Seele 
toia  in  into  corpore  sey,  was  sehr  wohl  zu  vereinigen  sey  mit  dem 
Gebundenseyn  ihrer  Functionen  an  gewisse  Organe. 

5.  Mit  dem  vierzehnten  Tractat  lenkt  A/herl  in  das  hamarto- 
logisclie  Gebiet  ein ,  indem  er  zuerst  den  Menschen  vor  dem  Falle 
betrachtet,  und  hier  eine  Menge  Fragen  aufwirft  darüber,  wie  es 
sich  verhalten  hätte,  wenn  der  Mensch  nicht  gefallen  wäre.  Die 
weiteren  Untersuchungen  über  das  liherinn  arhiirinm  unterschei- 
den in  demselben  die  beiden  Momente  der  ratio  und  der  rolnntas; 
die  letztere,  als  cunsd  sni  oder  auch  als  sibi  ipsa  causa,  ayi  et 
eo(ji  iioi!  poiesl.  Alle  bisher  gegebenen  Definitionen  des  liberum 
arbilrium  sucht  er  mit  seiner  Ansicht  zu  vermitteln.  Auch  der 
fünfzehnte  Tractat,  der  die  natürlichen  Kräfte  der  Seele  behandelt, 
beschäftigt  sich  am  Meisten  mit  dem  freien  Willen ,  dessen  Unver- 
lierbarkeit auch  im  Stande  der  Sünde  urgirt  wird.  Ergänzend  tritt 
der  sechszehnte  Tractat  hinzu ,  der  die  Gnade  behandelt  und  unter 
dieser  Ueberschrift  nicht  nur  den  Unterschied  der  zuvorkommenden 
und  nachfolgenden,  so  wie  der  yraUs  data  und  (/rat um  faeiens, 
sondern  auch  den  Begrifl'  des  Gewissens  in  seinen  beiden  Stufen 
syndcresis  und  coiiseieniia,  so  wie  die  Eintheilung  der  Tugenden 
in  rirtiiles  acijuisitae  (vier  Cardinal-)  und  infusae  (drei  theologi- 
sche Tugenden)  enthält.  Der  siebzehnte  Tractat  behandelt  die  Erb- 
sünde. Das  peccatam  originale  originans ,  wo  die  persona  natii- 
ram  corrumpii,  wird  von  dem  />efr,  orig.  origiiiatum ,  wo  sichs 
umgekehrt  verhält,  unterschieden,  dann  casuistische  Fragen  z.  B.: 
wie  wenn  Eva  allein  gesündigt  hätte?  aufgeworfen,  endlich  die  li- 
bido  {fames)  als  Strafe  und  Sünde  zugleich  bestimmt,  und  unter- 
sucht, wie  sich  der  zulassende  Wille  Gottes  dazu  verhalte.  Die 
Fortpflanzung  der  bösen  Lust  von  dem,  in  dem  alle  Menschen 
leiblich  existirten,  auf  seine  Nachkommenschaft,  das  partielle  Aus- 


II.   Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Albert.     §.   202.  355 

löschen  derselben  in  den  Heiligen,  das  totale  in  der  seligen  Jung- 
frau, wird  ausführlich  durchgenommen.  Der  achtzehnte  Tractat 
handelt  vom  pecculinn  actiude,  seiner  Eintheilung,  dem  Unter- 
schiede des  }>.  mortale  und  renhiJe ,  den  bekannten  sieben  Haupt- 
und  ihren  Tochter -Sünden,  der  neunzehnte  von  den  Unterlassungs- 
sünden, der  zwanzigste  von  den  Versündigungen  in  Worten,  der 
ein  und  zwanziste  vom  Misstrauen  und  der  Parteilichkeit  im  Ur- 
theilen ,  der  zwei  und  zwanzigste  von  den  Wurzeln  der  Sünde.  Hier 
wird  dagegen  polemisirt,  dass  nur  die  Absicht  der  Handlung  Werth 
oder  Unwerth  gebe.  Der  drei  und  zwanzigste  Tractat  betrifft  die 
Sünde  gegen  den  heiligen  Geist,  die  dauernde  Bosheitssünde,  der 
vier  und  zwanzigste  Tractat  endhch,  mit  dem  das  ganze  Werk 
abbricht,  untersucht  die  Macht,  zu  sündigen.  So  weit  zur  Sünde 
Macht  gehört,  kommt  sie  von  Gott;   so  weit  sie  Sünde  ist,  nicht. 

6.  Die  Summa  de  creaturis  (Bd.  19  der  Gesammtausgabe)  ist 
in  ihrem  ersten  Theile  eine,  wohl  früher  verfas>ste  und  meistens 
kürzere,  Redaction  dessen,  was  in  den  eilf  ersten  Tractaten  des 
zweiten  Theils  der  Smnma  theologiae  abgehandelt  wurde,  nur  so, 
dass  der  Parallelismus  mit  dem  Gange  des  Lombarden  weniger 
hervortritt.  In  vier  Tractaten  wird  von  den  vier  coaequacr/s,  die 
fidion  Bedn  als  solche  bezeichnet  hatte,  Materie,  Zeit,  Himmel, 
Engel  gehandelt,  die  zwar  nicht  ewig  aber  unvergänglich  sind, 
und  von  denen  die  Materie  als  iitc/iodlio  /ormae  bezeichnet  wird, 
weil  sie,  mit  Ausnahme  der  Menschenseele,  die  dem  bereits  or- 
ganisirten  Leibe  im  Augenblick  ihrer  Schöpfung  eingegossen  wird, 
alle  Formen  in  sich  enthält,  die  durch  die  vier  Principien  Wärme, 
Kälte,  Trockenheit  und  Feuchtigkeit  aus  ihr  herausgezogen  wer- 
den. Als  wirkliche  Abweichung  von  Aiberts  spüterer  Lehre  kann 
angeführt  werden,  dass  er  hier  die  Engel  mit  den  Stern -Intelli- 
genzen identificirt.  Der  zweite  Theil  der  Summa  creaturarum 
handelt  vom  Menschen,  und  in  den  sechs  und  achtzig  Quaestionen, 
die  des  Menschen  sIuIhs  in  se  ipso  betrachten ,  findet  sich  aus- 
führlich entwickelt,  was  die  Summa  tlieol.  II,  Tract.  12.  13,  und 
was  die  Schrift  de  (tuimn  von  den  Sinnen  und  dem  Intellect  prä- 
ciser  entwickelt  hat.  Darauf  folgt:  de  labitaculo  hominis,  wo 
vom  Paradiese  und  der  gegenwärtigen  Ordnung  der  Welt  gehan- 
delt wird,  die  durch  die  Verdammniss  der  Sünder  nicht  gestört 
werde. 

§.  202. 

Wenn  es  auch  Albert  nicht  gelingt,  in  allen  Punkten  seine 
Theologie  mit  der  Peripatetischen  Lehre  in  einen  solchen  Einklang 
zu  setzen,  dass  derselbe  für  jeden  Leser  zweifellos  feststände,  so 

99* 


356  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

würde  man  ihm  doch  Unrecht  thmi,  wenn  man  meinte,  dass  die 
übrig  bleibenden  Differenzen  ihn  in  einen  bewussten  Widerspruch 
mit  sich  selbst  oder  gar  zu  unredlicher  Anbequemung  gebracht 
hätten.  Er  ist  der  ehrlichste  Katholik  und  zugleich  ein  ehrhcher 
Aristoteliker.  Wo  die  Differenz  zu  gross  wird ,  sucht  er  sie  durch 
Trennung  der  theologischen  und  philosophischen  Aufgabe  zu  ent- 
fernen. So  dort  wo  er  sagt,  dass  die  Philosophen  die  Welt  be- 
trachten müssen  als  Ausfluss  aus  dem  nothwendigen  Scyn  ver- 
mittelst der  obersten  Intelligenz,  die  Theologen  dagegen,  wie  sie 
dadurch  entsteht,  dass  Gott  zuerst  die  Zweiheit  von  Himmel  und 
Erde,  d.  h.  Geistigem  und  Körperlichem,  schaffe,  so  ferner  in 
den  vielen  Stellen,  wo  er  das  fleofogizarc  in  metaphysischen  Fra- 
gen tadelnd  erwähnt,  so  endlich  überall,  wo  er  die  Neigung  zeigt, 
der  Theologie  durch  ihre  stete  Beziehung  auf  die  Sehgkeit  einen 
vorwiegend  praktischen  Charakter  beizulegen.  Sein  Ausspruch: 
Sciendum ,  f/vod  Aiiffirslhio  in  li'is  (jiiae  snnf  de  fidc  et  moribus 
phis  (/lunn  P'iiUtsophh  rredendinn  est  sl  dhsentiiint.  Sed  si  de 
mrdU'nm  tot/neretiir  plus  ego  erederem  Galeno  rel  Hippocrati 
et  si  de  niitiiris  verum  Infjuatur  eredo  Aristoteli  plus  .  .  (Sent.  II, 
dist.  13.  art.  2)  ist  für  ihn  ein  sicherer  Kanon  gewesen.  Freilich 
ist  durch  ihn  nicht  entschieden,  ob  die  Lehre  vom  Staate  zu  den 
morihvs  gehört,  wo  Avgvstin,  und  'die  Lehre  von  den  Intelligen- 
zen und  Geistern  zur  fides  oder  zur  Lehre  de  milvris .  wo  .Ari- 
stoteles das  entscheidende  Wort  spricht.  Dass  Alherl .  obgleich 
immer  von  glühender  Frönnnigkeit  erfüllt,  zuerst  nur  dem  Stu- 
dium der  Weltweisheit  sich  ergeben  hatte,  und  erst  später  seine 
theologischen  Studien  begann,  dies  lässt  den  Strom  seines  Wis- 
sens ,  wie  manchen  Strom ,  wo  sich  ein  Fluss  in  ihn  ergoss ,  zwei- 
farbig erscheinen.  Viel  inniger  wird  die  Verschmelzung  dort  seyn 
können,  wo  von  Anfang  an  der  Gesichtspunkt  festgehalten  wird, 
dass  Alles,  darum  auch  die  Lehren  der  Philosophen,  nur  studirt 
werden  müsse  im  theologischen  Interesse  und  zu  kirchlichen  Zwe- 
cken. Sollte  es  dadurch  auch  geschehn,  dass  an  manchen  Punk- 
ten die  Aristoteliker  weniger  in  ihrem  eignen  Sinne  interpretirt 
würden,  so  wird  doch  die  Umdeutung  ihrer  Lehre  dem,  der  sie 
vornimmt,  die  schwierige  Lage  der  persona  duplex  ersparen.  Dies 
der  Grund,  warum  nicht  nur  die  Kirche  den  heiligen  Thomas 
ül)er  den  seligen  Albert  gesetzt  hat,  sondern  warum  auch  bei 
philosophischen  Schriftstellern  er  oft  eines,  nicht  verdienten,  Vor- 
zuges vor  seinem  Meister  geniesst.  Wenn  Bovarevtirra  zu  dem, 
was  Alexander  ron  Haies  geleistet  hatte,  ein  ergänzendes  Mo- 
ment hinzufügt,    so   bedurfte   es   dessen  bei   Albert  nicht;    wohl 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Tliomas.     §.  203.  1.       357 

aber,   dass  die  beiden  Momeute,   die  er  in  sich  verband,  inniger 
sich  dui'chdringen.   .Dies  aber  ist  durch  Thomas  wirklich  geschehu. 

§.  203. 
Thomas. 

Dr.   Karl   Werner  Der  heilige  Tliomas  von  Aquino.    3  Bde.    Regeusb.  1858  ff. 

1.  Tliomas.  der  Sohn  des  Lando'f,  Grafen  con  AtjuinOf 
Herrn  von  Loretto  und  Baleastro,  ist  1227  auf  dem  Schlosse  zu 
Roccasicca  geboren  und  trat  in  seinem  sechzehnten  Jahre  gegen 
den  Willen  seiner  Eltern  in  den  Domiiiicanerorden ,  der  ihn  dem 
Aiheri  zuwies,  um  ihn  in  der  Theologie  auszubilden.  Der  Mei- 
ster, der  früh  sein  Genie  erkannte,  hat  mit  rührender,  nie  vom 
Neide  getrül)ter,  Liebe  an  ihm  gehangen.  Mit  ihm  ging  Thomas 
im  Jahre  1245  nach  Paris  und  trat  nach  seiner  Rückkehr  im  J. 
1248  als  zweiter  Lelu-er  und  magister  studentium  an  der  Cölner 
Schule  auf.  Dass  neben  seinem  eigentlichen  Berufe,  der  Ausle- 
gung der  h.  Schrift  und  der  Sentenzen,  philosophische  Studien 
ihn  beschäftigten,  beweisen  die  damals  geschriebenen  Aufsätze 
de  ente  et  essentia  und  de  principio  naturae.  Vier  Jahre  später 
ward  er  zur  Erlangung  der  theologischen  Doctorwürde  nach  Paris 
gesandt  und  eröffnete  dort  als  Baccalaurous  unter  ungeheurem  Bei- 
fall seine  Vorlesungen.  Die  Streitigkeiten  seines  Ordens  mit  der 
Universität  verzögerten  seine  Promotion,  die  erst  im  J.  1257  er- 
folgte, nachdem  er  mehrere  eng  zusammenhängende  theologische 
Abhandlungen  verfasst  hatte.  In  Anagni  kämpfte  er  neben  Albert 
für  seinen  Orden  un-d  seine  Gegenschrift  auf  ]y'dhclm  von  St. 
Amoiir's  Schrift:  de  pericuhs  novissimi  temporis,  gilt  bei  Vielen 
nur  für  eine  Reproduction  dessen,  was  Aibcrt  dort  gesagt  hatte. 
Uebcr  denselben  Gegenstand,  die  Vorwürfe  gegen  die  Bettelordeu, 
hat  er  übrigens  noch  später  geschrieben.  Am  23.  Octbr.  1257 
empfing  er,  zugleich  mit  dem  ihm  innig  befi'eundeten  Bonacenturu 
(s.  oben  §.  197),  die  Würde  eines  Doctors  der  Pariser  Universität, 
und  wirkte  nun  zuerst  ein  Jahr  lang  als  regius  primarius  des  Or- 
dens, dann,  neben  den  anderen  Doctoren,  auf  dem  Katheder. 
Seine  quaestiones  quodlibeticae  et  disputatae,  einige  Commentare 
zur  h.  Schrift,  und  das  unvollendet  gebliebene  compendium  theo- 
logiae,  fallen  in  diese  Zeit.  Die  Summa  philosophica  contra  geii- 
tiles  wurde  wohl  auch  hier  begonnen,  ward  aber  vollendet  erst 
nachdem  Thomas  auf  Befehl  des  Papstes  nach  Italien  gezogen 
war,  wo  er  bald  hier  bald  dort,  theils  lehrte  theils  für  die  Er- 
weckung des  christlichen  Lebens  in  seinem  Orden  und  sonst  wirkte. 
Für  die  Einführung   des  Erohnleichnamsfestes   ist   er  u.  A.  sehr 


358  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

tliätig  gewesen.  In  diese  Zeit  fallen  wohl  auch  die  auf  sein  Be- 
treiben veranstalteten  Uehersetzungen  des  Arlsloteles  aus  dem 
Griechischen,  an  die  er  seine  Commentare  angeschlossen  hat.  Meh- 
rere Jahre  verweilte  er  in  Bologna,  wo  die  Catena  aurea  vollen- 
det und  sein  theologisches  Hauptwerk ,  die  Summa  theologica, 
angefangen  wurde.  Hierher  kehrt  er  auch,  nach  kurzem  Aufent- 
halt in  Paris,  zurück,  vertauscht  aber  dann  seine  Thätigkeit  hier, 
mit  der  in  Neapel.  Zum  Concil  in  Lyon  berufen,  ist  er  auf  dem 
Wege  dahin  im  Cistercienserkloster  Fossa  nuova  nahe  bei  Terra- 
cina  am  7.  März  1274  gestorben.  (Frühe  ist  die  Sage  entstanden, 
Carl  von  Aiijon  habe  ihn  vergiften  lassen.)  Am  18.  Juli  1323 
ist  er  canonisirt.  Schon  seine  Mitwelt  hatte  ihn  mit  dem  Beina- 
men des  Dorfor  (iiiyeHcus  geehrt,  —  Nachdem  einzelne  seiner 
Werke  schon  früher  gedruckt  waren ,  wurde  auf  Befehl  Pins  des 
Fünften  eine  Gesammtausgabe  veranstaltet,  die  in  Rom  1570  in 
17  Foliobänden  erschien.  Ein  Abdruck  derselben  ist  die  Venetia- 
ner  Ausgabe  von  1592.  Die  Ausgabe  des  Marelles ,  Antwerpen 
1612,  enthält  ausserdem  in  einem  18'™  Bande  früher  nicht  ge- 
druckte, aber  vielleicht  auch  einige  unächte,  Sachen.  Die  Pariser 
Ausgabe  von  16G0  hat  23,  die  Venetianer  von  1787  sogar  28 
Bände  in  Quarto. 

2.  Bei  den  Vorarbeiten  für  das  Verstilndniss  des  Aristoteles, 
die  Tliomas  durch  Albert  gemacht  vorfand,  können  seine  Com- 
mentare zu  demselben  nicht  die  epochemachende  Bedeutung  ha- 
ben, wie  die  seines  Meisters.  Ihr  Hauptverdienst  ist,  dass  er 
sich  besserer  Uehersetzungen  bedient,  die  ihn  in  Stand  setzen, 
manchen,  dem  Albert  unvermeidlichen,  Missverständnissen  zu  ent- 
gehn,  und  dass,  weil  er  (wie  Arerroes)  immer  den  ganzen  Ari- 
stotelischen Text  in  der  Uebersetzung  gibt  und  dann  erst  den 
Commentar  folgen  lässt,  der  Leser  immer  sehen  kann,  wie  Tho- 
mus  gelesen  und  was  er  hinzugefügt  hat.  Bei  der  dem  Arieeinia 
nachgebildeten  Weise  Alberts  ist  das  schwer ,  oft  unmöglich.  Da- 
zu kommt  bei  Thomas  eine  vortreffliche  Darstellungsweise  und  ein 
viel  reineres  Latein,  hi  welchem  Beiden  er  seinem  Meister  weit 
überlegen  ist.  In  der  Antwerpner  Ausgabe  findet  sich  im  ersten 
Bande  der '  (unvollendete)  Commentar  zur  Perihermeneia,  so  wie 
zu  den  Analytiken,  im  zweiten  der  zur  Physik,  der  (unvollen- 
dete) zu  de  coelo,  so  wie  der  zu  de  gen.  et  corr.  Der  dritte 
enthält  die  Commentare  zu  den  Meteoris,  zu  de  anima  und  (un- 
vollendet) zu  parv.  natural.  Im  vierten  findet  sich  der  Commen- 
tar zu  den  Metaphys.,  so  wie  zu  dem  Liber  de  causis.  Seltsamer 
Weise  ist  die  selbstständige  Arbeit  de  ente  et  esseiitia,  die  in  an- 


II.   Glanzperiode      B.  Christliche  Aristoteliker.     Thomas.     §.  203,  2.  3.      359 

deren  Ausgaben  als  Ko.  30  unter  den  Opusculis  steht,  hier  unter 
die  Commentare  gesetzt.  Viel  eher  hätte  dies  mit  Opuscul,  48, 
der  totius  Aristotelis  logicae  summa  geschehen  können,  die  ganz 
zum  Inhalte  des  ersten  Bandes  passt,  die  übrigens  von  Vielen 
dem  TLovuis  ab-  und  dem  Ihr  raus  Nutulis  (s.  unten  §.  204)  zu- 
gesprochen wird.  Der  fünfte  Theil  enthält  die  Expositionen  zur 
Ethik  und  zur  Politik.  Wie  in  diesen  Commentaren ,  so  zeigt  Tho- 
mas auch  in  den  zu  den  Sentenzen  des  Lombarden,  Nvelche  den 
sechsten  und  siebenten  Band  füllen,  so  wie  dem  abgekürzten 
zweiten  Commentar  im  siebzehnten  Bande,  mehr  nur  formelle 
Abweichungen  von  Aihcri ,  die  aber  lauter  Verbesserungen  sind, 
indem  die  Zurückführung  der  Untersuchung  auf  eine  geringere  Zahl 
von  Hauptfragen  die  Uebersicht  erleichtert.  Da  die  exegetischen 
Schriften  des  Thomas  zimi  alten  und  neuen  Testament  (Bd.  13 — 16 
und  18)  nicht  hierher  gehören ,  so  hat  sich  die  Darstellung  beson- 
ders an  seine  Summa  philosophica  oder  contra  gentiles  im  neun- 
ten Bande,  seine  Summa  theologica  (Band  10 — 12)  und  seine 
Opuscula  (Bd.  17)  zu  halteir.  Auch  die  quaestiones  disputatae 
oder  quodhbetales  enthalten  Einiges,  was  interessant  für  seinen 
philosophischen  Standpunkt  ist. 

3.  Die  Kluft  zwischen  Theologie  und  Philosophie  wird  bei 
Thomas  viel  geringer  als  bei  Albert,  weil  er  viel  mehr  als  dieser 
das  theoretische  Moment  in  der  Theologie  hervorhebt ,  und  die  Se- 
ligkeit selbst  mit  der  Erkeuntniss  der  Wahrheit  idcntificirt.  Gott 
als  die  eigentliche  Wahrheit,  ist  der  Hauptgegenstand  aller  Er- 
keuntniss, darum  der  Theologie  sowol  als  der  Philosophie.  Ob- 
gleich Vieles,  was  Gott  betritft,  nicht  dui-ch  die  blosse  Vernunft 
erkannt  werden  kann ,  indem  Trinität ,  Incarnation  u.  A.  über  die 
Vernunft  hinausgehen ,  so  kann  doch  auch  hinsichtlich  dieser  durch 
Vernunft  der  Vorwurf  der  Widervernünftigkeit  widerlegt  werden. 
Für  Anderes  gibt  es  sogar  directe  Vernunftbeweise.  Positive  und 
negative  hinsichtlich  der  Existenz  Gottes  (quid  est) ;  negative  hin- 
sichtlich seines  W^eseus  ((juhl  est).  Auch  dieses  Beweisbare  ist 
übrigens ,  damit  auch  die  Schwachen  und  Ungebildeten  dessen  ge- 
wiss werden  können ,  geotfenbart.  Bei  den  Beweisgründen  für  die 
Glaubenslehren  muss  ein  Unterschied  gemacht  werden ,  je  nachdem 
man  zu  einem  Gläubigen  oder  Ungläubigen  spricht.  Berufungen 
auf  Autoritäten  und  W^ahrscheinlichkeitsgründe,  die  bei  dem  Er- 
steren  unverfänglich  sind,  würden  bei  dem  Letzteren,  jene  nicht 
helfen,  diese  misstrauisch  gegen  die  so  vertheidigte  Sache  machen. 
Hier  ist  daher  lediglich  aus  Vernunft  und  Philosophie  nachzuwei- 
sen, dass  die  Lehren  der  lürche  die  Einwendungen  beider  nicht 


360  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik), 

ZU  fürchteii  haben.  Das  ist  nun  die  Aufgabe,  welche  sich  Tho- 
mas in  dem  Werke  gestellt  hat,  dem  alle  vorstehenden  Sätze  ent- 
nomihen  sind,  und  das,  je  nachdem  sein  Inhalt,  oder  seine  Me- 
thode, oder  endlich  sein  Publicum  in  Betracht  kommt,  die  drei 
Namen  de  veritate  catholica,  summa  philosophica  und  ad  genti- 
les  mit  Recht  führt.  In  dem  Proömio  zum  ersten  Buche  gibt  er 
selbst  als  den  zu  befolgenden  Gang  an,  dass  zuerst  untersucht 
werden  solle  was  Gott  an  ihm  selbst  zukomme,  dann  der  Ausgang 
der  Creatur  aus  ihm,  endlich  der  Rückgang  derselben  zu  Gott. 
Die  drei  ersten  Bücher  des  Werks  lösen  die  Aufgabe  so,  dass 
nur  das  zur  Sprache  kommt,  was  die  menschliche  Vernunft  zu 
erforschen  vermag.  Gleichsam  als  ein  Anhang  dazu  betrachtet 
das  vierte  die  Lehrpunkte,  die  über  die  Vernunft  hinausgehen, 

4,  Das  erste  Buch,  102  Capitel  befassend,  erklärt  sich  zu- 
erst gegen  die,  welche,  wie  Ani,ehn  in  seinem  ontologischen  Be- 
weise, das  Daseyn  Gottes  für  keines  Beweises  bedürftig,  dann 
gegen  die,  welche  es  für  keines  solchen  fähig  erklären,  und  stellt 
dem  entgegen,  dass  aus  dem  I actum  der  Bewegung  (a  posteriori 
oder  per  jmsieriora)  auf  ein  erstes  Unbewegtes  geschlossen  wer- 
den müsse,  (Die  Summa  theolog.  fügt  zu  diesem  noch  vier  an- 
dere Beweise.)  Wie  zuerst  die  Bewegung,  so  werden  via  rcmo- 
tionis  alle  anderen  Beschränkungen  von  diesem  Ersten  ausgeschlos- 
sen, und  so  ergibt  sich  dessen  absolute  Einfachheit,  vermöge  der 
nicht  nur  kein  Gegensatz  von  "Materie  und  Form,  sondern  auch 
keiner  der  esseniia  und  existrnüa  in  Gott  zu  statuiren  ist.  Jede 
Determination  von  Aussen  ist  damit  aus  Gott  ausgeschlossen. 
Nachdem  dann  bemerkt  ist,  dass  kein  Prädicat  uns  und  Gott 
inüroce,  alle  nur  analoyice  beigelegt  Averden  dürfen,  wird  gezeigt, 
dass  Gott  weder  Substanz  noch  Accidens,  weder  gcmis  noch  spc- 
cies  noch  indirldtnim.  dass  sein  Wesen  mit  seinem  Erkennen  Eins, 
sein  Selbsterkennen  aber  mit  seinem  Erkennen  der  Dinge  ein  Act 
sey;  dass  aus  diesem  Erkennen  Nichts,  darum  auch  nicht  das 
Materielle,  das  Zufälhge,  das  Böse,  ausgeschlossen  sey.  Da  als 
gut  erkennen  dasselbe  ist  wie  wollen,  so  muss  Gott  sein  eignes 
Wesen  wollen,  zugleich  aber  auch  Anderes  als  er  selbst  ist;  der 
Unterschied  zwischen  beiden  ist  dass  das  erstere  unbedingt,  das 
zweite  bedingt  (ex  siipposifione)  nothwendig  ist.  Das  an  sich 
Unmögliche,  das  Widersprechende  kann  Gott  nicht  wollen.  Und 
wieder  ganz  ohne  Gründe  kann  Gott  auch  nicht  wollen.  Der  letzte 
Grund  seines  Wollens  ist  Er  selbst,  der  das  Gute  ist,  darum  will 
Gott  um  des  Guten  willen.  Nicht  um  etwas  Guten  willen,  das  er 
erreichen  will   um  zu  gewinnen,   sondern   er  will,   um  Gutes  zu 


II.  Glanzperiode.     B.  Cbristliclie  Aristoteliker.     Tliomas.     §.   203,  5.   •   361 

spenden.  Nach  einer  Untersiicliimg  darüber,  ob  und  in  wiefern 
von  Gott  Freude ,  Liebe  u.  s.  w.  zu  prädiciren ,  schliesst  das  Buch 
mit  der  Seligkeit  oder  absokiten  Selbstbefriedigung  Gottes. 

5.  Das  zweite  Buch  (101  Capitel)  beginnt  mit  den  schein- 
baren Gegensätzen  der  Theologie  und  Philosophie  hinsichtlich  der 
endlichen  Dinge.  Die  ganz  verschiedenen  Gesichtspunkte  der  Be- 
trachtung beider  sollen  die  Schwierigkeit  lösen:  Indem  die  Philo- 
sophie stets  fragt  was  die  Dinge  sind,  die  Theologie  dagegen: 
woher  sie  kommen,  führt  jene  zu  der  Erkenntniss  Gottes  hin, 
diese  dagegen  geht  davon  aus.  Eben  darum  muss  der  Philosoph 
über  Vieles  hinweggehn,  was  dem  Theologen  sehr  wichtig,  und 
umgekehrt.  Das  ist  eben  so  wenig  ein  Widerspruch  wie  zwischen 
dem,  w'ie  den  Geometer  und  Av-ie  der  Physiker  von  Flächen  und 
Linien  spricht.  Als  Hauptpunkte  des  Buches  werden  die  Hervur- 
bringung  der  Dinge,  ihre  Mannigfaltigkeit  und  Beschaffenheit  an- 
gegeben, und  dann  zu  der  Macht  Gottes  übergegangen  und  aus 
dieser  gefolgert,  dass  Gott  die  Dinge  aus  Nichts  geschaffen  habe, 
indem  die  materia printa ^  diese  Möglichkeit  aller  Dinge,  das  erste 
Werk  Gottes  sey.  Da  die  Schöpfung  also  keine  blosse  Bewegung 
oder  Veränderung,  so  sey  es  abgeschmackt  sie  mit  Gründen  zu 
bestreiten ,  die  vom  Begriffe  der  Veränderung  hergenommen  seyen. 
Als  Ergänzung  zu  dieser  Polemik  gegen  den  Duahsmus,  der  in 
Gott  höchstens  den  Ordner  oder  Bildner  der  Dinge  sieht,  kann 
angesehen  werden,  was  Thomas  in  der  Schrift  de  substantiis  se- 
paratis  (Opusc.  15)  gegen  die  Emanationslehre  der  Platoniker  sagt, 
nach  welcher  die  Dinge  ihr  Seyn  von  der  natura ,  ihr  Leben  von 
der  (inimu.  ihr  Erkennen  von  der  inieUigcnüa  haben.  Dionysins 
Arcopagiia  wird  als  Eepräsentant  der  wahren  Schöpfungslehre 
den  Ansichten  entgegengestellt,  welchen  Albert  in  seiner  Schrift 
de  caus.  ct.  proc.  univ.  (s.  oben  §.  200 ,  9)  sich  sehr  nahe  gestellt 
hatte.  In  der  summa  philosophica  selbst  fasst  sich  Thomas  kür- 
zer: Mit  Anknüpfung  an  die  Sätze  des  ersten  Buches,  dass  die 
Thätigkeit  Gottes  weder  von  aussen  erzwungen,  noch  auch  wieder 
blosses  Belieben,  wird  sie  oft  mit  der  künstlerischen  Thätigkeit 
verglichen.  Nur  Gott  selbst  setzt  sich  Schranken  in  jenem  mcnsiira, 
nvmcrus  et  pondits ,  nach  dem  er  Alles  ordnet,  und  man  darf 
nicht  sagen,  Gott  könne  nur  was  er  wirklich  tlmt,  weil  er  nur 
dies  thun  muss.  In  dem,  nicht  durch  unbedingte  Nothwendigkeit 
Geschaffenen  lässt  sich,  ist  es  einmal  geschaffen,  von  Vielem  die 
unbedingte  Nothwendigkeit  behaupten,  z.  B.  dass  was  aus  Entge- 
gengesetztem besteht  sterben  muss,  dass  völlig  Immaterielles  nicht 
sterben  kann  u.  dgl.    Die  Gründe  für  die  Ewigkeit  der  Welt  wer- 


362  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

deu  widerlegt,  der  Einwand,  dass  der  ewige  Wille  Gottes  keine 
Wirkung  in  der  Zeit  haben  könne ,  damit  widerlegt ,  dass  auch  ein 
Arzt  heute  verordnen  könne,  dass  morgen  eine  Arznei  genommen 
werde.  Eben  so  waren  die  Dinge  vor  ihrer  zeitlichen  Existenz  in 
ewiger  Weise,  als  Ideen,  in  dem  göttlichen  Denken;  diese  Ideen 
bilden  in  den  wirklichen  Dingen  ihre  Formen  oder  Quidditäten; 
endlich  abstrahirt  sie  der  Verstand  als  das  den  verschiedenen  Din- 
gen Gemeinschaftliche  und  Allgemeine  von  ihnen,  so  dass  also 
der  Realismus ,  Conceptualisnuis  und  Xominalismus  alle  drei  Eeclit 
haben.  Die  Uebereinstimmung  der  Dinge  mit  den  ewigen  Ideen 
ist  ihre,  die  Uebereinstimmung  unserer  Gedanken  mit  den  Dingen 
ist  unserer  Gedanken  Wahrheit.  Beim  Uebergange  zu  dem  zwei- 
ten Hauptpunkt,  der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  (cap.  39 — 44) 
werden  zuerst  die  Ansichten  bekämpft,  welche  dieselbe  wie  De- 
molivit  aus  dem  Zufall,  wie  Aiinxa(foras  aus  materiellen  Unter- 
schieden, wie  EmpedoUes ,  die  Pythagoreer  und  Manichäer  aus 
Gegensätzen,  wie  Aviceiuui  aus,  der  Gottheit  untergeordneten, 
Principien,  wie  einige  neuere  Häretiker  aus  der  Thätigkeit  eines 
die  Materie  theilendeu  Engels,  endlich  wie  Origencs  aus  voraus- 
gegangener Verschuldung  ableiten,  und  wird  dann  zu  der  wahren 
Ursache  des  Unterschieds  der  Dinge  übergegangen.  Sie  soll  darin 
liegen,  dass  nur  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  das  Abbild  der 
göttlichen  Vollkommenheit  seyn  und  die  unendlich  vielen  in  der 
Materie  liegenden  Möglichkeiten  verwirklichen  kann.  Mit  dem  45. 
Capitel  wird  zu  dem  dritten  Hauptpunkt  übergegangen,  zu  der 
Beschaffenheit  der  mannigfaltigen  Dinge.  Es  'bedurfte  da  erstlich 
intellectueller,  freier,  immaterieller  Wesen,  die  nicht  nur  Formen, 
sondern  wirkliche  Substanzen  sind,  von  den  übrigen  Substanzen 
darin  unterschieden ,  dass  sie  nicht  aus  Form  und  Materie  bestehu, 
von  Gott  darin,  dass  in  ihnen  das  esse  und  fßiod  est,  d.  h.  der 
actus  und  die  potciitia,  unterschieden  sind.  Die  weitere  Auseinan- 
dersetzung dieses  wichtigen,  Begriifs  findet  sich  in  der  früheren 
Schrift  de  ente  et  essentia,  womit  die  unvollendet  gebliebene  de 
substantiis  separatis  verglichen  werden  kann.  Es  wird  da  gezeigt, 
dass  was  in  der  zusammengesetzten  Substanz ,  z.  B.  dem  Menschen, 
die  vudcriü  ist ,  in  der  intellectuellen  Substanz  das  sey ,  was  dem 
esse  oder  (pio  est  bald  als  das  (juod  est,  bald  als  essentia,  bald 
als  natura,  bald  als  rjuiditas  entgegengestellt  wird,  welches  die 
Creatur,  während  sie  ihr  esse  von  Gott  hat,  aus  sich  selbst  oder 
auch  aus  dem  Nichts  ha1)e.  In  ersterer  Beziehung  kann  es  darum 
das  Nicht -empfangene  und  in  sofern  Absolute,  in  zweiter  gerade 
das  Nichtige  genannt  werden,  so  dass  die  Intelligenzen  nach  oben 


II.  Glanzi^eriode.     B.  Christliche  Aristotelilier.     Thomas.     §.  203,  5.       363 

als  eudlicli,  nach  unten  als  unendlich  bezeichnet  werden  können. 
Im  54.  Capitel  der  Summa  wird  anstatt  esscntia  auch  wohl  siib- 
stautia  gesagt;  im  Uebrigen  wird,  ganz  wie  in  den  eben  genann- 
ten Abhandlungen ,  aus  der  Abwesenheit  der  Materie  die  Unver- 
gänglichkeit  der  Intelligenzen  gefolgert.  Eben  so  ist  auch  ihr 
Erkennen  nicht  durch  Abbilder  der  sinnlichen  Dinge  bedingt,  viel- 
mehr erkennen  sie  sich  selbst  und  die  Dinge  ohne  dazu  von  Aus- 
sen proYocirt  zu  seyn.  Den  obersten  Intelligenzen,  den  Engeln, 
weist  Tlionuis  als  erstes  Geschäft  an,  die  Himmelskörper  zu  be- 
wegen. Sehr  spitzfindig  sucht  er  dann  nachzuweisen ,  wie  es  mög- 
lich, dass  eine  Art  intellectueller  Substanzen  als  beseelende  Form 
eines  Leibes  mit  demselben  verbunden  sey;  er  zeigt  ferner,  dass 
die  nährende,  empfindende  und  denkende  Seele  als  Eine  zu  den- 
ken, und  geht  dann  zu  der  Widerlegung  der  Averroistischen  Lehre 
von  der  Einheit  des  Menschenverstandes  über.  Der  eigne  Tractat 
de  unitate  intellectus  contra  Averroistas  (Opusc.  16)  dient  als 
weitere  Ausführung  dessen,  was  die  Summa  im  Cap.  59  fi".  ent- 
hält. An  beiden  Orten  sucht  Thomas  den  Aveirocs  durch  Ari- 
stoteles zu  widerlegen,  nach  dessen  richtig  verstandener  Lehre 
der  üüelleetns  possihilis .  d.  h.  die  Fähigkeit  zimi  thätigen  Ergrei- 
fen der  Formen,  ein  Theil  der  Seele,  also  individuell  bestimmt 
und  dennoch  unsterblich  sey.  Ausser  Averroes  werden  in  der 
Summa  auch  die  Ansichten  derer  bestritten,  die,  mit  Galen,  die 
Seele  als  eine  Complexiou  oder,  mit  den  Pythagoreern ,  für  eine 
Harmonie  erklären  oder  sie,  mit  Demohrit.  für  körperlich  halten, 
so  wie  die,  welche  den  intellecius  jjossibilis  mit  der  Imaghiaiio 
identificiren.  Dann  wird  gezeigt,  wie  es  denkbar  sey,  dass  eine 
wirkliche  Substanz  doch  Form  eines  Körpers  und  dabei  über  das 
Gebundenseyn  an  ihn  hinaus  seyn  könne,  so  dass  erst  durch  ilu- 
Hinzutreten  der  Körper  zu  einer  vollständigen  Substanz  ergänzt 
wird,  und  sie  doch  nicht  maicriae  immersa  rel  a  mutcria  lotali- 
tcr  comprehciisu  ist.  Wenn  Aristoteles  de^  Himmel  durch  eine 
Intelhgenz  beseelt  seyn  lässt,  so  mag  das  vielleicht  ein  Irrthura 
seyn,  gewiss  aber  beweist  es,  dass  er  keinen  W^iderspruch  darin 
sah,  dass  eine  Substanz  Form  eines  Körpers  sey.  Katürhch  ist 
durch  Verbindung  mit  dem  Körper  auch  das  Erkennen  der  so  ge- 
bundenen Intelligenz  körperlich  bedingt,  es  fängt  von  sinnhchen 
Wahrnehmungen  an,  bedarf  der  Phantasmen  u.  s.  w.,  was  Alles 
bei  den  höheren  Intelligenzen  nicht  so  ist.  Die  ausführlichste  Dar- 
stellung ,  wie  die  verschiedenen  Stufen  der  Sinnlichkeit ,  ferner  der 
leidende  Verstand,  welcher  die  Formen  der  sinnlichen  Dinge  em- 
pfängt,  endlich  der  thätige  Verstand,   der  sie  verwandelt  und  in 


364  Mittelalterliche  Pliilosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ihrer  Reinheit  festhält,  zum  Erkennen  nöthig  sind,  findet  sich  in 
der  Abhandhmg  de  potentiis  animae  (Opusc.  43),  deren  Aecht- 
heit  freilich  bestritten  worden  ist.  Wie  von  dem  inteUcctus  pos- 
sibilis ,  so  wird  auch  von  dem  thätigen  Verstände  in  der  Summa 
behauptet,  er  sey  ein  Tlieil  der,  im  ganzen  Körper  verbreiteten, 
Seele  und  ein  persönhch  Bestimmtes.  Sonst  wäre  ja  der  Mensch 
weder  für  seine  Gedanken,  die  Producte  des  Intcllectus  speculuti- 
viLs .  noch  für  seine  Thaten,  die  Producte  des  iidcllertvs  pracü- 
ciis,  verantwortlich.  Auch  wäre  Manches  bei  Arhtoleles  völlig 
unverständlich.  Die  Unsterblichkeit  der  menschlichen  Seele  folgt 
daraus,  wie  die  Sterblichkeit  der  thierischen.  Freilich,  Erinnerung 
im  eigentlichen  Sinne  kann  der  Seele  nach  dem  Tode  kaum-  zuge- 
sprochen werden.  Die  Präexistenz  der  Seele,  ihre  Emanation  aus 
der  göttlichen  Substanz,  endlich  ihr  Erzeugtwerden  durch  die  El- 
tern wird  Alles  verworfen;  sie  wird  geschaffen  und  an  die  bereits 
organisirte  Materie  herangebracht.  Nur  mit  einem  menschlichen 
Leibe  kann  sich  eine  Intelligenz  als  (substanzielle)  Form  verbin- 
den, darum  gibt  es  keine  Dämonen  mit  ätherischen  Leibern,  wohl 
aber  körperlose  Litelligenzen.  Da  diesen  alle  Materialität  abgeht, 
so  können  sie  nicht  zu  einer  Art  oder  Gattung  gehörige  Indivi- 
duen seyn,  sondern  jede  bildet  ihre  Art  für  sich.  Dies  führt  auf 
das  Principium  müiv'uhiuiwiüs,  das  T//onias  theils  in  den  bisher 
angeführten  Abhandlungen ,  theils  in  einem  eignen  Aufsatz  (Opusc. 
29)  betrachtet  hat.  Mit  Ausnahme  des  absolut  einfachen  Wesens 
gehören  zu  jedem  cns  zwei  Momente,  das  esse  oder  fjuo  est,  und 
die  csseniia  oder  das  quod  est.  Jenes  ist  aetns ,  dieses  poientia 
(pussirn).  In  den  materiellen  Wesen  sind  sie  forma  et  materhi, 
die  sich  zum  ens  oder  zur  substaHtla  als  specifische  Differenz  und 
Xjenus  verbinden.  Die  muteriu  prima  gibt  verbunden  mit  den  er- 
sten Formen  die  besonderen  Materien,  z.  B.  die  Elemente,  die 
selbst  wieder  Träger  von  Formen,  für  die  sie  empfänglich,  werden 
können.  Picicht  nun  die  für  eine  Forin  empfängliche  Materie  nur 
aus,  um  ein  einzig  Mal  diese  Form  anzunehmen,  so  gibt  es  nur 
ein  Individuum  dieser  Art,  wie  z.  B.  die  Sonne  dies  zeigt.  An- 
ders verhält  sichs  aber,  wenn  sich  die  Form  mit  einem  oder  dem 
anderen  Theil  der  für  sie  empfänglichen  Materie  verbindet,  da 
entsteht  eine  Vielheit  einartiger  Individuen,  so  dass  also  diese 
Theilbarkeit  {^ßiaiiHiasJ  der  Grund,  und  das  zeitlich  und  räumlich 
Bestimmtseyn  der  Theile  der  Materie  (materia  signata  per  Mc 
et  niüiv)  das  Princip  der  Individuität  ist.  Für  den  Sol>raies  ist 
es  also  f  aee  earo  laee  ossa ,  die  in  ihm  den  Menschen  zu  diesem 
Menschen   macht,   womit  durchaus  nicht  gesagt  seyn  soll,   dass, 


II.   Glanzperiode.     B.   Christliche  Aristoteliker.      Tliomas.     §.   20.3,  6.        365 

wenn  die  Verbindung  mit  dem  Körper  aufhört,  auch  die  Indivi- 
duität  aufhört.  Weil  bei  diesen  numerisch  verschiedenen  Indivi- 
duen nicht  nur  das  esse  ein  empfangenes  ist,  wie  bei  den  Intel- 
ligenzen ,  sondern  auch  ihre  (julfHUis  ein  a  mnferta  siynata  re- 
cepium  ,  deswegen  kann  von  ihnen  nicht,  wie  oben  von  den  Engeln, 
gesagt  werden ,  sie  seyen  nur  nach  oben ,  sie  sind  nach  oben  und 
unten  endlich. 

6.  Das  dritte  Bucli  zeigt  in  103  Capiteln,  wie  Gott  das  Ziel 
ist  aller  Dinge,  und  l^ehaiulelt  die  Regierung  der  Welt,  d.  h.  des 
Complexes  der  endlichen  Dinge.  Alles  Handeln  geht  auf  ein  Gut, 
daher  kann  das  Böse  als  solches  nicht  gewollt  werden,  wie  denn 
das  Böse  als  Privation  weder  volle  Wirklichkeit,  noch  einen  posi- 
tiven Grund,  geschweige  denn  ein  absolutes  Princip  zum  Urheber 
hat.  Der  letzte  Zweck,  dem  Alles  nachstrebt,  ist  der  Grund  aller 
Dinge,  Gott,  und  indem  Alles  darnach  strebt.  Ihm  ähnlich  zu  wer- 
den, erzeugt  dieses  Streben  eine  Reihe  von  Stufen,  in  der  die 
folgende  immer  das  Ziel  der  früheren,  der  Mensch  das  Ziel  aller, 
der  Erzeugung  unterworfenen,  Dinge  ist,  nach  dem  die  Materie 
strebt.  In  den  höheren  Wesen  wird  dies  Streben  nach  Gottähn- 
lichkeit zum  Durst  nach  Erkenntniss,  seiner  selbst  und  Gottes. 
Im  Erkennen  besteht  die  höchste  Seligkeit,  zwar  nicht  in  dem  un- 
mittelbaren aller  Menschen,  auch  nicht  in  dem  demonstrativen, 
nicht  in  dem  auf  Autorität  gegründeten  Glauben,  auch  nicht  in 
dem  speculativen  Wissen ,  sondern  in  dem ,  das  über  sie  alle  hin- 
ausgeht und  vollständig  erst  jenseits  erlangt  wird.  Hienieden 
wird  man  nur  durch  göttliche  Erleuchtung  und  theilweise  dieses 
Erschauens  Gottes  theilliaft,  das  das  ewige  Leben  ist.  —  Die 
Betrachtung  der  Erhaltung  bildet  den  Uel)ergang  zu  der  der  Re- 
gierung. Die  göttliche  Wirksamkeit  soll  die  Selbstthätigkeit  der 
Dinge  nicht  ausschliessen ,  viebnehr  hat  Gottes  Güte  den  Dingen 
diese  Aehnlichkeit  mit  ihm  selbst  mitgetheilt,  dass  sie  Causalität 
zeigen.  Darum  ist  Naturlauf,  Zufall  und  freier  Wille  mit  der  Re- 
gierung Gottes  vereinbar,  indem  er  Mittelursachen ,  namenthch  die 
frei  wirkenden  Geschöpfe,  Engel  u.  s.  w.,  eben  so  die  Einflüsse 
der  Himmelskörper  dazu  gebraucht.  Das  sich  Kreuzen  der  Mit- 
telursachen erzeugt  den  Zufall ,  den  es  nur  für  die  erste  Ursache 
nicht  gibt.  Innerhalb  der  allgemeinen  Weltordnung  müssen  unter- 
•  geordnete  Systeme  von  Ursachen  und  Wirkungen  gedacht  werden, 
innerhalb  der  z.  B.  Etwas  nur  unter  der  Bedingung  eines  gläubi- 
gen Gebets  eintritt,  sonst  nicht,  ohne  dass  die  Weltordnung  im 
Ganzen  dadurch  alterirt  wird.  Dass  Gott  nie  gegen  seinen  eignen 
Rathschluss  handeln  kann,  versteht  sich;   auch  gegen  die  Natur 


366  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

nicht,  darum  sind  Wunder  nur  solche  Erscheinungen,   welche  die 
Xatur  allein  nicht  bewerkstelligen  kann.    Die  Weltregierung  be- 
zielit    sich   auf  die  vernünftigen   und   unvernünftigen  AVesen   ver- 
schieden, jenen  gibt  sie,  diese  zwingt  sie  unter  ihre  Gesetze,  jene 
behandelt  sie  als  Zweck,  diese  als  Mittel.    Den  wesentlichen  In- 
halt des  Gesetzes  bildet  die  Liebe  zu  Gott  und   den  Nebenmen- 
schen;  da  dies  die  Bestimmung  des  Menschen  ist,  so  fällt  natür- 
liches und  götthches  Gesetz   zusammen,   und  es   ist   falsch  was 
recht  und  unrecht  ist  nur  auf  göttliche  Satzung,   nicht  auf  Natur 
zu  gründen.    Eigenthum  und  Ehe  sind  nach  natürlichen  und  gött- 
lichen  Gesetzen   erlaubt,    Armuth   aber   und   Ehelosigkeit   dürfen 
darum  nicht  jenen  nachgesetzt,   geschweige  denn  geschmäht  wer- 
den.   Wie  Verdienst  und  Verschuldung,   so  hat  auch  Lohn   und 
Strafe  verschiedene  Grade;   die  letztere,  theils  als  Ausgleichung, 
theils  als  Schreckmittel  von  Gott   verhängt,   darf  von  der  Obrig- 
keit  als  Gottes  Dienerin   vollzogen  werden.     Wer  gegen  die  To- 
desstrafe spricht,   weil    sie  die  Besserung  ausschliesse ,  vergisst, 
dass  wen  das  angekündigte  Todcsurtheil  nicht  bessert  sich  schwer- 
lich bessern  wird,   und  dass  hier  gewisse  Gefahr  für  das  Ganze 
und  die  sehr  fragliche  Besserung  des  Einzelnen   sich  gegenüber- 
stehn.    Die  Kraft  zur  Erfüllung  des  Gesetzes  gibt  die  Gnade,  die 
nicht  zwingt,    aber   auch   nicht  verdient  ^verden  kann.     Sie  macht 
vor  Gott  angenehm  und  wirkt  hi  uns  Glauben  und  Hoffnung  der 
SeUgkeit.     Von  ihr  hängt  auch   die  Gabe  des  Verharrens  ab,    so 
wie  die  Befreiung  von  der  Sünde ,  die  auch  bei  dem  aus  der  Gnade 
Gefallenen  möglich  ist.    Obgleich  nur  durch  die  Gnade  der  Mensch 
bekehrt  werden  kann,  ist  es  doch  sehie  Schuld,  wo  er  es  nicht 
wird,  wie   dessen,   der  das  Auge  schliesst,   wenn  er  nicht  sieht, 
was  ohne  Licht  nicht  gesehen   werden  kann.     Nur  in   einzelnen 
Fällen  öffnet  die  zuvorkommende  Gnade   auch   diesen   das  Auge, 
und  das  sind  die  zur  Seligkeit  Prädestinirten  oder  Auserwählten. 
7.  Das  vierte  Buch  (97  Capitel)   wiederholt  den  Gang  der 
drei  ersten ,  indem  zuerst  (C.  2 — 26)  was  über  das  Wesen  Gottes, 
dann  (C.  27— 78)  was  über  die  Werke  Gottes,  endhch  (C.  79— 97) 
was  über  das  höchste  Ziel  des  Menschen  und  Uebervernünftiges 
offenbart  ist,    gegen  die  Einwürfe  der  Gegner  vertheidigt   wird. 
Demgemäss  werden  hinsichtlich  der  Trinität  die  Irrthümer  dersel- 
ben zuerst  exegetisch   widerlegt,   dann  aber  im  Cap.  11   gezeigt, 
dass  die  im  ersten  Buche  durch  blosse  Vernunft  gefundenen  Prä- 
dicate  Gottes  dazu  führen,   dass,   wenn   Gott  sich  selbst  denkt, 
das  Product  dieses  Denkens  das  ewige  Wort,  das  Ebenbild  Got- 
tes und  Urbild  aller  Dinge  seyn  muss,  in  dem  sie  alle  als  ewig 


n.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Thomas.     §.  203,  7.        367 

präexistiren  (tjitod  faciiim  est  in  eo  rila  erat),  und  durch  wel- 
ches sie  den  Denkenden  otfenbar  werden.  Eben  so  wird  die  Lehre 
vom  h.  Geist  zuerst  exegetisch  durchgenommen,  dann  aber  ge- 
zeigt, dass,  sobald  Gott  als  wollend  gefasst  wird,  man  vernünf- 
tiger Weise  zugeben  muss ,  dass  er  als  Liebe  zu  sich  selbst,  dann 
aber  auch  als  h.  Geist  existiren  muss,  der  in  uns  eljen  so  die 
Liebe  wirkt  wie  der  Sohn  das  Erkennen.  Auch  auf  die  Spur  der 
Dreieinigkeit  in  den  Dingen  und  ihr  Bild  in  den  Menschen  wird 
hingewiesen.  Unter  den  Werken  Gottes,  deren  Kenntniss  uns  die 
blosse  Vernunft  nicht  geben  kann,  nimmt  die  Incarnation  die  erste 
Stelle  ein.  Da  diese  die  Folgen  des  Sündenfalls  aufhebt,  so  steht 
dem  Thoimis  dies  fest,  dass  sie  durch  die  Sünde  bedingt  ist,  also 
ohne  die  Sünde  nicht  Statt  gefunden  hätte.  Wenn  er  sie  dabei 
aber  auch  das  Ziel  der  Schöpfung  nennt ,  in  dem  (juadam  drcv- 
lalione  perfcctio  reriim  ronciifdltnr,  so  erscheint  damit  offenbar 
die  Sünde  als  Bedingung  des  höchsten  Ziels ,  als  felb:  culpa.  Die 
Irrthümer  derer,  welche  mit  Pl.otinns  in  Christo  die  göttliche  Na- 
tur leugnen,  oder  ihm  den  inenschhchen  Leib  absprechen,  wie 
Valentin  US  und  die  Manichäer,  oder  eine  menschliche  Seele  des- 
selben leugnen,  wie  Arins  und  Apollinaris ,  oder  sich  über  die 
Vereinigung  beider  Naturen  so  ketzerisch  aussprechen  wie  Xesto- 
rins .  Eutijchcs  und  Maharins.  werden  mit  exegetischen  Waffen 
bekämpft,  dann  die  Vernunftgründe  gegen  die  katholische  Lehre 
aufgezählt  (Cap.  40)  und  widerlegt  (Cap.  41 — 49).  Ausserdem  wird 
aber  auch  direct  nachgewiesen,  warum  die  wesentlichen  Punkte  in 
dem  Leben  Jesu ,  seine  Geburt  durch  die  Jungfrau  u.  s.  w.  wenn 
auch  nicht  unbedingt  nothwendig,  so  doch  der  Sache  angemessen 
seyeu.  Auf  diese  conre/iientia  wird,  nachdem  ähidiche  Erörterun- 
gen wie  die  bisherigen  über  die  Erbsünde  angestellt  sind ,  zurück- 
gegangen und  entscliieden :  dass  das  Dogma  von  der  Incarnation 
nef/iie  impossibi/ia  najiie  inconyrna  enthalte.  Die  Lehre  von  den 
Gnadenmitteln ,  zu  welchen  mit  dem  Cap,  56  übergegangen  wird, 
bildet  den  Uebergang  von  den  Werken  Gottes  zu  der  Erhebung 
und  Rückkehr  der  Geschöpfe  zu  Gott,  indem  sie  zeigt  was  Gott 
zu  dieser  Erhebung  thut.  Der  Unterschied  der  Alt-  und  Neute- 
stamenthchen  Sacramente,  die  nothwendige  Siebenzahl  der  letzte- 
ren, Taufe  und  Confinnation  w^erden  sehr  kurz,  Eucharisten  und  na- 
mentlich Brotverwandelung,  nach  ihr  die  Beichte,  am  Ausführlichsten 
durchgenommen  und  mit  der  Ehe,  wobei  auf  früher  Gesagtes  zu- 
rückgewiesen wird,  geschlossen.  Die  dritte  Abtheilung  beginnt 
mit  Einwendungen  gegen  die  Auferstehung  und  ihrer  Widerlegung. 
Da  die  Seele  Form  des  Leibes  und  doch   unsterblich,   so  ist  sie 


368  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

in  ilirer  Trennung  vom  Leibe  in  einem,  ihrer  Xatur  widerspre- 
chenden, Zustande,  so  dass  die  wieder  eintretende  Beleibung  ganz 
vernunftgemäss  ist.  Der  neue  Leib  wird  geistig  genannt  weil  er 
ganz  dem  Geiste  unterworfen  seyn  wird,  er  ist  aber  nicht  wesent- 
lich von  dem  gegenwärtigen  unterschieden.  Daher  kann  es  sehr 
gut  auch  lei1)liche  Strafen  nach  dem  Tode  geben.  Gleich  nach 
dem  Tode  empfängt  der  Mensch  seinen  persönlichen  Lohn,  beim 
Weltgericht  wird  ilim  zu  Thöil  was  ihm  als  Glied  des  Ganzen  zu- 
kommt. Die  ITnvcränderliclikeit  des  Wollens  nach  dem  Tode  er- 
klärt es,  dass,  obgleich  Gott  jedem  Reuigen  vergibt,  doch  Viele 
verdammt  bleiben.  Da  der  Mensch  das  Ziel  der  Scliöpfung,  so 
muss  am  Ende  der  Tage  Alles,  was  dazu  gedient  hat  den  ver- 
gänglichen Menschen  zur  Unvergänglichkeit  erst  zu  führen,  als 
unnütz  aufliören,  wozu  T/'onms  u.  A.  die  Bewegung  des  Himmels 
rechnet. 

8.  Bei  dem  ausgesprochenen  Zweck  der  Summa  theologica, 
Anfängern  in  der  Theologie  eine  vereinfachte  Dar-stellung  dessen 
zu  gellen,  was  der  Theologe;  wissen  muss,  hat  dieselbe  natürlich 
in  philosophischer  Hinsicht  lange  nicht  die  Wichtigkeit  der  Summa 
ad  gentiles.  Dennoch  ist  man  auf  sie  als  auf  eine  Ergänzung 
der  letzteren  hingewiesen,  da  sie  in  den  beiden  Abtheilungen  ih- 
res zweiten  Theils  das  von  der  philosophischen  Summa  ganz  über- 
gangene Praktische  behandelt.  In  der  prima  svnimhic  wird  von 
den  Tugenden  und  ihrem  Gegentheil  im  Allgemeinen,  in  der  se- 
nuHla  secinifhic  von  ihnen  im  Einzelnen  gehandelt,  theils  an  sich, 
theils  wie  sie  sich  in  besonderen  Verhältnissen  gestalten.  Der  Gang 
ist,  dass  zuerst  die  drei  theologischen,  dann  die  vier  moralischen 
Cardinaltugenden  abgehandelt  und  an  diese  alle  anderen  Tugenden 
als  Töchter  angeschlossen  werden.  Gleich  zuerst  ist  hervorzuheben 
die  Unterordnung  des  Praktischen  unter  das  Theoretische,  indem 
nicht  nur  in  der  Seligkeit  die  risio  der  dclrctatlo  vorgesetzt  wird 
(H,  1.  Qu.  4),  sondern  in  seiner  Theorie  des  Willens  T/.onins  im- 
mer dies  festhält,  dass  nur  wo  wir  etwas  als  gut  zuerst  erkennen, 
wir  es  wollen,  dann  aber  auch  nicht  anders  können  als  es  wollen. 
(Ibid.  Q.  17.)  El)en  darum  ist  die  Vernunft  die  Gesetzgeberin  für 
den  Willen,  sie  ist  es,  die  im  Gewissen  spricht,  das  nicht  ohne 
Grund  nach  dem  Wissen  genannt  ist.  Es  hat.  die  dreifache  Function 
des  Anrechnens,  des  Vorschreibens,  des  Verklagens  und  Entschul- 
digens.  (Ibid.  Qu.  19  u.  79.)  Zu  dem  von  der  Vernunft  gegebenen 
Gesetz  liefert  der  begehrende  Theil  der  Seele  das  Material  für  das 
Handeln  in  den  Passionen,  von  denen  Liebe  und  Hass,  Freude  und 
Trauer,  Hoffnung  und  Furcht  besonders  ausführlich  durchgenom- 


II.  Glcanzperiode.     B.   Christliche  Aristoteliker.     Thomas.     §.  203,  8.       369 

men  werden,  so  dass  zugleich  Rücksicht  darauf  genommen  wird, 
in  wie  weit  sie  in  der  pars  covcitpiscihilis  oder  irascibilis ,  die- 
sen beiden  Seiten  der  Sinnlichkeit,  ihren  Sitz  haben.  Nachdem 
dann  weiter  der  Begriff  des  hahUus  erörtert  ist,  und  also  alle  Da- 
ten zu  der  Aristotelischen  Definition  der  Tugend  gegeben  sind, 
wird  dennoch  statt  ihrer  eine  Augustinische  angenommen  und  ge- 
rechtfertigt.  (Ibid.  Qu.  55.)  Die  Platonisch  -  Aristotelischen  ririn- 
tes  inteUcctnalcs  el  moraics  werden  als  die  ncfpdsitne  oder  auch 
als  die  menschlichen,  die  drei  theologischen  als  infnsae  oder  auch 
als  göttliche  bezeichnet,  und  unter  den  letzteren  der  charitas,  un- 
ter den  ersteren  der  sapienUa  und  jnstllia  die  erste  Stelle  ange- 
wiesen. (Ibid.  Qu.  62.  65.  68.)  Die  c/.arifas  gibt  allen  anderen 
Tugenden  ihre  eigentliche  Weihe.  Sie  alle  werden  unterstützt  von 
den  Gaben  des  heiligen  Geistes,  deren  es  wie  der  Haupttugenden 
und  Laster  sieben  gibt.  —  Ausführliche  Erörterungen  über  die 
Sünde  und  deren  Vererbung  bahnen  den  Uebergang  zum  Gesetz, 
dem  zum  allgemeinen  Besten  von  dem ,  der  für  das  Allgemeine  zu 
sorgen  hat ,  verkündigten  Vernunftgebot.  (Ibid.  Qu.  90.)  Das  ewige 
Gesetz  der  Weltregierung  wird  in  dem  Bewusstseyn  der  intelligen- 
ten Creatur  zur  le.v  natnraJis,  der  Grundlage  aller  menschlichen 
oder  positiven  Gesetze,  deren  Bestimmung  nur  ist,  was  das  natür- 
liche Gesetz  unbestimmt  liess,  zum  allgemeinen  Wohle  zu  ergän- 
zen. Zu  diesen  Formen  des  Gesetzes  kommt  noch  hinzu  das  im 
V.  und  N.  T.  geoffenbarte  Gesetz  Gottes.  Wo  positive  Gesetze  mit 
dem  Worte  Gottes,  oder  wo  sie  mit  der  lex  iiaturae  streiten,  da 
binden  sie  das  Gewissen  nicht.  In  der  secumla  secnndae  wird  bei 
der  Besprechung  der  Gerechtigkeit  und  ihrer  Bethätigung  im  Recht, 
das  Verhältniss  des  positiven  und  natürhchen  Rechts  noch  genauer 
erörtert.  Zuerst  wird  das  natürliche  Recht  mit  dem  jus  gentium 
gleich  gesetzt ,  obgleich  es  eigentlich  eine  weitere  Bedeutung  habe, 
indem  es  auch  auf  Thiere  auszudehnen  sey.  Dann  wird  darauf 
hingewiesen,  dass  es  gewisse  Verhältnisse  gebe,  die  nicht  bloss 
Rechtsverhältnisse;  so  das  elterliche  und  herrschaftliche  Verhält- 
niss ,  obgleich  die  in  diesen  Verhältnissen  Stehenden  von  einer  an- 
deren Seite  doch  auch  Rechtssubjecte  seyen.  (II,  2.  Qu.  57  u.  58.) 
Jedem  das  Seine  zu  gel)en  wird  als  Princip  jedes  Rechts  bestimmt. 
Die  Untersuchungen  über  die  übrigen  Tugenden,  über  die  ver- 
schiedenen Momente  der  Gnade',  über  das  Verhältniss  beider,  w'ei- 
chen  nur  darin  von  Alexander  und  Albert  ab,  dass  Thomas  das 
liberum  arbiiriiim  sehr  beschränkt,  indem  es  nur  die  Fähigkeit 
seyn  soll  durch  Hervorrufen  von  Vorstellungen  unser  Wollen  zu 
determiniren.     Aber  auch  hier  wird  urgirt,  dass  der  erste  Anstoss 

Krdmana ,  Gesch.  d.  Phil.  1.  9  < 


370  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastikj. 

dazu  von  Gott  komme,  und  dass  auch  unsere  Vorbereitung  zum 
Empfang  der  Gnade  lediglich  Werk  der  Gnade  sey.  Thomas  ist 
viel  weniger  Indeterminist  als  Albert. 

9,  Wie  das  eifrige  Studium  des  grössten  aller  Weltweisen  den 
Alherl  dahin  gebracht  hatte,  ein  Interesse  au  der  Welt  zu  haben, 
so  auch  den  Thomas,  nur  ist  es  bei  ihm  nicht  wie  bei  jenem  die 
sinnliche,  sondern  die  sittliche  Welt,  der  Staat,  der  ihn  interes- 
sirt.  Wie  Albert  die  Politik  des  Aristoteles .  so  hat  Thomas  die 
Naturgeschichte  desselben  uncommentirt  gelassen,  und  überhaupt 
in  der  Physik  nur  wiederholt  was  Albert  gelehrt  hatte.  Dagegen 
hat  er  ausser  seinem  Coninientar  zur  Politik  des  Artstoteies  Man- 
ches geschrieben,  was  seine  Ansichten  vom  Staat  betrift't.  Es  ist 
theils  aus  seiner  theologischen  Summa  zu  entnehmen,  theils  aus 
eigenen  Schriften  über  diesen  Gegenstand.  Von  diesen  fällt  nun 
freilich  die  Eruditio  principum  (Bd.  17  ed.  Antv.),  eine  ziemlich  un- 
wissenschaftliche Prinzeil -Pädagogik,  weg,  da  sie  schwerlich  von 
Thomas  ist.  Auch  die  vier  Bücher  de  regimine  principum  (Opusc.  20) 
gehören  ihm,  da  im  3"'"  Buch  Adolph  von  Nassau's  Tod  erwähnt 
wird,  nicht  ganz  an.  Seüie  Anhänger  vindiciren  ihm  nur  die  bei- 
den ersten  Bücher,  und  schreiben  die  beiden  anderen  dem  Domi- 
nicaner Tiioloiiiäas  von  Lucca  zu.  Die  wesentlichsten  Gedanken, 
die  mit  dem  gut  zusammenpassen,  was  sonst  bei  ihm  vorkommt, 
sind  etwa  folgende:  Wie  die  Glieder  des  Leibes  eine  Einheit  bil- 
den nur  durch  Unterwerfung  unter  ein  Ilauptorgan,  die  Vermögen 
der  Seele  eine  Einheit  nur  durch  Subjection  unter  die  Vernunft, 
endlich  die  Theile  der  Welt  eine  Einheit  nur  durch  Subordination 
unter  Gott,  gerade  so  wird  auch  die  Einheit  des  Staates,  wozu 
prädestinirt  den  Menschen  seine  Hülflosigkeit,  sein  Geselligkeits- 
trieb und  seine  Sprachfähigkeit  erweitit ,  nur  möglich  durch  Unter- 
werfung unter  ein  regierendes  Haupt.  Die  Einheit  wird  am  in- 
nigsten, wo  das  vereinigende  Haupt  uur  Eines,  und  die  gesunde 
Monarchie,  das  Königthum,  ist  die  beste  der  Verfassungen,  ob- 
gleich ihre  Ausartung ,  die  Tyrannis ,  die  sich  vom  Königthum  darin 
unterscheidet,  dass  der  Monarch  nicht  das  allgemeine,  sondern  sein 
eigenes  Wohl  sucht,  die  schlechteste  ist.  Uebrigens  ist,  wie  die 
Erfahrung  lehrt ,  die  Gefahr  der  Tyrannis  in  Aristokratien  und  De- 
mokratien viel  grösser  als  beim  Königthum,  und  die  Wahrschein- 
lichkeit ,  dass  eine  gewaltsame  Veränderung  eine  Verbesserung  brin- 
gen werde,  immer  so  gering,  dass  sogar  unter  einem  Tyrannen 
ein  Volk  besser  thut,  die  Hülfe  von  Gott  zu  erwarten,  welche,  je 
tugendhafter  ein  Volk  ist,  um  so  sichrer  und  schneller  eintreten 
wii'd.    Da  der  Zweck  des  Staates  ist,  dass  die  Bürger  darin  ih- 


n.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Thomisteu.     §.  204,   1   'i-  371 

rem  höchsten  Ziele,  der  Seligkeit,  näher  kommen,  die  directe 
Sorge  aber  dafür  Christo  und  seinem  Stellvertreter  auf  Erden  über- 
geben ist ,  unter  welchen  in  dieser  Hinsicht  auch  die  Könige  stehn, 
so  hat  der  König  für  Einrichtung  und  Erhaltung  alles  dessen  zu 
sorgen,  ^Yas  die  Erreichung  jenes  Zwecks  erleichtert.  Es  kann 
dies  unter  die  Formel  zusammengefasst  werden:  er  soll  für  die 
Erhaltung  des  Friedens  sorgen.  Dennoch  bleibt  sein  Beruf  ein 
hoher,  ja  ein  gottähnlicher,  indem  er  zu  dem  Volke  so  steht,  wie 
die  Vernunft  zu  den  Seelenkräften,  ja  wie  Gott  zur  Welt.  Die 
unvergleichlich  grösseren  Lasten,  die  auf  dem  Könige  ruhen,  ge- 
ben ihm  ein  Recht  auf  grössere  Ehre  und  grössere  Nachsicht  von 
Seiten  der  Menschen,  auf  grösseren  Lohn  von  Seiten  Gottes.  Wie 
Gott  die  Welt  zuerst  einrichtet,  dann  ihre  Einrichtungen  erhält, 
so  hat  jeder  König  das  Letztere,  wer  den  Staat  erst  gründet,  auch 
das  Erstere  zu  thun.  Das  ganze  zweite  Buch  handelt  von  den, 
jedem  Staate  nothwendigen  Einrichtungen  von  der  Kücksicht  auf 
die  Landesbeschaöenheit  an,  durch  die  speciellsten  Anweisungen 
über  Befestigungs -,  Communications-  und  Verkehrsmittel  hindurch 
bis  zur  Sorge  für  den  Gottesdienst,  mit  dem  es  schliesst, 

§-  204. 

1.  Entschiede  über  den  Werth  einer  Schule  nur  die  Zahl  ih- 
rer Anhänger  und  ihr  langer  Bestand,  so  könnte  keine  sich  mes- 
sen mit  der  der  Albertisten,  wie  sie  ursprünglich,  oder  Thomi- 
sten,  wie  sie  später  genannt  wurden.  Bis  auf  den  heutigen  Tag 
gibt  es  Solche,  die  in  Ti:omas  die  Incarnation  der  philosophiren- 
den  Vernunft  sehn.  Die  ersten  Schüler  und  Anhänger  fand  diese 
Lehre  natürlich  bei  den  Ordensgenossen  ihrer  Urheber;  der  Tho- 
mismus  ward  zur  ofticiellen  Philosophie  des  Dominicanerordens  er- 
klärt, der  es  darum  dem  Bischof  Templer  von  Paris  sehr  übel 
nahm,  als  dieser  die  Stellung  zu  dieser  Lehre  jedem  freistellte. 
Folgt  man  hier  der  Zeitfolge,  und  beschränkt  sich  auf  die  Zeit, 
in  welcher  die  Philosophie  noch  nicht  über  den  Thomas  hinaus- 
gegangen war,  so  ist  hier,  obgleich  bedingt,  zuerst 

2.  Viaccnüus  Bellovacensis  zu  nennen  (vgl.  F.  Cl/r.  Sc/ilosscr 
Vincenz  von  Beauvais  u.  s.  w.  Frkf.  1819.  2  Bde).  Bedingt,  weil 
diesen  Polyhistor  die  Philosophie  nur  insofern  interessirt,  als  sie 
überhaupt  ein  Wissen  ist,  und  weil  sein  Werk  gerade  dort  ab- 
bricht, wo  die  Darstellung  der  wahren  Theologie  beginnen  sollte. 
Dominicaner  im  Kloster  Beauvais ,  nach  dem  er  gewöhnlich  genannt 
wird,  hat  er  nach  seinem  Liber  gratiae,  nach  seinen  Schriften  zum 
Lobe  der  h.  Jungfrau  und  des  Evangelisten  Johannes,  nach  einer 
Schrift  ferner  de  trinitate,  endlich  nach  dem  von  Sc/ifosser  a.  a.  O. 

24* 


372  Mittelalterliche  Philosopliie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Übersetzten  Hand  -  und  Lehrbuch  für  königliche  Prinzen,  auf  Geheiss 
Ludwig  des  Neunten  aus  den  vielen,  ihm  zu  Gebote  stehenden 
Büchern  sein  speculum  magnum  zusammengestellt,  so  genannt  im 
Gegensatz  zu  seinem  kleinen  Spiegel,  in  welchem  er  die  Schönheit 
und  Ordnung  der  sinnlichen  Welt  gepriesen  hatte.  Dieses  Werk, 
eine  Encyclopädie  alles  dessen  was  man  in  jener  Zeit  wusste  und 
zu  wissen  meinte,  und  welches,  wenn  man  es  z.B.  mit  den  Wer- 
ken des  Johaimes  Snrlsheriensis ,  des  gelehrtesten  Mannes  im  12*''" 
Jahrhundert,  vergleicht,  den  Fortschritt  zeigt,  der  in  einem  Jahr- 
hundert gemacht  war,  zerfällt  in  drei  Theile  und  müsste,  da  der 
vierte,  das  speculum  morale,  ein  Zusatz  aus  späterer  Zeit  ist, 
nicht  wie  gewöhnlich  speculum  quadruplex,  sondern  triplex  ge- 
nannt werden.  In  dem  Venetianer  Druck  von  Henna/m  Lieclden- 
stein  1494,  ist  jedem  speculum  einer  der  vier  Foliobände  gewid- 
met. Die  Ausgabe  Duaci  1624  auch  in  vier  Foliobänden  liest  sich 
besser.  Der  Geschichtsspiegel  (spec.  historiale),  im  J.  1244  (nicht 
1254  wie  Schlosser ,  der  ihn  gut  excerpirt,  fälschlich  gelesen  hat) 
verfasst,  zeigt,  welches  die  damaligen  Ansichten  über  Geschichte 
waren.  Der  Naturspiegel  (spec.  naturale) ,  im  J.  1250  beendigt  und 
der  ausführlichste  Theil ,  stellt  Alles  zusammen ,  was  damals  für 
Naturwissenschaft  galt,  und  citirt  ausser  einer  sehr  grossen  Menge 
anderer  Namen  auch  den  des  Albert  sehr  oft.  Viel  seltner  kommt 
der  Name  des  Thomds  vor.  Sonst  möchte  unter  den  von  rinccnz 
angeführten  Namen  kaum  einer  fehlen,  der  sich  in  der  Geschichte 
der  Wissenschaften  bei  den  Alten,  so  wie  bei  Muhamedanern ,  Ju- 
den und  Christen  bis  auf  Vincenz  ausgezeichnet  hatte.  —  Der 
Lehrspiegel  (spec.  doctrinale),  an  dem  V'nivem  bis  kurz  vor  sei- 
nem Tode  gearbeitet  hat,  —  er  starb  wohl  1264  —  und  der  nicht 
vollendet  ist ,  schliesst  an  den  Naturspiegel ,  welcher  mit  dem  Sün- 
denelend geschlossen  hatte,  so  an,  dass  Nichts  diesem  Elende  mehr 
abhelfe  als  die  Wissenschaft,  und  gibt  dann  an,  wie  sich  dieselbe 
gliedert.  Auf  das  trimum,  welches  die  scienliae  sermocinales  be- 
fasst,  lässt  er  zuerst  die  praktische  Philosophie  als  Monastkui, 
Oeconomicd,  PolUica  folgen,  in  welcher  letzteren  er  auch  das  ganze 
kanonische  sowol  als  bürgerliche  Recht  abhandelt.  Dann  folgt  die 
Betrachtung  der  (sieben)  mechanischen  Künste,  und  erst  zu- 
letzt die  theoretischen  Wissenschaften,  die  Physik  mit  Rückwei- 
sung auf  den  Naturspiegel,  die  Mathematik,  wobei  das  ganze  fjua- 
drlvliim  abgehandelt  wird,  endlich  die  Theologie,  wo  aber  nur 
die  falsche  betrachtet  wird,  indem,  wo  auf  die  wahre  übergegan- 
gen werden  soll,  das  Werk  schliesst. 

3.  In  directerem  Zusammenhange  mit  der  Alberto  -  Thomisti- 


n.  Glauzpciiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Thomisten.     §.  204,  3-        373 

sehen  Philosophie  steht  der  im  J.  1277  als  Papst  Johann  21.  ge- 
storbene Petrus  JJispamis.  Mehr  als  seine  selbstständigen  Werke, 
welche  meistens  medicinische  waren  (Canon  medicinae,  De  proble- 
matibus ,  Thesaurus  pauperum) ,  hat  ihn  eine  Uebersetzung  berühmt 
gemacht.  Seine  summidae  logicae  —  (ein  alter  Druck  Leipz.  1510 
Melchior  Latter  führt  den  Titel  Textus  Septem  tractatuum  Petri 
Hispani)  —  sind  nämlich  nicht  nur ,  wie  der  Herausgeber  von  des 
PseUns  Sjiiopsis,  Ehinyrr  in  der  Vorrede  dazu  andeutet ,  in  ihrem 
Inhalte  der  Synopsis  sehr  verwandt,  sondern  eine  wörtliche  Ueber- 
setzung derselben.  Nicht  einmal  die  erste ,  denn  einige  Jahrzehende 
vorher  war  schon  durch  W.  Shyrcsicood  die  Synopsis  des  PscUns 
in  ein  lateinisches  Schulbuch  verwandelt ,  das  noch  gegenwärtig  als 
MSC.  existirt.  Dass  die  Summulae  Einiges  enthalten,  was  sich  in 
der  Ehingerschen  Ausgabe  des  PseUus  nicht  findet,  dies  bedeutet 
kaum  Etwas,  da  Pranil  (Th.  2.  p.  278  u.  a.  a.  0.)  gewiss  Recht  hat, 
wenn  er  meint,  dass  diese  Stücke  auch  dem  Pselfus  angehören, 
nur  in  Ehingers  Exemplar  gefehlt  haben.  Wichtiger  ist  die  Diffe- 
renz, dass  die  Summulae  logicae  die  bekannten  vnces  mcmorutles: 
Barbara,  Cehireni.  u.  s.  w.  enthalten.  Auch  wenn  der,  der  sie 
zuerst  brauchte,  die  griechischen  Worte /^«i^ji/aTa,  tyqaipeVi.  s.  w. 
vor  sich  hatte,  war  eine  Bezeichnung,  in  der  auch  die  Con- 
sonanten  etwas  bedeuten,  ein  Verdienst.  Dass  aber  Thomas  in 
seinem  Opusc.  48  diese  Worte  als  ganz  bekannt  anwendet,  macht 
es  fast  glaublich,  dass  auch  hierin  Petrus  Hispamis  nicht  Er- 
finder, sondern  l}loss  —  wenn  auch  für  uns  der  erste  —  Ueber- 
lieferer  gewesen  ist.  Wie  dem  sey,  seine  Uebersetzung  blieb, 
für  sein  Werk  angesehn,  lanze  Zeit  Schulbuch;  nicht  nur  bei  den 
Dominicanern.  Auf  dieses  Schulbuch  stützte  sich  der  Unterricht 
namentlich  der  Lngiea  mofJerna ,  die  jetzt,  ganz  wie  durch  die 
Wiedergewinnung  der  Aristotehschen  Analytiken  und  Topiken  die 
Logica  noiut ,  zu  der  Logica  rcti/s,  wie  sie  bis  zu  Gilbert  gelehrt 
worden  war,  hinzutrat.  Aegldius  von  Lessines,  Bernardus  de  Tri- 
Ua  und  Bernardus  de  Ganvaco  sind  Thomistische  Dominicaner  von 
geringerer  Bedeutung.  Sollte  Ileinrieh  Goethals ,  zu  Muda  bei 
Gent  geboren  {Henriens  Bcineollins ,  gewöhnlich  a  Gandavo  oder 
Gandavensis ,  manchmal  auch  Mvdanvs  genannt),  der  doctor  so- 
lenn Is,  der  eine  Zeit  lang  an  der  Sorbonne  gelehrt  hat  und  als 
Archidiakonus  in  Tournai  1293  gestorben  ist,  wirklich  ein  Domi- 
nicaner gewesen  seyn,  so  ist  er  der  Einzige  in  diesem  Orden  ge- 
wesen, der  wirklich  philosophirt  und  doch  dem  Albert  und  Tho- 
mas gegenüber  eine  freie  Stellung  behauptet  hat.  Ausser  seinen 
Commentaren  zu  des  Aristoteles  Metaphysik  und  Physik  hat  er 


374  MitteleiUerliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

auch  Mancherlei  geschrieben,  "w:as  gedruckt  worden  ist.  So  einen 
Nachtrag  zu  den  literarhistorischen  Nachrichten  des  Ilieroin/tnus, 
Genua dins  und  Slegebert,  der  öfter,  zuletzt  in  der  Bibliotheca 
ecclesiastica  ed.  Fabricius  Hamburg  1718  als  Liber  de  viris  s.  de 
scriptoribus  ecclesiastisis  abgedruckt  ist.  Für  die  Beurtheilung 
seines  wissenschaftlichen  Standpunkts  ist  am  Wichtigsten  die  Summa 
quaestionum  ordinariarum  (Paris  1.520  bei  Jodocus  Badius  Ascen- 
sius),  in  der  in  den  zwanzig  ersten  Artikeln  von  der  Wissenschaft 
überhaupt  und  der  Theologie  insbesondere,  dann  von  Gott  und 
seinen  wesentlichsten  Eigenschaften  bis  zum  75.  Artikel,  mit  dem 
das  Werk  schliesst,  gehandelt  wird.  Bemerkenswerth  ist,  dass  er 
das  /iherinn  (trb'ürintn  in  Gott  mehr  betont  als  Tl^omas.  Direkte 
Polemik  gegen  denselben  findet  sich  nicht.  Der  Gang  aber  und 
auch  der  Inhalt  weicht  von  dem  gewöhnlichen  der  theologischen 
Summen  al).  Auch  Quodlil)etica  theologica  in  LL.  Sententt.  hat 
Heinruh  geschrieben  und  sind  dieselben  bei  demselben  Heraus- 
geber wie  die  Summa,  in  Paris  1518  herausgekommen.  Dieselben 
enthalten  einen  Bericht  über  die  gehaltenen  allgemeinen  Disputa- 
tionen, zum  Theil  gleich  nach  denselljen,  zum  Theil  etwas  später 
niedergeschrieben.  Im  Ganzen  wird  über  fünfzehn  Disputationen 
berichtet,  in  welchen  zusammen  über  399  Fragen  entschieden  wird. 
Einige  sind  wörtlich  dieselben,  die  in  der  Summa  beantwortet  wur- 
den. Andere  ganz  casuistische  sind  offenbar  durch  vorgekommene 
Fälle  veranlasst.  Die  Wahlfreiheit  wird  hier  in  vielen  Orten  noch 
mehr  betont  als  in  der  Summa.  Die  materui  prim<t  soll  schon  einen 
Grad  von  Wirklichkeit  haben,  so  dass  es  kein  Widerspruch  sey,  dass 
eine  Materie  ohne  alle  Form  existirt.  In  der  Lehre  von  den  Univer- 
salien zeigt  sich  CQuodl.  5.  Qu.  8)  mehr  Neigung  zum  Nominalismus 
als  bei  Tliomns.  Obgleich  das  Recht  der  Päpste,  Fürsten  abzusetzen, 
behauptet,  wird  doch  bedauert,  dass  die  Kirche  ihre  eigne  Ge- 
richtsbarkeit habe  (Quodl.  6.  Qu.  22).  —  Einer  der  treusten  An- 
hänger der  Thomistischen  Lehre  ist  Herraens  von  Nedellec  (Na- 
tnlLs),  der,  ein  Bretagner  von  Geburt,  als  vierzehnter  General  des 
Dominicanerordens  im  J.  1325  starb,  und  der  zu  seiner  Zeit  so 
viel  bei  den  Thomisten  galt,  wie  ein  Jahrhundert  später  Jo.  Ca- 
pj-eolus,  der  princcps  Tliomistarum.  Gedruckt  ist  von  Hei'rey 
erschienen:  Herr  ei  Natalis  Britonis  quatuor  quodlil)eta  Venetiis 
impressa  per  Raynaldum  de  Novimagio  Theutouicum  1486. 

4.  Es  blieb  aber  das  grosse  Ansehn  des  Tf/omas  nicht  auf 
seinen  Orden  beschränkt.  Einer  seiner  Zuhörer  Aeghliiis  von  Co- 
lonna  {de  Colunnia,  Romanus,  doctor  jvnd(tt'issimvs) .  General 
des  Augustiner-  (Eremiten-)  Ordens,   der  als  Bischof  von  Bourges 


II.  GlanzperioJe.     B.  Christliche  Aristoteliker      Thomisteu.     §.  204,  4.  ^.     375 

1216  starb,  bürgerte  die  Lehre  seines  Lehrers  bei  den  Augustinern 
ein.  Dal)ei  war  er  ein  sehr  fruchtbarer  Schriftsteller.  Seine  Schrift 
de  regimine  principum  ist  für  einen  französischen  Königssohn,  de 
renunciatione  Papae  zur  Vertheidigung  Boiiifar'nis  des  Achten  ge- 
schrieben. Eine  lange  Reihe  andrer  Schriften  findet  sich  bei 
Trithcm.  Script,  eccl.  Einiges  ist  auch  gedruckt.  So  u.  A.  de  ente 
et  essentia,  de  mensura  angeli,  de  cognitione  angeli  Venet.  1503. 
Andere  geistliche  und  gelehrte  Körperschaften  zeigten  sich  gleich- 
falls dem  Thomismus  bald  geneigt.  Durch  fhimhert.  Abt  von 
Prulli,  geAvinnt  er  Eingang  bei  den  Cisterziensern ,  durch  Sige?- 
von  Brabant  und  Godojvoii  von  Fontaines  wird  ihm  die  Sorbonne 
eröifnet.  Einer  späteren  Periode  gehören  seine  Triumphe  im  Je- 
suiterorden  so  wie  bei  den  unbeschuhten  Carmelitern  Spaniens  an, 
von  denen  jene  riesenhaften  Arl)eiten  in  Salamanca  und  Alcala  aus- 
gingen, der  Cursus  theologicus  collegii  Salmanticensis,  der  in  19 
Foliobändeu  des  T/jomns  theologische  Summa  commentirt,  und  die 
Disputationes  collegii  Complutensis ,  die  in  4  Foliobänden  die  ganze 
Thomistische  Lehre  entwickeln.  Der  3'^  Band  der  im  §.  203  citir- 
ten  Schrift  von  K.  Werner  enthält  eine  genaue,  mit  reicher  Lite- 
ratur begleitete  Darstellung  der  Schicksale  des  Thomismus. 

5.  Der  Franciscanerorden  war  der  einzige,  der  sich,  wie  auch 
sonst,  so  darin  den  Dominicanern  entgegenstellte,  dass  er  sich  ge- 
gen die  Lehren  ihrer  beiden  grossen  Aristoteliker  verschluss.  Jede 
Abweichung  von  ihrem  Alexander  und  Bonriventnra  ward  gerügt 
und  als  gefährlich  verdächtigt.  In  diesem  Sinne  polemisirt  z.  B. 
Williehn  de  Ja  Marre  in  seinem  Correctorium  fratris  Thomae  ge- 
gen dessen  Irrlehren,  muss  sich  aber  freilich  antworten  lassen,  er 
habe  ein  Corruptorium  geschrieben.  Die  grösste  wissenschaftliche 
Bedeutung  hat  unter  den  Franciscanern  dieser  Zeit  jedenfalls  /?/- 
rf/ard  von  Middletown  {filcard/fs  de  media  ralle),  Minoritanae 
familiae  jubar,  wie  ihn  der  Herausgeber  einiger  seiner  Werke  ge- 
nannt hat.  Sowol  sein  Commentar  zu  dem  Lombarden  (Snper  qua- 
tuor  libros  Sententiarum  Brixiae  1591)  als  auch  seine  Quodlibeta 
ribid.),  zeigen  einen  mehr  als  gewöhnlichen  Scharfsinn.  Fast  in 
allen  Punkten,  in  welchen  später  Diins  (s.  unten  §.  214)  den  Tho- 
inisten  entgegentritt,  erscheint  Ricliard  von  Middletown  als  sein 
Vorgänger.  So  darin,  dass  er  den  praktischen  Charakter  der  Theo- 
logie mehr  hervorhebt  (Prolog-.  Qu.  4),  so  darin ,  dass  er  das  Prin- 
cip  der  Individuität  nicht  in  die  Materie  setzt,  sondern  in  etwas 
Hinzukommendes  (II,  dist.  3,  art.  Y),  obgleich  er  dies  freilich  nur 
als  ein  Negatives  fassen  will,  als  Ausschliessen  der  Theilbarkeit, 
so   ferner  in  dem  Accent,    den  er  auf  das  unbeschränkte  Belieben 


376  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

in  dem  Wollen,  Gottes  sowol  als  der  Menschen,  legt,  in  Folge 
dessen  sehr  Vieles,  weil  es  nur  vom  "Willen  Gottes  abhängt,  sich 
der  philosophischen  Begründung  entzieht  {Fidel  sucramentum  a 
pltilosopl/icis  urcjumeiiüs  liberum  est  sagt  er  u.  A.  III,  dist.  22.  Art.  V. 
Qu.  2).  Auch  dies,  dass  die  späteren  Bestimmungen  der  Kirche 
fast  mehr  berücksichtigt  werden,  als  die  biblischen  Aussprüche, 
erscheint  als  eine  Annäherung  zu  dem,  was  sich  etwas  später  bei 
Duns  zeigt.  Die  Sündlosigkeit  der  Jungfrau  ist  hier  noch  nicht 
als  conceptio  immaculuta  gefasst ,  sondern  als  sanctifteutio  ante- 
quam  de  utero  nuta  esset.  Diese  Heiligung  im  Mutterleibe  soll 
eingetreten  seyn  gleich  nach  der  iiifvsio  animae  (III,  dist.  3.  Art.  I. 
Qu.  2).  Man  sieht  es  ist  nur  noch  ein  kleiner  Schritt  bis  zu  dem, 
was  Duns  behauptet.  Richni'd  scheint  bis  ans  Ende  des  13'*'°  Jahr- 
hunderts gelebt  zu  haben. 

§.  205. 
Das  Versprechen  des  Erigeva  (s.  oben  §.  184,  2),  das,  als  es 
gegeben  ward,  als  gotteslästerliche  Vermessenheit  galt,  hat  dem 
Albert  und  Thomas,  als  sie  es  hielten,  die  höchsten  kirchlichen 
Ehren  eingetragen.  Wie  er  es  verheissen  hatte,  so  haben  sie  ge- 
zeigt, dass  jeder  Einwand,  der  gegen  die  Kirchenlehre  gemacht 
wird,  durch  Vernunft  und  Philosophie  wiederlegt  werden  kann,  ja 
sie  haben,  mit  kaum  einer  Ausnahme,  die  Wahrheit  der  kirch- 
lichen Lehre  positiv  aus  den  Principien  der  Weltweisheit  bewiesen. 
Die  Scholastik  hat  damit  ihre  Aufgabe  gelöst  und  ihren  Culmina- 
tionspunkt  erreicht.  Ueberall  pflegt,  wo  eine  Schule  diesen  erreicht, 
ihr  siegreiches  Fahnenschwenken  darin  zu  bestehn,  dass  sie  die 
Massen  einladet,  solchen  Triumph  zu  theilen,  dass  sie  darauf  aus- 
geht, in  weiteren  Kreisen  als  bisher  zu  gelten.  Wo  damit  nicht 
der  Charakter  der  Schule  aufgegeben  werden  soll,  werden  Metho- 
den erfunden,  die  es  leichter  als  bisher  machen  sollen,  ein  Philo- 
soph vom  Fach,  ein  schulmässig  Gebildeter  zu  werden.  Wo  da- 
gegen das  Beschränktseyn  auf  eine  Schule ,  und  wäre  dieselbe  noch 
so  zahlreich,  als  ein  Mangel  angesehn  wird,  da  tritt  das  Popula- 
risiren  für  die  weiteren  Kreise  ein.  Werden  die  Schüler  in  Mas- 
sen angezogen,  wo  das  Philosophiren  mechanisirt,  mehr  oder  min- 
der in  ein  Rechnen  verwandelt  wird,  so  wird  dagegen  das  unge- 
schulte Publicum  herangezogen  dadurch,  dass  man  zu  ihm 
in  seiner  Sprache  redet.  Was  heut  zu  Tage  mehr  metaphorisch 
ein  Uebersetzen  genannt  wird,  indem  es  nur  im  Weglassen  der  Schul- 
terminologie besteht,  war  damals,  wo  die  Wissenschaft  wirklich 
eine  andere  Sprache  redete,  ein  Verkündigen  ihres  Inhalts  in  der 
Nationalsprache.    Es  ist  ein  seltsamer  Zufall,  dass  Liebeskummer 


IL    Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,  1.  377 

den  beiden  Männern,  die  diesen  Platz  in  der  Scholastik  einnah- 
men, die  erste  Veranlassung  ward,  ihn  einzunehmen.  Der  Eine, 
Don  Ramon  Lull  ^  sucht  zwar  in  beiden  eben  angegebenen  Wei- 
sen, was  die  Scholastik  ergrübelt  hat,  weiter  auszubreiten,  doch 
aber  tritt  die  zweite  Seite  so  sehr  gegen  die  erste  zurück,  dass 
an  seine  in  provenzalischem  Gedichte  und  in  provenzalischer  Prosa 
verkündigten  Lehren  heut  zu  Tage  wenig  gedacht  wird,  und  nur 
seine  grosse  Kunst  ihn  auf  die  Nachwelt  gebracht  hat,  die  für 
jene  Zeit  ganz  dasselbe  war,  was  für  spätere  Zeiten  eine  überall 
anwendbare  Kategorientafel  oder  ein  bestimmter  Rhythmus  gewisser 
stets  wiederkehrender  Momente  geworden  ist :  ein  Mittel,  mit  Leich- 
tigkeit ein  schulmässig  gebildeter  Philosoph  zu  werden.  Anders 
der  Zweite.  Nicht  für  die  Schule,  für  die  Welt,  sowol  die,  die 
mit  ihm  als  die  nach  ihm  lebte,  hat  der  gesungen,  der  Grösseres 
geleistet  hat  als  Lucreüus  (s.  oben  §.  96,  5),  weil  die  scholasti- 
schen Distinctionen  ein  noch  unpoetischerer  Stoff  sind,  als  die 
Atomenlehre  der  Epikureer,  und  weil  sein  unübertroffenes  Gedicht 
noch  heute  in  seinem  Vaterlande  bis  in  die  Hütte  hinab  Begei- 
sterung, ausserhalb  dessen  mehr  als  dies,  eine  auf  Verständniss 
gegründete  Bewunderung  hervorruft,  Dante  Allig  hier  L 

§.  206. 
L  u  1  1  u  s. 

Helfferich  Raymuud  Lull    und    die  Anfänge    der  Catalouischen  Literatur.    Berlin 
1858. 

1.  Tiamon  Lull ,  im  J.  1235  aus  vornehmer  catalonischer  Fa- 
milie auf  der  Insel  Majorca  geboren,  früh  in  Hofdienste  getreten, 
in  denen  er  es  bis  zum  (jran  scncscal  am  ritterlichen  Hofe  des 
Königs  Jacob  von  Majorca  brachte,  Ehemann  und  Vater,  dabei 
aber  mit  anderweitigen  Liebesabenteuern  beschäftigt,  ward  durch 
den  entsetzlichen  Ausgang,  den  eines  derselben  nahm,  so  erschüt- 
tert, dass  er  auf  einmal  allen  seinen  öffentlichen  und  häuslichen 
Verhältnissen  entsagte  und,  durch  Visionen  darin  bestärkt,  sich 
entschloss  ein  Streiter  Christi  zu  werden,  indem  er  alle,  die  das 
Waflfenhandwerk  trieben,  zum  Krieg  gegen  die  Ungläubigen  auf- 
forderte, selbst  aber  den  schweren  Kampf  auf  sich  nahm,  mit  den 
Waflfen  des  Geistes  sie  zu  besiegen,  indem  er  ihnen  die  Unver- 
nünftigkeit  ihrer  Irrthümer,  die  Vernünftigkeit  der  christlichen 
Wahrheit  bewies.  Den  beiden.  Hindernissen,  Unkenntniss  der  ara- 
bischen Sprache  und  Mangel  an  Schulbildung  suchte  er  zu  begeg- 
nen. Ein  Muselmann  ward  sein  Lehrer  in  jener,  und  mit  der 
Leidenschaft,  die  ihn  überhaupt  charakterisirt,  warf  er  sich  auf 
das  Studium  des  trirü,  der  Logik.    Der  Enthusiasmus,  mit  dem 


378  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

er  die  analytischen  Studien  trieb,  verl)unden  mit  der  Ungeduld, 
die  ersehnte  Missionsthätigkeit  zu  beginnen,  Hess  den  Gedanken 
in  ihm  entstehn,  der  sich  sogleich  als  Vision  gestaltete,  dass  der 
Besitz  gewisser  allgemeiner  Principien  und  einer  sicheren  Methode, 
aus  dein  Allgemeinen  das  Besondere  abzuleiten,  den  Wust  des 
zu  erlernenden  Stoffes  unnütz  machen  könne.  Kaum  im  Besitz 
dieser  seiner  Wissenschaftslehre,  begibt  er  sich  an  sein  Werk. 
Eine  Disputation  in  Tunis  mit  den  gelehrtesten  Saracenen  wird, 
gerade  durch  den  siegreichen  Erfolg,  gefährlich,  und  Misshar.d- 
lungen  nöthigen  ihn,  nach  Neapel  zu  flüchten.  Von  da  geht  er 
nach  Rom,  um  den  Papst  Bovifacws  den  Achten  theils  für  seine 
eigne  Missionsthätigkeit,  theils  für  die  Förderung  des  Studiums 
des  Arabischen  zu  stimmen;  ähnliche  Versuche  bei  dem  Könige 
von  Cypern,  so  wie  bei  vielen  zu  einem  Concil  vereinigten  Cardi- 
nälen  l)leiben  gleich  fruchtlos.  Abermals  disputirt  er  an  einem 
saraceiiischen  Ort,  Bugia,  mit  den  Gelehrten  desselben  und  abermals 
ist  siegreicher  Erfolg  und  Einkerkerung  sein  Loos.  Nach  Europa 
zurückgekehrt ,  ermahnt  er  auf  dem  Concil  zu  Vienne  zur  Bekäm- 
pfung der  Saracenischen  Lehre  in  der  Fremde ,  der  AveiToistischen 
im  eignen  Lande,  und  geht  dann,  ein  Greis,  zum  dritten  Male  zu 
den  Saracenen,  wo  der  von  je  ersehnte  Tod  des  Märtyrs  ihm  im 
J.  1315  wirkhch  zu  Theil  wird.  Während  dieses  unsteten  Lebens 
hat  er  an  allen  Orten  theils  lateinisch,  theils  arabisch,  theils  ca- 
talonisch  (d.  h.  provenzalisch)  geschrieben.  Vor  Allem,  was  sich 
auf  seine  grosse  Kunst  bezieht,  aber  auch  Theologisches  und  Er- 
bauliches. Vieles  ist  schon  während  seines  Lebens  verloren.  An- 
deres nie  gedruckt.  Er  soll  über  tausend  Schriften  verfasst  haben. 
Von  mehr  als  vierhunderten  sind  die  Titel  erhalten.  Im  Jahre 
1721  erschien  der  erste  Theil  einer  Gesamratausgabe  in  Folio 
von  dem  Priester  und  Doctor  aller  vier  Facultäten ,  I>:o  Sahivgcr, 
veranstaltet,  in  Mainz.  Derselbe  enthält  ausser  einer  Biographie 
und  sehr  ausführlichen  Einleitungen  die  Ars  compendiosa  inve- 
niendi  veritatem  (d.  h.  die  Ai-s  magna  und  major)  auf  49  Seiten, 
die  Ars  universahs  (welche  die  Lectura  zu  jener  ist),  124  S.,  die 
Principia  Theologiae  60  S. ,  Philosophiae  66  S. ,  Juris  34  S. ,  Medi- 
cinae  47  S.  An  diesen  ersten  Band  schliesst  sich  der  im  J.  1722 
erschienene  zweite  so  an,  dass  er  die  Anwendung  der  im  ersten 
Bande  entwickelten  Principien,  nur  nicht  in  der  schulmässigen 
Zeichenschrift,  auf  die  katholische  Kirchenlehre  gibt,  indem  er  in 
dem  Liber  de  gentili  et  tribus  Sapientibus  94  S.,  einen  Juden, 
Christen  und  Saracenen  ihren  Glauben  mit  Vernunftgiünden  recht- 
fertigen, in  dem  Liber  de  sancto  spiritu  10  S.,  einen  Griechen  und 


n.  Glanzperiode.     B.  ChvistHehe  Aristoteliker.     Liill.     §.  206,  1.  379 

Lateiner  vor  einem  Saracenen  ihre  Dilferenzpiinkte  erörtern,  end- 
lich in  dem  Liber  de  qiiinque  Sapientil)us  51  S.  in  ähnlicher  Scenerie 
die  Lateinische,  Griechische,  Nestorianischc  und  Monophysitische 
Lehre  philosophisch  begründen  lässt.  Es  folgen  hierauf  die  vier  Bü- 
cher Mirandae  demonstrationes  244  S.,  und  der  Liber  de  quatuorde- 
cim  articulis  SSae.  Rom.  Cath.  fidei  190  S.  —  In  dem  gleichfalls  1722 
erschienenen  dritten  Bande  sind,  wie  im  ersten,  wieder  nur  eso- 
terische Schriften  enthalten,  zuerst  die  Introductoria  artis  de- 
monstrativae  38  S. ,  offenbar  spcäter  geschrieben  als  die  darauffol- 
gende Ars  demonstrativa  112  S.  An  diese  letztere  schliesst  sich 
die  Lectura  super  figaras  artis  demonstrativae  51  S.,  an.  Dieser 
folgt  Liber  Chaos  44  S. ,  auf  dieses  Compendium  s.  commentum 
artis  demonstrativae  160  S. ,  dann  Ars  inveniendi  particularia  in 
universalibus  50  S. ,  endlich  Liber  propositionum  secundum  artem 
demonstrativam  02  S.  —  Nach  diesem  dritten  Bande  trat  in  der 
Herausgabe  eine  Pause  ein,  veranlasst  durch  Sttlzlvgers  Tod.  End- 
lich im  J.  1729  erschien,  von  einer  dazu  ernannten  Zahl  von  Mcän- 
nern  herausgegeben,,  der  vierte  Band,  der  auf  seinem  Titelblatt 
ein  ähnliches  Verhältniss  zum  dritten  Bande  ankündigt,  wie  der 
zweite  zum  ersten  gehabt  hatte.  Es  sind  darin  enthalten:  Liber 
exponens  tiguram  elementarem  artis  demonstrativae  10  S.,  Regulae 
introductoriae  in  practicam  artis  demonstrativae  6  S.,  Quaestiones 
per  artem  demonstrativam  seu  inventivam  solubiles  210  S. ,  Dispu- 
tatio  Eremitac  et  Eaymundi  sup.  lib.  Sentt.  122  S. ,  Liber  super 
Psalmum  Quicumque  s.  liber  Tartari  et  Christiani  30  S. ,  Disputa- 
tio  fidelis  et  infidelis  33  S. ,  Disputatio  Raymundi  Christiani  et  Ha- 
mar  Saraceni  47  S. ,  Disputatio  fidei  et  intellectus  26  S.,  Liber 
apostrophe  51  S.,  Supphcatio  Professoribus  Parisiensibus  8  S, ,  Li- 
ber de  convenientia  fidei  et  intellectus  in  objecto  5  S.,  Liber  de 
demonstratione  per  aequiparantiam  6  S.,  Liber  facilis  scientiae  11  S., 
Liber  de  novo  modo  demonstrandi  s.  ars  praedicativa  magnitudi- 
nis  166  S.  Der  fünfte  Band,  gleichfalls  1729  erschienen:  Ars 
iuventiva  veritatis  s.  ars  intellectiva  veri  210  S. ,  Tabula  generalis 
80  S. ,  Brevis  practica  tabulae  generalis  43  S. ,  Lectura  compendiosa 
talnilae  generalis  15  S.,  Lectura  supra  artem  inventivam  et  tabu- 
lam  generalem  388  S.  —  Vielleicht  war  es  der  im  J.  1730  in  Bam- 
berg veröffentlichte  Angriff  eines  Jesuiten  auf  die  Rechtgläubigkeit 
des  Lull  IIS,  der  die  Herausgabe  des  sechsten  Bandes  so  verzö- 
gerte. Wenigstens  als  er  1737  erschien,  hielten  es  die  Heraus- 
geber noch  für  nöthig,  dagegen  auf  andere  Jesuiten  als  Autoritäten 
sich  zu  berufen.  Der  Band  enthält:  in  lateinischer  Uebersetzung 
die  Ars  amativa  S.  151,  die  Arbor  philosophiae  amoris  66  S. ,  die 


380  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

flores  amoris  et  intelligentiae  14  S.,  die  Arbor  philosophiae  clesi- 
deratae  41  S. ,  Liber  proverbiorum  130  S. ,  Liber  de  anima  ratio- 
nal! 60  S. ,  de  homine  62  S. ,  de  prima  et  secimda  intentione  24  S., 
de  Deo  et  Jesu  Christo  38  S.  Im  J.  1740  erschien  der  neunte 
Band,  im  J.  1742  der  zehnte;  l)eide  enthalten  nur  den  Liber 
magnus  contemplationum  in  Deum,  in  366  Capiteln  zu  je  30  §§. 
Da,  so  weit  bekannt,  keine  einzige  Bibliothek  den  7*''"  und  8*"" 
Band  1)esitzt,  so  scheint  Savigiij/s  Vermuthung,  dass  dieselben 
nie  herausgekommen,  richtig  zu  seyn.  Nur  45  Werke  finden 
sich  in  den  gedruckten  acht  Bänden,  während  Sahiiiger  in  sei- 
nem ersten  Bande  von  282  die  Anfangs-  und  Schlussworte  angibt, 
und  dazu  noch  die  kommen,  die  er  nicht  vor  Augen  hatte. 

2.  LuU  ist  nicht  damit  zufrieden,  dass  alle  Zweifel  gegen  die 
Kirchenlehre  widerlegt  werden  können ,  er  schreibt  der  Philosophie 
die  Kraft  zu,  sie  in  allen  ihren  Stücken  positiv  durch  zwingende 
Vernunftgründe  zu  beweisen.  Davon  nimmt  er  weder  die  Trinität 
noch  die  Menschwerdung  aus,  wie  Thomas,  denn  nach  seinen  Mi- 
rand.  demonstr.  heisst  dies  ihm  den  menschlichen  Verstand  herab- 
setzen. Der  thörichte  Grundsatz,  sagt  er,  dass  es  das  Verdienst 
des  Glaubens  steigere,  wenn  Unbeweisbares  angenommen  werde, 
der  schrecke  gerade  die  Besten  und  Vernünftigsten  unter  Heiden 
und  Saracenen  vom  Christenthume  ab  (de  quinque  Sapient.  8); 
wolle  man  sie  bekehren,  so  lerne  man,  ihnen  nicht  nur  beweisen, 
dass  sie  Unrecht,  sondern  dass  wir  Christen  Recht  haben.  Dies 
Verfahren  ehrt  zugleich  Gott  am  Meisten,  der  doch  nicht  neidi- 
scher und  schlechter  seyn  wird  als  die  Natur ,  die  Nichts  verbirgt. 
Könnte  der  Verstand  Gott  nicht  erkennen,  so  wäre  dessen  Ab- 
sicht verfehlt,  da  er  den  Menschen  schuf  um  erkannt  zu  werden. 
Eben  darum  haben  die  frömmsten  Theologen,  Avgvstln,  Aiisclm 
u.  A.  die  Zweifel  der  Ungläubigen  nicht  mit  Autoritäten,  sondern 
mit  Gründen  widerlegt,  und  einer  der  vielen  Beweise,  dass  die 
katholische  Kirche  mehr  die  Wahrheit  besitzt  als  Juden  und  Sa- 
racenen, ist,  dass  sie  nicht  nur  mehr  Einsiedler  und  Mönche  hat 
als  jene,  sondern  auch  viel  Mehrere  als  sie,  die  sich  mit  Philo- 
sophie beschäftigen.  Rationes  necessnriae  sind  die  besten  Verthei- 
digungswaifen ;  Wunder  wird  auch  der  Antichrist  thun,  aber  die 
Wahrheit  seiner  Lehren  Avird  er  nicht  beweisen  (Mirand.  demonstr.). 
Freilich  kann  nicht  Jeder  die  Wahrheit  beweisen,  auch  sind  die 
Beweise  dafür  nicht  so  leicht,  dass  jeder  Ungebildete  oder  auch 
der,  dem  Frau,  Kinder  und  weltliche  Beschäftigungen  alle  Zeit 
nehmen,  sie  finden  könnte.  Die  mögen  bei  dem  Glauben  stehen 
bleiben;    Gott,   der  von  Allen  geehrt  seyn  will,   hat  auch  für  sie 


n.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,  'i.  3.        381 

gesorgt.  Sie  sollen  aber  denen,  die  für  Beweise  zugänglich  sind, 
keine  Schranken  ziehn  und  ihnen  nicht  verbieten  zu  zweifeln,  denn 
der  Mensch  „(jumn  prumnn  incipit  dubitare  incipif  pldlosophurr' 
(Tabula  gener.  p.  15).  Aber  auch  diese  Letzteren  sollen  nicht 
meinen,  dass  die  Beweise  für  diese  Wahrheiten  so  leicht  zu  fassen 
seyen,  wie  die  für  geoiuetrische  oder  phj^sikalische  Sätze.  In  die- 
sen Sphären  beschränkt  man  sich  meistens  darauf  abwärts  von  der 
Ursache  auf  die  Wirkung,  oder  aufwärts  von  der  Wirkung  auf  die 
Ursache  zu  schliessen;  eine  dritte  Weise,  seitwärts  per  aefjiiipa- 
raiiüam,  zu  schliessen  kennt  man  da  gar  nicht,  und  gerade  diese 
spielt  in  der  höheren  Wissenschaft  die  wichtigste  Rolle.  So  wird 
z.  B.  die  Vereinbarkeit  der  Vorherbestimmung  und  des  freien  Wil- 
lens dadurch  bewiesen,  dass  die  erstere  als  Wirkung  der  göttli- 
chen Weisheit,  die  letztere  der  göttlichen  Gerechtigkeit  dargestellt, 
und  nun  von  diesen  beiden  göttlichen  Dignitäten  bewiesen  wird, 
dass  sie  sich  gegenseitig  fordern  (de  quinque  Sap.  Mirand.  de- 
monstr.  —  Introductoria  u.  a.  a.  0.). 

3.  Den  hier  angegebnen  Grundsätzen  gemäss  hat  Lall  in  einer 
grossen  Menge  von  Schriften  die  ganze  Kirchenlehre  als  den  For- 
derungen der  Vernunft  entsprechend  dargestellt.  Hierher  gehört 
sein  Liber  de  quatuordecim  articuhs  u.  s.  w. ,  d.  h.  über  das  apo- 
stolische Symbolum,  hierher  seine  ursprünglich  provenzalisch  ge- 
schriebene Apostrophe,  hierher  sein  Gespräch  mit  einem  Eremiten 
über  140  streitige  Punkte  der  Sentenzen  des  Lombarden,  so  wie 
das  des  Eremiten  Blamjueiiia  über  das  Quicuiif/ue^  hierher  end- 
lich seine  Disputatio  Fidelis  et  Infidelis,  die  ziemlich  alle  Glau- 
benspunkte betrifft.  Zwei  Grundgedanken,  hinsichtlich  der  er  sich 
gern  auf  Ansei m  beruft,  kehren  bei  seinem  Räsonnement  oft  wie- 
der: dass  Gott  erkannt  seyn  will,  und  dass  über  Gott  nichts  Grös- 
seres gedacht  werden  kann.  Jener  sichert  ihm  die  Möglichkeit 
einer  Theologie  als  Wissenschaft,  dieser  ist  ihm  ein  steter  Finger- 
zeig bei  der  Bestimmung  ihres  Inhalts.  Jedes  Prädicat  das  mit 
der  minoritas  convertibel,  ist  eo  Ipso  Gott  ab-,  jedes  wieder  das 
mit  der  mujoritas  stellt  und  fällt,  ist  Gott  zuzusprechen.  Die  er- 
wähnten Schriften  LuUs  behandeln  nur  theologische  Fragen.  In 
den  Quaestt.  art.  dem.  solubiles  sind  mit  denselben  auch  physika- 
lische und  psychologische  verbunden.  Als  eins  seiner  bedeutend- 
sten Werke  haben  seine  Anhänger  sein  ausführlichstes  angesehn, 
den  Liber  magnus  contemplationis ,  dessen  fünf  Bücher  in  10980  §§. 
zerfallen,  jeder  mit  einer  Anrede  an  Gott  beginnend,  und  in  dem 
die  ganze  Lehre  Lulls  enthalten  ist.  Nicht  darin  besteht,  wie- 
derholt er  hier,  das  Verdienst  des  Glaubens,  dass  er  Unbewiese- 


382  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

nes  sondern  dass  er  das  Uebersinuliche  festhält.  Hierin  mit  dem 
Wissen  übereinstimmend,  stellt  er  demselben  darin  nach,  dass  er 
auch  Falsches,  das  Wissen  dagegen  nur  Wahrheit  enthalten  kann. 
Wie  bei  ihm  das  Wollen,  so  ist  bei  dem  Wissen  der  Verstand  das 
eigentüche  Organ.  Als  auf  das  Leichtere  sind  die  von  schwerfäl- 
ligerem Verstände  auf  den  Glauben  hingewiesen. 

4.  Dies  allein ,  dass  die  wenigen  von  Tliauuis  unbeweisbar  ge- 
nannten Dogmen  bei  Lidl  als  bewiesene  auftreten,  wiu-de  um  so  we- 
niger erklären,  wie  nicht  nur  eine  an  Zahl  den  Thomisten  fast 
gleiche  Schule  der  Lullisten  eutstehn ,  sondern  lange  nachdem  die- 
selbe verschollen  war,  immer  wieder  Stimmen  sich  erheben  konnten, 
die  ihn  einen  der  scharfsinnigsten  Philosophen  nannten,  als  nicht 
zu  leugnen  ist,  dass  seine  Beweise  oft  Cirkelschliisse,  immer  aber 
sehr  geschmacklos  in  der  Form  sind.  Vielmehr  ist,  was  seinen 
Ruhm  begründet  hat,  dasselbe  was  ihm  den  Ehrennamen  des  docior 
iUnminatns  verschafft  hat,  und  worein  er  selbst  sein  grösstes  Ver- 
dienst gesetzt  hat,  seine  „grosse  Kunst".  Die  Ausbreitung  dieser 
geht  ihm  sogar  über  seine  Missiousthätigkeit ,  denn  als  eine  Vision 
ihm  verheisst,  für  die  letztere  werde  der  Eintritt  in  den  Dominica- 
nerorden  am  vortheilhaftesten  seyn,  tritt  er  doch,  weil  er  davon 
grössere  Vortheile  für  seine  grosse  Kunst  erwartet ,  bei  den  Fran- 
ciscanern  ein.  Da  zu  verschiedenen  Zeiten  sich  diese  Kunst  bei 
Liill  selbst  verschieden  gestaltet  hat,  so  muss  die  Darstellung 
versuchen,  von  ihrer  einfachsten  Form  ausgehend  zu  zeigen,  wie 
sie  sich  immer  mehr  erweitert.  Die,  offenbar  in  späteren  Jahren 
geschriebene  Introductoria,  welche  der  früher  geschriebenen  Ars 
demonstrativa  vorausgeschickt  ist  (Opp.  Bd.  3),  führt  am  Besten  in 
das  Verständniss  ein,  weil  hier  das  Verhältniss  dieser  Ars  zur 
Logik  und  Metaphysik  erörtert  wird.  Da  die  erstere  die  res  be- 
trachtet, wie  sie  In  (in'nna,  die  letztere  wie  sie  exivd  animnm  sind, 
die  neue  Kunst  aber  das  eiis  betrachten  soll,  ganz  abgesehn  von 
diesem  Unterschiede ,  so  wird  sie  also  die  gemeinschaftliche  Grund- 
lage für  beide  seyn.  Während  darum  jene  beiden  Wissenschaften 
jede  ihre  Principien  zu  ihrem  Ausgangspunkte  machen,  die  für  sie 
gegeben  sind,  soll  diese  Grundwissenschaft  vielmehr  die  Principien 
jener  beiden  so  wie  aller  Wissenschaften  erst  auffinden.  Daher 
wird  sie  sich  zu  dem  Erfinden  gerade  so  verhalten,  wie  die  Logik 
sich  zu  dem  ableitenden  Denken  verhält.  Weil  in  dieser  Grund- 
und  Wissenschaftslehre  die  Principien  alles  Beweisens  enthalten 
sind,  deswegen  ist  es  möglich,  jeden  richtigen  Beweis,  der  in  ir- 
gend einer  Wissenschaft  gegeben  ist,  auf  ihre  Formeln  zurückzu- 
führen.   Wie  in  der  Grammatik  der  Schüler,   wenn  er  sich   die 


II.   Glanzperiode     B.  Christliche  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,  4-  5.       383 

Flexionssilben  der  Conjugation  eingeprägt  hat,  jedes  Zeitwort  cou- 
jugireu  kann,  so  handelt  es  sich  auch  in  der  Grundwissenschaft 
darum,  dass  gewisse  iermini,  die  eigentlichen  Principien  alles  Den- 
kens und  Seyns,  welche  figürlich  manchmal  ßores  genannt  werden, 
festgestellt  und  das  Operiren  damit  geläufig  werde.  Zu  dem  Letz- 
teren ist  nun  Nichts  so  förderlich,  als  wenn  diese  Grundbegriffe 
mit  Buchstaben  bezeichnet  werden,  ein  Vorschlag  den  Sahiiiger 
mit  Recht  damit  vergleicht  und  rechtfertigt,  dass  der  Gebrauch 
der  Buchstaben  als  allgemeiner  Zahlzeichen  seit  Vteln  die  Mathe- 
matik so  gefördert  habe.  Die  Bedeutung  dieser  Buchstaben  sich 
einzuprägen  ist  daher  das  Erste. 

5.  Da  das  Princip  alles  Seyns  und  der  Hauptgegenstand  alles 
Denkens  und  Wissens  Gott  ist,  so  wird  dieser  mit  dem  Buchsta- 
ben A  bezeichnet.  Es  wird  nun  weiter  zugesehn,  welches  die  At- 
tribute Gottes  (ijoleulidc ,  diyiiitates)  sind,  durch  welche  er  sich 
als  Princip  aller  Dinge  bethätigt ,  und  werden  diesen  wieder  ihre 
Buchstaben  zugewiesen.  Da,  wie  sich  im  Verfolg  zeigen  wird,  die 
sechs  letzten  Buchstaben  des  Alphabets  anderweitig  in  Beschlag 
genommen  sind,  so  bleiben  zur  Bezeichnung  der  Grundprädicate 
Gottes,  auf  die  alle  anderen  zurückgeführt  werden  können,  die 
sechszehn  Buchstaben  ß  —  t\  übrig ;  ihr  attributives  Verhältuiss  zu 
Gott  wird  nun  scheinatisch  so  dargestellt,  dass  um  einen  Kreis, 
der  mit  A  bezeichnet  ist,  ein  in  sechszehn  gleiche  Theile  zerlegter 
Ring  gelegt  ist,  dessen  einzelne  Fächer  folgende  sind:  B  boiütas, 
C  muyniiiido,  D  aelenütas ,  E  poteslas ,  F  sapienüa,  G  coliin- 
tas .  Il'rirlus.  I  reriias,  K  glorin ,  L  perjectio,  M  JHstilia ,  N 
l  arg 'das ,  O  simplic'äus ,  P  nobäitas  (statt  welcher  beiden  früher 
IniinUiUis  und  paüeiithi  gesetzt  war),  Q  miserlcordia ,  li  domi- 
nium. Dieses  Schema,  seine  Figurti  A  oder  Figur a  Dei  enthält 
also  die  ganze  Gotteslehre,  indem  sich  durch  die  Verbindung  des 
Centralkreises  A  mit  je  einem  der  umgebenden  Fächer  sechszehu 
Sätze  ergeben.  Dabei  aber  bleibt  es  nicht.  Da  nämlich  alle  diese 
Prädicate  in  Gott  so  Eines  sind,  dass  jedes  sich  dem  anderen  mit- 
theilt,  was  Lall  durch  die  Derivationssilbeu  jicare  andeutet,  indem 
honitas  boiiijicdt  mdgnitudiuem ,  aelerniUis  aelerui/icat  boniiatem 
u.  s.  w.,  so  ergeben  sich  Combinationen.  Indem  er  nun,  ganz  mecha- 
nisch, zuerst  die  sechszehn  Combinationen  BB,  BC,  BD  u.  s.  w. 
in  einer  perpendicularen  Reihe  untereinander  stellt,  dann  eben  so 
daneben  stellt  CC,  CD,  CE  u.  s.  w. ,  erhält  er  natürlich  sechs- 
zehn immer  kürzer  werdende  Colonnen,  welche  ein  Dreieck  bilden, 
das  er  die  secunda  Figura  A  nennt.  Die  hundert  und  sechs  und 
dreissig  Begriffsverbindungen  (condiüones)  werden,   weil  die  em- 


384  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

zelnen  Colonuen  und  in  ihnen  die  einzelnen  Combinationen  durch 
Linien  getrennt  sind,  so  dass  Quadrate  entstehn,  gewöhnlich  ca- 
merae  genannt.  Später  gibt  er  ein  kürzeres  Mittel  an,  um  zu 
diesen  Combinationen  zu  kommen.  Man  braucht  nicht  diese  Co- 
lonnen  hinzuschreiben,  sondern  zwei  concentrische  Ringe  in  sechs- 
zehn Theile  zu  zerlegen,  diese  mit  den  Buchstaben  A  bis  ß  zu 
bezeichnen,  und  den  einen  beweglich  zu  machen,  so  wird  man,  wenn 
man  zuerst  die  gleichen  Buchstaben  sich  berührend  denkt,  dann 
aber  den  beweglichen  Kreis  um  ein  Sechszelintheil  des  Kreises  vor- 
rücken lässt,  allmählich  dieselben  136  Combinationen  erhalten,  wel- 
che die  Flyiira  sccunda  ./  gezeigt  hatte.  Diese  Combinationen 
sind  nun  der  Stolz  LuUs,  da  sie  nicht  nur  einen  Anhalt  für  das 
Gedächtniss  geben,  sondern  als  eine  Topik  um  den  Kreis  der  Fra- 
gen zu  erschöpfen  dienen,  ja  sogar  Daten  zur  Antwort  an  die 
Hand  geben  sollen  (s.  weiter  unten  sub  12). 

6.  Zu  der  Figura  Del  oder  J,  kommt  nun  als  zweite  die 
Flffura  aiüinae  oder  *S'.  Hatte  jene  es  mit  dem  Hauptobject  un- 
seres Erkennens  zu  thun,  so  diese  mit  dem  Subjccte  desselben, 
dem  denkenden  Geiste,  welcher  mit  dem  Buchstal)en  S  bezeichnet, 
und  während  oben  Gott  das  Schema  des  Kreises  bekommen  hatte, 
das  Schema  des  Quadrats  erliält.  Die  vier  Ecken  werden  mit  den 
Buchstaben  ß  —  E  bezeichnet,  indem  B  memor'm,  C  intellcctiis, 
D  voluntds,  E  aber  die  Einheit  aller  drei  pofeji.flae  bezeichnen 
sollen,  so  dass  also  F  mit  S  ganz  zusammenzufallen  scheint.  Es 
bleibt  der  grosse  Unterschied,  dass  E  nur  den  ganz  normalen  Zu- 
stand von  S  bezeichnet,  wo  das  Gedächtniss  behält,  der  Verstand 
erkennt,  der  Wille  liebt,  ein  Zustand  der  schematisch  so  ange- 
deutet wird,  dass  das  Quadrat  blau  (äridirmj  erscheint.  Aendert 
sich  dieser  Zustand,  indem  an  die  Stelle  der  Liebe  der  Hass  tritt, 
so  wird  die  Verbindung  der  memorlii  recofcns  (F),  des  iiiteUectiis 
iiitelUgeus  (G)  und  der  Doliinlits  odicns  (H)  mit  dem  Buchstaben 
I  bezeichnet  und  dem  Quadrat  die  schwarze  Farbe  gegeben.  Da 
Manches,  z.  B.  das  B()se,  gehasst  werden  darf  ja  muss,  so  ist  / 
oder  quadiutum  nignim  nicht  ein  durchaus  anomaler  Zustand. 
Wohl  aber  ist  dies  der  Fall  in  dem  (jnadrato  rubeo  und  virldi. 
Roth  wird  das  Quadrat  wo  die  memorUi  obliviscens  als  A"  mit 
dem  intellectus  ignonuis  als  L  und  der  rolnndis  dUigens  vcl  odiens 
als  M  sich  zu  iV  verbindet,  grün  endlich  wird  es  oder  vermuthend 
und  zweifelnd  ist  die  Seele,  wenn  sein  erster  Winkel  O  den  Cha- 
rakter von  B,  F  und  K  verbindet,  d.  h.  das  Gedächtniss  behält 
und  vergisst,  wenn  sein  zweiter  Winkel  P  eben  so  die  Natur  von 
C,  G  und  L  d.  h.  der  intellectus  Wissen  und  Unwissenheit  ver- 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,  C.  '  385 

bindet,  endlich  wenn  sein  dritter  Winkel  Q  in  sich  D,  //  und  M. 
d.  h.  wenn  in  dem  Willen  sich  Hass  und  Liebe  mischen.  R  also 
oder  fpiadratinn  virirfc  ist  die  Seele  wie  sie  nicht  seyn,  wie  sie 
vielmehr  darnach  streben  soll  E  oder  /  oder  mindestens  N  zu  seyn. 
Indem  nun  diese  vier  Quadrate  auf  einander  gelegt  werden,  aber 
nicht  so  dass  sie  sich  decken,  sondern  dass,  in  der  angegebnen 
Reihenfolge  abwechselnd,  die  verschieden  gefärbten  Ecken  in  glei- 
chen Abständen  erscheinen,  werden  dadurch  sechszehn  Punkte  einer 
Kreislinie  bestimmt,  deren  Reihenfolge  also  wäre:  B,  F,  R,  O, 
C,  G,  L,  P,  D,  //,  M,  Q,  E,  1,  N,  R.  Bei  späteren  Darstel- 
lungen, wo  es  ihm  darauf  ankommt,  den  Parallelismus  der  einzel- 
nen Figuren  mehr  hervortreten  zu  lassen,  tritt  an  die  Stelle  die- 
ser Reihenfolge  die  alphabetische.  Wenn  er  dann  weiter,  gerade 
wie  oben  bei  der  Figur a  A,  die  sechszehn  terviini  combinirt,  so 
ergibt  sich  natürlich  hier  eine  seviinda  figura  S,  die  gerade  so  viel 
camcrae  enthält  wie  die  zweite  Figur  A,  nämlich  136.  (So  z.  B. 
in  der  Ars  deinonstrativa  Opp.  3.)  EIN  R  ist  vermöge  dieser 
Tabula  animae  sehr  oft  die  Formel  für  die  ganze  Seele;  noch  häu- 
figer E,  weil  dies  den  Normalzustand  andeutet.  Diese  Bezeich- 
nung ist  ihm  so  zur  Gewohnheit  geworden,  dass  in  Schriften,  die 
gar  keinen  schulmässigen  Charakter  haben  und  die  Bezeichnung 
mit  Buchstaben  gar  nicht  anwenden,  doch  E  anstatt  anima  vor- 
kommt. 

7.  Zu  den  beiden  genannten  Figuren  gesellt  sich  als  dritte 
die  Figiira  T  oder  figura  inslrvmentaiis.  weil  man  ihrer  bei  allen 
anderen  bedürfe.  Die  Stelle  des  Kreises  in  der  ersten,  des  Qua- 
drats in  der  zAveiten  Figur  vertritt  hier  das  gleichseitige  Dreieck. 
Die  hauptsächlichsten  Verhältnissbegriflfe,  welche  als  Gesichtspunkte 
bei  der  Betrachtung  und  namentlich  der  Vergleichung  dienen,  bil- 
den den  Inhalt  dieser  Figur,  zu  der  Lull  wohl  nicht  ohne  die 
Lehren  von  Prädicabilien,  Prädicamenten  und  Postprädicamenten 
gekommen  ist.  Je  drei  werden  zu  einem  Triangel  verbunden,  und 
indem  nun  fünf  verschieden  gefärbte  Triangel  (liridmu^  viride, 
ruheum ,  croceum.  nigrum) ,  ähnlich  wie  oben  die  Quadrate,  über 
einander  gelegt  werden,  theilen  ihre  Spitzen  den  durch  sie  geleg- 
ten Kreis  oder  auch  den  um  sie  gelegten  Ring  in  fünfzehn  Abthei- 
lungen, oder  camerae^  deren  jede  die  Farbe  des  Dreiecks  erhält, 
an  dessen  Spitze  sie  sich  findet.  Die  drei  blauen  B,  C,  D  sind 
deus ,  creatio ,  operaiio ,  die  grünen  E  diff'crenüa ,  F  concor- 
duntiaf  G  coiilr artet as ,  die  drei  rothen  H  principium ,  I  medium. 
K  ßnis  f  die  drei  gelben  L  majoritas ,  M  aefjualitas,  N  minori- 
taa,   die  drei  schwarzen  O  af/irmatio,    P  duhitatio ,    Q  negaf/o. 

Erdmann,  Gesch.  d.  Phil.  T.  05 


386  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Die  einzelnen  Winkel  bekommen  dann  wieder  nähere  Bestimmun- 
gen, indem  bei  B  (deus)  esscntia ,  vnitas,  dignitds,  bei  C  (crea- 
tvra)  intellcctuaUs ,  ammaUs ,  seiisiialis,  bei  D  (opcrafio)  artifi- 
cialis,  natvraüs,  mtellcctualis  geschrieben  steht,  zu  den  drei  Win- 
keln des  grünen  Dreiecks  E,   F,  G  intcllcduniis  et  InteUectnalis, 
int.  et.  sens.,  sens.  et.  sens.  hinzugefügt  wird,   ferner  //  (priiici- 
phim)  die  nähere  Bestimmung  cdiisae  (jHantitatis  teiiiporh ,   /  (me- 
dium) die  Determinationen  e.vtremitatnm  meusiirationis  eonjnnctio- 
vis,   endlich  K  (fniis)  die  Zusätze  perfectionis  prirntionis  termi- 
iKitionis  erhält.    Das  gelbe  Dreieck  L  M  N  erhält  die  nähere  Be- 
stimmung,   dass  sichs  um  das  Vcrhältniss  von  Substanzen,   Acci- 
denzen,  Substanzen  und  Accidenzen,  handelt.    Endlich  bei  der  Be- 
jahung,  Bezweifelung  und   Verneinung   (O  P  Q)  wird  possibile, 
impossibilc,  etis,  non  ens  als  Object  denselben  hinzugefügt.    Diese 
näheren  Bestimmungen  werden  dann  immer  mit  angegeben  und  so 
von  dem  angidus  de   essentia  dei.    de   eredtura  inteUeetiudi .    de 
differentia  seimudlis  et  seusudfis,  de  minoritdte  suhsldiitide,  de  ne- 
tjdtione  entis  u.  s.  w.  gesprochen.    Als  ein  Anhang  zur  Fi<jm'd  T 
wurde  ursprünglich  behandelt,  ja  in  der  Ars  universalis  geradezu 
als  seeundd  Fiyiird  T  bezeichnet  die  Figurd  elementdiis .  welche 
durch  die  Combination  von  vier  Farben  und  den  Namen   der  vier 
Elemente  vier,  aus  je  sechszehn  kleineren  bestehende,   Quadrate 
darstellt.    Es  geht  bei  dieser  Gelegenheit  hervor,  dass  Lull  nicht 
wie  die  Aristoteliker  die  Elemente  als  Combinationen  der  Urgegen- 
sätze  ansieht.    Feuer  ist  ihm  nur  Warmes,  trocken  ist  es  nur  per 
dccidens  durch  Mittheilung  der  Erde,  wie  diese  an  sich  das  Trockne 
kalt  nur  ist  durch  Mittheiluug   der  Luft  u.  s.  w.     Darum  enthält 
ihm  jedes  Element  die  anderen  mit,  eine  Lehre  die  in  dem  Liber 
Chaos  weiter  ausgeführt  wird.  —  Sowol  die  ursprüngliche  Reihen- 
folge der  Buchstaben  in  der  Fiyiud  T,  die  dadurch  entstand,  dass 
zwischen  je  zwei  gleichfarbigen  Spitzen  vier  anders  gefärbte  traten, 
und  also  zwischen  die  beiden  Buchstaben  .  /  und  B  die  vier  Buch- 
staben D  G  K  N,  schoben,  sondern  auch  die  Bedeutung  dersel- 
ben wird  später  modificirt.     Jene,   indem   aus  demselben  Grunde, 
der  eben  bei  der  Figiivd  S  angegeben  war,  die  alphabetische  Rei- 
henfolge angewandt  wird.     Diese,  indem,  weil  in  der  Figura  Dei 
Gott  mit  dem  Buchstaben  A  bezeichnet  war,  in  dem  blauen  Dreiek 
aber  die  eine  Spitze  deus  gewesen  war,  nun  der  Triangel  nicht  mehr 
wie  ursprünglich  B  C  D  sondern  vielmehr  .1  B  C  genannt  wird, 
wodurch  in  den  späteren  Schriften  jeder  Buchstabe  eine  Bedeutung 
erhält,   die  ursprünglich   der  folgende  gehabt  hatte.     Aber  auch 
dabei  bleibt  es  später  nicht.    Ltd!  reicht  mit  diesen  fünf  Triaden 


II.  Glanzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker      Lull.     §.   206,  7.  8.  387 

instrumentaler  Begriffe  bald  nicht  mehr  aus.  Er  ist  genöthigt  zu 
der  Fiffiira  T  eine  Figur (i  7"  hinzuzufügen,  gleich  jener  durch 
fünf  um  einen  gemeinsamen  Mittelpunkt  gedrehte  Triangel  gebil- 
det, die  um  Verwechslung  mit  der  ersten  Figur  zu  vermeiden  semi- 
liridum.  semi-vh'if.ln  u.  s.  w.  sind,  ja  zusammen  oft  semilrianc/ula 
genannt  werden.  Dem  ersten  Triangel  gehören  an  J  modus  B  spc- 
cles  C  ordo,  dem  zweiten  D  (dtcrilas  E  iderditas  F  commiinitas, 
dem  ir.  scmirnhco:  G  prioritas  H  shnnltns  I  posteritns ,  dem 
semicrorro:  K  siiperioritas  L  conrerlibiliUis  M  in/er ioritds.  end- 
lich dem  semimgro:  N  vnirersale  O  Indcfnüium  P  singulare. 
Ganz  wie  bei  den  Figuren  A  und  S  ergeben  sich  nun  auch  für 
diese  durch  die  Combination  der  einzelnen  Kammern  seci/ndae  //- 
gurne:  rrsprünglich  nur  120  camer (le  ipsiiis  T,  später  eben  so 
viele  als  fgirra  serintda  T\  beides  die  nothwendige  Zahl  bei  fünf- 
zehn Elementen.  Beide  werden  dann  endlich  vereinigt  und  geben 
dann  natürlich  4(55  camerne.  die  auch  zuerst  durch  dreissig  stets 
um  ein  Glied  kürzer  werdende  Colonnen,  später  durch  zwei  con- 
centrische  Ringe,  deren  einer  beweglich,  dargestellt  werden. 

8.  Die  Figuren  A,  S  und  T  (Dci.  animae ,  insinimenialis) 
sind  die  fundamentalen  und  wichtigsten.  Zu  ihnen  aber  gesellen 
sich  schon  sehr  früh  die  Figvra  V  (rirtutum  et  rifionim)  und  X 
(opposilorinn),  deren  erstere  in  vierzehn,  abwechselnd  rothen  und 
blauen  Kammern,  in  die  ein  Ring  zerfällt,  die  sieben  Tugenden 
und  Todsünden  enthält,  und  deren  secunda  figiira  natürlich  ein 
Dreieck  von  105  Combinationen  darstellt.  Die  zweite  gibt  acht 
Gegensätze  an,  sapienfia.  et  JHsiilia.  pracdestiiailio  et  lihernm  nr- 
hilrivm .  per/eefio  et  defeetits,  meritum  et  ridpa.  polestas  et  ro- 
hintas.  gtoria  et  pneita  ^  esse  et  priratio ,  scieidin  et  ignoraidia, 
deren  je  erste  Glieder  blau  und  mit  den  Buchstaben  B  —  I.  die 
zweiten  grün  und  mit  den  Buchstaben  K — /»  bezeichnet  werden. 
(In  späterer  Darstellung  fallen  das  erste,  fünfte,  sechste  und  achte 
Paar  weg,  pruedcslinatio  und  liberum  arbilriuvi  werden  zu  B  und 
K.  esse  und  priratio  zu  C  und  L.  die  beiden  folgenden  Paare 
behalten  Stelle  und  Buchstaben  und  anstatt  der  weggefallenen  er- 
scheinen nun,  als  F  und  O  sKppositio  und  domonstrafio,  als  G 
und  P  immediale  und  mcdintej  als  H  und  Q  realitas  und  ratio, 
als  /  und  /•  poteutia  und  ohjectnm.)  ^y erden  nun  diese  sechszehn 
termiui  in  alphabetische  Ordnung  gebracht  und,  sey  es  mit  sey  es 
ohne  Drehscheibe,  combinirt,  so  zeigt  auch  die  secandu  Fignra  X 
wieder  136  Camerae.  Wie  die  Figurae  V  und  X,  so  scheint  Lidl 
auch  die  Figurae  Y  und  Z  gleich  bei  oder  sehr  bald  nach  der  er- 
sten Erfindung  seiner  Kunst  angewandt  zu  haben.    Diese  werden 

25* 


o88  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

als  zwei  Kreise  ohne  weitere  Theilung  dargestellt,  und  bezeichnen, 
jene  das  Bereich  der  Wahrheit,  dieses  der  Falschheit,  so  dass  also, 
wenn  man  die  Buchstabenschrift  der  Tabula  S  anwendet,  die  nor- 
mal liebende  Seele  E  Liebe  zu  Y  und  el)en  so  I  (die  normal  has- 
sende Seele)  Hass  gegen  Z  hat,  und  dass  jede  Coinbination  von 
Gedanken,  die  in  Z  oder  in  welche  Z  fällt,  falsch  ist, 

9.  Ursprünglich  wollte  Lull  schwerlich  über  die  Figuren  A  S 
T  V  X  Y  Z  hinausgchn.  Dafür  spricht,  dass  er  diese  Titelbuch- 
staben selbst  wieder  als  Elemente  von  Combinationen  behandelt, 
woraus  sich  ihm  eine  neue  Figur  ergibt,  die  in  28  ramer is  die  Combi- 
nationen A  A ,  A  S,  A  T  u.  s.  w.,  S  S,  S  T  u.  s.  w.  enthält  und 
dass  er  diese  die  Jigura  dcmonstrafiva  nennt,  als  wenn  darin  die 
ganze  ars  demonstrativa  enthalten  wäre.  Der  Name  figura  nona 
für  sie  darf  nicht  befremden,  da  die  fiyiira  clemeutalis.  dieser  An- 
hang zu  Figin-a  T,  mitgezählt  wird.  (Die  Figur n  T'  nicht,  die 
gewiss  viel  späteren  Ursprungs  ist.)  Je  mehr  aber  Ernst  gemacht 
wurde  mit  der  Durchführung  dieser  Termini,  desto  mehr  musste 
sich  die  Einsicht  aufdrängen,  dass  am  Ende  nicht  alle  Erkennt- 
nisse sich  in  die  Sätze  zusammendrängen  Hessen,  die  in  den  bis- 
her betrachteten  633  oder  wenn  man  die  28  hinzuzählt  661  Com- 
binationen enthalten  waren.  Es  scheint,  als  wenn  sich  dies  zuerst 
gezeigt  habe,  als  TmU  daran  ging,  nach  seiner  neuen  Methode  die 
Facultätswissenschaften  zu  bearbeiten.  Da  wurden  die  drei  Figu- 
ren ent\yorfen,  die  sich  als  Principia  Theologiae,  Philosophiac  und 
Juris  mit  ausführlichen  Coinmentareu  begleitet  in  dem  ersten  Bande 
der  Opp.  finden.  Jede  dieser  Wissenschaften  wird  auf  sechszehn 
Principien  reducirt  —  (die  Theologie  auf:  dirina  esseiitia,  digni- 
tatcs,  operatio,  arfiruli,  praerepta,  sacramentaf  rirtus.  cognitio, 
dilectio ,  simpürilas,  composifio.  ordimdio,  siipposifio,  expositio, 
prima  inientio,  seamda  inienlio,  die  Philosophie  auf:  prima  causa, 
malus f  intelligeiUia ,  orbis.  forma ,  matcria  prima,  natura,  ele- 
menta,  appetilus,  poleutia,  habiius,  actus,  mixiio,  digestin,  com- 
positio,  alterat io ,  das  Jus  auf:  Forma,  Materia,  Jus  composi- 
tum, Jus  commune,  Jus  speciale.  Jus  naturale,  Jus  positimim. 
Jus  canonicum ,  Jus  civile.  Jus  consuetudinale ,  Jus  llieoricum, 
Jus  practicum.  Jus  nutritirum ,  Jus  comparatirum,  Jus  antiquum, 
Jus  novnm)  —  die  mit  den  Buchstaben  B  —  R  bezeichnet  in  drei 
grossen  Triangeln  je  136  Combinationen  geben,  welche  der  Com- 
mentar  ausführlich  bespricht.  Die  Principien  der  Medicin  folgen 
einem  andern  Schema.  Sie  werden  als  ein  Baum  dargestellt,  des- 
sen Wurzel  die  vier  humores  bilden,  aus  dessen  Stamm  vermöge 
der  vier  Principien  Wärme,  Trockenheit,  Kälte  und  Feuchtigkeit 


'41 


II.  Glauzpeiiode.     B.  Christliche  Arititoteliker.     Lull.     §.  206,   10.  389 

die  natürlichen  (gesunden)  und  unnatürlichen  (krankhaften)  Er- 
scheinungen abgeleitet  werden. 

10.  Wenn  nun  aber  so  in  einer  so  grossen  Zahl  von  Figuren 
dieselben  Buchstaben  stets  neue  Bedeutung  bekommen,  so  muss- 
ten  Maassregeln  ergriffen  \Ycrden,  um  Verwechslungen  zu  verhüten. 
Wie  später  Descaries  zur  Bezeichnung  der  verschiedenen  Poten- 
zen, so  führt  hier  Lirlf,  um  die  Buchstaben  und  Combinationen  der 
verschiedenen  Figuren  zu  unterscheiden,  Zahlen  als  Indices  ein. 
Die  der  Fu/vra  S  bekommen  gar  keine,  die  der  Figur a  A  wer- 
den A^,  B\.  C^  u.  s.  w.,  die  der  Flynra  T  als  ß^  C^  u.  s.  w,, 
die  der  Figura  V  als  A^  B^  u.  s.  w.,  die  der  Figura  X  als  A^ 
B^  u.  s.  f.,  die  der  Figur a  Tlicologiae  mit  Ä^,  B'"  u.  s.  w.,  die 
]jrincipia  Plnlosophiae  als  A*\  B^ ,  O'  u.  s.  w.,  die  pri?icipia  ju- 
ris endlich  als  A~ ,  ß%  C~  u.  s.  w.  bezeichnet.  Dass  für  die  Tci-- 
mini  der  Figura  T  ein  Punkt  an  die  Stelle  des  Zahl-Index  tritt, 
ist  einer  der  Gründe,  aus  dem  man  annehmen  muss,  dass  dieselbe 
später  eingeschoben  wurde.  Noch  später  steigt  die  Zahl  der  Fi- 
guren auf  sechszehii,  und  da  also  Buchstaben  zur  Bezeichnung 
derselben  nicht  mehr  da  sind,  so  muss  nach  einem  andern  Mittel 
gesucht  werden.  Unter  den  litnlis  kam  ein  T  sigiudum  (T'J  vor, 
demgemäss  wird  jetzt  V  zum  liiulus  figurae  Juris,  X'  bezeichnet 
die  figuru  Theologiue.  7J  die  figiiru  Philosophiae  und  V  S'  Y\ 
die  noch  verfügbar  bleiben,  dienen  zur  Bezeichnung  dreier,  bisher 
noch  nicht  erwähnter,  Figuren:  Zuerst  Figura  A'  oder  infhientiae 
ist  ein  blauer  Triangel,  dessen  drei  Spitzen  die  Termini  B  in- 
pueiüia  C  dispositio  D  diffusio  entsprechen,  welche  den  umge- 
benden Ring  in  drei  Theile  theilen.  Mit  V  wird  die  figura  fininm 
oder  fmalis  bezeichnet,  die  einen  in  sechs,  mit  den  Buchstaben 
B—  G  bezeichnete,  Theile  zerlegten  Ring  zeigt,  in  dem  C  conve- 
jiiens  blau  E  inconreviens  roth  G  partim  sie  partim  sie  aus  bei- 
den! gemischt  ist,  und  B  eine  blaue,  D  eine  rothe,  F  eine  gemischte 
Combination  vom  Terminis  der  früheren  Figiu*en  darstellt ;  an  die- 
ser Figur,  so  wie  an  einer  Variation  derselben  (secnnda  figura  fi- 
nalis)  soll  man  sich  bei  allen  Untersuchungen  orientiren  können. 
Die  Figura  S"  endlich  oder  f/gura  dcrirulionum  weist  darauf  zu- 
rück, dass  die  Grammatik  zu  der  Erfindung  der  ganzen  Kunst  nicht 
wenig  beigetragen  hat.  Dreizehn  Abtheilungen  eines  Ringes  mit 
den  Silben 'ye,  ri,  ans,  us,  le,  tas,  niis,  do,  ne,  er,  in,  prac  be- 
zeichnen die  wichtigsten  etymologischen  Formen.  Magnifiearc, 
magnifieahile  und  magnUudo  stehn  zu  einander  in  dem  Verhält- 
niss  des  re ,  le  und  do  u.  s.  w.  Nur  die  f/gura  elementaJis ,  die 
ganz  wie   die   übrigen  Figuren,    auch   eine  zweite  Figur  erhält, 


390  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

bleibt,  da  die  sieben  letzten  Buchstaben  des  Alphabets  schon  zwei 
Mal  als  Titelbuchstaben  gedient  hatten ,  ohne  einen  solchen.  Eben 
so  wenig  erhält  einen  eignen  Titelbuchstaben  die  figiira  vniversa- 
Us ,  zu  welcher  als  der  sechszehnten  endlich  Lull  alle  die  bisher 
durchgenommenen  verbindet.  Sie  zeigt  die  zum  Coinbinireu  ge- 
brauchte Rotationsmethode  in  ihrer  grössten  Ausdehnung.  Er  con- 
struirt  nämlich  einen  metallnen  Apparat,  dessen  Mitte  durch  eine 
runde  Scheibe  gebildet  wird ,  um  die  sich  nun  die  verschieden  ge- 
färbten Ringe  drehen  lassen.  Die  unbewegliche  Scheibe  ist  blau, 
und  enthält  als  fffura  A'  (d.  h.  infhient'uic)  den  Triangel  B  C D. 
Da  aber  um  der  Combinationen  willen  der  nächste,  die  Scheibe 
umgebende,  Ring  dieselben  drei  t ermini  enthält,  und  bei  der  Dre- 
hung der  Punkt  Z>"  in  die  Mitte  zwischen  B  und  C  des  ruhenden 
Triangels  zu  stehen  kommt,  so  kommt  in  die  Mitte  des  ganzen 
Apparats  ein  Hexagramm  zu  stehn,  dessen  vorspringende  Ecken 
die  Reihe  BB'CCDD'  zeigen.  Die  nächsten  beiden,  gleichfalls 
blauen,  Ringe  enthalten  die  Buchstaben  der  pgnra  fiininn  Y' ;  es 
sind  ihrer  zwei,  um  durch  Drehen  des  einen  die  möglichen  Com- 
binationen der  Termini  dieser  Figur  hervorbringen  zu  können. 
Aus  demselben  Grunde  ist  die  fiyiira  *S"  oder  derirationum,  welche 
darauf  folgt,  ebenfalls  in  zwei  Ringen  repräsentirt,  die,  grün  ge- 
färbt, in  ihren  dreizehn  Abtheilungen  die  eben  angegebenen  Sil- 
ben enthalten.  Es  folgen  abermals  zwei  gleiche  Ringe,  jeder  in 
vier  verschieden  gefärbte  Theile  zerlegt:  die  fiijnrn  elemcnfalis, 
die  keinen  Titelbuchstaben  hatte.  Die  beiden  darauf  folgenden 
Ringe  sind  in  vierzehn  Abtheilungen  getheilt,  deren  jeder  einer 
der  Titelbuchstaben  zugewiesen  ist,  so  dass  sie  also  nicht  einen 
Terminus,  sondern  eine  ganze  Figur  repräsentirt,  und  also  die 
figura  elementalis  hier  ausfilllt.  Die  Farben  wechseln  hier  ab. 
Dass  Z  roth ,  dass  V  roth  und  blau  gemischt  erscheint,  ist  leicht, 
schwerer  zu  erklären  aber  warum  T  roth,  *S"  grün  erscheint  u.  dgl. 
Nun  folgen  Ringe,  die  in  sechszehn  Abtheilungen  getheilt  die  Buch- 
staben B  —  /?  zeigen.  Er  hält  es  nicht  für  nöthig,  dieser  Ringe 
so  viele  anzuwenden,  dass  auf  jede  Figur,  die  sechzehn  Termini 
hat,  zwei  Ringe  kommen.  Viere  scheinen  ihm  zu  genügen,  um 
sowol  die  Combinationen  der  zu  derselben  Figur  gehörenden  Ter- 
mini, als  auch  die  verschiedener  Figuren  zu  bewerkstelligen. 
(Uebrigens  musste  dies  dem  Lull  zeigen,  dass  es  kein' glücklicher 
Gedanke  war,  in  der  Figur  T  die  Buchstabenreihe  mit  A  zu  be- 
ginnen anstatt  mit  B.) 

11.  In  der  Form,   welche  die  LuU'sche  Principien-  und  Wis- 
senschaftslehre  in   dieser  fUjura  nnirersaUs  erhalten  hat,   stimmt 


II.  Glanzperiode.     B.  Chilstliehe  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,   11.  391 

sie  nicht  niu'  mit  dem,  was  die  ars  compendiosa,  die  Lectura 
dazu,  und  andere  Schriften  älmlichen  Inhaltes  gelehrt  hatten, 
ganz  gut  zusammen,  sondern  hat  sie  auch  ihre  grösste  Abrun- 
dung  erhalten.  Deswegen  scheint  die  ars  demonstrativa  und  die 
Introductoria  dazu  als  wichtigere  Quelle  hinsichtlich  seiner  Lehre 
angesehen  werden  zu  müssen ,  als  andere  Schriften ,  in  denen 
sie  freilich  dadurch,  dass  die  Zahl  der  elementaren  Termini  ge- 
ringer ist,  einfacher  erscheint.  Dies  gilt  vornehmlich  von  der  ars 
inventiva  veritatis  (Bd.  5),  mit  der  die  tabula  generalis  und  die 
sich  dieser  anschliessenden  Werke  ziemhch  übereinstimmen.  Die 
wesentlichsten  Abweichungen  von  dem  Früheren  sind  diese:  die 
bisher  A  genannte  Figur  heisst  hier  die  erste,  sie  verliert  ihre 
letzten  sieben  Termini  und  bildet  einen  King  von  nur  neun  Kam- 
mern mit  den  unveränderten  Terminis  B — A',-  dabei  wird,  aber- 
mals sehr  verkürzt,  die  (ahn/n  derirdHoninn  damit  verbunden  und 
der  Grundsatz  festgehalten,  dass  jedes  Princip  als  timm  (hiess 
früher  uns)  hilc  und  (irc  gedacht  werden  müsse.  (//  als  üriim 
cirliii/i'cdtiriim  .  als  bile  rir(n//icahi/e ,  als  iire  viriaificare.)  Was 
bisher  fiyvra  T  hiess,  wird  jetzt  meistens  nur  als  zweite  Figur 
citirt;  sie  verliert  das  blaue  und  schwarze  Dreieck,  behält  also 
nur  neun  termiui .  die  nicht  mehr  ihre  alten  Buchstaben  behalten, 
indem  jetzt  h  C  und  /)  dem  grünen  Triangel  zukommen  und  die 
früheren  E,  F  und  G  ersetzen,  E  F  und  G  dagegen  als  Winkel 
des  rothen  Dreiecks,  d.  h.  als  principium  medium  und  /inis  er- 
scheinen, was  früher  /  A'  und  L  gewesen  war,  endlich  aber  H  I 
und  A'  als  dem  trianyninm  crovenm  gehörig,  die  früheren  Buch- 
staben L.  37.  iV  verdrängen.  Eine  dritte  Figur  gibt  die  mög- 
Uchen  Combinationen  der  neun  Buchstaben,  welche,  weil  jetzt  die 
Wiederholungen  (BB,  CC,  DD  u.  s,  w.)  weggelassen  werden, 
ein  Dreieck  nur  von  36  Kammern  bilden  (in  welchen  also  z.  B. 
BC  viererlei  vertreten  kann,  honilas  und  maynititdo.  honitas  und 
cfmcordantifiy  dijfercniiii  und  nKtynitado ,  differenlia  und  con- 
vorduniia).  Lässt  sich  nun  für  diese  Vereinfachungen  Vieles  sa- 
gen, indem  dadurch  u.  A.  Begriffe  wie  deiis,  duhitalio  u.  s.w.  aus 
der  Reihe  der  Verhältnisse  herausgebracht  sind,  und  nun  die  Fi- 
(jura  T  wirklich  nur  einartige  Termini  enthält,  so  muss  man  es 
dagegen  als  einen  sehr  unglücklichen  Einfall  ansehn ,  dass ,  um 
die  eben  angedeutete  Zweideutigkeit  in  B  C  zu  vermeiden,  anstatt 
des  früheren  Gebrauchs  der  Indices,  jetzt  wenn  ein  Terminus  der 
ersten  Figur  angehört  er  unverändert  bleibt,  Avenn  aber  der  zwei- 
ten (T),  vor  seinen  Buchstaben  ein  T  gesetzt  wird,  so  dass  also, 
wenn    die    eben    angeführte   Combination   heissen   soll   bonitas  et 


392  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

magiiltudo,  sie  B  C  geschrieben  wird,  wenu  aber:  bonitus  et  coii- 
cordantia,  nicht  etwa  B  C,  sondern  B  T  C,  als  wenn  es  sich  um 
eine  Combination  von  drei  Elementen  handelte.  (Die  Bezeichnung 
durch  Indices  hat  so  viel  Vorzüge  vor  dieser,  dass  man  zweifel- 
haft werden  kann,  ob  nicht,  was  liier  als  eine  spätere  Vereinfa- 
chung des  Complicirteren  dargestellt  wird,  vielmehr  der  primiti- 
vere Zustand  des  Systems  gewesen  ist.  Abgesehen  davon  aber, 
dass  als  die  Tabula  generalis  geschrieben  wurde,  Lidl  schon  acht 
und  fünfzig,  als  brevis  practica  tabula  generalis,  sogar  schon 
acht  und  sechzig  Jahr  alt  war,  wird  es  schwer  zu  glauben  er 
habe  später  zu  solchen  Begriffen  wie  differentui .  prloritas  u.  s.  w. 
die  Begriffe  deiis,  siijyposäio  u.  a.  hinzufügen  können.)  Unter  dem 
Namen  der  vierten  Figur  beschreibt  Lull  in  dieser  Zeit  einen 
Apparat,  in  welchem  wirklich  Combinationen  der  dritten  Ordnung 
hervorgebracht  werden.  Drei  concentrische,  in  je  neun  Fächer 
getheilte,  Ringe  mit  den  Buchstaben  B — /»  können,  indem  die 
zwei  äusseren  verschieden  gedreht  werden,  84  solcher  Combina- 
tionen geben.  Da  aber  jede  solche  Combination  BCD,  BCE  u. 
s.  w. ,  indem  jeder  Terminns  zwei  Bedeutungen  hat,  eigenthch  aus 
sechs  Elementen  besteht,  die  natürlich  in  20  Weisen  combinirt 
werden  können,  so  ist  die  Tuhida,  welche  er  auf  die  vier  Figu- 
ren folgen  lässt,  aus  84  Colonnen  von  je  20  Combinationen  dritter 
Ordnung  gebildet,  die  aber  wegen  der  eben  getadelten  unzweck- 
mässigen Bezeichnungsweise  dem  grösseren  Theile  nach  aus  vier 
Buchstaben  bestehn.  (Mehr  als  vier  bedarf  er  nicht,  da  immer 
alle  Termini  der  ersten  Figur  vor  die  der  zweiten  gestellt  werden 
und  also  das  vorgestellte  T  auf  alle  folgenden  Buchstaben  zu  be- 
ziehen ist.)  Von  diesen  Tafeln  sagt  Lidl ,  der  Philosoph  müsse 
sie  stets  neben  sich  liegen  haben  —  (wie  heut  zu  Tage  der  Ma- 
thematiker die  Logarithmen  -  und  trigonometrischen  Tafeln)  —  um 
bei  jedem  Problem  sogleich  zu  wissen,  in  welche  Colonne  es  ge- 
höre. —  Zu  den  beiden  Bedeutungen ,  welche  hier  jeder  der  neun 
Buchstaben  bekommen  hat,  kommt  dann  aber  bald  noch  eine  dritte. 
Auch  die  neun  regidae  inveatigandi  ^  die  Lull  sowol  in  der  ars 
inventiva  veritatis,  als  auch  in  der  tabula  generalis  und  ihrer 
brevis  practica,  in  der  ars  compendiosa  sowol,  als  auch  in  der 
lectura  darüber  erwähnt,  obgleich  nicht  immer  in  gleicher  Weise 
ableitet,  zeigen  die  Zahl  neun,  und  werden  darum  mit  B^  C  u. 
s.  w.  bis  K  bezeichnet.  Sie  fallen,  da  die  inrestigatio  auf  die 
Beantwortung  der  neun  Fragen:  idriim?  quid?  de  (pro?  (juare? 
fjnanlum?  (pudc?  ubi?  (juuudo?  (piowodo?  cum  (juo?  ausgeht,  mit 
diesen ,  und  darum  nahezu  mit  den  Aristotelischen  Kategorien  zu- 


II.  Glauzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     LuU.     §.  206,   11.         393 

sainmeu,  die  es  sich  denn  freilich  gefallen  lassen  müssen,  dass 
zwei  von  ihnen  mit  demselben  Buchstaben  (K)  bezeichnet  wer- 
den. Auch  die  fünf  Prädicabihen  des  Porplyrins  werden  manch- 
mal herangezogen.  War  also  bis  daliin  B  honitas  und  dijferenüa 
gewesen,  so  bezeichnet  es  auch  die  prima  rcgida  'cnvcsiicjaüonis 
und  die  quacsüo  utrinn? .  so  dass  die  ganze  Buchstabenreihe  also 
zur  tabula  fjuaestioniim  wird.  Auch  die  hauptsächlichsten  Gegen- 
stände suhjccta  des  Denkens  werden  in  der  bei  den  Aristotelikeru 
stets  wiederkehrenden  Abstufung:  Gott,  Intelhgenz  (Engel),  Fir- 
mament, Seele  u.  s.  w.  in  einer  Tabula  siibjectorinn  als  Neunzahl 
zusammengestellt,  auf  die  sich  die  regelrechte  Forschung  beziehe. 
Alle  Schriften  im  fünften  Bande  der  gesammelten  AVerke  beschäf- 
tigen sich  in  ihrem  letzten  Theile  mit  den  Fragen.  In  der  ars 
inventiva  werden  zur  Lösung  von  842  Fragen  die  Elemente  ange- 
geben, dann  aber  um  das  Tausend  zu  füllen  noch  158  ohne  solche 
Winke,  extra  rolume?i  arlis .  aufgeworfen.  Die  tabula  generalis 
enthält  167  gelöste  Fragen,  die  lectura  dazu  verspricht  tausend, 
bricht  aber  bei  der  912'"'°  ab  u.  s.  w\  Dabei  wird  olt  auf  die  frü- 
heren Untersuchungen  zurückgewiesen  und  gezeigt,  wie  der  Be- 
weis zu  führen  sey  per  def'mitiones ,  wie  per  figiirus.  wie  per  ta- 
biilam ,  wie  per  regvlas,  wie  per  (juacstioiies.  Die  Schriften  ars 
amativa  und  arbor  philosophiae  amoris  (im  J.  1298  in  Paris  ver- 
fasst)  heben  besonders  dies  an  der  Wissenschaft  hervor,  dass  sie 
als  Erkenntniss  Gottes  Liebe  zu  ihm  sey,  und  eben  so  dass  Reue 
und  Bekehrung  das  Wissen  fördern.  Sonst  sind  die  Ansichten 
von  der  wissenschafthchen  Methode  dieselben,  wie  in  der  Tabula 
generalis.  Dagegen  tritt  eine  Modification  hervor  in  der  gleich- 
falls im  (3'"'  Bande  befindlichen  arbor  philosophiae  desideratae,  so 
genannt  weil  Lull  hier  seinem  Sohn  auseinandersetzt,  wie  aus 
dem  Baume  des  Gedächtnisses,  der  Intelligenz  und  des  Willens, 
d.  h.  sämmtlicher  Seelenvermögen,  wenn  er  durch  Glaube,  Liebe 
und  HoÖuung  bewährt,  der  Baum  der  Philosophie  erwachse,  des- 
sen Stamm  Ens  ist ,  da  sie  sich  nur  mit  dem  Seyenden  beschäftigt 
und  aus  dem  dann  neue  Aeste  und  neue  Blüthen  hervorgehn.  Mit 
den  letzteren  wird  begonnen  und  werden,  wie  in  den  ziüetzt  cha- 
rakterisirten  Werken ,  die  neun  Principien  der  ersten  und  die  neun 
der  zweiten  Figur,  also  bonifas.  magnllndo  u.  s.  w. ,  diff'erentia, 
eoncordaiitia  u.  s.  w.,  ausserdem  aber  noch  neun  andere  Begriffe 
(B  potcntia,  C  objccluni,  D  memoria,  E  intentio.  E piuicltim  iraiis- 
se enden s .  G  vactium ,  H  aperatio,  I  jitstitia .  K  ardo)  als  die 
27  Flores  angegeben.  Es  folgen  dann  als  die  rami  dieses  Bau- 
mes neun   mit  den  Buchstaben  L  bis  T  bezeichnete  Gegensätze: 


o94  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Peiiode  (Scholastik). 

L  ens  fjitod  est  Dens  et  ens  rjii.od  non  est  Dens,  M  ens  reale  et 
ens  phnjitdsticiim ,  N  gemts  et  species,  O  movens  et  mohile .  P 
unitas  et  plnralltas ,  Q  abstractifm  et  eoncretuin ,  R  hiteiisum  et 
extensmn ,  S  simiUtvdo  et  dissmititi/do  ,  T gener atio  et  corrvptio. 
Dieser  Entwicklung  folgt  dann  wieder  eine  schematische  Darstel- 
lung: Vier  concentrisclie  Ringe  in  je  neun  Fächer  getheilt  zeigen 
der  äusserste  und  der  dritte  die  Buclistaben  B  bis  K^  der  innerste 
und  der  zweite  die  Buchstaben  L  bis  T.  Durch  Drehung  können 
alle  denkbaren  Combinationen  zweiter  Ordnung,  sowol  der  Ele- 
mente B — K  (ßores)  und  L — T  (rami)  unter  sich,  als  auch  un- 
ter einander  dargestellt  werden.  Freilich  welche  der  drei  jlores, 
die  ein  und  derselbe  Buchstabe  bezeichnet,  sagen  die  Kreise  nicht, 
bei  den  nimis  ist  ein  Irrthum  nicht  möglich.  Die  Schrift  de  ani- 
ma  rationali  zerlegt  den  Stoff  nach  den  Fragen  ntrinn?  quid?  u. 
s.  w.  in  zehn  Capitel ;  in  dem  sechs  Jahr  später  verfassten  Liber 
de  honiiiie  wird  durch  Weglassen  der  Frage  utrum  die  Neunzahl 
gerettet.  Das,  in  demselben  eTahre  geschriebene.  Buch  de  Deo  et 
Jesu  Christo  dagegen  kehrt  wieder  zur  Zehnzal  zurück. 

12.  Dass  hinfort  an  die  Stelle  des  eignen  Denkens  das  Dre- 
hen der  Ringe  treten  solle,  war  sicherhch  Liil/s  Absicht  nicht. 
Eben  so  gewiss  aber  ist,  dass  er  sich  von  seiner  Kunst  und  sei- 
nen Apparaten  grossen  Nutzen  für  die  Förderung  des  Denkens 
versprach.  Schon  die  mnemonische  Unterstützung,  die  beide  ge- 
währen, musste  bei  der  hohen  Stellung,  die  Lull  mit  allen  Scho- 
lastikern dem  Gedächtniss  einräumt,  ihn  für  sie  begeistern.  Wem 
untei?  Umständen  zwar  rolnnfns  odiens,  nie  aber  memoria  obli- 
ricns .  mit  Gesundheit  der  Seele  vereinbar  ist  wie  ihm,  der  muss 
sich  interessiren  für  eine  Kunst,  die  mindestens  eine  ars  rcco- 
lendl  ist.  Die  seinige  aber  ist  in  der  That  mehr.  Sie  leistet  näm- 
lich zweitens,  was  alle  topischen  Schemata  leisten,  von  den  Win- 
ken des  Cicero  an  bis  auf  die  Schablonen,  nach  welchen  Predig- 
ten disponirt  werden:  es  werden  dadurch  Gesichtspunkte  gegeben, 
unter  welchen  der  Gegenstand  zu  betrachten  ist.  Er  selbst  zeigt 
nun,  wie  ausserordentlich  gross  die  Zahl  der  Gesichtspunkte  ist, 
die  sich  ergeben,  wenn  man  z.  B.  bei  der  Frage,  ob  es  möglich 
sey,  dass  es  einen  guten  und  einen  bösen  Gott  gebe?  die  tabula 
instrumentalis  zu  Hülfe  nehme ,  und  nun  frage ,  in  welchem  Trian- 
gel derselben  die  zu  erörternden  Begriffe  liegen,  weil  sich  da  fin- 
den werde,  dass  in  allen  fünfen,  so  dass  der  Gegenstand  mit  al- 
len darin  gegebnen  Begriffen  zu  vergleichen  seyn  wird,  ja  dass 
dies  nicht  ausreiche,  weil  man  auf  die  figura  A  gewiesen  werde 
u.  s.  w.    Kurz  er  hat  Recht,  wenn  er  sagt,  seine  Kunst  sey  eine 


II.  Glanzperiode.     B.  CLristlk-he  Aristoteliker.     Lull.     §.  206,  12.         395 

urs  invcstigtütdi.  Aber  noch  mehr  nimmt  er  für  sie  in  Anspruch. 
Die  Schwierigkeit ,  ja  die  scheinbare  Unmöglichkeit  Einiges  zu  ver- 
einigen hat  oft  seinen  Grund  nur  darin ,  dass  nicht  beides  auf  sein 
eigentliches  Princip  zurückgeführt  ist ,  wo  es  sich  als  Eins  erwei- 
sen könnte;  wie  wenn  zwei  weit  von  einander  stehende  Bäume 
zugleich  kranken,  der,  welcher  entdeckt  hat,  dass  sie  aus  einer 
Wurzel  hervorwuchsen ,  dies  für  nothwendig ,  ein  Andrer  für  einen 
Zufall  oder  ein  AYunder  halten  wird,  so  werden  nach  Lull  eine 
Menge  von  Schwierigkeiten  leicht  gelöst,  wenn  man  nicht  bei  dem 
vielleicht  widersprechend  erscheinenden  Factischen  stehen  bleibt, 
sondern  sich  fragt,  worin  hat  dies  und  worin  das  Andere  seinen 
letzten  Grund,  und  sein  Princip?  Findet  sich,  dass  Avarum  das 
Eine  und  w^ovon  das  Andere  die  nothwendige  Folge,  Eins  ist,  so 
ist  die  Unbegreiflichkeit  verschwunden.  Zu  diesen  Beweisen  ex 
ae(jiiipar<inti(i  wie  zu  vielen  anderen  führt  nur  die  Principienlehi'e, 
die  also  eine  ars  demonslrandi  ist.  Ja  da  alle  andern  Wissen- 
schaften bei  ihren  Beweisen  von  gewissen  nicht  weiter  bewiesenen 
Vordersätzen  ausgehn ,  die  eine  andere  Wissenschaft  nicht  statuirt, 
so  bleibt  der  Anschein,  als  wenn  die  verschiedenen  Wissenschaf- 
ten auf  keinem  festen  Grunde  ständen  oder  sich  widerlegten,  so 
lange  bestehn,  als  nicht  aus  den  Principien  alles  Wissens  die 
scheinbar  entgegengesetzten  der  verschiedenen  Wissenschaften  ab- 
geleitet sind.  Da  aber  das  Beweisen  nur  zu  dem  was  wir  wissen 
die  Begründung  hinzufügt ,  so  ist  auch  damit  noch  nicht  die  eigent- 
liche Stellung  der  Wissenschaftslehre  erschöpft.  Sie  lehrt  uns  auch 
Solches,  was  wir  bisher  nicht  wussten,  ist  ms  imenicndi  Die 
blosse  Erfahrung,  dass  oft  eine  ganz  zufäUige  Combination  zweier 
Gedanken  den  Geist  auf  ganz  neue  Bahnen  bringt ,  blosse  Einfälle 
oft  zur  Erkenntniss  tiefer  Wahrheiten  führen,  musste  es  rathsam 
machen ,  jeden  Gedanken  wo  möghch  mit  allen  zu  combiniren. 
Hinwiederum  kommt  es  oft  vor,  dass  eine  Gedankenverbindung 
zulässig  ist,  wenn  ihr  ein,  unzulässig,  wenn  ein  anderes  Prädicat 
beigelegt  wird  —  (man  denke  an  Sätze  wie:  der  Ziegenhirsch  ist 
ein  Widersinn,  und:  er  existirt)  —  die  Bezeichnung  mit  Buchsta- 
ben angewandt,  und  man  wird  sogleich  finden,  dass  eine  Combi- 
nation, in  der  das  Zeichen  Z  (Falschheit)  vorkommt,  nicht  mit 
einer  andern  verbunden  werden  kann,  in  der  das  Zeichen  Y  (Wahr- 
heit) sich  findet.  Es  ist  wie  mit  den  Rechnungen,  welche  man 
als  falsch  erkennt,  wenn  sie  auf  eine  imaginäre  Grösse  hinausfüh- 
ren. Bedenkt  man  endlich,  wie  Vieles  erst  berechnet  werden  kann, 
seit  man  das  Ausziehen  von  Wurzeln  höherer  Grade  auf  eine  Di- 
vision reducirt  hat,   an  die  sich  das  Nachschlagen  in  den  Loga- 


396  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Peiiode  (Scholastik). 

rithmentafeln  anschliesst ,  so  wird  man  sich  erklären  können,  wie 
Lull  von  einem  Combiniren  von  Zeichen  nnd  Aufsuchen  der  ge- 
fundenen Formel  in  den  tabulis  so  Grosses  hoffen  konnte.  Wie 
wenig  er  übrigens  gesonnen  war,  dem  Zufall  zu  viel  zu  überlas- 
sen, wie  wenig  der  Ansicht,  dass  die  rotirenden  Scheiben  allein 
den  Meister  machen,  dafür  zeugen  die  vielen  Hunderte  von  Bei- 
spielen in  seinen  verschiedenen  Schriften,  in  denen  er  zu  zeigen 
versucht,  wie  man  zur  Beantwortung  von  Fragen  sich  der  Figuren 
zu  bedienen  habe.  Bald  zerlegt  er  die  Frage  in  die  in  ihr  ent- 
haltenen Begriife,  und  sieht  nun  zu,  m\y(i\d\Q^  conditionihns '&\d\ 
jeder  derselben  befindet,  d.  h.  er  gibt  den  ganzen  Beweis.  (So 
in  der  vierten  Distinction  der  ars  demonstrativa ,  wo  er  zu  den 
Qiuiesiionlhtis  übergeht,  bei  den  ersten  38  Fragen.)  Bald  wieder 
gibt  er  nur  die  Combinationen  der  tUjtli  an,  d.  h.  die  Figuren, 
vermöge  der  die  Lösung  gefunden  wird,  und  überlässt  die  "Wahl 
der  canicrne  in  den  Figuren  dem  Leser.  (So  in  den  an  die  eben 
erwähnten  sich  anschliessenden  1044  Fragen  über  Gegenstände 
aller  Art.)  Lull  verhehlt  sichs  nicht,  dass  die  Reduction  alles 
Untersuchens  und  Beweisens  auf  diese  Seelen  aller  Beweise  dem 
Räsonnement  ein  geheimnissvolles  Gewand  gebe.  Desto  besser, 
denn  nur  den  Adepten  der  Wissenschaft,  denen  die  sich  gründ- 
lich mit  ihr  beschäftigen ,  will  er  sie  leicht  machen.  Wie  man  bei 
den  Leistungen  Lulls  immer  wieder  an  die  neuen  Bahnen  erinnert 
wird ,  welche  später  die  Mathematik  einschlug  (nicht  ohne  Einfluss 
gerade  seiner  Kunst),  so  kann  auch  an  die  Geheimnisskrämerei 
erinnert  werden,  mit  der  noch  ein  Fcrmat  seine  Sätze  in  die  Welt 
warf,  ohne  die  Beweise  zu  geben. 

§.  207. 
Wie  auch  sonst,  so  zeigt  sich  an  Lull,  dass  die  Ei-findung 
einer,  auf  Alles  anwendbaren,  Methode  schnell  dahinbringt,  Wis- 
senschaften im  Ganzen  zu  bearbeiten.  Kaum  Schüler  geworden, 
tritt  er  schon  als  Lehrer  auf,  ein  Vorspiel  zu  dem,  was  sich  noch 
öfter  wiederholt  hat.  Anders  dort,  wo  der  erworbene  Stoff  poe- 
tisch bearbeitet  werden  soll.  Ein  wahres  Gedicht  entsteht  nicht, 
indem  ein  äusseres  Schema  bereit  ist,  dem  dargebotenen  Lihalt, 
sey  er  vollständig  oder  lückenhaft,  das  Ansehn  eines  Organismus 
zu  geben,  sondern  indem,  wo  alle  Bestandtheile  zusammentrafen, 
der  Stoff  sich  selbst  krystallisirt.  Nur  mit  dem  was  der  Mensch 
ganz  beherrscht  vermag  er  zu  spielen,  dichterisch  behandeln  ist 
ein  Spielen  im  Gegensatz  zum  dem  sich  Abquälen  und  Abarbeiten 
des  blossen  Reimens.  Wo  die  scholastischen  Lehren  nicht  nur 
durch  Gedächtnissreime  dem  Gelehrten,  sondern  in  einem  wahren 


II.  Glauzperiode.     B.  Christliche  Aristoteliker.     Dante.     §.  208.  397 

Kunstwerke  dem  Gemütbe  Aller,  die  für  Scliönheit  empfänglich 
sind,  nahe  gebracht  ^Yerden  sollen,  da  bedurfte  es  eines  Mannes, 
der,  gelehrter  als  die  Gelehrtesten  seiner  Zeit,  mit  den  Kennt- 
nissen, die  ihn  zu  einer  lebendigen  Encyclopädie  alles  damaligen 
Wissens  machten,  poetisches  Genie,  mit  beiden  aber  eine  genaue 
Bekanntschaft  der  Welt  verband,  für  die  er  sang.  Lull  musste, 
um  seine  Aufgabe  zu  lösen,  der  Welt  entsagen,  Dante  ist  durch 
seine  rege  Theilnahme  an  den  Weltangelegenheiten  um  so  mehr 
zu  der  seinigen  befähigt  worden. 

§.  208. 
Dante. 

M.  A.  F.  Ozanam  Dante  et  la  philosophie  catholique  au  treizienie  siecle.  nouv. 
edit.  Paris  1845.  Fr.  X.  WegeU  Dante's  Leben  und  Werke,  kulturgeschichtlich  dar- 
gestellt.   Jena  1852. 

1.  Durante  AlUyliieri  {dxxoh.  Alighieri.  wc^^rimgWch  Alrlighieri) 
ist  im  Mai  1265  in  Florenz  geboren.  Durch  eine  ungewöhnlich 
frühe  Liebe  poetisch  angeregt,  wird  er  durch  den  Umgang  mit 
Brunelto  Lafini.  dann  mit  Guido  Qiralcanti,  auf  eine  Poesie 
hingewiesen  ,  die  ihren  Urspnmg  dem  Studium  der  römischen  Dich- 
ter, so  wie  der  Bekanntschaft  mit  den  Provenzalen  einerseits,  an- 
dererseits den  Scholastikern  dankt.  Mit  den  letzteren  ward  er 
noch  genauer  bekannt,  als,  durch  den  Tod  der  Gehebten  fast  hal- 
tungslos geworden,  er  anfing  sich  ernstlich  mit  der  Philosophie 
zu  beschäftigen,  über  die  er,  vielleicht  in  Bologna,  gewiss  in  Pa- 
ris, Vorlesungen  hörte.  Der  Thomist  Siger  (s.  oben  §.  204,  4) 
scheint  ihn  da  besonders  gefesselt  zu  haben.  Der  längere  Aufent- 
halt im  Auslande  mochte  dazu  beitragen,  dass  dem  Heimgekehr- 
ten die  Herrschaft  der  Partei,  zu  der  er  bis  dahin  gehört  hatte, 
nicht  mehr  schien  dem  Vaterlande  Heil  zu  bringen.  Genug,  zu 
einer  Zeit ,  wo  der  Sieg  des  Papstthums  über  das  Kaiserthum  dem 
Einfluss  der  Fremden  in  Deutschland,  freilich  aber  auch  jeder  Ein- 
heit Italiens,  ein  Ende  gemacht  hat,  geht  Dcmte  zum  Ghibellinen- 
thum  über,  und  erklärt  das  Heil  Italiens  und  der  Welt  davon  ab- 
hängig, dass  ein  von  Gott,  aber  nicht  vom  Papst,  eingesetzter 
Kaiser,  möge  es  auch  immerhin  kein  Itahener  seyn,  eine  starke 
Gewalt  habe.  Bei  solchen  Ansichten  hätte  er  den  Papst  Boni/'az 
den  Achten  nicht  haben  lieben  können,  auch  wenn  derselbe  nicht 
gegen  die  Partei  machinirt  hätte,  an  die  sich  Dante  ]etzt  ange- 
schlossen hatte.  Als  einer  der  Gesandten  seiner  Vaterstadt  im 
J.  1301  nach  Rom  geschickt,  ward  er  daselbst  zurückgehalten, 
bis  Carl  von  Anjou  im  Päpstlichen  Auftrage  in  Florenz  eingezo- 


398  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

gen  war ,  und  dann  mit  vielen  Anderen  durch  die  Gegenpartei  am 
27.  Jan.  1302  aus  Florenz  verbannt.  Von  da  an  lebte  er  an  den 
verschiedensten  Orten,  stets  hoffend,  sey  es  durch  Gewalt  der 
Waffen,  sey  es  durch  Zurücknahme  des  Verbannungsdecrets ,  in 
die  Heimath  zurückkehren  zu  können,  und  immer  wieder  ent- 
täuscht; am  Meisten  durch  die  Erfolglosigkeit  von  Heinrieh  des 
Siebenten  Römerzug.  Nach  demselben  ist  er  in  Lucca,  längere 
Zeit  bei  dem  Caii  (yrande)  dcU<i  Scala ,  endlich  bei  dem  Guido 
von  Jlarenna  ein  willkommner,  aber  sich  stets  als  verbannter 
Fremdling  fühlender.  Gast  gewesen,  und  in  Ravenna  am  21.  Sept. 
1321   gestorben. 

2.  Die  erste  grössere  Schrift,  die  Dante  verfasste,  war  wohl 
de  Monarchia  libb.  III,  wahrscheinlich  noch  vor  dem  Schlüsse  des 
Jahrhunderts  vollendet  (vgl.  Inf.  I.  v.  87),  Auf  sie  folgte  die,  ihrem 
grösseren  Theile  nach  früher  gearbeitete  vita  nuova,  welche  die 
Geschichte  seiner  Liebe  zur  Bcafrirr  bis  zum  J.  1300  darstellt, 
in  welches  Jahr  Dante  die  Erlebnisse  setzt,  die  sein  Hauptwerk 
beschreibt.  Nach  der  vita  nuova  wurde,  gleichzeitig  wie  es  scheint 
bis  zum  J.  1308  an  den  beiden  Werken  gearbeitet,  die  er  nicht 
vollendet  hat,  an  dem  Convito  in  italiänischer  und  der  Schrift 
de  vulgari  eloquentia  (nicht  eloquio)  in  lateinischer  Sprache.  Die 
letzten  dreizehn  Jahre  scheint  Dante  ganz  dem  Werke  gewidmet 
zu  haben,  das  seinen  Namen  vor  Allem  unsterblich  gemacht  hat, 
jener  wunderbaren  Commedia,  die  sehr  früh  das  Beiwort  der  di- 
vina  erhalten  hat.  Keines  seiner  Werke  ist  so  häufig  gedruckt 
worden,  wie  dieses.  Mit  der  grössten  diplomatischen  Genauigkeit 
ist  das  geschehen  in  der  Ausgabe  von  Ovrt  Witte  (Berlin  1862). 
Von  den  Sammlungen  seiner  übrigen  Werke  ist  besonders  die  Fra- 
ficelli'üche  zu  rühmen.  Unter  den  deutschen  Uebersetzungen  der 
göttlichen  Comödie  zeichnet  sich ,  nicht  nur  durch  Treue ,  sondern 
durch  sehr  genaue  Entwicklungen  der  scholastischen  Lehren,  vor 
allen  andern  aus  die  von  Philalethes  (dem  gegenwärtigen  König 
von  Sachsen). 

3.  Der  Faden ,  an  den  Dante  in  seinem  Gedicht  seine  Lehren 
anreiht,  ist  ein  Gang  durch  Hölle,  Fegefeuer  und  Paradies,  deren 
jedem  ein  Drittheil  des  Gedichtes  gewidmet  ist.  Dabei  werden 
aber  nicht  nur  Daniels  eschatologischen  Ansichten,  sondern  eben 
so  seine  politischen,  dogmatischen,  philosophischen  entwickelt,  wie 
er  denn  selbst  ausdrückUch  in  seinem  Dedicatiousschreiben  sagt, 
sein  Gedicht  habe  mehr  als  einen  Sinn.  Mitten  im  Walde  der 
Verirrungen,  wo  die  Hauptleidenschaften  walten,  Fleischeslust,  Stolz 
und  Geiz,  welche  drei  nach  den  grössten  scholastischen  Theologen 


II.   Glanzperiode.     B.   Christliche  Aristoteliker.     Dante.      §.   208,  3.  4.       399 

den  Süudenfall  veranlassten ,  tritt  als  Werkzeug  der  Gnade  Virgil 
an  den  Dichter  heran,  und  führt  ihn  zuerst  in  die  Unterwelt, 
welche  als  ein  Trichter  gedacht  wird ,  dessen  Spitze  mit  dem  Mit- 
telpunkt der  Erde  und  dem  Schwerpunkt  des  Höllenfürsten  zu- 
sammenfällt, und  von  dessen  einzelnen  Stockwerken  das  erste 
(der  Limbits)  den  frommen  Heiden  und  ungetauften  Kindern  be- 
stimmt ist,  die  folgenden  aber  den  Wohnsitz  je  einer  Sünderart 
bilden.  Der  Besuch  derselben,  so  wie  das  Gespräch  theils  mit 
seinem  Führer,  theils  mit  einzelnen  der  Verdammten,  lässt  den 
Dichter  zeigen,  dass  die  Steigerung  der  Strafen  Schritt  hält  mit 
dem  Grade  der  Verschuldung,  wobei  der  Aristotelische  Maassstab 
zur  Vergleichung  dient.  Zugleich  nimmt  er  Veranlassung,  sich 
über  die  Zustände  und  leitenden  Persönlichkeiten  seines  Vaterlan- 
des auszusprechen ,  und  seine  Klagen  darüber  laut  werden  zu  las- 
sen, dass  durch  weltlichen  Besitz  und  weltliche  Macht  die  Kirche 
dem  Verderben  preisgegeben  sey.  Als  die  allerstrafbarsten  Ver- 
brecher, im  tiefsten  Al)grunde  der  Hölle  erscheinen  die,  durch 
deren  Verrath  Christus,  der  Gründer  der  Kirche,  und  Cäsar,  der 
Gründer  des  Kaiserreichs,  gemordet  wurden,  Judas  und  Brutus. 
Ihr  \'errath  ist  gegen  das  gerichtet,  was  die  irdische  Glückselig- 
keit und  himmlische  Seligkeit  bedingt;  sie  verdienen  daher  die 
grösste  Unseligkeit. 

4.  In  dem  zweiten  Theil  des  Gedichts  wird  der  Gang  auf  und 
um  den  Berg  der  Läuterung  beschrieben,  dessen  Basis  der 
Gegenfüssler  des  Höllenschlundes  ist,  und  auf  dessen  höchster 
Spitze  sich  das  irdisclie  Paradies  befindet.  Nicht  nur  die  kirch- 
liche Lehre  von  der  Läuterung  nach  dem  Tode  wird  hier  durch- 
geführt, sondern  auch  gezeigt,  wie  die  Sündhaftigkeit  der  Men- 
schen die  Schuld  trägt,  dass  die  Glücksehgkeit  auf  Erden  nicht 
erreicht  wird.  Auch  hier  ist  Virtji! .  das  Symbol  der  aus  der  Ver- 
nunft ohne  Hülfe  der  Oftenbarung  geschöpften  Weisheit,  der  Füh- 
rer. Sie  vermag  zu  zeigen ,  dass  nur  Busse  zum  Ziel  führen  kann, 
und  dass  alle  Sünden  nach  einander  abgethau,  das  Sünderzeichen 
auf  der  Stirn  gelöscht  seyn  muss,  ehe  das  höchste  Ziel  irdischer 
Glückseligkeit  erreicht  ist.  Rund  um  den  Berg  gehende  Vorsprünge 
mit,  je  höher  der  Berg  wird,  um  so  kleinerem  Durchmesser,  sind 
der  Schauplatz  der  Abbttssungen  für  die  sieben  Todsünden.  Erst 
in  der  grössten  Nähe  des  Ziels  wird  I  irgil  durch  den  Statins  ab- 
gelöst, in  dem  man  das  Symbol  der  schon  durch  das  Christen- 
thum  geheiligten  Philosophie  sehn  muss.  Das  irdische  Paradies 
auf  der  höchsten  Spitze  der  Erde  zeigt  in  einer  erhabenen  Vision, 
wie  die  höchste  irdische  Glückseligkeit  nur  dadurch  erreicht  wer- 


400  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

den  kann,  dass  die  Kirche  (Wagen)  an  das  Kaiserthum  (Baum) 
sicli  anlehnt,  dass  aber  das,  wenn  auch  gut  gemeinte,  so  doch 
verderbliche,  Geschenk  weltlichen  Besitzes  an  die  Kirche  ein  Haupt- 
grund sey,  warum  das  Verhcältniss  von  Kirche  und  Staat,  und 
alles  Wohlseyn  auf  Erden  gestört  worden. 

5.  Virgil ,  schon  von  Dante  als  Repräsentant  alles  mensch- 
lichen Wissens  verherrlicht,  ihm,  dem  Ghibellinen,  als  Verherrli- 
cher des  Kaiserthums,  endlich  dem  Schriftsteller  als  stylistisches 
Muster  theuer,  kann  höchstens  bis  dahin  leiten,  wo  die  Symbole 
der  Erkenntniss  und  des  Kaiserreichs  zu  finden  sind.  In  das 
himmhsche  Paradies,  dem  der  dritte  Theil  des  Gedichtes  ge- 
widmet ist,  fuhrt,  ähnlich  wie  in  des  .^M«7/a- Anticlaudian  (s.  oben 
§.  170,  5),  die  wandernde  Seele  eine  andere  Figur.  Bcdtiice,  der 
früh  geschiedene  Gegenstand  seiner  Knaben-  und  JünglingsHebe, 
die  vor  allen  Frauen  zu  verherrlichen  er  einst  gelobt  hatte,  tritt 
hier  als  Symbol  der ,  durch  offenbarende  Gnade  mitgetheilten  höch- 
sten Weisheit,  der  Theologie,  auf,  und  zeigt  den  Weg  zu  den 
Wahrheiten,  die  über  die  Vernunft  hinausgehn.  An  ihrer  Hand 
und  unter  ihrer  Leitung  erhebt  sich  der  Dichter  über  die  Erde 
hinaus  und  durchwandert  die,  von  den  drei  Hierarchien  übennensch- 
hcher  Wesen  beherrschten,  neun  himmhschen  Kreise.  Die  Be- 
schreibung des  Weges  gibt  Veranlassung,  nicht  nur  die  kosmi- 
schen Ansichten  seiner  Zeit  zu  entwickeln,  sondern  auch  die  zu 
beurtheilen ,  an  deren  Seligkeit  und  Heiligkeit  Dante  nicht  zwei- 
felt, endhch  aber  auch  das  Verhältniss  zwischen  dem  thätigen 
und  conteinplativen  Leben  zu  erörtern.  Auf  dem  Wege,  der  mit 
einem  flüchtigen  Anschaun  der  Dreieinigkeit  seinen  Schluss  er- 
reicht, werden  zugleich  die  intricatesten  theologischen  und  philo- 
sophischen Fragen  erörtert. 

(3.  Aussprechen,  dass  Dante  Nichts,  oder  doch  nur  sehr  We- 
niges vortrage,  was  man  nicht  bei  Albert  und  Thomas  findet, 
heisst  nicht  ihn  tadeln.  Der  ihm  angewiesenen  Stellung  gemäss 
darf  nur  von  ihm  gefordert  werden,  dass  diese  Lehren  so  in  sein 
Herzblut  übergegangen  sind,  dass  er  sie  zu  reproduciren  und  so 
darzustellen  vermöge,  dass  sie  aufhören  Eigen thum  der  Schule  zu 
bleiben.  Dies  geschieht  nun,  indem  er  die  scholastischen  Lehren 
der  Schul-  und  Kirchensprache  entkleidet,  weiter  aber,'  dass  er 
ihnen  eine  Form  gibt,  in  der  sich  nicht  nur  Gelehrte,  sondern 
Geschäftsmänner,  Ritter,  Frauen,  ja  der  gemeine  Mann  für  sie 
begeistern  kann,  die  poetische.  Diese  Form  ist  bei  ihm  nicht, 
wie  etwa  bei  Bonaventura  die  gereimten  sententiae  sententiarum 
(s.  §.  197,  3)  ein  zu  mneraonischen  oder  anderen  Zwecken  umgehan- 


U.  Glanzperiode.    B.  Christliche  Aristoteliker.    Daute.     §.  208,  0.  T.         401 

genes  Gewand ,  sondern  wirkliche  Poesie  und  Scholastik  durchdrin- 
gen sich  in  Dante  so,  dass  er  in  seinem  Convito  seine  Liebesge- 
dichte rhetorisch  zerlegt  und  scholastisch  cominentirt ,  ohne  dies 
als  Versündigung  an  seinen  Gedichten  anzusehn,  und  wieder  in 
seiner  göttlichen  Komödie  die  eigentlichen,  bei  jedem  Anderen  tro- 
ckenen, Arcana  der  scholastischen  Philosophie,  bis  in  ihre  syllo- 
gistischen  Argumentationen  hinein ,  in  die  bald  erschütternde ,  bald 
anmuthige  Beschreibung  einer  Weltreise  verwandelt.  Dabei  macht 
das  Gedicht  nicht  den  frostigen  Eindruck  einer  Allegorie ,  wie  z.  B. 
der  Anticlaudianus ,  sondern  es  ist ,  wenn  man  auch  ganz  bei  Seite 
lässt,  dass  Vhylf ,  iS/ al ins,  Beiitrice,  Matfnlde  noch  etvfä.?,  Andres 
bedeuten  als  diese  Personen,  nicht  nur  durch  den  bezaubernden 
Klang  der  Rede,  sondern  auch  sonst,  ein  anziehendes  Gedicht, 
ein  Dichterwerk  ersten  Ranges.  Nur  die  absolute  Herrschaft  über 
den  Stoff  konnte  eine  solche  poetische  Verklärung  desselben  mög- 
lich machen. 

7.  Dass  von  den  beiden ,  an  die  sich  Dante  besonders  anlehnt, 
Albert  besonders  in  der  Physik,  dagegen  Thomas  in  der  Politik 
und  Theologie  als  seine  Meister  erscheinen,  ist  nach  dem,  was 
oben  über  beide  gesagt  worden  (§.  203,  9) ,  nicht  zu  verwundern. 
Unter  den  Naturwissenschaften  scheint  dem  Dante  keine  ge- 
läufiger zu  seyn  als  die  Astronomie.  Die  Zeitbestimmungen  in  sei- 
nem Gedicht  zeigen,  wie  geläufig  ihm  die  jeweiligen  Constellatio- 
nen  waren,  auch  lässt  er  es  nicht  au  Ausfällen  gegen  den  verdor- 
benen Kalender  fehlen.  Die  damals  noch  allgemein  angenommenen 
neun  Himmelskreise,  von  denen  sieben  den  Planeten,  der  achte 
den  Fixsternen  angehört,  während  der  neunte  das  primiim  mobile 
ist,  und  die  sich  innerhalb  des  überi'äumlichen  Empyreums  be- 
wegen, werden  von  Dante  nicht  nur,  wie  oben  bemerkt  wurde, 
mit  den  drei  Hierarchien  des  Areopagiten  (s.  §.  14(3)  so  zusammen- 
gestellt ,  dass  der  unterste  (Mondes  -)  Kreis  einen  Engel,  der  oberste 
{primum  mobile)  einen  Seraph  zum  Beweger  hat,  sondern  im  Con- 
vito —  wo  Dante  übrigens  sowol  vom  Areopagiten  als  von  Gre- 
gor d.  Gr.  in  der  Reihenfolge  der  Engel  abweicht  —  auch  mit  den 
Künsten  und  Wissenschaften  des  trirü  und  (jnadriiüi.  Obgleich 
dem  Dante,  wie  jenen  beiden  Scholastikern,  in  physikalischen  Leh- 
ren Aristoteles  die  höchste  Autorität  ist,  so  verlässt  er  ihn  doch, 
wo  sie  von  ihm  abweichen.'  Die  Ewigkeit  der  Materie  gilt  ihm 
als  Irrthum.  Der  erste  Stoff  ist  ihm  geschaffen,  nicht  ohne  alle 
Form,  denn  ein  Wirkliches  ohne  alle  Form  ist  ein  Widerspruch; 
aber  die  erste  Materie  hat  zu  ihrer  Form  die  L'nförmlichkeit,  so 
dass  also  die  von  den  Scholastikern  im  Sechstagewerk  gemachte 

Erdmaun  (iesch.  d.  Phil.  I.  Oß 


402  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Unterscheidung  der  crcatio  {vonfnslo),  disposlflo,  onuifus  von  ihm 
adoptirt  werden  kann.  Wie  hinsichtlich  des  niedrigsten,  sö  weicht 
auch  hinsichtlich  des  höchsten  physikalischen  Begriffs  Danlr  mit 
seinen  grossen  Lehrern  vom  Arisfoicics  ab:  die  Seele  ist  nicht 
bloss  Form  eines  Leibes,  sondern  ist  Substanz,  kann  darum  ohne 
Leib  existiren.  Freilich  nur  vorttbergeliend ,  denn  der  Drang-  sich 
zu  beleiben  bleibt  ihr,  der  theils  die  Scheinkörper  der  Zwischen- 
zeit, theils  den  Auferstehungskörper  erzeugt. 

8.  Auch  in  der  Politik  erscheint  Ihniie,  wo  es  sich  um  die 
Principien  handelt,  und  nicht  bloss  um  Tagesfragen,  als  strenger 
Thomist.  Den  gleichnamigen  Werken  des  Tltounts  und  des  Accji- 
dins  Colonud  (s.  oben  §.203,9;  §.204,4)  dankt  er  am  Meisten. 
Das  Ziel  des  Menschen  ist  eine  doppelte  Glückseligkeit,  die  irdi- 
sche und  himmlische.  Zu  der  ersteren  weist  Vernunft  { I  'ir<jU)  den 
Weg,  und  die  aus  ihr  stammenden,  moralischen  und  intellectuel- 
len,  Tugenden  reichen  zum  Erieiclien  desselben  aus.  Nichts  för- 
dert sie  mehr  als  der  Friede;  die  Anstalt  zur  Erhaltung  ist  der 
Staat;  weil  Theilung  der  Gewalt  den  Staat  schwächt,  deswegen 
muss  er  Monarchie  seyn.  Von  diesen  Thomistischeii  Sätzen  geht 
nun  [)(inle  weiter:  Nicht  nur  unter  den  Unterthanen  eines  Für- 
sten, sondern  auch  unter  Fürsten  kann  Streit  entstelm,  also  be- 
dürfen wie  jene  so  auch  diese  wieder  eines  Monarchen  über  sich. 
Dies  führt  auf  eine  Universalmonarchie,  auf  einen  Fürsten  über 
den  Fürsten,  d.  h.  auf  einen  Kaiser.  In  seiner  Monarchie  sucht 
Dante  in  den  drei  Büchern  die  drei  Gedanken  durchzuführen:  dass 
ein  Kaiserthujn  seyn  muss,  dass  Rom  aus  Gründen  der  Profan- 
wie  der  heiligen  Geschichte  Ansprucli  darauf  machen  kann,  Cen- 
trum desselben  zu  seyn,  endlich  dass  der  Kaiser  es  durch  Gott 
und  nicht  durch  die  päpstliche  Ernennung  ist.  Der  Kaiser,  als  der 
Lehnsherr  aller  Fürsten,  ist,  wenn  anders  der  Papst  überhaupt 
Land  besitzt,  es  auch  vom  Papst.  —  Unterschieden  von  der  irdi- 
schen Glückseligkeit  ist  die  himmlische  Seligkeit.  Zu  dieser  rei- 
chen die  erworbenen  Tugenden  nicht  aus,  es  bedarf  der  eingegos- 
senen theologischen,  deren  wir  nur  durch  Oifenbaruiig  und  Gnade 
{Bcolricc)  theilhaft  werden.  Die  Anstalt,  zu  diesem  Ziele  zu  füh- 
ren, ist  die  Kirche,  deren  Leitung  nicht  dem  Kaiser,  sonderndem 
Papst  übergeben  ist.  Es  ist  Todsünde,  sich,  wie  Cölestui  das  ge- 
than  hat,  der  Pflicht  der  Kirchenleitung  zu  entziehn.  Je  mehr 
das  Papstthum  nur  die  geistliche  Herrschaft,  geistliche  Mittel  dazu 
u.  s.  w.  im  Auge  behält,  um  so  grösser  und  herrlicher  steht  es  da. 
In  dieser  Stellung  fordert  es  mit  Recht,  dass  auch  der  Kaiser  sich 
vor  dem  geistlichen  Vater  beuge.    Mit  demselben  Zorn,  mit  dem 


III.  Verfallperiode.     Einleitung.     §.  210.  403 

Dil  nie  die  Verweltlichung  des  päpstlichen  Stuliles  tadelt,  brand- 
markt er  die  Vergewaltigung  des  (ihm  doch  verhassten)  Papstes 
Bonifiiz  durch  die  weltliche  Macht.  Das,  was  einmal  in  der  Welt- 
geschichte in  all  seiner  Herrlichkeit  sich  gezeigt  hatte  (s.  §.  152) : 
ein  Regent  der  Christenheit,  welcher  Lehnsherr  und  zugleich  ge- 
liebtester  Sohn  der  römischen  Kirche  war,  das  ist  es,  wonach  sich 
Dante  sehnt,  wie  sich  PUdo  nach  einer  wahren  Republik  gesehnt 
hatte;  das  ist  es,  was  zu  hotten  er  nicht  aufgibt,  wenn  er  auch 
hinsichtlich  der  Träger  dieser  seiner  Hoftnung  gewechselt  hat. 

§.  209. 
>S  c  h  1  u  s  s  b  e  m  e  r  k  u  n  g. 
War  die  Philosophie  (§.  o)  einer  Zeit  nur  das  ausgesprochene 
Geheimniss  derselben,  so  führt  das  Popularisiren  derselben  sie  ih- 
rem Ende  entgegen:  Je  Mehrere  ein  Geheimniss  wissen,  je  weni- 
ger ist  es  eins;  was  Viele  oder  gar  Alle  wissen,  ist  als  allbekannt 
trivial,  und  nicht  mehr  auszeichnendes  Eigenthum  der  Weisen. 
Wie  die  Sophisten  (s.  oben  §.  G2)  durch  Popularisiren  die  vorso- 
kratisclie,  wie  Cicero  (s.  oben  §.  106)  eben  dadurch  die  ganze  klas- 
sische ,  wie  im  achtzehnten  Jahrhundert  die  Popularphilosophie  alle 
vorkantische  Philosophie  zu  etwas  Abgemachtem  und  Abgethanem 
machten,  eben  so  wird,  seit  es  zu  einem  leicht  erkennbaren  Kunst- 
stück gemacht  ist,  die  Mysterien  der  scholastischen  Philosophie 
sich  anzueignen ,  oder  seit  gar  ein  Schwelgen  in  wohltönenden  Ter- 
zinen in  die  Lehren  der  Aristoteliker  einweiht,  dem  gründlichen 
Forscher  die  Vermuthung  nahe  gelegt  seyn ,  dass  die  Philosophie 
doch  noch  Anderes  und  mehr  seyn  müsse.  Diese  abschliessende, 
darum  aber  auch  negative,  Rückwirkung  der  popularisirenden  Thä- 
tigkeit  auf  die  Schulweisheit,  lässt  die  Thomisten  den  Lullisten 
zürnen,  die  das  Latein  so  vernachlässigen,  und  lässt  manche 
Neuere  in  Dante  den  Beginner  einer  neuen  Periode  begrüsseu. 
Richtiger  sahen  die,  welche  sein  Lied  den  Schwanengesang  einer 
abgelaufenen  nannten. 

m. 

Die  Verfallperiode  der  Scholastik. 

'  §.  210. 

Warum  in  dem  Culminationspunkt  der  Scholastik  ihr  Verfall 

beginnt,  das  erklärt  sich  schon  aus  ihrer  welthistorischen  Stellung. 

Das  Hineiunehmen  der  Aristotelischen  Lehre  in  die  von  der  Kirche 

geehrte  Scholastik  war  (s.  §.  180)  als  Gegenbild  zu  den  Kreuzzügen 

26* 


404  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

bezeichnet  worden.  Wie  in  diesen  dem  ersten  glorreichen  und  ro- 
mantischen Zuge  die  späteren  folgten,  bei  denen  das  religiöse  Be- 
dürfniss  blosser  Nebengrund,  wenn  nicht  gar  Vorwand  war,  nur 
für  die  unwissende  Masse  es  sich  noch  um  das  heilige  Grab,  bei 
den  klarer  Blickenden  um  Schwächung  der  kaiserlichen  Macht,  um 
Eroberung  Konstantinopels ,  um  vortheilhafte  Handels  -  und  andere 
Verträge  handelte,  so  dass  zuletzt  ein  von  muselmännischen  Ideen 
inficirter  Kaiser ,  ein  anerkannter  Feind  der  Kirche ,  auf  dem  Wege 
des  Vertrags  mit  den  Ungläubigen  Jerusalem  wieder  gewinnt,  wäh- 
rend'der  wirklich  fromme,  als  Heiliger  verehrte,  König  von  Frank- 
reich als  ein  Reactionär  erscheint ,  der  vergeblich  für  eine  verlorne 
Sache  kämpft,  gerade  so  muss  auch  in  dem  Diagramm  jenes  Gan- 
ges, der  Entwickelung  des  scholastischen  Aristotelismus ,  die  von 
Albert  eroberte,  von  Thomas  behauptete,  von  Dunle  gefeierte 
Herrschaft  des  Glaubens  über  die  Weltweisheit  sich  als  vorüber- 
gehende erweisen.  Parallel  dem,  dass  zuletzt  die  Kreuzzttge,  an- 
statt die  Zwecke  der  Kirche  zu  fördern ,  nur  neue  welthche  Schöp- 
fungen ins  Leben  rufen  und  die  weltlichen  Interessen  befriedigen, 
muss  aus  der  Unterwerfung  des  heidnischen  Weltweisen  unter  das 
Dogma  eine  Philosophie  sich  entwickeln,  welche  dem  Dogma  den 
Dienst  aufsagt. 

§.  211. 
Ganz  abgesehen  aber  von  jenem  Parallelismus,  lässt  sich  er- 
klären, warum  das  Hineinnehmen  des  Aristotelismus  in  die  Scho- 
lastik den  kirchlichen  Charakter  derselben  fährden  musste.  Was 
der  Kirche  so  unverfänglich  schien ,  dass  Aristoteles  für  die  Wahr- 
heit ihrer  Lehre  zeuge,  ist  genauer  betrachtet  eine  für  sie  sehr 
bedenkliche  Sache.  Offenbar  wird  die  Glaubwürdigkeit  dessen ,  der 
zum  Zeugen  aufgerufen  wird,  liöher  gestellt  als  dessen  für  den 
gezeugt  wird,  und  wer  sich  gewöhnt,  zu  fordern,  dass  Aristoteles 
und  seine  Commentatoren  für  die  Kirchenlehre  Gewähr  leisten,  ist 
nicht  sicher  davor,  statt  des  Zeugnisses  des  heiligen  Geistes  vor 
Allem  nach  dem  Zeugnisse  des  Geistes  zu  suchen,  der  dem  Ari- 
stoteles seine  Schriften ,  den  Arabern  ihre  Commentare  eingab.  Die- 
ser Geist  war  der  der  Weltbewunderung ,  ja  Weltvergötterung ,  ge- 
wesen, und  das  Beispiel  des  Albert  und  Thomas  zeigt,  wie  frühe 
schon  das  Studium  jener  Weltweisen  dahin  bringt,  sich  für  die 
Welt,  die  sinnliche  wie  Albert,  die  sittliche  wie  Thomas,  zu  in- 
teressiren.  Wird  die  Bekanntschaft  mit  diesen  Weltweisen  noch 
genauer,  und  steigt  damit  die  Ehrfurcht  vor  ihnen,  so  ist  unver- 
meidlich: ein  gesteigertes  Verlangen,  die  Welt  zu  erkennen  und 
in  ihrem  wissenschaftlichen  Erfassen  Befriedigung  zu  finden.     Der 


III.  Verfallperiode.     Roger  Bacoii.     §.  212.  1.  405 

jüngere  Zeitgenosse  des  Alhert,  Boger  Bacon.  beweist  dies.  Nicht 
fähig,  wie  jener,  den  Zwecken  seines  Ordens  seine  naturwissen- 
schaftlichen Liebhal)ereien  zu  opfern ,  hat  er  \ielmehr  dem  Studium 
der  Weltweisheit,  und  mehr  noch  der  ^Yelt  selbst,  zuerst  sein 
Vermögen,  dann  sein  friedhches  Zusammenleben  mit  seinen  Ordens- 
genossen, endlich  seine  Freiheit  zum  Opfer  gebracht.  Man  kann 
sich  manchmal  des  Lächelns  nicht  erwehren,  wenn  man  sieht,  wie 
künstlich  dieser  personificirte  Wissensdurst  sich  selbst  oder  seine 
Leser,  oder  auch  beide,  zu  überreden  sucht,  alles  Wissen  interes- 
sire  ihn  nur  um  kirchlicher  Zwecke  willen.  Niemand  hat  es  ihm 
geglaubt.  Die  Nachwelt  nicht,  die  ihn  darum  von  den  bisher  be- 
trachteten Scholastikern  zu  trennen  pflegt,  die  Mitwelt  nicht,  die 
ihm  als  einem  weltlich  Gesinnten  misstraute. 

§.  212.  ' 

Roger    Bacon. 
Emüe  Charles  Roger  Bacon,  sa  vie,  ses  ouvrages,  ses  doctrines.    Paris  1861. 

1.  Bogervs  Baron,  einer  wohlhabenden  englischen  Famihe  an- 
gehörig, ist  im  Jahre  1214  in  Ilchester  geboren,  hat  zuerst  in 
Oxford  das  trlr'ntm  durchgemacht  und  dabei  durch  angestrengten 
Fleiss  sich  ausgezeichnet.  Dann  begab  er  sich  nach  Paris,  wo  er 
sich  ganz  dem  Studium  der  Mathematik  ((jnaflnriiint)  hingab,  an 
welche  sich  das  der  eigentlichen  Facultätswissenschaften ,  der  Me- 
dicin,  des  (namentlich  des  kanonischen)  Rechts,  endlich  der  Theo- 
logie, anschloss.  Mit  dem  Doctorhute  geschmückt  kam  er  nach 
Oxford  zunick,  und  ist  wohl  erst  dann  in  den  Franciscanerorden 
getreten.  Es  geschah  auf  den  Rath  des  gelehrten  Bischofs  von 
Lincoln,  Bohert  Grossei  elf.  eines  der  wenigen  Männer,  vor  dem 
Boger  Hochachtung  zeigt.  Ausser  den  Büchem  war  Umgang  mit 
berühmten  Gelehrten,  Unterricht,  den  er  armen  Jünglingen  gab, 
besonders  aber  physikalische  Expeiimente  seine  Beschäftigung.  Die 
letztern  zehrten  allmählich  sein  ganzes  Vermögen,  gegen  2000  Pfund, 
auf,  und,  gerade  wie  der  von  ihm  hochverehrte  Piccarde  Petriis 
de  Makdiintria .  muss  er  fortwährend  erfahren,  wie  Geldmangel 
die  Fortschritte  der  Wissenschaft  hindert.  Dazu  kam  noch,  dass 
namentlich  seit  dem  Tode  seines  Gönners  Grossetete  (1253)  sein 
ganzes  Treiben  dem  Orden  verdächtig  und  ihm  von  seinen  Oberen 
verboten  ^ird ,  seine  Entdeckungen  niederzuschreiben  und  Anderen 
mitzutheilen.  Vielleicht  ward  ein  Versuch  zum  Ungehorsam  sogar 
mit  strenger  Haft  bestraft.  Ein  zehnjähriger  Aufenthalt  in  Frank- 
reich von  1257  —  67  war  wohl  ein  als  Strafe  verhängtes  Exil.  Da 
musste  es  ihm  natürlich  sehr  willkommen  seyn,   dass  der  Papst 


406  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Clemens  IV,  der  als  römischer  Legat  in  Eiiglanrl  ihn  kennen  ge- 
lernt hatte,  ihn  aufforderte,  seine  Ansichten  über  Philosophie  für 
ihn,  den  Papst,  niederzuschreiben.  Da  keine  Beglaubigungsschrift 
ihn  gegen  seine  Oberen  sicher  stellte,  keine  Geldsendung  ihn  für 
die  nothwendigen  Auslagen  entschädigte,  so  waren  die  Schwierig- 
keiten ungeheuer.  Dennoch  vollendete  Hogcr  in  fünfzehn  Monaten 
sein  eigentliches  Werk,  das  Opus  majus,  das  er  durch  seinen  liieb- 
lingsschüler ,  Johann  von  London,  nach  Rom  schickte,  ausserdem 
aber  noch  eine  Erläuterungs -  und  eine  Einleitungsschrift,  das 
Opus  minus  und  das  Opus  tertium,  die  beide  er  durch  eine  an- 
dere Gelegenheit  übersandte.  Ein  Jahr  darauf,  bald  nach  Bacons 
Rückkehr  in  Oxford,  starb  der  Papst  Clemens  und  unter  seinem 
Nachfolger  hatte  Uoger  so  wenig  Gönner,  dass,  als  er  wegen  Ver- 
dachtes magischer  Künste  von  seinen  Oberen  eingekerkert  ward, 
eine  Appellation  an  den  Papst  fruchtlos  blieb.  Wie  lange  er  im 
Kerker  zugebracht  hat,  ist  nicht  zu  entscheiden.  Gelebt  hat  er 
wenigstens  bis  zum  Jahre  1292.  Sehr  viele  Titel  von  Büchern,  die 
ihm  zugeschrieben  werden,  bezeichnen  wohl  Theile  seines  grösse- 
ren Werks.  Gedruckt  wurde  bisher:  Speculum  Alchimiae  1541. 
De  mirabili  potestate  artis  et  naturae  Paris  1542.  —  Libellus  de 
retardandis  S'mectutis  accidentibus  et  de  senibus  conservandis  Oxon. 
1590.  Sanioris  medicinae  magistri  D.  Rogerii  Baconis  Angli  de 
arte  Chymiae  scripta  1603.  Rogeri  Baconis  Angli  viri  eminentis- 
simi  pcrspectiva  Franko!  1614.  Specula  mathematica  Frankof. 
1614.  Alle  diese  Schriften  habe  ich  nie  gesehn.  Darum  sey  es 
auch  nur  als  Vermuthung  ausgesprochen ,  dass  die  Perspectiva  das 
fünfte  Buch  des  Opus  majus,  und  das  an  zweiter  Stelle  genannte 
Werk  die  Epistola  de  secretis  operibus  artis  et  naturae  seyn  möchte. 
Die  mir  bekannten  Werke  sind:  Opus  majus  ed.  Jebb  London  1733 
(dabei  ist  aber  der  siebente  Theil,  die  philosophia  moralis,  weg- 
geblieben). Opus  minus  (unvollständig)  und  Opus  tertium  (ganz), 
so  wie  Compendium  philosophiae ,  wie  sie  London  1859  in  8^  von 
J.  S.  Brcwer  herausgegeben  sind.  Als  Anhang  dazu  ist  auch  die, 
schon  früher  gedruckte,  Epistola  de  secretis  operibus  artis  et  na- 
turae, et  de  nullitate  magiae  wieder  abgedruckt. 

2.  Da  der  Auftrag  des  Papstes  nur  die  Philosophie  betraf, 
nach  Bogers  Ansicht  aber  es  nur  vom  Wohlwollen  des  Papstes 
abhing,  ob  zur  Förderung  der  Wissenschaft  die  nöthigen  Geldmit- 
tel zu  Gebote  gestellt  würden,  so  ist  es  erklärlich,  warum  er  bei 
jeder  Gelegenheit  die  Philosophie  als  Stütze  der  Theologie  dar- 
stellt, und  auf  den  Nutzen  hinweist,  den  sie  dem  kirchlichen  Le- 
ben ,  der  Bekehrung  und  wo  es  nöthig  der  Ausrottung  der  üngläu- 


III.  Verfallperiode.     Roger  Bacou.     §.  212.  2.  3.  407 

bigeii  gewähren  könne.  Philosophie  aber  fällt  ihm  ganz  mit  der 
Lehre  des  Aristoteles  zusammen ,  an  den  sich  Arkcnna  als  zweiter, 
Arerroes  erst  als  dritter  Philosoph  anreiht.  Obgleich  alle  drei 
Ungläubige,  haben  sie  doch  die  Philosophie  von  Gott  empfangen, 
und  werden  von  ihm  so  sehr  als  Autoritäten  angesehn,  dass,  na- 
mentlich bei  Aristoteles,  er  wiederholt  Uebersetzmigsfehler  annimmt, 
um  ihn  nur  nicht  eines  Irrthums  zu  zeihen.  Obgleich  er,  dem 
Grimdsatze  gemäss  eee/esiae  scrrire  regnare  est  Op,  tert.  82,  die 
Aristotelische  Philosophie  in  den  Dienst  der  Kirche  bringen  will, 
so  will  er  durchaus  nicht,  dass  man  ihn  zu  Alexander  (s.  oben 
§.  195),  zu  Athert  (§.  199—201)  oder  rhomas  (§.  203)  stelle.  Den 
ersteren  behandelt  er  ziemlich  wegwerfend,  die  anderen  beiden 
„diese  Knaben ,  die  Lehrer  wurden  ehe  sie  gelernt  hatten"  mit  of- 
fenbarem Hohn.  (Auf  Thomas  gehen  die  bittern  Ausfälle  im  Op. 
minus  und  tertium  auf  die  dicken  Bücher  über  den  Aristoteles 
von  einem  plötzlich  berühmt  gewordenen  Philosophen,  der  kein 
Griechisch  verstehe  u.  dgl.)  Die  Theologie  dieser  Männer  sey  nichts 
werth,  da  sie,  anstatt  den  Text,  die  Sentenzen  erklären  als  seyen 
diese  mehr  werth  als  jener,  und  ihre  Philosophie,  die  zuletzt  alle 
wahre  Theologie  verdränge,  tauge  Nichts,  weil  ihnen  die  Vorbe- 
dingungen abgehen,  ohne  die  einmal  man  in  der  Philosophie  nicht 
fortkomme:  Kenntniss  der  Sprache,  in  welcher  die  grössten  Leh- 
rer der  Philosophie  schrieben,  und  Kenntniss  der  Mathematik  und 
Physik,  durch  welche  sie  zu  ihren  Erkenntnissen  kamen. 

3.  Das  Opus  majus,  das  mit  Recht  in  manchen  Handschriften 
den  Titel  führt  de  utilitate  scientiarum,  auch  wohl  später  als  de 
emendandis  scientiis  citirt  wird,  will  zeigen,  welches  der  wichtig- 
ste Weg  sey,  um  zur  wahren,  auch  der  Kirche  nützlichen,  Phi- 
losophie zu  gelangen.  In  seinem  ersten  Theile  (p.  1 — 22)  wer- 
den als  die  Hindernisse  die,  auf  Ansehn,  Gewohnheit  und  Nach- 
ahmung gegründeten,  im  stolzen  Eigensinn  festgehaltenen,  Vorur- 
theile  angeführt,  und  die  Einwendungen,  dass  sich  ja  die  Kii'che 
gegen  die  Philosophie  erklärt  habe,  dadurch  widerlegt,  dass  es 
sich  dort  um  eine  andere  Philosophie  handle,  nur  dass  auch  die 
Kirche  selbst  später  andere  Bestimmungen  getroffen  habe.  Der 
zweite  Theil  (p.  23  —  43)  bespricht  das  Verhältniss  von  Theolo- 
gie und  Philosophie ,  die  beide  von  Gott,  dem  alleinigen  intelleetus 
ayeiis,  eingegeben  seyen,  uiid  in  diesem  Verhältniss  zu  einander 
stehn ,  dass  jene  angebe ,  wozu  die  Dinge  von  Gott  bestimmt  seyen, 
die  Philosophie  aber:  wie  und  wodurch  ihre  Bestimmung  erfüllt 
wird.  Darum  stimme  die  Bibel,  welche  den  Regenbogen  hervor- 
treten lasse,  damit  das  Wasser  sich  zerstreue,  ganz  mit  der  Wis- 


408  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

senschaft,  welche  lehrt,  dass  der  Kegenbogen  bei  der  Zerstreiiimg 
des  "Wassers  entsteht,  überein.  Es  wird  dann  erzählt,  wie  die 
göttliche  Erleuchtung  von  dem  ersten  Menschen  auf  die  späteren 
sich  fortgepflanzt  und  die  Philosophie  im  Aristoleles  und  seiner 
Schule  zu  dem  Höhenpunkte  sich  erhoben  habe ,  auf  dem  der  Christ 
sie  aufnehme,  um  ihr  für  seinen  Glauben  Beweise  zu  entnehmen, 
und  wieder  aus  seinem  Glauben  Vieles  zu  ihr  hinzuzuthun. 

4.  Mit  dem  dritten  Theil  (p.  44—56)  wird  erst  zu  der  eigent- 
lichen Aufgabe  übergegangen.  Wer  daraus,  dass  dieser  Theil  de 
utilitate  grammaticae  handelt,  ein  Einverständniss  mit  der  alten 
hibernischen  Methode  Cs.  ol)en  §.  153)  folgern  wollte,  vergässe,  dass 
Boffcr  sich  immer  sehr  wegwerfend  über  die  formelle  Geistesbil- 
dung äussert,  welche  der  Unterricht  in  den  Trivial  -  Classen  gibt. 
Grammatik  und  Logik  ist  nach  ihm  Jedem  angeboren,  und  die 
Namen  für  das,  was  jeder  kann,  haben  keinen  grossen  Werth. 
Was  er  will,  ist  nicht  die  Grammatik  als  solche,  sondern  die  (/ram- 
matica  aliarum  I'nigiiaruiiu  d.  h.  er  will,  dass  man  vor  Allem  He- 
bräisch und  Griechisch  lerne,  um  die  Bibel  und  Aristoteles ,  Ara- 
bisch um  den  Arireiiva  und  ArerrnVs  zu  lesen,  denn  die  Ueber- 
setzungen,  sogar  der  heiligen  Schrift,  seyen  nicht  ganz  richtig,  die  der 
Philosophen  aber  so  schlecht ,  dass  es  wünschenswerth  sey ,  Aristo- 
teles wäre  nie  übersetzt,  oder  seine  üebersetzungen  würden  ver- 
brannt. Die  meisten  üel)ersetzer  haben  weder  die  Sprache  noch 
den  Gegenstand  verstanden;  eine  Menge  von  Beispielen  werden  an- 
geführt, um  zu  zeigen,  wie  die  vernachlässigte  Linguistik  sich  rächt. 
In  dem  opus  tertium  wird  noch  besonders  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, wie  in  Folge  dessen  namentlich  in  Paris  die  Dominicaner, 
durch  ganz  willkührlich  ersonnene  Conjecturen,  den  Text  der  Bibel 
verfälscht  haben.  Also  anstatt  der  Grammatik  und  liOgik,  dieser 
scientine  acridevtales ,  sollen  lingune  getrieben  werden.  Nicht  aber 
sie  allein ,  sondern  auch  doctrina ,  und  zwar  vor  allem  Anderen  die 

5.  Mathematik,  deren  Wichtigkeit  im  vierten  Theile  (p.  57 — 
255)  dargethan  wird ,  so  aber ,  dass  unter  diesem  Namen  alle  Disci- 
plinen  des  gvadririi  zusammengefasst  werden.  Die  Mathematik, 
dieses  alphabctvm  plnlosoplriae  nach  Op.  tert.,'ist  die  Grundlage 
aller  Wissenschaften,  der  Logik  wie  der  Theologie.  Der  letzteren 
steht  besonders  nahe  der  Theil  der  Mathematik,  der  es  mit  den 
Himmelskörpern  zu  thun  hat,  die  ustrologia  spenilatira  \m&  pra- 
cticd.  Der  böse  Euf,  in  welchen  die  Astrologie  gekommen  ist, 
beruht  auf  einer  Verwechslung  derselben  mit  der  Magie.  Mit  die- 
ser beschäftigt  sich  Boger,  nachdem  die  Arithmetik  und  Geome- 
trie nur  flüchtig  berührt  sind,  in  dem  Op.  maj,  fast  ausschliess- 


m.  Verfallperiode.     Roger  Bacon.     §.212,  5.  6.  409 

lieh.  Dagegen  enthält  das  Op.  tert.  sehr  genaue  Untersuchungen 
über  die  Musik.  In  der  Partie  des  grösseren  Werks,  wo  von  der 
Astrologie  gehandelt  wird,  werden  besonders  Ptolomäus  und  Al- 
hazen  als  die  unübertroffenen,  oft  als  die  unübertrefflichen ,  Meister 
gepriesen.  Auf  astronomischen  Kenntnissen  beruht  nicht  nur  das 
Verständniss  vieler  Stellen  der  h.  Schrift,  sondern  eben  so  alle 
geographischen  und  chronologischen  Erkenntnisse,  ohne  die  es  we- 
der Missionen  noch  ein  geordnetes  Festleben  geben  könnte,  wie 
denn  der  Zustand  des  Kalenders  eine  Schmach  ist  und  der  ener- 
gischen Hand  eines  wissenschaftlich  gebildeten  Papstes  bedarf. 
Endlich  aber  muss  auch  der  Macht  der  Constellationen  gedacht 
werden,  die,  wenn  sie  gleich  durch  Gottes  Gnade  überw^unden 
w^erden  kann,  immer  wichtig  genug  ist,  und  deren  Erkenntniss 
uns  u.  A.  die  trostreiche  Gewissheit  gibt,  dass  unter  allen  sechs 
Religionen  keine  unter  einer  so  glücklichen  Constellation  geboren 
ist  wie  die  christliche,  und  dass  der  durch  seine  Constellation  be- 
stimmte Verlauf  des  Muhamedanismus  seinem  Ende  entgegen  geht. 
Die  Freiheit  des  Willens  soll  mit  der  Macht  der  Sterne  eben  so 
vereinbar  seyn,  wie  mit  starken  "Versuchungen  zum  Bösen.  Eine 
ausführliche  Beschreibung  der  damals  bekannten  Welt,  bei  wel- 
cher besonders  die  so  eben  durch  den  Franciscaner  Wilhelm  heim- 
gebrachten Nachrichten  benutzt  werden,  der  an  den  Enkel  des 
Dschingis  Khan  abgesandt  gewesen  war,  schliesst  diesen  Theil  des 
Werks ,  in  Avelchem  auch  ärztliche  Rathschläge  mit  Bezug  auf  Con- 
stellation und  geographische  Lage  gegeben  werden. 

6.  In  dem  fünften  Theile  (p.  256 — ^444)  wird  als  von  einer 
besonders  wichtigen  Wissenschaft  von  der  Perspecfirn  (Optik)  ge- 
handelt, imd  zwar  zuerst  ganz  allgemein  vom  Sehen,  dann  wie 
es  durch  directe,  gebrochene  und  reflectirte  Lichtstrahlen  vermit- 
telt wird.  Anthropologische  Untersuchungen  über  die  anlmn  sen- 
sHirn  werden  vorausgeschickt.  Ausser  den  fünf  Sinnen  zeigt  diese 
den  sensifs  commintis,  durch  den  jede  Empfindung  erst  die  unsrige 
wird,  ferner  die  vis  imag'mn1ir<i .  welche  die  Empfindungen  fixirt, 
dann  die  ris  aesthnafwa ,  welche  sich  beim  Thier  als  Witterungs- 
vermögen zeigt,  endlich  die  vis  inemoratlru.  Die  beiden  letzteren 
Vermögen  haben  in  dem  hinteren,  die  zuerst  genannten  im  vor- 
deren Gehirn  ihren  Sitz.  In  der  mittleren  Hirnhöhle  thront  die 
ris  cogiUitiva  oder  logisdca .  mit  der  sich,  nur  im  Menschen,  die 
anima  rationalis  verbindet.  Was  nun  das  Organ  des  Sehens  be- 
trifft, so  wird  eine  genaue  anatomische  Beschreibung  des  Auges 
gegeben,  und  gezeigt,  wodurch  das  undeutliche,  doppelte,  ver- 
kehrte Sehen  vermieden  ist.     Plolemaevs .  Alhazen  und  Ariceima 


410  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

werden  dabei  besonders  benutzt.  Dabei  polemisirt  Iloger  gegen 
die,  welche  das  Licht  ohne  Zeit  sich  verbreiten  lassen.  Nur  die 
grosse  Geschwindigkeit  lasse  den  Zeitverlust  unmerklich  werden. 
Beim  Sehen  ist  zu  unterscheiden,  was  reine  Empfindung  ist  und  was 
per  scientlnm  et  syllogisminn  geschehe;  in  jedes  Sehen,  auch  des 
Thiers ,  mischt  sich  Urtheil.  Mit  Hülfe  geometrischer  Constructio- 
nen  wird  gezeigt,  wie  wir  es  in  unserer  Gewalt  haben  Lichtstrah- 
len und  Bilder  durch  ebne,  concavc  und  convexe  Spiegel  hinzu- 
bringen wohin  wir  wollen. 

7.  Als  ein  Anhang  zu  den  bisherigen  Untersuchungen  erscheint 
der  Tractatus  de  multiplicatione  specierum  (p.  358  —444).  Mit 
dem  Namen  specics  {slmuUicrinn ,  Idolum.  phanlasma,  intentio, 
intprcssio,  iimbra  philosophorvin  u.  a.  m.),  bezeichnet  Bogcr  das, 
wodurch  Etwas  sich  offenbart,  also  ein  ihm  Wesensgleiches,  das 
nicht  von  ihm  abfliesst,  sondern  vielmehr  von  ihm,  und  von  dem 
dann  wieder  eben  so  Eines,  erzeugt  wird,  so  dass  es  sich  darin 
successiv  wirklich  fortpflanzt.  So  also  manifestiren  sich  Licht, 
Wärme,  Farbe  u.  s.  w.  in  ihren  species;  nur  von  dem  Ton  lässt 
sich  das  nicht  behaupten,  da  das  sich  Fortpflanzende  offenbar  et- 
was Anderes  ist,  als  das  ursprüngliche  Erzittern  eines  Körpers. 
Nicht  nur  Accidenzien,  sondern  auch  Substanzen,  und  diese  nicht 
nur  durch  ihre  Form,  sondern  ganz,  können  sich  offenbaren,  d.  h. 
ihre  species  ausbreiten,  die  dann  selbst  etwas  Substanzielles  seyn 
wird.  Diese  Offenbarung  ist  aber  nicht  ein  Eingiessen  oder  ein 
Eindruck  in  das  unthätige  recipiens,  sondern  eine  Anregung  zum 
Mithervorbringen,  so  dass  die  species  von  beiden  erzeugt  wird 
so  wie  z.B.  das  Licht  der  Sonne  das  im  Monde  erzeugt,  der,  wenn 
ei-  bloss  reflectirtes  Licht  hätte,  nicht  überall  gesehen  werden 
könnte.  Indem  aber  an  jedem  Punkte  die  so  erzeugten  species 
wieder  welche  erzeugen,  entsteht  eine  Mehrung  und  Kreuzung  der 
verschiedenen,  primären  und  secundären,  Bilder,  die  u.  A.  es  er- 
klärlich macht,  warum  auch  die  Ecke  des  Zimmers,  in  welche  das 
durchs  Fenster  eintretende  Sonnenlicht  nicht  fällt,  erhellt  wird. 
Alle  diese  species  bewegen  sich  in  unorganischen  Medien  gerad- 
linicht,  in  den  Nerven  auch  in  krummen  Linien.  Durch  concave 
Spiegel,  namentlich  wenn  sie  nicht  sphärisch,  sondern  in  einem  dem 
Oval  sich  nähernden  Kegelschnitt  geschliffen,  Hessen  sich  die  Son- 
nenstrahlen an  jedem  beliebigen  Punkte  concentriren ,  und  im  Kriege 
(z.  B.  gegen  die  Ungläubigen)  Wunder  thun.  Ein  Freund ,  sagt  er 
im  Op.  tert. ,  sey  diesem  Spiegel  ganz  auf  der  Spur,  derselbe  sey 
aber  auch  Ldiinorinn  sapientissiiiiiis.  Diese  species  sind  nichts 
Geistiges;  sie  sind  körperlich  wenn  gleich  incomplet  und  den  fünf 


III.  Verfallperiode.     Roger  Bacon.  §.  212,  7.  8.  411 

Sinnen  nicht  walirnelimbar.  Nur  so  seyen  die  grossen  Optiker 
Ptolemävs  und  Alh<tzcn  zu  verstehn,  die  hier  sine  {'(ilsitate  (jiia- 
libet  dociren.  Dass  jene  apecies  mit  Avachsender  Entfernung  vom 
eigentlichen  ayens  schwächer  werden,  ist  natürlich,  eben  so  auch, 
dass  je  näher  der  Empfangende  dem  Einwirkenden  steht,  d.  h.  je 
kürzer  die  Wirkungspyramide  ist,  deren  Spitze  das  revipicns  bil- 
det, dass  um  so  mächtiger  die  Wirkung  seyn  muss. 

8.  Der  sechste  Theil  (p.  445— 477)  handelt  von  der  srien- 
fiii  experhitcntnlis.  Da  nach  Arlsioleles  die  letzten  Principien  al- 
ler Wissenschaften  nicht  selbst  wieder  bewiesen  werden  können, 
und  also  durch  Erfahrung  gefunden  werden,  so  kann  es  als  der 
eigenthüraliche  Vorzug  der  scientia  cxperimcnUdis  angegeben  wer- 
den, dass  in  ihr  Principien  und  dass  daraus  Erschlossene  in  glei- 
cher Weise  gefunden  wird.  Als  Beispiel,  wie  durch  experimentel- 
les Verfahren  die  Natur  von  Etwas  erkannt  wird ,  zeigt  er,  wie  das 
Factum,  dass  jeder  seinen  eignen  Regenbogen  sieht,  auf  seine 
Entstehung  aus  dem  zurückgeworfenen  Lichte  zurückschliessen  und 
ihn  selbst  als  nichts  Wahrhaftes,  sondern  eine  blosse  Erscheinung 
erkennen  lässt.  Auf  dem  Wege  der  Erfahrung ,  auf  dem  das  Meiste 
gefunden  wird,  ehe  man  die  Gründe  erkennt,  soll  unter  Anderem 
auch  nach  jenem  Gleichgewicht  der  Elemente  gesucht  werden,  das, 
wenn  es  im  Menschen  gegeben  wäre,  den  Tod  unmöglich  machen, 
wenn  in  den  Metallen,  das  reinste  Gold  herstellen  müsste,  da  ja 
Silber  und  jedes  andre  Metall  nur  unverdautes  Gold  ist.  Jenes 
Gleichgewicht  ist  noch  nicht  gefunden,  aber  schon  jetzt  ist  auf 
dem  Wege  der  Erfahrung  Vieles  und  sehr  Wichtiges  gefunden,  so 
ein  nicht  zu  verlöschendes,  dem  griechischen  ähnliches,  Feuer,  so 
jene  salpeterhaltige  Substanz,  die  in  einem  kleinen  Rohr  entzündet 
ein  dounerartiges  Krachen  erzeugt,  so  die  Anziehung  zwischen 
Eisen  und  Magnet  oder  auch  zwischen  den  beiden  Hälften  einer 
gespaltenen  Haselruthe.  Seit  er  dies  gesehen,  sagt  er  in  den  se- 
cret.  operib.  nat.,  sey  ihm  nichts  mehr  unglaublich.  In  derselben 
Schrift  sagt  er  auch,  man  könne  Wagen  und  Schilfe  bauen,  die 
ohne  Segel  und  Pferde  sich  selbst  pfeilschnell  fortbewegten.  Eben 
daselbst  und  auch  in  dem  Op.  maj.  sagt  er,  dass,  da  die  schein- 
bare Grösse  des  Gegenstandes  von  dem  Winkel  der  im  Auge  zu- 
sammengehenden Strahlen  abhänge,  man  concave  und  convexe 
Gläser  so  einrichten  könne,  dass  der  Riese  zum  Zwerg,  der  Zwerg 
zum  Riesen  werde.  Gewiss  hat  Hoyer  Bacon  sehr  Vieles  gewusst 
was  kaum  Einer  unter  seinen  Zeitgenossen  gewusst  hat.  Man  darf 
sich  aber  doch  nicht  dagegen  verblenden,  dass  gerade  dort,  wo  er 
die   Ignoranten   verhöhnt,    die  kein   Griechisch  kennen,   er  beim 


412  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Etymologisiren  dia  und  ovo  verwechselt;  dass,  wo  er  am  Meisten 
auf  die  Mathematik  pocht,  er  vornehm  den  Aristoteles  bedauert, 
der  die  Quadratur  des  Kreises  noch  nicht  gekannt  habe.  Auch 
dass  er  sich  erbietet.  Einen  in  drei  Tagen  dahin  zu  bringen,  dass 
er  Hebräisch  oder  Griechisch  lesen  und  verstehen  solle,  und  je 
eine  Woche  für  hinreichend  hält  für  den  arithmetischen  und  geo- 
metrischen Unterricht  (Op.  tert.),  macht  einen  etwas  seltsamen  Ein- 
druck. 

9.  Die  Moralphilosophie,  welche  den  siebenten  Tlieil  des  Op. 
maj.  bildet,  und  worauf  sich  Bacon  im  Op.  tert.  vielfach  beruft, 
ist  leider  von  Jebb  nicht  herausgegeben.  Aus  dem  Op.  tert.  geht 
hervor,  dass  dieselbe  unter  sechs  verschiedenen  Gesichtspunkten 
dargestellt  werden  soll:  theologisch,  politisch,  rein  ethisch,  apo- 
logetisch,  paränetisch ,  endlich  juristisch.  Nach  dem  Op.  tert.  muss 
man  vermuthen,  dass  der  fünfte  Abschnitt,  welcher  die  Beredsam- 
keit behandelt,  deren  Theorie  er  theils  der  Logik  theils  der  prak- 
tischen Philosophie  zuweist,  sehr  streng  über  die  damalige  Predigt- 
weise geurtheilt  habe.  Den  Frater  BerthoUlns  Alemannns  preist 
er  als  einen  Prediger,  der  mehr  leiste  als  die  beiden  Bettelorden 
zusammen.  Ueberhaupt  kann  man  sich  des  Gedankens  nicht  er- 
wehren, dass  Tioffer,  wenn  er,  anstatt  Franciscaner  zu  werden ,  den 
Versuch  gemacht  hätte,  als  sccnlaris  an  der  Pariser  Universität 
zu  lehren,  sein  Geschick  günstiger  gestaltet  und  mehr  Erfolg  und 
Befriedigung  gehallt  hätte. 

§.  213. 

Dass,  wie  Ho(/er  Barons  Beispiel  lehrt,  der  in  die  Schola- 
stik hineingeuommene  Aiistotelismus  sie  der  Kirche  entfremdet, 
dies  könnte  Einer  als  Beweis  ansehn,  dass  nur  ein  ihr  fremdes, 
in  sie  hineingetragenes,  Element  sie  dazu  bringt.  Aber  ganz  ab- 
gesehn  vom  Aristotelismus  lässt  sich  aus  dem  Begnff  der  Schola- 
stik nachweisen,  dass  sie  früher  oder  später  dazu  gelangen  muss. 
Die  scholastische  Philosophie  hatte  (vgl.  §.  151)  die  Kirchenlehre 
von  den  Vätern  überkommen.  Der  Inhalt  derselben  stand  ihr  un- 
wandelbar fest;  sie  selbst  hatte  denselben  nur,  in  ihrer  ersten  Pe- 
riode dem  Verstände,  in  ihrer  Glanzperiode  den  Forderungen  der 
Weltweisheit  gemäss,  zu  formen.  Weil  der  Lehrinhalt  gar  nicht 
in  Frage  gestellt  wurde,  so  hat  die  Kirche  das  geduldet,  ja  ge- 
fördert. Sie  bedachte  nicht,  dass  womit  sich  eine  Philosophie  vor 
Allem,  ja  allein,  beschäftigt,  für  sie  der  Haupt-,  ja  der  alleinige 
Gegenstand  werden  muss,  dass  dagegen  Alles,  was  sie  als  unan- 
tastbar ausserhalb  ihrer  Bereiches  setzt,  aufliört  für  sie  da  zu  seyn. 
Eine  Philosophie,   die  sich   um   den  Inhalt   der  Kirchenlehre  gar 


in.    VerfaUperiode.     Duns  Scotus.     §.  214,  1.  413 

nicht  zu  mühen  hat,  desto  mehr  aber  um  das  verständige  und 
wissenschafthche  Beweisen,  muss,  wo  sie  sich  über  sich  selber  be- 
sinnt, die  Entdeckung  machen,  dass  jener  Inhalt  ilire  kleinste 
Sorge  ist,  dagegen  Verstand  und  Wissenschaft  ihre  grösste,  d.  h. 
sie  muss  zum  Bruch  mit  der  Kirchenlehre  kommen.  Bis  jetzt  hat 
sie,  ganz  in  ihr  Thun  vertieft,  sich  nicht  über  dasselbe  besonnen. 
Fängt  sie  es  aber  an,  so  muss  darin,  da  Philosophie  ja  Selbstver- 
ständniss  gewesen  war  (vgl.  §.  29),  mehr  Philosophie,  also  ein  Fort- 
schritt, gesehen  werden,  auch  wenn  daraus  der  Untergang  der 
bisherigen  Gestalt  folgen  sollte.  Diesen  Fortschritt  macht  Diuts 
Seouls,  dessen  Hauptunterschied  von  Thomas  nicht  in  den  Lehr- 
punkten liegt,  in  denen  sie  von  einander  abweichen,  sondern  da- 
rin: dass  dem  Tliomits  die  zu  beweisenden  Lehren,  dem  Duns 
eben  so  sehr,  ja  oft  viel  mehr  als  sie,  die  Beweise  für  diese 
Lehren  der  eigentliche  Gegenstand  sind.  Lieber  der  Kritik  der 
Beweise  vergisst  er  oft  die  Entscheidung  über  die  Lehre.  Dass, 
was  die  bisherige  Scholastik  thut,  für  ihn  Object  wird,  das  ist 
der  Grund,  warum  er  denen  als  sehr  abstrus  erscheinen  muss,  die 
ihn  mit  Thomas  vergleichen  in  der  Voraussetzung  als  verfolgten 
sie  ein  und  dasselbe  Ziel.  Es  geht  ihm  da,  wie  es  am  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  Fichte  ging,  wenn  man  die  Lehren  der 
Wissenschaftslehre  abstrus  fand  im  Vergleich  mit  den  Schriften, 
welche  vom  Gewussten  redeten,  während  Fichte  vom  Wissen  des- 
selben sprach.  In  beiden  Fällen  waren,  die  das  Abstruse  schrie- 
ben, gerade  die  klareren  Köpfe. 

§.  214. 
Johannes  Buns  Scotus. 
1.  Würde  die  Streitfrage,  ob  er  ein  Engländer,  Schotte  oder 
Irländer?  darnach  zu  entscheiden  seyn,  welches  Land  sich  die 
Ausbreitung  seines  Ptuhmes  am  Meisten  angelegen  seyn  Hess,  so 
gehört  er  ohne  allen  Zweifel  Hibernien  an.  Nicht  Duns  in  Schott- 
land, nicht  Dunston  in  England,  sondern  Dun  im  nördlichen  Ir- 
land sah  denn  im  J.  1274  (nach  Anderen  126(3)  die  Geburt  des 
Mannes,  dessen  Name  Scotus  nach  Einigen  den  Irländer  be- 
zeichnen, nach  Anderen  ein  Familienname  seyn  soll.  Früh  in  den 
Franciscanerorden  getreten  hat  er  in  Oxford,  mehr  aus  Büchern 
als  durch  mündliche  Belehrung,  gelernt  und  ist  sehr  jung  ebenda- 
selbst Magister  in  sämmtlichen  Wissenschaften  geworden.  Hier 
hat  er  auch  seine  Erläuterungen  zu  den  Schriften  des  Aristoteles, 
so  wie  seinen  vollständigen  Commentar  zu  den  Sentenzen  (das 
Opus  Oxoniense  oder  Ordinarium)  geschrieben.    Im  Jahre   1304 


414  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

kam  er  nach  Paris,  wo  er  durch  seine  siegreiche  Vertheidigung 
der  conceptto  immaculnia  b.  Virginis  den  Beinamen  des  Doctor 
suhlllis  erwarb,  und  von  da  an  alle  übrigen  Lehrer,  den  Provin- 
zial  des  eignen  Ordens  mit  eiirbegriffen ,  verdunkelte.  Der  Com- 
mentar  zu  den  Sentenzen  ward  hier  umgearbeitet;  manche  spätere 
Distinction  vor  der  früheren,  so  die  des  vierten  Buches  vor  denen 
des  zweiten,  dabei  auch  nicht  alle.  Was  sich  bei  seinem  Tode 
vorfand,  ward  zusammengestellt  und  gab  die  Quaestiones  reportatae 
oder  Reportata  Parisiensia  oder  das  Opus  Parisiense  (Parisineum), 
das  an  Form  eben  darum  dem  Oxoniense  weit  nachsteht,  an  Be- 
stimmtheit und  Klarheit  dasselbe  übertrifft.  Im  J.  1308  ward  Diins 
nach  Cöln  geschickt,  um  ein  Schmuck  der  dortigen  Schule  zu  wer- 
den. Den  mehr  als  fürstlichen  Triumphzug  hat  er  nur  kurze  Zeit 
überlebt,  da  er  im  November  desselben  Jahres  eines  raschen  To- 
des gestorben  ist. 

2.  Die  in  Lyon  im  J.  1639  herausgekommene  Ausgabe  seiner 
Werke  in  zwölf  Foliobänden  (R.  P  F.  Joannis  Duns  Scoti,  docto- 
ris  subtilis  ordiiiis  minoruni  opera  omnia  quae  hucusque  reperiri 
potuerunt,  coUecta,  recognita,  notis  scholiis  et  commentariis  illu- 
strata  a  PP.  Hibernis  Collegii  Romani  S.  Isidori  Professoribus) 
wird  gewöhnlicli  nach  dem  gelehrten  Annalisten  des  Franciscaner- 
ordens,  Irinas  Wadd'uty ,  genannt,  der  auch  wirklich  ein  grosses 
Verdienst  um  die  Herausgabe  erworben  und  sie  mit  einer  Biogra- 
phie des  Üiuis  versehen  hat.  Uebrigens  enthält  diese  Ausgabe  nur 
„quae  ad  rem  speculativam  s.  dissertationes  scholasticas  spectant"; 
die  „positiva  s.  S.Sae  commentarii"  werden  für  eine  andere  Samm- 
lung versprochen.  Diese  sollte  die  Commeutare  zu  der  Genesis, 
den  Evangelien,  den  Paulinischen  Briefen  so  wie  Predigten  enthal- 
ten. Die  Lyoner  Gesammtausgabe  fehlt  auf  den  meisten  deutschen 
Bibliotheken  (die  Exemplare  sollen  meistens  nach  England  gewan- 
dert seyn).  Sie  enthält:  Im  ersten  Bande  die  LogicaUa,  nämlich 
die,  fälschlich  dem  Duns  abgesprochene,  Grammatica  speculativa 
(p.  39 — 76),  dann  commentirende  Quaestiones  in  universalia  Por- 
phyrii  (p.  77  — 123),  in  librum  Praedicamentorum  (p.  124 — 185), 
zwei  verschiedene  Redactionen  von  in  libros  perihermeneias  (p.  186 
— 223),  in  hbros  elenchorum  (p.  224 — 272),  in  libros  analyticorum 
(p.  273  —  430).  (Eine  ausführliche  Expositio  des  Erzbischofs  von 
Thuam  zu  der  Schrift  über  den  Porphyrius  bildet  einen  Anhang.) 
Der  zweite  Band  enthält:  in  octo  libros  Physicorum  Aristotelis, 
wovon  Wuddlng  die  Unächtheit  nachweist.  Dagegen  sind  acht: 
Quaestiones  supra  libros  Aristotelis  de  anima  (p.  477 — 582),  die 
der  Franciscaner  Hugo  Carellits  im  Sinne  des  Dims  fortzusetzen 


lU.    Verfallperiode.     Duns  Scotus.     §.  214,  2.  415 

versucht  bat.  Der  dritte  Band  enthält:  Tractatus  de  rerum  prin- 
cipio  (p.  1—208),  de  primo  principio  (209  —  259),  Theoremata  (260 
—  340),  Collationes  s.  disputationes  subtilissiniae  (341  —  420),  Col- 
lationes  quatuor  nuper  additae  (421  —  430),  Tractatus  de  cogni- 
tione  Dei  unvollendet  (p.  431  —  440),  de  formalitatibus  (441  ff.), 
Quaestiones  niiscellaneae  und  Meteorologicoruni  libb.  IV  bilden  den 
Schluss  dieses  Bandes.  Der  vierte  enthält  die  Expositio  in  duo- 
decini  libros  Aristotelis  Metaphysicorum,  welcher  der  Herausgeber 
einen  ausführlichen  Beweis  der  Aechtheit  vorausgeschickt  hat.  Da- 
mit contrastirt  ein  kurzes  Nachwort,  in  dem,  nachdem  gesagt  wor- 
den: das  13**"  und  14**  Buch  conimentire  Niemand  „nee  ipsos  ali- 
quando  vidi",  hinzugefügt  wird,  der  Verfasser  sey  stets  dem  Jo- 
hannes Diins  gefolgt,  ., cujus  verba  frequenter  reperies".  Die  Con- 
clusiones  metaphysicae  und  Quaestiones  in  Metaphysicam  schliessen 
sich  an  die  Expositio  an.  Die  folgenden  sechs  Bände  (Bd.  5  -10) 
enthalten  den  Oxforder  Commentar,  so  dass  je  einem  Buche  ein 
Band,  nur  dem  vierten  Buche  drei  Bände,  entsprechen.  (Die  be- 
gleitenden Conmientare  des  LyclefifS;  Pomins.  Care/lns.  HüjiKieits 
u.  A.  bewirken  diese  Ausdehnung.)  Der  eilfte  Band  enthält  die 
Reportata  Parisiensia,  der  zwölfte  die  Quaestiones  quodlibetales, 
die  Dinia  bei  Gelegenlieit  seiner  zweiten  (Pariser)  Doctorpromotion 
nach  gewohnter  Weise  beantwortet  und  dann  später  ausgearbeitet, 
vielleicht  auch,  was  gleichfalls  gewöhnlich  war,  mit  Zusätzen  berei- 
chert hat.  Der  Oxforder  Commentar  so  wie  die  Quodlibetales  sind 
öfter  gedruckt.  So  z.  B.  in  Nürnberg  1481  von  Kobnrger.  Eben 
so  die  Reportata  Parisiensia,  so  z.  B.  Paris  1517  von  Joannes  Ma- 
jor als  nunquam  antea  iinpressa.  Ferner  Colon.  1635:  Quaestiones 
reportatae  per  Ilugonem  Cavellum  noviter  recognitae  u.  s.  w.  Der 
Text  in  der  Gesammtausgabe  weicht  von  dem  dieser  älteren  Aus- 
gaben sehr  ab.  Nicht  nur,  dass  der  Herausgeber  wie  Cacelhts  die 
Quästionen  in,  dem  Opus  Oxoniense  entsprechenden  Abtheilungen 
(Svliolia)  zerlegt  hat,  die  sich  in  der  älteren  Ausgabe  nicht  finden, 
er  nimmt  sich  auch  die  Freiheit,  gar  zu  kurze  Ausdrücke  zu  am- 
pUficiren,  gar  zu  barbarische  mit  seiner  Ansicht  nach  besseren  zu 
vertauschen ,  so  dass  er  oft  wirklich  zum  Paraphrasten  wird.  Wich- 
tiger ist,  dass  er  vollständigere  Manuscripte  vor  sich  hatte.  So 
fehlt  z.  B.  in  der  Pariser  und  der  Cöluer  Ausgabe  Lib.  IV  dist.  43 
die  dritte  Quästion,  indem  bloss  der  Inhalt  derselben  angegeben 
ist.  In  der  Gesammtausgabe  ist  sie  sehr  ausführlich  erörtert;  die 
vier  Schollen  dieser  Erörterung  befolgen  im  W^esentlichen  densel- 
ben Gang  wie  das  Opus  Oxoniense,  weichen  doch  aber  soweit  da- 
von ab,  dass  mau  sieht,  der  Herausgeber  gibt,  mit  stylistischen 


416  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Aenderungen,  was  Duns  in  Paris  vorgetragen  hatte.  Die  hier  ge- 
gebnen Citate  beziehen  sich  alle  auf  die  Lyoner  Gesamnitausgabe. 
3.  Fast  der  grössere  Theil  von  den  Auseinandersetzungen  des 
Duns  besteht  in  einer  polemischen  Kritik  des  Albert,  Thomas. 
mehr  noch  des  Heinrich  von  Gent,  ferner  des  Aegid'uis  Colonna, 
Bonaventura,  Roger  Bacon  u.  A,,  und  schon  dieses  legt  den  Ge- 
danken nahe,  eine  Parallele  zwischen  ihm  und  seinen  Vorgängern 
zu  ziehn.  Da  zeigt  nun  schon  sein  und  der  Dominicaner  Aristo- 
telismus  den  Unterschied,  dass  Dans,  freihch  nicht  ohne  den  Vor- 
arbeiten der  Anderen  viel  zu  danken,  mit  dem  Aristoteles  mehr 
vertraut  ist,  als  sie.  Nicht  nur  dass  er  aus  Stellen  argumentirt, 
die  sie  scheinen  übersehen  zu  haben,  sondern,  die  sie  Beide  an- 
führen, versteht  er  oft  richtiger.  So  die,  wo  Aristoteles  (s.  oben 
§.  88,  6)  von  dem  e.ctrinsccns  adüenire  der  anima  intellectira 
spricht;  s.  Pteport.  Paris.  IV.  d.  23.  qu.  2.  Auch  die  sogleich  zur 
Sprache  kommenden  Untersuchungen  über  die  Individualität  zeigen, 
dass  Dnns  mehr  als  die  Anderen  des  Aristoteles  Unterschied  zwi- 
schen To  Ti  ian  und  zodi  ri  berücksichtigt.  Wie  geläufig  ihm 
die  synonymischen  Untersuchungen  der  Aristotelischen  Metaphysik, 
wie  vertraut  die  Lehren  der  Topik  waren,  zeigt  die  unbefangene 
Art,  in  der  er  sich  auf  Beide  bezieht.  Gerade  die  gründlichere 
Einsicht  aber  in  den  eigentlichen  Sinn  der  Aristotelischen  Lehre 
musste  auch  den  Gegensatz  sichtbar  machen  zwischen  dem  was 
ihr  Urheber,  und  was  Bibel  und  Kirchenväter  gelehrt  hatten,  da- 
rum aber  auch  den  Frieden  zwischen  Philosophie  und  Theologie 
bedrohen.  In  etwas  wird  diese  Gefahr  dadurch  gemindert,  dass 
Duns  nicht  sowol  die  ursprünglichen  Lehren  Beider  festhält,  als 
vielmehr  die  Gestalt,  zu  der  sie  sich  entwickelt  hatten.  Seine  Theo- 
logie ist  viel  weniger  bibhsch  als  kirchUch:  Unser  Glaube  an  die 
Bibel  und  daran  dass  die  Apostel,  irrthumsfähige  Menschen,  wäh- 
rend sie  schrieben  nicht  irrten,  stützt  sich  nur  auf  die  Entschei- 
dung der  Kirche  (Report.  Paris.  III.  d.  23).  Eben  so  beruft  er 
sich  auf  spätere  Bestimmungen  der  Kirche ,  wenn  er  Augustinische 
Sätze  als  irrig  verwirft  (Op.  Oxon.  III.  d.  6.  qu.  3).  Demgemäss 
erlaubt  er  sich  der  Bibel  und  den  früheren  Kirchenlehrern  gegen- 
über Ergänzungen:  der  biblische  Satz,  dass  das  ewige  Leben  im 
Erkennen  Gottes  bestehe,  hindert  ihn  nicht  zu  sagen  es  bestehe 
vielmehr  in  der  Liebe,  denn  dort  stehe  ja  nicht:  im  Erkennen 
ohne  Liebe  (Rep.  Paris.  IV.  d.  49.  qu.  2) ;  dem  Anselm  gegenüber 
nimmt  er  das  Recht  in  Anspruch,  neue  termini  in  die  Theologie 
einzuführen  (Op.  Oxon.  I.  d.  28.  qu.  2).  Dagegen  zeigt  er  eine 
solche  Freiheit  hinsichtlich  der  PäpstUchen  Decrete  nicht;  die  sind 


in.    Verfallperiode      Diins  Scotus.     §.  214,  3.  4,  417 

ihm  entscheidend.  Auch  dies  muss  man  charakteristisch  finden, 
dass  er  viel  öfter  vom  Aiiynsiin  als  von  dem  Lombarden  abweicht. 
Weil  der  Gedanke  bei  ihm  leitend  ist,  dass  der  heilige  Geist  die 
Kirche  nicht  still  stehen  liess,  deswegen  gibt  er  zu,  dass  die  coii- 
cepfio  immacuhila  rirgbüs.  dass  manche  kirchliche  Gebräuche,  wie 
Priestercölibat  u.  A.,  sich  biblisch  nicht  begründen  lassen,  und 
hält  sie  dennoch  fest  (Rep.  Paris.  III.  d.  3).  Gerade  wie  die  Theo- 
logie ihm  nicht  das  Bibelwort  ist,  sondern  daraus  wurde,  gerade 
so  hat  ihm  auch  die  Philosophie  seit  Aristoteles  nicht  stille  ge- 
standen. Zwar  stellt  er  den  Meister  so  hoch,  dass  er  manchmal 
sagt:  die  Philosophie  könne  dies  oder  jenes  nicht  beweisen,  denn 
sonst  hätte  Aristoteles  oder  sein  Commentator,  der  maximits  phi- 
losophvs  Arerroes  es  bewiesen  (Report.  Paris.  IV.  d.  43.  qu.  2). 
Dann  aber  beweist  er  ihm  gegenüber  doch  auch  viel  grössere  Frei- 
heit: Manches  habe  Aristoteles  von  seinen  Vorgängern  als  etwas 
Wahrscheinliches  aufgenommen  (Ibid.  IL  d.  L  qu.  3),  was  wir  jetzt 
besser  verstehn;  wo  Aristoteles  und  sein  Commentator  sich  wi- 
dersprechen, muss  man  sich  für  das  Vernünftigere  entscheiden 
(Quodl.  qu.  7)  u.  s.  w.  Durch  diese  Zuversicht,  dass  sowol  der 
Geist,  welcher  die  Kirche  leitet,  als  der  welcher  die  Philosophie 
erzeugt,  fortschreitet,  war  die  Möglichkeit  gegeben,  unbefangener 
als  bisher  die  ersten  (Quellen  der  Theologie  und  Philosophie  zu 
erforschen,  und  bei  aller  Verschiedenheit  derselben  die  Hoffnung 
nicht  aufzugeben,  dass,  was  so  ganz  verschiedenen  Quellen  ent- 
sprang, doch  zuletzt  sich  vereinigen  könie. 

4.  Dazu  kommt  aber,  dass  die  völlige  Uebereinstimmung  zwi- 
schen Kirchenlehre  und  Philosophie  dem  Diots  gar  nicht  mehr  so 
sehr  am  Herzen  liegt,  wie  dem  Thomas .  darum  aber  auch  lange 
nicht  mehr  so  innig  ist,  wie  bei  diesem.  Thomas  ist,  wenigstens  mit, 
gemeint,  wo  Duns  tadelnd  von  Solchen  spricht,  die  Theologie  und 
Philosophie  vermengen,  und  weder  Theologen  noch  Philosophen 
es  recht  machen  (Op.  Oxon.  IL  d.  3.  qu.  7).  Bei  ihm  selbst  führt 
das  Auseinanderhalten  beider  fast  zur  Trennung.  Xicht  nur  dass 
er  sagt,  dass  die  Ordnung  der  Dinge,  welche  der  Philosoph  für  die 
natürliche  nimmt,  für  den  Theologen  eine  Folge  des  Sündenfalls 
sey  (Quodl.  qu.  14),  oder  dass  der  Philosoph  unter  der  Seligkeit 
die  diesseitige,  der  Theolog  die  jenseitige  verstehe  (Rep.  Paris.  IV. 
d.  43,  qu.  2),  oder  dass  Philosophen  und  Theologen  gang  verschie- 
den über  die  potent ia  aetira  denken  (Op.  Oxon,  IV.  dist.  43.  qu.  3 
fin.),  er  geht  noch  weiter.  Es  kommt  sogar  vor,  dass  er  sagt,  ein 
Satz  sey  zwar  wahr  für  den  Philosophen,  aber  er  sey  falsch  für  den 
Theologen  (Rep.  Paris.  IV.  d.  43.  qu.  3.  Schol.  4.  p.  848).  Auch  der 

Erdiuano.  Gesch.  d.  Philos.  I.  07 


418  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Gegensatz  PLUosopIn  und  Catliotici  begegnet  uns  oft  bei  ihm. 
Der  Nothwendigkeit,  die  aus  solchem  Gegensatz  zu  folgen  scheint, 
zwischen  Theologie  und  Philosophie  zu  wählen,  dieser  entzieht  sich 
Diins  dadurch,  dass  er,  ähnlich  wie  Alber l  nur  viel  entschiedner 
als  dieser,  der  Philosophie  den  rein  theoretischen,  dagegen  der 
Theologie,  deren  eigentlicher  Inlialt  Christus  ist,  vorwiegend  prak- 
tischen Charakter  beilegt.  Dies  geht  so  weit,  dass  er  sagt,  die 
Theologie  Gottes,  d.  h.  die  Art  wie  Gott  den  Gegenstand  der  Theo- 
logie erfasst,  sey  praktisch  und  niclit  speculativ  (Disp.  subt.  30), 
und  dass  er  öfter  bezweifelt,  ob  wohl  die  Theologie,  da  sie  ihre 
Hauptsätze  nicht  streng  zu  Ijeweisen  vermag,  wirklich  Wissen- 
schaft genannt  werden  darf?  (Theorem.  14.  —  Op.  Oxon.  und  Ptep. 
Paris.  IL  d.  24).  Thut  man  es  aber,  weil  die  theologischen  Sätze 
doch  nicht  bloss  ein  Wissen  von  Principien,  welchem  eine  emdeti- 
tia  ex  Icrmints  zukommt,  sondern  ein  aus  jenen  abgeleitetes  Wis- 
sen zum  Inhalt  haben  (Rep.  Paris.  Prol.  qu.  1),  so  muss  wenig- 
stens dies  festgehalten  werden,  dass  die  Tlieologie  eine,  von  allen 
andern  Wissenschaften  verschiedene,  auf  eignen  nur  für  sie  gel- 
tenden Principien  beruhende  ^^'issenschaft  von  mehr  praktischem 
als  speculativem  Charakter  ist.   (Op.  Oxon.  Prol.  qu.  4.  5.) 

5.  Sondert  man  nun,  jenen  Andeutungen  gemäss,  die  rein 
philosophischen  Untersuchungen  des  Dtms  ab,  und  beginnt  mit 
den  dialektischen,  so  ist  die  Frage:  wie  stellt  er  sich  zu  den  bis- 
herigen Lehren  vom  Allgemeinen V  Er  ist  ein  entschiedener  Geg- 
ner derer,  welche  in  dfn  Allgemeinheiten  bloss  /ictio/ics  inieile- 
ctiis  sehen;  da  alle  Wissenschaft  auf  das  Allgemehie  geht,  so  wird 
durch  die  eben  erwähnte  Ansicht  alle  Wissenschaft  in  blosse  Lo- 
gik verwandelt.  Die  es  thuu ,  werden  von  Dints  als  loi/iientes,  als 
garruli  u.  s.  w.  ziemlich  höhnisch  behandelt,  und  wenn  er  sagt,  dass 
cuilibct  intim  sidl  <  otrespitndrl  in  re  afitjnis  gnuhis  enlitutis  in 
fjno  conceniiiiU  vonieida  s/ib  ipso,  so  ist  er  ein  Conceptualist,  wie 
Abüldi'd  und  Gilbert  gewesen  waren  (s.  oben  §.  163,  3).  Gerade 
wie  ArieeniKi  aber  und  nach  ihm  Albert  und  Tliomas  zugleich 
mit  der  conceptualistischen  Formel  in  rebus,  die  realistische  (lutc 
res  und  die  nominalistische  posi  res  festhielten  (vgl.  §.  184,  1. 
§.  200,  2),  gerade  so  zeigt  auch  Dnns,  dass  er  den  Streit  der 
Xominalisten  und  Realisten  hinter  sich  hat.  (Vgl.  Op.  Oxon.  I.  d. 
3.  qu.  4.)  Er  stimmt  buchstäblich  mit  den  eben  Genannten  überein, 
wenn  er  das  Allgemeine  erstlich  existirend  denkt  als  Urbild, 
forma,  nach  welchem  die  Dinge  gebildet  sind,  zweitens  in  ihnen 
existirend  als  die  (piiditus,  die  das  Wesen  des  Dinges  angibt, 
drittens  dmxh  unseren  Verstand  gefunden  werden  lässt,  der  es 


III.    Verfallperiofle.     Duns  Scotus.     §.   214,  5.  419 

als  das  Gemeinsame  in  deu  Dingen  von  ihnen  (und  so  posf  res) 
abstraliire.  Weil  Dmis  öfter  das  Wort  viilrersnlp  nur  auf  dies 
dritte  Verhältniss  beschränkt,  haben  Einige  ihn  irriger  Weise  zum 
Nominalisten  gemacht.  Und  wieder,  weil  er  die  Allgemeinheiten, 
wie  sie  (niic  res  existiren,  formae  genannt  hat,  ist  seine  Ansicht, 
dem  angegebenen  Princip  der  Bezeichnung  gemäss  (s.  oben  §.  158), 
die  formalistische  genannt  worden.  Xicht  eine  geringere,  sondern 
nur  eine  andere  Art  der  Wirklichkeit  soll  den  Vorbildern  der 
Dinge  zugeschrieben  werden,  wenn  er  sagt,  sie  existirten  fonniili- 
Ipr.  dagegen  die  Quiditäten  realiter  (oder  iu  re)  ausser  unserem 
Verstände.  Es  hat  daher  keinen  rechten  Sinn,  wenn,  wie  in  man- 
chen Darstellungen  der  Geschichte  der  Philosophie,  jenem  forma- 
lifer  das  Wörtchen  Nur  vorgesetzt  wird.  Vielleicht  ward  dies  da- 
durch veranlasst,  dass  schon  Oelam,  wo  er  des  Scoins  Lehre  an- 
führt, nach  welcher  die  Universalien  iu  den  Dingen,  aber  von  den- 
selben ,  zwar  nicht  realilrr  aber  formaliler ,  verschieden  seyen, 
formafifer  favtinu  zu  sagen  pflegt.  Bis  dahin  also  ist  keine  Dif- 
ferenz zwischen  Thomas  und  Scotus  sichtbar,  sie  wird  es  aber  bei 
der  Frage:  wie  und  worin  unterscheidet  sich  das  Allgemeine  und 
Einzelne?  Wirklich  (in  iKituru)  sind  sie  beide,  oder,  was  das- 
selbe heisst:  die  Wirklichkeit  verhält  sich  gleicbmässig  (natura 
est  indiffcreiis)  gegen  beide  (Op.  Oxon.  IL  d.  3.  qu.  1).  Der  Un- 
terschied muss  also  in  etwas  Anderem  liegen.  Nach  Thomas 
(§.  203,  5)  individuirte  die  materia  sipuafa.  Weil  sich  aus  die- 
ser Ansicht  die ,  von  der  Kirche  verworfene,  Folgerung  ergab,  dass 
mehrere  Engel  nicht  Individuen  einer  Art  seyn  können ,  so  schliesst 
Dmis  auf  ihren  ketzerischen  Charakter  zurück  (de  anim.  qu.  22). 
Aber  auch  aus  philosophischen  Gründen  ist  sie  zu  verwerfen.  Denn 
da  nach  Thomas  die  Materie  eine  Schranke  und  ein  Mangel  ist, 
so  folgt  nach  seiner  Tlieorie:  es  sey  eigentlich  eine  Unvollkommen- 
heit,  dass  ein  Ding  hoe.  eine  Sache  haee,  ist.  Im  Gegensatz  dazu 
behauptet  nun  Diais.  dass  was  ein  Ding  zu  diesem  macht,  etwas 
Positives  {ultima  realitas  Op.  Oxon.  IT.  d.  3.  qu.  6),  dass  das  In- 
dividuelle das  Vollkommnere  und  das  wahre  Ziel  der  Natur  sey. 
(Report.  Paris.  I.  d.  36.  qu.  4.)  Die  Individualität  wird  nun  von 
Duns  mit  verschiedenen  Namen  bezeichnet.  Nicht  nur  in  der  Ex- 
positio  ad  duod.  libr.  Met.  Ar., ^ die  man  wegen  der  oben  erwähn- 
ten Nachschrift  für  unächt  erklären  könnte,  sondern  auch  in  den 
Report,  Paris.  (IL  d.  12.  qu.  5)  kommt  der,  später  von  den  Sco- 
tisten  oft  angewandte  Ausdruck  haeceeitas  vor,  und  zwar  so  dass 
damit  bald  das  Einzeln-  und  Dieses -seyn  selbst,  bald  wieder  das, 
was  das  Einzelne  zu  diesem  macht,  verstanden  wird.     Andere  Aus- 

27* 


420  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

drücke  bei  Dims  sind:  imltas  siynata  ut  haec ,  hoc  siynaiam  hac 
sing}ilnrUn1e ,  indivuJuUas,  nntiira  ntomn  u.  a,  (Op.  Oxon.  IL  d.  3. 
qu.  4).  Der  stets  wiederkehrende  Vorwurf  gegen  Thotiuts  ist,  dass 
nach  diesem  was  ein  (juid  zu  einem  hoc  näher  bestimmt  (contrn- 
hlfj,  ein  Negatives  sey,  während- es  als  Positives,  Vervollkomm- 
nendes, zu  fassen  sey  (u.  a.  Op.  Oxon.  IL  d.  o,  qu.  6).  Im  Gegen- 
satz zu  dieser  (pantheisirenden)  Herabwürdigung  der  Einzelwesen 
soll  aber  nach  Dinis  nicht  so  weit  gegangen  werden,  wie  gewisse 
(atomisirende)  Vergötterer  derselben  thun.  Des  Bruders  Adam  Be- 
hauptung, dass  die  materiellen  Dinge  c.r  sc  oder  per  sc  Einzelwe- 
sen seyen,  erschchit  ihm  al)göttisch  und  nominahstisch  (Ibid.  qu.  1), 
Ersteres  weil  es  nur  Gott  zukommt,  dass  seine  (juidiUts  per  se 
haec  ist  (Report,  Paris.  IL  d.  3.  qu.  1),  Letzteres  weil  damit  ge- 
leugnet wird,  dass  ausser  der  Einzelheit  hi  den  Dingen  etwas 
wirklich  existire.  Das  Richtige  ist  nach  ihm,  dass  in  den  Dingen, 
welche  nicht  wie  Gott  ptiriis  actus  sind,  ihre  Einzelexistenz  etwas 
gleichsam  Zusammengesetztes  ist  (Report.  Paris.  IL  d.  12.  qu.  8). 
Mit  dieser  verschiedenen  Weise,  wie  die  cssfiifia  dhliui  und  wie 
die  snbslaulia  matcrialis  eine  und  haec  isl ,  hängt  nun  auch  zu- 
sammen, dass,  da  jene  den  drei  Personen  gemeinschaftlich  ist,  es 
in  Gott  ein  eoiinninw  gibt,  das  doch  realiter  hidlrUhnnn  (Op.  Oxon. 
IL  d.  3.  qu.  1),  während  in  dem  Menschen  zu  der  siiiynlaritas  die 
incommimlhUitas  hinzukommt  (Quodl.  qu.  19).  (In  dem  Opus  Oxo- 
niens.  IIL  dist.  I.  distinguirl  er  zwischen  dem  enmminiicahile  ut 
fjuod,  welches  nur  von  dem  sinyuUire  llUmitatum.  von  Gott,  prä- 
dich'f  werden  kann,  so  dass  also  jedes  geschaffene  Einzelwesen 
incommiinicahile  ut  rjtiod  sey.  Dagegen  eine  eommunicahUitas  ut 
quo  will  er  demselben  zugestehu.)  Wegen  dieses  Unterschiedes 
zeigt  Dil  HS  öfter  die  Neigung,  das  Wort  hidiridmiin  auf  das  Ge- 
biet zu  beschränken,  wo  es  auch  diridmuu  gibt  (Report.  Paris.  I. 
d.  23)  und  also  nicht,  Mie  das  oben  geschah,  das  götthche  We- 
sen Individuum  zu  nennen.  Wie  es  aber  genannt  werde,  immer 
bildet  das  individuelle  Seyu  die  Voraussetzung  für  die  Persönlich- 
keit: hidiiidnarl  prhis  est  i/i/am  personari  (Report.  Paris.  III. 
d.  \.  qu.  8)  gilt  vom  göttlichen  wie  vom  menschlichen  Seyn. 

6.  Geht  man  von  den  dialektischen  Untersuchungen  zu  den 
eigentlich  metaphysischen  über,  so  bestimmt  Dims  als  den  ersten 
Gegenstand  derselben,  so  wie  überhaupt  unseres  denkenden  Ver- 
standes das  eus.  Da  es  nämlich,  und  zwar  univocL  das  Prädicat 
von  Allem,  von  Gott,  von  Substanz,  von  Accidens  u.  s.  w.  ist, 
da  ferner  in  der  Metaphysik,  um  das  Daseyn  Gottes  zu  beweisen, 
von  dem  Seyenden  ausgegangen  wird,  so  ist  es  der  Begriff,  wel- 


III.    Verfallperiode.     Duns  Scotus.     §.  214,  6.  421 

eher  die  Priorität  vor  allen  anderen  hat.  (de  anim.  qu.  21.  Report. 
Paris.  I.  d.  3.  qu.  1.)  Da  cns  das  Gegentheil  von  non-cns,  am 
Meisten  nrm-er/s  aber  oder  ntJ/i!  das  ist,  was  sich  selbst  wider- 
spricht (Qiiodl.  qu.  3),  so  ist  der  Satz  der  Identität  von  jedem 
Seyu  gültig,  jedes  Seyn,  auch  das  göttliche,  demselben  unter- 
worfen. Die  incompos.sibHUas  conirariorum  ist  absolute  Nothwen- 
digkeit.  Obgleich  oberster  Begriff,  darf  doch  cns  nicht  eigentlich 
oberste  Gattung  genannt  werden,  hat  nur,  als  das  Alles  befassen- 
de, eine  der  Gattung  analoge  Stellung  (de  rer.  princ.  qu.  3).  Das 
cns  steht  nämlich  über  der  Gattung  der  Prädicabilien  und  Prädi- 
camente,  es  ist  Ircmsscendevs,  eben  so  wie  seine  Prädicate  der 
Einheit,  Wahrheit  u.  s.  w,  die  auch  transscendent  sind,  weil  sie 
vom  ens  gelten,  ehe  es  descendif  In  rierem.  i/enern  (Theorem.  14. 
Pteport.  Paris.  1.  d.  19.  Quodl.  qu.  o).  Das  ms  als  solches  ist  also 
weder  erste  Gattung  noch  höchste  Substanz  noch  höchstes  Acci- 
dens,  es  steht  als  das  Alles  Befassende  nicht  in,  sondern  über 
diesen  Gegensätzen.  Innerhalb  des  Seyenden  nimmt  die  unterste 
Stelle  die  Materie  ein.  Diese  darf  daher  nicht  als  blosse  Schranke 
gedacht  werden,  denn  da  wäre  sie  non-ens,  sondern  sie  ist  etwas 
Positives.  Auch  ohne  Form  ist  sie  etwas  Wirkliches  (Report.  Pa- 
ris. IL  d.  12).  Sie  ist  (ihsnhihim  f/iiid,  darf  nicht  als  ein  blosses 
Correlat  gedacht  werden,  wie  von  Seiten  derer  geschieht  welche 
sagen,  sie  könne  ohne  Form  gar  nicht  gedacht  werden  (Op.  Oxon. 
IL  d.  12.  qu.  2).  Damit  ist  aber  sehr  gut  vereinbar,  dass  sie  die 
Möglichkeit  neuer  Verwirklichungen  ist,  und  dass  es  einen  Zustand 
derselben  gebe,  welchem  keine  Verwirklichung  vorausgegangen  ist, 
wo  sie  also  zwar  actit;  aber  nullius  actus ,  das  Princip  der  Pas- 
sivität wäre  (de  rer.  princ.  qu.  11),  das  rein  Bestimmbare.  Das  ist 
sie  als  maleria  prmo-primn,  welche,  als  die  Empfänghchkeit  für 
jede  Form,  nur  von  dem  primum  ayens,  m  der  Schöpfung  der 
Dinge,  die  Form  erhält.  Die  maleria  senrndo-prima  wäre  dann 
die,  welche  in  der  Zeugung  geformt  wird  (in/annalur)^  die  materia 
lertio-prinia  die,  welche  anderen  Umformungen  unterliegt  u.  s.  w\ 
(de  rer.  princ.  qu.  7.  8).  Die  maleria  primo-prima  ist  daher  allen 
Dingen  gemeinschaftlich,  ohne  sie  sind  auch  die  Seelen  und  die 
Engel  nicht.  Wenn  darum  eine  Seele  die  Form  ihres  Körpers  ge- 
nannt wird,  so  darf  man  nicht. vergessen,  dass  sie,  dieses  infor- 
mans,  selbst  schon  eine  Substanz,  also  materia  informata,  Ver- 
bindung von  Materie  und  Form  ist  (Ibid.).  Darin  liegt  nun  die 
Möglichkeit,  dass  die  Seele  getrennt  von  ihrem  Körper  existiren 
kann.  Es  folgt  aber  daraus  auch,  dass,  da  ein  Engel  nie  mit 
einem  Körper  als  dessen  Form  verbunden  seyn  kann,  die  materia 


422  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

jrrimo- prima  im  Engel  anders  als  im  Menschen  mit  ihrer  Form 
verbunden  (anders  informirt)  seyn  muss  und  also  zwischen  Engeln 
und  abgeschiedenen  Seelen  ein  specifischer  Unterschied  Statt  findet. 
(Op.  Oxon.  II.  d.  1.  qu.  5.)  Wie  die  Materie  die  unterste,  so  nimmt 
Gott  die  oberste  Stelle  in  der  Reihe  der  ejifia  ein;  er  ist  das  We- 
sen, dem  jede  Vollkommenheit  zukommt,  das  eben  darum  über 
Alles,  was  nicht  er  selbst  ist,  hinausreicht  (de  prim.  omn.  rer. 
princ.  4).  Das  Daseyn  dieses  unendlichen  Wesens  kann,  weil  es 
keine  Ursache  hat,  auch  nicht  aus  einer  abgeleitet  d.  h.  nicht 
proptcr  (päd  oder  a  priori  bewiesen  werden.  Eben  so  wenig  aber 
darf  man,  wie  der  ontologische  Beweis  des  Auselm  dies  eigentlich 
thut,  das  Daseyn  desselben  als  ex  ierminia  gewiss  und  keines  Be- 
weises bedürftig  ansehn.  Sondern  es  gibt  eine  demonstratio  ipiia 
für  dieses  Daseyn  oder  einen  Beweis  a  posterior i.  aus  seineu 
Wirkungen  (,0p.  Oxon,  I.  d.  1.  2).  Dadurch  kommt  man  auf  das 
Daseyn  einer  ersten  Ursache  und  eines  höchsten  Zwecks,  <pio  ma- 
jh's  cogiiari  vefjiiit.  (Das  kosmologische,  teleologische  und  onto- 
logische Argument  ist  also  in  einer  eigenthümlichen  Weise  bei 
Diins  verschmolzen.)  Zu  diesem  Wissen  Gottes  ist  keine  überna- 
türliche Erleuchtung  nöthig,  es  ist  in  pirris  nainralibus  möghch 
und  ist,  weil  es  abgeleitet  oder  bewiesen  ist,  ein  wissenschaftli- 
ches (Op.  Oxon.  I.  d.  3.  qu.  4).  ,Der  Beweis  führt  aber  bloss  auf 
eine  oberste  Ursache,  dass  sie  die  allereinzige ,  dass  sie  allmäch- 
tig und  keines  Stoffes  bedürftig  sey,  das  entzieht  sich  dem  Be- 
weise (Op.  Oxon.  und  Rep.  Paris.  I.  d.  42.  Quodl.  qu.  7).  Durch 
ein  gleiches  Zurückschliessen  kann  auch  das  Wesen  Gottes  erkannt 
werden.  Alle  Dinge  enthalten  mindestens  das  cestiyium,  die  voll- 
koinmneren  sogar  die  imayo  Bei.  d.  h.  jene  sind  einem  Theile 
des  Göttlichen,  diese  dem  Göttlichen  ähnlich,  und  so  vermögen 
wir  aus  der  Selbstbetrachtung  ria  eminentiae  uns  zu  dem  Wissen 
vom  götthchen  Wesen  zu  erheben  (Op.  Oxon.  I.  d.  3.  qu.  5).  Die 
Psychologie  bahnt  also  den  Uebergang  von  der  Ontologie  zur  Theo- 
logie. 

7.  Der  hauptsächlichste  Dififerenzpunkt  zwischen  der  Psycho- 
logie des  TItomiis  und  Duns  ist  ihre  Ansicht  vom  Verhältniss  des 
Denkens  und  Wollens.  Beide,  obgleich  nniiire  in  der  Seele  ver- 
bunden, sind  doch  von  einander  und  von  der  Seele  wirldich  (/or- 
maiiter)  unterschieden  (Op.  Oxon.  IL  d.  16).  Nun  hatte  Thomas 
ihr  Verhältniss  so  gefasst,  dass  der  Wille  dem  Denken  folgen, 
und  das  erwählen  muss,  was  ihm  die  Vernunft  als  gut  darstellt. 
Dies  bestreitet  Dnns.  Kicht  nur,  dass  er  dem  Willen  die  Macht 
beilegt ,  sich  ganz  allein  zu  bestimmen  (Op.  Oxon.  IL  d.  25) ,  uu- 


III.    Verfallperiode.     Duus  Scotus.     §.  214,  7.  423 

tcr  Umständen  gegen  die  Vorschrift  der  Vernunft  zu  entscheiden 
(Disput,  subt.  9,  16),  sondern  er  weist  darauf  hin,  dass  ganz  im 
Gegensatz  zu  Thomas  man  sagen  müsse,  dass  sehr  oft  das  Den- 
ken dem  Willen  folgt,  z.  B.  wo  ich  zu  erkennen  strebe,  denken 
will  u.  s.  w.  Den  Instanzen  der  Gegner  gegenüber  nimmt  er  ein 
erstes  und  ein  zweites  Denken  an,  zwischen  welche  beiden  das 
Wollen  fällt.  Aber  auch  das  erstere  determinirt  den  Willen  nicht, 
denn:  rohrnhis  superior  csl  intp.Uccfv  (Rep.  Paris,  d.  42.  qu.  4). 
Der  Wille  fällt  ihm  ganz  mit  dem  lihernm  arhitrimn  zusammen; 
was  er  thut  ist  coiiCnnjens  et  critabile.  während  der  Intellect  der 
Nothwendigkeit  gehorcht.  (Op.  Oxon.  IL  d.  25.)  Dans  ist  der  ent- 
schiedenste Indeterminist;  der  Intellect  schafft  nach  ihm  nur  das 
Material  herbei,  der  Wille  aber  zeigt  sich  als  Freiheit,  d.  h.  als 
die  Möglichkeit  sich  für  Entgegengesetztes  zu  entscheiden  (Ibid.  I. 
d.  39).  Ja  diese  Freiheitslehre  wirkt  bei  ihm  sogar  auf  seine  Er- 
kenntnisstheorie zurück.  Zwar  der  Beginn  alles  Erkennens  kann 
in  sofern  ein  Empfangen  genannt  werden,  als  alles  Erkennen  die 
Sinnesempfindung  zu  seiner  hnsis  ei  seminarium  hat,  diese  aber 
nur  möglich  ist,  durch  Eindruck  und  Bild  (spcdes)  des  Gegenstan- 
des. Allein,  abgesehn  davon  dass  dem  so  ist  nur  in  Folge  des 
Sündenfalls,  so  ist  auch  so  jenes  Empfangen  nicht,  wie  Thomas 
will,  ein  blosses  Leiden.  Gegenstand  und  erkennendes  Subject 
cooperiren  dabei,  jener  ist  nicht  alleinige,  er  ist  nur  Mit-L"'^rsache, 
Gelegenheit,  für  das  in  unserem  Geist  entstehende  Bild.  (Op.  Oxon. 
I.  d.  3.  qu.  4.  7  8.  Disput,  subt.  8.)  Noch  mehr  tritt  die  Selbst- 
thätigkeit  des  Geistes  hervor  bei  den  folgenden  Stufen,  durch 
welche  der  Process  des  Erkennens  hindurchgeht.  Da  nämlich  die 
Bilder  nach  dem  Acte  der  Aneignung  in  dem  Verstände  bleiben 
zum  grösseren  Theile  (wieder  wegen  des  Sündenfalls)  als  phanias- 
nidta  (de  anüu.  qu.  17),  aber  doch  zum  Theil  auch  als  specles 
welche  das  Intelhgible  repräsentiren ,  beide  aber  durch  das  Ge- 
dächtniss  hervorgerufen  werden  können,  so  ist  dieses  offenbar  eine 
verändernde,  ja  wie  es  bei  der  Production  der  Worte  beweist,  es 
ist  wirklich  eine  erzeugende  Kraft  (Report.  Paris.  IV.  d.  45.  qu.  2). 
Noch  viel  mehr  zeigt  sich  die  Selbstthätigkeit  in  dem  hifellecfus 
ageiis.  derjenigen  Kraft  der  Seele,  die  sich  zu  den  sinnlichen  Ab- 
bildern verhält  wie  das  Licht  zu  den  Farl)en,  zu  dem  inleUectus 
posslbilis  wie  das  Licht  zum  Auge,  zum  wirklichen  Erkennen  wie 
das  Licht  zum  Sehen  (de  rer.  princ.  qu.  14),  und  die  aus  den 
Phantasmen  wirkliche  Erkenntnisse  macht.  Endlich  aber  kommt 
zu  diesen  Acten  noch  ein  reiner  Willensact,  der  Act  nämlich  der 
Zustimmung,  der  nur  in  den  wenigen  Fällen,  wo  Etwas  e.r  tcrminis 


424  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

gewiss  ist ,  uothweuclig  erfolgt ,  sonst  aber ,  wenn  auch  nicht  ganz 
behebig,  so  doch  auch  nicht  ohne  unser  Wollen  (Disp.  subt  9). 
Da  nun  dieses  Zustimmen ,  wo  die  Sache  nicht  gewiss  und  es  also 
nicht  nothwendig  ist,  Glaube  (fkles)  ist,  so  folgt,  dass  sehr  vie- 
les Wissen  sich  auf  fides  stützt,  ja  dass  das  meiste  Wissen  Voll- 
endung des  Glaubens ,  darum  aber  mehr  als  er,  ist  (Report.  Paris. 
Prol.  qu.  2).  Dieser  \orzug  des  Wissens  schliesst  nicht  aus,  dass 
in  anderer  Beziehung  der  Glaube  dem  Wissen  vorzuziehn  ist  (Op. 
Oxon.  III.  d.  2d).  Es  ist  nämlich  zu  unterscheiden  die  //V/e*  uc- 
qitisUa,  die  hinsichtlich  der  kirchlichen  Lehren  auch  der  ünge- 
taufte  haben  kann,  wenn  er  denen  nicht  misstraut,  die  ihm  die 
Wahrheit  derselben  betheuern;  und  die  fdcs  in/iisa,  durchweiche 
wir  der  Gnade  theilhaft  werden.  Während  jene,  als  Beistimmen 
ohne  zwingende  Gründe,  ein  Willensact,  muss  in  dieser  letzteren 
die  Passivität  anerkannt  werden,  die  Thomas  irriger  Weise  in 
alles  Glauben,  darum  aber  auch  in  alles  Wissen,  setzt  (Op.  Oxon. 
I.  d.  3.  qu.  7).  Wäre  die  fidcs  ivjnsa  jemals  mit  dem  Bewusst- 
seyn  der  fidcs  itc(]iiisUa  begleitet,  so  wäre  dies  ein  Zustand  des- 
sen, wie  es  scheint,  der  Mensch  hienieden  nicht  fähig  ist  (Quodl. 
qu.  14).  (Aus  diesem  Satze  möchte  man  schhessen,  dass  Dinis 
aus  dem  Glauben,  der  Gnadengabe  ist,  alle  Reflexion  ausgeschlos- 
sen haben  will.) 

8.  Aus  diesen  psychologischen  Lehren  werden  nun  Rückschlüsse 
auf  das  göttliche  Wesen  gemacht,  das  also  gleichfalls  ex  jmris 
ntiiiindihiis ,  aber  ebenfalls  nur  a  posteriori  erkannt  werden  kann. 
(Theorem.  14.  Report.  Paris.  L  d.  2.  qu.  7.)  Darum  ist  unser  Wis- 
sen vom  göttlichen  Wesen  nicht  hituitiv,  sondern  abstractiv  (Ibid. 
Prol.  qu.  2).  Wie  in  uns  selbst  der  Unterschied  zwischen  inlel- 
lectiis  mit  seinem  Mittelpunkte  memoria.^  und  rohmtas  sich  ge- 
zeigt hatte ,  so  muss  auch  in  Gott  Verstand  und  Wille  unterschie- 
den werden,  von  denen  ieucv  natHrdti/erj  dieser /<6eye  wirkt.  Je- 
ner ist  der  Grund  und  Inbegritf  alles  dessen  was  nothwendig,  die- 
ser causirt  alles  Zufällige  und  causirt  es  coiüivgenter  (Rep.  Paris. 
IL  d.  1.  qu.  3).  Die  erste  Wurzel  aller  Zufälligkeit  ist  dieses  Ver- 
mögen der  Zufälligkeit  in  Gott  (Ibid.  I.  d.  40).  Da  nun  mit  die- 
sen beiden  Bestimmungen  bei  Dirns  die  Dreieinigkeitslehre  nahe 
zusammenhängt,  indem  der  Sohn  als  Vcrbum  seinen  Grund  in 
der  inemorUt.  perfecta  hat,  dagegen  der  h.  Geist  in  der  durch  den 
Willen  vermittelten  Spiratio  beider  ersten  Personen  (Report.  Pa- 
ris. I.  d.  11.  Op.  Oxon.  I.  d.  10),  so  scheut  er  sich  nicht,  dem 
natürlichen  Menschen  die  Fähigkeit  beizulegen,  die  Dreieinigkeit 
zu  erkennen  (Quodl.  qu.  14).    Diese  einen  göttlichen  Verhältnisse 


III.  Verfallperiode.     Duns  Scotus.     §.  214,  8.  425 

(rationi(liu) ,  durch  welche  die  drei  Personen  sind,  sind  die  er- 
sten Folgerungen,  welche  sich  aus  dem  göttlichen  Wesen  ergeben, 
sind  also  aus  den  erkannten  essentlallbns  abzuleiten  (Ibid.  qu.  1). 
Anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  jedem  Verhältniss  Gottes  ad 
extra.  Da  alles  ausser  Gott  Seyeude  aus  Gottes  Willen  stammt, 
der  contiiigcnter  cansat  (Op.  Oxon.  I.  d.  39),  so  kann  durchaus 
nicht  nachgewiesen  werden,  dass  Etwas  ausser  Gott  seyn  müsse. 
Nur  sein  eignes  Wesen  will  Gott  nothwendig,  alles  Uebrige  ist 
nur  secundario  volitam  (Rep.  Paris.  I.  d.  17).  Dass  Gott  Anderes 
hätte  schaffen  können  als  er  schuf,  dass  er  Anderes  thue  als  er 
thut,  darin  hegt  keine  incomposslhUitas  contrarlonim  (Rep.  Par. 
I.  d.  43.  qu.  2),  man  darf  daher  nur  sagen:  in  dem  von  Gott  be- 
hebten Gange  der  gewöhnhchen  Ordnung  wird  dies  oder  jenes  ge- 
wiss geschehn  (Ibid.  IV.  d.  49.  qu.  11).  Eine  solche  gewöhnliche 
Ordnung  aber  anzunehmen,  dazu  nöthigt  den  D»wä  die  Unterschei- 
dung der  Schöpfung,  d.  h.  des  Ueberführens  von  Nichts  zu  Seyn, 
von  der  Erhaltung  als  dem  Ueberführen  von  Seyn  zu  Seyn.  Er 
nennt  beide  zwei  verschiedene  Relationen  Gottes  zu  den  Dingen 
(Quodl.  qu.  12)  oder  vielmehr  der  Dinge  zu  Gott  (Op.  Oxon.  I.  d. 
30.  qu.  2).  Gottes  Wollen  der  Dinge  geht  allerdings  die  Idee 
derselben  in  dem  göttüchen  Verstände  voraus,  der  sie,  als  Ein- 
zelne, denkt.  Diese  Ideen  wirken  aber  durchaus  nicht  auf  Gott 
bestimmend,  am  Wenigsten  so,  dass  er  Etwas  erwählt,  weil  es 
das  Beste.  Vielmehr  nur  weil  er  es  erwählt  wird  es  das  Beste 
(u.  A.  Op  Oxon.  III.  d.  19).  Ganz  wie  die  Schöpfung,  so  ist  auch 
die  Menschwerdung  und  die  Sendung  des  h.  Geistes  ein  Werk  nur 
des  göttlichen  Beliebens.  Gott  hätte  auch,  wenn  er  gewollt  hätte, 
anstatt  Mensch  Stein  werden  können.  So  gewiss  es  ist,  dass  die 
Menschwerdung  auch  ohne  Sündenfall  Statt  gefunden  hätte,  so 
lässt  es  sich  doch  nicht  beweisen.  Eben  so  wenig,  dass  die  Er- 
lösung durch  den  Tod  Christi  Statt  finden  musste.  Es  hat  eben 
Gott  beliebt ,  dass  der  Tod  des  Unschuldigen  das  Lösegeld  werde. 
(Op.  Oxon.  III.  d.  7.  qu.  1.  —  d.  20.  —  IV.  d.  15.)  (An  diese  Be- 
hauptung schliessen  sich  dann  später  die  Streitigkeiten  mit  den 
Thomisten  über  das  Verdienst  Christi.)  Alle  jene  Lehren  bedür- 
fen, damit  wir  ihrer  gewiss  werden,  der  ffiaüa  iiifusa,  sind  Glau- 
bensartikel, die  keinen  wissenschaftlichen  Beweis  zulassen  (Ibid. 
d.  24).  Ganz  dasselbe  gilt  von  dem  praktischen  Theil  der  Otfeii- 
barung.  Gut  ist  was  Gott,  und  nur  weil  es  Gott  vorschreibt,  ist 
es  gut.  Hätte  er  Todtschlag  oder  ein  anderes  Verbrechen  vorge- 
schrieben, so  wäre  es  kein  Verbrechen,  es  wäre  nicht  Sünde 
(Ibid.  d.  37). 


426  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

9.  Wo  der  Wille  im  Sinne  des  Indeterminismus  so  betont 
wird,  da  muss,  viel  mehr  als  bisher,  ein  Gegensatz  hervortreten 
gegen  das  Aristotelische  Ueber- Alles -stellen  der  Theorie,  und  ge- 
gen den  Antipelagianismus  des  Aiigvsliv ,  d.  h.  gegen  die  beiden 
Hauptlehrer  der  bisherigen  Scholastik.  Demgemäss  hört  man  Duns 
sagen:  der  Philosoph  der  setze  freilich  die  Seligkeit  in  das  Er- 
kennen, der  aber  beschäftige  sich  auch  nur  mit  dem  Diesseits, 
dagegen  sey  die  eigentlich  christliche  Ansicht  die  theologische, 
nach  welcher  die  Seligkeit  in  der  Liebe  bestehe,  also  im  Wollen. 
Eben  deswegen  erscheint  es  ihm  schon  fast  zu  quietistisch,  wenn 
sie  als  deledatio  gefasst  wird  (Report.  Paris.  IV.  d.  49.  qu.  1.  2.  6). 
(Wie  er  sich  mit  dem  Bibelwort  abfindet,  ist  oben  schon  erwähnt.) 
Zwar  reicht  der  Wille  allein  zur  Seligkeit  nicht  aus,  um  selig  zu 
werden;  er  bedarf  der  Unterstützung  durch  die  Eingiessung  der 
theologischen  Tugend  clnritas  (Ibid.  qu.  10).  Al)er  diese  Eingies- 
sung geschieht  nicht  ohne  unser  Zutlmn.  Christus  ist  die  Thüre, 
und  eröffnet  den  Zugang  zum  Heil;  aber  nicht  die  Thüre  bringt 
hinein,  sondern  das  Hineintreten  (Op.  Oxon.  III.  d.  9).  Bei  sol- 
chem Synergismus  ist  es  ganz  erklärlich,  wenn  Duns  den  Glauben, 
welcher  das  Heil  aneignet,  ein  Verdienst  nennt,  welches  belohnt 
werden  wird.  Nur  in  der  Barmherzigkeit  entscheidet  lediglich  Gott, 
bei  seiner  Gerechtigkeit  auch  die  That  des  Menschen  (Report.  Pa- 
ris. IV.  d.  46).  Ja  man  kann  es  nicht  einmal  absolut  unmöglich 
nennen,  dass  der  Mensch  durch  sein  moralisches  Leben  selig  werde, 
denn  es  ist  dies  kein  innerer  Widerspruch,  nur  nach  dem  einmal 
geordneten  Lauf  der  Dinge  geht  es  nicht  (Ibid.  d.  49.  qu.  11). 
Es  ist  klar,  dass  die  Annäherung  an  den  Pelagianismus  hier  sehr 
weit  geht. 

10.  Wie  die  Anhänger  des  Thomus  sich  vor  Allen  unter  den 
Dominicanern  finden,  so  die  des  Duns,  die  Scotisten,  fast  nur 
unter  den  P'ranciscanern.  Unter  seinen  persönlichen  Schülern 
nimmt  die  erste  Steile  ein  Franciscus  Mayro  (de  Mayronls),  den 
Einige  fast  dem  Meister  gleich  stellen,  und  für  dessen  Meister- 
schaft im  Disputiren  dies  spricht,  dass  er  der  Erfinder  jenes  actus 
Sorboniciis  oder  der  ^ßorbonica"  wurde,  bei  der  einen  ganzen 
Tag  lang  ununterbrochen,  ohne  Präses,  disputirt  ward.  Sein  Com- 
mentar  zu  den  Sentenzen  ist  in  Venedig  1520  erschienen.  Der 
Arragonese  Andreas  mit  dem  Beinamen  des  Doctor  mclli/lnns, 
der  Oxforder  Jo/f.  Dimihleiou ,  Gerard  Odo  der  achtzehnte  Ge- 
neral des  Franciscaner  -  Ordens ,  Joannes  Bassolls  der  doctor  or- 
nuiissimiis,  Nicolaiis  von  Lyra,  Petrus  von  Aquila,  der  Oxforder 

Walter  Bnrleiglf  der  doctor  planus  et  perspicmiSf  der  1357  starb, 


111.  Vertallpieriode.     Nominalismus.     §.  215.  42  < 

Jolionnes  Jaiuluiuis ,  der  grösste  Averroist  seiner  Zeit,  weicleu  be- 
sonders oft  als  Scotisten  angeführt.  Später  ist.  zum  Theil  der 
Kampf  gegen  den  Nominalismus,  noch  mehr  aber  die  Gefahr,  die 
sowol  den  Scotisten  als  den  Thomisten  von  den  neuen  Richtungen 
in  der  Philosophie  droht,  der  Grund,  warum  sie  ihre  Streitigkei- 
ten vergessen ,  und  warum  Yennittelmigsversuche  zwischen  beiden 
entstehn. 

§•  215. 
Wenn  Duns  nicht  nur  den  TItomus.  sondern  eben  so  oft  des- 
sen Gegner  llciurich  von  Gent  bekämpft,  wenn  er  nicht  nur  die 
beiden  berühmten  Dominicaner,  sondern  eben  so  oft  die  glänzen- 
den Sterne  des  eigenen  Ordens,  Alexander  und  Bovarciftiira,  be- 
streitet, ja  wenn  er  selbst  dort,  wo  er  in  der  Lehre  mit  dem  An- 
gegriffenen übereinstimmt ,  eben  so  eifrig  polemisirt  als  im  Gegen- 
falle, so  hat  dies  seinen  Grund  in  dem  oben  (§,  213)  Gesagten, 
dass  ihm  nicht  das  zu  Bev.eisende,  sondern  das  Beweisen  zum 
Object  geworden  ist.  Er  steht  darum  aiif  einem  wesenthch  ande- 
ren Staudpunkt  als  Albert  und  TLonuis.  Wird  dies  übersehn,  so 
muss  mau  ihn  weit  unter  beide  stellen:  unter  Thomas,  weil  in 
den  meisten  Lehren,  wo  Duus  von  ihm  abweicht,  er  zu  Albert 
zurückgeht;  unter  Thomas  und  Albert^  weil  die  Kluft  zwischen 
Theologie  und  Philosophie  bei  ihm  viel  grösser  ist  als  bei  ihnen. 
Dagegen  bei  richtiger  Würdigung  seiner  Stellung  A>ird  man  erken- 
nen, dass  er,  indem  er  über  ihr  Thun  reflectirt,  über  sie  hinaus- 
geht, und  darum  bei  ihm  nicht,  wie  bei  Albert,  die  Philosophie 
und  Theologie  noch  nicht,  sondern  dass  sie  nicht  mehr  zu- 
sammenstimmen. Die  Eintracht  zwischen  beiden  stützt  sich  darauf, 
dass  die  wissenschaftlichen  Beweise  im  Dienste  der  Lehre  standen. 
Werden  sie  zui'  Hauptsache  gemacht,  so  werden  sie  aus  jedem, 
also  auch  diesem,  Dienstverhältniss  herausgehoben.  Trotz  dem 
also,  dass  Dints  der  treuste  Sohn  der  römischen  Kirche  ist,  hat 
er  die  scholastische  Philosophie  auf  einen  Punkt  gebracht,  wo  sie 
Rom  den  Dienst  aufkündigen  muss.  Dass  diese  Wendung  der 
Scholastik  sich  al:  ein  siegreiches  Hervortreten  des  Nominahsmus 
gezeigt  hat,  darf  nicht  befremden.  Schon  darum  nicht,  weil  (s. 
§.  15b)  der  Nominalismus  überhaupt  antikirchlich  ist.  Dann  aber 
weil  die  beiden  Hauptsätze,  welche  Dans  dem  Thomismus  entge- 
genstellte, die  Grundpfeiler  für  den  Nominalismus  des  vierzehnten 
Jahrhunderts  geworden  sind :  dass  das  individuelle  Seyn  das  wahre 
und  vullkommene,  und  dass  Gott  in  völhg  ungebundener  Willkülii- 
thätig  sey,  hat  Oeeam  so  mit  einander  verbunden,  dass  beide 
Sätze  sich  gegenseitig  und  seine  ganze  Philosophie  und  Theologie 


428  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

stützen.  Weil  die  Zeit  des  Nominalismus  gekommen  ist,  deswe- 
gen sind  es  jetzt  (ganz  anders  als  zu  Ansclms  Zeit)  gerade  die 
geistig  Begabteren,  die  Neigung  zu  ihm  zeigen.  Der  Thomismus 
steht  ihm  ferner,  daher  wird  Dur  and  von  St.  Pour^ain,  gest.  1333, 
durcli  seinen  üebergang  zum  Nominalismus  aus  einem  Verehrer 
zu  einem  Bekämpfer  des  Tliomas.  In  seiner  Schrift  zu  den  Sen- 
tenzen (Lyon  1569)  und  einer  anderen  de  statu  animarum  hat  er 
den  Satz  ausgesprochen:  Individuell  seyii  heisse  überhaupt  seyu. 
Der  Scotismus  führt  sichtbarer  dem  Nominalismus  zu,  darum  gilt 
Peirns  Airreolns,  der  als  Lehrer  in  Paris  wirkte  und  endlich  als 
Erzbischof  von  Aix  im  J.  1321  starb,  für  einen  Anhänger  des 
Dans,  auch  nachdem  er  sich  ganz  nominalistisch  ausgesprochen 
hat.  Unverbürgt  ist  die  Sage,  dass  Orvams  Unterricht  den  Du- 
rand zum  Nominalisten  gemacht  habe.  Eine  andere  macht  den 
Anreohis,  vielleicht  aus  einem  Mitschüler ,  zum  Lehrer  des  Occam. 
Sie  ist  nicht  glaubwürdiger  als  jene. 

§.  216. 
Wilhelm  von  Occam. 

1.  Wllhehn.  nach  seinem  Geburtsort  Ockam  oder  Occam  in 
der  Grafschaft  Surrey  zubenannt,  soll,  nachdem  er  im  Merton 
College  in  Oxford  studirt  und  ein  Pfarramt  bekleidet  hatte,  in  den 
Franciscaner- Orden  getreten  und  da  ein  Zuhörer  des  Dinis  ge- 
worden seyn,  später  aber  Philosophie  und  Theologie  in  Paris  ge- 
lehrt haben.  Seine  Neucmngen  in  beiden  Wissenschaften  haben 
ihm  den  Ehrennamen  des  rencrabUis  inceplor ,  der  Scharfsinn, 
den  er  dabei  entwickelte,  den  des  docior  innnc'dniis  eingebracht. 
In  dieser  Zeit  wairde  wohl  geschrieben:  Super  quatuor  libros  Sen- 
tentiarum  (Lyon  1495  foL),  worin  aber  nur  das  erste  Buch  in  al- 
len seinen  Distinctionen  commentirt  wird,  die  Quotlibeta  Septem 
(Strassb.  1491 ,  w^elche  Ausgabe  auch  den  Tractatus  de  sacramento 
altaris  enthält),  Centilogium  theologicum  (Lyon  1495)  und  die 
commentirenden  Schriften  zu  Porphyr'nis  und  den  beiden  ersten 
Schriften  des  Organen,  welche  unter  dem  Titel  Expositio  aurea 
super  artem  vcterem  in  Bologna  von  Marcus  von  Benevent  1496 
herausgegeben  sind,  endlich  die  im  J,  1305  geschriebene  Disputa- 
tio  inter  clericum  et  militem  (Paris  1598;  auch  in  Goldast  Mo- 
narchia  Bd.  I  p.  13  ff.) ,  worin  er  die  Anmassungen  Bonifacins 
des  Achten  und  überhaupt  die  weltliche  Herrschaft  der  Päpste  an- 
greift. Auch  physikalische  Schriften  des  Aristolelcs  hat  er,  wie 
man  aus  seiner  Logik  erfiihrt ,  commentirt ;  es  ist  aber  nichts  der 
Art  bekannt  gemacht  worden.     Später  als  diese  Schriften  ist  auf 


III.  Verfallperiode.     Occam.     §.  216,  1.  2.  429 

Bitteil  eines  Ordeusbruders,  Adam,  verfasst  Tractatus  logices  in 
tres  partes  divisus  Paris  1488  (auch  als  Summa  logices  ad  Ada- 
mum  citirt),  in  welchem  die  logischen  Lehren,  kürzer  als  in  den 
commentirenden  Aufsätzen  (und  doch  zugleich  vollständiger,  weil 
er  hier  auch  die  ars  nova  und  moderna  berücksichtigt,  d.  h.  die 
später  bekannt  gewordenen  Aristotehscheu ,  so  wie  die  durch  die 
Bj'Zantiuer  in  Cours  gekommenen  Schriften),  zusammen  gestellt 
wurden.  Dann  scheint  er  sich  ganz  auf  kirchhch  -  politische  Fra- 
gen geworfen  zu  haben.  Im  Einverständniss  mit  dem  strengereu 
Theil  seines  Ordens  (den  Spiritif(t!cs)  hatte  er  von  jeher  aus  der 
Armuth  Christi  und  der  Apostel  gefolgert,  dass  der  Papst  keine 
weltliche  Macht  haben  solle.  Daran  schloss  sich  später  bei  ihm 
die  Ueberzeugung ,  dass  wie  in  weltlichen  Dingen  der  Papst  den 
Fürsten,  so  in  geistlichen  der  Kirche  unterworfen  seyii  müsse, 
eine  Ansicht,  in  der  er  durch  die  Parteinahme  des  Inhabers  der 
päpstlichen  Würde  gegen  die  Splritnules  immer  mehr  bestärkt 
ward.  Der  Dialogus  in  tres  partes  distinctus  (Paris  147G)  nebst 
den  Nachträgen  dazu,  dem  Opus  nonaginta  dierum  (Lyon  1495) 
und  dem  Compendium  errorum  Joannis  papae  XXII  (Lyon  1495), 
so  wie  seine  Quaestiones  octo  de  potestate  summi  pontificis  (Lyon 
1496)  enthalten  seine  Ansichten,  die  iu  dem  1342  geschriebenen, 
bei  Goldüsl  (1.  c.  p.  31)  zu  lesenden  Tractatus  de  jurisdictione 
imperatoris  in  causis  matrimonialibus,  wenn  anders  derselbe  von 
ihm  seyn  sollte,  noch  überboten  werden.  Ein  Kerker  in  Avignou 
war  die  Folge  seiner  Polemik.  Er  entzog  sich  ihm  im  J.  1328 
durch  die  Flucht  und  fand,  wie  schon  früher  seine  Ordensbrüder 
Jancfiinus  und  Marsiliiis  von  Padua,  Schutz  bei  Liubtiy  dem 
Bayern  iu  München,  wo  er  im  J.  1347  (nach  Anderen  einige  Jahre 
später  in  Cariuola  im  Neapohtanischen)  gestorben  ist. 

2.  Da  kein  Scholastiker  seit  Ahähird  mit  solcher  Vorliebe 
wie  Willi elm  sich  dem  Studium  der  Logik  hingegeben  hat,  die 
er  als  omnium  urtiiim  aptissimam  insirumentum  bezeichnet,  und 
deren  Vernachlässigung  er  die  Entstehung  der  meisten  Irrthümer 
auch  in  der  Theologie  zuschreibt,  so  beginnt  billig  mit  ihr  die 
Darstellung  seiner  Lehre.  Zum  Leitfaden  dient  der  Tractatus  lo- 
gices; ausserdem  die  Quotlibeta  und  die  Erläuterungen  zu  den 
Sentenzen.  Besonders  die  zur  zweiten  Distinctiou  des  ersten  Bu- 
ches, bei  welchem  es  ja  traditionell  geworden  war,  die  Frage  we- 
gen der  UniversaUen  abzuhandeln.  Als  eine  theoretische  Frage 
gehört  dieselbe  eigentlich  nicht  in  die  Logik,  denn  diese  ist  nach 
Wilhelm,  ganz  wie  die  Grammatik  und  die  mechanischen  Künste, 
eine  praktische  Disciplin,  eine  Kunst.    (So  Expos,  aur.  Prooem.) 


430  Mittelalterliche  Pliilosopliie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Dennoch  nmss,  um  logische  Fehler  zu  vermeiden,  in  das  meta- 
physische Gebiet,  wo  diese  Frage  eigentlich  hingehört,  hinüber 
geblickt  werden.  Für  das  eigentlich  logische  Gebiet  ist  nun  ent- 
scheidend der  Satz :  Lofjico  non  fractat  de  rehvs  qvae  nov  sunt 
s}(jv(i  (Quoth  V,  5).  Unter  einem  Zeichen  versteht  WilheJm  was 
anstatt  eines  Anderen  gilt.  Signipntre  oder  Importarp  nUipiJd, 
slnrc  und  besonders  supponcrc  pro  ullrpro  sind  die  Ausdrücke, 
durch  welche  diese  Vertretung  bezeichnet  wird.  Zuerst  ist  nun 
zu  unterscheiden  zwischen  natürlichen,  d.  h.  unwillkühiiich  ent- 
stehenden, und  beliebigen  ((ttJ  p'ac'üinn  instiiiiUt)  Zeichen.  Zu 
den  erstem  gehören  nun  unsere  Gedanken  von  den  Dingen,  welche 
eben  so  unwillkührlich  entstehen ,  wie  der  Seufzer  als  Zeichen  des 
Schmerzes  oder  auch  der  Rauch,  der  das  Feuer  anzeigt.  Die  Ge- 
danken sind  Zustände  der  Seele  und  daher  werden  passioncs  oder 
tulcntioncs  (inimac  und  voncoptiis ,  mtpHectns .  intcllertinnes  ve- 
rum als  gleichbedeutende  Ausdrücke  genommen.  Dass  diese  Vor- 
gänge in  unserem  Geiste  eben  so  wenig  eigentliche  Abbilder  (spr- 
ck's)  der  Dinge  sind,  wie  der  Seufzer  vom  Schmerz  oder.der  Rauch 
vom  Feuer,  wird  von  Willichn  stets  eingeprägt.  (Vgl.  Expos, 
aurea-de  specie.)  Wenn  er  sie  aber  deinioch  simllltifd/ucs  rennn 
nennt,  so  reclitfertigt  er  dies  damit,  dass  sie  in  dem  esse  ohje- 
vüviim .  d.  h.  im  roijnosci  oder  in  dem  Bereiche  des  Gedachten, 
dieselbe  Rolle  einnelimeu,  wie  die  von  ihnen  bezeichneten  Dinge 
im  esse  snhjevdriim  .  d.  h.  im  selbststäudigen  von  unserem  Den- 
ken unabhängigen  Seyu  (ad  I  Sentt.  2,  8.  Tract.  log.  I,  12).  Von 
diesen,  durch  die  Dinge  unwillkühilicli  in  uns  hervorgerufenen 
Zeichen  ihrer  Gegenwart  sind  nun  zweitens  die  Zeichen  unter- 
schieden, welche  (id  plucitiini  {vMict  orvOi'/j^r  bei  Aristoteles ,  s. 
oben  §.  86,  8)  dazu  bestimmt  wurden  Etwas  anzuzeigen  oder  zu 
bedeuten.  Das  sind  die  Wörter,  die  roces  oder  nomin a,  die,  v/eil 
in  ihnen  eine  intentio  (inimne  ausgesprochen  und  also  angezeigt 
wurde,  eigentlich  Zeichen  von  Zeichen  sind  (Tract.  log.  I,  11). 
Da  nun  die  Wörter  nicht  nur  gesprochen,  sondern  auch  geschrie- 
ben werden,  so  sind  also  dreierlei  signa  oder  si(jnijieanii<i  zu  un- 
terscheiden: coneeptd  s.  mentalia ,  prolatu  s.  vocali<( ,  endlich 
scripta.  Wäre  beim  Sprechen  und  Schreiben  die  Mittheilung  der 
Gedanken  der  einzige  Gesichtspunkt,  so  müssten  grammatische 
und  logische  Formen  sich  ganz  decken.  Dass  dies  nicht  der  Fall 
ist,  hat  nach  WiHie'm  seinen  Grund  darin,  dass  viele  gramma- 
tische Formen  nur  dem  Schmuck  und  der  Schönheit  zu  Gefallen 
da  sind.  Dass  Synonymen  nicht  immer  gleichen  Geschlechts  sind, 
ist  ihm  einer  der  Beweise  dafür,  dass  dem  grammatischen  genns 


m.  Verfallperiode.     Occam.     §.  216.  2.  3.  431 

keiu  logisches  Analogon  entspricht.  Dagegen  sey  der  Unterschied 
z^Yischen  Singular  und  Plural  nicht  nur  vocal,  sondern  auch  men- 
tal (Quoth  V,  8  u.  a.  a.  0.).  Weil  jenes  Auseinanderfallen  mehr 
nur  Ausnahme,  deswegen  ist  die  Eintheilung  der  Logik  zugleich 
von  grammatischer  Geltung.  Zuerst  sind  nämlich  die  einfachsten 
Bestandtheile  eines  jeden  Gedanken-  oder  Wörtercomplexes  zu 
betrachten,  die  tennini ,  dann  die  einfachsten  Verbindungen  der- 
selben ,  die  proposUioiies ,  endlich  aber  die  Begründung  derselben, 
so  dass  der  dritte  Theil  die  Ueberschrift  de  urgumeiiUdione  erhält. 
3.  Der  wichtigste,  für  die  Ansicht  WUl.elms  entscheidende, 
Theil  seiner  Logik  ist  der  erste,  welcher  die  Termini  abhandelt. 
Mit  Uebergehung  der  Unterscheidung  dessen,  was  im  weiteren, 
von  dem  was  im  engeren  Sinne  Tenniuas  seyn  kann,  wo  auch 
der  bei  den  mittelalterlichen  Logikern  so  mchtigc  Unterschied 
der  ('(itheyrcnmald  und  siinKilheyrennKila  (um  seine  barbarische 
Schreibart  beizubehalten)  zur  Sprache  kommt,  d.  h.  der  Wörter, 
die  für  sich,  und  derer,  die  nur  mit  einer  Ergänzung  einen  Be- 
griti'  fixireu,  werde  hier  zuerst  der  Unterschied  tixirt  zwischen 
einem  lerminvs  primae  und  einem  senmdae  intentionis.  Unter 
dem  ersteren  ist  der  achis  intelliyendi  zu  verstehn ,  der  eine  res, 
unter   dem   zweiten   einer,   der  ein  .siynuin  bezeichnet   (Tract.  log. 

1,  n.  Quoth  IV,  19).  So  einfach  diese  Unterscheidung  zu  seyn 
scheint ,  und  so  klar  es  ist ,  dass  durch  Reflexion  auf  meine  Be- 
griflsbildung  ich  nur  einen  concepfas  secnndne  iidenHonis  erhalten 
kann ,  so  muss  mau  sich  doch  hüten ,  den  Kreis  der  prima  inteutio 
zu  sehr  zu  beschränken.  Nicht  nur  Solches,  was  ausserhalb  des 
Geistes  (extra  animam,  extra  intel/ectiiih,  auch  wohl  extra  schlecht- 
hin) existirt,  ist  eine  res,  sondern  auch  geistige  Vorgänge,  Lei- 
denschaften u.  s.  w. ,  deren  Seyn  nicht  mit  dem  cognonci  zusam- 
menfällt, sind  res,  haben  ein  subjectives,  d.  h.  nicht  bloss  prädi- 
catives  Seyn,  und  geben  also,  wenn  sie  gedacht  werden,  einen 
coRcepfns  primae   intentionis  (vgl.  Tract.  log.  I,  40.   ad  I  Sentt. 

2,  8).  Dem  Ihiterschiede  der  ersten  und  zweiten  Litention  bei 
den  Begriffen  entspricht  die  erste  und  zweite  impo.sitio  bei  den 
Namen ,  und  die  Wörter  „Stein"  und  „Fürwort"  können  diesen  Un- 
terschied fixiren  (Tract.log.  I,  11).  Noch  wichtiger  als  diese  Un- 
terscheidung der  Intentionen  und  Impositiouen  ist  die  der  ver- 
schiedenen Suppositionen  oder  Vertretungen  des  Gegenständlichen. 
Die  siippositio  (i.  e.  pro  aliis  positio  Tract.  log.  I ,  G3)  ist  ver-  - 
schieden  so  wol  dort,  ayo  schweigend,  als  wo  laut  gedacht,  d.  h. 
gesprochen,  wird.  In  den  beiden  Sätzen  homo  est  unimal  und 
liomo  est  substantirnm  steht  das  Wort  homo  einmal  für  ein  Dins\ 


432  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

das  andere  Mal  nur  für  das  Wort  homo  selbst;  ähnlich  geht  es 
nun  auch  bei  einem  jeden  Gedanken ,  und  daher  kann  ein  jeder 
iermimis  in  dreierlei  Weise  supponiren ,  personalHcr  i.  e.  pro  re, 
simplicitcr  i.  c  pro  inientione  animae,  materialller  i.  e.  pro 
voce.  Die  Sätze  I/omo  curril,  homo  est  specics^  homo  est  rox 
dissyUabn  dienen  als  Beispiele  für  diese  drei  Weisen  des  Suppo- 
nirens,  die  Wilhelm  sehr  oft  bespricht  (u.  A.  Tr.  log.  I,  64.  ad 
I  Sentt.  2,4),  weil  eine  Menge  von  Paralogismen  nur  zu-^ösen 
sind ,  indem  man  in  den  Prämissen  die  verschiedene  Supposition 
nachweist.  Anstatt  simpliciter  supponere  wird  in  der  Expositio 
aurea  gewöhnlich  gesagt  supponere  pro  sc. 

4.  Die  eben  angegebenen  Unterscheidungen  werden  nun  bei 
der  Untersuchung  über  die  üniversalien  verwerthet.  Unter  den 
Universalien  sind  zunächst  die  fünf  Prädicabilien  des  Porphyrlus 
zu  verstehn,  welche  den  fünf  Fragen  entsprechen  sollen,  die  Wil- 
helm aus  der  einen  fpdd  esl  hoc  ?  ableitet  (Tract.  log.  I,  18) ,  und 
von  denen  ganz  besonders  die  beiden  ersten,  Gattung  und  Art, 
in  Betracht  gezogen  Averden.  Da  steht  ihm  nun  fest,  dass  sie 
t ermini  secnndae  intcntionis  sind  (Ibid.  I,  14,  cf.  Expos,  aur.  Cap. 
de  genere),  dass  ihnen  also  durchaus  nichts  Reales  e.rird  ani- 
mavi  entspricht,  sondern  dass  sie  lediglich  Solches  bezeichnen 
(supponiren),  was  in  mente  ist  (ad.  I  Sentt.  2,  8).  Weil  Alles 
was  existirt,  sey  es  eine  res  exlra  (inimmn ,  sey  es  ein  Vorgang 
im  Geiste,  eine  (jnalitas,  z.  B.,  die  in  ihm  subjective  existirt,  ein 
indiciffunm  oder  singuiüre  ist,  so  entsteht  die  Frage,  wie  kommt 
es,  dass  ein  ier minus,  wie  z.  B.  homo.  als  vnirersale  gebraucht 
wird,  d.  h.  von  Vielen  prädicirt  wirdV  (Tract.  log.  I,  15),  Die 
moderni  (d.  h.  die  Realisten)  haben  die  Theorie  ersonnen  von 
einem  wirklichen  commune,  dem  sie  die,  nur  dem  göttlichen  We- 
sen zukommende,  Macht  beilegen,  Eines  und  doch  in  vielen  Sup- 
positis  zu  seyn,  und  welches  nun,  nicht  die  einzelnen  homines. 
von  dem  Worte  homo  bezeichnet,  personnliter  supponirt,  werde 
(u.  A.  ad  I  Sentt.  2,  4.  25,  1).  Auch  der  unter  den  Modernen, 
welcher  alle  Uebrigen  weit  überstrahlt,  Scotus,  stimmt  genau  ge- 
nommen mit  ihnen  übereiu,  da  seine  Modification,  dass  jenes  Com- 
mune nicht  realiter,  sondern  formaliter  von  den  einzelnen  Dingen 
unterschieden  sey,  ihre  unhaltbare  Ansicht  nicht  bessert  (ad  I 
Sentt.  2,  6).  Indem  sie  von  dem  Allgemeinen  anfangen,  und  nun 
nach  einem  Grunde  der  Individualität  suchen,  haben  sie  Alles  ver- 
kehrt: das  Einzelne  ist  an  und  für  sich  einzeln  und  ist  allein 
wirklich;  was  erklärt  werden  muss  ist  vielmehr  das  Allgemeine 
(Ibid.).    Von  den  vielen  Absurditäten ,  auf  welche  jene  (realisti- 


m.  Verfallperiode.     Occam.     §.  216,  4.  5.  433 

sehe)  Ansicht  nach  Wilhelm  führen  soll,  werde  hier  nur  die  an- 
geführt, dass  dann  eigentUch  jedes  Einzelwesen  ein  Aggregat  un- 
endlich vieler  wirklicher  Wesen  seyn  werde,  jener  Communin  näm- 
lich, die  von  ihm  prädicirt  werden.  Nicht  minder  spricht  gegen 
sie,  dass  Aristoteles^  diese  erste  Autorität  in  der  Philosophie,  und 
sein  Commentator  Averroes,  eben  so  auch  Johannes  Damascenns 
in  seiner  Logik  nur  dann  richtig  verstanden  werden  können,  wenn 
man  jene  Ansicht  der  modernen  Platoniker  aufgibt.  Die  wahre, 
und  auch  die  acht  Aristotelische  Lehre  ist,  dass  die  Universa- 
lien lediglich  in  mcnte  sind,  dass  eben  darum  in  dem  Satz  homo 
est  risilAlis  der  tcrminns  homo  nicht  für  einen  solchen  fingirten 
Allgemeinraenschen,  sondern  für  die  wii'klicheu  einzelnen  Menschen 
steht,  die  auch  allein  lachen  können  (ad  I  Sentt.  2,  4).  Aber 
selbst  unter  denen,  welche  darin  einverstanden  sind,  dass  die  Uni- 
versalien nur  in  unserem  Geiste  Realität  haben ,  können  doch  über 
das  Wie  dieser  Existenz  verschiedene  Ansichten  herrschen,  Wa- 
igel m  gibt  einige  derselben  an,  ohne  sich  zu  entscheiden,  aber 
nicht  ohne  dem  Leser  einen  Grundsatz  zuzurufen,  der,  in  ver- 
schiedenen Wendungen,  wohl  hundertmal  in  seinen  Werken  zu 
finden  ist :  wo  Eines  ausreicht ,  ist  es  unnütz  Vieles  anzunehmen. 
Nach  der  einen  Ansicht  sollen  sie  blosse  Gedankendinge  oder  Fi- 
ctionen  seyn,  die  nur  durch  ihr  Gedachtwerdeu  sind,  also  nur 
esse  ohjectirinn  haben.  Nach  Anderen  sollen  sie  die,  wegen  der 
weniger  bestimmten  Eindrücke  der  Dinge  selbst  confiisen  Vorstel- 
lungen einzelner  Dinge  seyn.  Wieder  Andere  lassen  sie  selbst- 
ständig (sithjectirä)  im  Geiste  existiren  als  gewisse  Etwas  ((pwli- 
tiües),  die  von  der  Thätigkeit  desselben  unterschieden  seyen.  End- 
lich ,  und  dies  möchte  sich  durch  die  Einfachheit  empfehlen ,  kann 
man  die  Universalien  als  ucliis  inteUigcndi  ansehn  (u.  A.  Tract. 
log,  I,  12.  vgl.  Expos,  aur,  Lib.  peryarmenias  Prooem.).  Weder 
hier  noch  h'geudwo  bedient  sich  Wilhelm  desjenigen  Ausdrucks, 
welcher  den  Sectennameu  Vocales,  Nominales  hervorgerufen  hatte 
(s.  oben  §.  158).  Auch  kann  er  auf  seinem  Standpunkte  nicht 
zugestehn,  dass  die  Universalien  blosse  roces  oder  nomina  seyen, 
denn  er  will  sie  ja  nicht  zu  willkührlich  gebildeten,  sondern  zu 
natürlich  entstehenden  Zeichen  machen.  Er  wäre  daher  in  seinem 
buchstäblichen  Rechte  gewesen,  wenn  er  sich  den  Namen  des  No- 
minalisten verbeten  hätte,  dagegen  hätte  er  durchaus  nichts  ge- 
gen den  Namen  einwenden  dürfen,  der  ihm  auch  ^\^rklich  ist  bei- 
gelegt worden:  Terminista. 

5.  Wie  dem   Wilhelm  die  Annahme  wirklicher  Commimia  als 
eine  unnütze  maltiplicatio  entium   erschien,   eben  so  sieht  er  in 

Erdmami,  Gesch.  d.  PhiL  I.  ^o 


434  Mittelalterliclie  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

einer  Menge  von  anderen  Namen  ganz  ähnliche  unberechtigte  Hy- 
postasirungen.  Nicht  nur  über  die  spottet  er,  die  zu  dem  iihi  eine 
ubltas,  zu  dem  qnando  eine  (juandeltas  hinzuträumen  (Tract.  log.  I, 
59.  60) ,  sondern  er  leugnet ,  dass  es  eine  (juantltas  gebe ,  die  et- 
was Anderes  sey  als  die  res  fpianta ,  oder  eine  rehitio ,  die  etwas 
Anderes  sey  als  die  bezogenen  Dinge.  (Ibid.  44  ff. ;  vgl.  Expos,  aur. 
de  praedicament.  c.  9.)  Von  der  eretcren  Behauptung  macht  er 
Gebrauch  bei  der  Frage  nach  der  Quantität  (Ausdehnung)  des  Lei- 
bes Christi,  von  der  zweiten  da,  wo  er  zeigt,  dass  der  Bcgritt"  der 
Schöpfung  nicht  ein  dritter  sey,  der  zu  den  Begriffen  Gott  und 
Creatur  noch  hinzukomme.  Weil  es  sich  mit  der  Qualität  eben  so 
verhält,  deswegen  konnte  oben  (sub  4)  (jua/ihts  so  übersetzt  wer- 
den als  stünde  dort  (jtiafc  oder  (juUl.  Im  Ganzen  ist  das  Resul- 
tat hinsichtlich  der  Prädicamente  (Kategorion)  dasselbe  wie  bei  den 
Prädicabilien :  sie  drücken  nicht  sowol  etwas  Reales  aus,  als  viel- 
mehr Weisen  unseres  Denkens.  Schon  in  der  Expositio  aurea  Lib. 
praedicament,  c.  7.  hatte  er  behauptet,  dass  Arisloldcs  in  seinen 
Kategorien  nicht  die  Dinge,  sondern  die  Wörter  eingetheilt  habe. 
Darum  wird  auch  später  Sitets  auf  ihren  Zusammenhang  mit  dem 
sprachlichen  Ausdruck  hingewiesen ,  der  Unterschied  der  ersten  und 
zweiten  Substanz  auf  das  nomcn  proprium  und  lommnue  zurück- 
geführt, Gewicht  darauf  gelegt,  dass  die  fünfte  und  sechste  Kate- 
gorie Adverbia  seyen,  die  siebente  mit  dem  Activo,  die  achte  mit 
dem  Passivo  gleich  gesetzt  u.  s.  w.,  und  immer  wiederholt,  dass 
des  Aristotrica  Ansicht  zu  demselben  Resultate  führe.  Da  konnte 
es  ihm  nun  nicht  gleichgültig  seyn,  wenn  die  platonisirenden  Mo- 
dernen gerade  auf  einen  Satz  des  .trisloic/cs  sich  immer  beriefen: 
die  Behauptung  desselben,  dass  die  Wissenschaft  es  nur  mit  dem 
Allgemeinen  zu  thun  habe,  müsse  bei  nominalistischer  Fassung 
dazu  führen ,  dass  auf  jedes  reale  Wissen  verzichtet  werde.  Auch 
der  entschiedenste  Realist,  erwidert  darauf  WUlielm,  wird  zuge- 
stehn,  dass  unser  Wissen  aus  (Wissens-)  Sätzen  besteht;  dass  aber 
Sätze  nicht  aus  Dingen  exlra  (tnnmim  bestehn,  sondern  aus  (cr- 
mhiis,  ist  klar.  Dann  aber  muss  auch  jeder  Vernünftige  zugeben, 
dass  es  gar  kein  Wissen  gibt,  welches  nicht  in  uns  fiele  und  in  so 
fern  mental  wäre  (ad  I  Sentt  2,4  u.  a.  a.  0.).  Dennoch  sind  wir 
berechtigt,  einiges  Wissen  als  reales  zu  bezeichnen  und  von  sol- 
chem zu  unterscheiden,  das  rational  ist.  Supponiren  nämlich  die 
termini,  die  einen  Satz  bilden,  personnlUer,  d.  h.  sind  sie  die  Ver- 
treter von  rebus ^  so  enthält  jener  Satz  ein  reales  Wissen,  wie  z.  B. 
die  Sätze  homo  currit,  homo  est  risibUis,  wobei  es  gar  keinen 
Unterschied  macht,  ob  wie  im  ersten  homo  für  einen,  ob  wie  im 


in.  Verfallperiode.     Occarn.     §.  216,  5.  6.  435 

zweiten  für  alle  eiiizelneu  Menschen  steht  (Trct.  log.  I,  63).  Stehen 
dagegen  die  termini  eines  Satzes  nicht  für  Dinge,  sondern  für  ter- 
minos,  sind  sie  also  secundae  intenüoiüs  und  supponiren  simpliciter, 
wie  in  dem  Satz  genns  pruedicuiur  de  speciehiis ,  so  ist  das  Wis- 
sen ein  rationales,  wie  z.  B.  alles  logicalische  "Wissen.  Weil  nun 
auch  in  den  Sätzen,  welche  ein  reales  Wissen  enthalten,  fast  im- 
mer solche  termini  vorkommen  werden,  welche  nicht  für  ein  ein- 
ziges Ding,  sondern  für  viele,  stehen,  d.h.  allgemeine  termini^ 
so  hat  Aristoteles  ganz  Recht,  wenn  er  sagt, -das  Wissen  hat  es 
mit  dem  Allgemeinen  zu  thun.  Nämlich  mit  allgemeinen  terminis, 
nicht  mit  allgemeinen  rebus. 

6.  Aus  dem  zweiten  Theil  der  Logik ,  de  propositionibus,  kann 
als  eigenthümlich  hervorgehoben  werden,  dass  Willielni  ganz  wie 
Aristoteles  (s.  oben  §.  86,  1)  die  modalen  Urtheile  als  zusammen- 
gesetzt ansieht.  Da  ihm  aber  ein  Urtheil  ausser  dem  Prädicate 
possihilc  u.  s.  w.  auch  die  Prädicate  scilnle,  diibitabile ,  credibile  u.  A. 
annehmen  kann,  so  will  er,  dass  mehrerlei  Modalurtheile  angenommen 
werden,  als  gewöhnlich  geschieht.  Der  dritte  Theil,  de  argumen- 
tatione,  der  ausführlichste  von  allen,  zerfällt  in  vier  Abtheilungen, 
welche  die  Schlüsse,  die  Definitionen  und  Beweise,  die  Gründe 
und  Folgerungen,  endlich  die  Fehlschlüsse  behandeln.  Er  hält  die 
ursprünglichen  Aristotelischen  drei  Figuren  gegen  die  späteren  vier 
fest  und  nimmt  den  Aristoteles  gegen  den  Vorwurf  der  Uuvoll- 
ständigkeit  in  Schutz.  In  jeder  Figur  gibt  er  die  sechzehn  mög- 
lichen Combinationeu  zweier  Prämissen  an ,  eliminirt  die  unbrauch- 
baren, und  bezeichnet  die  übrigbleibenden  vier  der  ersten  mit  den 
Namen  Burbura  u,  s.  w.,  die  vier  der  zweiten  mit  Cesure  u,  s.  w., 
für  die  sechs  der  dritten  werden  keine  analog  gebildeten  Wörter 
augewandt.  Er  zeigt  dann,  dass  die  Modi  der  sogenannten  vier- 
ten Figur  Bar(ili])ton  u.  s.  w.  durch  Subalternation  und  Conver- 
sion  des  Schlusssatzes  aus  den  Modis  der  ersten  Figur  eutstehn, 
und  nennt  sie  (wie  die  ältesten  Peripatetiker)  indirecte  Modi  der 
ersten  Figur.  Dann  aber  zeigt  er,  dass  man  in  der  zweiten  und 
dritten  Figur  durch  ein  ähnliches  Verfahren  auch  dergleichen  bil- 
den könne.  Er  zählt  sie  auf,  erfindet  für  sie  aber  keine  solche 
roces  memoridles.  Bei  den  Folgerungen  werden  besonders  aus- 
führlich die  Fälle  betrachtet,  wo  einfache  und  modale  Urtheile 
als  Prämissen  verbunden  sind.  Zu  den  di*eizehn  Fallacien,  die 
Aristoteles  angenommen  habe,  seyen  noch  drei  andere  hinzuzufü- 
gen u.  s.  w.  Manchmal  ist  man  überrascht ,  ihn  bei  solcher  Aus- 
führlichkeit versichern  zu  hören,  er  fasse  sich  kurz  und  das  Wei- 
tere sey  in  seinen  commentirenden  Schriften  zum  Organen  zu  fijideu. 

28* 


436  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

7.  Nicht  nur  mit  dem  Ari.slolelcs,  sondern  auch  mit  der  Theo- 
logie soll  diese  terministische  Ansiclit  viel  mehr  übereinstimmen 
als  die  modern  platonisirende.  Vor  Allem  weil  die  Annahme  sol- 
cher den  Einzeldingen  vorausgehenden  wirklichen  Allgemeinheiten 
jene  aus  ihnen  als  ihrem  Stoffe  hervorgehen  lasse  und  also  die 
Schöpfung  aus  Nichts  leugne  und  damit  die  unbeschränkte  Allmacht 
Gottes  (Trct.  log.  I,  15  ad  I  Sentt,  38,  1  u.  a.  a.  0.).  Diese  aber 
und  die  mit  ihr  immer  zusammengestellte  Willkühr  Gottes  ist  für 
Wilhelm,  fast  mehr  noch  als  für  Dans,  das  wichtigste  Dogma, 
und  in  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  seinem  Vorgänger  lässt 
er  die  Dinge  nicht  geschaffen  werden,  weil  sie  gut  sind,  sondern 
gut  seyn  weil  Gott  sie  wollte.  Die  einzige  Grenze  für  die  gött- 
liche Macht  ist  der  logische  Widerspruch;  obgleich  er  manchmal 
(z.B.  ad  I  Sentt.  1,  5)  Neigung  zeigt,  selbst  diese  nicht  gelten 
zu  lassen,  wenn  h.  Schrift  und  kirchliche  Entscheidungen  dies  for- 
dern, so  ist  doch  im  Ganzen  stets  dies  festgehalten,  dass  Gott 
Alles  kaim,  was  keinen  logischen  "Widerspruch  enthält  (u.  A.  Cen- 
tilog.  Concl.  5),  dass  er  eben  darum  so  gut  wie  die  Natur  des 
Menschen  die  des  Esels  oder  Stiers  hätte  annehmen  können  (ibid. 
Concl.  6).  Die  Annahme  von  idealen  Musterbildern  scheint  ihm 
nun  Gott  die  freie  Hand  zu  nehmen.  Er  gibt  zu,  dass  in  Gott 
Ideen  der  Dinge  sich  finden ,  es  soll  aber  darunter  nur  verstanden 
werden  das  Gedachtwerden  oder  esse  objevücum  der  Einzeldinge, 
sie  selbst  wie  Gott  sie  denkt;  ein  selbstständiges  (subjectives)  Seyn 
kommt  denselben  nicht  zu  (ad  I  Sentt.  35,  5).  Wenn  schon  bei 
seinem  Vorgänger,  Dans,  das  Betonen  des  grundlosen  Beliebens 
in  Gott  dem  Wissen,  welches  ja  auf  der  Nothwendigkeit  fusst, 
Vieles  entzogen  hatte  was  nun  dem  Glauben  überlassen  blieb,  so 
geschieht  dies  bei  Wilhelm  noch  mehr.  Die  bei  Weitem  meisten 
von  den  hundert  Conclusionen ,  aus  welchen  sein  Centilogium  be- 
steht, zeigen  entweder,  dass  alle  Beweise  für  die  hauptsächlichsten 
Dogmen,  die  Existenz  Gottes,  seine  Einheit,  seine  Unendlichkeit 
u.  s.  w.  unsicher  sind,  oder  wieder,  dass  die  allerwich tigsten  Dog- 
men, wie  die  Trinität,  die  Schöpfung,  die  Menschwerdung,  die 
sakramentale  Gegenwart  des  Leibes  Christi  zu  Folgerungen  führen, 
welche  den  anerkannten  Sätzen  der  Vernunft  widersprechen,  dass 
Nichts  zugleich  seyn  und  nicht  seyn,  oder  auch  dass  Nichts  vor 
sich  selbst  existiren  könne,  dass  aus  richtigen  Prämissen  Gefolger- 
tes richtig  seyn  müsse,  dass  der  Theil  kleiner  sey  als  das  Ganze, 
dass  zwei  Körper  nicht  an  einem  Orte  seyn  können  u.  s.  w.  In 
diesem  Nachweise  mit  Rettbery  und  c.  Buiir  eine  ironische  Stel- 
lung, oder  mit  Anderen  Skepticismus ,  zu  sehen,  ist  man  um  so 


III.  Verfallperiode.     Occam.     §.  216,  7.  8  437 

weniger  berechtigt,  als  in  diesem  Falle  es  mindestens  fraglich 
bliebe,  ob  nicht  die  Ironie  der  Vernunft  gilt.  Dem  Protestanten 
mag  es  allerdings  seltsam  vorkommen,  dass  Willielm ,  den  eigne 
Neigung  und  Consequenz  daliin  drängt,  die  saki-amentale  Gegen- 
wart des  Leibes  Christi  durch  dessen  alldurchdringende  Ubiquität 
zu  erklären ,  dennoch  sich  für  Transsubstanziation  erklärt ,  und  es 
mag  ihm  auffallen,  dass  Wlllelm  so  oft  wiederholt:  er  wolle,  wenn 
ja  Etwas  gegen  die  Kirchenlehre  von  ihm  gesagt  sey,  dies  nicht 
als  Behauptung,  sondern  nur  zur  üebung  des  Scharfsinnes  oder 
als  Referat  gesagt  haben,  oder  dass  er  gar  sagt,  er  sey  bereit, 
zwar  nicht  irgend  einer  obscuren  Autorität  zu  Gefallen ,  wohl  aber 
wenn  die  römische  Kirche  dies  fordere,  was  er  eben  bekämpft 
habe,  zu  vertheidigen  —  (vgl.  ad  I  Sentt.  2,  1.  de  sacr.  alt.  C. 
3G  u.  a.  a,  0.)  —  wAq  gesagt  dergleichen  mag  dem  Protestanten 
auffallen ;  darum  ader  behaupten ,  dergleichen  könne  nie  Jemand 
Ernst  seyn,  heisst  die  redlichsten  Männer  der  allerverschieden- 
sten  Zeiten  zu  Schelmen  machen.  Was  bei  Daus  nur  vorüberge- 
hend laut  geworden  (s.  oben  §.  214,  4),  dass  Etwas  für  den  Theo- 
logen wahr ,  für  den  Philosophen  falsch  seyn  könne ,  das  ist  bei 
WWielm  durchgehende  Ueberzeugung ,  und  bei  diesem  Dualismus 
ist  er  doch  aufriclitiger  Aristoteliker  und  gläubiger  Katholik. 

8.  Freilich  entsteht  jetzt  die  Frage,  ob  wohl  die  Theologie 
noch  das  Recht  habe  sich  Wissenschaft  zu  nennen?  Wilhelms 
Theorie  von  dem  Wissen  und  der  Wissenschaft  findet  sich  theils 
dort,  wo  alle  Commentatoren  des  Lombarden  sie  abhandeln,  in 
den  Quästionen  zum  Prolog  der  Sentenzen ,  theils  in  der  zweiten 
Abtheilung  des  dritten  Theils  seiner  Tract.  log.  Er  nimmt  die 
Unterscheidung  des  intuitiven  und  abstractiven  Wissens  von  Duns 
herüber  und  bestimmt  ihren  Unterschied  bald  dahin,  dass  jenes 
es  mit  dem  Seyn  und  Nichtseyn  des  Gewussten,  dieses  dagegen 
mit  dem  Was  desselben  zu  thun  habe,  und  also  von  dem  Nicht- 
seyenden  eben  so  möglich  sey  (Quoth  V,  5),  bald  wieder  so,  dass 
jenes  nur  mit  dem  Gegenwärtigen ,  dieses  auch  mit  dem  Abwesen- 
den sich  beschäftige.  Unsere  Apprehension  sinnlicher  Gegenstände 
ist  daher  ein  intuitives  Wissen.  Dies  heisst  aber  nicht,  dass  nun 
das  letztere  nur  auf  Sinnliches  beschränkt  wäre :  auch  Intellectuel- 
les,  wie  unsere  eigne  Traurigkeit  nehmen  wir  intuitiv  wahr.  Das 
Verhältniss  zwischen  intuitivem  und  abstractivem' Wissen  wird  sehr 
oft  so  bestimmt,  dass  jenes  die  Grundlage  von  diesem  bildet,  so 
dass  also  alles  Wissen  sich  zuletzt  auf  äussere  oder  innere  Er- 
fahrung stützt.  Eben  darum  aber  gibt  es  hienieden  für  den  Men- 
schen kein  eigentliches  Wissen  von  Gott;  wenigstens  kein  auf  na- 


438  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ttirlichem  Wege  erworbenes,  denn  dass  Gott  sich  offenbaren,  d.h. 
dem  intuitiven  Wissen  sich  hingeben  könne,  soll  nicht  geleugnet 
werden.  Nicht  nur  dass  der  Theologie  die  Basis  des  Wissens, 
die  Intuition  Gottes ,  fehlt ,  sondern  auch  die  Form  des  Wissens, 
der  Beweis.  Die  Gottheit  kann  pi'optcr  fjiild  oder  per  priiis  (wo 
aus  der  Ursache  die  Wirkung,  aus  dem  Zwischentreten  der  Erde 
die  Mondfinsterniss ,  deducirt  wird)  natürlich  nicht  bewiesen  wer- 
den, weil  sie  keine  Ursache  hat.  Der  Beweis  fpria  wieder  oder 
per  posterhrs  (wo  aus  der  Mondfinsterniss  auf  das  Zwischentreten 
geschlossen  wird)  hat  hinsichtlich  Gottes  auch  keine  Kraft,  weil 
er  auf  eine  Menge  von  Voraussetzungen,  Unmöglichkeit  des  end- 
losen Progresses  u.  s.  w.  sich  stützt  (ad  I  Sentt.  2,  3.  Tract.  log. 
ilL  2,  19  u.  a.  a.  0.).  Endlich  auch  die  Behauptung,  dass  Got- 
tes Daseyn  ex  tcrmhns  gewiss  sey,  wie  dieselbe  im  ontologischen 
Beweise  liegt,  hält  Willielm  nicht  für  schlagend  und  kritisirt  die- 
sen Beweis  in  einer  Art,  welche  mit  der  späteren  Kantischen  grosse 
Verwandtschaft  zeigt.  Da  nun  Gott,  wenn  auch  nicht  der  alleinige, 
doch  der  Hauptgegenstand  der  Theologie  ist  (ad.  Prol.  Sentt.  qu.  9), 
so  kann  von  der  Theologie  als  einer  Wissenschaft  im  eigentUchen 
und  strengsten  Sinne  nicht  die  Rede  seyn. 

9.  In  Folge  dessen  finden  sich  in  Ovettms  Theologie  viel  mehr 
negative  Sätze  als  positive  Behauptungen,  und  die  Erklärung,  die- 
ses werde  auf  Autorität  angenommen ,  es  sey  nur  theologiee  lo- 
tjvcndo  richtig  u.  dgl.,  muss  oft  die  Deduction  vertreten.  Sein 
Hauptverdienst  ist,  dass  er  der  Entfernung  manches  Wustes  aus 
der  Dogmatik  vorgearbeitet  hat.  Seinem  Lieblingsspruche  gemäss 
Pliirnlifns  non  est  poucnda  sine  neccssll nie  leugnet  er  eine  Menge 
von  Unterschieden,  die  bis  dahin  gemacht  waren.  So  den  zwi- 
schen dem  Wesen  Gottes  und  seinen  Eigenschaften:  Gott  selbst 
ist  seine  Weisheit  und  umgekehrt  (ad  I  Sentt.  1,  1  u.  2),  Er  er- 
klärt sich  gegen  alle  die  Verdoppelungen,  durch  welche  die  pa- 
ternitas  vom  pater ,  die  filiatio  vom  fdins  unterschieden  wird 
(Quoth  1 ,  3.  IV ,  15) ;  er  will  nichts  davon  wissen ,  dass  der  Sohn 
im  Verstände,  der  h.  Geist  im  Willen  des  Vaters  seinen  Grund 
habe.  Beide  gehen  aus  dem  Wesen  Gottes  hervor  und  Verstand 
und  Wille  sind  dasselbe  (ad  I  Sentt,  7,  2).  Eben  so  wenig  soll 
durch  die  Einheit  etwas  zu  dem  Wesen  Gottes  hinzukommen  (Ibid. 
23,  1).  Dieselbe  Neigung  zum  Vereinfachen  zeigt  Wilhelm  bei 
der  Betrachtung  der  Creatur,  namentlich  des  Menschen.  Er  leug- 
net die  Vielheit  der  Seelenvermögen,  hält  die  Einheit  des  Ver- 
standes und  Willens  fest,  eben  so  den  der  vegetativen  und  sensi- 
tiven Seele  (Quoth  II,  11).    Nur  wo  Erscheinungen  hervortreten, 


III.  Verfallperiode.     Occamisten.     §.  217.  1.  4d9 

die  sich  entgegengesetzt  sind,  muss  auf  einen  gleichen  Gegensatz 
und  darum  auf  Zweiheit  der  Ursachen  zurückgeschlossen  werden. 
Der  Streit  der  Sinnlichkeit  mit  der  Vernunft  ist  eine  Bestätigung 
des,  auch  sonst  anzunehmenden,  realen  Unterschiedes  der  sensi- 
tiven und  intellectiven  Seele.  Wenn  gleich  auch  die  letztere  hie- 
nieden  im  Leibe  ist,  so  doch  nicht  circnmsvriptive.  d.h.  so  dass 
ihr  Ganzes  dem  ganzen  Leibe,  je  einer  ihrer  Theile  immer  einem 
Theile  des  Leibes  inwohnt,  sondern  d'iffniitbce ,  d.  h.  ganz  in  je- 
dem Theile  wie  der  Leib  Christi  in  der  Hostie  (Quoth  I,  10.  15. 
IV,  26  u.  a.  a.  0.).  Dagegen  ist  die  sensitive  Seele  ausgedehnt 
und  mit  dem  Leibe  als  seine  Form  verbunden  (Quoth  II,  10). 
Weil  beide  reahter  verschieden  sind,  deswegen  darf  auch  nicht 
der  einen  zugesclirieben  werden,  was  der  andern  gebührt;  die  Ver- 
dienstlichkeit z.  B.  kommt  niu-  dem  Innern  Act  der  höheren  Seele 
zu,  das  äussere  Werk,  durch  die  niedere  Seele  vollführt,  ist  gleich- 
gültig (Quoth  I,  20).  Der  Einwand,  dass  die  Strafe  des  Hölleii- 
feuers  die  intellectuelle  Seele  nicht  berühren  könne,  wird  damit 
beseitigt,  dass  für  dieselbe:  sich  wider  ihren  Willen  im  Feuer  zu 
befinden,  ein  wirklicher  Schmerz  sey  (Ibid.  19). 

§.  217. 
1.  Das  im  J.  1339  ergangene  Verbot  an  der  Pariser  Universität, 
nach  Occaiiis  Lehrbüchern  zu  lesen,  dem  im  folgenden  Jahre  die 
feierliche  Verwerfung  des  Nominalismus  folgte,  beweist,  dass  schon 
zu  Lebzeiten  Occanis  er  einen  zahlreichen  Anhang  muss  gefunden 
haben.  Nicht  nur  der  eigne  Orden  bot  ihm  denselben.  Seit  Ai'- 
mmuJ  ron  Beauciüs  (gest.  1340)  und  lloherl  Holkot  (gest.  1349) 
gehen  die  Dominicaner,  seit  Ti>omas  von  Strassburg  (gest.  1357) 
und  seinem  Nachfolger  Greyor  von  Eimini  die  Augustiner  schaa- 
renweise  zum  Xominahsmus  über,  und  die  gegen  den  gemeinsa- 
men Feind  sich  verbindenden  Thomisteu  und  Scotisten,  ob  sie 
gleich  Männer  unter  sich  zählen  wie  den  Doctor  planus  et  per- 
splauis  (s.  oben  §.214)  und  den  Erzbischof  von  Canterbury ,  T//o- 
mns  Bradicdi'fUnc .  können  doch,  durch  die  Fruchtlosigkeit  ihres 
Kampfes,  nur  beweisen,  dass  die  Zeit  des  Xominalismus  gekom- 
men, und  dass  dariun,  wer  sich  für  ihn  erklärt,  der  Zeitverstän- 
digere, d.  h.  Philosophischere  ist.  Der  allerletzte  Versuch,  wel- 
cher gemacht  wurde,  ihn  mit  Gewalt  zu  unterdrücken,  fällt  in 
das  Jahr  1473,  wo  ein  Edict  LmJwiys  XI  alle  Lehrer  der  Pariser 
Universität  eidlich  auf  den  Realismus  verpflichtet.  Der  scheinbare 
Gehorsam  wurde  nicht  lange  gefordert,  da  im  J.  1481  der  Nomi- 
nalismus wieder  frei  gegeben  wird. 


440  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik) 

2.  Zu  den  Bedeutendsten  unter  den  Nominalisten  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts  gehört  Johannes  Bnridanus ,  geboren  in  Be- 
thune  im  Artois,  Professor  in  der  Artistenfacultät  zu  Paris  und 
im  J.  1327  Rector  daselbst,  der  mit  Veranlassung  geworden  seyn 
soll  zu  der  Stiftung  der  Wiener  Universität  im  Jahre  1365.  Seine 
Schrift  supra  summulas,  die  zu  ihrer  Zeit  sehr  berühmt  war  und 
oft  unter  dem  Titel  Pons  asini  citirt  wird,  kennt  der  Schreiber 
dieses  nicht.  Wahrscheinlich  hat  sie  das  Studium  der  Logik  er- 
leichtern sollen.  Dagegen  kommen  die  Commentare  des  Buridan 
zum  Aristoteles  öfter  vor.  Der  zu  de  anima  ist  zu  Paris  1616  in 
Foho,  die  Quaestiones  in  Politic.  Arist.  zu  Oxford  1640  in  Quarto, 
endlich  der  Commentar  in  Metaphys.  Arist.  zu  Paris  1518  in  Folio, 
gedruckt.  Nur  die  nominalistische  Trennung  zwischen  Philosophie 
und  Theologie  setzt  ihn  in  Stand ,  über  die  Freiheit  des  Willens 
so  zu  philosophiren  wie  er  es  thut,  und  doch  sie  zu  behaupten. 

3.  Würdig  steht  ihm  zur  Seite  sein  jüngerer  Zeitgenosse  und 
Freund  MarsUiiis  von  Inghen.    In  der  Moselgegend  geboren,  hat 
er  seit  1362  mit  Ruhm  in  Paris  gelehrt,  ist  dann  unter  dem  Pfalz- 
grafen Robert   einer  der  Gründer  der  Universität  zu  Heidelberg 
geworden,  und  im  J.  1392  daselbst  gestorben.    Seine  Quaestiones 
supra  IV.  libb.  Sententt.  (Strassburg  bei  Ftaclt  1501.  Fol.)  sind  in 
Heidelberg  geschrieben,   commentiren  aber  nur  vom  ersten  Buche 
sämmtliche  Distinctionen,  ein  Beweis  für  das  Vorwiegen  des  specu- 
lativen  Interesses.    Jeder  Zweifel  über  den  Nominalismus  des  Mar- 
silius  muss  verschwinden ,  sobald  man  ihn  gleich  im  Prolog  sagen 
hört,   dass   non  sunt  res  universales  in  essen do ,   wenn  man   ihn 
weiter  entwickeln  hört,    dass   die   Aehnlichkeit  der  Dinge   dahin 
bringe,  nicht  beliebig,  sondern  unwillküln-lich  (naturaliter)  das  Ge- 
meinsame  aus  ihnen   zu  abstrahiren.    Eben  so   stimmt  er  darin, 
dass  die  Theologie   nicht  Wissenschaft  im   strengsten  Sinne  sey 
(Fol.  XVn,  b) ,  ferner  in  der  stets  wiederkehrenden  Polemik  ge- 
gen unnütze  Unterscheidungen,  z.  B.  des  Wesens  und  der  Eigen- 
schaften Gottes ,  endlich  in  dem  Betonen  der  unbeschränkten  Will- 
kühr  Gottes  ganz  mit  Occain  überein.    Auch  das  Verhältniss  der 
intuitiven  und  abstractiven  (per  disenrsinn  acfjuisita)  Erkenntuiss 
fasst  er  wie  Jener   und  macht  mit  ihm   die  intuitive  zum  Grunde 
jeder  anderen.    Dass   er  dabei  Occam  nur  selten,   dagegen  Dn- 
rand  viel  öfter   als   Gewährsmann   anführt,  und  dass   er  neben 
Thomas  und  Aegidias  den  Thomas  von  Strassburg  und  Roh.  Hol- 
hot sehr  oft  citirt,   scheint  zu  beweisen,   dass  er  weniger  durch 
die  Franciscaner   als  durch  Andere  dem  Nominalismus  gewonnen 
ward.    Von  seiner,  lange  für  verloren  gehaltenen,  Dialectica  hat 


in.  Verfallperiode.     §.  218.  441 

Jellineck  eine  hebräische  Uebersetzuiig  aufgeftiüdeu ,  welche  auch 
bei  den  Juden  den  Uebergang  zu  nomiualistischen  Tendenzen 
constatirt. 

4.  Bedenkt  man,  dass  die  Bltithe  der  schohistischen  Philoso- 
phie so  sehr  von  der  der  Pariser  Universität  bedingt  galt,  dass 
Stimmen  laut  werden  konnten,  welche  dafür  die  Sanction  des  Ge- 
setzes verlangten,  was  bereits  factisch  feststand:  dass  in  jeder 
wissenschaftlichen  Streitft-age  das  Urtheil  der  Pariser  Universität 
entscheidend  sey,  so  wird  man  den  Umstand  nicht  gering  anschla- 
gen dürfen,  dass  Johann  Biiridun  und  MarsUius  zur  Gründung 
neuer  Wissenschafts  - Centra  mitwirken,  die  von  Anfang  an  eine 
mehr  nationale  Färbung  zeigen,  als  Paris.  AYie  mit  dem  römi- 
schen KathoHcismus ,  so  ist  mit  der  Philosophie,  die  in  seinem 
Dienste  steht  (und  das  war  ja  die  Scholastik  gewesen),  eine  De- 
centralisation  unvereinbar.  Damit,  dass  eine  solche  eintritt,  hat 
es  auch  aufgehört,  dass  die  Veröffentlichung  von  articulis  Pari- 
siensibus  allem  Streit  ein  Ende  macht.  Was  die  scholastische 
Philosophie  lehrt,  das  hat  man  zuletzt  besser  als  in  Paris  in  Tü- 
bingen lernen  können,  wo  Gabriel  Blei,  den  man  gewöhnlich  als 
den  letzten  Scholastiker  anzuführen  pflegt,  die  nominalis tischen 
Lehren  so  vorgetragen  hat,  wie  sie  in  seinem  Collectorium  (ge- 
druckt 1512  in  Fol.  und  dann  noch  öfter),  in  seinem  Commentar 
zu  den  IV  libb.  sententt. .  und  anderen  Schriften  niedergelegt  sind, 

§•  218. 

Schon  der  aus  dem  Thomismus  hervorgegangene,  noch  mehr 
aber  der  durch  Occam  aus  dem  Scotismus  gezogene  Nominalis- 
mus lässt,  indem  er  die  beiden  Elemente  der  Scholastik,  die  Kir- 
chenlehre und  die  Philosophie,  in  Gegensatz  zu  einander  bringt, 
nur  die  eine  Consequenz  zu:  Jede  ohne  die  andere  zu  betreiben 
und  so  den  idealen  Inhalt  des  Glaubens  ohne  alle  Rücksicht  auf 
die  Wissenschaft,  oder  wieder  die  Wissenschaft  als,  auf  die  Wirk- 
lichkeit beschränkte,  Weltweisheit  darzustellen.  Sollten  Geister, 
die  mehr  vermögen  als  blosse  Repetenten  eines  Durand  und  Oc- 
ram  zu  seyn,  sich  gegen  diese  Consequenz  sträuben,  so  wird  ihnen 
nur  übrig  bleiben,  in  einer  andern  als  der  bisherigen  Weise  Kir- 
chenlehre und  Wissenschaft  zu  vereinigen.  W^äre  mit  dieser  Neue- 
rung in  der  Form  zugleich  ein  Fortschritt  im  Inhalte  gemacht, 
d.  h.  die  eben  angedeutete  Consequenz  gezogen,  so  würden  sie 
als  Beginner  einer  neuen  Periode  Anhang  ge\Ninuen.  Jetzt  aber, 
wo  5ie  kaum  so  weit  gehen  wie  die,  welche  die  von  ihnen  ge- 
fürchtete  Folgerung  so  nahe  legten ,  wird  durch  die  formelle  Neue- 
rung die,  ohnedies  isolirte,  Stellung  einer  reactionären  Lehre  noch 


442  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

gemehrt.  Auch  ausserordentliche  Begabung  bringt  es  höchstens 
zu  persönlicher  Achtung,  nicht  zu  nachhaltigem  wissenschaftlichen 
Einfluss.  Dass  die  spätere,  antischolastische,  Philosophie  diese 
Männer,  die  sich,  wenigstens  in  der  Form  ihres  Philosophirens, 
von  den  übrigen  Scholastikern  entfernen,  sich  näher  stehend  er- 
achtet, streitet  mit  dem  Gesagten  nicht.  Zuerst  kommen  hier  die 
beiden  auf  einander  folgenden  Kanzler  der  Pariser  Universität, 
Pierre  (VAilly  und  Jolmnii  CLfirlier  ron  Gerson  zur  Sprache, 
denen,  obgleich  sie  tief  eingeweiht  sind  in  die  scholastischen  Di- 
stinctionen,  doch  nicht  diese,  sondern  erbauliche  Reden  und  pa- 
ränctische  Betrachtungen  das  Werkzeug  werden,  durch  das  sie 
ihren  Glauben  mit  ihrem  nominalistisch  gefärbten  Aristotelismus 
in  Uebereinstimmung  bringen.  Beide  darin  einverstanden,  dass 
der,  aus  der  Predigt  des  Evangeliums  stammende,  Glaube  mehr 
werth  sey  als  alle  scholastischen  Untersuchungen  darüber,  und 
daher  im  Stande  von  Solchen  sich  anregen  zu  lassen  und  solche 
anzusprechen,  die,  weil  sie  ganz  mit  der  Scholastik  gebrochen  ha- 
ben, der  folgenden  Periode  zuzuzählen  sind,  unterscheiden  sich 
doch  darin  von  einander,  dass  in  dem  Glauben  des  Pierre  (rAilly 
mehr  die  Kirchlichkeit,  in  dem  Gersovs  die  subjective  Frömmig- 
keit in  den  Vordergrund  tritt.  Es  möchte  damit  zusammenhängen, 
dass  der  Erstere  fast  mehr  noch  als  die  Victoriner  den  Thomas 
von  Aquino,  der  Letztere  dagegen  vor  Allen  den  Bonareiitura 
als  seinen  Lehrer  und  Vorgänger  preist. 

§.  219, 
.4.   Piorrc  d'Ailly. 

1.  Pierre  d'AiJhj ,  latinisirt  Petrvs  de  AUiuro ,  im  J.  1350 
in  Compiegne  geboren ,  erhielt  seine  philosophische  Bildung  in  Pa- 
ris, trat  1372  als  Theolog  in  das  Collegium  von  Navarra,  begann 
1375  über  die  Sentenzen  zu  lesen,  war  1380  Doctor,  im  folgen- 
den Jahre  Vorstand  seines  Collegiums,  1389  Kanzler  der  Univer- 
sität so  wie  Almosenier  und  Beichtvater  des  Königs ,  dann  Bischof 
zu  Puy,  endlich  zu  Cambrai,  in  welchen  Stellungen  er  stets  auf 
das  Aufhören  des  kirchlichen  Schisma  durch  Abdankung  der  bei- 
den Päpste  hingearbeitet  hat.  Im  J.  1411  zum  Cardinal  ernannt, 
war  er  die  eigentliche  Seele  des  Concils  von  Kostnitz  und  ist  am 
9,  Octbr,  1425  als  Cardinal  Legat  in  Deutschland  gestorben.  Von 
den  vielen  Schriften,  die  er  verfasst  hat,  erschienen  im  J.  1490 
in  Strassburg  Tractatus  et  sermones  und  Quaestt.  sup,  libl),  sen- 
tentt.  Unter  den  ersteren  befindet  sich  das  Speculum  considera- 
tionis ,  das  Compendium  contemplationis ,  das  Verbum  abbreviatum 


in.  Verfallperiode.     A.  Pierre  d'Ailly.     §.  219,  1.  2.  443 

super  libro  psalmorum,  die  Betrachtungen  zum  Hohenliede,  zu 
den  Busspsalmen,  zum  Vaterunser,  zum  Ave  Maria  u.  s.  w.,  der 
Tractatus  de  anima,  Predigten  über  Advent,  über  viele  Heilige. 
Den  Quästionen  wieder  sind  angehängt:  Recommendatio  sacrae 
scripturae,  das  Principium  in  cursum  bibliae,  so  wie  die  in  seinen 
Vesperiis  abgehandelte  Quaestio  utrum  ecclesia  Petri  sit  ecclesia 
Christi?,  so  wie  die  Quaestio  resumpta  über  denselben  Gegenstand. 
Die  letzteren  Aufsätze  finden  sich  auch  in  den  Anhängen  des  er- 
sten und  zweiten  Bandes  der  dir  Pin'scheii  Ausgabe  von  Gcrsons 
Werken  (s.  §.  220),  die  ausserdem  kleinere,  früher  nicht  gedruckte, 
Schriften  fVAUly's  enthalten,  deren  Titel  zum  Theil  schon  Biiläns 
angegeben  hatte.  Hier  findet  sich  die  Abhandlung  über  die  Noth- 
wendigkeit  und  Schwierigkeit  der  Reform  der  Kirche,  deren  Aecht- 
heit  freilich  bestritten  wird,  hier  die  Tractate  über  die  falschen 
Propheten,  an  welche  sich  durch  ihren  Inhalt  die,  im  J,  1416  ge- 
schriebene ,  des  Roger  Baron  Lehren  beschränkende ,  Abhandlung 
adversus  Astronomos  anschliesst. 

2.  Die  Quästionen  zu  den  Sentenzen  bieten  zunächst  rein  Oc- 
camistische  Lehre.  So  namentlich  wieder  bei  der  dritten  Distin- 
ction  des  ersten  Buches,  wo  in  der  Quaest.  6  erklärt  wird,  dass 
Gott  Ideen  nur  von  Einzelwesen  habe,  da  nur  diese  extra  produ- 
cibilia ,  dagegen  die  univcrsaliu  lediglich  in  anima  seyen  als  die 
gemeinsamen  Prädicate  der  Dinge.  Nimmt  man  dazu  noch  die 
Behauptungen  (qu.  1),  dass  alle  Wahrheiten  Sätze  sind,  dass 
(qu.  3)  was  wir  wissen  immer  ein  Satz  ist  und  nicht  wofür  der 
Satz  steht,  so  werden  auch  die  theologischen  Stichworte  des  No- 
minalismus, dass  die  Theologie  nicht  eigentüche  Wissenschaft, 
dass  Gott  von  seinen  Attributen  nicht  unterschieden  sey  u.  s.  w., 
nicht  überraschen.  Auch  der  vielbesprochene  Satz,  dass  wir  von 
den  sinnlichen  Dingen  ein  Wissen  nur  unter  der  Voraussetzung 
haben,  dass  Gott  die  Naturgesetze  nicht  ändern  werde,  kann  nicht 
als  einer  angesehen  werden,  den  nicht  ein  anderer  Nominalist 
ganz  eben  so  hätte  formuliren  können.  Ist  d'AHbj  hierin  den  übri- 
gen Nominalisten  gleich,  so  lässt  er  sich  hinsichtlich  der  Vollstän- 
digkeit ihrer  Commentare  sogar  von  ihnen  übertreffen:  das  zweite 
Buch  hat  er  ganz  übergangen,  das  dritte  in  einer  einzigen  Quä- 
stion  abgethan  u.  s.  w.  Dagegen  tritt  in  einem  ganz  Anderen 
d'Ailly  eigen thümlich  und  bedeutend  hervor:  die  Principia  der 
einzelnen  Bücher,  d.  h.  die  gewöhnlichen  Einleitungsvorlesungen, 
in  denen  er  nicht  sowol  den  Inhalt  der  einzelnen  Bücher  angibt: 
sondern  das  Verdienst  ihres  Verfassers  verherrlicht,  sind  viel  in- 
teressanter als  die  Commentare.     Man   könnte  sie  fast.Homilien 


444  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Peviode  (Scholastik). 

über  das  Bibelwort:  quamnin  dortrina  Ixtcc  nora?  nennen,  in 
denen  sich  der  homiletische  Künstler  in  geistreichen,  durch  Alli- 
teration und  Reim  gewürzten  Antithesen  ergeht,  wie  sie  zu  allen 
Zeiten  der  feierliche  Witz  gerühmter  Kanzelredner  erfand.  Ihrem 
Verfasser  scheint  erst  wohl  zu  werden ,  wenn  er  (im  cursus  bibUae) 
zeigen  kann,  wie  die  quaestiones  subtiles  et  studiosae  hi  scola 
theorica  philosophomm ,  die  (quaestt.)  difficiles  et  curiosae  in  scola 
phantastica  Mathematicorum ,  die  (quaestt.)  civiles  et  contentiosae 
in  scola  politica  jurisperitorum ,  endlich  die  utiles  et  virtuosae  in 
scola  catholica  theologomm  gelöst  werden. 

3.  Erinnert  er  schon  in  diesen  Schriften  an  die  Victoriner 
(s.  oben  §.  171  flf.),  so  noch  mehr  in  den  Schriften,  in  welchen 
er  geradezu  als  Compilator  aus  dem  erscheint,  was  sie  und  ihnen 
geistesverwandte  Spätere  gelehrt  hatten.  So  besonders  in  den  zu- 
sammengehörenden speculum  consideratioiiis  und  compendium  con- 
templationis.  In  dem  ersteren  wird  den  Gefahren  des  weltlichen 
die  Sicherheit  des  klösterlichen  Lebens  entgegengestellt,  das  Sy- 
stem der  siel)en  Haupt-  und  ihrer  Tochtertugenden  entwickelt  und 
darin  der  Vorschmack  der  Seligkeit  nachgewiesen ,  endlich  mit  der 
traditionell  gewordenen  Anknüpfung  an  Ra//el  und  Leu  das  Ver- 
hältniss  des  contemplativen  und  thätigen  Lebens  entwickelt.  Der 
Hauptpunkt  ist  dabei  das  Ausgehn  von  der  Selbstbeobachtung. 
Von  dem,  was  in  uns  ist  aus-,  zu  dem  was  um  uns  ist  überzu- 
gehu ,  um  endlich  bei  dem  auszuruhen ,  was  über  uns ,  das  ist  der 
Weg,  den  die  betrachtende  Seele  nimmt.  Die  sechs  Stufen  der 
Contemplation  bei  lUchard  von  St.  Victor  (s.  oben  §.  172,  3)  wer- 
den angeführt,  eben  so  die  von  Anderen  angenommenen,  und  da- 
mit die  Angabe  der  Hülfsmittel  und  Anzeichen  derselben  verbun- 
den. Das  Compendium  contemplationis  enthält  in  ihrem  ersten 
Theile  allgemeine  Bemerkungen  über  das  contemplative  Leben  ganz 
nach  T/tomiis  von  Aquino,  in  dem  zweiten  wird  mit  Anknüpfung 
an  die  Familie  Jacobs  die  spirifiidlis  gciiedlogia,  d.  h.  die  ein- 
zelnen Momente  der  Contemplation  dargestellt,  in  dem  dritten 
endUch  (de  spiritualibus  sensibus)  das  geistige  Sehen,  Hören, 
Schmecken  u.  s.  w.  durchgenommen.  Am  Schlüsse  nennt  d'Ailly 
die,  aus  denen  er  besonders  geschöpft  habe,  fügt  aber  hinzu,  dass 
auch  Andere ,  namentlich  Solche ,  die  in  der  Vulgarsprache  gepre- 
digt haben,  bei  seiner  Arbeit  benutzt  worden  seyen. 

4.  Es  ist,  bei  einer  gewissen  Schmiegsamkeit  seines  Charak- 
ters, nicht  unmöglich,  dass  d\4Uhfs  Ernennung  zum  Cardinal 
seine  Ansichten  über  das  Papsttlium  etwas  modificirt  hat,  wie 
man  dies  auch  seinem  Schüler  JSlcoIaus  vov  Clemimge  nachgesagt 


III.  Verfallperiode.     A.  Pierre  d'Ailly.     §.  219,  4.  445 

hat.  Wenigstens  kam  es  zwischen  ihm,  dem  früheren  Lieblings- 
kinde der  Pariser  Universität,  und  ihr  später  zu  einem  Conflict, 
als  es  sich  um  die  dem  Papst  Benedict  XII  verweigerten  Steuern 
handelte.  Dennoch  geschähe  ihm  zu  viel,  wenn  man  einen  Wi- 
derspruch zwischen  dem,  was  er  zu  verschiedenen  Zeiten  gelehrt, 
behaupten  w'ollte.  Zeit  seines  Lebens,  so  scheint  es,  hat  er  die 
Ansicht  vom  Primat  des  römischen  Bischofs  festgehalten,  die  er 
in  dem ,  in  seinen  Vesperiis  gehaltenen ,  Vortrage  de  ecclesia  Petri 
entwickelt  hat.  Darnach  kommt  dem  Petrus  vor  den  übrigen 
Aposteln  keine  höhere  Weihe,  keine  grössere  potestas  orcUiüs ,  zu, 
denn  die  Worte  Jesu:  auf  diesen  Felsen  u.  s.  w.  gehen  auf  Chri- 
stum selber.  Wohl  aber  gibt  ihm  das :  „Weide  meine  Schafe"  eine 
gi'össere  potestas  reglmuüs ,  also  einen  administrativen  Vorzug. 
Dieser  war  persönlich,  und  wie  das  administrative  Centrum  der 
Kirche  mit  dem  Bischofssitze  des  Petrus  wanderte  (von  Jerusalem 
nach  Antiochia,  von  da  nach  Rom),  so  ist  es  auch  jetzt  nicht 
unbedingt  an  Rom  gebunden;  würde  Rom  zu  einem  Sodom,  so 
würde  der  snmmus  episcopus  wo  anders  seinen  Sitz  haben.  Was 
dann  weiter  die  weltliche  Herrschaft  des  Papstes  betrifft,-  so  stellt 
er  den  strengen  Franciscauern  (spir'duales) ,  welche  dieselbe  ab- 
solut verwerfen,  als  entgegengesetztes  Extrem  den  Herodes  ge- 
genüber, der  in  Christo  einen  weltlichen  Fürsten  sah  und  fürch- 
tete; er  selbst  hat  Nichts  dagegen,  dass  der  Papst  durch  Um- 
stände wie  die  Schenkung  Constuuthis  u.a.  auch  weltlicher  Fürst 
geworden  ist.  Was  endlich  die  Unterordnung  des  Papstes  unter 
das  allgemeine  Concil  anbelangt,  so  steht  das  Decret  des  Kost- 
nitzer  Concils  schwerlich  in  Widerspruch  mit  d'AUhjs  früheren 
Ansichten,  und  dass  er  bei  der  Redaction  desselben  wirklich  nur 
für  diesen  einen  Fall  eine  solche  Unterordnung  behauptet  habe, 
scheint  nicht  recht  glaublich.  Freilich,  dass  er  sich  von  dem  ent- 
fernt, was  die  römisch-katholische  Kirche  in  ihren  grössten  Re- 
präsentanten, Gregor  VII  und  Innorenz  III j  diesen  Incarnationen 
ihres  Triumphes,  ausgesprochen  hat,  ist  gewiss.  Anders  aber  ist 
es  auch  nicht  von  einem  Manne  zu  erwarten,  der,  obgleich  ein- 
geweiht in  alle  scholastischen  Feinheiten,  doch  nicht  wie  Duns 
u.  A.  nur  aus  dem  von  der  Kirche  adoptirten  dogmatischen  Lehr- 
buche und  den  Decreten  des  kanonischen  Rechtes  mit  Hülfe  des 
Aristoteles  die  W^ahrheit  schöpft,  sondern  der  von  mystischen 
Volksrednern  gelernt  hat,  und  der  stets  dagegen  eifert,  dass  das 
Studium  des  kanonischen  Rechtes  vom  Lesen  der  h.  Schrift,  die- 
sem eigentlichen  Fundament  der  Kirche,  abbringe. 


446  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

§.  220. 
B.  Johanu  Gersou. 

t/o.  Bapt.  Schwab    Johauu    Gersou,    Professor   der   Theologie    und  Kanzler    der 
Universität  Paris.     Würzburg  1859. 

1.  Johann  Chnrlier ,  bekannter  unter  dem  Namen  Gcrsoji  — 
\vie  das  Dorf  in  der  Nähe  von  Rlieims  hiess,  in  dem  er  am  14. 
Decbr.  1363  geboren  wurde,  —  kam  in  seinem  vierzehnten  Jahre 
nach  Paris  und  als  Artist  in  das  Collegium  von  Navarra,  wo  ihn 
P.  (VAilbj  und  Heinrich  von  Oifia  in  die  Logik  einweihten.  Der 
Erstere  ward  auch  sein  Lehrer  in  der  Theologie  und  gewann  ihn 
so  lieb,  dass  er  ihn  zum  Nachfolger  auf  seinem  Lehrstuhle  und 
im  Kanzleramt  mit  Erfolg  empfahl.  Lu  J.  1397  ward  Gerson  De- 
"can  in  Brügge  und  liess  das  Kanzleramt  durch  einen  Substituten 
verwalten.  Die  seit  jener  Zeit  viel  eifriger  betriebenen  Studien 
BoiKtrcnlKvas,  zugleich  der  persönliche  Verkehr  mit  Beghardeu, 
Fraticellen  und  Brücken  des  freien  Geistes,  bringen  seine  mit  der 
Kirche  ül)ereinstimmende  Mystik  immer  mehr  zur  Reife.  Die  Schrift 
über  die  falschen  und  wahren  Visionen  stammt  aus  dieser  Zeit. 
Die  Lobpreisungen  der  Mystik  setzt  er  auch  fort  nachdem  er  im 
J.  1401  nach  Paris  zurückgekehrt  war,  und  wieder  dem  Kanzler- 
und  Professor -Beruf,  später  auch  dem  eines  Pfarrers  von  St.  Jean 
au  Greve,  lebte,  lieber  die  theoretische  Mystik  hat  er  1404  ge- 
lesen, ül)er  die  praktische  im  J.  1407  eine  Abhandlung  (in  Genua) 
geschrieben.  Der  Schmerz  über  das  kirchliche  Schisma  liess  ihn 
stets  auf  Abhülfe  denken,  und  obgleich  er  selbst  an  dem  Concil 
zu  Pisa  nicht  Theil  nahm ,  so  ist  doch  seine  Schrift  de  auferibili- 
tate  Papae  bestimmt,  die  vom  Concil  gegen  beide  Gegenpäpste 
unternommeneu  Schritte  zu  rechtfertigen.  Im  Geiste  dieser  seiner 
Schrift  wirkte  Gerson  auch  als  Gesandter  seines  Königs  und  sei- 
ner Universität  auf  dem  Kostnitzer  Concil,  wie  die  daselbst  ver- 
fasste  Schrift  de  potestate  ecdesiastica  beweist.  Eine  andere ,  die 
viel  weiter  geht:  de  modis  uniendi  et  reformandi  ecclesiam,  ist, 
wie  die  gründlichsten  Kenner  seiner  Lehre  behaupten,  nicht  von 
ihm.  Jedenfalls  ist  er  weniger  als  P.  d'Aillij  von  Rücksichten  ge- 
gen das  Papstthum  geleitet  worden.  Liess  dies  ihn  auf  Gönner- 
schaft und  Schutz  beim  päpstMchen  Hofe  verzichten,  so  wurden 
seine,  schon  in  Paris  und  später  in  Kostnitz  ausgesprochenen,  Er- 
klärungen gegen  den  Tyranneumord  (d.  h.  gegen  die  Ermordung 
des  Herzogs  von  Orleans  durch  den  Herzog  von  Burgund)  die  Ver- 
anlassung, dass  ihm  in  Frankreich  höheren  Ortes  gegrollt  ward. 
So  war  er  genöthigt,  zuerst  ausserhalb  Frankreichs,  dann,  seit 
1419,  wenigstens  ausserhalb  Paris  zu  leben.    In  Lyon,  wo  er  am 


III.    Verfallperiode.     B.  Joh.  Gersou.     §.  220,  '2-  447 

12.  Juli  1429  gestorben  ist,  hat  er  viele  Abhaudluiigen  verfasst. 
So  de  perfectione  cordis,  de  elucidationfr  theologiae  mysticae,  de 
susceptione  liumaiiitatis  Christi  u.  a.  Seine  gesammelten  Werke 
gehören  zu  den  ältesten  Drucken.  Die  erste  Ausgabe  derselben 
ist  die  Cölner  vom  J.  1483  in  vier  Foliobänden,  die  vollständigste 
die  Antwerpiier  von  1706,  von  du  Pin  in  fünf  Foliobänden, 

2.  Ganz  wie  bei  P.  iVAUhi,  den  er  nicht  inüde  wird  seinen 
verehrten  Lehrer  zu  nennen,  ist  der  Standpunkt  der  Philosophie, 
zu  dem  sich  Gerson  bekennt,  der  des  Ocravi,  welchen  er  dabei 
immer  ajs  den  Aristotelischen  bezeichnet.  Bei  seinem,  allem  Zwie- 
spalte  abholden,  Naturell  mussten  die  heftigen  Angriffe,  welche 
die  Forma lizantes  und  Mctaplnjsicanles,  wie  er  sie  nennt,  d.  h.  die 
Scotisten,  gegen  die  von  ihnen  als  ..riides  et  terminlstae  nrc 
reales  in  Mefaphijsira''  verspotteten  Anhänger  des  Orcam  unter- 
nahmen, ihn  kränken.  Er  versucht  daher  den  Zwiespalt  zwischen 
Beiden  zu  lösen.  Von  den  Schriften,  die  diesem  Zweck  gewidmet, 
sind  besonders  Centilogium  de  conceptibus,  de  modis  significandi 
und  ihr  zweiter  Theil  de  concordantia  metaphysicae  cum  logica 
zu  nennen  (Bd.  IV.  p.  703  ff.  8 IG  ff.).  Den  Namen  von  Vermitte- 
lungsversuchen  verdient  sie  nur  in  so  weit,  als  sie  solchen  Nomi- 
nalisten entgegentreten,  die  über  den  Oeram  hinausgehn,  indem 
sie  nur  solche  teninnl  statuiren ,  welche  nuderialiler  snpponnnt 
(vgl.  oben  §.  216,  3).  Was  Orcams  eigene  liehre  betrifft,  so  wird 
von  Gerson  pure  wiederholt,  dass  alles  Wissen  lediglich  aus  (er- 
winis  bestehe,  dass  aber,  weil  diese  entweder  Dinge  ausser  uns, 
oder  Vorgänge  in  uns  bezeicliiien,  ein  Unterschied  zwischen  rea- 
lem und  rationalem  (sermociiialem)  Vrissen  und  also  zwischen  Me- 
taphysik und  Logik  bestehe.  Er  bestreitet  ferner,  ganz  wie  ()c- 
eam .  die  Annahme  von  ausserhalb  des  denkenden  Geistes  existi- 
renden  Universalien,  weil  dieselbe  mit  den  Principien  des  Aristo- 
teles streite  und  die  Allmacht  Gottes  beschränke  (p.  805);  er  setzt, 
wie  Oeeam,  an  die  Stelle  der  e\ngen  Gattungen  im  endhchen  Den- 
ken die  Ideen  der  einzelneu  Dinge,  und  behauptet  demgemäss, 
dass,  wie  überhaupt  nur  das  Einzelne  extra  nnimam  Realität  habe, 
so  auch  Gott  Alles  als  Einzelnes  denke  (p.  825).  Eigeuthümlich 
ist  ihm  nur,  dass  er  die  entgegengesetzte,  realistische,  Lehre  auch 
als  die  antikirchliche,  von  der  Kirche  stets  verdammte,  nachzu- 
weisen sucht.  Er  sieht  ganz  Tichtig  ein  (vgl.  oben  §.  159),  dass 
der  Realismus  consequent  durchgeführt  dahin  bringe,  nur  Gott 
Realität  beizulegen.  In  jeder  Verdammung  pantheistischer  Lehren 
durch  die  Kirche,  z.  B.  in  der  des  Amalriek  (s.  oben  §.  176),  sieht 
er  darum  die  Verdammung  des  Systems,  das  zu  solchen  Conse- 


448  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

quenzen  führt.  Vor  Allem  beruft  er  sich  aber  auf  die  Beschlüsse 
des  Kostnitzer  Concils,  welches  in  den  Böhmischen  Ketzern  gerade 
die  Irrlehre  von  der  Realität  der  Universalien  verurtheilt  habe 
(p.  827).  Aber  nicht  nur  in  der  Lehre  von  den  Universalien  ist 
Ger  soll  Occamist:  er  zeigt  sich  auch  darin  so,  dass  bei  ihm  die 
Philosophie  und  Theologie  sehr  verschiedene  Wege  gehn.  Er  ta- 
delt den  Albert,  dass  derselbe  mehr  Zeit  und  Mühe  auf  Philoso- 
phie verwandt  habe,  als  einem  christlichen  Lehrer  zieme  (Trilog. 
astrol.  theologiz.  WW.  L  p.  201)  und  zieht  ihm  deswegen  den 
Alexander  von  Haies  vor  (L  p.  117),  was  sich  bei  seiner  Vor- 
liebe für  Hiiffo  von  St.  Victor,  und  seiner  Ansicht,  dass  das  her- 
gebrachte Commentiren  des  Lombarden  nicht  das  richtige  Verfah- 
ren sey,  leicht  erklären  lässt.  Er  selbst  sagt  in  einem  Brief  an 
P.  (VAilhj,  dass  sehr  Vieles  von  der  Vernunft  für  wahr  und  recht 
erklärt  werde,  was  nach  einer  erleuchteten  Theologie  für  falsch  gilt 
(WW.  m.  p.  432). 

3.  Keiner  von  allen  bisherigen  Theologen  geht  dem  Gcrson 
über  Bonnnenliira.  In  seinen  Betrachtungen  über  die  mystische 
Theologie  wiederholt  er,  was  Jener  in  seinem  Itiuerario  (s.  oben 
§.  197,  4)  und  was  Hi/ffo  in  seinen  mystischen  Schriften  (s.  oben 
§.  165,  4)  gesagt  hatte,  und  unterscheidet  symbolische,  eigentliche 
und  mystische  Theologie,  von  denen  die  ersten  beiden  mehr  der 
cogniflo ,  die  letztere  dem  affecius  angehöre,  und  welche  er  mit 
den  drei  Augen  der  menschlichen  Erkenntniss,  die  Iluyo  (vor  ihm 
schon  Eriyena)  unterschieden  hatte,  scnsus,  ratio,  intelügenüa, 
zusammenstellt.  Da  die  mystische  Theologie  ein  Erleben  und  Er- 
fahren Gottes  ist,  so  ist  sie  der  Philosophie,  die  ja  auch  von  der 
Erfahrung  ausgeht,  verwandt.  Eben  darum  ist  auch  den  Erfah- 
rungen Anderer  zu  traun,  wie  ja  auch  die  mystische  Theologie 
des  Dionysliis  Areopagila  ihren  ersten  Ursprung  in  dem  hat,  was 
Paulus  von  seinen  inneren  Erfahrungen  demselben  mitgetheilt  hat. 
Vieles  freilich  bleibt  unmittheilbar.  Der  eigentliche  Sitz  der  my- 
stischen Theologie  ist  der  apex  menüs,  die  synderesis.  Da  diese 
der  Himmel  der  Seele  ist,  so  heisst  das  Entrücktsein  in  den  drit- 
ten Himmel  so  viel  als  Suspension  der  niederen  Functionen  der 
Seele,  und  als  ein  nicht  nur  Sehen  sondern  Fühlen  und  Schmecken 
Gottes.  Raptiia  und  amor  extaticiis  werden  darum  oft  als  gleich- 
bedeutend gebraucht.  Als  in  der  synderesis  begründet  hat  die 
mystische  Theologie  einen  praktischen  Charakter,  wird  oft  mit  der 
religio  und  cliaritas  als  Eins  gesetzt,  und  den  anderen  beiden 
Theologien  weit  vorgezogen.  Die  letzteren  haben  ohne  sie  gar 
keinen  Werth,  wohl  aber  umgekehrt  sie  ohne  Jene.    Auch  ist  die 


m.  Verfallperiode.     Gerson.  §.  220,  3.  4.  449 

mystische  Theologie  unabhängig  von  aller  Gelehrsamkeit  und  kommt 
daher  auch  bei  den  ganz  Einfältigen  vor.  Hire  Schule  ist  nicht 
die  gelehrte  sondern  die  des  Gebets.  Die  durch  Liebe  vermittelte 
Vereinigung  mit  Gott  kann  Umwandlung  in  Gott  genannt  wer- 
den ,  wenn  man  darunter  nur  nicht  den  Unsinn  versteht,  dass  der 
Mensch  in  Gott  aufhöre.  Diesen  häretischen  Irrthum  des  Am<i]- 
rirh  soll  nach  Gerson,  Bvyshrocl  in  seinem  Schmuck  der  geist- 
Hchen  Hochzeit  zu  theileu  wenigstens  scheinen.  Am  Richtigsten 
sey  es  zu  sagen,  dass  in  den  Augenblicken  der  mystischen  Liebe 
der  Geist  von  der  Seele  getrennt,  dagegen  mit  Gott  verbunden, 
wird.  Man  kann  nicht  sagen,  dass  die  Augenblicke,  wo  man  Gott 
schmeckt,  alles  Bewusstseyn  ausschliessen ,  wohl  aber  jede  Refle- 
xion; sie  sind  ein  ganz  unmittelbares  Empfinden.  Die  Haupt- 
schriften über  die  mystische  Theologie,  denen  auch  alle  die  vor- 
stehenden Sätze  entnommen  wurden,  sind:  Considerationes  de  theo- 
logia  mystica  speculativa,  de  theologia  mystica  practica,  Tractatus 
de  elucidatione  scholastica  mysticae  theologiae,  alle  in  der  2*'"  Ab- 
theilung des  3'^"  Bandes  bei  du  Pht. 

4.  Gersons  kirchhche  Stellung  betreffend,  hat  der  eingebür- 
gerte Ausdruck,  er  gehöre  zu  den  Vorreformatoren,  manche  Irrthü- 
mer  hervorgerufen.  Wer  auch  nur  seine  Lectio  contra  vanam  cu- 
riositatem  gelesen  und  dort  u.  A.  gefunden  hat,  wie  er  sich  da- 
gegen ausspricht,  dass  die  Einfältigen  Bibelübersetzungen  lesen  (I, 
ü.  85),  oder  wer  ihn  in  einer  andern  Schrift  (de  exam.  doctrin. 
WW.  I)  über  die  Ehelosigkeit  des  Priesterstaudes,  über  das  Abend- 
mahl in  beiderlei  Gestalt  sich  auslassen  hört,  wer  ihn  wieder 
wo  anders  (de  auferib.  Papae)  behaupten  hört,  dass  nicht  einmal 
ein  Generalconcil  die  monarchische  Verfassung  abschaffen  dürfe 
u.  s,  w.,  wird  wohl  davon  zurückkommen,  dass  Gerson  kein  treuer 
Sohn  der  römisch-katholischen  Kirche.  Er  ist  Feind  jeder  Neue- 
mng,  und  beträfe  diese  auch  nur  einen  dogmatischen  lerndints. 
Er  wird  nicht  müde,  des  August  ums  Ausspruch  zu  citiren,  dass  an 
den  hergebrachten  Ausdrücken  festzuhalten  sey,  und  hält  hierin 
stets  die  Pariser  Universität  den  englischen  und  der  Prager  als 
Muster  vor.  Mit  dieser  Furcht  vor  Neuerungen  verträgt  sich  bei 
ihm  sehr  gut,  dass  das  Concil,  zwar  nicht  das  Papstthum  abschaf- 
fen, wohl  aber  einen  Papst  absetzen  kann.  Die  entgegengesetzte 
Lehre,  dass  der  Papst  über  dem  Concil  stehe,  nennt  er  pestifera 
et  perrersisshna,  weil  sie  gerade  die  Neuerung  sey.  Von  Alters 
habe  gegolten,  dass  der  Papst  und  sein  aristokratischer  Beirath, 
das  Cardinalscollegium,  wo  es  sich  um  Lehrbestinnnungen  handle, 
irren  könne,  das  Generalconcil  aber  nicht  (de  potest.  eccles.  WW. 

Erdmaau .  Gesch    d.  Phil.  I  OQ 


450  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

I,  II).  Obgleicli  im  Wesentlichen  mit  P.  (V Ailbj  einverstanden, 
spricht  er  doch  viel  entschiedner  als  dieser,  selbst  zum  Cardinals- 
collegium  gehörige  und  dem  Trapst  verpflichtete,  Lehrer  und  Freund. 
Aus  Gerson  spricht  fortwährend,  was  er  allein  und  mit  Leiden- 
schaft war,  der  Universitätsinann  und  der  Pfarrer.  Als  Beides 
konnte  er  keine  Vorliebe  für  die  Bettelorden  haben,  die  sich  auf 
die  Lehrstühle  und  in  den  BeicJitstuhl  hineingedrängt  hatten:  eine 
gewisse  Nichtachtung  derselben  spricht  sich  öfter  bei  ihm  aus. 

§.  221. 
Das  entsprechende  Korrelat  zu  P.  ir.iilhi  und  Gerson  bildet 
ein  Mann,  welchem  sich  die  zweite  Hälfte  des  von  der  nominali- 
stisch  gewordenen  Scholastik  gestellten  Dilemma's  (s.  §,  218)  auf- 
drängt: der  Philosophie  als  ihren  einzigen  Gegenstand  die  Welt 
zuzuweisen,  der  aber,  el)en  so  wenig  wie  jene  Beiden,  den  Willen 
hat,  mit  der  Scliolastik  -  (dies  heisst  hier:  mit  der  Theologie, 
dort  hiess  es:  mit  der  Philosophie)  —  zu  brechen.  Es  bleibt  ihm 
nur  übrig,  die  Philosophie  ganz  auf  die  Weltbeobachtung  zu  grün- 
den, dabei  aber  diese  selbst  als  Brücke  zur  kirclilichen  Theologie 
zu  brauchen.  Wenn  also  Grr,s!>n  sich  für  den  Xominalisinus  er- 
klärt, weil  der  Gegensatz  dazu  unkirchUch  sey,  so  wird  hier  ge- 
zeigt werden,  dass  für  die  Weltordnung  das  unentbehrlich  ist,  was 
die  Kirche  lelirt.  Musste  dort  die  Kirche  die  Philosopliie  bestä- 
tigen, so  verbürgt  hier  die  Weltkunde  das,  was  dei-  (xlaube  lehrt. 
Wie  es  ein  richtiger  Tact  war,  der  Gf^rsoa  dahin  brachte,  seine 
Theologie  mystisch  zu  nennen,  so  ein  gleich  richtiger  der  dem 
Bnyminfd  roii  Sahiuiftr  den  Namen  einer  natürlichen  Theolo- 
gie eingab.  Es  durfte  nicht  als  bedeutungslos  angesehn  werden, 
(vgl.  §.  194),  dass  in  ihrer  Glanzperiode  die  Scholastik  durch  Glie- 
der der  Bettelorden  vertreten  wurde.  Dass  P.  rl' .iilhj  und  (<ersnu 
Universitätsmäniier  und  Weltgeistliche  sind,  und  in  einem  kühlen 
Verhältniss  zu  den  Bettelorden  stehn,  ja  dass  in  fhiiimuiul  ein 
Mediciner  in  der  Philosophie  das  Wort  ergreift,  muss  als  ein  Zei- 
chen angesehn  werden,  dass  dieselbe  anfängt  ihren  streng  geistli- 
chen Charakter  abzustreifen. 

§.  222. 

R  a  y  m  u  n  d  von   S  a  b  ii  n  d  e. 
Hutter  die  Religionsphilosophie  des   RaymuiKlus  von  Sabunde.     Augsb.    1851. 

L  Baymiivfl  ron  Sahtnide  (anstatt  dessen  auch  Sehimde  und 
Snheydn  vorkommt)  soll  in  Barcelona  geboren  seyn,  und  hat  als 
Doctor  der  Philosophie  und  Medicin,  zugleich  aber  auch  als  Pro- 
fessor der  Theologie  in  Toulouse  gelebt,    wo  er  im  J.  14B6  seine 


1 


III.  Verfallpeiiode.     Raymund  von  Sabiiude.     §.  222,   1.  2.  -451 

Theologia  naturalis  8.  über  creaturarum  veröffentlichte,  welche  öf- 
ter (u.  A.  Fraiicof.  1635.  Solisbaci  1852  aber  ohne  den  Prolog) 
gedruckt  worden  ist.  Ein,  von  llaymund  selbst  gemachter,  Aus- 
zug daraus  sind  die  sechs  Dialogi  de  natura  hominis  (u.  A.  ge- 
druckt Lugdun.  1568  nebst  einem  untergeschobenen  siebenten) ,  die 
auch  unter  dem  Titel  Viola  animae  vorkommen  sollen.  Weiteres 
vom  Leben  Umjmjiiids  war  auch  dem  j\JoHt<ii(jne ,  der  auf  seines 
Vaters  Befehl  dessen  Schrift  übersetzte,  nicht  bekannt. 

2.  Die  öfter  (auch  bei  Ritter)  vorkommende  Behauptung,  Ray- 
mond sey  Reahst  gewesen,  wird  nicht  nur  durch  seine  ausdrück- 
liche Behauptung  Theol.  nat.  Tit.  217,  dass  die  Dinge  durch  un- 
ser Denken  ihren  modum  particularem  et  singuUirem  et  individua- 
lem  verlieren,  und  einen  modum  rommaucm  et  iiniversdlem  erhal- 
ten, welchen  sie  cxtiui  (iitlmiun  lum  finbott,  ^\'iderlegt,  sondern 
eben  so  auch  durch  den  Nachdruck,  den  er  auf  das  liberum  ar- 
bitrimn,  als  die  Herrschaft  des  Willens  über  das  Denken,  sowohl 
in  Gott  als  in  dem  Menschen  legt.  Dass  er  dabei  sehr  oft  von 
Ovcam  abweicht,  hat  nicht  darin  seinen  Grund,  dass  ihm  Scotus, 
geschweige  denn  dass  ihm  T/'/omas  mehr  aus  der  Seele  spräche, 
sondern  darin,  dass  er  sich  jene  Trennung  von  Wissenschaft  und 
Glauben,  welche  (Jccams  Centilogium  so  grell  hervortreten  Hess, 
nicht  kann  gefallen  lassen.  Da  er  überhaupt  in  seinem  Werke 
keine  Autoren  nennt,  so  ist  es  schwer  zu  entscheiden,  in  wie  weit 
er  seine  Vorgänger  gekannt  hat.  Nur  hinsichtlich  Eines  kann  kein 
Zweifel  Statt  finden,  weil  er  den  manchmal  fast  ausschreibt,  das 
ist  Ansei m.  dessen  ontologischen  Beweis  und  dessen  Chiistologie 
(Tit.  250 — 265)  von  keinem  Scholastiker  so  unverändert  aufge- 
nommen worden  ist  als  von  Raymund.  Dieser  Anschluss  ist  er- 
klärlich: die  mit  Hülfe  des  Aristotelismus  begründete  Theologie 
hatte  zum  Nomiuahsmus  geführt,  dessen  rtichtigkeit  unbestreitbar 
erschien,  aber  auch  zu  der  Behauptung,  dass  die  Dogmen  das 
Gegentheil  vom  Aristotelismus  lehren.  Wer  also  jetzt  philosophiren, 
doch  aber  auf  die  Uel)ereinstmimung  mit  dein  Dogma  nicht  ver- 
zichten wollte,  dem  blieb  nichts  übrig  als  sich  auf  den  Standpunkt, 
nicht  des  Aristotelismus  sondern  des  natürlichen  Verstandes  zu 
stellen,  mit  ihm  zunächst  die  Welt  zu  betrachten,  dann  aber  zu 
sehn,  ob  und  wie  weit  damit  die  Kirchenlehre  stimmt.  Dies  aber  war 
ja  gerade  auch  die  Aufgabe  gewesen,  die  in  ihrer  Jugendperiode 
sich  die  Scholastik  gestellt  hatte  (s.  oben  §.  194) ;  in  ihr,  nicht  in 
der  vom  Aristoteles  beherrschten  Glanzperiode  werden  also  die 
Gewährsmänner  zu  suchen  seyn.  Da  aber  musste  bei  dem  klaren 
verständigen  Sinn  des  Raymund  die  Wahl  zwischen  dem  scharfen 

29* 


452  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Anselm  und  dem  tiefen  Erlgeva  zu  Gunsten  des  Ersteren,  und 
bei  seiner  entscliiedenen  Reclitgläubigkeit ,  wenn  zwischen  Anselm 
und  RosceHln  (oder  auch  nur  Ahülard)  gewählt  werden  sollte,  eben 
so  für  Ansehn  entschieden  werden ,  mochte  dersel1)e  immerhin  Rea- 
list seyn. 

3.  In  dem  (vom  Tridentiner  Concil  seltsamer  Weise  auf  den 
Index  gesetzten)  Prolog  der  natttrlichen  Theologie  wird  als  die 
eigentliche  Grund-  und  Fundamentalwissenschaft  die  der  Welt,  den 
Menscli€n  mit  einbegrilfen ,  bestimmt,  und  dieselbe  als  das  liCsen 
in  dem  einen  der  Rücher  bezeichnet,  das  uns  gegeben  sey,  in  dem 
libcr  milurae.  in  dem  jede  Creatur  ein  Buchstabe,  der  Zusam- 
menhang derselben  gleichsam  der  Sinn  des  Niedergeschriebnen 
sey.  -Als  Ergänzung  zu  diesem  Buche  kommt  das  des  geoffenbar- 
ten Worts  Gottes,  das  wegen  der  Sünde  nothwendig,  nicht,  wie 
jenes,  auch  dem  Laien  zugänglich,  auch  nicht,  wie  jenes,  vor 
Fälschungen  sicher  sey.  Obgleich  darum  dies  zweite  Buch  durch 
diesen  übernatürlichen  Charakter  li eiliger  sey  und  höher  stehe  als 
das  erstere,  so  müsse  doch  das  Studium  mit  dem  Lesen  des  er- 
sten Buclics  beginnen ,  weil  sich  darin  die  Wissenschaft  finde,  die 
keine  andere  voraussetze,  von  dem  Einfältigsten  begriffen  wer- 
den könne,  wenn  er  nur  sein  Herz  von  Sünde  gereinigt  habe,  und 
eigentlich  auch  die  Wahrheit  und  Sicherheit  des  in  dem  anderen 
Buche  Enthaltenen  verbürge.  Yrdlige  Sicherheit  nämlich  hat  doch 
eigentlich  nur  was  der  Mensch  sich  selber  bezeugt  (Tit.  1),  und 
darum  ist  die  Selbstgewissheit  und  Selbsterkenntniss  das,  wo- 
rauf sich  zuletzt  alle  andere  Gewissheit  gründen  muss.  Nun  kann 
aber  der  Mensch,  da  er  in  der  Stufeiireihe  der  vier  Arten  von  We- 
sen —  (es  sind  dieselben  welche  nach  den  Winken  des  Arisiofe- 
les  schon  die  Stoiker  (§.  97,  3),  Philo  (§.  114,  4)  und  nach  ihnen 
die  Neuplatoniker  u.  A.  unterschieden  hatten)  —  am  Höchsten  steht 
und  das  esse,  rirere.  senUre  und  inteUiyerc  in  sich  vereinigt, 
nicht  anders  erkannt  werden,  als  indem  zuerst  die  unter  ihm  ste- 
henden Stufen  betrachtet  werden,  und  so  wird  also,  um  den  Men- 
schen zur  Einkehr  in  sich  selbst  zu  bringen,  er  dazu  gebracht  wer- 
den müssen,  die  Vorstufen ,  deren  Ziel  und  Ende  er  ist,  zu  erfor- 
schen. Am  Ende  dieses  Ganges,  der  übrigens  nur  die  erste  Ta- 
gereise (diaetü)  ist,  findet  er,  dass  er  selbst  ziu*  Natur  gehört 
freilich  als  das,  um  desswillen  alles  Uebrige  da  ist  und  in  dem 
Alles,  was  in  den  übrigen  Stufen  als  eine  Vielheit  von  Arten  ver- 
theilt  sich  findet,  zu  einer  Einheit  verbunden  ist  (Tit.  2.  3).  Hier 
aber  beginnt  eine  neue  Tagereise.  Wie  nämlich  die  vielen  Arten 
der  unteren  Stufen   auf  die   eine  species  Mensch  hinweisen,    die 


III.  Verfallperiode.     Raymund  vou  Sabuiide.     §.  222,  3.  4.  453 

iliiien  allen  durch  das  libennn  aibifrlinn,  welches  das  re/le  und 
inteUiycrc  zu  semen  Vorbedingungen  hat,  überlegen  ist,  so  wei- 
sen auch  die  Menschen  wieder  auf  eine  Einheit  hin,  in  der  nicht 
nur  keine  Art  -  sondern  auch  keine  individuellen  Unterschiede  Statt 
finden,  die  ganz  Eins  ist,  in  der  eben  darum  nicht  nui'  ihr  esse 
auch  ihr  tirere,  sondera  die  selbst  ihr  esse  u.  s.  w.  ist,  die  also 
nur  als  seyend  gedacht  werden  kann.  Diese  Einheit,  dieses  Wesen, 
das  vor  Allem  ist,  das  nicht  nicht- seyn  kann,  dies  ist  Gott  iTit. 
4  —  12).  Daraus  aber,  dass  Gott  alles  Nichtseyn  ausschliesst,  folgt 
nicht  nur  seine  Existenz,  sondern  es  ergeben  sich  daraus  sehr  wich- 
tige Folgerungen  hinsichtlich  seines  Wesens.  Alles  nämhch,  was 
sich  in  der  Creatur,  namentlicli  im  Menschen,  als  ein  wirkhches 
Seyn  findet,  das  luuss  von  jeder  Beschränkung  (d.  h.  Nichtseyn) 
befreit,  in  Gott  gesetzt  werden,  dessen  Seyn  das  allgemeine  Seyn 
aller  Dinge  ist  (Tit.  14).  So  schhessen  wir  mit  Evidenz,  dass  Gott 
die  Welt,  und  zwar  aus  Nichts,  geschaffen  habe  und  es  verbindet 
sich  hier  der  useensus,  durch  welchen  'wir  aus  der  Welt  erkennen, 
dass  Gott  ist,  mit  dem  descensns,  durch  welchen  wir  die  Welt  nur 
aus  Gott  ableiten  und  also  erkennen,  dass  sie  aus  Nichts  ist  (Tit. 
16),  Wie  im  Einzelnen  die  ^^ichtigsten  Dogmen  abgeleitet  wer- 
den, hat  um  so  weniger  Interesse,  als  es  sich  Uai/miiml  oft  ziem- 
lich leicht  macht.  Das  Wesentliche  ist,  dass  er  als  Haupt-  ja  als 
einzige  Regel  einprägt,  dass  überall  das  Bestdenkbare  Gott  beige- 
legt werden  müsse  und  dass  diese  Regel  orifur  ex  nohis  (Tit.  63. 
64),  so  dass  also  nicht  aus  Bibelsprüchen  oder  anderen  Autoritä- 
ten ,  sondern  aus  der  Selbstbeobachtung,  vermöge  der  Anwendung 
jener  Regel,  die  Hauptlehren  der  Kirche  über  das  Wesen  Gottes 
sich  ableiten  lassen.  Dabei  verfehlt  er  nicht,  von  Zeit  zu  Zeit  zu 
erinnern,  dass  diese  aus  uns  selbst  geschöpfte  Erkenntuiss  Gottes 
die  sicherste  und  nächstliegende  sey  (Tit,  82). 

4.  Die  beiden  Sätze,  die  sich  am  Schluss  jeuer  diaetue  erge- 
ben haben,  dass  der  Mensch  Ziel  und  Zweck  der  übrigen  Creatu- 
ren,  Gott  aber  Ziel  und  Ende  aller  Dinge  sey,  haben  zu  ihrer 
Consequenz,  dass  der  Nutzen  des  ^lenschen  und  die  Ehre  Gottes 
höchste  Norm  des  Handelns  oder  höchste  Verpflichtung  ist.  Der 
natürlichen  Veif  flichtung,  sein  Daseyn  zu  erhalten  und  zu  för- 
dern, kann  der  Glaube  nie  widersprechen,  da  er  selbst  ja  nur 
tomplcmeninm  Jiaturae  ist  (Tit.  80).  Vielmehr  stützt  jene  Ver- 
pflichtung unseren  Glauben  und  dass  Gott  seinen  Sohn  in  die  Welt 
gesandt  habe  u.  s.  w. ,  müssen  wir  schon  deswegen  glauben,  weil 
es  unserem  Heil  förderlich  ist  (Tit.  70.  74;.  Bescliränkt  man  den 
Nutzen  des  Menschen  nicht  nur  auf  das  Leibliche,  hält  man  na- 


454  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

mentlich  fest,  dass  das  Erkennen  der  Dinge  gavdinm  et  doctri- 
jKim  d.  h.  den  höchsten  Nutzen  gewährt  (Tit.  98)  und  dass  die 
Erkenntniss  der  Dinge  zur  Erkenntniss  Gottes  führt,  so  wird  man 
weder  leugnen,  dass  alle  Dinge  zum  Nutzen  des  Menschen  da 
sind,  noch  zwischen  diesem  Nutzen  und  der  Ehre  Gottes  einen 
Gegensatz  annehmen.  Der  Mensch,  als  das  Mittlere  zwischen  den 
Creaturen  und  Gott,  verbindet  beide,  als  die  Extreme  (Tit.  119), 
indem  er  den  Dienst,  welchen  die  Creatur  ihm,  seinerseits  Gott 
leistet  (Tit.  114)  und  also  für  alle  Creaturen  und  statt  ihrer  Gott 
antwortet  und  dankt  (Tit.  100).  Dieser  Dank  besteht  in  der  Liebe 
zu  Gott,  die  mit  dem  Erkennen  Gottes  zusammenfällt.  Gott  will 
erkannt  werden,  und  dadurch  in  der  Creatur  wachsen  (Tit.  154. 
190).  Da  aber  Gott  des  Dienstes  nicht  bedarf,  auch  in  sich  nicht 
wachsen  kann,  so  kommt  der  Gottesdienst  der  Creatur  zu  Gute 
und  sie  ist  es  eigentlich,  welche  (in  Gott  hinein-)  wächst  (Tit.  116. 
190).  Je  mehr  daher  der  Mensch  die  Ehre  Gottes  sucht,  um  so 
mehr  fördert  er  sein  eignes  Heil  und  umgekehrt,  um  so  mehr  aber 
wächst  auch  die  Gewissheit,  dass  Einer  existirt,  der  die  Verdienste 
belohnen  wird,  und  ein  Ort,  avo  dies  geschehen  wird  (Tit.  91).  Mit 
der  Liebe  zu  Gott  ist  aber  auch  von  selbst  die  Liebe  zu  den  Ne- 
benmenschen, als  zu  den  Ebenbildern  Gottes,  gegeben.  Die  natür- 
liche Liebe  zu  ihnen  geht  jener  wahrhaften  Liebe  voraus,  so  dass 
auch  hier  derselbe  nscei>svs  und  descensiis  gegeben  ist:  Erst  lieben 
wir  den  Nebenmenschen  um  unsert-,  dann  um  Gottes  "Willen  (Tit. 
120.  121). 

5,  Fragen  wir  aber,  ob  ein  solches  Zusammenfallen  der  Liebe 
zu  Gott  und  zu  uns  selbst  immer  Statt  finde,  so  lehrt  uns  die 
Erfahrung,  dass  wir  der  falschen  Selbstliebe  und  dem  Suchen  fal- 
scher Ehre  die  Liebe  zu  Gott  nachsetzen,  dadurch  strafbar  wer- 
den und  in  Folge  dessen  die  Gewissheit  eines  strengen  Richters 
so  wie  eines  Ortes  der  Pein  haben.  Eben  so  lehrt  uns  die  Erfah- 
rung, dass  statt  der  Nächstenliebe  überall  Streit  und  Feindschaft 
herrscht  (Tit.  140.  157.  91.  u.  a.).  Dieser  Zustand  kann  nicht  der 
ursprüngliche  seyn,  denn  der  eben  aufgestellte  Kanon  fordert,  dass 
die  ersten  Menschen,  die  wegen  der  Einheit  der  Menschenspecies 
ein  einziges  Paar  seyn  raussten,  aus  der  Hand  Gottes,  wenn  auch 
nicht  vollkommen  so  doch  rein  hervor  gingen  (beiie .  nnn  optime. 
Tit.  232.  274).  Die  einzig  denkbare  Weise,  in  der  jener  Zustand 
verloren  gehen  konnte,  war  Ungehorsam  gegen  Gott,  dieser  aber 
ist  ganz  unerklärlich  ohne  die  Annahme,  dass  die  ersten  Menschen 
dazu  verleitet  wurden  durch  einen  Stärkeren  als  sie,  der  aber  leich- 
ter fallen  konnte.    Unter  den  Creaturen  ist  bei  den  rein  geistigen 


in.  Verfallperiode.     Baymuud  von  Sabuude.     §.   222,  5-  4Ö5 

Wesen  das  lihernm  arbltrium,    darum  aber  auch  die  rerUhilitas, 
grösser  als  bei  denen,   \Yelchen  die  Körperlichkeit  allerlei  Fesseln 
anlegt.    Der  Yerführer   musste  also  ein  unkörperliches,  rein  gei- 
stiges aber  creatüriiches  Wesen,  d.  h.  ein  Engel  seyn  (Tit.  239 — 
242).    Ohne  Engel  wäre   übrigens   auch  eine  Lücke  in  der  Reihe 
der  Creaturen,  und  die  Analogie  fordert,  dass  wie  unter  dem  Men- 
schen  drei  Ordnungen  von  Creaturen  stehen,  eben  so  auch  über 
ihm  drei  (die  bekannten  Hierarchien)  stehen  (Tit.  218).  Dass  nun 
durch  den  Fall   des  Menschen  die  Ehre  Gottes,  für  die  es  kein 
Aequivalent  gibt,   gefährdet  ist,  und  dass  derselbe  eben  darum 
nur  durch  das  Leiden  eines  Gottmenschen  gesühnt  werden  kann, 
das  wird  (Tit.  250 — 2(m),  wie  schon  oben  angedeutet  ward,  in  völ- 
üger  oft  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  Anselms  Cur  Dens  homo? 
(s.  oben  §.  156,  8)   entwickelt.    Eigenthümhch  ist  nun  dem  Uay- 
mmid,  dass  er  sich  nun  die  Frage  aufwirft,  wie  wir  denn  gewiss 
seyn  können,  dass  dieser,  allerdings  nothwendige  Gottmensch  ge- 
rade in  der  historischen  Persönlichkeit,  Jesus  ron  yazaref/'.  er- 
schienen sey  V  Das  eigne  Zeugniss  Jesu  ist,  da,  wenn  es  falsch  wäre, 
wir  nur  die  Wahl  hätten,  ihn  für  einen  Lügner  oder  einen  Ver- 
rückten zu  halten,  entscheidend ;  eben  so  das  Schicksal  der  Juden, 
die,  wenn  er  log,  ihn  mit  Recht  getödtet,  dann  aber  Lohn  geerntet 
hätten  (Tit.  20G).   Dazu  nun,  dass  dieses  Zeugniss,   so  wie  Alles 
wodurch  es  beglaubigt  wird,  bekannt  werde,  dazu  war  eine,  über 
alle  Zweifel  erhabene,   authentische  Nachricht  nöthig  und  diese 
gibt  uns  das  zweite  Buch,   in  dem  Gott  nicht  sein  fucliim  son- 
dern sein  rerhum  uns  darbietet:   die  Bibel  alten  und  neuen  Bun- 
des.   Es  widerspricht  dem  Über  jiaiurae  nicht;   vielmehr  ist  dies 
letztere  zu  jenem  ria.  jaimu  et  i/itjodnclorlinn.  weil  es  uns  lehi't, 
dass  der  Gott  ist,  von  dem  eingegeben  zu  seyn,  das  zweite  Buch, 
die  h.  Schrift,    behauptet   (Tit.  21U.  211).    Uebrigens  zeugt  auch 
der  ganze  Inhalt  der  Schrift  so  wie  die  Weise,  in  der  sie  belehrt, 
dass  sie  nämlich  gar  nicht  argumentirt  u.  s.  w.,  für  jeden  Unbe- 
fangenen für  die  Göttlichkeit  ihres  Ursprungs  (Tit.  212  S.).   Durch 
die  Erlösung,  durch  welche  der  Mensch  zum  zweiten  Male  aus  dem 
Nichts,  jetzt  nicht  aus  dem  iii//i/  neyulkum  sondern  dem  n.  pri- 
ralivitm,   geschaffen   wird,   hat  der  Mensch  einen  dreifachen  Ur- 
sprung: den  leiblichen  von  seinen  Eltern,  den  seeUschen  von  Gott, 
den  des  Heils  (bene  esse)   von  Christo,   und  lebt  darum  in  einer 
dreifachen  Brüderschaft  mit   allen  Menschen   (Tit.  275.  276.  278). 
Für  die   letzte  und  höchste,   die  kirchliche,   sind  die  Erhaltungs- 
niittel  die  sieben  Sakramente,  mit  deren  Betrachtung,  so  wie  escha- 
tologischen  Lehren  das  Werk  schhesst.    Auch  bei  diesen  wird  nicht 


456  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

durch  Berufung  auf  die  Autorität  der  Kirche,  sondern  aus  der 
Natur  der  Sache  bewiesen,  dass  es  das  Entsprechendste  ist,  wenn 
die  innere  Abwaschung  durch  ein  Wasserbad,  das  innerliche  Er- 
nährtwerden durch  Speise  und  Trank  vermittelt  werde  u.  s.  w., 
eben  so  dass  das  ganz  nothwendige  und  natürliche  Ende  der  zwei 
entgegengesetzten  Wege,  welche  die  Guten  und  Bösen  wandeln, 
die  zwei  auch  local  von  einander  entfernten  Wohnsitze  im  ober- 
sten Himmel  und  inmitten  des  Erdkörpers  seyn  müssen  (u.  A. 
Tit.  91).  Wie  der  natürliche  Zug  der  Schwere  den  Arm  nach  un- 
ten fallen  lässt,  und  nur  Solches,  was  über  seine  Natur  hinaus- 
geht, ihn  in  die  Höhe  hebt,  so  geht  der  natürliche  Zug  der  sün- 
digen Seele  ohne  übernatürliche  Hülfe  zu  dem  Nichts  und  seinem 
Wohnsitz  (Tit.  277). 

§.  223. 
Der  Gegensatz  zwischen  Gerson,  dessen  mystischer  Zug  ihn 
oft  zu  einem  blossen  Wiederholen  Bonaventura'scher  Lehren  bringt, 
und  Binfmiind,  der  sich  Keinem  der  Früheren  so  anschliesst  als 
dem  scharfsinnigen,  aller  Mystik  haaren  Ansehn,  dieser  löst  sich 
in  einem  Mann,  bei  dem  es  schwer  ist  zu  entscheiden,  ob  die  Tiefe 
des  Geistes  oder  die  Schärfe  des  Verstandes,  ob  die  innige  Fröm- 
migkeit oder  das  Interesse  an  der  Welt-  und  ihrer  Erkenntniss, 
mehr  zu  bewundern:  in  dem  Nicolans  von  Citsa.  In  merkwürdi- 
ger Allseitigkeit  fasst  er  die  verschiedensten  Richtungen  zusam- 
men, die  sich  bisher  innerhalb  der  Scholastik  gezeigt  hatten.  Dass 
dies  ihn  zum  Er'ujena  zurückführt,  der  sie  alle  in  sich  gebunden 
hatte,  ist  begreiflich,  es  erscheint  aber  hier  der  Ausgangspunkt 
erweitert  zu  einem  Kreise,  der  Alles  umfasst,  was  die  auf  jenen 
folgenden  Stufen  gezeigt  hatten.  Die  Streitfrage,  welche  der  Ju- 
gendperiode der  Scholastik  so  wichtig  war,  erscheint  hier  geschlich- 
tet, indem  er  die  Realisten  vom  Vorwurf  des  Pantheismus,  die 
Gegner  desselben  von  dem  gottloser  Weltvergötterung  freispricht 
und  die  vermittelnde  conceptualistische  Richtung  gleichfalls  vertritt. 
Der  Piatonismus  und  die  ihm  gegenüberstehende  atomistische  Ten- 
denz, die  jene  Periode  in  Zwiespalt  brachte,  vereinigen  sich  hier 
in  einer  Weise,  die  manchmal  an  Wilhcbn  von  Conches  (s.  §.  162) 
erinnert.  Ganz  wie  die  Scholastiker  der  Glanzperiode  aber  schöpft 
auch  Nicolaus  fortwährend  aus  den  muselmännischen  Peripateti- 
kern  und  dem  Aristoteles  selbst;  er  wagt  es,  den  Ersten,  der  dies 
gethan,  den  David  ton  Dinanlo  (s,  §.  192)  zu  rühmen,  und  macht 
wie  er  und  seine  Nachfolger,  die  grossen  Peripatetiker  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  gethan  hatten,  den  Aricenna  oder  jüdische 
Lehrer  zu  Gewährsmännern   seiner  Behauptungen.    Endlich  aber 


III.    Verfallperiode.     Nicolaus  vou  Cusa.     §.  224,  1.  457 

zeigt  die  Vorliebe  für  mathematische  und  kosmologische  Studien 
eine  solche  Geistesverwandtschaft  mit  Roger  Buco  ^  seine  Beto- 
nung der' Individualität  mit  Wilhelm  vou  Occam,  und  er  stimmt 
in  so  vielen  Punkten  fast  wörtlich  überein  mit  Gersou,  dass  man 
kaum  umhin  kann  bei  ihm  Entlehnungen  anzunehmen  aus  den 
Hauptrepräsentanten  der  Verfallperiode  der  Scholastik.  Die  Strah- 
len, welche  Erigcna,  dieser  epochemachende  Lichtpunkt  der  Scho- 
lastik, verbreitet  hatte,  sammeln  sich  als  in  einem  Brennpunkte  im 
Nicolaus,  der  ilu-e  Periode  abschliesst.  — 

§.  224 

Nicolaus  von  Cusa. 

F.  A.  Scharpff  der  Cardinal  Nicolaus  von  Cusa.  Mainz  1843.  Dess.  des  Car- 
dinais und  Bischofs  Nicolaus  von  Cusa  wichtigste  Schriften  in  deutscher  Uebersetzuug. 
Freiburg  1862.  F.  I.  Clemens  Giordano  Bruno  und  Nicolaus  von  Cusa.  Bonn  1847. 
/.  M.  Düx  der  deutsche  Cardinal  Nicolaus  von  Cusa  und  die  Kirche  seiner  Zeit.  Re- 
gensburg 1847. 

1.  JSicolaus  C/rrifpffs  (d,  h.  Krebs)  ist  im  J.  1401  in  Cues 
bei  Trier  geboren  und  wird  nach  diesem  Orte  der  Cusaner  genannt. 
Seine  erste  Schulbildung  erhielt  er  zu  Deventer,  in  dem  von 
Geert  de  Groot  gegründeten  Verein  der  Brüder  zum  vereinigten 
Leben,  gewöhnlich  Fraterherren  genannt,  in  deren  Reihen  er  selbst 
später  eingetreten"  ist.  Da  Tliomas  a  Kempis  (s.  unten  §.  231,  4) 
in  diesem  Hause  gebildet,  und  von  da  in  sein  Kloster  gegangen 
war,  so  war  es  erklärlich,  dass  Nicolans  schon  hier  sein  berühm- 
tes Andachtsbuch  kennen  lernte.  Dann  begab  er  sich  nach  Padua 
und  studirte  dort  die  Rechte,  ward  auch  im  J.  1424  Doctor  des 
kanonischen  Rechts,  zugleich  hatte  er  sich  da  zu  einem  in  der 
Mathematik  bewanderten  Mann  ausgebildet.  Schon  im  J.  1428  gab 
er  den  Anwaltsberuf,  den  er  in  Mainz  ergriflen  hatte ,  auf  und  er- 
wählte den  geistlichen.  Seit  1431  Diacon  in  Coblenz,  predigt  er 
oft  und  verwaltet  dann  ein  geistliches  Amt  in  Lüttich.  In  Basel, 
zu  dessen  Concil  er  berafen  war,  beendigt  er  im  J.  1433  die,  schon 
früher  begonnene,  Schrift  de  concordantia  catholica,  in  welcher  die 
Unterscheidung  der  römischen  und  allgemeinen  Kirche  ihn  zu  An- 
sichten über  Papst  und  Concil  bringt,  welche  er  später,  vielleicht 
erschrocken  über  die  Consequenzen,  die  Andere  daraus  zogen,  mo- 
dificirt  hat.  Den  Ketzern  gegenüber  betont  er  übrigens  von  An- 
fang an  den  Primat  des  Papstes;  so  in  seinen  Sendschreiben  an 
die  Böhmen  über  die  Form  des  Sakraments.  Die  im  J.  1436 
verfasste  Schrift  de  reparatione  calendarii  zeigt  die  astronomi- 
schen Kenntnisse  ihres  Verfassers ,  der ,  um  den  compufvs  mit  der 


458  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

Natur  und  den  kirchlichen  Bestimmungen  in  Einklang  zu  brin- 
gen, anräth,  im  J.  1439  vom  24*'^"  Mai  sogleich  auf  den  1'""  Juni 
überzuspringen,  und  im  304"'"  Jahre  einen  Schalttag  auszulassen. 
Von  einem  Anhänger  des  Concils  zum  Vertreter  der  päpsthchen 
Rechte  geworden,  wird  Nicofans  vom  Papst  Elften  IV  mit  wich- 
tigen Gesandtschaften  in  Frankreich,  Constantinopel,  namentlich 
auf  dem  Reichstage  zu  Frankfurt,  betraut.  Mitten  unter  dieäen  Ge- 
schäften war  er  aber  wissenschaftlich  sehr  tliätig ;  der  Plan  zu  sei- 
ner eisten,  1440  verfassten  Schrift  de  docta  ignorantia,  ist  auf 
der  Ueberfahrt  von  Constantinopel  gefasst.  Schon  in  demselben 
Jahr  folgte  ihr  de  conjecturis;  nicht  viel  später  de  filiatione  Dei 
und  de  genesi.  Vom  Papst  Nicolaus  V  ward  ihm  die,  damals 
für  einen  Deutschen  unerhörte,  Ehre,  am  28''^"  Dec.  1448  zum  Car- 
dinal ernannt  zu  werden;  im  J.  1450  erhielt  er  das  Bisthum  Bri- 
xen,  das  er  aber  erst  nach  langen  Missionsreisen  in  Deutschland 
und  den  Niederlanden  antrat;  die  Händel  mit  dem  Erzherzog  Sig- 
mvnil  von  Oesterreich,  der  als  Graf  von  Tyrol  des  Bischofs  Lehns- 
mann war,  verbitterten  ihm  das  Leben,  führten  ihn  sogar  in  eine 
gewaltsame  Gefangenschaft,  Nach  mehrjähriger  Abwesenheit  von 
seinem  Bisthum  starb  er  am  11"""  Aug.  1464  in  Todi.  Die  erste 
Ausgabe  seiner  Werke,  von  denen  er  die  meisten  als  Cardinal  ge- 
schrieben hat,  ist  ein  Band  in  kl.  Fol.  wahrscheinlich  1476  ge- 
druckt. Die  Ausgabe  des  Ascensius  (Paris  1514),  die  hier  be- 
nutzt ist,  umfasst  drei  Foliobände,  und  ist  viel  vollständiger  als 
jene.  Sie  enthält  im  Ersten  Bande:  de  docta  ignorantia  libb. 
III,  (Bernhard  T)on  Wo  ging' s)  Apologia  doctae  ignorantiae,  de 
conjecturis  hbb.  II,  de  filiatione  Dei,  de  genesi,  Idiotae  libb.  IV, 
de  visione  Dei  s.  de  icone,  de  pace  fidei,  Cribrationum  Alchoran 
libb.  III,  de  ludo  globi  libb.  II,  Compendium,  Dialogus  de  possest, 
de  beryllo,  de  dato  patris  luminum,  de  quaereudo  Deum,  de  ve- 
natione  sapientiae,  de  apice  theoriae.  Zweiter  Band:  De  Deo 
abscondito,  Dialogus  de  annunciatione ,  de  aequalitate,  Excitatio- 
num  libb.  X,  Conjectura  de  novissimis  diebus,  Septem  epistolae, 
Reparatio  calendarii,  Correctio  tabularum  Alphonsi,  de  transmuta- 
tionibus  geometriae,  de  arithmeticis  complementis,  de  mathemati- 
cis  complementis,  Complementum  theologicum,  de  mathematica  per- 
fectione.  Dritter  Band:  De  catholica  concordantia  libb.  III.  — 
Ausser  diesen  Ausgaben  existirt  noch  die  Henricpetrinische.  Basel 
1565.    Vieles  ist  noch  ungedruckt. 

2.  Mit  Erigena.  den  er  (aber  als  Scotigeiia,  vgl.  §.  154,  1)  sehr 
oft  rühmend  erwähnt,  unterscheidet  Nicota/is  im  Menschen  Sinn, 
Verstand  und  Vernunft   (sensns ,  ratio,   inteUcctus.    de  doct.  ign.  . 


III.  Verfallperiode.     Nicolaus  von  Cnsa.     §.  224,    'l  459 

in,  6).  Obgleich  dem  Sinne  die  unterste  Stelle  zukommt,  beginnt 
doch  alle  Erkenntniss  mit  ihm,  indem  die  Sinne  mis  die  ersten, 
ganz  positiven ,  Elemente  alles  "Wissens  liefern ,  welche  der ,  abstra- 
hirende  und  darum  negirende,  Verstand  dann  weiter  verarbeitet 
(de  conject.  I,  10).  Dass  Nichts  im  Verstände  ist ,  was  nicht  früher 
im  Sinne  gewesen  wäre  (Idiot.  III,  2),  dass  der  Verstand  der  an 
die  Wahrnehmungen  sich  anschliessenden  Vorstellungen  oder  pl/iui- 
tusnuiid  bedarf,  darin  haben  die  Peripatetiker  ganz  Recht ;  man 
darf  aber  nur  nicht  vergessen,  dass  die  Platoniker  auch  Recht 
haben,  wenn  sie  behaupten,  dass  der  Verstand  seine  Erkenntnisse 
aus  sich  schöpfe:  ohne  Gegenstände  und  Licht  kann  man  nicht 
sehen,  aber  ohne  Sehkraft  eben  so  wenig  (Idiot.  III,  4).  Die  sinn- 
liche "Wahrnehmung  macht  uns  mit  dem  "Wirklichen  beüaunt ,  d.  h. 
mit  dem,  was  hie  und  in  his  rebus  ist  —  (d.  h.  luiceeeitns  des 
Diivs  Senh(s)  — ,  und  eben  darum  mehr  als  ein  blosses  Gedanken- 
ding (Ebendas.  c.  11).  Dieser  Vorzug  des  Sinnes  wird  nun  aber 
dadurch  sehr  vermindert,  dass  seine  "Wahrnehmungen  verworren 
sind;  eben  wegen  ihres  ganz  positiven  Charakters,  indem  in  ihnen 
nicht  unterschieden  wird.  Das  Unterscheiden  ist  Sache  des  Ver- 
standes, dessen  Thun  also  positiven  und  negativen  Charakter  hat, 
indem  er  bejaht  und  verneint ,  darum  aber  auch  zu  seinem  Funda- 
mentalgesetz den  Gegensatz  der  Bejahimg  und  Verneinung,  d.  h. 
die  Unvereinbarkeit  der  Gegensätze  hat  (De  conject.  I,  11.  11,  2). 
Uebrigens  kann  innerhalb  des  Verstandes  noch  ein  Unterschied  ge- 
macht werden  zwischen  der  niederen  Vorstellung ,  inidgiiudio.  wel- 
che dem  Simi,  und  der  höheren,  der  eigentlichen  ratio,  welche 
der  Vernunft  näher  steht  (Ebendas.  c.  11).  Wenn  die  Sinnlich- 
keit es  mit  dem  Materiellen,  aber  Wirklichen,  zu  thun  hat,  so 
der  Verstand  mit  den  Formen,  mit  Gattungen,  Arten  u.  s.  w., 
kurz  mit  den  Universalien,  welche  realiter  nur  in  den  Dingen  exi- 
stiren ,  für  sich  aber  oder  von  den  Dingen  abstrahirt  bloss  mentale 
Existenz  haben  (doct.  ign.  II,  6.  III,  1).  Von  allen  Formen,  de- 
ren sich  der  Verstand  bedient,  um  zu  Erkenntnissen  zu  gelangen, 
nehmen  die  Zahlen  die  oberste  Stelle  ein.  Die  Mathematik ,  dieser 
Stolz  des  Verstandes,  bemht  darum  auf  dem  Gnindsatze  der  Un- 
vereinbarkeit der  Gegensätze,  ganz  wie  die  bisherige,  namentlich 
die  Aristotelische  Philosophie  (u.  A.  de  beryllo  c.  25.  de  conject. 
1 ,  4).  Doch  ist  gerade  aus  der  Mathematik  der  bequemste  Ueber- 
gang  in  das  Gebiet  der  Vernunft  zu  machen ,  und  die  Zahlen,  diese 
symbolischen  Urbilder  der  Dinge  (de  conject.  I,  4) ,  wie  die  Pytha- 
goreer  richtig  eingesehn  haben,  oder  auch  andere  mathematische 
Begriffe,  geben  das  bequemste  Mittel  ab,  um  aus  dem  Rationellen 


460  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

oder  Iiitelligiblen  heraus  zum  Intellectiblen ,  oder  auch  von  der 
disciplina  zur  inteirigcntia  überzugehn  (u.  A.  Idiot.  III,  8).  Denkt 
man  sich  nämlich  den  Gegensatz  von  Gerade  und  Krumm,  wie 
ihn  die  Sehne  und  der  Kreisbogen,  oder  auch  von  Linie  und  Win- 
kel, wie  ihn  die  Hypotenuse  und  der  rechte  Winkel  im  Dreieck 
darbieten,  und  denkt  sich  nun  den  Kreis  oder  auch  den  Winkel 
immer  grösser  Avei'den,  so  wird  natüi'lich  dort  der  Pfeil  des  Bogens, 
hier  die  Höhe  des  Triangels  immer  kleiner,  und  da  es  nach  der 
Philosophie  keinen  Progress  ins  Endlose  gibt,  so  werden  endlich 
Bogen  und  Sehne,  Winkel  und  Linie  zusammenfallen.  Dies  gäbe 
also  eine  coincidentiu  coiitiuidictoriorum ,  von  der  die  Peripateti- 
ker  nichts  wissen  wollen,  die  aber  in  das  höchste  Gebiet,  das  der 
Vernunft,  hinüber  weist  (u.  A.  Apol.  doct.  ignor.  fol.  35).  Was 
nämlich  der  Verstand  trennt,  das  verbindet  die  Vernunft  (de  con- 
ject.  I,  11).  Versteht  man  nun,  wie  das  gewöhnlich  geschieht, 
unter  Wissen  das  Auffassen  durch  den  trennenden  Verstand,  oder 
den  dlscursns ,  so  ist  das  Erfassen  durch  die  Vernunft  ein  Nicht- 
wissen, also  igvoraniia ;  da  aber  der,  welcher  sich  dazu  erhebt, 
weiss ,  dass  es  kein  Verstandeswissen ,  so  ist  es  ein  bewusstes  Nicht- 
wissen, daher  docta  ignor  (int  in  ;  mit  welchem  Worte  Nlcolnns  nicht 
nur  in  seinem  ersten,  sondern  auch  noch  in  seinen  späteren  Wer- 
ken seinen  Standpunkt  bezeichnet.  Andere  Ausdrücke  für  dieses 
über  das  Verstandeswissen  Hinausgehen  sind:  risio  sine  cotnprc- 
hensione  (de  apice  theor.),  compre/icnsio  incomprel/ensibilis ^  sj)e- 
cnldtio  i  Intititio.  mystica  thcologia  (de  vis.  Dei),  iertins  coelus 
(doct.  ign.  III,  11),  sfqnenlia  i.  e.  sapida  scienlia  (Apol.  doct.  ign. 
—  De  ludo  globi  u.  a.  a.  0.),  fidcs  formnta  (doct.  ign.)  u.  a.  m. 
Die  Vernunfterkenntniss  steht  dem  Sinn  und  dem  Verstände  ganz 
gleichmässig  gegenüber,  indem  der  erstere  nur  Bejahungen,  der 
zweite  Bejahungen  und  Verneinungen  enthält,  die  Vernunfterkennt- 
niss aber,  wie  dies  schon  der  Areopagite  gelehrt  hat,  nur  vernei- 
nende Sätze  enthält  (de  conject.  I,  10.  doct.  ign.  I,  26).  So  ist 
es  nämlich,  weil  sie  alle  Gegensätze  leugnet,  etwas  was  sie  in 
Stand  setzt,  in  allen  Ansichten  Wahrheit  anzuerkennen,  da  auch 
die  allerentgegengesetzten  hier  zusammenfallen  (de  filiat.  Dei).  Mit 
dieser  vornehmen  Stellung  über  allen  Einseitigkeiten  hängt  es  zu- 
sammen, dass  der  Cusaner  nicht  nur  versucht  die  griechische  mit 
der  römischen  Kirche  auszusöhnen,  sondern  dass  er  in  seinen  Cri- 
brat.  Alchor.  sogar  den  Versuch  macht,  in  der  Religionslehre  der 
Muselmänner  den  Irrthum  von  der  Wahrheit  zu  trennen. 

3.  Nicht  bloss  dem  Range  nach  ist  das  erste  Object  jener  my- 
stischen Intuition  die  Gottheit,   sondern  auch  der  Zeit  nach,  da 


m.  Verfallperiode.     Nicolaus  von  Cusa.     §.  224,  3.  461 

ohne  sie  man  gar  Nichts  erkemien  würde.  Gott  nämlicli  ist  der 
Inbegriff  alles  Seyns ,  indem  er  Alles  enthält ,  Alles  aus  sich  ent- 
faltet (doct.  ign.  II,  3),  existirt  er  in  Allem  in  beschränkter,  con- 
creter  Weise  (coufracfe  ebend.  c.  9).  Weil  über  allen  Gegensätzen, 
steht  Gott  auch  dem  Nichtseyn  nicht  gegenüber,  er  ist  und  ist 
nicht,  ja  er  steht  dem  nil/U  näher  als  dem  (ilüjuid  (de  genesi.  — 
doct.  ign.  I,  17).  Er  muss  das  Grösste  seyu,  denn  er  umfasst 
Alles,  und  das  Kleinste,  denn  er  ist  in  Allem  (de  ludo  globi  II. 
init.  doct.  ign.  I,  2);  er  ist  das  jenseits  der  Coiucidenz  der  Ge- 
gensätze wohnende  (de  vis.  Dei.  0),  in  dem  eben  darum  kein  Ge- 
gensatz von  Können  und  Seyn  Statt  findet,  und  der  das  Kann-Ist 
(Posacsf)  genannt  werden  kann,  der  nur  nicht  nicht -seyn  kann 
(Dial.  de  possest).  Oder  aber ,  da  in  ihm  nicht  zu  dem  Posse  das 
Esse  hinzuzutreten  hat ,  kann  er  das  reine  Können ,  posse  ipsimi, 
genannt  werden,  zu  dem  sich  das  posse  esse,  passe  virere  u.  s,  w. 
als  ein  posse  enm  addUo .  also  als  ein  besdiränktes  Können,  ver- 
hält. Dieses  reine  Können,  das  allem  anderen  Können  so  zu  Grunde 
hegt  und  vorausgeht ,  wie  das  Licht  der  Sichtbarkeit ,  ist  Gott  (de 
apice  theor.).  Weil  alle  Dinge  von ,  durch  und  zu  Gott  sind ,  muss 
er  als  der  Dreieinige  gedacht  werden ,  als  tricausal ,  indem  er  die 
bewegende,  formale  und  End -Ursache  aller  Dinge  ist,  und  den 
Unterschied  von  unitas ,  iteqmiütas  und  nejus  darbietet,  als  der, 
welcher  Alles  in  Allem  als  Vater  ist,  als  Sohn  kann,  als  heiliger 
Geist  wirkt  (de  ludo  globi  I.  de  dat.  patr.  lum.  5).  Ausser  die- 
sem posse  ipsum  muss  den  Dingen  auch  ihr  posse  esse  vorgedacht 
werden,  und  diese  beschränkte  Möglichkeit  der  Dinge  ist  ihre  Ma- 
terie, die,  weil  sie  jenes  absolute  Können,  das  nicht  ein  posse 
esse,  sondern  ein  posse  fueere  ist,  voraussetzt,  nicht  der  absolute, 
sondern  der  beschränkte  Grund  der  Dinge  ist.  Eine  absolute  Mög- 
lichkeit derselben  ausser  Gott  gibt  es  nicht  (doct,  ign,  II,  8).  Weil 
die  Materie  nur  das  posse  esse  der  Dinge,  ist  sie  nichts  Wirkli- 
ches (actit) .  sie  ist  für  sich  genommen  Nichts,  und  darum  kann 
man  sagen,  dass  die  Dinge  entstehen,  indem  Gott  sich  in  das  Nichts 
hinein  entfaltet  (Ebend.  II,  3).  Das  ganz  verschiedene  Veihältniss, 
in  welchem  diese  beiden  Vorbedingungen  der  Dinge ,  Gott  und  die 
Materie,  zu  ihnen  stehen,  indem  Gott  das  ist  was  ihnen  ihr  rea- 
les Seyn ,  die  Materie  was  ihnen  ihre  Beschränktheit  gibt ,  hat  der 
Cusaner  öfter  ganz  in  Erigeiias  Terminologie  fixirt,  indem  er  die 
Dinge  als  Theophanien  bezeichnet.  Viel  eigenthümlicher  erscheint 
er  aber,  indem  er  auch  hier  wieder  die  Zahlenlehre  zu  Hülfe  ruft. 
Da  Gott  der  Inbegriff  alles  Seyns,  so  kann  er  als  die  absolute 
Einheit  bezeichnet  werden.     Ganz  wie  jede  Zahl  eigentlich  Eins 


462  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

ist  (die  Sieben  eine  Sieben,  die  Zehn  ein  Denar),  und  dieses  Eins 
seyn  von  den  Unterschieden  der  Zahlen  gar  nicht  taugirt  wird 
(die  Zehn  ist  nicht  weniger  eine  Zehn  als  die  Sieben  eine  Sie- 
ben), gerade  so  ist  Gott  die  absolute  Einheit  ohne  alle  Anderheit 
(alterifas),  die  für  ihn  gar  nicht  existirt.  In  den  Dingen  erscheint 
uns  die  Einheit  mit  der  alleriUis  behaftet ,  aus  der  alle  Beschrcinkt- 
heit,  alles  üebel  u,  s.  w.  stammt,  die  alle  nichts  Wahrhaftes  sind 
(doct.  ign.  I,  24.  de  ludo  globi  I).  Damit  dass  Gott  über  aller 
Anderheit  steht,  damit  auch  über  aller  Endlichkeit.  Seine  Un- 
endlichkeit aber  ist  nicht  nur  die  privative  Abwesenheit  des  Endes 
oder  der  Grenze,  wie  sie  uns  in  dem  grenzenlosen  Universum  be- 
gegnet, sondern  seine  Unendlichkeit  ist  wirkliche,  absolute,  weil 
er  das  Ende  seiner  selbst  ist  (de  vis.  Dei  13.    doct.  ign.  II,  1). 

4.  Von  Gott  als  dem  Inbegriff  (compllcatlo)  alles  wahrhaften 
Seyus  ist  dann  überzugehn  zu  dem  Universum,  als  der  explicaüo 
Del.  Hier  erklärt  sich  nun  Nlcolaiis  entschieden  gegen  alle  An- 
sichten, die  man  später  pantheistische  genannt  hat.  Nicht  nur 
dagegen,  dass  alle  Dinge  Gott  seyen  (doct.  ign.  II,  2),  sondeni 
auch  gegen  jede  Emanation,  möge  dieselbe  als  eine  unmittelbare, 
möge  sie  als  eine  durch  Mittelwesen,  Weltseele,  Natur  u.  s.  w. 
vermittelte  gedacht  werden.  Sondern,  obgleich  er  selbst  zugibt, 
dass  das  Wie  dem  Verstände  unbegreiflich  bleibe ,  fordert  er  doch, 
dass  die  W^elt,  dieses  Abbild  Gottes,  das  eben  deswegen  der  end- 
liche Gott  genannt  werden  kann,  als  geschaffen  gedacht  werde 
(doct.  ign.  II,  2).  Zu  Gott,  dem  absolut  Grössten  und  der  abso- 
luten Einheit,  verhält  sich  daher  die  Welt  als  das  concret  (con- 
Ivücte)  Grösstc  und  Eine,  das  eben  darum  nicht  ohne  Vielheit  ist. 
Gott  als  das  absolute  Seyn  der  Dinge  ist  in  absoluter  Weise  was 
die  Dinge  sind,  d.  h.  was  in  ihnen  wahres  Seyn  ist;  auch  das 
Universum  ist  was  die  Dinge  sind,  aber  in  beschränkter,  concreter 
Weise.  Während  also  Gott,  das  absolute  Seyn,  nicht  anders  in 
der  Sonne  ist  als  in  dem  Monde,  ist  das  Universum  in  der  Sonne 
als  Sonne  oder  sonnenmässig,  im  Monde  mondhaft.  Man  kann  sa- 
gen, wie  Gott  im  Universum  in  beschränkter  Weise  erscheint,  so 
das  Universum  in  beschränkter  Weise  in  den  einzelnen  Dingen,  so 
dass  das  Universum  gleichsam  die  Mitte  bildet  zwischen  Gott  und 
den  Dingen  (doct.  ign.  II,  4).  Als  dieses  beschränkte  Abbild  der 
Gottheit  muss  das  Universum  auch  in  nur  beschränkter  Weise  der 
Prädicate  Gottes  theilhaft  seyn.  War  Gott  das  absolut  Grösste, 
worüber  nichts  Grösseres  und  Besseres  denkbar,  so  ist  das  Univer- 
sum zwar  nicht  das  nicht  vollkommner  zu  denkende,  wohl  aber 
das,   welches  unter  den  gegebnen  Umständen  das  beste  ist.     Es 


m.  Verfallperiode.     Nicolaus  von  Cusa.     §.  224.  4.  463 

ist  das  relativ  Vollkommenste.  Ist  Gott  der  ewige ,  so  kommt  dem 
Universum  das  Prädicat  der  endlosen  Dauer  zu ,  die  ein  beschränk- 
tes Abbild  der  E^^igkeit  ist  (de  genesi).  War  Gott  der  absolut 
unendliche,  so  das  Universum  das  grenzenlose,  in  dem,  weil  es 
keine  Grenzen  hat ,  überall ,  d.  h.  nirgends,  das  Centrum  sich  findet 
(doct.  ign.  II,  11).  Endlich  zeigt  das  Universum  das  beschränkte 
Abbild  der  Dreieinigkeit  darin ,  dass  sich  in  ihm  mit  der  Materie, 
als  der  Möglichkeit  des  Seyns,  die  im  göttlichen  Wort  enthaltene 
Idee,  als  Form,  zu  der  Einheit  verbindet,  die  sich  in  der  Bewe- 
gung zeigt ,  diesem  eigentlich  begeistenden  Princip  der  Welt.  Weil 
die  Bewegung  dies  ist,  kann  es  im  Universum  Nichts  geben,  was 
der  Bewegung  ganz  baar  wäre.  Auch  die  Erde  bewegt  sich  (doct. 
ign.  II,  7).  Geht  mau  nun  von  dem  Universum  als  Ganzem  zu 
den  einzelnen  Bestaudtheilen  desselben  über,  so  kommt  in  jedem 
Wesen  zu  dem  eigentlichen  Seyn,  veimöge  dessen  es  eine  Partici- 
pation  und  ein  Spiegel  Gottes  ist,  die  Anderheit,  dieses  nicht 
eigentlich  Wirkliche,  welches  eben  deswegen  auch  nicht  als  Gabe 
Gottes  augesehn  werden  darf,  hinzu,  weiui  anders  dieses  Zufallen 
(conthigorv)  eines  Mangels  (defechis)  ein  Hinzukommen  heissen 
darf.  Indem  vermöge  dieses  ein  jedes  Ding  mehr  oder  minder  von 
seinem  Urbilde  in  Gott  abweicht,  gerade  wie  jeder  wirkliche  Kreis 
von  der  Rundheit,  gibt  es  keine  zwei  gleiche  Dinge  in  der  Welt 
(doct.  ign.  II,  11).  Dieses  verschiedene  Abspiegeln  eines  und  des- 
selben hat  aber  auch  die  Folge ,  dass  eine  absolute  Harmonie  zwi- 
schen den  Dingen  Statt  findet,  sie  einen  Kosmos  bilden  (de  genes.). 
Gerade  durch  die  Schranken  dei'  Dinge  ist  das  Universum  eine 
wirkliche  Ordnung,  ein  System.  Da  nun  aber  wir  eine  Ordnung 
kaum  zu  denken  vei'inögen,  als  indem  väx  die  Zahl  zu  Hülfe  neh- 
men, die  Zahl  aber  ganz  besonders  daiin  sich  als  eine  Ordnung 
zeigt ,  dass  die  Zehnzahl ,  wozu  sich  der  Quaternar  der  ersten  vier 
Zahlen  zusammenschliesst,  in  unserem  Zahlsystem  stets  wiederkehrt, 
so  darf  es  nicht  in  Verwundrung  setzen,  dass  in  der  Darstellung 
der  Ordnung  im  Universum  bei  Xko/tnis  die  Zehnzahl  und  ihre 
Potenzen  eine  so  gi'osse  Rolle  spielen.  Den  drei  ersten  Potenzen 
von  Zehn  als  den  Summen  der  drei  Quaternare  1  -|-  2  -f  3  -j-  -1, 
10  +  20-}- 30-1- 40,  100-f  200 -f  300  +  400,  welche  als  Symbole 
des  Vernünftigen,  Verständigen  und  Sinnlichen  in  der  Schrift  de 
conjecturis  ausführlich  betrachtet  werden ,  wird  die  absolute  unter- 
schiedslose Einheit  als  das  Göttliche  vorausgestellt.  Anderswo  wird 
wieder  darauf  Gewicht  gelegt,  dass  die  Ordnungen  der  rein  geisti- 
gen Wesen,  die  bekannten  himmlischen  Hierarchien,  mit  der  Gott- 
heit zusammen  die  Zehnzahl  geben ,  dass  ihnen  als  entgegengesetz- 


464  Mittelalterliche  Philosophie.     Zweite  Periode  (Scholastik). 

tes  Extrem  gerade  eben  so  viele  Stufen  der  rein  sinnlichen  Wesen 
entsprechen,  dass  endlich  in  dem  Mittleren  zwischen  beiden,  in 
dem  Menschen,  welcher  der  Mikrokosmus  oder  die  menschliche 
Welt,  eben  so  aber  auch  der  Gott  im  Kleinen  oder  der  mensch- 
liche Gott  ist,  sich  abermals  dieselbe  Zahl  wiederhole  (u.  A.  de 
conj.  II,  14).  In  seiner  Gottähnlichkeit  ist  der  Mensch,  wie  Gott, 
Inbegriff  aller  Dinge,  nur  enthält  er  sie  nicht  wie  Gott  in  schö- 
pferischer, sondern  in  nachbildender  Weise,  Gottes  Denken  pro- 
ducirt  die  Dinge,  das  menschliche  repräsentirt  sie,  darum  sind  auch 
die  Formen  der  Dinge  im  göttlichen  Denken  die  ihnen  vorausge- 
henden Urbilder,  dagegen  im  menschlichen  sind  sie  Universalien, 
durch  Abstraction  gefundene  Abbilder.  (Jene  sind  Ideen ,  diese  sind 
Begriffe.)  (de  conject.  II,  14.)  Eben  darum  aber  vermag  der 
Mensch,  obgleich  er  seine  Begrifie,  die  Zahlen  u.  s.  w.  aus  sich 
schöpft,  dennoch  durch  sie  die  Dinge  zu  erfassen:  seine  Zahlen  so- 
wol  als  die  Dinge  spiegeln  ein  und  dasselbe  ab,  die  göttlichen  Ur- 
bilder, die  Urzahlen  im  göttlichen  Denken.  x\uch  die  einzelnen 
Menschen  sind,  wie  alle  einzelnen  Dinge,  keiner  dem  andern  gleich, 
noch  auch  denken  sie  Einer  wie  der  Andere.  Ihr  Denken  Gottes 
und  der  Welt  kann  mit  der  Art  verglichen  werden,  wie  verschie- 
den gekrümmte  Hohlspiegel  die  Gegenstände  darstellen,  nur  dass 
diese  lebendigen  Spiegel  ihre  Krümmungsflächen  selbst  abzuändern 
vermögen  (de  filiat.  Dei). 

5.  Zu  der  Lehre  von  Gott  als  dem  Unendlichen,  vom  Univer- 
sum als  dem  Endlosen  und  den  Dingen ,  namentlich  dem  Menschen, 
als  dem  Endlichen  kommt  bei  Nlcofaits  in  dem  dritten  und  letz- 
ten Theile  seines  Hauptwerkes  die  Lehre  vom  Gottmenschen  als 
dem  Unendlich  -  Endlichen  (doct.  ign.  III  de  vis.  Dei).  Es  wird 
von  ihm  der  Versuch  gemacht,  aus  blossen  Vernunftgründen  dar- 
zuthun,  dass,  wenn  ein  Concretes  (contructum)  so  erscheinen  sollte, 
dass  kein  Grösseres  darüber  denkbar,  dies  nur  ein  geistig -sinnli- 
ches Wesen,  d.  h.  ein  Mensch,  der  aber  zugleich  Gott  war,  seyn 
konnte,  dass  zu  solcher  Gottgleichheit  es  nothwondig  war,  dass 
gerade  die  Gleichheit  in  Gott,  d.  d.  der  Sohn,  sich  mit  dem 
Menschen  verband ,  dass  Alles  dafür  spricht,  Jesus  sey  dieser  Gott- 
mensch, dass  die  übernatürliche  Geburt  nothwendig  war,  dass 
durch  den  Glauben  an  den  Gottmenschen  die  Gläubigen  christi- 
l'ormes,  und  Theilnehmer  an  seinem  Verdienst,  damit  aber  auch 
deifonnes  und  mit  Gott  Eins  werden,  ganz  unbeschadet  ihrer 
persönlichen  Selbstständigkeit.  Da  die  Christiformität  bei  Jedem 
eine  verschiedene  ist,  bei  Keinem  zu  einer  völligen  Gleichheit  mit 
Christo  wird,   so  bildet  der  Complex  der  Gläubigen  einen  Orga- 


in.  Verfallperiode      Schlussbemerkung.     §.  225.  465 

lismus,  welcher  also  eine  dirersitas  in  concordantia  in  i/vo  Jpsu 
larbietet.  Da  in  dieser  Einigung  der  Verschiedenen  der  heilige 
jreist  es  ist,  der  sie  verbindet,  so  ist  der  Weg,  welchen  die  my- 
stische Theologie  geht,  oifenbar  ein  Cirkel,  in  welchem  von  Gott 
msgegangen  und  wieder  zu  Gott  gelangt  wird.  Das  Werden  zu 
[Christo  und  zu  Gott,  ohne  Vermischung  und  Verlust  der  Selbst- 
leit,  dies  wird  immerfort  als  das  Ziel  bestimmt,  das  Gott  sich 
3ei  seiner  Schöpfung  gesetzt  hat,  ein  Ziel,  welches  dort  erreicht 
st,  wo  unser  Lieben  Gottes  mit  dem  Geliebtwerden  von  ihm,  un- 
ler  Ihn -sehen  mit  dem  Gesehenwerden  von  ihm  Eins  wird. 

§.  225. 
Schlussbemcrkimg. 

Wenn  die  Frage ,  ob  die  zuletzt  (§.  219  ff.)  betrachteten  Phi- 
osophen  noch  zu  den  Scholastikern  und  ob  sie  nicht  vielmehr  zu 
1er  folgenden  Periode  zu  rechnen  sej^en,  hier  anders  beantwortet 
vird  als  dies,  namentlich  hinsichtlich  des  Nicolcuis  von  Ciisn,  zu 
geschehen  pflegt,  der  nach  vielen  Darstellern  der  Scholastik,  der 
Philosophie  eine  ganz  neue  Bahn  gebrochen  habe,  so  bedarf  das 
iiner  Ptechtfertigung.  Um  so  mehr,  als  zugestanden  worden  ist, 
lass  auf  die  Entwicklung  dieser  Männer  Solche  Eiufluss  gewonnen 
laben,  die  erst  in  der  folgenden  Periode  zur  Sprache  kommen. 
Entscheidungsgrund  für  diese  Anordnung,  der  eben  darum  die  bloss 
chronologische  weichen  musste,  ist  Gersons ,  liai/mnuds  und  des 
Ciisduers  Stellung  zur  römisch-katholischen  Kirche.  Es  ist  (s. 
)ben  §.  151)  das  Wesen  der  Scholastik  darein  gesetzt  worden,  dass 
de  die ,  von  den  Vätern  festgestellte ,  Kirchenlehre  durch  Vernunft 
ind  Philosophie  zu  rechtfertigen  unternahm ,  dass  sie  eben  darum, 
Nüs  man  von  der  patristischen  Philosophie  eigentlich  noch  nicht 
jagen  durfte ,  kirchliche,  in  spccie  römisch  -  katholische,  Philosophie 
st.  Eine  nothwendige  Folge  davon,  eben  darum  kein  unwesentli- 
cher Umstand,  war  ihr  Gebuudenseyn  an  die  kirchliche  Sprache, 
m  das  Latein ;  ein  andrer  nicht  minder  cliarakteristischer  ihre  Ab- 
längigkeit  von  dein  kirchlich  autorisirten  Wissenschafts  -  Centro, 
^'on  Paris,  in  Folge  der  es  gebräuchlich  ward  den  Styl  der  Scho- 
lastiker „Parisienseni^'  zu  nennen.  Zwar  fängt  es  schon  an  in 
illen  diesen  Beziehungen  sich  zu  ändern:  Gcrson  schreibt  Vieles 
französisch,  lUujmand  war  nie  Lehrer  in  Paris,  der  Cnsaner  macht 
seine  Studien  ausserhalb  Paris,  ja,  wie  es  scheint,  seine  eigentlich 
theologischen  und  philosophischen  ausserhalb  aller  Universitäten. 
Aber  es  fängt  eben  nur  an:  Gcrson  nimmt  fortwährend  für  Paris 
das  Recht  in  Anspruch,  in  wissenschaftlichen  Streitigkeiten  end- 

Erdinann  ,  Gesch.  d.  Phil.  I  -JA 


466  Mittelalterliche  Philosophie,     Dritte  Periode  (Uebergang). 

gültig  ZU  entscheiden ,  Uaymund  schreibt  in  der  officiellen  Kirchen- 
sprache, eben  so  der  Cusaner,  obgleich  er  gesteht,  dass  es  ihm 
schwer  werde  und  er  zu  den  seltsamsten  Wortbildungen  genöthigt 
wird.  Bei  allen  Dreien  aber  steht  unerschütterlich  fest  die  Autori- 
tät der  römisch-katholischen  Kirche  und  ihres  Dogma's,  bei  allen 
Dreien  wird  eben  deswegen  auch  die  Rechtgläubigkeit,  so  lange  sie 
leben,  nicht  angefochten.  Darum  aber  gehören  sie,  selbst  wo  sie 
von  denen  lernen,  die  eine  neue  Zeit  repräsentiren ,  selbst  noch 
nicht  zu  dieser.  Das  was  man  wohl,  von  einem  modernen  Staud- 
punkte aus,  das  Vorreformatorische  an  Jenen  genannt  hat,  dies 
nehmen  sie  nicht  auf,  eignen  sich  bloss  Solches  an,  was  mit  dem 
Dogma  der  mittelalterlichen  Kirche  übereinstimmt.  Uebrigens  ist, 
da  dem  Allerletzten,  dem  Nicoiaifs,  oben  (§.  223)  die  Stellung 
dessen  angewiesen  ward ,  der  alle  Richtungen  der  Scholastik  in  sich 
zusammen-,  eben  darum  sie  abschliesst,  bei  diesem  die  Frage,  ob 
er  noch  zu  ihr  gehöre  und  nicht  vielmehr  ü])er  sie  liinausgehe, 
fast  der  Vexirfrage  gleich ,  ob  das  erste  Grauen  der  Dämmerung 
noch  zur  Nacht  gehöre  oder  bereits  zum  Tage.  Ganz  ähnliche 
Bedenken  wie  bei  diesem  Vollender  der  scholastischen  Thätigkeit 
haben  sich  bei  ihrem  Anfänger,  dem  Eriyena ,  erhoben.  Bei  die- 
sem konnten  Einige  zweifelhaft  werden,  ob  er  schon,  bei  dem  Cu- 
saner Andere,  ob  er  noch  Scholastiker  sey. 


Der  mittelalterlichen  Philosophie  dritte  Periode. 

( U  eb  e  r  gang  s- Periode.) 

K.  Hagen  Deutschlands  literarische  und  religiöse  Verhältnisse  im  Reformations- 
zeitalter. 3  Bde.  Erlangen  1841 — 44.  M.  Carriere  Die  philosophische  Weltanschau- 
ung der  Reformationszeit.     Stuttg.  und  Tübingen   1847. 

§.  226. 
Von  zweierlei  hatte  die  kreuzfahrende  Christenheit  ihr  Heil 
erwartet  (s.  oben  §.  179):  von  dem  Conflict  mit  dem  Antichrist 
und  von  dem  Besitz  des  heiligen  Landes  und  Grabes.  Beides  ist 
ihr  wirkhch,  freilich  anders  als  sie  gemeint  hatte,  zum  Heil  ge- 
w^orden.  Das  Erstere ,  indem  die  Kreuzfahrer  bei  den  Ungläubigen, 
in  denen  sie  Ungeheuer  erwartet  hatten,  Sinn  für  Kunst  und  Wis- 
senschaft, Zartheit  und  Adel  der  Gesinnung,  endhch  einen,  wenn 
gleich  abstracten,  so  doch  auch  einfachen  Cultus  kennen  lernten, 
was  Alles  nicht  verfehlen  konnte,  Eindruck  zu  machen  und  nach- 
haltige Spuren  zurückzulassen.    Eben  so  das  Zweite,   indem  die 


Einleitung      §.  226.   227  467 

Erfahrung ,  dass  Palästina  um  nichts  heiliger  war  als  Deutschland, 
Jerusalem  eben  so  unheilig  wie  Paris,  das  Grab  aber  leer,  ihnen 
klar  machte,  dass  Heil  und  Heiligkeit  nicht  an  einen  Ort  gebun- 
den ist,  und  dass  nur  der  Heiland  der  Seligmacher  ist,  der  auf- 
erstanden in  den  Gläubigen  lebt.  Reicher  an  Erfahrungen,  ärmer 
an  sinnlichen  Erwartungen,  kehrt  die  Christenheit  in  die  europäi- 
schen Verhältnisse  zurück,  welche  während  der  Kreuzzüge,  und 
zum  grossen  Theil  durch  sie,  sich  wesentlich  umgestaltet  haben. 
Alles  erscheint  vernünftiger,  vergeistigt  kann  man  sagen:  das 
Verhältniss  zwischen  Herrschern  und  Unterthanen  hat  angefangen 
sich  vernünftig  zu  regeln,  in  Frankreich  durch  das  Wachsen  der, 
bis  dahin  den  Vasallen  gegenüber  ohnmächtigen,  Königsgewalt,  in 
England  dagegen  durch  die  Beschräuliung  des  despotischen  Ueber- 
gewichts,  das  sich  die  Könige  angemasst  hatten.  Aus  rohen  We- 
gelagerern, was  sie  wenigstens  zum  grossen  Theil  gewesen  waren, 
sind  die  Ritter  zu  gesitteten  kunstliebenden  Männern  geworden, 
und  was  man  die  Romantik  des  Rittcrthums  nennt,  hat  sich  durch 
die  Berührung  und  unter  dem  Einfluss  der  Sarazenen  entwickelt. 
In  den  Städtebewohnern  hat  die  Bekanntschaft  mit  fremden  Län- 
dern den  Unternehmungsgeist ,  die  Aneignung  mancher  Einrichtun- 
gen, namentlich  finanzieller,  die  sie  im  Morgenlande  gefunden  hat- 
ten, das  Gefühl  für  Ordnung  und  Sicherheit,  beides  zusammen 
jenes  Selbstgefühl  des  dritten  Standes  hervorgerufen,  welches  das 
Fundament  des  wahren  Bürgersinnes  bildet.  Ja  sogar  die  niedrig- 
sten Landbewohner  erscheinen  weniger  rechtlos  als  bisher,  denn 
in  der  heiligen  Vehme  entstehen  hier  und  dort  Anstalten,  die  Je- 
dem, dem  die  schwachen  Gerichte  das  Recht,  das  sie  ihm  zuge- 
sprochen hatten,  nicht  zu  Theil  werden  Hessen,  die  Ausführung 
des  Rechtsspruchs  sichern.  Diese  wachsende  Herrschaft  der  Ver- 
nunft und  des  Geistes  in  allen  Verhältnissen,  die  Kirche  allein 
zeigt  sie  nicht.  Sie  ist  freilich  in  Europa  geblieben,  und  hat  sich, 
weil  stehen  geblieben,  von  der  fortgeschrittenen  Welt  überholen 
lassen.  Eben  darum  erscheint  sie  nicht  mehr,  wie  in  den  bisheri- 
gen Kämpfen  mit  der  Welt ,  siegesgewiss  und  kühn ,  sondern  miss- 
traüisch  und  ängstlich  bewacht  sie  jetzt  jede  neue  Regung  des 
Geistes:  Sie  ahndet,  dass  jetzt,  was  früher  nicht  war,  jede  Er- 
oberung, die  er  macht,  ihr  gefährlich  werden  müsse. 

'§.  227. 
So  lange  die ,  welche  dem  Mittelalter  als  die  beiden  Mächtig- 
sten gelten ,  der  Papst  und  der  Kaiser ,  ernstlich  daran  festhielten, 
dass  jeder  von  ihnen  das  von   den  beiden  Schwertern  ihm  zuge- 
theilte  zum  Schutze  Christi  zu  führen  habe,  so  lange  stützen  sich 

30* 


468  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

die  beiden  glanzvollen  Institutionen  des  Mittelalters,  der  im  Kai- 
sertlium  gipfelnde  Lehnsstaat  und  die  römische  Hierarchie,  gegen- 
seitig. Männer  wie  Ciirl  der  Grosse,  Otto  der  Erste,  Heinrich 
der  Zweite,  Gregor  der  Siebente  und  Innozenz  der  Dritte,  sie 
zeigen  Annäherungen  an  das  Ideal  mittelalterlicher  Herrlichkeit. 
Derselbe  Kaiser  aber ,  an  dessen  Hofe  Abhandlungen  de  tribus  im- 
postoribus  entstehen  konnten,  der  kommt  auch  dazu  die  wichtig- 
sten kaiserlichen  Rechte  an  seine  Lehnsträger  zu  verlieren,  und 
wieder  wo  Päpste  nach  rein  weltlicher  Oberherrschaft  über  die 
Fürsten  trachten ,  da  leiten  sie  selbst  den  Zustand  ein ,  wo  Könige 
an  den  Papst  gewaltsam  Hand  anlegen ,  wo  die  •  von  ihnen  ernann- 
ten Gegenpäpste  sich  unter  einander  als  Antichristen  bezeichnen 
und  damit  das  Papstthum  selbst  um  seine  Achtung  bringen.  Im- 
mer mehr  gehen  die  Wege  der  weltlichen  und  geistlichen  Macht 
auseinander,  obgleich  darin  eben  so  das  Reich  verfallen  muss,  das 
nur  als  heiliges  römisches  Autorität  haben  kann,  wie  die  Kirche, 
die  eine  wirklich  katholische  nur  werden  und  seyn  konnte,  indem 
die  Alles  umfassende  Weltmacht  ihr  ihren  schützenden  Arm  lieh 
(s.  oben  §.  131).  In  immer  schneidenderem  Gegensatz  sieht  die 
Kirche  in  dem,  was  Grundlage  alles  Staatslebens  ist,  im  Eigen^ 
thum,  in  der  Ehe,  in  dem  Gehorsam,  welcher  frei  ist,  weil  er 
sich  nur  auf  selbst  bewilligte  Gesetze  bezieht,  nur  Weltsinn,  und 
ihre  Lieblingskinder  müssen  sich  durch  Gelübde  verpflichten  sich 
alles  dess  zu  entschlagen.  Zu  der  Flucht  vor  der  Welt,  welche 
sich  in  der  jugendlichen  Gemeinde ,  dem  kleinen  Häufchen  der  Aus- 
erwählten, als  Neigung  zu  Eigenthums-  und  Ehelosigkeit,  so  wie 
als  willenloses  Dulden  gezeigt  hatte  (s.  oben  §.  121),  verhält  sich 
diese,  von  den  eigentlichen  Auserwählten  (dem  Klerus)  geforderte 
Absonderung  von  der  Welt ,  wie  sich  zum  Natürlichen  das  gewalt- 
sam Gemachte,  wie  sich  zu  den  Einrichtungen  der  alten  guten 
Zeit  die  Repristinationsversuche  der  Reaction  verhalten.  Ganz  dem 
entsprechend  macht  sich  im  Staate,  sobald  ersieh  in  ein  negatives 
Verhältniss  zum  Reich  Christi  stellt,  das  Princip  wieder  geltend, 
das,  mehr  noch  als  in  dem  Weltreiche  der  Römer,  in  dem  Reiche 
hatte  verschwinden  müssen ,  in  dem  Alles  in  einer  einzigen  Sprache 
redete  (s.  oben  §.116  u.  a.  a.  0.),  das,  vor  dem  Christenthum 
Allem  voranstehende,  Princip  der  Nationalität,  und  zwar  tritt  es 
hier  auf  als  bewusstes ,  reflectirtes ,  was  es  im  Alterthum  nicht  ge- 
wesen war.  Nationale  Interessen  sind  es,  welche  die,  gegen  die 
Päpste  kämpfenden,  Fürsten  in  den  Vordergrund  stellen,  sie  sind 
es  gewesen,  die  ihnen,  den  oft  gewissenlosen,  auch  bei  religiösen 
Gemüthern  Anhang  verschafft  haben.     Wie  die  Kirche  ihre  Kam- 


Einleitung.     §.  228.  469 

pfer  gegen  die  Uebergriffe  der  Fürsten  ganz  besonders  aus  den, 
keinem  Lande  angeliörigen ,  Ordensgeistlicheu  gewählt  hat,  zu  de- 
nen sich  bald  die  Glieder  eines  neuen  Ordens  gesellen  werden,  der 
wegen  des  klaren  Bewusstseyns  über  seine  Bestimmung  der  Orden 
aller  Orden  und  am  Meisten  vaterlaudslos  ist,  eben  so  ist  es  be- 
greiflich, dass  sich  politische  Gegnerschaft  gegen  die  Uebergriffe 
der  Kirche  überall  mit  Nationalismus,  d.  h.  mit  besonderem  Beto- 
nen des  Nationalitätsprincips ,  verbindet. 

§.  228. 
Wie  dem  Verhältniss,  in  welchem  die  Welt  die  Zwecke  der 
Kirche  verwirklichen  musste,  die  Scholastik  als  kirchliche  Philo- 
sophie entsprach  und  (natürlich  stets  nachfolgend  nach  §.  4)  die 
einzelnen  Phasen  jenes  Verhältnisses  wiederholte,  so  entspricht  dem 
langen  Todeskampfe  des  Mittelalters ,  der  nach  dem  Ende  der  Kreuz- 
züge eintritt ,  ein  völliges  Auseinandergehen  der  Elemente  der  Scho- 
lastik ,  von  denen  schon  in  ihrer  Verfallperiode  gezeigt  worden  ist, 
wie  sie  sich  zu  sondern  beginnen,  und  dass  sie  sich  trennen  müs- 
sen. Diese  Elemente  waren  gewesen  der  Glaube  und  die  Welt- 
weisheit, welche,  noch  ehe  die  Scholastiker  zu  einer  kirchlichen 
Theologie  gelangten,  die  Kirchenväter  zu  einer  kirchlichen  Lehre, 
d.  h.  zu  Dogmen,  verschmolzen  hatten.  Macht  sich  nun  hier  das 
eine  dieser  Elemente  von  dem  anderen  wieder  frei ,  so  wird  gewis- 
ser Maassen  der  Gegensatz  sich  wiederholen,  in  dessen  Ausglei- 
chung die  patristische  Philosophie  bestanden  hatte  (s.  oben  §.  132), 
der  -  des  Gnosticismus  und  Neoplatonismus.  Es  wäre  auch  nicht 
schwer,  eine  Menge  von  Berührungspunkten  zwischen  den  Theoso- 
phen  dieser  Periode  und  den  Gnostikern ,  so  wie  zwischen  den  Welt- 
weisen und  den  Neuplatonikern  nachzuweisen.  Dennoch  war  es 
nothwendig,  nur  „gewisser  Maassen"  eine  Rückkehr  zu  statuiren,  da 
die  Gnostiker  und  Neuplatoniker  eine  Kirchen -Lehre  und  dann 
weiter  eine  kirchliche  Wissenschaft  noch  vor  sich,  hier  dagegen 
die  beiden  sich  gegenüberstehenden  Richtungen,  dieselben  hinter 
sich  haben.  Der  antischolastische  Charakter  ist  beiden,  den  Got- 
tesweisen oder  Theosophen,  so  wie  den  Weltweisen  oder  Kosmoso- 
phen,  gemeinschaftlich,  er  erklärt  Berührungspunkte  namentlich 
bei  den  Anfängern  dieser  Richtungen ,  während  an  ihrem  Culmina- 
tionspunkte  klar  wird,  wie  weltvergessen  die  Gottesweisen  sind, 
und  wie  nahe  die  Weltweisen  an  Gottvergessenheit  streifen. 


470  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

I. 

Die  PLilosophie  als  (Jottesweisheit  (die  Theosophen). 

C.   Ullmann  Reformatoren  vor  der  Reformation.     2  Bde.     Hamburg  1842. 

§.  229. 
Bei  aller,  zum  Theil  sogar  auf  nachweisbare  Einflüsse  gegrän- 
deten,  Verwandtschaft  mit  den  Mystikern  der  früheren  Periode, 
unterscheiden  sich  die  Theosophen  der  Ue})ergangsperiode  doch  sehr 
wesentlich  von  den  Victorinern,  von  Bonaventura .  ja  von  Gcrson. 
Während  nämlich  diese  an  das  festgestellte  kirchliche  Dogma  sich 
anschliessen,  also  au  das  was  aus  der  ursprünglichen  Heilsverkün- 
digung gemacht  worden  war,  darum  aber  auch  nie  aufliören  kirch- 
lich zu  speculiren ,  knüpfen  Jene  ihre  tiefsinnigen  Speculationen  an 
das  ursprüngliche  /j]qiyf.ici  an  (vgl.  §.  131),  stellen  sich  also  mehr 
auf  den  Gemeinde-  als  auf  den  eigentlich  kirchlichen  Standpunkt. 
Wie  dieser  Umstand  es  erklärlich  macht ,  dass  sie  von  der  römisch- 
katholischen Kirche  mit  Misstrauen  angesehn,  ja  zum  Theil  als 
Ketzer  verdammt  werden,  so  wieder  dass  den  Protestanten  die 
unter  ihnen,  die  nicht  wirklich  zu  ihnen  gehören,  als  Vorläufer 
ihres  eignen  Standpunktes  gelten.  Nach  dem  oben  aufgestellten 
Begriff  der  Scholastik  durften  die  älteren  Mystiker  nicht  von  ihr 
getrennt  werden,  und  der  eine  Bonaventura  würde  ausreichen  um 
zu  beweisen,  dass  Mystiker  und  Scholastiker  keinen  Gegensatz  bil- 
den. Erst  die  Mystiker  der  Uebergangsperiode ,  die  eben  als  Theo- 
sophen bezeichnet  worden  sind,  sind  Antischolastiker.  Nach  dem 
was  oben  gesagt  worcteu,  wird  man  es  keinen  unwesentlichen  Um- 
stand nennen,  dass  die  Victoriner  und  Bonaventura  lateinisch 
schrieben.  Letzterer  selbst  wo  er  dichtete,  während  die  Mystiker 
des  vierzehnten  und  der  folgenden  Jahrhunderte  in  der  Volkssprache 
schreiben,  ja  die  Ersteren  zu  denen  gehören,  welchen  die  eigne 
Sprache  unendlich  viel  verdankt.  Auch  dass  sie  ihre  Lehren  nicht 
in  Commentaren  zu  den  Sentenzen,  sondern  in  an  das  Volk  ge- 
richteten Predigten  entwickelten,  muss  charakteristich  genannt  wer- 
den. Gcrsons  Predigten  sind  an  Kleriker  und  Professoren  gerich- 
tet, und  werden  darum  lateinisch  gehalten. 

§.  230. 
A.  Meister  Eckhart  «ud  die  speciilative  Mystik. 

K.  Schmidt  in  Studien  und  Kritilieu  von  Umbreit  und  Ullmann  Jahrg.  1839. 
3<es  Heft.  Martensen  Meister  Eckart.  Hamburg  1842.  Jos.  Bach  Meister  Eckhart 
der  Vater  der  deutschen  Speculatiou.    Wien   1864. 

1.  Li  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  wahr- 
scheinlich in  Sachsen  geboren,  durch  seine  Studien  in  Paris  mit 


I.  Die  Theosophen.     A.  Die  speculative  Mystik.     §.  230,  1.  2.  471 

Kirchenvätern  und  Scholastikern  so  wie  mit  der  Aristotelischen 
Philosophie  gründlich  vertraut  gemacht ,  erscheint  der  Bruder  Eck- 
linrt  im  J.  1304  als  Provinzial  des  Dominicanerordens  für  Sachsen, 
im  folgenden  Jahre  als  General  -  Vicar  für  Böhmen  und  zeichnet 
sich  in  heiden  Stellen  durch  seine  wohlthätigen  Reformen  und  seine 
Predigten  aus.  Es  folgt  eine  Zeit,  wo  man  ihn  aus  dem  Gesichte 
verliert  und  er,  wahrscheinlich  in  Strassburg,  mit  Begharden  und 
Brüdern  des  freien  Geistes  scheint  in  Berührung  gestanden  zu  ha- 
ben. Später  sammelt  seine  Wirksamkeit  in  der  Schule  und  auf 
der  Kanzel  seines  Klosters  in  Cöln  viele  Schüler  um  ihn;  unter 
diesen  Svso  und  Taulcr.  Der  heftigste  Gegner  der  Begharden, 
Heinrich  von  Virrenberg .  Erzbischof  von  Cöln,  verurtheilt  seine 
Lehren  und  erlangt,  da  ErkhurL  sich  nicht  fügen  will,  die  Bestä- 
tigung seines  Urtheils  durch  den  Papst ,  worauf  er  im  J.  1327  seine 
Lehren  feierlich  widerruft,  aber  auch  bald  darauf  stirbt.  Seine 
gelehrten  Arbeiten,  von  welchen  Triüicim  viele  angegeben  hat,  sind 
grösstentheils  verloren.  Seine  Predigten,  die  zuerst  in  der  Samm- 
lung der  7V/?//^^y"schen  zu  Basel  1521  und  22  erschienen ,  sind  voll- 
ständiger nebst  einigen  kleineren  Aufsätzen  von  Pfeiffer  herausge- 
geben (Deutsche  Mystiker  des  vierzehnten  Jahrhunderts.  2''  Bd. 
Leipzig  1857). 

2.  Als  der  Fundamentalgedanke,  auf  den  Echharl  bei  allen 
seinen  Speculationen  immer  wieder  zurückkommt ,  muss  der  ange- 
sehen werden,  dass  Gott,  um  aus  der  dunklen  und  finsteren  Gott- 
heit, da  er  nur  Wesen  ist,  zum  wirklichen  lebendigen  Gott  zu 
werden,  sich  aussprechen  und  erkennen,  „sich  bekennen  und  sein 
Wort  sprechen"  muss  (bei  Pf  ei  ff.  p.  180.  181. 11).  Das  Wort  nun, 
welches  Gott  ausspricht,  ist  der  Sohn,  dem  der  Vater  Alles  mit- 
theilt ,  so  dass  er  gar  nichts  für  sich  behält ;  darum  auch  die  Pro- 
ductionsfähigkeit  nicht ,  so  dass  der  Sohn  gleichfalls  producirt  und 
„in  demselben  Ursprünge  da  der  Sohn  urspringet,  da  urspringet 
auch  der  heilige  Geist  und  fliesset  aus"  (p.  63).  Indem  der  Geist 
den  Vater  und  Sohn  mit  einander  verbindet,  ist  er  die  „Minne" 
und  ist  die  Lust  an  sich  selber;  darum  liegt  „sein  Wesen  und  Le- 
ben darin ,  dass  er  minnen  muss ,  es  sey  ihm  lieb  oder  leid"  (p.  31). 
Gott  bleibt,  indem  er  sich  ausspricht,  in  sich;  sein  Ausgang  ist 
sein  Eingang  (p.  92),  und  dieser  Aus-  und  Eingang  geschah  nicht 
nur ,  er  geschieht  und  wird  geschehen ,  weil  er  ein  ewiger  Ausfluss 
ist  (p.  391).  Das  Weitere  aber  ist,  dass  mit  diesem  innengöttli- 
chen Aussprechen  seiner  selbst,  sogleich  auch  ein  Aussprechen  von 
Solchem  gesetzt  ist,  das  nicht  Gott  ist.  Da  Gott  allein  wahrhaf- 
tiges Seyn,  so  ist  dies  was  nicht  Er  ist.  Nichts.    Die  Creatur  ist 


472  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

daher  nicht  nur  aus  Nichts,  sondern  für  sich  genommen  ist  sie 
selbst  Nichts  (p.  136).  Zöge  Gott  aus  ihnen  das  Seine  zurück,  so 
würden  die  Dinge  wieder  zu  nichte  (p.  51).  Dieses  Seine  ist  Er 
selbst,  denn  nur  Gott  kommt  Istheit  zu,  weil  er  alleine  ist  (p.  162). 
Was  die  Dinge  in  Wahrheit  sind,  sind  sie  in  Gott  (p.  162),  oder 
was  dasselbe  heisst,  das  eigentlich  Wahre  in  ihnen  ist  Gott.  Die- 
ses eigentlich  Reale  in  den  Dingen  spricht  Gott  aus,  indem  er  sich 
selbst  ausspricht;  er  ist  so  sehr  ihr  Seyn  und  Wesen,  dass  Eck- 
liart  sich  bis  zu  den  Ausdrücken  versteigt,  Gott  sey  alle  Dinge 
und  Alles  sey  Gott  (p.  163.  p.  37.  p.  14).  Gott  ist  in  den  Dingen 
nicht  nach  seiner  Natur,  nicht  als  Person,  sondern  die  Dinge  sind 
Gottes  voll  nach  seinem  Wesen  (p.  389).  W^eil  Er  in  den  Crea- 
turen  ist,  deswegen  liebt  er  die  Creaturen,  er  minnet  in  ihnen  sich 
selbst.  Mit  derselben  Minne,  mit  der  Gott  den  eingebornen  Sohn 
minnet,  mit  derselben  auch  mich  und  in  dieser  Weise  geht  der 
heilige  Geist  aus  (p.  146).  Mit  derselben  Liebe,  mit  der  Gott 
sich  minnet,  minnet  er  alle  Creaturen.  Nicht  aber  als  Creaturen 
(p.  180).  Das  nämlich,  was  sie  zu  Creaturen  und  Dingen  macht, 
das  ist  ihre  Anderheit,  ihr  Hie  und  Nu,  ihre  Zahl,  Eigenschaft  und 
Weise,  ohne  welche  Alles  nur  Ein  Wesen  wäre  (p.  87),  dies  aber 
ist  Alles  eigentlich  Nichts,  es  ist  also  für  Gott  nicht  da.  Von 
diesem  Allen,  von  Zeit,  Raum,  Zahl,  Eigenschaft,  Weise  u.  s.  w. 
muss  man  absehn,  wenn  man  das  sehen  will  was  in  ihnen  wahr- 
haft Ist;  dies  ist  natürlich  in  allen  Dingen  gut,  alle  Schranke  und 
alles  Uebel  der  Dinge  ist  nur  ihr  Nichts.  Wie  die  Kohle  meine 
Hand  nur  brennt,  weil  meine  Hand  nicht  der  Kohle  Wärme  hat, 
so  liegt  auch  die  Qual  der  Hölle  eigentlich  in  dem  Nichts -seyn, 
so  dass  man  sagen  kann:  das  Nichts  ist  das  was  in  der  Hölle  pei- 
nigt (p.  65).  Natürlich  aber  ist  die  Creatur,  sofern  sie  in  sich 
selber  steht,  nicht  gut  (p.  184). 

3.  In  allen  Dingen  wird  also,  nur  in  jedem  in  besonderer  und 
darum  mit  Nichtigkeit  behafteter  Weise,  Gott  offenbar;  sie  sind 
seine  Abbilder.  Weil  aber  Gott  ein  denkendes  Wesen,  so  sind  die 
nicht  denkenden  Wesen  nur  seine  Fusstapfen ,  dagegen  ist  die  Seele 
sein  Ebenbild  (p.  11).  Vor  Allen  ist  es  der  Mensch,  in  dem  die 
Seele  mit  dem  Leibe  verbunden,  und  den  Echluirt .  zwar  nicht 
immer  aber  oft ,  weit  über  die  Engel  setzt  (u.  A.  p.  36).  Wie  Gott 
alle  Dinge  ist ,  weil  er  alle  Dinge  in  sich  enthält ,  so  ist  auch  die 
Seele  alle  Dinge,  weil  sie  aller  Dinge  edelstes  (p.  323).  In  den 
drei  obersten  Kräften  der  Menscheuseele,  der  Erkenntniss,  dem 
Kriegenden  oder  Zornigen  ( irascihlle)  und  dem  Willen  spiegelt 
sich  Vater,  Sohn  und  heiliger  Geist  (p.  171).    Wie  alle  Dinge  nach 


I.  Die  Theosophen.     A,  Die  speculative  Mystik.     §.  230,  3.  473 

dem  Grunde  zurückstreben,  aus  dem  sie  stammen,  so  auch  der 
Mensch,  nur  ist  hei  dem  Menschen  diese  Rückkehr  eine  bewusste, 
und  darum  weiss  sich  Gott  in  dem  Menschen  als  von  diesem  ge- 
wusst.  Weil  nun  aber  in  der  menschlichen  Seele  alle  Dinge  idea- 
liter  („vernünftig")  enthalten  sind,  so  werden  sie,  indem  die  den- 
kende Seele  zu  Gott  zurückkehrt,  zu  Gott  zurückgeführt  (j).  180). 
Zwischen  Gott  und  der  Creatur  findet  darum  ein  Verhältniss  ge- 
genseitiger Hingabe  statt,  das  beiden  Theilen  gleich  wesentlich  ist. 
Gott  sehen  und  erkennen  und  von  ihm  gesehen  und  erkannt  wer- 
den ist  Eins  (p.  38).  Gott  mag  daher  unser  so  wenig  entbehren, 
als  wir  seiner  (p.  60).  Die  gegenseitige  Vereinigung  zwischen  Gott 
und  Menschen ,  die  Minne  oder  Liebe .  ist  von  Seiten  Gottes  ein 
Thun,  aber  kein  beliebiges,  denn  „Ihm  ist  es  nöther  zu  geben  als 
uns  zu  nehmen"  (p.  149) ;  dies  aber  enthebt  uns  nicht  der  Dank- 
barkeit, vielmehr  dass  Er  uns  lieben  muss  dafür  danken  wir  ihm. 
Von  Seiten  des  Menschen  ist  jene  Vereinigung  zunächst  ein  Lei- 
den, an  das  sich  aber  eine  thätige  Hin-  und  Rückgabe  schliesst: 
die  Seele  soll  „eine  Jungfrau  die  ein  Weib  ist"  seyn ,  d.  h,  sie  soll 
empfangen  um  zu  gebähren  (p.  43).  Da  diese  Liebe  nicht  eigent- 
lich in  uns  ist,  sondern  wir  in  ihr  sind  (p.  31),  und  da  sie  darin 
besteht,  dass  Gott  in  dem  Menschen  denkt  und  will,  so  hat  der 
Mensch  sein  eignes  Denken  und  Wollen  aufzugeben ,  Nichts  zu  wol- 
len als  Gott.  Wer  noch  etwas  neben  Gott  will  findet  Ihn  nicht, 
wer  nur  Ihn  will,  findet  mit  und  neben  Ihm  Alles  (u.  A.  p.  56). 
Wenn  des  Menschen  Wille  Gottes  Wille  wird ,  so  ist  das  gut ;  wenn 
aber  Gottes  Wille  des  Menschen  Wille  wird,  so  ist  das  besser: 
dort  fügt  sich  der  Mensch  nur ,  hier  dagegen  wird  Gott  in  ihm 
geboren,  und  darin  der  Zweck  der  Weltschöpfung  erreicht  (p.  55. 
104).  Dies  Geborenwerden  Gottes  in  der  Seele  verbindet  beide  zu 
der  Einheit,  in  der  Gott  kein  grösseres  Leid  geschehn  kann,  als 
dass  der  Mensch  gegen  seine  eigne  Seligkeit  etwas  thue,  und  dem 
Menschen  kein  grösseres  Glück,  als  dass  Gottes  Wille  geschehe 
und  Gottes  Ehre  gewahrt  werde.  Der  Mensch ,  der  seinen  Willen 
ganz  Gott  hingab,  der  „vahet  und  bindet"  den  Willen  Gottes,  so 
dass  dieser  nicht  mag  was  jener  nicht  will  (p.  54).  In  dieser  Hin- 
gabe wird  der  Mensch  durch  Gnade  zu  dem  was  Gott  von  Natur 
ist  (p.  185).  Dabei  muss  aber  nie  vergessen  werden,  dass  ein 
grosser  Unterschied  Statt  findet  zwischen  Einem  Menschen  (Bur- 
chard,  Heinrich)  und  dem  Menschen  oder  der  Menschheit.  Die 
letztere  oder  die  menschliche  Natur  hat  Christus  angenommen; 
zum  Glück,  denn  wäre  er  nur  ein  Mensch  geworden,  so  hülfe  uns 
das  wenig  (p.  64).    Jetzt  aber  ist,  so  weit  ich  nicht  Burchard  oder 


474  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Heinrich,  sondern  Mensch  bin,  was  Gott  Christo  gab  auch  mein. 
Ja  gegeben  ist  eigentlich  mir  noch  mehr  als  Christo,  da  er  ja  Al- 
les von  Ewigkeit  her  schon  besass  (p.  56).  Dazu  aber  muss  Alles, 
was  zu  Einem  Menschen  macht,  aufgegeben  und  darf  nicht  der 
geringste  Unterschied  gemacht  werden  zwischen  mir  selbst,  meinem 
Freunde  und  Einem  jenseits  des  Meeres,  den  ich  nie  sah.  Die 
Person  muss  aufgehört  haben,  damit  der  Mensch  da  sey  (p.  65). 
Wo  die  persönliche,  creatürliche ,  Weise  ausgegangen,  Gott  Inder 
Seele  geboren  ist,  da  weiss  der  Mensch  sich  gleich  Christo  als 
Kind,  Sohn,  Gottes;  da  ist  ihm  aber  auch  nichts  mehr  vorenthal- 
ten; wie  Gott  ihm  zu  Willen,  so  thut  er  sich  ihm. auch  zu  wissen, 
verbirgt  ihm  Nichts  (p.  66.  63).  Nicht  durch  unser  natürliches 
Verständniss  erkennen  wir  Gott,  denn  dem  ist  Er  unfassbar,  son- 
dern dadurch ,  dass  wir  von  Ihm  in  das  Licht  erhoben  werden,  in 
dem  Er  sich  offenbart. 

4.  Was  den  Menschen  von  Gott  trennt,  ist  nur  das  Festhalten 
au  sich  selber  und  dem  Seinigeu.  Mit  diesem  hört  auch  die  Tren- 
nung von  Gott  auf.  So  weit  darum  der  Mensch  sich  selbst  abge- 
schieden ist,  so  weit  wird  er  Gott  und  also  alle  Dinge  (p.  163). 
„Du  sollst  entsinken  deiner  Deinesheit  und  soll  dein  Dein  in  sei- 
nem Mein  ein  Mein  werden"  ruft  Echlmrl  der  Seele  zu  und  ver- 
heisst  ihr  dafür  die  Vereinigung  mit  Gott,  nicht  wie  Er  dies  oder 
das  ist,  sondern  wie  er  über  jede  Bestimmtheit  hinaus,  und  ge- 
wisser Maassen  das  Nichts  ist  (p.  318.  319).  Die  reine  Gottheit 
ohne  alles  „Mitwesen"  (Accidens),  diese  soll  der  Mensch  in  sich 
aufnehmen  (p.  163.  164).  Deinuth  und  heisses  Begehren  sind  die 
Mittel  dazu,  denen  Gott  nicht  widerstehen  kann,  die  ihn  bezwin- 
gen (p.  168).  Weil  die  Seele  in  Gott  ihren  eigentlichen  Ort  hat 
(p.  154),  deswegen  ist  die  selige  Vereinigung  mit  Gott  Ruhe;  sie 
ist  das  Ziel  der  Weltschöpfung  (p.  152).  Ruhe  ist  aber  nicht  Un- 
thätigkeit,  sie  ist  „Freiheit  der  Bewegung"  (p.  605).  Wie  Echliart 
nicht  will,  dass  aus  seiner  Behauptung,  dass  das  ewige  Leben 
in  der  Erkenntniss  bestehe,  gefolgert  werde,  sie  bestehe  nicht  in 
der  Minne,  d.  h.  dem  Willen  (p.  359),  so  warnt  er,  namentlich 
in  der  überhaupt  sehr  merkwürdigen  Predigt  über  Martha  und 
Maria  (p.  47 — 53),  vor  allem  unthätigen  Quietismus.  Nur  sollen 
die  Werke  nicht  abgesehn  von  der  Gesinnung  hochgestellt  werden. 
Absichtslosigkeit  entschuldigt  jedes  Verbrechen,  ohne  die  fromme 
Absicht  hilft  alles  Fasten ,  Wachen  und  Beten  nichts.  Ueberhaupt 
quäle  man  sich  nicht  zuerst  damit  ab,  was  man  zu  thun  habe, 
sondern  gebe  seine  Seele  Gott  hin  und  lasse  sich  dann  gehn.  Dass 
man  aufrechtem  Wege,  sieht  man  daraus,  dass  Einem  Gott  immer 


I.  Die  Theosophen.     A.  Die  speculative  Mystik.     §.  230,  5.  6.  475 

lieber,  die  Dinge  immer  gleichgültiger  werden  (p,  178.  179).  Zwi- 
schen beide,  darum  zwischen  Ewigkeit  und  Zeitlichkeit,  ist  die 
Seele  gestellt.  Keiner  von  beiden  „geeignet"  steht  es  ihr  frei  sich 
der  einen  oder  der  anderen  hinzugeben.  Hält  sie  fest  an  dem 
Nichtigen,  an  dem  Unterschiede  von  nun  und  gestern  und  morgen, 
so  lebt  sie  in  der  Verdammniss,  weil  sie  in  Gott  ist,  aber  wider- 
willig (p.  169);  will  sie  aber  das  Nichtige  nicht  festhalten,  ver- 
zichtet auf  alles  Zeitliche,  darum  auch  auf  das  eigne  Wollen  und 
die  eigne  Meinung,  dann  ist  sie  selig,  auch  weil  sie  in  Gott  ist, 
aber  willig.  Da  wird  ihr  Alles  zu  einem  ewigen  Nun,  wie  es  für 
Gott  ist,  Zeit  wird  ihr  wie  Ewigkeit  und  die  drei  höheren  Kräfte 
der  Seele  werden  zum  Sitz  der  höchsten  Tugenden ,  des  Glaubens, 
der  Hoffnung,  der  Minne  (p.  171  ff.  Etwas  anders  p.  319  ff.).  Die 
letzte  der  drei,  das  eigentliche  ewige  Leben,  besteht  in  der  Ge- 
lassenheit, der  Alles  recht  ist  was  Gott  thut,  und  wäre  es  auch 
dass  Er  uns  verlassen  und  ohne  Trost  lassen  wollte,  wie  einst 
Christum  (p.  182). 

5.  Den  aller  entschiedensten  Einfluss  hat  Eckluirl  gehabt  auf 
Heinrich  Snso  (vgl.  IM.  Dicpcvhrock  Heinrich  Suso's  genannt 
Amandus  Leben  und  Schriften.  Regensb.  1829).  Im  J.  1300  in 
Schwaben  in  der  Familie  von  Berg  geboren,  nannte  er  sich  we- 
gen der  Frömmigkeit  seiner  Mutter  nach  deren  Familiennamen 
Sevss  oder  Siiss .  der,  latinisirt,  zu  Suso  wurde.  Nach  seinem 
Tode  hat  man  ihm  den  Beinamen  Amandus  beigelegt.  Friih  in 
den  Dominicanerorden  eingetreten ,  fand  sein  poetisches  Gemüth 
in  dem  „süssen  Trank",  den  ihm  der  „hohe  und  heilige"  Meister 
ErU/art  bot,  am  Meisten  Befriedigung.  Die  „Minne",  bei  ihm  zu- 
gleich in  ritterlicher  Weise  gefasst,  ward  der  leitende  Gedanke 
seines  Lebens,  den  er  theils  als  wandernder  Prediger,  theils  als 
Schriftsteller  in  gebundener  und  ungebundener  Rede  überall  aus- 
sprach. Er  ist  am  25.  Jan.  1365  in  Ulm  im  Kloster  seines  Or- 
dens gestorben.  Unter  seine  Schriften,  die  wahrscheinlich  alle 
deutsch  geschrieben ,  zum  Theil  von  ihm  selbst  ins  Lateinische 
übersetzt  wurden,  ward  früher  auch  die  von  den  neun  Felsen 
gezählt,  die  gegenwärtig  ziemlich  allgemein  dem  Rulmmni  Meer- 
sH-ein.  einem  frommen  Laien  in  Strassburg,  zugeschrieben  wird. 
Das  Buch  ist  1352  geschrieben  und  schildert  in  einer  Vision  die 
Verdorbenheit  aller  Stände,  so  wie  die  neun  Stufen,  welche  erstie- 
gen werden  müssen,  wenn  der  Mensch  dahin  gelangen  soll,  seinem 
Eigenwillen  ganz  abzusterben. 

6.  Auch  für  Jolmiin  Tauler  (1290 — 1361)  waren  wohl  weni- 
ger die  scholastischen  Studien ,   die  er  gemacht  hat ,  als  der  Un- 


476  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

temclit  und  die  hinreissenden  Reden  Evlharfs,  die  Basis  gewor- 
den, auf  der  sein  früh  erworbner  Ruhm  als  Kanzeh-edner  ruhte. 
Aus  der  Art  und  Weise  aber,  wie  in  reiferem  Alter  durch  einen 
frommen  Laien  —  (Niiolaus  von  Basel,  der  an  der  Spitze  der 
waldensischen  Gottesfreunde  stand  und  später  in  Vienne  als  Ke- 
tzer verbrannt  wurde)  —  der  glänzende  und  gefeierte  Redner  zu 
einem  die  Herzen  erschütternden  Glaubensboten  wird,  scheint  her- 
vorzugehn,  dass  er  anfänglich  nur  die  intcllectuelle ,  man  möclite 
sagen  geistreiche,  Seite  der  Eckhartsclien  Mystik  gewürdigt,  und 
auch  diese  (vielleicht  mehr  als  Evhharl  selbst)  in  seinen  Predig- 
ten geltend  gemacht  habe.  Nachdem  aber  jener  Laie  ihn  darauf 
aufmerksam  gemacht  hatte,  dass  seine  Predigten  mehr  glänzten 
als  erwärmten ,  ändert  sich  dies.  Die  praktische  Seite  tritt  in  den 
Predigten,  die  er  in  den  ersten  zehn  Jahren  nach  seiner  Umkehr 
gehalten  hat,  viel  mehr  hervor.  Hnysbroek  (s.  §.  231),  dessen 
Umgang  er  in  jener  Zeit  gesucht  hat,  mag  ihn  darin  wohl  be- 
stärkt haben.  Jetzt  ist  es  nicht,  wie  bei  Eckhart,  die  mystische 
Wiederholung  Christi  in  uns,  die  er  predigt,  als  vielmehr  die 
Mahnung,  dass  man  dem  armen  und  demüthigen  Leben  Christi 
nachfolgen  solle.  Wird  doch  seine  Schrift  von  der  Nachfolgung 
des  armen  Lebens  Christi  zu  seinen  vorzüglichsten  gerechnet.  Wo 
rein  speculative  Sätze  bei  ihm  vorkommen,  stimmen  sie  ganz,  oft 
wörtlich ,  mit  denen  Echhurls  überein.  Die  älteste  Ausgabe  seiner 
Predigten  ist  die  Leipziger  vom  J.  1498 ,  ihr  folgt  die  Augsburger 
vom  J.  1508,  dann  1521  die  Basler  von  llynmunii;  nach  der  Cöl- 
ner  Ausgabe  von  Petei'  von  Nymwegen  1543  ist  die  lateinische 
Paraphrase  des  Sarins  gemacht,  Cöln  1548  Fol.  Uebersetzungen 
in  neuere  Sprachen  sind  oft  gemacht.  Unter  den  hochdeutschen 
kann  die  von  Schlosser  (Frankf.  1826)  und,  als  die  neueste,  die 
von  Kvnite  und  Bicsentlml  genannt  werden  (Berlin  3  Bde.).  Eine 
gute  Monographie  über  Tauler  hat  C.  Schnidt  gegeben  (Johan- 
nes Tauler  von  Strassburg.  Hamburg  1841).  Dass  Luther  Tauler 
sehr  hoch  stellte,  der  Doctor  Evh-  dagegen  ihn  einen  der  Ketzerei 
verdächtigen  Träumer  nennt,  kann  nicht  befremden. 

7:  Noch  viel  mehr  Uebereinstimmung  als  diese  persönUchen 
Schüler  des  Meisters  Eckhart  zeigt  mit  ihm  der  unbekannte  Ver- 
fasser der  Deutschen  Theologie  (herausg.  von  Luther  1518, 
dann  sehr  oft).  Einen  grossen  Theil  der  Sätze,  welche  in  den 
sechs  und  fünfzig  Capiteln  dieses  Büchleins  enthalten  sind,  kann 
man  wörtlich  bei  Evhhurt  finden.  Kaum  einen  wird  man  finden, 
der  mit  dein  stritte  was  Eckhart  gesagt  hat,  nur  dass  bei  diesem 
die  Form  der  Predigt  eine,   oft  an  die  Hyperbel  streifende,  Le- 


J 


I.  Die  Theosophen.     B.  Die  praktische  Mystik.     §.  231,  1.  477 

bendigkeit  des  Ausdrucks  zur  Folge  hat,  die  der  ruhige  Ton  der 
späteren  Abhandhing  nicht  fordert.  Man  hat  aber  diesen  Unter- 
schied überschätzt,  wenn  man  gesagt  hat,  der  Pantheismus  Eck- 
hnrts  sey  in  der  deutschen  Theologie  vermieden :  Eckluirt  ist  nicht 
so  sehr,  die  deutsche  Theologie  nicht  so  wenig  pantheistisch,  als 
Jene  meinen.  Die  Grundgedanken:  dass  Gott  das  Vollkommene 
weil  das  Eine,  weil  Alles  und  über  Allem,  dagegen  die  Dinge  un- 
vollkommen weil  zertheilt  und  dies  und  das,  —  dass  die  Gottheit 
nur  dadurch  dass  sie  sich  ausspricht  („veriehet")  zu  Gott  wird,  — 
dass  Gott  zwar  auch  ohne  Creatur  Offenbarung  und  Liebe,  aber 
nur  wesentlich  und  ursprünglich,  nicht  förmlich  und  wirklich  wäre,  — 
dass  die  Creatur  nur  dadurch  von  Gott  abfällt,  dass  sie  das  Ich 
Mich  und  Mein  väW  anstatt  nur  Gott  zu  wollen,  so  dass  Adam, 
alter  Mensch,  Xatur,  Teufel,  Sich  Annehmen,  Ich  und  Mein  ganz 
dasselbe  bedeutet,  —  dass  nur  in  dem  vermenschten  Gott  oder 
dem  vergotteten  Menschen,  d.  h.  in  dem  in  welchem,  weil  er  sich 
aufgab,  Cfiristtfs  lebt,  das  Heil  sich  finde.  —  dass  der  Wille  frei 
und  edel  sey  so  lange  Gott  in  ihm  lebt,  durch  Abkehr  aber  von 
Gott  zum  (leib-)  eigenen  d.  h.  unfreien  Willen  werde,  --  dass  die 
Hölle  selbst  zum  Himmel  wird,  sobald  das  eigne  Wollen  aufhört 
u.  s.  w.  —  alle  diese  liehren  finden  sich  schon  bei  Ecklmrl.  Die 
deutsche  Theologie  hat  sie  aber  conciser  gefasst,  und,  weil  ihr 
Verfasser  die  VeriiTungen  des  „freien  Geistes",  gegen  den  er  oft 
polemisirt,  kannte,  in  einer  Weise  ausgedrückt,  welche  die  Gefahr 
des  Misverständnisses  mindert.  Eckliar! .  der  gerade  durch  die 
Kühnheit  seines  Ausdrucks  oft  besonders  ergreift,  lässt  manchmal 
den  Gedanken  aufkommen,  er  habe  absichthch  paradox  gespro- 
chen. Da  war  es  freilich  nicht  unverschuldet,  dass  man  ihn  hetero- 
dox  fand  und  noch  findet, 

§.  231. 
B.    Ruysbroek  und  die  praktische  Kystik. 

I.  O.  V.  Engelhardt  Richard  von   St    Victor  und  Johannes  Ruysbroek.    Erlangen 
1838.     (Vgl.  §.  172.) 

1.  Joliniiiies,  dem  anstatt  seines  vergessenen  Famihenna- 
mens  der  seines  Geburtsortes  Ruyshroek  (auch  Rvshrnck,  Rvs- 
hroch  u.  dgl.)  beigelegt  wird,  ist  im  J.  1293  geboren,  ward,  mit- 
telmässig  unterrichtet,  in  seinem  vier  und  zwanzigsten  Jahre  Prie- 
ster und  Vicar  an  der  St.  Gudulakirche  in  Brüssel,  zog  sich  aber 
als  Sechziger  in  das  Augustinerkloster  zu  Grünthal  zurück,  als 
dessen  Prior  er,  nachdem  man  ihm  wegen  seiner  mystischen  Ein- 
gebungen den  Beinamen    des  Doctor  cxtaticiis  gegeben,   am  2*^" 


478  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Decbr.  1381  gestorben  ist.  Die  meisten  seiner  Schriften  sind  in  bra- 
bantischer  Sprache  verfasst,  sein  Schüler  aber  Gerhard  de  Groot 
und  nach  diesem  Siniiifs  haben  sie  ins  Lateinische  übersetzt,  und 
so  sind  sie  im  J.  1552,  und  dann  1609  und  1613  gedruclit.  Un- 
ter den  14  Scliriften,  die  diese  Sammlung  enthält  —  (Speculum 
aeternae  salutis,  Commentaria  in  tabernaculum  foederis,  De  prae- 
cipuis  quibusdam  virtutibus.  De  fide  et  judicio.  De  quatuor  subti- 
libus  tentationibus,  De  septem  custodiis,  De  Septem  gradibus  amo- 
ris,  de  ornatu  spiritualium  nuptiarum,  De  calculo,  Regnum  Dei 
araantium.  De  vera  contemplatione,  Epistolae  septem,  Cantiones 
duae,  Samuel  s.  de  alta  contemplatione)  —  ist  die  vom  Schmucke 
der  geistlichen  Hochzeit  die  bedeutendste. 

2.  Zu  der  Einheit  mit  Gott,  die  auch  bei  üm/sbroel-  das 
letzte  Ziel  ist,  gelangt  man  nach  ihm  entweder  durch  praktische 
Askese,  oder  durch  inneres  Leben,  in  dem  wir  uns  Gott  so  hin- 
geben, dass  er  stündlich  in  uns  geboren  wird,  endlich  aber  durch 
den  allerhöchsten  Grad  der  Contemplation,  in  dem  selbst  die  Lust 
des  inneren  Lebens  aufhört  und  der  lauteren  Ruhe  und  Gelassen- 
heit Platz  macht.  Der  Hauptunterschied  zwischen  Rinjsbroek  und 
Eckli(trt  liegt  darin,  dass  dieser  immer  die  Einigung  als  schon 
erreicht  darstellt,  während  Jener  mehr  das  Erreichen,  darum  aber 
auch  die  Mittel  desselben  schildert.  Darum  Avird  er  nicht  müde 
die  verschiedenen  Arten  der  Einkehr  Christi ,  die  verschiedenen  Be- 
gegnungen mit  ihm,  die  einzelnen  Momente  der  Begnadigung,  die 
zuvorkommende  Gnade,  den  freien  Willen,  das  gute  Gewissen  u.  s.  w. 
aufzuzählen,  und  man  kann  es  charakteristisch  finden,  dass,  wäh- 
rend Echhnrl  sich  darin  gefällt  zu  zeigen,  dass  der  Mensch  ein 
Christus  ist,  llmjsbrock  ihn  ermahnt  ein  Petrus,  Jacobus,  Jo- 
hannes zu  werden.  Ein  Vergleich  beider  muss  daher  auf  Eclhart 
den  Schein  des  Pantheismus  werfen.  Liegt  doch  wirklich  der  Un- 
terschied zwischen  der  Einheit  mit  Gott,  die  der  Pantheist  lehrt, 
und  der  unio  mystica  besonders  darin,  dass  die  letztere  durch  Til- 
gung der  Sünde  vermittelt,  jene  dagegen  eine  unmittelbare  und 
natürliche  ist,  so  dass  Rmjsbroe/,-  den  Hauptpunkt  ganz  richtig 
trifft,  wenn  er,  nachdem  er  eine  Menge  von  pantheistischen  Irr- 
thümern  geschildert  und  classificirt  hat,  zuletzt  besonders  dies  an 
ihnen  rügt,  dass  nach  ihnen  die  Ruhe  durch  blosse  Natur  erreicht 
werde,  und  geht  doch  Eclhart  wirklich  über  die  Vermittelungen, 
die  zu  jenem  Ziele  führen,  oft  etwas  eilig  hinweg.  Dass  bei  die- 
sem Unterschiede  Eckhart  mehr  Berührungspunkte  mit  Erigena, 
Enijsbroek  mit  den  Victorinern  zeigt,  darf  nicht  befremden. 

3.  Die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit,   so  sehr  Rvysbroek  sie 


I.  Die  Theosophen.     B.  Die  praktische  Mystik.     §.  231,  3.  4.  479 

auch  von  der  Schöpfuugslehre   zu  souderu    sucht,   steht  doch  bei 
ihm  in  der  engsten  Verbindung  mit   derselben:   durch  die   ewige 
Zeugung  des  Wortes  sind  alle  Creaturen  von  Ewigkeit  her  aus 
Gott  hervorgegangen.     Gott  erkannte  sie,  ehe  sie  zeithch  als  Crea- 
turen wurden,   in  sich  selbst  in  einer  gewissen,   aber  nicht  ganz- 
lichen. Anderheit.  Dieses  ewige  Leben  der  Creaturen  ist  der  eigent- 
liche Grund  (ratio)  ihrer  zeitlich  geschaffenen  Wesenheit,   es  ist 
ihre  Idee.    Durch  sie,   ihr  Urbild,   sind   die  Dinge  Gott  ähnlich, 
der  sich  in  sofern  in  den  Dingen  erkennt,  als  er  sich  in  ihrem  Ur- 
bilde  erkennt.    In  ihrem  l'rbilde  haben   die  Dinge  ihre  Gottähn- 
hchkeit;  ihr  Streben  nach  dem  Urbilde,  als  dem  Grunde  ihres  We- 
sens ist  darum  Streben  nach  Gottähnlichkeit.    In  dem  Menschen, 
bei  dem  dieses  Streben  ein  bcwusstes  ist,  fällt  die  Erreichung  des- 
selben mit  dem  Walten  der  Liebe  zusammen,   die  den  Menschen 
gottförmig  macht.    In  dem  höchsten  Grade  hört  jedes  Wissen  von 
Gott  und  von  uns  selbst  auf;  wir  werden  nicht  Gott,  sondern  wer- 
den Liebe,   sind   selbst  die  Ruhe  und   SeUgkeit.    Bedingung  der 
Erreichung   des   Ziels   ist,    dass   der  Mensch    sich   selber   sterbe. 
Dies  Sterben  ist  im  Theoretischen :  ein  Aufgeben  des  Wissens  und 
Hineingelm  in   die  Finsterniss  des  Nichtwissens,   in  der  die  Son- 
ne der  Offenbarung   aufgeht,   im  Praktischen:   ein   Aufgeben  des 
eignen  Thuns   und  Wirkens  an   das  Gewirktwerdeu   durch  Gott. 
Durch  dieses  Von -sich -selbst -lassen  und  Ueberwiuden  des  eignen 
Willens  gelangt  der  Mensch  dazu,  dass  Gottes  Wille  seine  höchste 
Freude,  und  darin  besteht  die  wahi-e  Gelassenheit  und  Ruhe. 

4.  Wie  sich  an  Evkliorl  Suso,  Taulcr  und  später  die  deut- 
sche Theologie  anschUessen,  so  bleibt  auch  Hnt/sbroek  nicht  ohne 
Anhänger  und  Fortbildner  seiner  Lehre.  Zuerst  ist  Geerl  de 
Groot  (Gerhardns  Magnits)  zu  nennen,  der  1340  geboren,  in 
Paris  gebildet,  eine  Zeit  lang  in  Cölu  mit  Beifall  Philosophie  ge- 
lehrt hatte,  dann  aber  nach  einer  plötzlichen  Sinnesänderung  als 
Volksredner  auftrat,  und  in  Folge  seiner  Bekanntschaft  mit  dem 
greisen  Ixtiyabrock  der  Stifter  der  Brüderschaft  zum  gemeinsamen 
Leben  (Collatienbrüder,  Fraterherren,  Hieronymianer  u.  s.  w.)  wur- 
de, die  sich  bald  im  Besitz  vieler  Bruderhäuser  befand.  Gerhard 
starb  den  20.  Aug.  1384,  aber  die  Brüderschaft  verfolgte  seine 
Zwecke  weiter,  unter  welchen  nicht  der  unbedeutendste  war,  durch 
Bibelübersetzungen  und  den  Gebrauch  der  Landessprache  im  reli- 
giösen und  kirchhchen  Leben  das  niedere  Volk  demselben  zu  ge- 
winnen. In  dem  ältesten  dieser  Bruderhäuser,  zu  Deventer,  ward 
nun  auch  der  erzogen,  dem  die  Brüderschaft  ihren  höchsten  Ruhm 
verdankt,  Thomas  (Jlumerhen,  latinisirt  Mulleolus,  gewöhnlich 


480  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

aber  nach  seinem  bei  Cöln  gelegenen  Geburtsort  Kempen  a  Kem- 
pis  genannt),  der  im  J.  1380  geboren,  vom  dreizehnten  bis  zwan- 
zigsten Jahre  in  Deventer  unterrichtet,  nach  siebenjährigem  Novi- 
ziat als  reguhrter  Canoniker  in  das  Kloster  St.  Agnes  nahe  bei 
Zwolle  trat,  welches  aus  jener  Brüderschaft  hervorgegangen  war, 
Avo  er  bis  an  seinen  Tod  (1471),   zuletzt  als  Subprior  gelebt  hat. 
Unter  seinen  Werken,  die  zuerst  1494,  später  in  Antwerpen  von 
dem  Jesuiten  Sommn'ivs  im  J.  1609  herausgegeben  wurden,  wel- 
che letztere  Ausgabe  vielen  anderen,   namenthch  der  Cidner  in  2 
Quartbänden  1725,  zu  Grunde  liegt,  ist  keines  so  berühmt  gewor- 
den als  de  imitatione  Christi  libb.  IV.   Da  dies  Werk  in  den  ältesten 
Handschriften,    selbst   in   den   von    Thomas  selbst   augefertigten, 
keinen  Autornamen  angibt,  so  ist  es  auch  Anderen  zugeschrieben. 
Mit  dem  grössten  Schein  von  Wahrscheinlichkeit  hat  im  J.  1616 
der  Benedictiner  ConslavVuis  Cdjvtdnns  dieses  Werk  dem,  im  drei- 
zehnten Jahrhundert  lebenden  Johann  Gcrscii,  Abt  von  Vercelli 
zuzuschreiben  versucht.   Im  Wesentlichen  sind  es  nur  seine  Gründe, 
welche  in  neuerer  Zeit  von  Grcfjorii  in  Paris  im  J.  1827,    Para- 
rla   in  Turin  1853  und  Pwnaif   in  Paris  1862  wiederholt  worden 
sind;  da  er  aber  bereits  von  Amorl  schlagend  widerlegt  war,   so 
brauchten  Si/hert ,   X^Umann  u.  A.  nur  zu  wiederholen,    was  Amort 
l)ereits  gesagt  hatte.     Dass  Nirolairs  ron  Ciisa,  der  nachweislich 
der  Imitatio  Vieles   dankt,   dort  wo   er  den  Meister  Eckhart  rüh- 
mend erwähnt,  neben  ihm  ahhafem  Vcrcellcnsem  anführt  (Apolog. 
doct.  ignor.  fol.  37),  ist  nicht  wichtig  genug,  um  die  Gegengründe, 
unter  welchen  die  vielen  Germanismen  der  Schrift  nicht  die  unwich- 
tigsten sind,  zu  schwächen.     Thomas  muss,  wie  die  Sache  bis  jetzt 
steht,  als  der  Verfasser  dieser  Schrift  gelten,  die  nächst  der  Bibel 
vielleicht  am  häufigsten  gedruckt  sein  möchte.    Mit  allen  Ueber- 
setzungen  soll  es  gegen  zweitausend,  darunter  allein  tausend  fran- 
zösische, Ausgaben  geben.    Schon  dieser  Umstand  übrigens  zeigt 
an,  dass  das  Werk  nicht  als  ein  wissenschaftliches  beurtheilt  wer- 
den darf,   sondern  ein  grösseres  Publicum  hat  als   das  welches 
sich  mit  Wissenschaft  zu  thun  macht.    Darum  ist  es  auch  ein  un- 
glücklicher Einfall,  die  Nachfolge  Christi  mit  der  deutschen  Theo- 
logie zu  vergleichen;  damit  schadet  man  beiden  Schriften,  die  jede 
in  ihrer  Art  so  bewundernswerth  sind.    Die  Nachfolge  Christi  will 
nur  ein  Andachtsbuch  seyu  und  ist  als  solches  vortrefflich,  viel- 
leicht unübertroifen.    Dass  die  Jesuiten  vor  Allen  es  in  Aufnahme 
gebracht  haben,  hat  in  den  Augen  beschränkter  Jesuitenfeinde  ihm 
geschadet.    Interessant  ist,   wenn  man  dieses  Buch  mit  paräneti- 
schen  Schriften  z.  B.  des  Bonaventura  oder  Gerson  vergleicht,  zu 


I.  Die  Theosophen.     üebergang  zur  Blüthe  der  Mystik.     §.  233,  1.  2.      481 

sehen,  wie  sehr  hier  die  Lehren  zurücktreten,  \Yelche  der  spätere 
Protestantismus  verwarf,  z.  B.  der  Mariendienst. 

§.  233. 

Üebergang  zum  Höhepunkt  der  Mystik. 

1.  Einen  der  wichtigsten,  vielleicht  den  allerwichtigsten ,  Ca- 
nal,  durch  welchen  sich  die  Ideen  sowol  der  speculativen  als  der 
praktischen  Mystik  auf  den  fortpflanzen,  in  welchem  die  Theosophie 
der  Uebergangsperiode  ihre  Blüthe  erreicht,  bildet  Luther  (1483 
Nov.  10.— rl546  Febr.  18.).  Herausgeber  der  deutschen  Theologie 
und  warmer  Verehrer  von  Taii/cr,  hat  sein  inniges  Verhältniss 
zu  dem  praktischen  Mystiker  Statipiiz  seinen  Sinn  für  Schi'iften 
wie  die  Nachfolge  Christi  nur  noch  steigern  können.  Wie  sehr 
in  diesem  Manne,  dessen  Wesen  kein  menschliches,  namentlich 
kein  deutsches,  Element  ausschloss,  auch  die  mystische  Seite  mäch- 
tig war,  darauf  hat  in  neurer  Zeit  besonders  Weisse  (Martinus  Lu- 
therus  etc.  Lips.  1845  und  ausführlicher  in:  die  Christologie  Lu- 
thers Leipz.  1852)  aufmerksam  gemacht.  Er  hat  zugleich  mit  Recht 
darauf  hingewiesen,  dass  in  vielen  Punkten  die  Lehi'en  Andreas 
Osiinidcrs  (14:98 — 1552),  welchen  die  orthodoxen  Lutheraner  ver- 
dammten, mit  Luthers  persönlichen  Ansichten  mehr  übereinstimm- 
ten, als  die  seiner  Gegner. 

2.  Das  Gleiche  gilt  in  noch  höherem  Grade  von  den  Lehren 
Schwcuvlifehls  und  vielleicht  war  es  das  Gefühl,  dass  hier  wirklich 
nur  die  Consequenzen  aus  den  eignen  Lehren  gezogen  wurden, 
was  Luthern  mit  solcher  Härte  über  den  edlen  Manu  urtheilen 
lässt.  Im  Wohnsitz  seiner  Väter  zu  Ossing  in  Schlesien  im  J.  1490 
geboren,  war  Caspar  Scinrcnck feld  von  Ossing  im  J.  1519 
für  die  Neuerungen  Luthers  gewonnen.  Sein  ernster  Sinn  und  rei- 
ner Eifer  für  Wahrheit  liess  ihn  nicht  dabei  stehen  bleiben.  Er 
konnte,  um  seine  eignen  Worte  zu  brauchen,  nicht  bloss  nach  -  er 
musste  fortfahren,  und  das  Sehen  durch  fremde  Augen  hat  er  Zeit- 
lebens verachtet  und  getadelt.  Schon  im  J.  1527  erliess  er,  von 
Liegnitz  aus,  wo  er  ein  Herzogliches  Amt  bekleidete,  seinen  „Send- 
brief an  alle  christgläubige  Menschen  vom  Grund  und  Ursache  des 
Irrthums  im  Artikel  vom  Sacrament  des  Nachtmahls",  in  dem  er 
gegen  die  fleischliche  Auffassung  der  Sacramente  durch  Katholi- 
ken und  Lutheraner,  eben  so  aber  auch  gegen  die  Zn'inglVs  und 
der  Taufgläubigen  polemisirt,  und  seine  Lehre,  die  er  als  die 
wahre  Mitte  zwischen  jenen  vier  Secten  bezeichnet,  entwickelt.  Es 
ist  dieselbe,  der  er  sein  ganzes  Leben  hindurch  treu  geblieben  ist, 
und  die  er  (indem  er  in  den  Worten  Das  ist  mein  Leib  „Das"  als 

F.rdmann ,  Gesch.  d.  Pliilos   1.  ß1 


482  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Prädicat  des  Satzes  nimmt)  auch  als  die  allein  exegetisch  haltbare 
bezeichnet,  dass  sich  an  das  Geniessen  Christi,  der  geistigen  Nah- 
rung, durch  Glauben  und  Hingabe,  auf  das  Geheiss  desselben  die 
äussere  Handlung  schliessen  müsse,  in  der  sein  Gedächtniss  ge- 
feiert und  sein  Tod  verkündigt  werde.  Die  Verfolgungen  der  Lu- 
theraner, die  er  sich  dadurch  auf  den  Hals  zog,  zwangen  ihn 
schon  im  folgenden  Jahr  sein  Vaterland  zu  verlassen,  und  er  ist 
von  da  an  von  Ort  zu  Ort  gezogen,  hat  verborgen  besonders  in 
Schwaben  und  am  Rhein  gelebt  und  ist  im  J.  1561,  wahrscheinlich 
in  Ulm,  gestorben.  Dass  Svlnceiichfeld  in  allen  seinen  Streitschrif- 
ten, in  die  der  eigentlich  friedfertige  Mann  hineingezogen  wird, 
immer  auf  das  Sacrament  zurückkommt ,  hat  seinen  Grund  darin, 
dass  er  in  der  Lutherischen  Sacramentenlehre  den  Culminations- 
punkt  der  Richtung  sieht,  die  er  als  fleischliclie  an  den  Lutheri- 
schen tadelt.  Was  er  nämlich  immer  und  immer  ihnen  vorwirft 
ist,  dass  sie  das  Ewige  und  Innere  mit  dem  Zeitlichen  und  Aeus- 
seren  verwechseln,  und  eben  darum  an  die  Stelle  des  wahren  al- 
lein seligmachenden  Glaubens  den  historischen  oder  ^'ernunft-Glau- 
ben  setzen.  Was  von  dem  ewigen  Worte  Gottes,  das  in  Christo 
Fleisch  geworden  ist,  und  als  verklärter  Menscb  zur  Rechten  Got- 
tes sitzt,  vollständig  richtig  ist,  das  beziehen  sie  auf  da;^  geschrie- 
bene Bibelwort,  ja  auf  das  Wort,  das  auf  der  Kanzel  aus  dem 
Munde  ihrer  Pastoren  geht:  in  ihm  allein  soll  das  Heil  liegen. 
Was  von  dem  verklärten  Christo  ganz  richtig  ist,  dass  der  Ge- 
nuss  seines  verklärten  Fleisches  und  Blutes  als  alleinige  Nahrung 
den  Gläubigen  Vergebung  der  Sünden  gewähre,  das  beziehen  sie 
auf  den  leibhchen  Genuss  des  Brotes  und  Weines ,  und  behaupten, 
dass  dadurch  Christus  sich  sogar  mit  dem  Ungläubigen  verbinde. 
An  die  Stelle  der  ecclesia  iiUernu,  ausser  der  es  allerdings  kein 
Heil  gibt,  haben  sie  ihre  nur  zu  verderbte  cccleüa  e.itcrna  ohne 
Bann  und  Kirchenzucht,  ohne  Wiedergeburt  und  Heihgung,  gestellt, 
und  beschwichtigen  die  Gewissen  anstatt  sie  zu  schärfen.  Immer 
mehr  werde  von  ihnen,  sagt  er,  der  Ruhm  und  die  Ehre  Christi 
verkürzt,  seine  Wirksamkeit  an  ihre  Predigt  gebunden,  endlich 
ihre  Pastoren  zu  denen  gemacht,  welche  die  Vergebung  gewähren, 
statt  dass  ihr  Beruf  nur  sey  Zeugniss  abzulegen  für  dieselbe.  Von 
Sammlungen  der  W'erke  ScIucenckfeUls  kenne  ich;  Epistolar  des 
Edlen  von  Gott  hochbegnadigteu  Herrn  Caspar  Schweuckfelds  von 
Ossing  aus  der  Schlesien  u.  s.  w.  Der  erste  Theil  1566  (s.  1.  viel- 
leicht Strassburg),  Fol.  welcher  hundert  in  den  Jahren  1531 — 33 
geschriebene  Briefe  enthält.  Der  andere  Theil  1570  (s.  1.  Ebenda- 
selbst) enthält  zuerst  vier  Sendbriefe  an  alle  chiistgiäubigen  Men- 


I.  Die  Theosophen.     Uebergaug  zur  Blüthe  der  Mystik.     §.  233,  2.  3      483 

sehen,  dann  acht  und  fimfzig  Briefe  an  bestimmte  Personen,  wel- 
che das  erste  von  den  vier  Büchern  bilden,  in  welche  dieser  zweite 
Theil  zerfallen  sollte.  Ob  die  folgenden  Bücher  erschienen  sind, 
weiss  ich  nicht.  —  Zu  dieser  Sammlung  kommt  der  erste  (allein 
erschienene)  Theil  der  christlichen  orthodoxischen  Bücher  und 
Schriften  des  Edlen  u,  s.  w.  1564.  Fol.  (s.  1.).  Darin  sind  enthal- 
ten drei  und  zwanzig  Aufsätze:  Bekenntnis«  vom  J.  1547,  Rechen- 
schaft von  C.  S's,  Yocation,  Sendbrief  von  der  h.  Dreieinigkeit 
1544,  Ermahnung  zum  wahren  Erkenntniss  Christi,  die  (grosse) 
Confession  in  drei  Theilen,  Vom  Evangelio,  Von  Sund  und  Gnad 
Adam  und  Christo,  Sendbrief  von  der  Justitication,  Von  der  gött- 
lichen Kindschaft,  klare  Zeugnisse  ausser  delu  N.  T.  für  Christum, 
Sendbrief  von  seligmachender  Erkenntniss  Christi,  Summarium  von 
zweierlei  Ständen,  Drei  christliche  Sendbriefe,  Vom  ewigen  Leben 
Gottes,  Catechismus  vom  Worte  des  Kreuze«,  deutsclie  Theologie 
für  Laien,  Von  dreierlei  Leben  der  Menschen  1545,  Vom  christ- 
lichen Streit,  Summarium  von  Streit  und  Gewissen,  Von  himmlischer 
Arzenei,  Vom  Christenmeuschen,  Vom  Artikel  der  Vergebung  der 
Sünden,  Ein  Bedenken  \on  der  Freiheit  des  Glaubens,  Kurzes 
Bekenntniss  von  Christo.  —  Ausserdem  kenne  ich  von  einzeln  ge- 
druckten Schriften:  Vom  Gebet  1547,  Vom  Lehramt  des  N.  T. 
1555,  Fragen  der  christlichen  Kirche,  Ablehnung  von  Dr.  Luthers 
Malediction  1555,  Zwei  Verantwortungen  gegen  Melanchthon,  Kurze 
Ablehnung  der  Calumnien  des  Simon  Museus  1550.  Schon  im  J. 
1556  sagt  Schicenchfeld  in  seiner^  zweiten  Verantwortung  gegen 
McUmvhtlion.  er  habe  mehr  als  fünfzig  Büchlein  geschrieben.  Er 
gibt  einige  derselben  an,  die  meisten  sind  solche,  die  hier  ange- 
führt worden  sind,  einiger  aber  habe  ich  nicht  habhaft  werden 
können.  Die  Wolffenbüttler  Bibliothek  soll  noch  viel  Handschrift- 
liches von  Schceiichfeld  besitzen. 

3.  Ein  entschiedner  Geistesverwandter  Svhwenckfeids  ist  Va  - 
lentin  Weiffei.  Geboren  1533  in  Hayna  bei  Dresden,  hat  er 
dreizehn  Jahre  in  Leipzig  und  Wittenberg  zugebracht,  und  kam 
dann  als  Pfarrer  nach  Zschopau.  Obgleich  er  seine  mystischen 
Lehren  nur  vor  Vertrauten  mitzutheilen  pflegte  und  seine  nieder- 
geschriebnen  Abhandlungen  nicht  durch  den  Druck  veröffentlichte, 
so  geht  doch  aus  seiner  am  23.  Decbr.  1594  geschriebenen  Theo- 
logia  Weigelii  (gedr.  1618  Neustadt  [wahrscheinlich  Magdeburg] 
bei  Knaber  [pseudonym])  hervor,  dass  er  ob  derselben  von  vielen 
Widersachern  angefeindet  worden  ist.  (Jenes  Datum  widerlegt  übri- 
gens was  man  überall  findet,  dass  er  1588  gestorben  sey.)  Ausser 
der  eben  genannten   Schrift  hat  derselbe  Verleger   1615    rvco^i 

31  * 


484  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (ITebergang). 

oeavTov  Nosce  teipsum,  im  Jahre  1618  aber  Studium  generale, 
Moise  tabernaculum,  Libellus  disputationis,  im  J.  1619  de  boiio  et 
malo  in  homine  veröffentliclit.  Bereits  im  J.  1613  war  in  Halle 
bei  Krnsicke  erschienen:  Der  güldene  Griff.  Die  gleichfalls  bei 
Knuber  im  J.  1618  erschienene  Schrift  Soli  Deo  gloria  kann  in 
dieser  Form  von  Weigel  nicht  geschrieben  seyn,  da  sie  Sachen 
citirt,  die  nach  WeiyeVs  Tode  erschienen  sind.  Ausserdem  finde 
ich  folgende  Schriften  citirt,  die  mir  fremd  geblieben  sind:  Postil 
über  Evangelia  und  Fest,  Confession  Teutsch  und  Bethbuch,  In- 
formatorium,  Vom  Ort  der  Welt,  Dialogus  de  Christianismo  „und 
alle  seine  anderen  Bücher  und  Schriften  so  albereit  in  Druck  auss- 
gangen und  noch  künftig  aussgehn  wei'den".  Am  Häufigsten  und 
Wärmsten  führt  Weigid  als  Gewährsmann  an  den  Paracehns  (s. 
weiterhin  §.  241),  nächst  diesem  den  Nürnberger  Apokalyptiker 
Paulus  Lautersdck.  Nach  ihnen  die  deutsche  Theologie  und  Taii- 
Icr,  dem  er  übrigens  auch  die  Nachfolge  Christi  zuschreibt.  We- 
niger oft,  und  nicht  immer  lobend,  wird  Lulher  citirt.  Dagegen 
wird,  zwar  nicht  genannt,  aber  sehr  oft  benutzt  Nicvlaiis  ron  Citsa 
(s.  §.  224),  dem  nicht  nur  die  coincidentia  contradictoriorum, 
sondern  auch  die  iii  dessen  Schrift  de  conjecturis  gebrauchte  sche- 
matische Darstellung  der  sich  ausgleichenden  Gegensätze  entlehnt 
wird.  In  allen  oben  genannten  Schriften  kehrt  der  Gedanke  sehr 
oft  wieder,  dass  der  Mensch,  weil  aus  dem  linuis  terrae  geformt, 
als  Mikrokosmus  die  ganze  Welt  in  sich  befasse,  „alle  Dinge  ist, 
wie  Gott",  indem  der  mit  Sinnlichkeit  begabte  Leib  irdisch  ele- 
mentaren, der  Geist,  der  Sitz  der  verständigen  Klugheit,  sideri- 
schen  Ursprungs  sey.  Zu  beiden  kommt  dann  als  Wirkung  des 
eingehauchten  göttlichen  Odems  die,  mit  dem  iidcUeclus  ausgestat- 
tete Seele,  in  der  Gott  wohnt.  Dass  öfter,  z.  B.  in  Tabern.  Moys., 
Seele  und  Geist  ihre  Stelle  vertauschen,  hat  vielleicht  die  bes- 
sernde Hand  der  Herausgeber  verschuldet,  die  sich  öfter  bemerk- 
bar macht.  Eben  deswegen  erkennt  der  Mensch  die  Welt  und 
Gott  nicht  sowol  durch  ihre  Einwirkung  von  Aussen,  als  vielmehr 
indem  er  sich  in  sich  vertieft.  Nicht  der  „Gegenwurf"  macht  uns 
sehen,  sondern  das  Auge.  Um  etwas  zu  verstehn  muss  man  es 
in  sich  tragen.  Nosce  le  ipsum  ist  deswegen  die  wahre  Philo- 
sophie ;  Philosophie  als  Liebe  zur  Weisheit  führt  aber  zu  Christo 
der  die  Weisheit  ist.  Darum  sind  die  Welt,  die  h.  Schrift,  deren 
Inhalt  Christus,  und  das  eigne  Selbst  die  drei  Bücher,  aus  denen 
die  wahre  Erkenntniss  geschöpft  wird.  Wer  sich  selbst  richtig  er- 
kennt, dem  erscheint  es  kein  Frevel,  wenn  gesagt  wird,  dass  im 
Nosce  te  ipsum  die  dritte  Person  im  göttlichen  Wesen  erkannt 


I.  Die  Theosophen.     Uebergang  zur  Blüthe  der  Mystik.     §.  233,  3.  4.      485 

wird.  Das  ist  eben  der  Fehler  der  Buchstabentheologie,  dass  sie, 
als  müsse  der  Sonnenschein  auch  den  Blinden  sehend  machen, 
durch  Lehren  und  Glaubenssymbole  dem  Menschen  das  Heil  zu 
verschatFen  wähnt.  Es  gibt  nur  einen  einzigen  Weg  dazu  zu  ge- 
langen: seinen  Willen  Gott  gefangen  geben.  Gott  nämlich,  der 
ohne  Welt  nur  Gottheit,  willen-  und  affectlos  und  also  nicht  ganz 
wäre,  gibt  in  der  Schöpfung  der  Creatur  Wesen  und  empfängt  da- 
durch Willen,  als  der  er  nun  in  der  Creatur  lebt.  Im  Stande  der  Un- 
schuld ist  es  nur  ein  Wille,  der  Wille  Gottes,  der  in -dem  Men- 
schen lebt.  Indem  der  Mensch  diesen  Willen  Gottes  sich  aneig- 
net, in  seinen  eignen  Willen  verwandelt,  verfällt  er  der  Verdaram- 
niss,  so  dass  die  Hölle  nichts  ist,  als  der  sogenannte  freie  Wille. 
Gibt  er  aber  seinen  Willen  gefangen,  so  ist  er  selig,  denn  Seligkeit 
ist  srrrian  arhlfrimn.  Erstirbt  in  uns  der  Wille  wie  er  in  Clristo 
starb,  so  lebt  C/.ri.slifs  in  uns  und  Alles  was  Er  that  gehört  uns 
an.  Umgekehrt  aber:  Nehmen  wir  uns  Etwas  an,  so  sind  wir 
böse.  Der  Gute  und  Böse  vollführen  beide  Gottes  Werk,  jener 
mit  Wissen,  dieser  indem  er  es  für  sein  eignes  ansieht.  Auch  ist 
der  Unterschied  zwischen  dem  Menschen  vor  dem  Falle  und  nach 
demselben  nicht  der,  dass  in  jenem  nur  Gutes,  in  diesem  nur  Bö- 
ses ist,  sondern  er  liegt  darin,  dass  dort  das  Böse  hier  das  Gute 
„verborgen"  bleibt.  Die  ganze  Theologie  ist  in  dem  Namen  Jesus 
C//ristifs  enthalten;  lebt  Jesus  in  uns,  so  liest  man  aus  diesem 
inneren  Worte  die  Heilslehre  besser,  als  aus  der  Bibel,  aus  der 
die  Ketzer  alle  möglichen  Irrthümer  herausgelesen  haben.  Am 
Richtigsten  verstand  die  Schrift  Paifliis  Lauter  sack,  der  die  Of- 
fenbarung fiu'  das  Hauptbuch  erklärte,  zugleich  aber  dies  festhielt, 
dass  sie  nicht  Offenbarung  Johannis  heisst,  sondern  Offenbarung 
Jesu  Christi,  weil  Jesus  Christus  ihr  ganzer  Inhalt  ist.  Wer  CLri- 
stnm  in  sich  aufnahm,  dem  bezeugt  die  Bibel,  was  er  in  sich  ge- 
lesen hat,  d.  h.  was  aus  dem  Geiste  geschöpft  ward,  aus  dem 
auch  die  Bibel  geschöpft  wurde.  Die,  welche  behaupten,  nur  au 
das  Bibelwort  söy  die  Wirksamkeit  des  h.  Geistes  gebunden,  müss- 
ten  eigentlich  behaupten,  dass  die  Bibel  nur  vermittelst  der  Bibel 
geschrieben  werden  konnte. 

Vgl.  Jul.  Otto  Opel  Valentiu  Weigel,    ein  Beitrag    zur  Literatur-    und  Culturge- 
scliichte  des  17.  Jalirh.     Leipz.  1864. 

4.  Alle  in  diesem  §.  genannten  Männer  sind  durch  theologi- 
sche Studien ,  wenigstens  unter  denselben ,  zu  ihren  mystischen 
Lehren  gekommen.  Dieselben  bleiben  darum,  was  auch  durch  die 
Terminologie  sich  ausspricht,  in  einem  stetigen  Zusammenhange 
mit  dem,  was  die  h.  Schrift,  was  die  traditionelle  Dogmatik,  was 


486  Mittelalterliclie  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uehergang). 

hergebrachte  Exegese  lehrte.  Wo  sie  abweichen,  behaupten  sie 
nur,  es  sey  bisher  nicht  richtig  exegesirt  worden.  Anders  gestal- 
tet sich  die  Sache  dort,  wo  ein,  nicht  durch  Universitätsstudien 
Geschulter,  dessen  innere  religiöse  Erfahrungen  zwar  auch  durch 
eifriges  Lesen  der  h.  Schrift,  viel  mehr  aber  durch  Vertiefung 
in  sich  selbst  genährt  wurden,  mit  den  Schriften  der  eben  ge- 
nannten Männer  bekannt  wird.  Nicht  im  Stande,  der  Mittelglie- 
der bewusst  zu  werden,  welche  die  biblische  und  kirchliche  Ueber- 
lieferung  mit  diesen  mystischen,  in  seinem  Geiste  wuchernden, 
Ideen  verbinden,  muss  er  die  letzteren  als  ganz  neue,  erst  ihm 
zu  Theil  gewordene,  Offenbarungen  ansehn  und  für  diese  neuen 
Gedanken  Namen  suchen,  die  der  Wortvorrath  des  Ungelehrten 
enthält  oder  zu  denen  er  wenigstens  den  Stoff  liefert.  Damit  wird 
der  Mystik  ihr,  der  früheren  Wissenschaft  entlehntes  gelehrtes 
Gewand  ganz  abgestreift,  sie  wird  zu  dem  was  man  Theosophie 
im  Unterschiede  von  Theologie  zu  nennen  pflegt:  an  die  Stelle  der 
ruhigen  discursiven  Betrachtung  tritt  die  begeistei-te  Intuition,  und 
dem  Leser  wird  nicht  dargelegt,  was  der  Schreibende  ergrübelt 
hat,  sondern  was  ihm  die  sich  offenbarende  Gottheit  dictirte.  Was 
dieser  Theosophie  vor  anderen  eine  Einwirkung  auf  die  weitere 
Entwickelung  der  Philosophie  und  darum  einen  Platz  in  der  Ge- 
schichte derselben  sichert,  ist,  dass  sie  eine  von  ihrer  Zeit  postu- 
lirte  Erscheinung  und  darum,  wenn  gleich  in  phantastischer  Form 
ausgesprochenes,  Zeitverständniss ,  dann  aber  auch  Philosophie  ist 
(s.  §.  3). 

§.  234. 
€.   Jakob  Böhme  und  die  tbeosophische  mystik. 

J.  Hamherger   Die  Lehre    des    deutschen    Philosophen  Jakob  Böhme.     München 
1844.     H.  A.  Fechner  Jakob  Böhme.     Sein  Leben  und  seine  Schriften.    Görlitz  1857. 

1.  Jdkoh  Böhme  {Böhm)  Avurde  1575  in  Altseidenberg  bei  Gör- 
litz geboren,  trat,  nachdem  er  einen  verhältnissmässig  guten  Schul- 
unterricht erhalten  hatte,  durch  den  er,  wie  es  scheint,  sogar  die 
Rudimente  des  Latein  kennen  lernte,  bei  einem  Schuhmacher  in 
die  Lehre,  und  begab  sich,  nachdem  er '1592  freigesprochen  war, 
auf  die  Wanderschaft,  während  welcher  er,  von  den  confessionel- 
len  Streitschriften  abgestossen,  neben  der  ihm  schon  früher  ver- 
trauten Bibel,  allerlei  mystische  Schriften  las,  unter  welchen  sich 
nachweisbar  Paracelsische  und  Schwenkfeldsche ,  wahrscheinlich  aber 
auch  handschriftlich  cursirende  Weigelsche  befanden.  Im  19*^"  Jahre 
nach  Görlitz  zurückgekehrt,  wird  er  daselbst  im  J.  1599  Meister 
und  Ehemann   und  lebt  als  Vater  von  sechs  Kindern  ein  ruhiges 


I.    Die  Theosopheu      C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  1.  2.  487 

durch   Fleiss   und  Frömmigkeit  ausgezeichnetes  Leben.     Der  An- 
blick  eines   von  der  Sonne   erleuchteten  Zinngeschirrs  soll   zuerst 
im  J.  IßlO  in  chaotischer  Einheit  die  Gedanken  hervorgerufen  ha- 
ben, die  er  erst  zehn  Jahre  später,  in  seiner  Aurora,  zu  entwickeln 
versuchte.    Da  das  MS.  durch  Herrn  roih  EiuJor ,  einen  Schwenk- 
feldianer,  in  weiteren  Kreisen  bekannt  geworden  war  und  in  Folge 
dessen  ein  Paar  Paracelsische  Aerzte,    Walflrr  aus  Glogau  und 
Kobcr  aus  Görlitz .  ausser  ihnen  aber  einige  Görlitzei'  Bürger  sich 
näher  an  hDiwr  ansclilosseu ,   so  rief  dies  den  Zorn  des  Obei-pre- 
digers  Riiltcr  hervor,  in  Folge  dessen  es  vom  Magistrat  Bolivien 
verboten  ward,  zu  schreil)en.     Sieben  Jahre  lang  gehorchte  er  die- 
sem Befehl ,   dann  erklärte   er ,   er   vermöge   es   nicht   länger  und 
nun  wurden  von  ihm  niedergeschrieben:     Im  Jahre  1619:  Von  den 
drei  Principien    des  göttlichen  Wesens  nebst  dem  xVnhange:   Vom 
dreifachen  Leben  des  Menschen.     Im  J.  1620:  Vierzig  Fragen  von 
der  Seele  nebst   dem  Anhange:   Das  umgewandte  Auge,   Von  der 
Menschwerdung  Jesu  Christi.    Sechs  theosophische  Punkte,    Sechs 
mystische  Punkte ,  Vom  irdischen  und  himmlischen  jMysterium.    Im 
J.  1621 :    Von    vier  Complexionen ,   Schutzschrift   wider  BaUhaser 
Tilclrn,  zwei  Streitschriften    gegen   Esains  Sliefel.     Im  J.  1622: 
Signatura  rerum ,  von  wahrer  Busse ,  von  wahrer  Gelassenheit,  vom 
übersinnlichen  Leben,  von  der  Wiedergeburt,  von  der  göttlichen 
Beschaulichkeit.     (Die  letzteren  fünf  mirden  ohne  sein  Vonvissen 
unter  dem  Gesammttitel :   Weg  zu  Christo,  1623   gedruckt.)    Im 
J.  1623  wurde  verfasst:   Von  der  Gnadenwahl,  von  der  h.  Taufe, 
vom  h.  Abendmahl,  Mysterium  magnum.    Im  J.  1624  endlich:  Ge- 
spräch einer  erleuchteten  und  unerleuchteten  Seele,  vom  h.  Gebet, 
Tafeln  von  den  drei  Principien  göttlicher  Offeubarang,  Clavis  oder 
Schlüssel    der   vornehmsten   Punkte.    Einhundert  und  sieben  und 
siebzig  theosophische  Fragen.     Ausser  diesen  Schriften   existiren 
noch  seine  vom  J.  1618 — 24  geschriebenen  theosophischen  Send- 
briefe.    Der  Druck  des  Weges  zu  Christo  erneute  die  Angriffe  der 
Ortsgeistlichkeit,  vor  denen  Böhme  endlich  durch  eine  Reise  nach 
Dresden,   wo  er  mit  den  höchsten  Geistlichen  und  vielleicht  mit 
dem  Churfürsten  selbst  in  Berührung  kam,  sicher  gestellt  ward. 
Bald  darauf  starb  er  an  der  ersten  Krankheit,  die  ihn  je  befallen 
hat,  am  7.  (17.)  November  1624.     Seine  Werke   sind   zuei-st  von 
Bethe  in  Amsterdam  1675,   dann  vollständiger  von  Giehtel  in  10 
Bänden,   Amsterdam  1682   herausgegeben.    Die  6 bändige  Amster- 
damer Ausgabe  von  1730  wird  am  Meisten  geschätzt.    Die  neuste 
ist  die  von  Sr/tiebler,  Leipzig  1831  ff.,  in  sieben  Oetavbänden. 
2.   Da  Böhme' s  Bestreben  vor  Allem  darauf  geht,  gleichzeitig 


488  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Gott  als  den  Urgrund  alles  Seyns  zu  fassen  und  doch  die  unge- 
heure Gewalt  des  Bösen  nicht  zu  leugnen,  so  ist  es  erklärlich, 
wie  er  denen,  die  zum  Pantheismus  neigen,  als  Manichäer,  denen 
wieder,  die  eine  fast  blinde  Furcht  vor  dem  Pantheismus  verra- 
then,  als  Pantheist  erscheinen  konnte.  Wie  weit  er  aber  vom  Pan- 
theismus entfernt  ist,  zeigt  seine  unaufhörliche  Polemik  gegen  die 
„Gnadenwähler",  die  Gott  zur  Ursache  des  Uebels,  ja  des  Bösen, 
machen.  Freilich  kennt  er  auch  die  Gefahr,  die  in  der  Flucht 
vor  dem  Pantheismus  liegt,  und  auf  diese  Gefahr  möchte  es  zie- 
len, wenn  er  erzählt,  dass  der  Anblick  des  Bösen  ihn  zu  der  Me- 
lancholie gebracht  habe,  in  der  ihm  der  Teufel  oft  „heidnische" 
Gedanken  eingegeben  habe,  die  er  hier  verschweigen  wolle.  Das 
wahre  Verständniss  wird  nur  errungen,  indem  der  Geist  durch- 
bricht bis  in  die  innerste  Geburt  der  Gottheit  (Auror.  19,  4.  6.  9 — 
11).  Die  Furcht,  dass  dies  dem  Menschen  unmöglich,  gibt  der 
Teufel  uns  ein,  dem  freilich  daran  liegt,  dass  man  nicht  dahinter 
komme.  Nicht  umsonst  sind  wir  Ebenbilder  Gottes  und  Götter, 
dazu  bestimmt  Gott  zu  erkennen  (Auror.  22,  12).  "Weil  wir  es 
sind ,  deswegen  führt  die  Selbsterkenntniss  zur  Erkenntniss  Gottes, 
und  nur  weil  sie  zu  träge  dazu  ist,  redet  die  Vernunft  so  gern 
von  der  Unbegreiflichkeit  Gottes,  vor  dem  sie  stehen  bleibt  wie 
die  Kuh  vor  der  neuen  Stallthür  (Myst.  magn.  10,  2).  Das ,  worin 
und  woraus  Gottes  Wesen  und  innere  Geburt  erkannt  werden  kann, 
trägt  der  Weiseste  wie  der  Ungelehrteste  in  sich.  Wenngleich  da- 
her Blihvie  als  die  Quelle  seiner  Lehren  nicht  Bücher,  sondern 
die  unmittelbare  Offenbarung  Gottes  angibt,  als  dessen  oft  ganz 
willen-  und  bewusstloses  Werkzeug  er  schreibe,  um  die  wahre 
„philosophische"  Erkenntniss  auszusprechen  und  den  Tag  des  Herrn 
zu  verkündigen,  dessen  Morgenröthe  angebrochen  sey  (Auror.  23, 
10.  85),  so  gesteht  er  doch  jedem  Leser  die  Fähigkeit  zu,  seine 
Schriften  zu  verstehn  (Ebend.  22,  52).  Freilich  dürfen  sie  nicht 
aus  eitlem  Fürwitz  und  blosser  Neugierde  gelesen  werden ,  sondern 
in  dem  Sinne,  in  dem  sie  geschrieben  wurden,  so  dass  man  „gleich 
als  wenn  man  todt"  sich  dem  erleuchtenden  Geiste  hingibt,  nicht 
mehr  wissen  als  dieser  offenbaren  will.  Man  muss  eben  Gott  selbst 
in  sich  forschen  lassen  (Schlüssel,  Vorr.).  Die  blosse  Vernunft 
reicht  dazu  nicht  aus,  denn  diese  kommt,  wie  der  Sinn  dem  irdi- 
schen aus  den  Elementen  gebildeten  Leibe,  so  dem  Geiste  zu,  dem 
siderischen  aus  den  Gestirnen  stammenden  Sitze  der  Klugheit  und 
Künste.  Vielmehr  bedarf  es  dazu  des  Verstandes,  welcher  zu  sei- 
nem Sitze  die  von  Gott  eingehauchte  Seele  hat,  und  da  Jedes 
nach  dem  trachtet,  woraus  es  seinen  Ursprung  hat,  nach  der  Er- 


I.   Die  Theosopheu,     C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  2.  3.  489 

kenntniss  Gottes  trachtet  (Sig.  rer.  3,  8).  Freilich  ist  durch  den 
Fall  Adams  auch  diese  Erkenntniss  sehr  verdunkelt,  und  ohne  das 
Sterben  des  alten  Menschen,  was  keine  leichte  Sache  ist,  kann 
Gott  nicht  erkannt  werden.  Der  Wiedergeborne  aber,  d.  h.  der, 
in  welchem  Gott  geboren  ward,  kann  in  dem  wie  es  geschah,  Got- 
tes ewige  Geburt  lesen,  denn  wie  Gott  heute  ist,  war  er  ewig  und 
wird  er  ewig  seyn. 

3.  Da  ist  nun  Gott  ganz  zuerst  zu  denken,  wie  er  die  ewige 
Ruhe  ist ,  eine  „Stille  ohne  Wesen" ,  als  Ungrund  und  Wille  ohne 
Gegenstand  (Myst.  magn.  29.  1).  So  gedacht  ist  er  nicht  dies 
oder  das ,  sondern  vielmehr  als  ein  ewiges  Nichts ,  ohne  alle  „Qual" 
d.  h.  qualitäts-  und  trieblos.  Nichts  und  Alles,  weder  Licht  noch 
Finsterniss,  das  ewig  Eine  (Gnadenw.  I,  4).  In  dieser  seiner  Tiefe, 
wo  er  selbst  nicht  Wesen  ist,  sondern  Urständ  aller  Wesen,  ist 
Gott  nicht  offenbar,  nicht  einmal  sich  selber  (Myst.  magn.  5,  10). 
Um  ihn  so  zu  denken,  nehme  man  Natur  und  Creatur  weg,  denn 
alsdann  ist  Gott  Alles  (Gnadenw^  I,  9).  Darum  wird  er  auch  oft 
der  Unnatürliche,  Uncreatürliche  u.  dgl.  genannt.  Durch  ein  Bli- 
cken in  sich  selbst,  siebet  er  was  er  selber  ist  und  machet  sich 
selber  zu  einem  Spiegel,  wodurch  der  ewige  unfassliche  Wille  zu 
einem  fassenden  (Vater j  und  einer  fasslichen  Kraft  (Sohn)  sich  ge- 
boren hat ,  und  das  Unfindliche ,  der  ungi-ündliche  Wille ,  durch  sein 
ewig  Gefundenes  aus  sich  ausgeht  und  sich  in  ewige  Beschaulich- 
keit seiner  selbst  einführt.  Der  Ausgang  des  ungründlichen  Wil- 
lens durch  den  Sohn  ist  der  Geist,  so  dass  also  der  einige  Wille 
des  Ungrundes  sich  in  dreierlei  Wirkung  scheidet,  dabei  aber  ein 
Wille  bleibet  (Gnadenw.  I,  5.  6.  12).  Jetzt  also  ist  Unfindliches 
und  Findhches  da,  der  Ungrund  hat  sich  in  Grund,  das  ewige 
Nichts  in  ein  ewiges  Auge  oder  Sehen  gefasset  (Gnadenw.  I,  5, 
6,  8).  In  dieser  Gebährung  steht  dem  Willen  das  Gemüth  gegen- 
über, der  Ausgang  aber  aus  beiden  ist  der  Geist  (Myst.  magn. 
1 ,  2).  Die  vierte  Wirkung  geschieht  in  der  ausgehauchten  Kraft 
als  in  der  göttlichen  Beschaulichkeit  oder  Weisheit,  da  der  Geist 
Gottes  aus  sich  selber  spielet  und  in  Fomiirungen  einführt  (Gna- 
denw. I,  14).  Dabei  muss  man  nicht,  wozu  die  Bezeichnung  als 
vierte  Wirkung  verleiten  kann,  die  Weisheit  als  ein,  den  drei  anderen 
coordinirtes  Moment  ansehn.  Vielmehr  ist  sie  das  jene  drei  Um- 
fassende, sie  ist  der  Ort,  in  dem  Gott  von  Ewigkeit  her  alle 
die  Möglichkeiten  sieht,  mit  denen  sein  Geist  spielt  (Gnadenw. 
5,  12).  Die  ewige  Weisheit  oder  Verstand  ist  die  Wohne  Gottes, 
er  der  Wille  der  Weisheit  (Myst.  magn.  1,  2).  Als  diese  „Wohne" 
und  Ort  der  göttlichen  „Bildnisse"  ist  die  Weisheit  passiv  und 


490  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergaiig). 

wird  darum  dieser  Umschluss  gewölmlicli  als  die  Jungfrau  bezeich- 
net ,  die  nicht  empfängt  noch  gebiert  (Dreif.  Leben  5 ,  44) ,  auch 
dem  h.  Geiste  so  entgegengestellt,  dass  er  das  Aushauchen,  sie 
das  Ausgehauchte  ist  (Myst.  magn.  7,  9).  Nach  Bnlvte's  ausdrück- 
licher Erklärung  ist  die  eben  entwickelte  Dreiheit  nicht  die  der 
drei  Personen  des  göttlichen  Wesens.  Für  den  Terminus  Perso- 
nen hat  er  keine  Vorliebe;  dersell)e  ist  nicht  nur  missverständlich, 
sondern  auch  ungenau,  da  eigentlich  „Gott  keine  Person  ist  als 
nur  in  Christo"  (Myst.  magn.  7,  5).  Indess  will  er  nicht  rechten 
mit  den  „Alten,  die  es  also  gegeben  haben"  (Ebend.  7,  8).  A])er 
„allhier'  kann  man  mit  „keinem  Grunde  sagen,  dass  Gott  drei 
Personen"  sey,  denn  in  dieser  ewigen  Gebärung  ist  er  nur  Ein 
Leben  und  Gut  (Ebend.  7,  11).  Der  Unterschied  ist  bisher  eben 
nur  einer,  der  „Verstand",  ideal  würde  man  heut  zu  Tage  sagen, 
ist,  dazu  dass  er  so  zu  seinem  Eechte  komme,  wie  die  kirchliche 
Lehre  von  der  Dreipersönlichkeit  es  fordert,  dazu  ist  nöthig,  dass 
das  bisher  ganz  einige  Wesen  in  „Schiedlichkeit"  oder  „Unter- 
schiedlichkeit" trete.  Das  Princip  derselben  ist  das,  was  höhne 
ewige  oder  geistliche  Natur,  auch  Natur  schlechthin  nennt.  Jene 
Dreifaltigkeit  gewinnt  Wesen  mul  OfFen])arung ,  wird  mehr  als 
„nur  Verstand",  indem  der  ewige  Wille  sich  „in  Natur  fasset", 
wodurch  seine  Kraft  in  Schiedlichkeit  und  Empfindlichkeit  kommt 
(Gnadenw.  4,  6;  2,  28).  Die  Lehre  von  der  ewigen  Natur,  wor- 
unter Bnlniie  ungefähr  das  versteht,  was  bei  N?ro!nns  r.  Cimr  al- 
ter ifns,  bei  früheren  Mystikern  Anderheit  hiess  (vgl.  §.  224,  3  und 
229,  2),  und  was  man  heute  vielleicht  Für  sich  seyn  oder  Selbst- 
ständigkeit nennt,  kommt  als  der  wichtigste  Punkt  fast  in  allen 
seinen  Schriften  zur  Sprache.  Am  Ausfühi'lichsten  in  der  Aurora 
(Cap.  8  — 11),  am  Uebersichtlichsten  in  Myst.  magn.  Cap.  6.  Fast 
überall  wird  dabei  derselbe  Gang  befolgt,  wie  in  dem  Erstlings- 
werke: Die  sieben  Momente  der  Natur  werden,  in  derselben  Rei- 
henfolge, wenn  auch  nicht  immer  unter  denselben  Namen  nach 
einander  betrachtet.  Indess  erleichtert  es  das  Verständniss,  wenn, 
mit  Anschluss  an  Winke,  die  sich  namentlich  in  späteren  Werken 
finden,  ein  andrer  Weg  eingeschlagen  wird.  Der  Weisung,  dass 
aus  dem  in  der  Creatur  Erkannten  zurückgeschlossen  werde  auf 
den  Urgrund  derselben,  folgt  Bö /nun  selbst  auch  dort,  wo  er  den 
Uebergang  des  verborgeneu  Gottes  in  die  Offenbarung  erforschen 
will.  Da  liefert  ihm  nun  die  Aussenwelt  die  Erkenntniss,  die  al- 
lerdings beim  Anblick  des  Zinngefässes  aufgehn  konnte,  welches, 
obgleich  selbst  dunkel,  das  Licht  der  Sonne  offenbart,  dass  „überall 
Eins  gegen  das  Andere  ist,  nicht  dass  sichs  feinde,   sondern  da- 


I.  Die  Theosophen.     C.  Jakob  Böhme.     §    234,  3,  491 

mit  es  dasselbe  bewege  und  offenbare"  (Gnadenw.  2,  22).  Und 
wieder  sagt  ihm  die  Selbst erkenntniss,  dass  in  dem  stillen  Ge- 
müthe  es  zu  einer  Aeusserung  nur  kommt,  wo  es  in  Begierde  ent- 
brennt (Schlüssel  8 ,  55.  ßO).  Dem  gemäss  wird  auch  der  Ueber- 
gang  des  stillen  Ungrundes  in  die  „Empfindlichkeit",  d.  h.  Wahr- 
nehmbarkeit, so  gefasst,  dass  in  der  stillen  Lust  der  Weisheit 
die  „Begierde"  erwacht,  welche  als  das  Fiaf  und  der  Urständ  al- 
ler Wesen,  zugleich  aber  auch  als  das  Feuer  bestimmt  wird,  durch 
welches  Gott  sich  offenbart  und  überhaupt  alles  Leben  aufgeht 
(Myst.  magn.  3,  4.  8.  18).  Nun  enthält  aber  das  Feuer  auch  die 
zuerst  erwähnte  Bedingung  alles  Offenbarwerdens:  es  verbindet 
mit  der  verzehrenden  Kraft  die  leuchtende,  mit  dem  Zorn  die 
Liebe,  so  dass  also  das  göttliche  Feuer  „sich  in  zwei  Principia 
theilt,  damit  jedes  an  dem  anderen  offenbar  werde"  (Myst.  mgn. 
8,  27).  Als  Gegensatz  zum  laicht  wird  das  Zorn -Feuer  Finster- 
niss  genannt,  worunter  nicht  das  Böse  zu  verstehn,  obgleich,  wie 
sich  später  zeigen  wird,  daraus  das  Böse  in  der  Creatur  wird 
(Gnadenw.  4,  17).  (Uebrigens  bleibt  Böhme  selbst  der  hierin  aus- 
gesprochnen  Weisung  nicht  treu,  und  nennt  oft  diese  Wurzel  des 
Bösen:  das  Böse  in  Gott.)  Sondert  man  nun,  wie  wir  in  der  Be- 
trachtung das  müssen ,  obgleich  in  Gott  sie  sich  nie  trennen ,  den 
Zorn  von  der  Liebe,  so  lassen  sich  in  jedem  der  beiden  je  drei 
Momente  (Umstände,  Eigenschaften,  Qualitäten,  Geister,  Quell- 
geister, Gestalten,  Species,  Essentien  u.  s.  w.)  unterscheiden,  die, 
indem  das  Feuer  als  das  Mittlere  zwischen  ihnen  erscheint,  jene 
Siebenzahl  geben,  von  der  Böinne  nie  abweicht,  obgleich  sich  dem 
Leser  öfter  die  Frage  aufdrängt ,  wamm ,  da  er  zu  den  drei  ersten 
Gestalten  sehr  oft  (u.  A.  Dreif.  Leben  1,  22.  Myst.  magn.  7,  1) 
das  Zornfeuer  als  viertes  hinzurechnet ,  nicht  ein  Gleiches  mit  dem 
Liebesfeuer  geschieht,  woraus  sich  die  Achtzahl  ergäbe.  Da  es 
sich  hier  luii  den  Uebergang  zu  bestimmter  Gestaltung  handelt, 
dabei  aber  dem  Mittelalter  der  Begriff  der  contractin  geläufig  war, 
so  ist  es  erklärhch,  dass  bei  Böhme  als  die  erste  Quahtät  die  zu- 
sammenziehende erscheint,  die  er  die  Herbe,  auch  Härte,  Hitze 
u.  dgl.  nennt.  Ohne  sie  ist  Alles,  was  er  Compaction,  Coagula- 
tion  u.  s.  w.  nennt,  nicht  denkbar.  Eben  so  wenig  auch  Vielheit. 
Sie  ist  „haltend"  und  darum  bildet  einen  Gegensatz  zu  ihr  die 
zweite  Eigenschaft,  welche  ausdehnt,  in  der  sich  das  „Fliehen" 
zeigt.  Zuerst  wohl  auch  die  süsse  Qualität  und  das  Wasser  ge- 
nannt ,  wird  sie  später  verschieden ,  besonders  oft  als  der  „Sta- 
chel" bezeichnet.  Die  Verbindung  jener  beiden  gibt  die  dritte  Ge- 
stalt,  die  Angst,   Angstqual,   die  bittere  Qualität  u.  s.  w.      Alle 


492  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

drei  werden  dann  auch  mit  den  Paracelsischen   (s.  unten  §.  241) 
Namen  Sal,  Mercurius  und  Sulphur,  ihre  Summe  als  Salniter  be- 
zeichnet.    Aus  ihnen  bricht  nun,   wie  aus  dem  Stein  und  Stahl 
der  Funke,  als  vierte  Gestalt  das  Feuer  hervor,  wegen  der  Plötz- 
lichkeit des  Hervorbrechens  der  Blitz,   noch  häufiger  der  Schreck 
oder  Schrack  genannt,   mit  dessen  Anzündung  erst  das  fühlende 
und  verständige  Leben  aufgeht  (Myst.  magn.  3,  18)  und  das  nach 
seiner  einen  Seite,   als  Zorufeuer  oder  Feuer  im  engeren  Sinne, 
zusammen  mit  den  drei  erstgenannten  Gestalten  (der  Begieiiich- 
keit,  Beweglichkeit  und  Empfindlichkeit  nach  recht.  Betkunst  45), 
das  Reich  des  Grimmes  und  der  Finsteruiss  bildet,   während  es 
nach  seiner  anderen  Seite  mit  den  sogleich  zu  betrachtenden  Ge- 
stalten das,  in  freier  Lust  triumphirende  Freudenreich  bildet  (Myst. 
magn.  4,  6).    Die  fünfte  Gestalt  ist  nämlich  das  warme  Licht,  in 
dem  die  Hitze  und   die  Angstqual  gedämpft  sind,   das  „Wasser 
als  wie  ein  Oel  brennt";  die  sechste  gibt  den,  das  Feuer,  wie  der 
Donner  den  Blitz,  begleitenden.  Schall  oder  Ton,  worunter  über- 
haupt  alle  Mittel  der  Verständigung  verstanden  werden,   so  dass 
hier  Geruch,  Geschmack  u.  s.  w.   zur   Sprache  kommen   und  die 
sechste  Gestalt  öfter  „Verständniss  und  Erkenntniss"  genannt  wird 
(so  recht.  Betk.  45).     Endlich  die   siebente  Gestalt  oder  Qualität, 
die  „Leiblichkeit",  fasst  alle  früheren  in  sich  zusammen ,  gleichsam 
als  ihr  Gehäuse  und  Leib,  darinnen  sie  wirken  wie  das  Leben  im 
Fleisch  (Schlüssel  8,  35).     Indem   diese  letzte  Gestalt  nicht  nur 
der  rechte  Geist  der  Natur,   sondern   schlechtweg  Natur  genannt 
wird,   wird  dieses  Wort  sehr  vieldeutig.    Einmal  nämlich  fasst  es 
alle  diese  Gestalten  zusammen,  woher  sie  Naturgestalten,  Natur- 
geister u.  s.  w.  heissen.    Zweitens  soll  es,   wie  eben  gesagt,   den 
Umschluss  der  sechs  übrigen  und  also  die  siebente  Gestalt  allein 
bezeiclinen ,  womit  zusammenhängt ,  dass  sehr  oft  die  Aehnlichkeit 
der  Natur  mit  der  Weisheit   oder  Jungfrau  hervorgehoben  wird. 
Drittens  kommt  es   sehr  oft  vor,   dass   nur  die  drei  (oder  vier) 
ersten  Gestalten  mit  dem  Worte  Natur  bezeichnet,   und  die  übri- 
gen ihr  als  das  „Geistliche"  entgegengestellt  werden  (so  u.  A.  Myst. 
magn.  3,  19).    Endlich  aber  weil  unter  diesen  die  herbe  Qualität, 
die  erste  und  eigentlich  charakteristische  war,  so  wird  diese  nicht 
nur  das  Ceitlrmu  imturne ,   sondern  geradezu  die  Natur  genannt. 
Eins  steht  bei  allen  diesen  Ungenauigkeiten  fest:   dadurch,  dass 
der  ewige  Wille  sich  bewegte,  in  Begierde  und  Feuer  gerieth,  ist 
zwar  keine  Trennung  in  derselben  eingetreten,  denn  die  Eigen- 
schaften bilden  eine  Harmonie,  in  welcher  jede  der  Gestalten  die 
anderen  mit  enthält  und  alle  Eins  sind  (Myst.  magn.  5,  14.  6,  2), 


I.  Die  Theosophen.     C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  3.  4.  493 

aber  doch  immer  ein  Unterschied,  der  göttUche  "Wille,  indem  er 
sich  „in  Eigenschaften  eingeführt"  hat,  ist  nicht  mehr  unberührt 
von  allem  Gegensatz,  sondern  hat  sich  im  Feuerschreck  in  zwei 
Reiche  getheilt  (Ebend.  3,  21.  4,  6),  die  sich  zwar  nicht  anfein- 
den ,  denn  der  Grimm  dient  zum  Leben,  das  Strengste  und  Grimm- 
ste ist  das  Nützhchste,  weil  es  Ursache  der  Beweglichkeit  und 
des  Lebens,  die  aber  doch  unterschieden  sind  und  von  denen  das 
eine,  die  Finsterniss,  nicht  Gott,  sondern  nalirra,  das  zweite  da- 
gegen Gott  als  A  und  O  pflegt  genannt  zu  werden.  (Dreif.  Le- 
ben 2,  8.  10.)  Beide  stehn  in  dem  Verhältniss  zu  einander,  dass 
jenes  die  Urständ  oder  Wurzel  von  diesem  ist,  aus  dem  Zorn,  in 
welchem  Gott  ein  verzehrendes  Feuer  ist,  die  Barmherzigkeit,  in 
der  er  sein  Herz  zeigt,  hervorgeht  und  das  Licht  an  der  Finster- 
niss offenbar  wird  (u.  A.  Myst.  magn.  8.  27).  Durch  diese  Unter- 
schiedliclikeit  wird  nun  aus  der  Dreifaltigkeit,  die  „nur  Verstand" 
gewesen  war ,  die  Dreiheit  solcher ,  die  „zu  AVesen"  geworden,  der 
drei  Personen.  Die  ewige  Natur  ist  also  gleichsam  der  Stoff  für 
die  Dreipersönlichkeit  und  heisst  darum  ihre  Mutter  oder  mairix. 
Wie  aber  diese  Verselbstständigung  geschieht,  und  welche  Eigen- 
schaften namenthch  für  dieselbe  die  wichtigsten,  darüber  gelingt 
es  Böhme  nicht,  sich  klar  und  verständlich  auszudrücken.  Viel- 
leicht weil  er  es  sich  selber  nicht  war.  Bald  nämlich  soll  die 
erste  und  siebente  Gestalt  dem  Vater,  die  zweite  und  sechste  dem 
Sohne,  die  dritte  und  fünfte  dem  h.  Geiste  zukommen  und  die 
vierte  als  Scheideziel  die  Mitte  bilden  (so  Schlüssel  75 — 78);  bald 
.  wieder  werden  von  den  sieben  Eigenschaften  die  erste,  vierte  und 
siebente  so  betont,  dass  der  harte  Zorn  ganz  dem  Vater  vindicirt, 
dagegen  der  Sohn  als  das  Herz  des  Vaters  ganz  dem  Feuer  gleich 
gesetzt,  endlich  aber  die  Leiljlichkeit  oder  ganze  Natur  als  der 
Leib  gefasst  wird ,  in  dem  der  h.  Geist  sich  spiegelt  (so  u.  A.  Dreif. 
Leben  5,  50);  endhch  aber  kommt  auch  dies  vor,  dass  die  Fin- 
sterniss oder  Natur  in  Gott ,  d.  h.  die  befeuerten  drei  ersten  Ge- 
stalten ganz  dem  Vater,  die  befeuerten  drei  letzten  ganz  dem 
Sohne  gleich  gesetzt  werden ,  die  sich  dann  zu  einander  verhalten 
wie  Zorn  und  Barmherzigkeit,  verzehrendes  Feuer  und  Sanftmuth 
der  Liebe  (so  u.  A.  Dreif.  Leben  1,  42).  Aus  dieser  Fassung  ist 
erklärlich,  wie  Böhme  dazu  kommt  den  Sohn  „tausend  Mal  grös- 
ser als  den  Vater"  zu  nennen  (Dreif.  Leben  6,  98),  andrerseits 
warum  man  ihm  Dualismus  vorgeworfen  hat.  Man  vergass  dabei 
nur  zu  sehr,  dass  die  Zwciheit  weder  ursprünhch  ist,  noch  einer 
über  ihr  stehenden  Einheit  ermangelt. 

4.  Dass  nun   das.   was  für  Gott  selbst  unentbehrliches  Ver- 


494  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

wirklich ungsmittel  ist,  auch  die  Wirklichkeit  des  Aiissergöttlichen 
bedingt,  ist  erklärlich.  Böhme  äussert  sich  sehr  unzufrieden  über 
die  gewöhnliche  Formel,  dass  Gott  die  Welt  aus  Nichts  geschaf- 
fen habe,  nicht  nur  weil  sie  negativ  ist,  sondern  Aveil  sie  gegen 
das  Axiom  verstösst,  dass  aus  Nichts  nichts  wird  (Aur.  19,  56). 
Seine  eigne  Lehre  gibt  ihm  die  Daten  zu  einer  andern,  und  po- 
sitiven, Schöpfungslehre.  Unterscheidet  man,  wie  er,  allerdings 
etwas  willkührlich ,  thut,  von  dem  göttlichen  Ternar  den  terna- 
r'ms  sanctiis  so,  dass  der  letztere  den  ersteren  sammt  den  sieben 
Naturgestalten  befasst  (Dreif.  Leben  3,  18),  so  ist  die  Welt  das 
Werk  des  letzteren.  An  jenen  Esscntien  hat  nämlich  der  Wille 
den  Stoff,  aus  welchem  er  die  Dinge  macht.  Dies  gilt  schon  von 
ihrem  „geistlichen"  Zustande,  wo  sie  gleichsam  als  Spiele  der  Gott- 
heit in  der  ewigen  W^eisheit  existiren ,  denn  diese  „Bildnisse"  sind 
nur  die  verschiedenen  möglichen  Combinationen  jener  Essentien, 
Aus  diesem  Zustande  werden  sie  dann,  durch  den  göttlichen  Wil- 
len in  Sichtbarkeit  und  Wesen  eingeführt  (Schlüssel  8,  41),  in- 
dem der  ewige  Wille  einen  anderen  Willen  aus  sich  schöpft,  denn 
sonst  wäre  er  mit  sich  einig ,  würde  nicht  aus  sich  ausgehen  (Dreif. 
Leben  1,  51).  Dieses  Werden  zu  „compactirten"  Wesen,  oder 
dieses  Coaguliren  bedarf  natürlich  der  zusammenziehenden,  d.  h. 
der  herben  Qualität,  die  also  als  die  matrlx  der  sichtbaren  Dinge 
erscheint  (Gnadenw.  1,  20.  Dreif.  Leb.  4,  30),  und  ohne  das  fin- 
stere und  feurische  Princip  keine  Creatur  seyn  würde  (Gnadenw. 
2,  38).  Darum  wird  Gott  oft  als  Vater ,  die  ewige  Natur  als  Mut- 
ter der  Dinge  gefasst  i^Dreif.  Leb.  4,  89),  und  von  ihren  Kindern 
gesagt,  dass  sie  Zorn  und  Liebe,  jenen  als  Urständ  von  dieser, 
in  sich  tragen  (Ebend.  5,  8L  G,  93).  Da  beide  ewig  sind,  so  ist 
nicht  nur  das,  was  vor  der  Schöpfung  als  „unsichtbare  Figur"  in 
der  göttlichen  Weisheit  sich  findet  (Ebend.  9,  6),  sondern  auch 
das,  was  Gott  durch  sein  Schöpferwort  aus  sich  heraus  setzt,  zu- 
nächst ein  Ewiges.  Darum  beginnt  die  Welt  mit  der  Schöpfung 
der  ewigen  Engel.  Da  Gott  alle  Wunder  der  ewigen  Natur  offen- 
baren wollte  und  also  aus  allen  Naturgestalten  Geister  hervorgin- 
gen je  nach  ihrer  Art,  so  bilden  die  Engel  eine  Vielheit  von  Ord- 
nungen ,  die  unter  ihren  verschiedenen  Thronen  und  Fürsten  stehn. 
Unter  diesen  nehmen  die  oberste  Stelle  die  drei  ein,  welche  als 
die  ersten  Abbilder  der  dreipersönlichen  Gottheit  erscheinen:  Mi- 
chael, welcher  dem  Vater,  Lucifer,  welcher  dem  Sohne,  Uriel, 
welcher  dem  h.  Geiste  entspricht  (Aur.  12,  88.  101.  108).  Indem 
Lucifer,  anstatt  sich  in  das  Herz  Gottes  hinein  zu  „iraaginiren" 
und  hinein  zu  „wachsen",   vielmehr  sich  in  das   ccntrum  nalnrae 


I.  Die  Theosopheu.     C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  4.  495 

vergafft,  die  herbe  Matrix  erweckt  und  erregt,  so  dass  sein  Fall 
nicht  sowol  darin  besteht,  dass  er  als  ein  Gott  seyn  wollte,  son- 
dern dass  er  des  Feuers  Matrix  wollte  über  die  Sanftmuth  Gottes 
herrschen  machen,  geschieht  ihm  v,as  er  will:  er  steht  lediglich 
im  Zorn  Gottes  (Dreif.  Leben  8,  23.  24).  Mit  Gott  geht  dadurch 
keine  Aenderung  vor,  wenn  er  als  ein  verzehrendes  Feuer  dem 
gegenüber  steht,  der  zum  hassenden  Teufel  ward  (Wiedergeb.  2,  4. 
Aur.  24,  50).  Wohl  aber  hat  der  Fall  Lucifers  den  Gegensatz 
zweier  Priucipien  (Fürstenthünier ,  Reiche)  hervorgerufen,  indem 
durch  ihn  das  Reich  des  Zornes,  allein  festgehalten,  zum  Höllen- 
reich wird ,  in  dem  Gott  nur  nach  seinem  Zorn  waltet ,  der  Teufel 
aber  als  sein  Scharfrichter  hauset,  während  in  dem  Himmelreich 
Gott  in  seiner  Ganzheit  herrscht  (Dreif.  Leb.  5,  113).  Gott  um- 
fasst  beide  Reiche,  das  Höllenreich,  in  welchem  der  Teufel  die 
Siegel  des  götthchen  Zornes  eröffnet,  und  das  Himmelreich  oder 
die  englische  AVeit,  wo  sich  das  Herz  Gottes  als  Centrum  erweist, 
indem  es  den  Zorn  Gottes  beschwichtigt  (Dreif.  Leben  4,  90.  5,  18). 
Bei  der  Zusammengehörigkeit  der  drei  ersten  Xaturgestalten  und 
dem  Uebergewicht ,  das  darin  das  herbe  cculnnn  miUirue  hat, 
wird  es  erklärlich  \\ie  Bölnne  es  oft  so  darstellt,  dass  der  gefal- 
lene Lucifer  die  drei  ersten  Qualitäten  festhalte,  der  drei  letzten 
verlustig  geworden  sey  (Aur.  21 ,  102).  Aber  ausser  jenen  l)eiden 
Principien  (Reichen)  entsteht  durch  den  Fall  noch  ein  drittes. 
Durch  die  Gewalt,  die  der  herben  zusannnenziehenden  Essenz  ge- 
geben wii'd,  entsteht  das  Harte  und  Starre,  wie  Erde,  Steine  u. 
s.  w. ,  welche  Gott  zusanmienballt  und  um  die  er  den  Himmel  legt, 
so  dass  „diese  Welt'',  welche  Lucifer  als  ihr  Fürst  bewohnt,  von 
dem  Wohnsitz  Michaels  und  Uriels  umgeben  ist  (Dreif.  Leben  8, 
23).  Mit  der  Scheidung  beider  beginnt  die  Erzählung  Mosis.  Da 
weder  er  noch  irgend  ehi  Mensch  bei  jenen  Vorgängen  zugegen 
war,  so  kann  die  Erzählung  davon  den  ersten  Menschen  nur  von 
Gott  offenbart  worden  seyn;  in  ähnlicher  unmittelbarer  Weise  wie 
Böhme  selbst  seine  Offenbarangen  empfangen  hat.  Das  Gedächt- 
niss  daran  aber  hat  sich  nicht  rein  erhalten  und  Vieles  ist  nicht 
unentstellt  auf  die  nachsündfluthhchen  Menschen  und  Moses  ge- 
kommen (Aur.  18,  1 — 5.  10,  79).  Vielleicht  Hess  Gott  solche  Ent- 
steilung zu ,  damit  der  Teufel  nicht  hinter  alle  göttlichen  Geheim- 
nisse komme,  die  jetzt,  da  Üurch  die  Nähe  des  Weltendes  des 
Teufels  Macht  ihrem  Ende  entgegengeht,  ausgesprochen  werden 
dürfen  (Aur.  20,  3—7).  liöhmc  scheut  sich  daher  nicht.  Manches 
aus  der  Mosaischen  Erzählung  wegzulassen,  weil  es  ganz  „wider 
die  Philosophiä  und  Vernunft  laufet"  (Aur.  19,  79),  wie  z.  B.  der 


496  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergaiig). 

Abend  und  Morgen  ehe  es  eine  Sonne  gab.  Anderes  deutet  er 
geistlich  um,  wie  die  „Feste"  zwischen  den  oberen  und  unteren 
Wassern,  die  ihm  nur  das  Geschiedenseyn  zwischen  dem  begreif- 
lichen sublunarischen  und  dem  belebenden  himmlischen  Gewässer, 
dem  Wasser  nach  dessen  Genuss  Keiner  mehr  durstig  bleibt,  be- 
deutet (Ebendas.  20,  28).  EndHch  aber  erkennt  er  neben  der 
Richtigkeit  der  Erzählung  noch  einen  tieferen  in  derselben  ver- 
borgenen Sinn  an  (u.  A.  Aur.  21 ,  10  ff.).  Auf  diese  Weise  ge- 
lingt es  ihm,  an  die  Mosaische  Erzählung  seine,  in  Vielem  dem 
Paracehus  ahgeborgte,  Naturphilosophie  anzuknüpfen,  nach  wel- 
cher aus  dem  ewigen  Salitter  oder  Salniter,  d.  h.  dem  Naturgeist 
oder  der  Einheit  der  Quellgcister  die  Erde  geboren,  nach  dem 
Falle  Lucifers  aber  als  hart  und  starr  „ausgespien"  (Ebend.  21, 
23.  25) ,  d.  h.  vom  Himmel  geschieden  wird ,  am  dritten  Tage  aber 
der  „Feuerblitz",  das  Licht,  aufgeht,  welcher  die  in  dem  verdor- 
benen irdischen  Salniter  zwar  latente  Kraft  der  sieben  Geister, 
die  in  ihm  „nur  gefangen  nicht  ermordet"  sind,  erweckt,  dass  sie 
Gras  und  Kräuter  hervorbringt,  die,  obgleich  dem  Tode  geweiht, 
doch  besser  sind  als  der  Boden,  der  sie  trägt  (Ebend.  21,  19. 
26,  101).  Obgleich  jedes  Gewächs  alle  sieben  Qualitäten  in  sich 
hat,  so  ist  doch  in  jedem  eine  andere  ,,Prm«Ä'%  und  darum  hat 
jedes  seine  eigne  Art.  Darum  sind  u.  A.  zur  Reinigung  des  Me- 
talls sieben  Schmelzungen  nöthig.  Jede  entfernt  eine  Qualität 
(Aur.  22,  90).  Die  Betrachtungen  über  den  vierten  Schöpfungstag 
geben  Gelegenheit,  von  der  „Zusammencorporirung  der  Körper  der 
Sterne",  so  wie  von  den  „sieben  Hauptqualitäten  der  Planeten  so 
wie  von  derselben  Herz  welches  ist  die  Sonne"  zu  handeln,  in 
einer  Weise  wie  nicht  Philosophia,  Astrologia  und  Theologia,  son- 
dern ein  andrer  Lehrmeister,  nämlich  „die  ganze  Natur  mit  ihrer 
instehenden  Geburt"  lehrt  (Ebend.  22,  8.  11).  Was  Moses  von 
den  Sternen  sagt,  das  genügt  Böhmen  noch  weniger,  als  was  die 
weisen  Heiden  gelehrt  haben,  die  doch  in  ihrer  Verehrung  der 
Gestirne  wenigstens  bis  vor  Gottes  Antlitz  gedrungen  sind  (Ebend. 
22,  2Q.  29).  Um  ihr  Wesen  richtig  zu  erkennen,  darf  man  nicht 
bei  dem  stehen  bleiben,  was  die  Sinne  uns  lehren,  die  zeigen  nur 
Tod  und  Zorn.  Auch  dies  reicht  nicht  aus  durch  Vernunft  seine 
Gedanken  zu  erheben  und  zu  forschen  und  zu  fragen:  da  gelangt 
man  nur  bis  zum  Streit  von  Zorn  und  Liebe.  Sondern  man  muss 
mit  dem  Verstände  durch  den  Himmel  brechen,  und  Gott  bei  sei- 
nem heiligen  Herzen  ergreifen  (Ebend.  23,  12.  13).  Thut  man 
dies,  so  erkennt  man,  dass  die  Sterne  die  Kraft  der  sieben  Gei- 
ster Gottes  sind,  indem  Gott  in  die  finster  gewordene  Welt  die 


•■± 


I.  Die  Theosophen.     C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  4.  5.  497 

Qualitäten  hineingesetzt  hat,  damit,  wie  sie  von  Ewigkeit  her  ge- 
than,  so  auch  jetzt  in  dem  Hause  der  Finsterniss ,  Creaturen  und 
Bildnisse  hervorbringen  (Auror.  24,  14.  19).  Die  Sterne  sind  da- 
her die  Vermittler  aller  Geburten;  der  siderischen  nämUch,  wo 
Zorn  und  Liebe  mit  einander  kämpfen,  denn  mit  der  Wiederge- 
burt haben  sie  Nichts  zu  thun,  die  geschieht  durch  das  Wasser 
des  Lebens  (Ebend.  24,  47.  48).  Die  vornehmste  Stelle  unter 
den  Sternen  nimmt  die  Sonne  ein ;  obgleich  auch  in  ihr  Liebe  und 
Zorn  mit  einander  ringen  und  sie  deshalb  nicht  angebetet  werden 
darf,  so  ist  sie  dennoch  das  Herz  in  der  Mitte,  und  geht  von 
ihr  das  sanfte  und  belebende  Licht  aus ,  das  die  um  sie  kreisende 
Erde  und  Planeten  erleuchtet.  (Ebend.  24,  64.  25,  41.  60.  61.) 
Die  Geburt  oder  der  Aufgang  der  Sterne  und  Planeten  ist,  wie 
auch  jede  andere  Geburt,  nur  eine  Wiederholung  der  ewigen  Ge- 
burt Gottes  (26,  20),  und  wie  in  dem,  was  aus  der  Erde  wuchs, 
gerade  so  ist  auch  in  den  einzelnen  Planeten  je  einer  der  «sieben 
Quellgeister  A\ieder  zu  erkennen. 

5.  Ihre  eigentliche  und  letzte  Bestimmung  haben  die  Sterne 
darin,  dass  durch  sie  die  Schöpfung  des  Menschen  vermittelt  wird, 
der  als  Gottes  Ebenbild  an  des  verstossenen  Teufels  Stelle  geschaf- 
fen wird  (Aur.  21,  41),  selbst  ein  Engel,  ja  mehr  als  ein  Engel, 
der  aus  sich  ihm  gleiche  Creaturen  gebären  sollte,  aus  denen  mit 
der  Zeit  ein  König  hervorginge,  der  statt  des  verstossenen  Lucifer 
die  Welt  beherrschen  sollte  (Aur.  21,  18).  Schon  in  leiblicher 
Hinsicht  ist  der  Mensch  mehr  als  alle  Creatur ,  weil  ihn  nicht  die 
Erde  hervorbringt,  sondern  er  aus  ihr,  d.  h.  aus  einem  Extract 
aller  ihrer  Elemente,  von  Gott  geformt  wird  und  also  alle  Crea- 
turen in  sich  vereinigt,  sie  alle  ist  (Dreif.  Leben  5,  137.  6,  49). 
Zu  dem  Leibe  kommt  zweitens  der  aus  den  Gestirnen  stammende 
Geist,  vermöge  dess  der  Mensch  gleich  den  Thieren  ein  siderisches 
Leben  führt,  Vernunft  und  Kunstfertigkeit  besitzt.  Endlich  ver- 
bindet sich  mit  beiden  das,  was  nicht  aus  den  Elementen  und 
Sternen  kommt,  der  Funke  aus  dem  Licht  und  der  Kraft  Gottes, 
die  Seele,  die,  weil  sie  aus  der  Gottheit  stammt,  aus  dieser  ihrer 
Mutter  Nahrung  zieht  und  in  sie  hineinschaut  (Auror.  Vorr.  96.  94). 
Da  so  ein  dreifacher  Mensch  unterschieden  werden  muss,  der  irdi- 
sche, siderische,  himmlische,  so  kommt  es  öfter  vor,  dass  von 
drei  Geistern  und  drei  Leibern  des  Menschen  die  Rede  ist,  deren 
erster  aus  den  Elementen,  der  zweite  aus  siderischen  Substanzen, 
der  dritte  aus  lebendigem  Wasser  oder  heiligem  Elemente  bestehen 
soll  (u.  A.  Myst.  magn.  10,  20).  Damit  trägt  der  Mensch  nicht  nur 
alle  Creaturen  in  sich,   sondern  auch  die  göttliche  Dreiheit,  wir 

Erdmaon  Oe^cb.  d.  FLil.  1  Q9 


498  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

sind  Gottes  Ebenbilder  und  Söhne ,  „Götterlein"  in  ihm ,  durch  die 
er  sich  offenbart  (Dreif.  Leben  6,  49.  Aur.  26,  74).  In  dieser 
Gottähnlichkeit  vermag  der  ursprüngliche  (paradiesische)  Mensch 
Alles  von  Neuem  zu  schaffen;  dies  geschieht  vor  Allem  in  der 
Sprache ,  in  welcher  das  Wesen  der  Dinge  noch  einmal  (Gott  nach-) 
geschaffen  wird,  und  eben  darum  der  Mensch  Herr  der  Dinge  wird 
(Aur.  20,  90.  91.  Dreif.  Leb.  6,  2).  Darum  ist  unsere  eigentliche 
Muttersprache,  die  Sprache  Adams  im  Paradiese,  die  eigentliche 
SiyiKittira  verum.  Sie  ist  es,  die  bei  Böhme  Natursprache  heisst, 
im  Gegensatz  zu  den  Sprachen  der  gefallenen  Menschheit  (u.  A. 
Sign.  rer.  1,  17).  Ganz  wie  der  göttliche  Geist  in  der  Weisheit 
oder  Jungfrau  das  Receptaculum  hat ,  in  der  er  Bildnisse  entwirft 
und  Dinge  erdenkt,  so  besass  der  Gott  nachschaffende  Mensch 
diese  ewige  Jungfrau  und  trug  sie  in  sich.  Sie  war  es  auch,  ver- 
möge welcher  der,  den  Engeln  ähnliche  und  darum  von  thierischer 
Geschlechtlichkeit  freie,  Mensch  seine  Nachkommen  erzeugen  sollte, 
die  also  alle  Jungfrauenkinder  gewesen  wären  (Dreif.  Leben  6,  ö8). 
In  diesem  Zustande  bleibt  aber  der  Mensch  nicht.  Vielmehr,  in- 
dem er,  der  bestimmt  war  über  die  vier  Elemente  zu  herrschen, 
sich  in  die  Elemente  vergafft,  in  das  thierische  Leben  hinein  ima- 
ginirt,  sinkt  er  unter  seinen  Zustand  herab.  Jetzt  erst,  wo  Gott 
sieht,  dass  ihm  gelüstet,  spricht  Gott,  es  sey  nicht  gut,  dass  der 
Mensch  allein  sey,  ein  Wort,  das  nur  darum  keinen  Widerspruch 
damit  bildet,  dass  doch  Alles  sehr  gut  gewesen  war,  weil  der 
Mensch  herunter  gekommen,  matt  geworden  ist;  was  sich  auch 
an  dem  Schlaf  zeigt,  dessen  der  ganz  vollkommene  Mensch  nicht 
bedurft  hätte  (Dreif.  Leben  5,  135  ff'.).  Während  dieses  Schlafes 
wird  ihm  das  Weib  gegeben,  die  Gehülfin,  mit  der  zusammen  er 
hinfort ,  da  die  Jungfrau  in  ihm  verdunkelt  worden ,  seine  Bestim- 
mung erfüllen  soll.  Jetzt ,  wo  die  eine  Hälfte  von  ihm  geschieden, 
sind  die  beiden  „Tincturen",  die  bisher  in  ihm  vereinigt  waren, 
getrennt.  Die  mnirix  Vcneris,  die  er  früher  in  sich  trug,  findet 
der  Mensch  jetzt  in  das  Weib  hinaus  gesetzt  ( Gnaden w.  6,  5. 
Wiedergeb.  2,  18).  Erst  dem  so  heruntergekommenen  Menschen 
erwächst  der  Versuchbaum,  d,  h.  erst  jetzt  wird  es  für  ihn  eine 
Versuchung  irdische  Frucht  zu  essen,  die  irdisches  Fleisch  macht 
(Dreif.  Leben  6 ,  92),  anstatt,  wie  seine  Bestimmung  gewesen  war, 
sich  in  das  Herz  Gottes  hinein  zu  imaginiren  und  aus  dem  verbo 
dUino  Nahrung  und  Kraft  zu  ziehn  (Ebend.  6,  39).  Dass  er 
dieser  Versuchung  folgt,  vollendet  seinen  Fall,  jetzt  verfällt  er 
ganz  dem  dritten  Principio,  dieser  Welt,  deren  Geist  ihn  gefangen 
hält  (Dreif.  Leben  8,  37),  so  dass  er  zwischen  Himmel-  und  Hol- 


I.  Die  Theosophen.     C.  Jakob  Böhme.     §.  234,  5.  499 

lenreich  gestellt,   sich  nach  seinem  Willen  für  das  eine  oder  an- 
dere entscheiden  kann,   alle  drei  Reiche  um  ihn  streiten   (Dreif. 
Leben  9,  17.  18).    Wie  dem  Falle  Lucifers  die  erste  Verderbung 
der  äusseren  Natur,   so  folgt  dem  Falle  des  Menschen  eine  neue 
Verfluchung  und  noch  grössere  Verschlimmerung  derselben.    Dass 
der  thierisch  gewordene  Mensch  ganz  teuflisch   werde  ist  natür- 
lich, da  Lucifer  nur  durch  den  Menschen  wieder  die  höchste  Ge- 
walt in  der  Welt  bekommen  kann,   dessen  fortwährendes  Bestre- 
ben.    Dem  aber  begegnet  Gott,   indem  er  sein  Herz,  den  Sohn, 
in  das  dritte  Princip  eingehen,  Mensch  werden  lässt,  damit  er  den 
Tod  in  der  menschlichen  Seele  tödte   und  das  Siegel  des  centri 
naturae  zerbreche  (Dreif.  Leben  8,  39.  40).    Was  alle  Nachkom- 
men Adams  eigentlich  hätten  seyn  sollen,   das  ist  dieser  Mensch 
wirklich:   Sohn  der  ewigen  Jungfrau,   die  wie  in  allen  Menschen 
verborgen  gewesen  war,  so  auch  in  der  zwar  nicht  sündlosen  aber 
reinen  menschlichen  Jungfrau  (Ebend.  6,  70).     Eben  so  ist  er, 
weil  an  ihm  Lucifers  Verführungskünste  scheitern,   Herr  der  Ele- 
mente, Herr  der  Welt.     Aber  nicht  nur  er  ist  dies,   denn,   wie 
der  Name  Christ  andeutet ,  was  er  ist  das  wird  jeder  Mensch,  der 
an  ihn  glaubt ,  durch  die  ihm  eiugeborne  Essenz  Christi  (Wiederg. 
5,  1.  12).    Freilich  ist  unter  Glauben  nicht  zu  verstehn  das  Für- 
wahrhalten  einer  Historia.    Das  hilft  so  wenig  wie  das  einer  Fa- 
bel ,  und  mancher  Jude  und  Türke  ist  mehr  Christ  und  Kind  Got- 
tes als  Einer,  der  von  Christi  Leben  und  Sterben  weiss,  was  übri- 
gens  auch  die  Teufel  thun.     Der  Vernunft  ist  freilich  Buchstabe 
und  Schrift  das  Höchste   (Sign.  rer.  Vorr.  4).     Solcher  Vernunft- 
glaube  ist  aber  nicht  genug,  der  wahre  Glaube  ist,  dass  man 
Christum  in  sich  geboren  werden  lässt  und  wiederholt,   so  dass 
man  mit  ihm  Alles,   seine  Taufe,  Versuchung,  Leiden,  Sterben 
u.  s.  w.  erfährt  (Wahre  Busse  34).    Geschieht  dies ,  und  tritt  also 
anstatt  des  verderbten  „monstrosischen"  Menschen  der  „inwendige" 
hervor,  so  wird  die  Seele,  da  sie  des  Mächtigsten,  nämlich  des 
Zornes  Gottes,    Herr  wird,    gewisser  Maassen  stärker  als   Gott 
(Dreif  Leb.  8,  9).    Mit  dieser  Macht  hängt  nun  auch  die  gestei- 
gerte Erkenntniss  zusammen,  die  der  Mensch  erlangt,  indem  er, 
was  der  auswendige  Mensch  nicht  kann,  wieder  der  Natursprache 
mächtig  wird  (Dreif.  Leben  6,  16).    (Hier  erklärt  sichs,  wie  BUmc 
dazu  kommen  konnte,  von  deutschen  sowol  als  von  fremden  Wör- 
tern,  ja  von   den   einzelnen  Silben  derselben  Sul-Phur,  Barm- 
Herz-Ig  u.  s.  w.  anzugeben  was  dies  in  der  Natursprache  heisse.) 
Wie  alle  Creaturen  die  Wunder  Gottes  offenbaren,  —  die  Teufel 
offenbaren  die  des  göttlichen  Zornes  (Dreif.  Leben  4,  90),  ~  so 

32* 


500  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

auch  der  Mensch,  bei  dem,  wenn  er  wiedergeboren,  das  Offenba- 
ren Gottes  ein  bewusstes  und  also  ein  Leben  ist  (Ebend.  4,  58. 
89).  Auf  diesen  Punkt  gelangen  aber  ist  nicht  leicht.  Zwar  kön- 
nen wir  dazu  nicht  eigentlich  etwas  thun,  zu  lassen  aber  haben 
wir  sehr  viel:  unsere  Selbstheit  nämlich  und  unser  eignes  Wollen, 
durch  welche  wir  in  die  Hölle  nicht  erst  kommen,  sondern  schon 
gerathen  sind  (Uebers.  Leben  36.  40).  Die  Hölle,  auch  die,  in 
welche  Christus  fuhr ,  ist  der  Grimm  Gottes  (Wiederg.  3,  12),  und 
wer  sich  verhärtet,  der  steht  im  Grimm  Gottes;  darum  verstockt 
ihn  Gott  nicht  nach  seinem  göttUchen  Willen,  also  nicht  das  was 
eigentlich  Gott  heisst,  sondern  der  Zorn  Gottes  oder  sein  eignes 
Wollen,  Natürlich  versucht  der  Teufel  alles  Mögliche,  um  den 
Menschen  in  dieser  Hölle  festzuhalten.  Kann  er  ihn  nicht  durch 
Eitelkeit  beruhigen,  dann  versucht  er  ihn  durch  seine  Unwürdig- 
keit  und  sein  Sündenregister  zu  ängstigen,  als  sey  ihm  nicht  zu 
helfen  (Wahre  Busse  3G).  Da  soll  man  nur  nicht  viel  mit  ihm 
disputiren,  sondern  sich  in  die  stets  offnen  Arme  Gottes  werfen 
(Dreif.  Leben  9,  30.  29).  Freilich  auch  in  diesen  Armen  wird  man 
in  der  Hölle  seyn,  wenn  man  noch  selbst  etwas  seyn,  selbst  et- 
was thun  will.  Dies  muss  in  mir  sterben.  Nur  in  meiner  Nicht- 
heit,  wo  er  meine  Ichheit  tödtet,  wird  Christus  in  mir  geboren 
und  lebt  in  mir  (Sign.  rer.  9,  04).  In  dieser  Wiedergeburt,  oder 
diesem  Geborenwerden  Christi  in  uns  besteht  das  Essen  seines 
Fleisches,  ohne  das  Niemand  selig  wird  (Sign.  rer.  10,  50).  Die 
äusseren  Gnadenmittel  allein  machen  es  nicht;  weder  das  Lesen 
der  Schrift,  noch  der  Besuch  der  Kirche,  noch  die  uns  verkün- 
digte Absolution.  Dass  sie  auf  das  Aeussere  so  viel  gibt,  ist  der 
Hauptgrund,  warum  Böhme  die  römisch-katholische  Kirche  stets 
Babel  nennt.  Aber  nicht  nur  sie  ist  es,  sondern  jede  Ansicht, 
welche  den  Buchstaben  und  die  Historie  über  Alles  stellt.  Dem 
Heiligen  predigt  nicht  nur  die  Bibel,  sondern  alle  Creatur;  seine 
Kirche  ist  nicht  das  steinerne  Haus,  sondern  die  er  mitbringt  in 
die  Gemeinde;  seine  Sündenvergebung  ertheiltihm  nicht  ein  Mensch, 
sondern  Gott  selber;  sein  Abendmahl  besteht  darin,  dass  sein  in- 
wendiger Mensch  den  wahren,  darum  nicht  den  sinnlichen,  Leib 
Christi  geniesst;  ihm  wird  das  Verdienst  Christi  nicht  nur  ange- 
rechnet, sondern  da  Christus  in  ihm  lebt  ist  es  wirklich  seines 
(u.  A.  Wiedergeb.  6,  2.  8.  14.  16.  1,4).  (Wenn  Böhme  trotz 
dieser  Behauptungen  öfter  gegen  Schwenrkjeld  polemisirt,  der 
ganz  dasselbe  gelehrt  hatte  [s.  oben  §.  233,  2],  so  geschieht  es 
besonders  wegen  dessen  Terminologie,  welche  denselben  gehindert 
hatte ,  den  verklärten  Christus  eine  Creatur  zu  nennen.)    Wer  auf- 


I.  Die  Theosophen.     C.  Jakob  Böhme.     §.  234.  5.  6.  501 

gehört  hat  sich  selbst  zu  leben,  der  ist  bereits  im  Himmel,  nur 
sein  auswendiger  Mensch  lebt  in  dieser  Welt,  ist  Ehemann,  Bür- 
ger, der  Obrigkeit  unterworfen.  Auch  die  Sünden,  die  der  Wie- 
dergeborne  begeht,  sind  Sünden  nur  des  auswendigen  Menschen, 
sie  schaden  dem  inwendigen  nicht  mehr.  Ja  an  ihnen  zeigt  sich 
recht,  wie  den  Kindern  Gottes  Alles,  ohne  alle  Ausnahme,  zum 
Besten  gereicht.  Die  Erinnerung  an  die  Sünden,  die  uns  verge- 
ben wurden,  kann  nur  die  Lust  an  Gottes  Gnade  steigern,  so 
dass  also  die  Sünde  gleich  ist  dem  „Feuerholz"  im  Ofen ,  das ,  in- 
dem es  verbrennt  wird,  das  Wohlseyn  steigert.  Wie  dem  Wie- 
dergebornen  Alles  zum  Heil  wird,  sogar  seine  Sünde,  weil  er  Al- 
les, auch  sie,  dem  Willen  Gottes  zu  Gebote  stellt,  so  wird  dem, 
der  in  seinem  eignen  Willen  bestehen  will.  Alles  zur  Pein,  selbst 
dies,  dass  Gott  nicht  von  ihm  lässt.  Dadurch  eben  steht  der 
Kichtwiedergeborne  im  Zorn  Gottes  oder  in  der  Verdammniss. 
Nicht  als  wenn  Gott  seine  Verdammniss  gewollt  hätte  oder  wollte, 
denn  wirkhch  Gott  war  ja  nur  der  barmherzige  Gott  gewesen, 
sondern  der  Zorn  Gott  will  es,  d.  h.  der  eigne  Wille  des  Men- 
schen, durch  welchen  dieser  im  Zorn  Gottes  steht.  Darum  steht 
unerschütterlich  fest:  Gott  will  dass  Allen  geholfen  werde,  und  es 
ist  nicht  Gottes  Fürsatz,  dass  Einer  verstockt  werde,  sondern  das 
Bleiben  im  göttlichen  Zorn,  d.  h.  der  W^ille  des  Todes  und  Teu- 
fels, macht  es  (u.  A.  Myst.  magn.  10,  J7.  38). 

6,  Die  Fülle  von  Tiefsinn,  die,  wer  sich  in  Böhme  hinein  zu 
denken  versucht,  ihm  schwerlich  absprechen  wird,  erklärt  die 
Hochachtung,  die  Philosophen,  wie  Bdtirler,  Svliflllvg,  llcf/cf.  ihm 
zollen.  Der  fromme,  njilde  und  allem  Hader  abgeneigte  Sinn  des 
Mannes  wieder  hat  zu  allen  Zeiten  religiöse  Gemüther  aogezogen. 
Freilich  hat  die,  mit  seinen  alchymistischen  Studien  zusammen- 
hängende, durch  den  steten  Kampf  mit  der  Sprache  noch  gestei- 
gerte, Verworrenheit  seiner  Darstellung  auch  viel  Unheil  angerich- 
tet. Vielleicht  war  sie  der  Grund  warum,  was  er  selbst  sich  er- 
spart wünschte,  er  sehr  früh  zu  einem  Sectenhaupte  gemacht 
worden  ist.  Namentlich  ist  dies  durch  Givlitd  (geb.  1638,  gest. 
1710)  geschehen,  der  in  Deutschland  so  sein  Apostel  gewesen  ist, 
wie  Pol  doffe,  Brinitfoi/  und  Jane  Lende  in  England.  In  Frank- 
reich hat  im  siebzehnten  Jahrhundert  Poirei  ihm  Vieles  entlehnt, 
im  achtzehnten  noch  mehr  St.  Martin  (geb.  1743,  gest.  1803), 
der  übrigens  seinen  Landsleuten  noch  immer  der  philosophe  in- 
connu  ist. 


502  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergftng). 

II. 

Die  Philosophie  als  Weltweishcit  (die  Kosmosophen). 

§.  235. 
Zu  dem  Unternehmen  der  Theosophen,  die  Glaubenslehre  in 
einer  Weise  zu  entwickeln,   wie  es,  z.  B,  von  den  Aposteln,  ge- 
schehen war,  noch  ehe  die  Weltweisheit  sich  hineingemischt  hatte, 
auf  Grund  nur   von  Gott  empfangener  Offenbarung,   bildet  das 
entsprechende  Correlat  der  Versuch ,  so  zu  philosophiren ,  als  wäre 
nie  eine  vom  Christenthum  angeregte  Gottesweisheit  dagewesen. 
Die  vorchristlichen  Weltweisen  hatten  dies  gethan;  in  ihrem  Geiste 
zu  philosophiren  ist  also  Aufgabe  der  Zeit,  und  gegen  den,  der 
es  thut,   wird,   als   gegen   den  Zeitverständigen,  Jeder  der  den 
scholastischen  Standpunkt  festhalten  wollte,  als  der  Zurückgeblie- 
bene,  als  unphilosophischer  Kopf,   erscheinen.     Der  Schutz   der 
römisch-katholischen  Kirche  kann  dies  nicht  ändern:   die  Zeit  ist 
vorüber,  wo  ihre  Sache  zu  vertheidigen  die  höchste  Aufgabe  und 
darum  Kirchlichkeit  der  Maassstab  für  den  Werth  einer  Philoso- 
phie gewesen  war.    Eine  Mitte  gleichsam  zwischen  Beiden  nehmen 
die  ein,  die  zwar  die  Forderung  im  Geiste  des  Alterthums  zu  phi- 
losophiren vernehmen,  dieselbe  aber  so  missverstehn,  als  handle 
sichs  darum  die  Geister  der  alten  Philosophen  heraufzubeschwö- 
ren.   Was  zu  anderen  Zeiten  ein  blosser  Widersinn  gewesen  wäre, 
das  wird  hier    zu  einem    entschuldbaren  Missverständniss,    und 
was  sonst  ein  Verkennen  der  Zeit  verriethe,  zeigt  hier,   dass  ihr 
Ruf  nicht  ungehört  vorüberging.    Darum  sind  diese  ihre  Zeit  (wenn 
auch  nur  miss-)  Verstehenden  nicht  ohne  Wirkung  für  das  spä- 
tere Philosophiren  geblieben ,  und  wenn  auch  nicht  so  ausführliche 
Darstellungen  wie  die,  welche  selbst  als  Weltweise  philosophiren, 
so  doch,  als  deren  Vorläufer,  Erwähnung  verdienen  auch  die,  wel- 
che die  Weltweisen  des  Alterthums  für  sich  philosophiren  lassen. 

A. 
Wiedererweckung  antiker  Systeme. 

§.  236. 
So  sehr  die  sogenannte  Renaissance  sich  von  den  übrigen 
mittelalterlichen  Erscheinungen  unterscheidet,  so  hat  sie  doch  einen 
rein  mittelalterlichen  Charakter,  etwa  wie  die  römische  Kaiserzeit 
einen  antiken  trotz  ihres  Gegensatzes  zu  den  früheren  Gestalten 
des  Alterthums.  Was  sie  zu  einem,  noch  dazu  sehr  sprechenden, 
Zuge  in  der  Physiognomie  des  Mittelalters  macht,  ist  der  Indivi- 
duaUsmus,  der  sich  kaum  jemals  so  geltend  gemacht  hat,  als  wo 


II.  Die  Weltweisen.     A.  Die  Renaissance.     §.  237,  1.  503 

man  für  das  Altertlium  schwärmte ,  das  doch  stets  den  Einzehien, 
sey  es  in  der  Nation,  sey  es  im  Staate,  verschwinden  liess.  Eben 
darum  ist  es  nicht  nur  die  Abstammung  von  den  Römern,  oder 
der  Umstand,  dass  nach  der  Eroberung  Constantinopels  griechi- 
sche Gelehrte  und  griechische  Bücher  sich  nach  Itahen  flüchteten, 
sondern  es  ist  noch  mehr  die  staatliche  Zersplitterung  Italiens, 
welche  dem  Italiäner  die  wichtigste  Rolle  in  dem  grossen  Schau- 
spiel der  Renaissance  zuweist.  Den  übrigen  Formen  derselben 
reiht  sich  die  Wiedererweckung  antiker  Philosophenschulen  an; 
ebenfalls  erst  in  Italien  und  erst  von  da  sich  in  andere  Länder 
ausbreitend.  Trotz  des  Hasses  gegen  die  scholastische  Philoso- 
phie, trotz  des  Bestrebens  nur  die  Alten  selbst  reden  zu  lassen, 
das  Manchen  zum  blossen  Uebersetzer  und  Ausleger  macht,  ath- 
men  doch  auch  die  Schriften,  die  diesem  Zwecke  dienen,  den 
Geist  des,  wenn  auch  scheidenden,  Mittelalters.  Wenn  auch  nicht 
in  derselben  Reihenfolge,  in  der  sie  entstanden,  so  doch  ziemlich 
vollständig,  treten  alle  Systeme  des  Alterthums  wieder  ins  Leben. 
Dass  dies  zuerst  mit  den  Systemen  geschieht,  mit  welchen  Kir- 
chenväter und  Scholastiker  den  Glauben  versetzt  hatten,  um  zu 
einer  Glaubenslehre,  dann  zu  einer  Glaubens  Wissenschaft  zu  kom- 
men, und  weiter  dass  gerade  diese  Belebungsversuche  an  Bedeu- 
tung allen  anderen  bei  Weitem  vorstehen ,  ist  sehr  natürlich.  Er- 
steres  aus  dem  oben  (§.  228»  angegebenen  Grunde.  Letzteres 
weil  im  Piatonismus  und  Aristotehsmus  alle  früheren  griechischen 
Systeme  als  Momente,  alle  späteren  als  Keime  enthalten  sind. 

§.  237. 
Erneuerung  des  Platouismus. 
L  Wie  früher  die  von  Alexandria  ausgehenden,  so  haben  auch 
die  Florentinischen  Neuplatoniker  sich  stets  für  ächte  Platoniker 
gehalten  und  ihre  Akademie,  über  die  /?.  SieDchivg  eine  gute 
Monographie  geschrieben  hat  (Götting.  1812),  eine  Platonische 
genannt.  Veranlassung  zu  ihrer  Gründung  gab  Gcargios  TJienn- 
slios  Plclhon,  ein  im  J.  1370  geborner  Grieche,  der  im  J.  1437 
mit  dem  Kaiser  Jo.  Pafäo(o</os  nach  Italien  kam,  um  die  Union 
der  griechischen  und  römischen  Kirche  zu  fördern.  Die  Fragmente 
seiner  No/noi  (Neu  herausg.  von  Alexandre.  Paris.  Didot  18G0) 
beweisen,  dass  sein  eigner  Standpunkt  ein,  aus  Begeisterung  für 
Attische  Weltweisheit  hervorgegangenes,  modernes  Heidenthum 
war.  Er  nun  war  es,  welcher  das  Entstehen  eines  Vereins  pla- 
tonisirender  Männer  veranlasste,  so  wie  den  Schutz  vermittelte, 
den  Cosmns  von  Medivi  demselben  angedeihen  liess.     Ein  Schüler 


504  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

PJcthnn's,   Bcssarion   (geb.  1395,   gest.  1472),   vertheidigte  den 
riatonismus   gegen   den  Aristoteliker  Georg  von  Trapezunt.    All- 
mählich kam  es  dazu,   dass  in  diesem  Kreise  fortwährend  Vorle- 
sungen  über  Platonische  Philosophie   gehalten  wurden,   ja  dass 
MitrsU'uis  Ficimis  (geb.  1433,  gest.  1499»   zum  Lehrer  derselben 
geradezu  erzogen  ward.    Mit  welchem  Erfolge  zeigen  seine,  bis 
heute    immer   wieder  abgedruckten,    lateinischen  Uebersetzungen 
sämmtlicher  Werke  des   Pinto  und  Plotin,  die  er  zugleich  mit 
mehr  oder  minder  ausführlichen  Commentaren  begleitete.    Hiezu 
kommen   seine  Uebersetzungen   einzelner  "Werke  des  Porphirins, 
(Pseudo-)  J(inthli(//vs,    l'rohlüs,   Dloviisitrs  Ai eojxigita ,    Hermes 
Ttisniey'islas,  A/rinoos,  Xnnocritles ,  Speit s'ippns.     Dass  aber  die 
von  ihm  übersetzten  Werke  nicht  von  ihm  selber  nicht  getheilte 
Gedanken   enthalten,   geht  aus   seiner   im  24"""  Jahre  verfassten 
Sclirit't  de  voluptatc  hervor,  in  der  sich  seine  Ueberzeugung  von 
der  Uebereinstimraung  des  Pitito  und  Arislotcles  ^  so  wie  von  der 
Wahrheit  ihrer  Lehren,  ganz  wie  bei  Piol'm  und  Prfh/os,  aus- 
spricht.   Durch  sein  ganzes  Leben  halt  er  die  Maxime  fest:   A'o- 
/////    Mur.sUiuvam   docIriiKim    oppovere    Plitlovirne.      In    seinem 
zwei  und  vierzigsten  Jahre  Priester  geworden,  wirft  er  sich  mit 
Eifer  auf  die  Theologie,  wie  seine  Abhandlung  de  religione  chri- 
stiana,  sein  Commentar  zum  Römerbrief,   seine  vielen  Predigten, 
beweisen.    Dabei  hört  er  nicht  auf  Platoniker  zu  seyn,  und  seine 
Theologia  Platoiiica  in  18  Büchern,  in  der  er  besonders  die  Un- 
sterblichkeit behandelt,   zeigt,  dass  er  den  Platonisraus  im  Ein- 
klänge  mit  der  Kirchenlehre  weiss.     In  seinen  Berufungen   auf 
Oriyevrs,  deiiievs.  Ancfusltu,  vergisst  er  die  veränderte  Zeit,  und 
dass  er  selbst  die  Erfahrung  gemacht  hat,   auf  die  oben   (§.  133) 
hingeN\iesen  ward,  dass  Polemik  gegen  Arerroes  und  andere  Ari- 
stoteliker um   den  Piatonismus  zu  erheben  jetzt  der  Kirche  ver- 
dächtig erscheint,  dies  scheint  daraus  hervorzugehn ,  dass  er  seine 
Platonische  Theologie  mit  der,    später   sehr  oft  vorkommenden, 
Formel  schliesst:  In  omvihns  fpttte  mit  hie  (tut  alibi  a  mc  traetiin- 
tiir ,  tdvtiim  (t.ssertiim  esse  rolo  (piimtnin  ab  eevlesln  vomprolxitiir. 
In  der  Sammlung  seiner  W^erke,  die  Adam  llevricpetri  in  Basel 
157G  in  zwei  Foliobänden  veranstaltete,  finden  sich  nur  die  Ueber- 
setzungen des  P.oto  und  Plotin  nicht,   sonst  Alles   was   er   ge- 
schrieben hat,  darunter  auch  Medicinisches  und  Astrologisches. 

2.  Aus  den  Briefen  des  Fidv  (12  Bücher)  geht  hervor,  wie 
gross  der  Kreis  derer  war,  die  er  Platonici  und  Conphilosophi 
nennt.  Auch ,  dass  unter  ihnen  er  Keinen  so  hoch  geachtet  hat, 
als  den,   wie  er  sagt  aus  deutschem  Blute  stammenden,  dreissig 


II.  Die  Weltweisen.     A.  Die  Renaissance.     §.  237,  2.  3.  4.  505 

Jahr  jüngeren  Jolaimcs  Picvs,  Fürsten  von  Mirandula  und  Con- 
cordia  (geb.  1463,  gest.  1494),  auf  den  man  in  neuerer  Zeit  wie- 
der angefangen  hat  mehr  zu  achten  (vgl.  Droydfjrff  das  System 
des  Joh.  Pico,  Mai'burg  1858),  weil  man  gefunden  hat,  dass  der 
Schweizer  Reformator  Ziciiigli  ihm  sehr  viel  verdankt.  Gerade 
das  aber,  was  ihn  neueren  Protestanten  werth  gemacht  hat,  er- 
klärt auch  das  Misstraun  der  Kirche,  welche  die  Riesendisputation 
verbot,  zu  der  dies  ivgeniinn  praero.K,  dem  es  feststand,  dass 
der  Piatonismus  vor  Allem  im  Stande  sey,  vom  Averroismus  und 
anderen  verdammungswürdigen  Irrthümern  zum  Christenthum  zu- 
rückzuführen,  die  Gelehrten  der  ganzen  Welt  aufgefordert  hatte, 
auf  seine  Kosten  nach  Rom  zu  kommen.  Von  den  neun  hundert 
Thesen,  die  er  zu  diesem  Zwecke  zusammengestellt  hatte,  sind 
vier  hundert  den  bedeutendsten  Scholastikern,  Arabern,  Neupia- 
tonikern,  Cabbalisten,  entlehnt,  die  übrigen  sind  seine  eignen, 
und  ven"athen  die  Tendenz,  Antagonisten  als  übereinstimmend  er- 
scheinen zu  lassen.  Die  Werke  des  Jo//.  Piciis  sind  zuerst  1498 
in  Venedig,  dann  sehr  oft,  zuletzt  zusammen  mit  denen  seines 
Neffen  Jo.  Franriscus  Picns  in  Basel  bei  Henric  Petri  in  zwei 
FoUob<änden  1572  und  dann  wieder  1601  gedruckt  worden. 

3.  Durch  Firin  und  Pico  wird  der  Mann  angeregt,  der  den 
wieder  belebten  Piatonismus  in  Deutschland  vertritt.  Joh  mm  Ucnch- 
Un ,  1455  in  Pforzheim  geboren,  in  Orleans  und  Paris  gebildet, 
war,  während  er  Professor  der  klassischen  Literatur  in  Basel  war, 
als  geistreicher  Humanist  bekannt  geworden.  Später  ward  er  Pro- 
fessor in  Ingolstadt,  dann  in  Tübingen  und  ist  am  30.  Juli  1522 
gestorben.  Im  Jahre  1487  hatte  er  zuerst  in  Florenz  die  persön- 
liche Bekanntschaft  Flchi's  gemacht,  an  welche  sich  dann  später 
die  Pho's  schloss.  Da  beide  zwischen  Platonischer  und  Pythago- 
reischer Philosophie  kaum  einen  Unterschied  annehmen ,  so  störte  es 
ihr  Einverständniss  nicht,  wenn  Reuclilin  besonders  das  Pythago- 
reische Element  hervorhob.  Eben  so  wenig,  wenn  der  für  das 
Hebräische  interessirte  Mann,  der  sich  rühmen  durfte  der  Kirche 
die  Kenntuiss  desselben  wieder  geschenkt  zu  haben ,  kabbalistische 
Vorstellungen  mit  dem  Piatonismus  verschmolz.  Hatte  doch  Pico 
selbst  dies  schon  vor  ihm  gethan.  Die  beiden  Schriften:  Capnion 
s.  de  verbo  mii'ifico  (Bas.  1494.  Tübing.  1514.  Fol.),  worin  ein 
Heide,  ein  Jude  und  ein  Christ  {lU'ucUin.  Capnion)  sich  unterre- 
den und  Jeder  in  einem  der  drei  Bücher  das  Wort  führt,  und  De 
arte  cabbalistica  Libb.  III  (Hagenau  1517  Fol.),  gehören  zusam- 
men, indem  jenes  auf  dieses  hin-,  dieses  auf  jenes  zurückweist. 

4.  Dieselben  Elemente  wie  bei  llenvldin  mischen  sich  bei  dem 


506  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Venetianer  Zoi^zi  {Franciscus  Gcorgius  Venetvs),  geb.  1460,  gest. 
1540,  und  dem  Cölner  Cornelius  Agrippa  von  Nettesheim,  geb. 
1487,  gest.  1535.  Das  Werk  des  Ersteren:  De  harmonia  mundi 
Cantica  III  Venet.  1525  Fol.  ist  nicht  so  phantastisch,  wie  die 
Jugendschrift  des  Zweiten:  de  occulta  philosophia  libri  tres,  die  er 
im  J.  1510  zuerst  herausgab,  und  welche,  zum  Theil  wenigstens, 
durch  die  1531  erschienene:  De  incertitudine  et  vanitate  scientia- 
rum  rectificirt  wird.  Agrippa's  durchweg  abenteuerliches  Treiben 
hat  ihn  in  eine  Menge,  zum  Theil  verdienter,  Verdriesslichkeiten 
gebracht.  Seine  Werke,  die  ausser  den  beiden  genannten  auch 
Anpreisungen  der  Lullschen  Kunst  (s.  oben  §.  206)  enthalten,  sind 
in  zwei  Octavbänden  erschienen:  Henr.  Corn.  ab  Nettesheim  Opera 
omnia  Lugd.  Bat.  per  Bernigos  fratres  (das  Titelblatt  trägt  bei 
einigen  Exemplaren  die  Jahreszahl  1600,  bei  anderen  gar  keine). 
Unter  den  Franzosen  pflegen  als  Repräsentanten  dieser  Richtung 
angeführt  zu  werden  der,  wegen  seiner  Verdienste  um  den  Aristo- 
totes  von  ReuchUii  gepriesene  Jaques  Le/erre  aus  Etables  (Fabci- 
Sfapittensis.  gest.  1537)  und  sein  Schüler  Charles  Bonille  {Bo- 
villifs) ,  dessen  Werke  1510  in  Paris  erschienen.  Beide  sind,  wie 
auch  Reuclilii},  Bewunderer  des  Nicolnvs  von  Cusa.  Gleiches  gilt 
auch  von  einem  anderen  Schüler  Fabers,  und  Freunde  Bonille  s, 
dem  Polen  Jadociis  CUrlitomtis ,  der  im  Anfange  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  Lehrer  an  der  Sorbonne  war,  und  sich  auch  durch 
seinen  Eifer  gegen  Luther  einen  Namen  gemacht  hat. 

§.  238. 
Ariatoteliker. 
1.  In  Padua,  welches  für  den  Aristotelismus  das  werden  sollte, 
was  Florenz  für  den  Piatonismus,  hatten  gegen  die  wachsende 
Macht  des  Nominalismus  und  seiner  Consequenzen  Viele  den  Ver- 
such gemacht,  den  Vor-Occamistischen  Aristotelismus  festzuhalten. 
Arerrnes  namentlich  soll  dazu  helfen,  und  ihm  warfen  sich  Einige 
so  in  die  Arme,  dass  sie,  wie  Alexander  Ae/nllinns,  der  Mediciu 
und  Philosophie  zuerst  in  Padua,  dann  in  seiner  Vaterstadt  Bo- 
logna lehrte  und  dort  1518  gestorben  ist,  sogar  die  Lehre  von  der 
Einheit  des  Menschengeistes  sich  aneigneten,  und  nun  durch  eine 
Silbenstecherei  sich  als  Vertheidiger  der  Unsterblichkeit ,  des  (frei- 
lich nicht  der)  Menschen  darstellten.  An  diese  Averroisten,  die 
zum  Theil  viel  weiter  gingen  als  AeJ/illiiii,  ist  zu  denken,  wenn 
man  von  Petrarca  hört,  dass  Philosoph  und  Unchrist  als  gleich- 
bedeutend gelte.  Diese  averroistisch  -  scholastische  Auffassung  des 
Aristoteles  dauert  sogar  noch  fort,   nachdem  Leonicns  Tliomäus 


II.  Die  Weltweisen.     A.  Die  Renaissance.     §.  238,  1.  2.  507 

(geb.  1456)  in  Padua  seine  epochemachenden  Vorlesungen  über 
Aristoteles  gehalten,  und  durch  sie  bewiesen  hatte,  dass  derselbe 
im  Original  und  an  der  Hand  griechischer,  nicht  arabischer,  Com- 
mentatoren  zu  studiren  sey.  Zwar  kein  gewöhnlicher  Averroist 
ist  Atigiisiinvs  N'iphns  (geb.  1472  in  Suessa,  daher  Snessainis), 
der  in  Pisa,  Bologna,  Rom,  Salerno  und  Padua  bis  gegen  1550 
gelehrt  und  als  Arzt,  Astrolog  und  Philosoph  einen  solchen  Ruhm 
erworben  hat,  dass  Papst  Leo  X  ihm  erlaubte  den  Namen  und 
das  Wappen  der  Medici  zu  führen.  Aus  seinen  vielen  Werken 
aber,  deren  vollständiges  Register  nebst  Druckort  Gahriel  Nau- 
däiis  der  Pariser  Ausgabe  von  August.  Niphi  Opuscula  moralia 
et  politica  2  Bde  4.  1654  beigelegt  hat,  geht  hervor,  dass  er  nicht 
mit  Unrecht  den  Averroisten  zugezählt  wird.  Mehr  als  dies,  dass 
er  in  eignen  Schriften  den  Arerroes  commentirt  und  gegen  Poin- 
poiKitiiis  vertheidigt  hat,  berechtigt  zu  solcher  Zusammenstellung, 
dass  er  den  Aristoteles  gerade  so  auffasst,  wie  es  Sitte  geworden 
war,  seit  die  vom  Neupiatoni smus  angeregten  Araber,  und  nament- 
lich Arerroes,  die  Lehrer  in  der  Philosophie  geworden  waren. 
Auch  der  Paduaner  Jneob  Zabarelia  (geb.  1533,  gest.  1589)  ist 
wenigstens  in  dem  Theil  der  Philosophie,  wo  er  den  grössten 
Ruhm  erworben  hat,  der  Logik,  ganz  Averroist.  Wenn  er  in  der 
Physik  abweicht,  und  zu  Resultaten  kommt,  die  weniger  mit  der 
Kirchenlehre  streiten,  so  behauptet  er  dadurch  mehr  in  Aristo- 
teles' eignem  Sinne  zu  sprechen,  so  dass  es  ihm  also  wie  dem 
Alhert  und  TI>onias  feststeht,  dass  Aristoteles  die  Kirchenlehre 
verbürge,  und  er  sich  im  Grunde  nur  durch  seine  Kenntniss  des 
Griechischen  und  seine  geschmackvollere  Darstellung  von  den  scho- 
lastischen Peripatetikern  unterscheidet.  Seine  Werke  sind  in  fünf 
Iheilen  in  Leyden  bei  Marschall  1587  Fol.  erschienen,  von  denen 
die  vier  ersten  die  logischen  Schriften,  der  fünfte  die  dreissig  Bü- 
cher de  rebus  naturalibus  enthält.  Jene  sollen  auch  Francof.  1608, 
diese  Francof.  1607  erschienen  seyn. 

2.  Viel  mehr  als  die  bisher  Genannten  suchte  in  den  ur- 
sprünglichen Sinn  des  Aristoteles  einzudringen  der  als  Naturfor- 
scher berühmte,  um  Thier-  und  Pflanzenphysiologie  verdiente,  An- 
lireas  Caesalpintis  (geb.  in  Arezzo  1519,  gest.  in  Pisa  1603).  Seine 
fünf  Bücher  Quaestiones  peripateticae  —  (u.  A.  mit  dem  Hauptwerke 
des  Telesiifs  zusammen  herausg.  von  Eiistliüt.  ll(j)(oji  in  den 
Tractat.  philos.  Tom.  L  Atrebat.  1588  Fol.)  —  sind  aber  ein  Be- 
weis ,  wie  sehr  die  Neuplatonischen  Ansichten  ein  unbefangnes  Ver- 
ständniss  des  Aristoteles  erschweren.  Viel  mächtiger  hatte  der 
von  Tiiomüus  gegebene  Anstoss  auf  den  Mantuaner  Petrus  Pom- 


508  Mittelalterliche  Philosophie      Dritte  Periode  (Uehergang). 

ponnfhfs  gewirkt,  der  1462  in  Padua  Medicin  und  Philosophie  stu- 
dirt  hatte, Querst  dort,  dann  in  Ferrara,  zuletzt  in  Bologna,  lehrte 
und  am  letzteren  Orte  1524  starb.  Zuerst  in  seiner  berühmtesten 
Schrift:  Tractatus  de  immortalitate  aniinae  (gedr.  u.  A.  ohne  Druck- 
ort 1534;  dann  sehr  oft)  —  dann  aber  auch  in  anderen  Schriften, 
weist  er  nach,  dass  die  Ansicht  der  Averroisten  von  dem  einen 
unsterblichen  intellevbis  aller  Menschsen  mit  des  Aristoicics  Lehre, 
dass  die  Seele  Form  eines  organischen  Leibes,  unvereinbar  sey, 
dass  eben  deswegen  Aristoteles  weder  den  noch  die  Menschen  un- 
sterblich seyn  lasse.  Dies  sey  nicht  der  einzige  Punkt,  in  dem 
Aristoteles  von  der  christlichen  Lehre  abweiche.  Eben  so  wenig 
stimme  er  überall  mit  Pinto  überein.  Eben  deswegen  sey  es  nicht 
rathsam  die  arraim  der  Philosophie  den  Schwachen  mitzutheilen, 
denn  die  könnten  leicht  irre  reden.  Was  ihn  selbst  betreffe,  so 
denke  er  ganz  anders  als  Aristoteles,  denn  ihm  sey  nicht  dieser, 
sondern  die  Kirche  Autorität.  Man  kann  es  seltsam  finden,  dass 
dies  Buch  auf  Geheiss  der  Kirche  verbrannt  wurde,  und  dass  in 
den  sich  daran  anschliessenden  Streitigkeiten  mit  den  Averroisten, 
trotz  seiner  angesehenen  Freunde  in  Kom,  die  Kirche  sich  gegen 
den  Powponntlus  erklärte.  Allein  man  muss  bedenken,  dass  er 
der  Neuerer  war,  dass  die  Verehrer  des  Averroes  die  Tradition 
für  sich  hatten.  Die  Werke  des  Powpovntivs  sollen  auch  in  ei- 
ner Gesammtausgabe  Basil.  1567.  8.  existiren.  Die  im  J.  1520 
verfasste  Schrift:  de  naturalium  effectuum  causis  s.  de  incantatio- 
nibus  ist  ebendas.  bei  Henric  Petri  1556.  8.  erschienen. 

§.  239. 
Erneuerer  anderer  Systeme. 
1.  Von  viel  geringerer  philosophischer  Begabung  sind  und 
haben  daher,  wenn  auch  in  anderen  Gebieten  bedeutenden,  so 
doch  in  der  Philosophie  nur  geringen,  wenigstens  keinen  nachhal- 
tigen, Einfluss  gezeigt  die,  welche  den  Versuch  machten,  die 
Systeme  der  Verfallperiode  griechischer  Philosophie  (s.  §.  92 — 1 15) 
ins  Leben  zurückzurufen.  So  hat  Joost  Lijts  (Justirs  Lijtsiiis,  geb. 
1547,  gest.  1606),  dessen  Werke  1585  in  acht,  1637  in  vier  Folio- 
bänden erschienen  sind,  mit  seinen  darin  enthaltenen  Lobpreisun- 
gen des  Stoicismus  nicht  den  Ruf  eines  Philosophen,  sondern  nur 
den  Namen  eines  Philologen  und  Kritikers  erworben.  Dass  es 
dem  gesinnungslosen  Kaspar  Schoppc  {Sdoppivs,  geb.  1562  in 
der  Pfalz)  mit  seinen  Elementa  philosophiae  Stoicae  eben  so  ging, 
ist  begreiflich.  Ja  selbst  dem  viel  bedeutenderen  Pierre  Gnsseiid 
{Petrus  Gitsseiidi.  geb.  1592,  gest.  1655),  der  freilich  zu  einer 
Zeit,  wo  Des  Curtes  (s.  weiterhin  §.  266.  67)  bereits  aufgetreten 


II.  Die  Weltweisen.     A.  Die  Renaissance.     §.  239,  1.  2.  3  509 

war,  lehrte,  ist  es,  als  er  dem  mittelalterlichen  Aristotelismus  mit 
seinem  Leben  des  Epikur  (1647)  und  seinem  Syutagma  philosophiae 
Epicuri  (1649)  entgegentrat,  kaum  anders  gegangen.  Nur  als  Phy- 
siker hat  er  Einfluss  gewonnen,  und  unter  den  Gassendisten,  die 
man  eine  Zeit  lang  den  Cartesianern  entgegenstellte ,  sind  Physiker 
zu  verstehn,  die  mit  atomistischen  Theorien  die  Wirbel theorie  be- 
stritten. Die  gesammelten  Werke  Gnssendis  (Lyon  1658  in  sechs, 
Florenz  1728  in  eben  so  vielen  Foliobänden)  enthalten  ausser  je- 
nen beiden  Schriften  auch  das  posthume  Syntagma  philosophicum, 
in  dem  er  die  Philosophie  als  Logik,  Physik  und  Ethik  abhandelt. 
Die  späteren  Sensualisten  in  England  und  Frankreich  haben  ihm 
vielleicht  Manches  abgeborgt. 

2.  Da  die  nacharistotelischeu  Systeme  ihre  Hauptrepräsentan- 
ten in  der  römischen  Welt  gefunden  haben,  die  römischen  Philo- 
sophen aber  wegen  ihres  mehr  oder  minder  synkretistischen  Cha- 
rakters, im  Cicero  ihr  eigentliches  Haupt  haben,  so  ist  es  be- 
greiflich, dass  er  und  mit  ihm  das  rhetorische  Philosophiren  zu 
Ehren  kommt.  Mit  oder  ohne  Bewusstseyn  nehmen  ihn  zu  ihrem 
Vorbilde  die,  auf  die  der,  in  jener  Zeit  aufkommende  Name  der  Ci- 
ceronianer  sehr  gut  passt.  Schon  der  im  J.  1459  gestorbene  Römer 
Lfaircnliifs  Vidia,  so  wie  der  deutsche  Ihidolph  Agricola  (geb. 
1442,  gest.  1485)  hatten  diesen  Ton  angeschlagen,  nur  dass  ih- 
nen QiiiiüUian  fast  so  viel  galt  als  Cicero.  Dagegen  haben  der 
Spanier  Liidoricus  Vires  (geb.  1492,  gest.  1540),  dessen  Werke 
1782  in  Valencia  erschienen  sind,  und  mehr  noch  der  Modenese 
Marias  Nizolius  (geb.  1498,  gest.  1575),  sowol  in  seinem  The- 
saurus Ciceronianus  als  in  seiner  Schrift  gegen  die  falschen  Philo- 
sophen (auch  Antibarbarus  genannt),  die  Leibuiiz  im  J.  1670  in 
Frankfurt  (Marii  Nizolii  contra  Pseudophilosophos  libri  IV)  neu 
herausgab,  kein  Hehl,  dass  sie  dem  Cicero  mehr  danken  als  den 
Sokratikeru  Pinto  und  Aristoteles ,  weil  die  letzteren  die  Philoso- 
phie von  der  Rhetorik  getrennt  haben. 

3.  Zu  diesen  rhetorisirenden  Philosophen  ist  nun  auch  der 
Picarde  Pierre  de  la  Btimee  {Petrus  Itumiis)  zu  rechnen. 

Vgl.    Waddington 'Kaitus  De  Petii  Rami  Vita,  scriptis,  philosophia.  Paiis  1848. 

Im  J.  1517  nahe  bei  Soissons  geboren,  hat  er  im  Kampf  mit  den 
grössten  Schwierigkeiten  seine  Studien  in  Paris  gemacht,  so  dass 
er  in  seinem  21'"^"  Jahre  jene  Disputation  wagen  durfte,  die  ihn 
berühmt  gemacht  hat,  in  der  er  siegreich  vertheidigte,  dass  Alles, 
was  Aristoteles  gelehrt  habe,  falsch  sey.  Vor  Allem  war  es  die 
Logik  des  Aristoteles ,  die  er,  auch  in  Schriften  ( Aristo telicae  ani- 
madversiones) ,   bekämpfte  und   an   deren  Stelle  er  eine   bessere 


510  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

ZU  setzen  versuchte  (Dialecticae  partitiones ,  später  als  Institutio- 
nes  dialecticae  wieder  herausgegeben).  Das  Eigenthümlichste  ist- 
dabei  die  Verschmelzung  der  Logik,  die  er  eben  deswegen  als  die 
nrs  dissercndi  bezeichnet,  mit  der  Rhetorik.  Aus  der  genauen 
Beobachtung  der  Art,  wie  Cicero  und  andere  Redner  ihre  Hörer 
überzeugen,  lerne  man  die  Regeln  der  Logik  besser  kenneu  als 
aus  dem  Organon.  Einiges  was  Bnmns  zuerst  in  die  Logik  hinein- 
brachte, ist  bleibendes  Besitzthum  der  logischen  Handbücher  ge- 
worden. So  die  Unterscheidung  der  natürlichen  und  künstlichen 
Logik.  So  eigentlich  auch  der  Gang ,  den '  die  ganze  Logik  nimmt. 
"Was  nämlich  bei  llamvs  den  ersten  Theil  bildet  (De  inventione), 
die  Lehre  vom  Begriff  und  der  Definition  pflegt  jetzt  überall  den 
Anfang  zu  bilden.  Der  zweite  Theil  jde  judicio  —  (daher  Pars  se- 
cunda  Petri  als  scherzhafte  Bezeichnung  für  Judicium,  d.  h.  Ur- 
theilskraft)  —  enthält  die  Lehre  vom  Urtheil,  vom  Schluss  und 
von  der  Methode.  Dass  liiinnts  wieder  nur  drei  Schlussfiguren 
statuirt,  muss  als  ein  Vorzug  seiner  Logik  gegen  die  scholasti- 
sche angesehn  werden;  darin  dass  er  später  sogar  die  dritte  fal- 
len lässt,  kann  eine  Ahndung  anerkannt  werden,  dass  dieselbe 
ohne  Ergänzung  wirkhch  nicht  volle  Beweiskraft  hat.  Uebrigens 
deducirt  er  die  Schlussfiguren  nicht  wie  Aristoteles  (s.  §.  86,  2) 
aus  dem  verschiedenen  Umfange  des  Termhms  mcduis,  sondern 
(wie  die  meisten  Neueren  nach  ihm)  aus  der  Stelle ,  die  er  in  den 
Prämissen  einnimmt.  Zuerst  wurden  die  Schriften  des  Unmus  ver- 
urtheilt  und  ihm  die  logischen  Vorlesungen  verboten,  so  dass  er 
sich  auf  mathematische  und  solche  beschränken  musste,  in  wel- 
chen die  rhetorischen  Meisterwerke  Cieero's  commentirt  wurden. 
Nach  dem  Tode  Franz  des  Ersten  aber  erscheint  er  an  den  Col- 
lege de  Presles  wieder  als  Lehrer  der  Dialektik.  Die  Anfeindun- 
gen, die  seit  seinem  Uebertritt  zum  Calvinismus  noch  viel  hefti- 
ger geworden  waren,  brachten  ihn  dahin,  eine  Reise  ins  Ausland 
(Deutschland,  Italien,  Schweiz)  zu  unternehmen,  die  ein  grosser 
Triumphzug  wurde.  Sein  Hauptgegner  in  Paris,  der  Theologe  Clnir- 
pentier,  hat  die  Mörder  gedungen,  die  nach  des  /»«/k//5  Rückkehr 
ihn  in  der  Bartholomäusnacht  mordeten.  Das  genaue  Register  der 
fünfzig  Schriften,  die  schon  während  seines  Lebens,  zum  Theil  in 
sehr  vielen  Auflagen,  und  der  neun,  die  nach  seinem  Tode  ge- 
druckt wurden,  so  wie  derjenigen  Schriften,  deren  Titel  wir  ken- 
nen, die  aber  nicht  erschienen  sind,  findet  sich  in  der  angegebe- 
nen Schrift  von  Waddivgtoii-KnstKs.  Eine  Gesammtausgabe  der 
Schriften  des  Ramus  existirt  noch  nicht.  Seine  logischen  Neue- 
rungen fanden  für  eine  Zeit  lang  grossen  Anklang,  und  es  bildete 


II.  Die  Weltweisen.     A.  Die  Keuaissance.     §.  239,  3.  4.  511 

sich  eine  wirkliche  Schule,  der  Ramisteu,  im  Gegensatz  zu  den 
Aristotelikern.  Coüfessionelle  Gründe  haben  wohl  dazu  beigetra- 
gen ,  dass  ihre  Zahl  in  Deutschland  noch  grösser  war  als  in  Frank- 
reich. Dass  ArmhÜHs  in  Genf  den  Bamiis  gehört  hatte,  entschied 
für  seinen  Einfluss  bei  den  Arminianern  in  Holland.  Seine  genaue 
Verbindung  mit  iSturm  in  Strassburg  war  eine  Empfehlung  bei  al- 
len humanistisch  Gebildeten.  Die  oben  augeführte  Monographie 
von  Waddinyion-Kaslus  gibt  p.  129  ff.  eine  Reihe  von  Namen  an, 
welche  beweist,  wie  sehr  Ramus  geehrt  ward. 

4.  Bei  Weitem  nicht  das  Aufsehn  wie  Ilamvs  machte  ein  um 
dreissig  Jahre  jüngerer  Zeitgenosse  desselben,  dessen  Hass  gegen 
Aristoteles  entschiedene  Nahrung  gezogen  hat  aus  dem  Studium 
des  Ramus,  der  aber  wie  keines  Philosophen  unbedingter  Anhän- 
ger, so  auch  keiner  des  Rmnnus  heissen  will;  es  ist  der  in  Möm- 
pelgard  im  Jahre  1547  geborene  Nico  laus  Tanrellus  (wahr- 
scheinlich war  sein  Familienname  Oechslein).  Das  theologische 
Studium,  dem  er  sich  zuerst  in  Tübingen  gewidmet  hatte,  ver- 
tauschte er  mit  dem  medicinischen,  und  nachdem  er  im  Jahre  1570 
in  Basel  Doctor  der  Mediciu  geworden  war,  lehrte  er  daselbst  zu- 
erst Medicin,  später  Ethik.  Hier  nun  wagte  er  es  im  Jahre  1573 
seinen  Absagebrief  an  die  Peripatetische  Philosophie  zu  veröffent- 
hchen :  Philosopliiae  triumphus  etc.  Basil.  1573,  der  von  den,  längst 
wieder  zu  Scholastikern  gewordenen  protestantischen  Theologen 
nicht  weniger  als  von  den  katholisclien,  ihm  den  Vorwurf  der  Gott- 
losigkeit zuzog.  Die  hundert  und  sechs  und  sechszig  Thesen,  wel- 
che der  eigentlichen  Abhandlung  vorausgeschickt  sind,  so  wie  die 
sich  daran  anschhessenden  Vorreden  zu  den  einzelnen  Theilen, 
enthalten  eigentlich  schon  Alles,  was  die  ganze  spätere  Schrift- 
stellerthätigkeit  des  Tnurcllns  durchzuführen  sucht.  Unter  den 
vielen  Irrthümeru,  welche  als  solche  aufgezählt  werden,  die  durch 
Aristoteles  sich  eingebürgert  haben,  wird  besonders  der  gerügt, 
dass  die  höchste  Seligkeit  im  Erkennen  bestehe.  Vielmehr  wie 
Gottes  Seligkeit  darin  besteht,  dass  er  sich  selbst  hervorbringt, 
erzeugt,  will,  weswegen  er  auch  mehr  ist  als  blosse  Mens,  ganz 
eben  so  besteht  die  des  Menschen  darin,  dass  er  Gott  liebt  und 
will.  Die  Abhandlung  selbst  zerfällt  in  drei  Tractate,  von  denen 
der  erste  von  den  Kräften  des  menschlichen  Geistes  handelt,  der 
zweite  die  AristoteUschen  Principien  der  Physik  kritisirt,  der  dritte 
den  Versuch  macht,  eine  wahre,  mit  der  Theologie  übereinstim- 
mende Philosophie  aufzustellen,  die  nicht  auf  Autorität  des  Ari- 
stoteles, sondern  auf  Vernunft  sich  stützt.  —  Dieser  Gegensatz 
von  Aristoteles  und  Vernunft  erbitterte  die  philosophische  Welt. 


512  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Nicht  minder  zürnte  ihm  die  theologische,  weil  er  die  Folgen  des 
Sündenfalls  nicht  so  weit  ausdehnte,  dass  dadurch  die  Vernunft 
die  Fälligkeit  der  Erkenntniss  verloren  habe.  Chicanen  aller  Art 
Hessen  ihn  eine  Reihe  leidensvoller  Jahre  durchleben,  bis  er  end- 
lich die  Professur  der  Physik  und  Medicin  in  Altwf  erhielt,  einer 
Universität,  auf  der  gleichfalls  die  Peripatetische  Philosophie  im 
höchsten  Ansehn  stand.  In  seiner  Medicae  praedictionis  metho- 
dus  etc.  Francof.  1581  spricht  er  deshalb  die  Absicht  aus,  sich 
ganz  auf  das  Gebiet  seiner  Professur  zu  beschränken,  ein  Wort 
dem  er  treu  blieb,  als  er  seinen  de  vita  et  morte  libellus  etc.  No- 
ribergae  1586  veröffentlichte,  und  mit  dem  die  Herausgabe  zweier 
Bändchen  Gedichte  Carmina  funebria  Norib.  1592  und  Emblemata 
physico-ethica  Norib.  1595  sich  zur  Noth  vereinigen  lässt.  Auf 
die  Länge  aber  vermochte  er  nicht  dem  Drange  zu  widerstehn, 
der  ihn  zu  erneutem  Kampfe  gegen  den  Erzfeind  trieb.  Seiner  Sy- 
nopsis Aristotelis  Metaphysices  etc.  Hanov.  1596  (die  ich  nie  ge- 
sehen habe)  folgten  bald  die  heftigen  Angriffe  gegen  den  überall, 
namentlich  in  Altorf  selbst  durch  Sc/ierhiifs  gefeierten  Cäanlphi 
(s.  §.  238,  2),  in  seinen:  Alpes  caesae  h.  e.  Andr.  Caesalpini  Itali 
monstrosa  et  superba  dogmata  etc.  Norimb.  1597,  in  welcher  dem 
pantheistisch  gefärbten  Aristotelismus  die  herbsten  Wahrheiten  ge- 
sagt wurden.  Die  späteren  Werke  die  Koofioloyia  h.  e.  physica- 
rum  et  metaphysicarum  disquisitionum  de  mundo  libri  IL  Amberg. 
1603  und  die  OiQctvolnyia ,  h.  e.  physicarum  et  metaphysicarum 
disquisitionum  de  coelo  libri  IL  Ebendas.  1605,  endlich  die  von 
Leibnilz  sehr  hoch  gestellte  Schrift:  De  rerum  aeternitate,  meta- 
physices partes  quatuor  Marpurg.  1604,  sind  eben  so  polemisch, 
nur  dass  sie  zu  ihrem  Gegenstande  besonders  Picvolomhd  und 
die  jesuitischen  Peripatetiker  in  Coimbra,  so  wie  andere  katholische 
Geistliche  nehmen,  und  die  Behauptungen  derselben  streng  kriti- 
siren.  Die  stets  wiederkehrende  Behauptung,  Arisiote/es  sey  nicht 
die  Philosophie,  der  Kampf  gegen  ihn  selbst  auf  dem  logischen 
Gebiete,  auf  dem  Tnitrcllvs  die  Herrschaft  der  revtn  ratio  for- 
dert, anstatt  der  AristoteUschen  Subtilitäten,  ist  der  Grund  gewe- 
sen, warum  er  hier  zu  Ramvs  gestellt  wurde,  wie  ihn  denn  auch 
seine  Zeitgenossen  theils  zu  Jenem,  theils  zu  Anderen  gestellt  ha- 
ben, welche  bei  den  römischen  Eklektikern,  Cicero,  Seneca  in  die 
Schule  gingen.  Es  darf  aber  nicht  verschwiegen  werden,  dass  die 
Gründe,  aus  welchen  TaureUiis  die  Peripatetiker  angreift,  zum 
Theil  ganz  andere  sind,  als  die  Repräsentanten  der  Renaissauce 
geltend  machen,  so  dass  man  oft  zweifelhaft  werden  kann,  ob  er 
nicht,  eher  als  zu  ihnen,  zu  den  Naturphilosophen  (s.  §.  240  ff.) 


II.  Die  Weltweisen.     A,  Die  Renaissance.     §.  239,  4.  51o 

ja  manchmal  ob   er  nicht  zu   den  Mystikern  zu  zählen  sey.    Wa- 
rum nämlich  TavrcUvs  von  der  Scholastik  nichts  wissen  will,  ist, 
dass  sie  eine  Philosophie,  die  durchweg  heidnisch,  mit  einem  Dog- 
ma verschmolzen  habe,  das  christlich  ist;  diese  Zumuthung  Chri- 
stum mit  dem  Herzen,   Aristoteles  mit  dem  Kopfe  anzubeten,  sey 
eine  so  widersinnige,  dass  es  zu  begreifen  sey,  warum  die  Scho- 
lastiker zuletzt  bei   dem  Unsinn  einer   doppelten  Wahrheit  ange- 
langt seyen.     Um  christlich  (christimu')  zu  philosophiren,  und  na- 
mentlich das  Verhältniss  zwischen  Philosophie  und  Theologie  rich- 
tig zu  würdigen,  muss  man  dies  festhalten,   dass  die  Philosophie 
Alles  zu  erkennen  vermag,   was  Adam  vor  dem  Falle,   und  was 
die  Menschen  nach  dem  Fall,  durch  ihr  discursives  Denken  zu  er- 
grübein vermochten.    Dagegen  Alles  was   dem  Menschen  erst  in 
Folge  der  in  C/rrislo  erschienenen  Gnade  gewiss  worden  ist,  gehört 
lediglich   der  Theologie  an.    Darum   ist  Vieles   was  man  für  eine 
theologische  Lehre  ansieht,  eine  philosophische;   so  z.  B.  die  von 
der  Trinität,  denn  Gott  wäre  nicht,  wenn  er  sich  nicht  ewig  zeugte; 
so  ferner  die  von  der  Auferstehung  des  Leibes,  denn  die  Vernunft 
lehrt  uns,  dass  der  ganze  Mensch,  und  nicht  bloss  ein  Theil  des- 
selben, unsterblich  ist,  und  da  er  (nicht  bloss  die  Seele)  sündigte 
oder  Gutes  that,   Strafe  oder  Lohn  zu  erwarten  hat.    Dagegen 
wäre  es  eine  Anmassung,  wenn  man  etwa  philosophisch  beweisen 
wollte,  dass  C//ristiis  Wunder  thut  u.  s.  w.    Damit  ist  aber  durch- 
aus nicht  eine  Trennung  zwischen  Philosophie  und  Theologie  be- 
hauptet; vielmehr  bildet  jene  das  Fundament  für  die  letztere.    Es 
ist  nämlich  damit  gerade  wie  mit  dem  Gesetz,  das  ein  Zuchtmei- 
ster ist  auf  Christum.    Gerade  so  ist  es  die  Philosophie,  welche 
den   Menschen   zu  der  verzweiflungsvollen  Einsicht  bringt,    dass 
es  ihm,  einmal  gefallen,  ganz  unmöglich  ist,  der  Strafe  und  Ver- 
dammniss  zu  entgehn,  damit  aber  geneigt  macht,  die  Genugthuung, 
welche   der  Sündlose   gegeben   hat,   sich  anzueignen.     Uebrigens 
kann,  dass  eine  solche  Genugthuung  möglich  ist,   durch  die  Phi- 
losophie bewiesen  werden.    Freilich   nicht   durch  eine  Philosophie 
wie  die  Aristotelische,   die,  weil  sie  unsinniger  Weise  die  Frage 
nach  dem  Anfange  der  Welt,   d.  h.  nach  dem  Vornatürlichen,  in- 
nerhalb der  Naturwissenschaft  behandelt,  und  dabei  den  Grundsatz 
einer  christlichen  Philosophie,  dass  der  Mensch  der  letzte  Zweck 
der  Schöpfung  ist,  ausser  Acht  lässt,   zu  dem  Irrthum  gelangt, 
dass  die  Welt  ewig  und  unzerstörbar  ist.    Die  wahre  Philosophie 
folgert  daraus,  dass  das  Menschengeschlecht  einmal  ein  Ende  neh- 
men wird,   dass  auch  die  Welt  einmal,    als  unnütz,   verschwin- 
den müsse.    Ein  mit  der  Ewigkeit  der  Welt  zusammenhängender 

Erdmaun.  Gesch.  d.  Phil.  1.  VJ^ 


514  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang) 

Irrthum  ist,  dass  Gott  bei  der  Schöpfung  eines  Stoffes  bedurft 
habe.  Die  matevia  prima,  deren  er  bedurfte,  ist  das  Nilnluw, 
so  dass  die  Dinge  Producte  Gottes  und  des  Nichts,^  darum  theils 
Seyn  theils  Nichtseyn  sind.  Dass  das  i^ndenken  des  TanreUns 
so  bald  verschwand,  dass  seine  Bücher  bald  eine  Seltenheit  wur- 
den, hat  schwerlich,  wenigstens  gewiss  nicht  allein,  seinen  Grund 
in  einer  schlauen  Tactik  seiner  Gegner.  Am  Meisten  trug  wohl 
dazu  die  isolirte  Stellung  bei,  in  welche  dieser  Feind  alles  Secten- 
wesens,  welcher  nicht  nur  wünscht,  man  möge  mehr  Christ  seyn 
als  Lutheraner,  sondern  sagt,  nur  der  Unwissende  nenne  sich  Lu- 
theraner oder  Calvinist  anstatt  Christ,  dadurch  gerieth,  dass  er 
weder,  wie  die  Vertreter  der  Renaissance,  ein  klassisches  Latein 
anstrebte,  noch,  wie  die  Mystiker  und  Theosophen,  in  der  Mutter- 
sprache schrieb,  dass  er,  nicht  weniger  gegen  die  Scholastik  ein- 
genommen als  die  Theosophen  und  Kosmosophen  dieser  Periode, 
dennoch,  ganz  anders  als  diese  und  eigentlich  im  Geiste  der  von 
ihm  Angefeindeten,  eine  Philosophie  im  Dienste  der  Theologie, 
eine  Theologie  begründet  durch  Philosophie,  will.  Diese  Zwitter- 
stellung spricht  nicht  für  grosse  wissenschaftliche  Bedeutung.  Spä- 
tere Zeiten,  welche  die  Einseitigkeiten  hinter  sich  haben,  können 
oft  solche  Standpunkte,  die  noch  nicht  einmal  in  dieselben  hin- 
eingetreten waren,  unbewusst  idealisiren  und  dann  überschätzen. 
Sollte  nicht  Leibnitz  etwas  der  Art  geschehen  seyn,  wenn  er 
den  TanreUns  als  ingeniosissimvs  und  Germanorvm  Scaliger  be- 
zeichnet? 

Vgl.  F.  X.  Schmid   aus  Schwarzenberg  Nicolans    Taurellus.    der    erste  deutsche 
Philosoph.     Erlangen  (Nene  Ausg.)   1864. 

§.  240. 
Nicht  entstellt  durch  das  oben  (§.  235)  angegebne  Missver- 
ständniss  vernehmen  die  Forderung  der  Zeit  die,  welche  es  unter- 
nehmen ,  die  Philosophie  in  eine  Weltweisheit  zu  verwandeln ,  die 
von  der  Kirche  so  unabhängig  ist,  wie  in  der  Zeit,  wo  es  noch  gar 
keine  Kirche  gab.  Naturgemässer  Weise  wird  dies  Ziel  so  er- 
reicht, dass  das  bisherige  Band  der  Philosophie  mit  der  kirchli- 
chen Lehre  zuerst  sich  lockert,  dann  reisst,  endlich  vergessen  ist. 
Dem  ersten  Stadium  entspricht  freundhches  Verhältniss  zum  kirch- 
lichen Glauben,  dem  zweiten  Hass,  dem  dritten  Gleichgültigkeit 
dagegen.  Durch  diese  drei  Stufen  geht  die  Weltweisheit  sowol 
dort  hindurch,  wo  ihr  die  sinnliche,  als  da,  wo  ihr  die  sittliche 
Welt  als  das  Höchste  gilt.  Die  während  der  Scholastik  ganz  zu- 
rückgedrängte, erst  in  der  letzten  Periode  derselben  wieder  etwas 
hervortretende  Physik  und  Politik  werden  wieder,  was  sie  im  AI- 


n.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosopheu.     Paracelsus.    §.  241,  1.  515 

terthum  gewesen  waren,  Haupttheile  der  Philosophie  und  zwar  so 
sehr,  dass  die  Philosoplien  dieser  Periode  fast  nur  Xaturphiloso- 
phen  oder  Politiker,  sehr  selten  Beides,  niemals  Beides  gleich  sehr, 
sind.  Der  besseren  Uebersicht  wegen  mögen  sie,  je  nachdem  das 
eine  oder  das  andere  Element  vorwiegt,  zu  einander,  oder  sich  ge- 
genüber, gestellt  werden.  Indem  sie  beide  den  bisher  betrachte- 
ten Lobpreisern  der  alten  Weltweisen  als  wirkliche.  Jenen  Gei- 
stesverwandte, Weltweise  gegenüber-  und  vorstehen,  wäre  es  ei- 
gentlich richtiger,  zu  dem  A  über  dem  §.  236  hier  als  B  die  Ueber- 
schrift  Wirkliche  Weltweise  oder  eine  ähnliche,  unter  dieser  aber 
als  zwei  sich  coordinirte  Gruppen  die  mit  1  und  2  oder  sonst  wie 
bezeichneten  Naturphilosophen  und  Naturrechtslehrer  zu  setzen. 
In  der  Sache  aber  ändert  es  nichts,  wenn  mit  Weglassung  jener 
zusammenfassenden  Ueberschrift  zu  den  bisher  Betrachteten  die 
Naturphilosophen  als  zweite,  die  Naturrechtslehrer  als  dritte  Gruppe 
kommen. 

B. 

Naturphilosophen. 

T.  A.  Rixiier  und   T.  Sieber  Leben  und  Lehrmeinungen  berühmter  Physiker  am 
Ende  des  16.    und  Anfang    des  17.  Jahrhunderts.    7  Hefte.     Sulzbach  lb;l9— 1826. 

§.  241. 
Paracelsus. 
1.  Würdig  eröffnet  hier  den  Reigen  PJ/ilippus  Anrenlvs  Theo- 
pIiTdstiis  Bombast  con  Hohcnheim  (wahrscheinlich  um  ihn  zu  ehren 
Paracelsus  zubenannt,  wenn  nicht,  wie  neuere  Untersuchungen 
wahrscheinlich  machen,  dies  eine  lateinische  Uebersetzung  seines 
Namens  ITöhener  ist,  den  erst  die  Sage  mit  dem  adlichen  von 
Ilolienlieim  vertauscht  haben  soll)  —  ein  Mann,  der  im  J.  1493 
in  Marien  Einsiedeln  geboren,  am  24.  Sept.  1541  sein  unstätes  Le- 
ben in  Salzburg  beschloss,  nachdem  er  viele  hundert  grössere  und 
kleinere  Aufsätze  verfasst  hatte,  die,  ohne  dass  er  ein  Buch  zu 
Rathe  zog,  in  deutscher  Sprache  in  die  Feder  dictirt  und  erst  von 
seinen  Schülern  ins  Lateinische  übersetzt  wurden.  Die  meisten 
sind  verloren;  die  aufgefunden  werden  konnten,  gab  mit  den  be- 
reits gedruckten  der  Churfürstliche  Rath  und  Medicus  Joliann  Hit- 
ser  in  zehn  Theilen  nebst  Appendix  (Basel  Waldkirch  1789.  4) 
heraus.  Später  erschienen  dieselben  in  lateinischer  Uebersetzung 
in  Frankfurt,  viel  correcter  aber  in  der  dreibändigen  Genfer  Folio- 
Ausgabe  (sumptib.  Jo.  Antonii  et  Sarauelis  de  Tournes  1658) ,  wel- 
che auch  die  gleichfalls  von  Unser  (Basel  1591)  deutsch  heraus- 

33* 


516  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

gegebnen  chirurgischen  Schriften  enthält,-  die  übrigens  auch  in 
Strassburg  bei  Lazarus  Zelzners  Erben  1618  in  Folio  erschienen 
sind.    (Hier  wird  noch  Hnsers  Ausgabe  citirt  werden.) 

2.  Es  ist  kein  Zufall,  dass  der  epochemachende  Arzt,  wel- 
cher der  bisherigen  Humoralpathologie  die  Lehre  entgegenstellte, 
dass  jede  Krankheit  ein  Organismus  sey  („ein  Mann"  Paramirum 
WW.  I,  p.  77),  der  sich  zu  dem  Körper  verhält  wie  ein  Parasit 
zum  Gewächs  (Philos,  WW.  VIII,  p.  100  flf.),  und  dass  sie  je  nach 
Geschlecht  und  Individuum  sich  in  Jedem  anders  gestalte  (Param. 
WW.  I,  p.  196),  und  der  in  der  Therapie  gegen  die  bisherige  Art, 
nur  die  von  den  Alten  gebrauchten,  darum  ausländischen  Heilmit- 
tel, diese  aber  in  allen  möglichen  Combinationen  anzuwenden,  auf 
das  Heftigste  stritt,  dass  dieser  neuernde  Bekämpfer  des  Galen 
und  Avicemuty  der  es  mit  einer  gewissen  Freude  hört,  wenn  seine 
Gegner  ihn  mit  Luther  vergleichen  (Paragranum  Vorr,  WW.  II, 
p.  16),  auch  in  der  Philosophie  eine  neue  Periode  beginnt  und 
gegen  den  Herrscher  der  vorigen,  den  Aristoteles >  polemisirt 
(Ebend.  p.  329).  Dass  auch  die  Krankheit  ihren  Lebenslauf  hat, 
und  wieder,  dass  der  Mittel,  die  auf  den  menschlichen  Organis- 
mus einwirken,  viel  mehr  sind  als  man  gemeint  hat,  dies  Beides 
legt  viel  mehr  als  bisher  den  Gedanken  nahe,  dass  Alles  von  Ei- 
nem Leben  durchdrungen  ist,  und  dass  dieses  Eine  Leben  in  dem 
Menschen  als  dem  Gipfel  der  W^elt  sich  concentrirt.  War  gleich 
die  Lehre  vom  Makro-  und  Mikrokosmus  uralt,  und  noch  zuletzt 
durch  Tiaymvnd  von  Sahnnde  (s.  §.  222),  der  dem  Paracelsus 
nicht  fremd  geblieben,  sehr  betont  worden,  so  wird  sie  doch  erst 
seit  dem  Letzteren  und  durch  ihn  zum  Mittelpunkt  der  ganzen 
Philosophie  gemacht.  Als  das  Gebiet  der  letzteren  bezeichnet  er 
mit  Nachdruck  die  Natur  und  schliesst  daher  aus  ihr  alle  Theo- 
logie aus.  Nicht  als  ob  beide  je  stritten,  oder  als  ob  die  Theo- 
logie unter  der  Philosophie  stünde,  sondern  die  W^erke  Gottes  sind 
entweder  Werke  der  Natur  oder  Werke  Christi;  jene  begreift  die 
Philosophie,  diese  die  Theologie  (Lib.  meteor.  WW.  VIII,  p.  201). 
Deswegen  spricht  die  Philosophie  heidnisch  und  war  sie  ein  Be- 
sitzthum  schon  der  Heiden ;  dennoch  kann  der  Philosopli  ein  Christ 
seyn,  denn  Vater  und  Sohn  vertragen  sich  (Erkl.  der  ganz.  Astron. 
WW.  X,  p.  443).  Philosopliie  und  Theologie  fallen  ganz  auseinan- 
der, weil  das  Instrument  jener  das  natürliche  Licht,  die  Vernunft, 
sie  selbst  ein  Wissen  ist,  während  die  Theologie  ein  Glauben  ist, 
durch  Offenbarung,  Lesen  der  Schrift  und  Gebet  vermittelt.  Der 
Glaube  übertrifft  das  natürüche  Licht,  aber  nur  weil  er  nicht  ohne 
natürliche  Weisheit  seyn  kann,   sie  aber  ohne  ihn  und  er  also 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosopheu.    Paracelsus.    §.  241,  2.  3  517 

mehr  ist  als  sie  (Philos.  sagax.  WW.  X,  162.  24).  Die  Philosophie 
hat  die  Natur  zu  ihrem  aller  einzigen  Gegenstande,  ist  nur  er- 
kannte („unsichtige"  d.  h.  ideale)  Natur,  wie  die  Natur  nur  sicht- 
bare, reale  Philosophie  ist  (Paragr.  WW.  II,  p.  23).  Da  die  Phi- 
losophie nur  Wissenschaft  der  W^elt  ist,  die  Welt  aber  theils  die 
grosse  ist,  in  der,  theils  die  kleine,  die  der  Mensch  ist,  so  ent- 
hält die  Philosophie  des  Paracelsus  nur,  was  man  Kosmologie  und 
Anthropologie  zu  nennen  pflegt,  nur  dass  Beides  nie  gesondert 
wird,  und  Einiges  was  den  Menschen  betrifft,  wie  sich  sogleich 
zeigen  wird,  ausserhalb  der  Philosophie  hegt. 

3.  Wie  kein  Menschenwerk  richtig  gewürdigt  werden  kann, 
ohne  dass  man  weiss,  wozu  es  unternommen  ward,  so  muss  auch 
bei  der  Schöpfung  zunächst  nach  dem  „Fttrnehmen"  Gottes  gefragt 
werden.  Es  ist  ein  doppeltes:  Gott  will,  dass  Nichts  verborgen 
bleibe,  Alles  sichtl)ar  und  offenbar  werde,  und  zweitens,  dass  Al- 
les w^as  er  angelegt  und  unvollkommen  gelassen  hat,  zur  Vollen- 
dung komme.  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  29.45.  51.)  Beides  vollbringt 
der  Mensch,  da  er  die  Dinge  erkennt,  und  da  er  sie  ihrer  Bestim- 
mung entgegenführt,  indem  er  sie  verwandelt;  darum  ist  der  Mensch 
das  Letzte  in  der  Schöpfung  und  ist  Gottes  eigentliches  Fürneh- 
men (de  Vera  infl.  rer.  WW.  IX,  p.  134),  und  die  Welt  ist  nur  zu 
erkennen,  indem  die  Philosophie  den  Menschen,  als  ihr  Letztes 
und  ihre  Frucht,  ins  Auge  fasst,  in  ihm  als  dem  Buche,  aus  dem 
mau  die  Heimlichkeiten  der  Natur  herausliest,  forscht  (Lib.  Me- 
teor. WW.  IX,  p.  192.  Azoth  Vorr.  WW.  X.  Append.).  Auf  der 
anderen  Seite  kann  der  Mensch,  wie  jede  Frucht  aus  dem  Samen, 
nur  aus  dem  was  voi-  ihm  war,  und  woraus  er  hervorging,  also 
der  Welt,  verstanden  werden  (Labyrinth,  medic.  W^W.  II,  p.  240). 
Dieser  Cirkel  kann  dem  Paracehiis  nicht  als  fehlerhafter  erschei- 
nen, da  er  als  Grundsatz  ausspricht,  dass  ein  Philosophus  nur 
sey,  wer  Eines  im  Andern  weiss  (Paragr.  alter,  WW\  II,  p.  110). 
Auch  Moses  erzählt,  dass,  nachdem  alle  Dinge  aus  Nichts  geschaf- 
fen waren,  zur  Schöpfiuig  des  Menschen  ein  „Zeug"  nöthig  gewesen 
sey.  Dieser,  der  limus  terrnc,  ist  ein  Extract  und  eine  Quintes- 
senz („fünftes  Wesen")  alles  dessen  was  vor  dem  Menschen  geschaf- 
fen war,  und  könnte  eben  so  gut  limKs  mundi  heissen,  da  alle 
creafa  in  demselben,  darum  aber  auch  in  dem  daraus  geformten 
Menschen  enthalten  sind,  und  also  hervortreten  können.  Dies  gilt 
nicht  nur  von  der  Kälte  und  dem  Feuer,  sondern  auch  vom  Wolf 
und  vom  Ottergezüchte,  und  wenn  dies  geschieht,  so  werden  mit 
buchstäblicher  Wahrheit  die  Menschen  Wölfe  u.  s.  w.  genannt.  (Phil, 
sag.  WW.  X,  p.  28.  63.  27.  35.)  Weil  der  Mensch  Alles  ist,  des- 


518  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

wegen  ist  ihm,  als  dem  Centrum  und  „Punkt"  von  Allem,  Nichts 
undurchdringlich.  Das  All  aber  befasst  ausser  der  Erde  auch  den 
Himmel,  d.  h.  die  Gestirne  oder  die  firmamentischen  siderischen 
oder  ätherischen  Kräfte,  die,  selbst  unsichtbar,  an  den  sichtbaren 
Sternen  ihr  „corpHs''  haben  (Erkl.  d.  ganz.  Astron.  WW.  X,  p.  448). 
Darum  ist  der  Umvs  terrae  und  ist  der  daraus  gewordene  Mensch 
ein  Zweifaches;  einmal  der  sichtbare,  greifbare,  irdische,  und  zwei- 
tens ein  unsichtbarer,  ungreifbarer,  himmlischer,  astrahscher  Leib. 
Dieser  letztere  heisst  bei  Parncelstis  gewöhnlich  spirihis;  wer  dies 
Wort  mit  Lebensprincip  oder  Lebensgeist  übersetzen  wollte,  könnte 
sich  darauf  berufen,  dass  Paracr/s/is  selbst  anstatt  Leib  und 
Geist  auch  öfter  sagt:  corpus  und  Leben  (u.  A.  de  pestilit.  WW. 
III,  p.  25).  Nicht  nur  die  Menschen  bestehen  aus  einem,  den  Ele- 
menten entsprossenen,  Leibe  und  dem  aus  dem  Gestirn  stammen- 
den Geiste,  so  dass  sie  Kinder  aus  der  Ehe  jener  beiden  genannt 
werden  können  (Erkl.  d.  g.  Astr.  WW.  X,  p.  407),  sondern  alle  We- 
sen, selbst  die  empfindungslosen,  leben  und  sind  von  dem  astra- 
lischen  Geiste  durchdrungen  CPhil.  sag.  WW.  X,  p.  191);  alle  übri- 
gen sind  aber  nur  Bruchstücke  dessen,  was  der  Mensch  ganz  ist. 
Einem  allgemeinen  Weltgesetz  zufolge,  das  Paravelsus  Grund  sei- 
ner ganzen  Philosophie  nennt  (de  pestilit.  WW.  III,  p.  97)  ver- 
langt Jedes  nach  dem,  woraus  es  geworden,  theils  um  sich  zu  er- 
halten, denn  Jedes  isst  seine  Mutter  und  lebt  von  ihr,  theils  um 
darin  zurückzukehren,  denn  Jedes  stirbt  und  wird  begraben  in 
seinem  Vater  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  34.  14).  Demgemäss  ziehen 
auch  die  beiden  Bestandtheile  des  Menschen,  wie  der  Magnet  das 
Eisen,  so  das  an  sich  woraus  sie  wurden :  dem  Hunger  und  Durst, 
welcher  den  Leib  dahin  bringt,  die  Elemente  sich  anzueignen  und 
in  Fleisch  und  Blut  zu  verwandeln,  entspricht  im  Geiste  die  Ima- 
gination, durch  die  er  sich  aus  dem  Gestirn  nährt,  Sinn  und  Ge- 
danken gewinnt,  die  seine  Speise  sind  (u.  A.  Phil.  sag.  WW.  X, 
p.  32.  Erkl.  d.  Astr.  WW.  X,  p.  474).  Als  die  eigentUche  Func- 
tion des  Geistes  ist  sie  von  solcher  Bedeutung  bei  der  Bildung 
des  Samens  und  der  Frucht,  bei  der  Erzeugung  und  Heilung  von 
Krankheiten,  vermittelt  sie  die  iUnmbtutio  natirra/is,  macht  den 
Geist  der  Speculation  fähig  u.  s.  w.  (de  gener.  hom.  WW.  VIII, 
p.  166.  Phil.  sag.  WW.  X,  p.  33.  58).  Wie  daher  alle  natürlichen 
Triebe  im  irdischen  Leibe,  so  haben  alle  Künste  und  alle  natürli- 
che Weisheit,  im  siderischen  Leibe  oder  (Lebens)  Geiste  ihren  Sitz 
(Ebend.  p.  148).  Auch  darin  sind  sie  sich  gleich,  dass  sie  beide 
vergehn ;  bei  dem  Tode  geht  der  Leib  in  die  Elemente  zurück ,  der 
Geist  wird  vom  Gestirn  verzehrt;   letzteres  geschieht  später  als 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Paracelsus.     §.  241,  4.         519 

jenes,  daher  können  Geister  an  den  Orten  erscheinen,  an  die  sie 
durch  ihre  Imagination  gebunden  sind,  aber  auch  sie  sterben,  in- 
dem ihre  Gedanken,  ihr  Sinn  und  Verstand  allmählich  schwindet 
(u.  A.  de  animab.  post  mort.  appar.  WW.  IX,  p.  293). 

4.  Zu  diesen  beiden  Bestandtheilen,  die  den  Menschen  zu 
einem  animal  machen,  kommt  nun  hinzu  der  Sitz  nicht  des  na- 
türlichen Lichtes ,  sondern  der  ewigen  Vernunft ,  die  aus  Gott 
stammende  Seele  (unimu).  Sie  ist  der  lebendige  Odem,  den  Gott 
als  er  den  Adam  schuf  zu  dem  limvs  terrae,  bei  der  Erzeugung 
jedes  Menschen  zu  dem  Samen,  diesem  Extract  sämmthcher  Glied- 
massen, hinzutreten  lässt  und  der  bei  dem  Tode,  selbst  ewig,  zu 
dem  Ewigen  zurückkehrt.  Die,  vom  Geist  wesenthch  verschiedene, 
Seele,  die  sich  zu  seinen  Gedanken  verhält  wie  der  König  zu 
seinem  Rath,  hat  ihren  Sitz  im  Herzen,  mit  dem  man  eben  des- 
wegen Gott  lieben  soll  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  263.  264).  Zu  dem 
Geiste  verhält  sie  sich  so,  dass  er  ihr  Leib,  sie  sein  Geist  ge- 
nannt werden  kann  (de  anim.  hom.  WW.  II,  p.  272  ff.).  Uebrigeus 
kommt  es  vor,  dass  Paracelsvs  das  W^ort  splritits  in  so  weitem 
Sinne  braucht,  dass  darunter  der  (Lebens)  Geist  und  die  Seele  be- 
fasst  wird.  Auf  einer  Verwechslung  von  Geist  und  Seele  beruht  es, 
wenn  man  es  auf  die  Gewalt  der  Elemente  oder  des  Gestirns  schiebt, 
dass  Einer  böse  oder  gut  ist.  Ob  er  hitzig,  ob  kalt  hängt  von  den 
ersteren,  ob  Schmied  oder  Baumeister  vom  letzteren,  ob  aber  gut 
oder  böse  nur  von  der  Seele  ab,  die  Gott  los-  und  in  deren  Ge- 
walt er  es  gelassen  hat,  sich  so  oder  so  zu  entscheiden.  Was 
Gott  zu  solchem  Loslassen  gebracht  hat,  in  welchem  verharrend 
die  Seele  unselig  ist,  während  die  Sehgkeit  in  der  völligen  Hin- 
gabe zu  Gott  besteht,  darüber  hat  Philosophie  Nichts  zu  sagen. 
Wird  doch  eigentlich  Alles  was  die  Seele,  dieses  übernatürliche 
Wesen,  betrifft,  verunreinigt,  wenn  es  mit  dem  natürlichen  Licht  be- 
trachtet wird  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  148).  Durch  diese  Dreiheit  ist 
der  Mensch  drei  anderen  Arten  von  Wesen  theils  ähnlich  theils  über- 
legen. Er  ist  Xatur,  Geist  und  Engel,  vereinigt  die  Eigenschaf- 
ten in  sich,  in  welche  sich  die  Thiere,  Engel  und  Elementargei- 
ster (Saganac)  theilen.  Diese  letzteren  nämlich,  die  je  nach  dem 
Elemente  dem  sie  angehören  Wassermenscheu  (Nymphen,  Uudinen), 
Erdmenschen  (Gnomen,  Pygmäen),  Luftmenschen  (Sylphen,  Sylva- 
nen,  Lemurenj,  Feuermenschen  (Salamander,  Penaten)  heissen,  ha- 
ben keine  Seelen  und  werden  darum  oft  Imiuimaia  genannt.  Nur 
durch  Heirath  mit  Menschen  können  sie  für  sich  und  ihre  Kinder 
eine  empfangen  (De  nymphis  WW.  IX,  p.  46.  ff",  u.  a,  a.  0.).  Wie 
der  Leib  an  den  Elementen,  der  Geist  an  dem  Gestirn,  so  hat  die 


■520  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang) 

Seele  an  Christo  ihre  Speise,  der  zu  ihr  spricht,  wie  die  Erde  zu 
ihren  Kindern:  nehmet  und  esset,  das  bin  ich  (Phil.  sag.  WW.  X, 
p.  24).  Werkzeug  für  dieses  Nahrungnehmen  ist  der  Glaube,  der 
eben  darum  um  so  viel  mächtiger  und  mehr  wirkt  als  die  Imagi- 
nation, als  die  Seele  mehr  ist  denn  der  Geist. 

5.  Wie   der  Mensch  durch  seine  drei  Bestandtheile  auf  die 
elementarische,   siderische  und  göttliche  („dealische")  Welt  zurück- 
weist, so  ist  die  Erkenntniss  dieser  drei  Welten  die  Bedingung  für 
eine  vollständige  Kenntniss  des  Menschen.    Darum  werden  als  die 
Grundpfeiler,  auf  welchen  die  wahre  Medicin  ruht,  die  Philosophie, 
die  Astronomie,   die  Theologie  angegeben.    Auf  die  Medicin  aber 
hinzuweisen  hatte  Pararelsus  ausser  dem  Grunde,  dass  er  selbst 
Arzt  war,  auch  noch  den,  dass  er  in  dem  wahren  Arzt  das  Ideal 
eines  Wissenden   sah,   so  dass  er  sagt,  unter  allen  Künsten  und 
Facultäten  habe  Gott  den  Arzt  am  Liebsten  (Paragr.  WW.  II,  p. 
83).   Sehr  natürlich,  denn  wer  das  Höchste  in  der  Welt  zu  erfor- 
schen und   dessen  AVohl  zu  fördern  hat,   der  mag  wohl  auf  die 
Uebrigen  herabsehn.    Ausser  der  Würde  ihres  Gegenstandes  kann 
die  Medicin  noch  auf  etwas  Andres  stolz  seyn:    In  ihr  verbinden 
sich  nämlich  die  beiden  Elemente,  die  nach  Paracchus  zur  wahren 
Wissenschaft  gehören,  die  Speculation,  die  ohne  Erfahrenheit  „eitel 
Phantasten"  gibt,  und  das  e.cperuneitlnm,  das  ohne  Scientia  aller- 
dings, wie  Hippokrates  sagt,  fallux  ist  und  nichts  gibt  als  „Expe- 
rimentler", die  vor  manchen  alten  Weibern  und  Bartscheerern  kei- 
nen Vorzug  verdienen,   sie  verbinden  sich  zur  wahren  Experienüa 
oder  zu  einer  deutlichen,  zeigenden,  augenscheinlichen  Philosophie 
(u.  A.  Paragr.  alt.  und  Labyrinth,  med.  WW.  II,  p.  106.  113.  115. 
216).  Ohne  philosophische,  astronomische  und  theologische  Kennt- 
-^nisse  ist  der  Arzt  nicht  im  Stande  zu  entscheiden,  welche  Krank- 
heiten irdischen,  welche  siderischen  Ursprungs  und  welche  Heim- 
suchungen Gottes  sind.    Da  nun  die  Tlieorica  raustie  mit  der  Theo- 
rien cm'dc  zusammenfällt  (Labyrinth,  medic.  WW.  II,  p.  224),  so 
läuft  er  Gefahr  elementare  Krankheiten  mit  siderischen  Heilmitteln 
oder  umgekehrt   anzugreifen,   oder  auch,   natürliche  Heilversuche 
dort  zu  machen  wo  sie  nicht  hingehören  (Param,  WW.  I,  p.  20 — 23). 
6.  Diesen  an  den  Arzt  gestellten  Forderungen  schliessen  sich, 
als  Hülfsleistungen  zu  ihrer  Erfüllung  möchte  man  sagen,  die  Dar- 
stellungen der  drei  angegebeneu  AVissenschaften  an.     Was  nun  zu- 
erst die  Philosophie  betrifft,  diese  „Gebärerin  eines  guten  Arz- 
tes"  (V.   d.   Gebär,  d.  Mensch.   WW.  I,  p.  330),   so  ist  darunter, 
wenn  die  Astronomie  von   derselben   abgetrennt   wird,   die  allge- 
meine Naturwissenschaft  zu  verstehn,  die  alle  ercata .  die  vor  dem 


I.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosopheu.    Paracelsus.    §.  241,  6.  521 

Menschen  da  waren,  betrachtet  (Paragr.  WW.  II,  p.  12).  P/irä- 
cefsiis  geht  hier  bis  auf  den  letzten  Grund  alles  Seyns  zuräck, 
den  er  in  dem  Fiat  findet,  mit  welchem  Gott  seinem  Alleinseyn 
ein  Ende  machte,  und  welches  darum  die  prima  matcria  genannt 
werden  kann  (Paramir.  WW.  I,  p.  75),  oder  auf  das  iinjsferimn 
vntyvvm ,  in  welchem  alle  Dinge  enthalten  waren ,  nicht  wesent- 
lich oder  qualitätisch ,  sondern  wie  in  Holz  die  daraus  zu  schnitzen- 
den Bilder  (Philos.  ad  Athen.  WW.  YIII ,  p.  1.  3).  Beide  Namen 
werden  aber  auch  dem  Product  des  Fiat,  in  dem  es  materialisch 
wird,  dem  Samen  aller  Dinge,  beigelegt.  Der,  seltner  gebrauchte 
Name  yle  (Philos.  WW.  MII,  p.  124) ,  der  stets  vorkommende  ylia- 
ster  oder  yliastron  für  dieses  erste  Product  der  göttlichen  Schöpfer- 
kraft wird  den  nicht  befremden,  der  an  die  lylc  und  das  l.yl eu- 
ch im  mancher  Scholastiker  denkt  (s.  oben  §.  200,  9).  In  diesem 
sind,  als  in  ihrem  Samenbehältniss  (limbus)  alle  kommenden 
Dinge  enthalten  (De  generat.  stultor,  W'W\  IX,  p.  29).  Weil  der 
das  Fiat  sprach  der  Dreieinige  ist,  deswegen  unterliegt  dem  all- 
gemeinen Weltgesetz  der  Dreiheit  auch  der  gestaltlose  Urstoff  (Lib. 
meteor.  WW.  Ylll,  p.  184)  und  enthält  drei  Priucipien,  die  Para- 
celsus gewöhnlich  Sal,  Snlphar  und  Mcrairius  nennt.  Schon  dass 
er  anstatt  dessen  auch  (Labyr.  med.  W^W.  II,  p.  205)  Batsamiim, 
Besinn  und  Lifjaor  sagt,  ausserdem  aber  seine  ausdrückliche  Er- 
klärung beweist,  dass  darimter  nicht  die  körperlichen  Substanzen 
Salz,  Schwefel  und  Quecksilber  zu  verstehn  sind,  sondern  die  er- 
sten Kräfte  (daher  „Geister",  auch  materiue  primae)^  die  sich  in 
unserem  Salz  u.  s.  w.  am  Meisten  abspiegeln.  Alle  körperlichen 
Wesen  enthalten  diese  Principien,  wie  denn  was  im  Holze  raucht, 
Mercurius,  was  in  ihm  brennt,  Sulphur,  was  als  Asche  übrig  bleibt, 
Sal  ist  (Param.  WW.  I,  p.  73  tf.).  Durch  Sublimation,  Verbrennung 
und  Auflösung  dieser  Drei,  und  dadurch  dass  sie  in  verschiede- 
nen Verhältnissen  sich  verbinden,  entsteht  die  Mannigfaltigkeit  der 
Dinge,  so  dass  „alle  Dinge  in  allen  Dingen  verborgen  sind,  eines 
ihr  Verberger,  leiblich  Gefäss  und  sichtlich"  ist  (Lib.  vexat.  WW. 
VI,  p.  378).  Wie  aus  dem  Holz  durch  Abschneiden  des  üeberflüs- 
sigen  das  Bild  wird,  so  ist  auch  der  Weg,  auf  welchem  aus  dem 
Yliaster  die  verschiedenen  Wesen  werden,  die  Scheidung,  Sepa- 
ratio. Und  zwar  werden  in  solcher  Scheidung  zuerst  die  Elemente 
(Phil,  ad  Athen.  WW^  VUI,  p.  6) ,  welche  vier  Theile  des  Yliaster, 
manchmal  selbst  wieder  die  vier  (einzigen)  ylinstri  genannt  wer- 
den (Philos.  WW\  VIII,  p.  60).  Unaufhörlich  polemisirt  Paracelsus 
gegen  die  peripatetisch- scholastische  Theorie,  nach  welcher  die 
Elemente  Complexionen  der  Urqualitäten  Heiss  und  Kalt  u.  s.  w. 


522  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

seyn  sollten.  Theils,  weil  diese  Qualitäten  als  Accidenzien  der 
Substrate  bedürfen,  theils  Aveil  jedes  Element  nur  eine  Hauptqua- 
lität hat.  Nicht  weil  sie  Complexiouen ,  sondern  weil  „Mütter"  der 
Dinge,  sind  sie  Elemente  (Ebendas.  p.  56).  Auch  von  den  Ele- 
menten gilt  übrigens,  was  von  den  in  ihnen  enthaltenen  drei  pri- 
mis  sitfjstantiis  galt:  Elcmcnlvm  nqinie  ist  nicht  das  Wasser  was 
wir  sehen,  sondern  was  dies  Sichtbare,  minder  Nasse,  erzeugt,  die 
unsichtliche  Mutter  unseres  Wassers,  eine  Seele,  ein  Geist  (Phil, 
ad  Ath.  WW.  VIII,  p.  24  ff.  Lib.  Meteor,  ebendas.  p.  188).  In  der 
ersten  Scheidung  stellen  sich  die  Elemente  ignis  und  <ier  zusam- 
men den  andern  beiden  entgegen  und  so  entsteht  dort  der  Himmel, 
hier  der,  darin  wie  der  Dotter  im  Eiweiss  schwimmende,  „Globul" 
der  Erde.  Im  erstem  bilden  sich  aus  dem  elemcnhnn  iyvis,  der 
lebengebenden  Mutter  unseres  (verzehrenden)  Feuers  das  Firmament 
und  die  Sterne,  unter  ihnen  der  durchsichtige  Himmel  („Chaos". 
Philos.  WW.  VIII,  p.  61.  66.  Lib.  Met.  ebendas.  p.  182).  Im  letz- 
teren wieder  scheidet  sich  das  Wasser  vom  Trocknen  und  es  ent- 
steht Meer  und  Land.  Innerhalb  dieser  vier  entstehen  nun  aus 
den  vier  Elementen  vermöge  des  ihnen  innewohnenden  „Vulcanus", 
der  kein  persönlicher  Geist,  sondern  eine  ..rirtns'- ,  die  dem  Men- 
schen unterworfene  Naturkraft  ist,  die  einzelnen  Dinge,  bei  deren 
Entstehung  manche  errala  nnliirac  unterlaufen  (Lib.  meteor.  WW. 
VIII,  p.  204.  Phil.  sag.  WW.  X,  p.  102).  (Man  denke  hier  an  des 
Arisloieirs  dämonisch  wirkende,  dazwischen  ihren  Zweck  verfeh- 
lende, Natur,  s.  §.88,  1.)  Die  Producte  der  Elemente,  die  nicht, 
wie  die  der  zusammengesetzteren  Körper,  ihren  Erzeugern  gleich- 
artig, sondern  ..divcrtal/a''  sind  (Philos.  ad  Athen.  WW.  VIII, 
p.  24) ,  zerfallen  in  empfindliche ,  die  oben  erwähnten  Elementar- 
geister, sowie  die  verschiedenen  Thiere,  und  in  unempfindliche, 
wie  die  Metalle,  die  aus  dem  Wasser,  die  Pflanzen,  die  aus  der 
Erde,  die  Blitze,  die  aus  dem  Himmel,  den  Regen,  der  aus  der 
Luft  kommt.  Was  in  den  Elementen  Vulcanus  gewesen  war,  das 
ist  in  jedem  einzelnen  Dinge  der  „Regierer"  oder  .,Arclieus'' ,  d.  h. 
ihre  individuelle  Naturkraft,  durch  welche  sie  sich  erhalten,  na- 
mentlich aber  im  Ausstossen  der  Krankheit  wieder  herstellen  (Lib. 
meteor.  WW.  VIII,  p.  206).  Der  Mensch  ist  von  allen  anderen  Na- 
turwesen dadurch  unterschieden ,  dass  er  nicht  nur  einem  Elemente 
angehört,  sondern  vielmehr,  weil  er  aus  ihnen  besteht,  sie  alle 
ihm  gehören,  er  also  nicht  in,  sondern  auf  der  Erde  lebt  u.  s.  w. 
(Ebendas.  p.  202).  Weil  er  der  Auszug  aus  allen  Dingen,  ihr 
„fünftes  Wesen",  deswegen  ist  er  auf  sie  angewiesen,  sein  Geist 
wie  sein  Leib  erstirbt  ohne  Nahrung  von  Aussen  (Phil.  sag.  WW. 


n.  Die  Weltweiseu.    B.  Natui'philosophen.    Paracelsus.     g.  241,  6.  7.       523 

X,  p.  28.  104.  105.  Erkl.  d.  Astroii.  ebeiid.  p.  405).  Eben  so  kann 
er  und  sein  Zustand  nur  aus  dem  der  Elemente  und  überhaupt 
der  Natur  erkannt  werden,  imd  dies  ist  ein  Glück  für  die  Kran- 
ken ,  denn  müsste  der  Arzt  an  ihnen  selbst  lernen ,  wie  es  mit  ihnen 
steht,  so  wäre  dies  Vieler  Tod  (Paragran.  alter.  WW.  II,  p.  117). 
7.  Die  Erkenntniss  des  Wassers  und  der  Erde  gibt  die  Buch- 
staben zu  einer  Sentenz  nur  über  den  irdischen  Leib  des  Menschen. 
Die  über  das  eigentliche  Leben  desselben  wird  gefallt  nur  vermit- 
telst der  Erkenntniss  des  Gestirns,  und  darum  ist  die  Astrono- 
mie, der  „Obertheil"  der  Philosophie  neben  der  Elementarphilo- 
sophie dem  Arzt  unentbehrlich  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  13).  Die 
himmhsche  und  die  irdische  Welt  dürfen,  da  sie  aus  denselben 
ersten  Substanzen  bestehn,  auch  in  beiden  ein  Vulcanus  wirkt, 
nicht  so  getrennt  werden,  wie  es  zu  geschehen  pflegt.  Dasselbe, 
was  als  Stern  am  Himmel,  existirt  auch  auf  der  Erde  aber  als 
Kraut,  und  im  Wasser  aber  als  Metall  (Philos.  WW.  VIII,  p.  122). 
Wer  dies  ganz  klar  durchschaute  und  dabei  die  „Kunst  Si(jvata'' 
besässe,  welche  den  Dingen  nicht  gleichgültige  Namen  beilegt, 
sondern  solche,  die  ihre  Natur  ausdrücken,  dem  würde  der  Him- 
mel zu  einem  Inborivin  splrititdlc  sirlercum  werden,  indem  er 
eine  siclla  Jrlem'tslae .  Melissae  u.  s.  w.  hätte  (Labyr.  medic.  WW. 
II,  p.  233).  Schon  unsere  gegenwärtige  Kenntniss  reicht  aus,  um 
zu  sagen,  dass  es  viel  mehr  ^Metalle  geben  niuss  als  die  sieben, 
die  man,  wegen  der  Planetenzahl,  anführt  (De  miner.  WW.  VIII, 
p.  351).  Natürlich  muss,  was  von  dem  Wasser  und  der  Erde  gilt, 
seine  Anwendung  auch  finden  auf  ihre  Quintessenz ,  den  Menschen : 
Nichts  ist  am  Himmel  was  nicht  auch  in  ihm  wäre,  was  dort  Mars  und 
in  der  Erde  Eisen,  das  ist  im  Menschen  Galle  (Param.  WW.  I,  p.  41). 
Dies  ist  nun  für  die  Beurtheilung  der  Krankheit  und  die  Wahl 
der  Arznei  wichtig.  Beide  gehören  zusammen ,  denn  wo  der  Grund 
der  Krankheit,  da  ist  auch  der  der  Heilung  zu  suchen.  Das  ron- 
trarin  coiiirariis  hat  nicht  den  Sinn,  dass  das  Kalte  durch  das 
Warme,  sondern  dass  die  Krankheit  durch  die  Gesundheit,  die 
schädliche  Wirkung  eines  Princips  durch  seine  wohlthätige  ver- 
nichtet werden  soll  (Paragr.  WW.  II ,  p.  58.  39).  Auch  hier  müss- 
ten,  wenn  man  die  Krankheiten  ihrer  Natur  gemäss  bezeichnen 
wollte,  die  alten  Namen  aufgegeben,  und  anstatt  dessen  von  mar- 
tialischen und  mercurialischen  Krankheiten  gesprochen  werden, 
denn  die  Sterne  sind  die  prunipitt  morboriim  (Philos.  WW.  VIII, 
p.  123).  Freilich,  um  dies  zu  können,  muss  man  den  Menschen 
nicht  isoliren,  sondern  ihn  vom  Standpunkt  des  Astronomen  und 
Astrologen  betrachten,  muss  im  Sturmwind  beschleunigten  Puls  der 


524  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Ue"bergang). 

Natur,  im  fieberliafteii  Puls  des  Kranken  Innern  Sturm  erkennen, 
muss  in  der  Entstehung  des  Blasensteins  denselben  Process  erken- 
nen, durch  den  der  Donner  wird  u.  s.  w.  (Paragr.  WW.  II,  p.  29. 
Paramir.  "WW.  I,  p.  186if.).  Wie  diese  Erkenntniss  den  Arzt  in 
Stand  setzen  wird ,  siderische  Krankheiten ,  wie  z.  B.  die  Pest ,  in 
welcher,  weil  sie  dies  ist,  die  Imagination  eine  so  wichtige  Rolle 
spielt  (de  occult.  phil.  WW.  IX,  p.  348),  nicht  wie  gewöhnliche 
elementarische  zu  behandeln ,  so  wird  sie  ihn  auch  von  dem  hoch- 
müthigen  Wahne  befreien,  als  heile  er  den  Kranken.  Nur  die 
Natur  thut  dies,  und  seine  Aufgabe  ist,  zu  entfernen,  was  sie  da- 
ran hindert,  sie  vor  widerwärtigen  Feinden  zu  schützen  (Grosse 
Wundarznei  Ausg.  von  Zetzner  p.  2).  Ein  andrer  Ausdruck  für 
dieselbe  Behauptung  ist ,  dass  der  Arzt  den  Archeus ,  d.  h.  die  in- 
dividuelle Naturkraft,  zur  heilenden  Thätigkeit  zu  veranlassen  habe. 
Da  dies  durch ,  dem  Magen  beigebrachte  Arznei  geschieht ,  des- 
wegen wird  oft  der  Magen  als  der  besondere  Sitz  des  Archeus  be- 
stimmt. 

8.  Sowol  der  obere  als  der  untere  Theil  der  Philosophie  wei- 
sen auf  den  Grund  aller  Dinge,  deswegen  nennt  Paracelsvs  das 
natürliche  Licht  den  Anfang  der  Theologie;  wer  in  natürlichen 
Dingen  ein  richtiges  Urtheil  habe,  werde  Christum  und  die  hei- 
lige Schrift  nicht  „leichtlich  wägen'^  (De  nymph.  WW.  IX,  p.  72). 
Weil  es  ihm  Ernst  ist,  dass  die  Philosophie  sich  an  die  Theolo- 
gie als  an  ihren  Eckstein  lehnen  müsse,  und  er  weiter  als  Quelle 
der  Theologie  lediglich  die  h.  Schrift  gelten  lässt,  deswegen  hat 
er  die  letztere  so  eifrig  studirt.  {Morhof  will  ausführliche  Com- 
mentare  dazu,  von  seiner  eignen  Hand  geschrieben,  selbst  gesehen 
haben.)  Weil  er  aber  zugleich  die  Theologie  stets  dem  Wissen 
entgegensetzt,  deswegen  ist  hier  auf  die  seinige  nicht  weiter  ein- 
zugehn.  Nur  Eines  muss  berücksichtigt  werden,  weil  es  mit  sei- 
ner Stellung  zur  scholastischen  Philosophie  genau  zusammenhängt: 
die  zur  römisch-katholischen  Kirche.  Wenn  man  sieht,  dass  er 
unter  den  zur  Doctrin  Prädestinirten  neben  Albert  und  Lactunüvs 
den  Wilde f  nennt  (Phil.  sag.  WW.  X,  p.  95),  dass  er  die  grösste 
Hochachtung  gegen  ZwlvgU  hegt,  dass  er  die  Gegner  Luthers 
verhöhnt,  missachtend  vom  Papste  spricht,  sich  oft  gegen  Messe- 
lesen, Heiligenverehrung,  Wallfahrten  erklärt,  so  kann  man  ver- 
sucht werden ,  ihn  ganz  den  Neuerern  seiner  Zeit  beizuzählen.  Und 
doch  wäre  dies  unrichtig,  denn  es  stritte  damit  sein  Mariencultus 
(Lib.  Meteor.  WW.  VIII,  p.  213),  seine  Versicherungen,  er  wolle 
nur  die  unnützen  Buben  vom  Messelesen  weg  haben,  nicht  die 
Heiligen  u.  s.  w.    Man  könnte  seine  Stellung  mit  der  des  Erusmus 


II.  Die  Weltweisen.    B.  Naturphilosophen.    Paracelsus.     §.241,  8.  'J.        525 

vergleichen,  den  er  ja  auch  von  allen  Gelehrten  seiner  Zeit  am 
allerhöchsten  stellt ;  mit  noch  mehr  Grund  vielleicht  mit  der  einiger 
der  oben  betrachteten  Mystiker ,  die  ohne  aus  der  römischen  Kirche 
herauszutreten,  die  Punkte  vernachlässigten,  die  später  von  den 
Reformatoren  bekämpft  wurden. 

9.  Wäre  die  Medicin  nur  Wissenschaft  und  Theorie,  so  würde 
sie   sich   nur  auf  die   drei   eben   charakterisirten  Wissenschaften 
stützen.     Nun   legt  aber  Paracclsas  das  grösste  Gewicht  gerade 
darauf,  dass  sie  Kunst  sey  und  Praxis  (Labyrinth,  med.  WW.  II, 
p.  208).    Er  muss  ihr  deswegen,  als  einen  vierten  Pfeiler,  auf  dem 
sie  ruht,  eine  Anweisung  und  Technik  zuweisen.    Diese  gewährt 
nun  die  Alchymie,  unter  der  eigentlich  jede  Kunst,  Verände- 
rungen hervorzubringen,  zu  verstehn  ist,  so  dass  der  Bäcker,  der 
aus  Korn  Brot,   der  Rebmann,    der    aus  Trauben    Wein    macht, 
eben  so  Alchymist  ist,  wie  der  Archeus,  der  Speise  in  Fleisch  und 
Blut  verwandelt  (Paragr.  WW.  II,  p.  61  u.  a.  a.  0.).     Diesen,   die 
Dinge  ihrer  Bestimmung  gemäss  Aendcrnden,  gesellt  sich  nun  der 
Alchymist  im   engern  Sinn,   d.h.  der  Chemiker,   zu,  welcher  die 
Dinge  läutert,  veredelt  und  heilt,   eben   darum  aber  gerade  das 
Gegentheil   des  Schwarzkünstlers  ist.    Das  Reinste  und  Lauterste 
in  jedem  Dinge  ist  seine   Quintessenz  oder  —   (da  dieses  Wort 
eigentlich  nur  dort  gebraucht  werden  darf,   wo  ein  Extract,   wie 
der  Hmiis  lerrac,  alles  enthält,  woraus  er  extrahirt  ward,  ohne 
dass  dadurch  dem  Residuum  Etwas  entzogen  wurde)  —  genauer 
gesprochen:    sein  arcanum,  seine  Tinctur  oder  sein  Elixir  (Archi- 
doxis  WW.  VI,  p.  24  ff.).    Da  in  diesem  das  Ding  mit  seiner  Kraft 
und  Eigenschaft  ohne  fremde  Zuthat  enthalten  ist,   so  ist  natür- 
lich die  Hauptaufgabe  der  ärztlichen  Alchymie  die  Bereitung  der 
Quintessenzen,  Arcana  oder  Tincturen.     Sie  werden  aus  Metallen, 
sie  werden  aber  auch  aus  Solchem  gezogen  was  da  lebt,  aus  Pflan- 
zen, und  sind  je  mehr  es  lebt  (frisch  ist),  um  so  kräftiger.    Könnte 
man,  ohne  ihn  zu  tödten,  aus  dem  Menschen  einen  solchen  Extract 
ziehn,  so  wäre  das  das  absolute  Heilmittel.    Die  „Mumie"  ist  eine 
Annäherung  dazu,  sie  ist  aber,  da  sie  meistens  aus  an  Krankheit 
Gestorbenen,   im   günstigsten  Falle  aus  Hingerichteten,  also  im- 
mer aus  Todten,   gezogen  wird,   mit  jenem  nicht  zu  vergleichen 
(u.  A.  de  vita  longa  WW.  VI,  p.  181).     Als  solche  arcana,  denen 
man  nachzustreben  habe,  führt  Paracelsus  prima  maferia,    lapls 
p/nlosop/ioriint ,  Mercitriirs  rifae  und  Tincliira  an,   zu  deren  Ge- 
winnung er  die  Methoden  angibt  (Archidoxis  WW.  VI,  p.  42ff). 
Es  ist  hier  schwer,  anzugeben  wo  die  Selbsttäuschung  aufhört  und 
die  Charlatanerie  anfängt.    Von  beiden  ist  er  nicht  frei  zu  spre- 


526  Mittelalterliche  Pliilosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

chen;  dagegen  möchte  weder  hier,  noch  bei  dem  berühmten  Re- 
cept  zur  Hervorbringung  des  homimcvlits  (de  nat.  rer.  WW.  VI, 
p,  263)  an  ironischen  Scherz  zu  denken  seyn.  Dass  er  bei  allen 
alchy mistischen  Arbeiten  fordert,  dass  die  Sterne  und  ihre  Con- 
stellation  beachtet ,  dass  zwischen  Ernte  -  und  Brachzeit  der  Sonne, 
d.  h.  Sommer  und  Winter,  ein  Unterschied  gemacht  werde,  ist 
eine  nothwendige  Folge  des  von  ihm  behaupteten  Zusammenhanges 
aller  Dinge.  Bei  allen  uns  phantastisch  erscheinenden  Behauptun- 
gen, wird  er  nicht  müde  vor  Phantastereien  zu  warnen  und  zu 
fordern,  dass  man  sich  von  der  Natur  selbst  den  Weg  weisen  lasse. 
Als  solche  Weisung  sieht  er  aber  nicht  nur  an ,  dass  das  zufällige 
cxperimeutiim  lehrt  wie  ein  Kraut  einmal  gewirkt  hat,  sondern 
auch  dies,  wenn  die  Natur  durch  die  Gestalt  eines  Krautes,  als 
seine  sigiinturn ,  eine  bestimmte  Wirkung  verspricht,  endlich  aber, 
wenn  wir  daraus ,  dass  ein  Thier  sich  von  Solchem ,  das  uns  Gift 
ist,  nährt,  d.  h.  dasselbe  an  sich  zieht,  folgern,  es  werde  dieses 
Gift  auch  aus  unserer  Wunde  aus-  d.  h.  an  sich  ziehii,  so  folgen 
wir  dabei  nicht  unseren  Einbildungen,  sondern  der  Natur.  Es  ist 
ihm  völliger  Ernst,  dass  all  unser  Wissen  nur  Selbstoffenbarung 
der  Natur,  dass  unser  Wissen  ein  sie  Belauschen  ist,  und  dass  er 
ihr  wirkHch  sehr  viel  abgelauscht  hat,  bewiesen  seine  glücklichen 
Curen  und  beweist  noch  heute  das  Factum,  dass  viele  Grundge- 
danken seiner  Lehre  sich  erhalten  haben. 

10.  Von  seinen  persönlichen  Schülern  hat  er  die  meisten,  als 
zu  frühe  der  Schule  entlaufen,  getadelt.  Lobsprüche  erhalten 
Joannes  OporinnSy  der  lange  Zeit  sein  Sekretair  war,  und  viele 
seiner  Werke  ins  Lateinische  übersetzt  hat,  ferner  Petrus  Sereri- 
nns ,  ein  Däne,  der  am  Meisten  dazu  gethan  hat,  dass  seine  Lehre 
systematisch  geordnet  und  dem  Publicum  zugänglich  ward,  dann 
die  Doctoren  Ursinm.  Pancralins  und  der  Magister  linpl/dcl. 
Van  llehnont  dankt  ihm  zwar  viel,  geht  aber  seinen  eignen  Weg. 
Er  sowol  als  die  Uebrigen  eigneten  sich  übrigens  nur  das  an,  was 
von  praktischem  Werth  für  die  Medicin  war,  die  philosophische 
Begründung  haben  sie  mehr  bei  Seite  gelassen. 

§.  242. 
C  a  r  d  a  n  u  s. 

1.  Hieronymus  Cardamis,  ein  ausserhalb  seiner  Vaterstadt  im 
J.  1500  geborner  vornehmer  Mailänder,  schon  im  Kindesalter  zu 
Hallucinatiouen  und  Visionen  geneigt,  besuchte  nach  einem  viel- 
seitigen, von  der  gewöhnlichen  Methode  abweichenden  Unterrichte, 
den  ihm  der  Vater  ertheilte.  vom  19.  Jahre  an  die  Universitäten 


II.  Die  Weltweisen      B.  Nntiirphilosophen      Cardauus.     §.   242,  1    V.        527 

Pavia  imd  Padua  und  las  dann  auf  der  letzteren  über  den  EulUd, 
später  auch  über  Dialektik  und  Philosophie.  Im  J.  1525  Doctor 
der  Medicin  geworden,  lebte  er  sechs  Jahre  als  praktischer  Arzt 
in  Sacco ,  dann  in  Gallarate ,  zuerst  mit  Sorgen  um  den  Unterhalt 
seiner  Familie  kämpfend,  später  derselben  ledig.  Endlich  im  J. 
1634  ward  sein  Lieblingswunsch,  in  der  Vaterstadt  zu  leben  und 
zu  lehren,  erfüllt;  ehe  er  aber  sein  Amt  definitiv  antrat,  vergingen 
Jahre,  die  er  in  Pavia  lehrend  verbrachte.  Später  lehnte  er  man- 
chen vortheilhaften  Ruf  ab  und  blieb,  Reisen  ausgenommen,  zu 
welchen  der  weltberühmte  Arzt  aufgefordert  ward,  seiner  Vater- 
stadt bis  zum  J.  1559  getreu.  Dann  lebt  er  wieder  sieben  Jahre 
in  Pavia,  von  wo  ihn  die,  wie  er  meint,  ungerechte  Hinrichtung 
seines  Sohnes  nach  Bologna  trieb.  Hier  ward  er  selbst  eingeker- 
kert, und  ging  nach  bald  erfolgter  Freisprechung  im  J.  1571  nach 
Rom,  wo  er  1576  gestorben  ist.  Bis  zum  Anfange  der  Dreissiger 
hat  er  gar  nicht,  dann  aber  sehr  viel  geschrieben.  Ein  genaues 
Register  seiner  Schriften  hat  er  selbst  in  mehreren  Aufsätzen  de 
libris  propriis  nachgelassen,  an  seiner  Selbstbiographie  de  vita 
propria  noch  ganz  kurz  vor  seinem  Tode  geschrieben.  Von  philo- 
sophischen Werken  sind  am  Bekanntesten :  das  im  J.  1552  vollen- 
dete de  subtilitate  Libb.  XXI,  von  welchem  er  drei  verschiedene 
Drucke  erlebt,  und  das  er  dann  zum  vierten  noch  umgearbeitet 
hat,  ferner:  de  varietate  rerum  Libb.  XVII,  welches  15.56  vollen- 
det ward ,  und  Manches ,  was  in  der  ersten  Schrift  sehr  allgemein 
gehalten  ist,  specieller  durchführt.  Als  sein  schwierigstes  und 
bedeutendstes  Werk  l>ezeichnet  er  selbst  die  Arcana  aeternitatis, 
die  aber,  darnach  zu  urtheilen,  dass  der  Herausgeber  der  sämmt- 
lichen  Werke  sie  nach  einem  Ms.  gibt,  zu  Cardun's  Lebzeiten 
nicht  gedruckt  sind.  Die  Sammlung  seiner  Werke  erschien  unter 
dem  Titel:  Hieronymi  Cardani  Mediolanensis  philosopbi  et  medici 
celeberrimi  Opera  omnia  cura  Caroli  Sponii  in  decem  tomos  di- 
gesta  Lugduni  sumptibus  Jo.  Ant.  Huguetan  et  M.  Ant.  Ravaud 
1663.  10  Voll.  Fol.  Sie  wimmelt  leider  von  Druckfehlern,  die  den 
Sinn  entstellen  und  oft  ganz  verderben.  Die  ersten  drei  und  der 
zehnte  Band  enthalten  die  philosophischen,  der  vierte  die  mathe- 
matischen, die  übrigen  die  medicinischen  Schriften. 

2.  Die  zwischen  Cardamis  und  Paravelsus  Statt  findende 
üebereinstimnumg  darf  nicht  dazu  bringen ,  hier  Entlehnungen  an- 
zunehmen. Qndunus  scheint  keine  Notiz  davon  zu  haben,  was 
der  Andere  gelehrt  hatte.  Die  gleichen  Resultate  bei-  beiden  er- 
klärten sich  durch  die  Zeit,  in  der  beide  leben,  durch  den  glei- 
chen Beruf  und   zum  Theil   auch  durch  die  Verwandtschaft  ilu-er 


528  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Charaktere,  die  Unterschiede  wieder  aus  der  verschiedenen  Natio- 
nalität und  dem  verschiedenen  Gange,  den  ihre  Studien  genom- 
men hatten.  Dem  Paraceisus  ist  immer  die  Wahrnehmung  das 
Erste,  und  eben  so  die  Praxis,  an  die  sich  die  Theorie  erst  an- 
schliessen  soll,  darum  lernt  er  erst,  und  wäre  es  auch  durch 
Bartscheerer  und  alte  Weiber,  was  heilsam  ist,  und  sieht  erst 
nachher  zu,  warum  es  hilft.  Darum  sind  ihm  die  Anstalten  so- 
wol  als  die  Männer  der  Theorie  ein  Gräuel ;  wie  über  Universitä- 
ten, so  spottet  er  über  Galen.  Anders  Cttrdanus ;  Universitäts- 
lehrer mit  Passion,  will  er  vor  Allem  rationelle  Behandlung,  und 
geht  mit  immer  neuer  Bewunderung  zu  Aricenna  und  Galen  in 
die  Schule.  Er  rühmt  sich  nicht  nur,  wie  Par<tcclsiis ,  seiner 
glücklichen  Erfolge,  sondern  auch  dessen,  dass  er  kein  roher  Em- 
piriker sey;  Avie  jener  auf  Reisen,  hat  dieser  in  Bibliotheken  sich 
zum  Arzt  gebildet;  es  hängt  damit  zusammen,  dass  Paracclsns 
gerade  in  der  Hülfswissenschaft  der  Medicin  alle  Zeitgenossen 
übertrifft,  die  (namentlich  damals)  nur  aus  vereinzelten  aber  selbst- 
gemachten Wahrnehmungen  besteht,  der  Chemie,  während  Cav- 
danns  sich  als  Mathematiker  so  ausgezeichnet  hat,  dass  die  dank- 
bare Nachwelt  die  bekannte  Formel  nach  ihm  benannt  hat,  ob- 
gleich in  ihrer  heutigen  Gestalt  sie  nicht  von  ihm  stammt.  Wenn 
schon  dies  Alles  den,  so  oft  als  Phantasten  verschrieenen,  Car- 
danns dem  Andern  gegenüber  als  nüchternen  Rationalisten  er- 
scheinen lässt,  so  macht  diesen  selben  Eindruck  ihr  Verhältniss 
zur  Religion.  Einverstanden  darin,  dass  philosophische  und  theo- 
logische Betrachtung  auseinander  zu  halten  seyen,  machen  sie  doch 
in  sehr  verschiedenem  Grade  mit  dieser  Trennung  Ernst.  Pctra- 
eelsiis,  der  sich  von  der  römischen  Kirche  durch  seinen  mysti- 
schen Subjectivismus  sehr  entfernt  und  oft  ganz  nahe  an  die  Lu- 
therische Formel  sola  jide  heranstreift,  kann  von  der  Religion, 
weil  sie  ihm  Sache  des  Herzens  und  der  Gesinnung  ist,  nie  ganz 
abstrahiren,  und  darum  hat  nicht  nur  seine  Theologie,  sondern 
auch  seine  Philosophie  eine  mystische  Farbe.  Anders  bei  Carda- 
nns. Er  ist  so  sehr  ein  Anhänger  des  römischen  Katholicismus, 
dass  einer  der  Gründe,  den  glänzenden  Ruf  nach  Dänemark  aus- 
zuschlagen, der  dort  herrschende  Cultus  ist.  Dieser  aber,  über- 
haupt die  kirchliche  Praxis,  das  Nichtantasten  der  kirchlichen 
Dogmen  mit  einbegriffen ,  das  ist  ihm  die  Hauptsache.  Ohne  Un- 
terwerfung unter  die  Autorität  ist  ihm  keine  Religion  noch  Kirche 
denkbar.  Lieber  gar  keine,  sagt  er,  als  eine,  die  nicht  geachtet 
wird  (Polit.  WW.  X,  p.  66.  67).  Da  nun  die  Philosophie  es  le- 
diglich mit  dem  Wissen,  der  Theorie,  zu  thun  hat,   so  kann  sie 


n.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Cardanus.     §.  242,  '^.  3.        529 

uie  dahin  briilgen,  die  Kirche,  dieses  praktische  Institut,  anzugrei- 
fen ,  und  er  fordert  für  sie  die  grösste  Freiheit.  Nur  für  die  ^Yis- 
senden.  Der  Laie,  d.  h.  der  Idiot,  welcher  im  praktischen  Leben 
versirt ,  kann  natürlich  auf  dieses  Privilegium  nicht  Anspruch  ma- 
chen, diesen  sollen  die  strengsten  Strafen  von  jeder  Verletzung 
der  kirchlichen  Praxis  zui'ückschrecken ,  und  damit  die  Grenze 
zwischen  ihm  und  den  AVissenden  uie  verrückt  werde ,  soll  es  ver- 
boten seyn,  wissenschaftliche  P'ragen  in  der  Muttersprache  zu  er- 
örtern (De  arcan.  aet.  WW.  X,  p.  35).  Dem  Volke  soll  es  unter- 
sagt seyn  über  religiöse  Gegenstände  zu  streiten,  ja  es  soll  von 
allem  Wissen  fern  gehalten  werden,  nam  ex  lils  tumi/llns  orinx- 
tnr  (Polit.  WW.  X,  p.  67.  66).  Dieser  wissenschaftliche  Aristo- 
kratismus bildet  gleichfalls  einen  Gegensatz  zu  dem  zur  Schau 
getragenen  Plebejerthum  des  Parncelsiis. 

3.  Ganz  wie  dem  Parace/sus,  so  steht  auch  dem  Cardanus  dies 
fest,  dass  alles  Existirende  ein  zusammenhängendes  Ganzes  sey,  in 
dem  Alles  durch  Sympathie  und  Antipathie,  d.  h.  Anziehung  des 
Gleichen  und  Abstossung  des  ungleichen  ohne  sichtbaren  Grund  (de 
uno  WW.  I,  p.  278.  de  subtil.  WW.  III,  p  .557.  632),  verbunden  ist. 
Der  Grund  dieser  Einheit,  die  inniger  ist  als  die  in  einem  Menschen, 
ist  die,  nicht  an  einem  Orte,  sondern  überall  oder  nirgends,  woh- 
nende Seele  des  Alls,  und  es  war  eine  Thorheit,  wenn  ArhUdelcs 
eine  solche  leugnete  und  nur  ein  Analogon  davon ,  eine  Natur,  im 
All  statuirte  (u.  A.  de  nat.  WW.  II,  p.  285  ff).  Das  Vehikel  oder 
die  Erscheinungsform  der  uiibna  mnndi  ist  die  Wärme,  die  eben 
deswegen  selbst  oft  Seele  des  Alls  genannt  wird  de  subtil.  WW. 
III,  p.  388).  Auch  mit  dem  Lichte  wird  sie  identificirt,  da  Licht 
und  Wärme  dasselbe  sind  (Ebend.  p.  418).  Diesem  activen  und 
himmlischen  Principe  steht  nun  gegenüber  als  das  passive  Princip 
die  Materie,  die  hyle  oder  die  Elemente,  deren  Grundeigenschaft 
die  Feuchtigkeit  ist  (Ebend.  p.  359.  375).  Die  peripatetische  Ab- 
leitung verwirft  Girdau  theils  aus  dem  Grunde,  dass  Eigenschaf- 
ten der  Substrate  bedürfen,  theils  weil  Kalt  und  Trocken  blosse 
Privationeu,  Abwesenheiten,  sind  (u.  A.  Ebend.  p.  374),  Durch 
das  Zusammentreten  des  Activen  (animn .  caior,  forma  u.  s.  w.) 
und  des  Passiven  (lyle,  hvmidinu,  miifprui  u.  s.  f.)  entstehen  alle 
Dinge.  Wer  anstatt  dessen  sagt,  Alles  entstehe  weil  es  Gott  so 
behebt,  vemnehrt  Gott ,  weil  er  ihn  ohne  Grund  handeln  und  weil 
er  ihn  um  das  Kleinste  sich  kümmern  lässt  (Ebend.  p.  388.  404. 
de  rer.  var.  WW.  II,  p.  33).  Innerhalb  des  Feuchten  unterschei- 
den sich  nun  die  drei  Elemente  Erde,  Wasser,  Luft;  das  Factum, 
dass  das  Feuer  der  Nahrung  bedarf,  beweist  allein  schon,   dass 

Erdjiiiiuu,  üesch.  d.  I'lul.  1  ßA 


530  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

es  kein  Element  seyn  kann.  Als  Gegensatz  zum  Warmen  sind 
natürlich  die  Elemente  unendlich  kalt,  dagegen  sind,  da  die  Seele 
alle  Mischung  bewirkt,  die  mlsid  mehr  oder  minder  warm  oder 
beseelt.  Es  gibt  nichts  absolut  Unbelebtes  (de  subtil.  WW.  III, 
p.  374.  375.  439 ).  Dies  gilt  schon  von  den  unvollkommensten 
Mischungen,  den  Mineralien  (MpliiUicft)  und  Metallen  (Ebend.  Lib. 
V  u.  VI),  mehr  noch  von  den  Pflanzen  (Lib.  VII),  die  schon  Liebe 
und  Hass  zeigen,  noch  mehr  von  den  unvollkommneren,  aus  Faul- 
niss ,  und  den  vollkommneren  durch  Zeugung  entstehenden  Thieren 
(Lib.  IX  u.  X),  am  allermeisten  vom  Menschen  (Lib.  XI— XVIII). 
Dieser  darf  eben  so  wenig  zu  den  Tliieren  gerechnet  werden,  wie 
ein  Thier  zu  den  Pflanzen.  Schon  von  seiner  leibhchen  Seite  ist 
er  durch  seinen  aufrechten  Gang  und  den,  damit  sogleich  gegeb- 
nen, Besitz  wirklicher  Hände,  so  wie  durch  Sprachbegabung  von 
allen  Thieren  unterschieden.  Dazu  kommt  aber  zweitens,  dass 
die  Seele  des  Menschen  durch  ihren  Verstand  (im/cnhnit)  die  der 
Thiere  so  weit  übertrifft,  dass  er  alle  zu  überlisten  vermag  und 
er  darum  als  das  aiiunnl  jallox  bezeichnet  werden  kann  (u.  A. 
Politic.  WW.  X,  p.  57).  Nur  in  seiner  untersten  Classe,  dem  ge- 
viis  beUuiniüH,  besteht  das  Menschengeschlecht  aus  Solchen  qni 
(fc(ip'uint)/r ,  in  der  höheren,  dem  yeinis  hvnnmiim,  aus  Solchen, 
die  betrügen,  aber  nicht  betrogen  werden.  Zwischen  beiden  in 
der  Mitte  stehn  die,  welche  (Jcriplmtf  ei  ileviphnitiir  (de  subt. 
WW.  III,  p.  550 — 553).  Weder  im  Körperlichen  noch  im  Seeli- 
schen geht  übrigens  dem  Menschen  Etwas  ab,  was  Pflanzen  oder 
Tliiere  besitzen,  den  Muth  des  Löwen,  des  Hasen  Geschwindig- 
keit besitzt  er  auch,  kurz  er  ist  nicht  ein  Thier,  wohl  aber  alle 
Thiere.  Endlich  aber  ist  er  noch  mehr,  indem  zum  Leibe  und  der 
Seele  als  Drittes  die  unsterbliche  nn'vs  hinzutritt,  die  durch  ihr 
Vehikel,  den  .vp/r////.«  (Lebensgeist),  mit  dem  beseelten  Leibe  ver- 
bunden ist  (de  rer.  variet.  WW.  III,  p.  156).  Kur  vermöge  dieses 
vermag  die  lucns  den  Leib  zu  regieren,  da  Körperhches  bloss 
durch  Körperliches  in  Bewegung  gesetzt  werden  kann  (Ebend.  p. 
330».  Solcher  mciifcs  hat  Gott  eine,  für  immer  bestimmte,  Zahl 
geschaffen,  und  daher  verbindet  Cdnlanns  seine  Unsterblichkeits- 
lehre mit  der  von  einer  Seelenvvanderung,  die  einmal  mit  dem 
Gesetz  der  i)eriodischen  Rückkehr  aller  Dinge,  andrerseits  aber 
mit  der  Gerechtigkeit  Gottes  sehr  gut  stimmt,  indem  jetzt  Keiner 
bloss  Nachkonmie  und  Erbe  der  Früheren  ist,  sondern  Jeder  auch 
das  Umgekehrte  (u.  A.  Paralip.  Lib.  IL  WW.  X,  p.  445).  Indem 
diese  drei  in  dem  Menschen  verbunden  sind,  und  zwar  so  enge, 
dass  er  oft  sich  f.ir  nur  Eines  ansieht  und  dem  Ganzen  zuschreibt 


n.  Die  "Weltweisen,     ß.  Naturphilosophen.     Cardanus.     §.  242,  3.  Ool 

was  nur  einem  Tlieile  zukommt,  ist  der  Mensch  durch  Leib  und 
Seele  den  Elementen  und  dem  Himmel,  durch  die  mens  aber  Gott 
gleich ,  herrscht  er  über  das  Thier  in  sich ,  dem  er  nur  unterliegt, 
wenn  er  sich  von  ihm  erbitten  liess  (de  subt.  WW.  III,  p.  5.')7. 
Lib,  Paralip.  13.  WW.  X,  p.  541).  Da  die  Function  der  i/ieiis  das 
Wissen  ist,  welches  den  Menschen  unsterblich  macht,  so  steht 
über  den  oben  erwähnten  Classen  von  Menschen  das  (/enus  rltrl- 
niim ,  welches  ans  Solchen  besteht,  die  ncc  di'cipiuitl  nee  deriinmi- 
tnr  (de  subt.  WW.  III,  p.  539.  550).  Diese,  die  in  Gott  Entbrann- 
ten, die  durch  den  Glauben  gerade  so  erquickt  werden,  wie  die 
müden  Lebensgeister  durch  den  Schlaf,  sind  allerdings  sehr  sel- 
ten (de  rer.  var.  WW.  III,  p.  159  ff.;.  Ihr  Wissen,  snpienfln,  ist 
von  dem  der  übrigen  Menschen,  der  periflti ,  wesentlich  verschie- 
den. Die  letztere,  die  zu  ihrem  Organ  die,  von  der  Materie  nie 
freie,  ra/io  hat,  die  ist  es,  um  welcher  willen  die  berühmten 
Scholastiker  Vincent  von  heainaiSi  Seofns,  Ocrnm  u.  A.  geprie- 
sen werden,  die  doch  von  der  wahren  Weisheit  sehr  fern  sind. 
P'reilich  noch  lächerlicher  ist  es ,  wenn  man  wie  /»///yy/.  Lii/i/'s  alle 
Wissenschaften  lehren  will  ohne  sie  zu  kennen  (Paralip.  WW.  X, 
p.  542.  5G2.  588j.  Eben  so  strenge  wie  Lii/f ,  wird  Atp/ftp/i  ron 
ISeltesIteim  beurtheilt  (de  subt.  WW.  III,  p.  629).  Der  wahren 
Weisheit  wird  nun  ausser  der  Vertiefung  in  Gott  von  Ct  nhnnis 
auch  die  mathematische  Erkenntniss,  namentlich  die,  welche  die 
Natur  der  Zahlen  betrifft,  zugeschrieben,  und  die  Verschmelzung 
der  Theologie  mit  der  Zahlenlehre  war  gewiss  einer  der  Gründe, 
warum  er  den  Niraidiis  ron  Ciisa  so  weit  über  alle  seine  Zeitge- 
nossen, ja  über  alle  Menschen  setzt,  obgleich  er  zugibt,  dass  des- 
sen Quadratur  des  Kreis.'S  ein  von  Htyiomoniinnts  widerlegter 
Irrthum  sey  (Exaeret.  math.  WW.  IV,  p.  406— 462.  de  subt.  WW. 
III,  p.  602).  Nächst  diesem  rühmt  er  besonders  den  Jf».  Snisset 
(C(ihiitalor).  Die  Wiederkehr  gewisser  Zahlen  in  den  Bewegun- 
gen der  Sterne,  soll  ein  Beweis  seyn,  dass  Gott  selbst  dem  Ge- 
setz der  Zahlen  seine  W^erke  unterworfen  hat.  Mit  allen  seinen 
Zeitgenossen  nimmt  CardonKs  das  Daseyn  geistiger  Wesen  ausser 
dem  Menschen  an.  Den  Dämonen  wird  die  Luft,  den  reinen  In- 
telligenzen (pr'uuue  snbshiniaie)  werden  die  von  ihnen  beseelten 
unsterblichen  Gestirne  zum  Wohnsitz  angewiesen  (de  subt.  p.  655. 
661).  Aber  auch  hier  zeigt  er  seinen  klaren  Verstand,  indem  er 
von  einer,  nicht  an  die  Naturgesetze  gebundenen,  Wirksamkeit 
der  Dämonen  nichts  wissen  will  (de  rer.  var.  WW.  III,  p.  332), 
und  die  Freiheit  des  Willens  auch  gegen  die  JMacht  der  Gestirne 
in  Schutz  nimmt. 

34* 


532  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

4.  Obgleich  der  Mensch  nicht,  wie  die  Thiere,  ein  blosses 
Glied  der  Gattung  ist,  sondern  ein  Ganzes  für  sich,  so  genügt 
er  sich  doch  nicht,  sondern  wie  die  in  Heerden  lebenden  Thiere 
ist  auch  er,  namentlich  durch  seine  Hülflosigkeit ,  zum  Leben  in 
der  Gemeinschaft  bestimmt,  in  der  er  zum  glücklichsten,  freilich 
auch,  wenn  sie  schlecht  eingerichtet  ist,  zum  elendesten  Wesen 
wird  (Polit.  WW.  X,  p.  50).  Diese  Gemeinschaft,  den  Staat,  be- 
trachtet Cdvdduvs  in  seiner ,  leider  Fragment  gebliebenen ,  Politik. 
Mit  Hohn  spricht  er  darin  von  Plaio's,  ziemlich  nichtachtend  von 
Arhtoicics'  Arbeiten  und  bedauert ,  dass  man ,  um  die  Regierungs- 
kunst, diese  Schwester  der  höchsten  Weisheit  (de  arcan.  aet.  WW. 
X,  p.  102),  zu  lernen,  nicht  anstatt  jener  beiden  Philosophen  die 
beiden  Piepubliken  genauer  studire,  welche  uns  Muster  darbieten: 
das  alte  Rom  und  das  moderne  Venedig ,  das  nur  durch  seinen  Geiz 
verhindert  sey,  wie  jenes,  die  halbe  Welt  zu  beherrschen  (Ebendas. 
p.  29.  Polit.  p.  52).  Als  Hauptfehler  bei  allen  Untersuchungen  ta- 
delt Cardnnus,  dass  der  Unterschied  der  Völker,  dass  ferner  bei 
einem  und  demselben  Volk  der  Unterschied  seiner  Lebensalter, 
endlich  dass  der  Unterschied  gesunder  und  kranker  Zeiten  unbe- 
rücksichtigt bleibe  (Polit.  p.  53).  Der  mit  allen  thierischen  Trie- 
ben ,  dabei  aber  mit  List  (jaUucui)  und  Verstand  (ivgcnium)  aus- 
gestattete Mensch  kann  nur  in  ganz  kleinen  Gemeinschaften  ohne 
Gesetze  leben;  in  grösseren  sind  sie  ihm  unentbehrlich.  (Die  an- 
gekündigte Untersuchung  darüber,  wann  und  wo  die  ersten  Ge- 
setze entstanden  seyen ,  fehlt  in  dem  Fragmente  der  Politik.)  Ver- 
bindlichkeit haben  Gesetze  nur,  wenn  sie  mit  Religion  und  Philo- 
sophie übereinstimmen,  was  beides  den  Longobardischen  und  Sa- 
lischen  Gesetzen  abgehen  soll.  Tyrannische  Gesetze  darf  man 
brechen,  Tyrannen  morden,  gerade  wie  man  Krankheiten,  die  ja 
auch  von  Gott  zugelassen  oder  angeordnet  sind,  doch  vertreibt. 
Trotz  aller  Uebelstände,  welche  die  Ehe,  sowol  wo  Scheidung 
möglich  als  wo  sie  unmöglich  ist ,  mit  sich  führt ,  ist  sie  doch  für 
den  Staat  noth wendig.  Darum  soll,  bei  Strafe,  Jeder  heirathen 
und  die  strengsten  Gesetze  die  Heiligkeit  der  Ehe  schützen.  Noch 
wichtiger  ist  für  den  Staat  die  Religion,  deren  Bedeutung  Mac- 
clnnveHi.  den  Cardnnus  überhaupt  oft  tadelt  (s.  u.  A.  de  arcan. 
aet.  WW.  X,  p.  29),  ganz  verkannt  haben  soll.  Heer,  Rehgion 
und  Wissenschaft  werden  als  die  wichtigsten  Stücke  im  Staate 
bezeichnet,  dabei  aber  die  ReUgion  nur  als  Stütze  des  Staats  be- 
trachtet. Da  der  Staat  nur  als  Einheit  stark  ist,  so  darf  geist- 
liche und  weltliche  Macht  nicht  getrennt  werden;  der  Staat  soll 
darüber  w^achen,   dass  die  Dogmen  von  Gott  und  einstiger  Ver- 


11.  Die  Weltweiseu.     B.  Naturphilosoiihen      Telesius.     §.  243,  1.  7.        533 

geltuiig,  welche  den  Bürger  zur  Treue,  den  Soldaten  zur  Tapfer- 
keit bringen,  unerschüttert  bleiben,  dass  die  kirchlichen  Handlun- 
gen feierlich  und  ernst  vollzogen  werden.  Drakonische  Strenge 
zeichnet  dabei  den  Staat  aus,  dessen  Grundriss  Cardamis  in  sei- 
nem Fragment  und  auch  sonst,  entwirft.  Die  Frage,  ob  Verbre- 
cher zu,  der  Wissenschaft  förderlichen,  Vivisectionen  zu  verur- 
theilen  seyen,  wird  nicht  unbedingt  von  ihm  verneint.  Seinem 
Wahlspruch:  Veritas  omnibus  aiiiepoiiendd  nefjiie  Impiiim  diixe- 
rim  prnpter  illani  adver s(tri  legibus,  ist  er  stets  treu  geblieben, 
namentlich  wo  es  sich  um  die  Wissenschaft  handelt,  die  er  neben 
der  Mathematik  und  Regierungskunst  am  Höchsten,  ja  manchmal 
über  jene  beiden,  stellt,  die  Medicin  (de  subt.  WW.  HI,  p.  633). 

§.  243. 
Telesius. 

1.  Bernardlnvs  Telesius,  im  J.  1508  in  Consenza  im  Neapo- 
litanischen geboren,  zuerst  von  seinem  Oheim  unterrichtet,  dann 
in  Rom,  seit  1528  in  Padua,  in  Philosophie  und  Mathematik 'ge- 
bildet, begab  sich,  nachdem  er  1535  Doctor  geworden  war,  nach 
Rom,  wo  er  sich  ganz  auf  naturwissenschaftliche  Studien  warf, 
die  ihn  immer  mehr  zu  einem  Gegner  des  Aristoteles  machten. 
Häusliche  Verhältnisse  unterbrachen  diese  Beschäftigung,  zu  der 
er  nach  Jahren  mit  verdoppeltem  Eifer  zurückkehrte,  und  deren 
Früchte  er  in  seiner  Schrift  de  natura  rerum  juxta  propria  prin- 
cipia  im  J.  1565  der  Welt  vorlegte,  zuerst  in  zwei,  in  der  dritten 
Auflage  aber,  die  kurz  vor  seinem  Tode,  im  J.  1596,  erschien,  in 
neun  Büchern,  von  denen  die  vier  ersten  das  frühere  Werk,  die 
fünf  übrigen  hinzugekommen  sind.  Gleich  nach  dem  ersten  Er- 
scheinen dieser  Schrift  ward  er  nach  Xeapel  gerufen,  wo  er,  theils 
als  Lehrer,  theils  als  Gründer  und  Haupt  einer  gelehrten  (der 
Consentinischen)  Gesellschaft  bis  in  sein  achtzigstes  Jahr  thätig 
blieb.  Im  J.  1588  ist  er  in  seiner  Vaterstadt  gestorben.  Ausser 
dem  erwähnten  Werke,  dessen  zweite  unveränderte  Auflage  in 
Neapel  1570  in  4'',  und  das  in  neun  Büchern  1586  in  Neapel  apud 
Horatium  Salvianum  in  Fol.  erschien,  sind  nach  seinem  Tode  von 
seinem  Freunde  Ant.  Pcrsius  herausgegeben :  Varii  de  naturalibus 
rebus  libelli  Venet.  ap.  Fei.  Valgrisium  1590  Fol.,  worunter  sich 
auch  die  gegen  Galen  gerichtete  Schrift  über  die  Seele  findet,  wie- 
gen der  seine  Werke  später  in  den  Index  gekommen  sind.  Aus- 
serdem Abhandlungen  über  Cometen ,  Lufterscheinungen ,  Regen- 
bogen, das  Meer,  das  Athmen,  die  Farben  und  den  Schlaf. 

2.  Obgleich  Telesius  den  Cardanus  nie  erwähnt,  und  es  also 


534  Mittelalterliche  Philosophie      Dritte  Periode  (Uebergang). 

nicht  durch  seine  eigne  Erklärung  bewiesen  werden  kann,  dass 
er  von  ihm  angeregt  wurde,  so  darf  seine  Lehre  doch  als  ein 
Fortschritt  der  des  Anderen  bezeichnet  werden.  Wie  Jener,  so 
spricht  auch  er  es  aus ,  dass  er  nur  aut  Wahrnehmungen  sich  ver- 
lassen ,  nur  der  stets  sich  gleich  bleibenden  Natur  nachgehen  wolle 
(de  rer.  iiat.  Lib.  I  prooem.),  um  zu  erzählen  wie  sie  wirkt,  und 
dann  zu  zeigen  wie  alle  Erscheinungen  am  Einfachsten  erklart 
werden  können.  Erst  in  der  letzten  Ausgabe  seines  Werks  hat 
er  hinzugefügt:  Alles  was  der  katholischen  Lehre  widerspreche, 
nehme  er,  v^eil  gegen  sie  auch  .sfv.sirs  H  ralln  zurückstehen  müs- 
sen, zurück.  Durch  diese,  ohne  Zweifel  ehrlich  gemeinte,  Erklä- 
rung hat  er  sich  mit  der  Theologie  abgefunden,  kaum  dass  er 
weiterliin  der  theologischen  Ansichten  nur  erwähnt.  Erscheint  da- 
rum die  Philosophie  bei  ihm  als  reine,  nicht  mehr  wie  bei  Para- 
cr.'sifs  als  religiös -mystische,  Weltweisheit,  so  unterscheidet  er 
sich  vom  Canlnvns  dadurch,  dr.ss  er  viel  weniger  aus  Büchern 
als  aus  eignen  Beobachtungen,  oder,  wenn  aus  jenen,  doch  mit 
mehr  Besonnenheit,  geschöpft  hat.  Daher  lange  nicht  solche  Phan- 
tastereien wie  dort:  an  die  Stelle  geheimnissvoller  Antipathien  und 
Sympathien  tnten  hier  einige  wenige,  an  unveränderliche  Gesetze 
gebundene,  Naturkrafte.  Durch  eine  solche  Betrachtung  der  Welt 
glaubt  Tfirsirs  Gott  mehr  zu  ehren,  als  wenn  er,  wie  die  Peri- 
patetiker  mit  Gott  gleichsam  wetteifernd ,  anstatt  der  von  Ihm  ge- 
schaffenen Welt  eine  selbst  ersonnene  construiren  wollte.  Eben 
so  ist  die  Reduction  auf  sehr  wenige  einfache  Principien  anstatt 
der  complicirten  Annahmen  der  Peripatetiker,  Nichts  was  der  Ehre 
Gottes  Abbruch  thut.  Ist  Gott  alhnächtig,  so  kann  er  auch  ge- 
wissen von  ihm  erschatfenen  Principien  die  Kraft  geben ,  ohne  sein 
weiteres  Eingieifen,  das  Uebrige  zu  thun.  Diese  von  ihm  aufge- 
stellten Principien  allein,  nicht  die  durch  das  ganze  W^erk  gehende 
Bekämpfung  der  Aristotehker,  liat  die  Darstellung  zu  beachten. 
3.  Die  erste  Thatsache,  die  Jedem  aufstösst,  und  die  auch 
von  der  h.  Schrift  als  sogleich  mit  der  Schöpfung  gegeben  aner- 
kannt wird,  ist  der  Gegensatz  des  Himmels  mit  seinen  Wärme 
ausstrahlenden  Gestirnen  und  der  von  ihm  umkreisten  Erde,  die, 
wie  Jeder  nach  Sonnenuntergang  wahrnimmt,  Kälte  ausstrahlt. 
Eine  weitere  Thatsache  ist,  dass,  von  der  Sonne  angeregt,  die 
Erde  allerlei  Wesen  hervorbringt.  Wenn  die  Peripatetiker  rlurch 
ihren  aus  der  Bewegung  abgeleiteten  Doppelgegensatz  des  Kalten 
und  Warmen,  Trocknen  und  Feucliten,  Alles  zu  erklären  versu- 
chen ,  so  machen  sie  erstlich  das  Abzuleitende  zum  Ersten ,  häufen 
zweitens  ganz  unnütz  die  Annahmen,  und  können  drittens  nicht 


II.  Die  Weltweiseii.     B    Naturphilosophen.     Telesius.     §.  243,  3.  4.        535 

einmal  die  Tliatsachen  erklären.  Dem  Allen  entgeht  man,  wenn 
als  die  zuerst  (eigentlich  allein  wirklich)  geschaffenen  Principien 
der  Dinge  drei  angenommen  werden :  die  passive  ganz  eigenschafts- 
lose körperliche  Masse,  und  die  beiden  activen  auf  sie  einwirken- 
den Principien  Kälte  und  Wärme,  die,  weil  sie  sich  selbst  zu  er- 
halten suchen,  einander  aber  hassen,  auch  unkörperlich  sind,  Gei- 
ster (spliitii.s)  genannt  werden  können.  Die  Wärme  ist  das  Princip 
der  Bewegung,  und  nicht  ihre  Folge;  durch  sie  wird  Alles  aufge- 
lockert, verdünnt  und  also  ausgedehnt.  Zu  ihrer  Erscheinungs- 
form hat  sie  das,  überall  mit  Wärme  begleitete,  ja  fast  mit  ihr 
zusammenfallende  Licht.  Ihr  entgegengesetzt  ist  die  Kälte,  das 
Princip  der  Erstarrung  und  Bewegiingslosigkeit ,  die ,  Eins  mit  dem 
Dunkel  oder  der  Schwärze ,  darauf  ausgeht  Alles  zusammenzuziehn 
und  zu  verdichten.  Durch  die  weise  Einrichtung,  dass  der  käl- 
teste Theil  der  Masse  in  den  Mittelpunkt  gesetzt,  der  wärmste 
um  ihn  herumgelegt  ward,  und  nun,  da  Wärme  bewegt,  sich  um 
jenen  herumbewegt,  ist  dies  erreicht,  dass  in  dem  Kampfe  beider 
Principien  nie  das  Eine  vernichtet,  ja  im  Ganzen  genommen  nicht 
einmal  vermindert  wird.  In  dem  Umgebenden,  dem  Himmel,  con- 
centrirt  sich  nun  Licht  und  Wärme  am  Meisten  in  der  Sonne,  in 
geringerem  Grade  in  den  übrigen  Sternen.  Sie  alle  sind  feuriger 
Natur,  daher  ausserordentlich  dünn,  und  dienen  dazu  durch  Schmel- 
zen der  Erde  Wasser,  den  Schweiss  der  Erde,  hervorzubringen, 
wie  andrerseits  die  Luft  verdichtetes  oder  erkältetes  Himmelsfeuer 
ist.  Die  Einwendung ,  dass  die  Wärme  doch  oft ,  z.  B.  beim  Aus- 
trocknen, verdichte,  wird  sehr  einfach  und  siegreich  widerlegt, 
und  dann  gezeigt,  wie  mannigfaltig  sich  die  Erscheinungen  der 
Erwärmung  und  Erkältung  gestalten  müssen,  wenn  die  Structur 
der  Körper  keine  gleichartige  ist  u.  s.  w.  Da  Wärme  und  Licht 
(Weisse),  Kälte  und  Dunkel  (Schwärze)  zusammenfielen,  so  wird 
bei  der  Betrachtung  der  Mittelproducte  immer  auch  auf  die  Far- 
ben Rücksicht  genommen,  über  die  Telesius  einen  eignen  Tractat 
geschrieben  hat. 

4.  Das  bisher  Entwickelte  findet  sich  Alles  schon  in  der  er- 
sten Auflage,  also  in  der  dritten  in  den  ersten  vier  Büchern.  Mit 
dem  fünften  geht  Telesius  zu  den  Pflanzen  und  Thieren  über. 
Ein  aus  ganz  verschiedenartigen  Theilen  zusammengesetztes  Gan- 
zes kann  nur  durch  eine  Seele,  deren  Werkzeug  also  der  Leib 
ist,  zusammengehalten  werden.  Wenn  aber  die  Peripatetiker  diese 
Seele  zu  einer  immateriellen  Form  machen ,  so  verwickeln  sie  sich 
in  Schwierigkeiten,  denen  man  entgeht,  wenn  man  die  Seele  als 
eine  sehr  feine  Substanz  fasst ,  deren  Natur  in  der  Wärme  besteht, 


536  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

die  also  Princip  der  Bewegung  ist,  und  bei  Thieren  und  Menschen 
ihren  Sitz  im  Blut  und  in  den  Nerven,  darum  vor  Allem  im  Ge- 
hirne hat,  in  dessen  Ventrikel  sich  die  Ganzheit  (vnlrcrsitas)  die- 
ses feinen  spirihis  findet ,  und  wohin  er  sich  von  Zeit  zu  Zeit  ganz 
zurückzieht.      Er  entsteht  mit   der  Zeugung,    deren  Theorie  im 
sechsten  Buch  betrachtet  wird,   bethätigt  sich  in  den  Sinnen, 
welche  das   siebente  Buch  abhandelt,   in  welchem  auch  gezeigt 
wird,   wie  eine  Menge  von  Erscheinungen  im  lebendigen  Organis- 
mus durch  Contraction  und  Expansion   (z.  B.  der  Blutgefässe)  er- 
klärt werden  können.    (Wer,  bei  der  fast  wörthchen  Uebereinstim- 
mung   in   der  Beschreibung  der  Blutbewegung  zwischen  Tcleshis 
und  Cäsiilplv ,  der  Gebende,   wer  der  Entlehnende  gewesen,* ist 
schwer  zu   entscheiden.     Beide  streifen  ganz  nahe  an    IJurreifs 
epochemachende  Entdeckung.)     Die,   an    die  Wahrnehmung   sich 
anschliessenden,  übrigen  Functionen  des  Geistes  werden  im  ach- 
ten Buche  stets  auf  sie  zurückgeführt:   selbst  die  Geometrie  be- 
dürfe der  Erfahrung,  es  gebe  keinen  reinen  Verstand,   der  unab- 
hängig von  der  Wahrnehmung  u.  s.  w.     Denken  und  Urtheilen  als 
Wirkungen  der  empfindenden  Substanz   kommen  auch  dem  Thier 
zu.    Wie  aber  der  Geist  des  Menschen  feuriger  und  feiner  ist,  als 
der  des  Tliiers ,  so  übertrifft  an  Feuer  und  Feinheit  auch  ein  Men- 
schengeist den   anderen,   was  mit  Klima,  Lebensweise,  Nahrung 
u.  dgl.   zusammenhängt.     Dies  gilt  vom  Theoretischen   wie  vom 
Praktischen,  da  alles  Wollen  eine  Folge  des  Denkens,  indem  man 
nur  will  was  man  als  gut  erkennt.    Das  neunte  Buch,   welches 
die  Tugenden  und  Laster  betrachtet,   stellt  in  fortwährender  Po- 
lemik gegen  Aristoleles  als  höchstes  Gut  und  Ziel  alles  Handelns 
die  Selbsterhaltung  hin,   und  sucht  zu  zeigen,  dass  die  Haupttu- 
genden (Sapieitiin .  Solert'id .   ForlHtido,  Bevigniins)  nur  Bethäti- 
gungen   des  Triebes  sich  zu  erhalten  sind,  nur  darin  unterschie- 
den ,  dass  stets  verschiedene  Seiten  des  Selbsts  (sein  Wissen,  seine 
Bedürfnisse,    gefundner  Widerstand,   Verkehr  mit  Anderen)    ins 
Spiel  kommen. 

5.  Ganz  wie  PnrncelsKs  und  Cnrdaims  sieht  auch  Telesbrs 
in  dem  Menschen  ausser  dem  vollkommensten  Thier  ein  darüber 
Hinausgehendes.  Dazu  wird  er,  indem  zu  dem  belebten  Leibe 
die  von  Gott  geschaffene  unsterbliche  Seele  tritt;  diese  ist  wirk- 
lich eine  immaterielle  Form,  nicht  aber  nur  des  Leibes,  sondern 
seiner  und  des  Geistes,  so  dass  beide  ihr  Werkzeug  sind.  Ihr 
kommt  Gottähnlichkeit  und  Gotteserkenntniss  zu.  Ob  sonst  noch 
Etwas,  ist  schwer  zu  entscheiden,  da  Telesivs  nur  sehr  selten 
von    dieser   ,j,jorma  super addilu''   spricht,    und   da    Imngbiaiio, 


n.  Die  Weltweiseu.     B.  Natiirphilosophen,     Patritins.     §.  244,  1.  037 

Memnrhi,  RaUochudio ,  ja  die  Tugenden,  dem  spiritns  zugeschrie- 
ben ,  auch  den  Thieren  nicht  absohit  abgesprochen  wurden.  Viel- 
leicht war  ihm  das  Leben  der  unsterblichen  Seele  eben  nur  Glau- 
bensleben. 

§.  244. 
P  a  t  r  i  t  i  u  s. 
1.  Francesco  Patrizzi ,  im  J.  1529  zu  Clissa  in  Dalmatien 
geboren,  früh  sehr  gut  unterrichtet,  ward  schon  in  seinem  neun- 
ten Jahre  in  Verhältnisse  hineingezogen,  von  denen  er  später 
klagt,  dass  sie  nur  Anderen,  nicht  ihm,  am  Wenigsten  seiner 
wissenschaftlichen  Ausbildung  genützt  hätten.  Erst  im  J.  1546, 
wo  er  als  Begleiter  des  Zacf/mins  Macciiiyo  in  Venedig,  so  wie 
später  in  Padua,  Vorlesungen  über  Aristoteles  hörte,  beginnt  seine 
eigentliche  Studienzeit.  Schon  während  derselben  ward,  wenig- 
stens theilweis,  das  erste  Buch  seiner  Discussiones  Peripateticae 
geschrieben,  welches  Untersuchungen  über  das  Leben  und  die 
Schriften  des  Aristoteles  enthält.  Auch  eine  Rhetorik  hat  er  in 
dieser  Zeit  verfasst ,  die  aber  erst  später  ( Venet.  1562.  4.)  erschie- 
nen ist.  Eine  Reise  nach  Spanien,  auf  der  er  seine  mit  früh  er- 
wachtem Eifer  gesammelten  Bücher  einbüsste,  unterbrach  für  eine 
Zeit  lang  seine  Studien.  Zurückgekehrt  vollendete  er  den  ersten 
Theil  der  Disc.  Perip. ,  veröflfentlichte  ihn  aber  erst  im  J.  1571. 
Hin  und  her  geworfen  erhielt  er  endlich  eine  Professur  der  pla- 
tonischen Philosophie  in  Ferrara,  die  er  vom  J.  1576  bis  1590  be- 
kleidete. In  dieser  Zeit  vollendete  er  die  drei  übrigen  Bücher 
seiner  Disc.  Perip.,  in  welchen  sich  sein  Hass  gegen  den  Aristo- 
teles, den  er  in  Padua,  dem  Sitz  des  Averroistischen  Aristotelis- 
mus,  eingesogen,  dann  durch  Beschäftigung  mit  den  Neuplatoni- 
kern  und  manchen  Neuem,  z.  B.  Telesius.  genährt  hatte,  noch 
viel  mehr  ausspricht  als  im  ersten  Theil.  Das  Werk  erschien 
zuerst  in  Basel  (ad  Pernaeum  Lecythum  1581.  Fol.).  Bald  darauf 
gab  er  in  lateinischer  Uebersetzung  den  Commentar  deS  Jo.  Phl- 
lopovus  zu  Aristoteles'  Metaphysik,  und  gleichzeitig  in  italiäni- 
scher  Sprache  eine  Abhandlung  über  die  Kriegskunst  der  Alten 
heraus.  Auch  die  1586  erschienene  Poetik,  in  der  er  gegen  T. 
Tasso  polemisirt ,  ist  italiänisch  geschrieben ,  so  wie  sein  Versuch 
die  Methode  der  Geometrie  ganz  umzugestalten.  Endlich  wurde 
in  dieser  Zeit,  am  5.  Aug.  1589,  seine  Nova  de  universis  philo- 
sophia  vollendet,  deren  erste  Ausgabe  1591  in  Rom  erschienen 
seyn  soll.  Die  hier  benutzte  zeigt  auf  ihrem  Haupttitel  die  Firma: 
Venet.  excud.  Robertus  Meiettus  1593  (Fol.),  dagegen  auf  den  Titel- 


538  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

blättern  der  einzelnen  Äbtheilungen  liest  man:  Ferrariae  ex  typo- 
graphia  Benedicti  Mammorelli.  Dieselbe  enthält  ausserdem  die  Zo- 
roaster'schen  Orakelsprüche,  die  gesammelten  Schriften  des  Her- 
mes Trisnieghlns,  den  Aahlepins,  die  Mystica  Aegyptiorum,  und 
eine  Abhandlung  über  die  Reihenfolge  der  Platonischen  Dialoge. 
Ein,  wie  es  scheint,  sehr  lange  gehegter  Wunsch  des  Patriiiiis 
ging  durch  seine  Berufung  nach  Rom  in  Erfüllung.  Hier  wurde 
sein,  von  vielen  Späteren  ausgebeutetes  "Werk  Paralleli  militari 
verfasst,  das  aber  erst  nach  seinem,  am.  6.  Fbr.  1593  erfolgten, 
Tode  herauskam. 

2.  Die  dringende,  von  Pairiluis  an  Gregor  XIV  gerichtete, 
Bitte,  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  statt  des  Glaubensfeindes  .-^r/- 
slfjleles,  den  erst  seit  vierhundert  Jahren  die  Scholastiker  in  die 
Schulen  eingeschwärzt,  die,  schon  von  den  Kirchenvätern  geprie- 
senen Platoniker  gelesen  würden,  könnte  versuchen,  ihn  ganz  zu 
ISlursUiiis  und  Piro  zu  stellen.  Das  Werk  aber,  das,  obgleich 
es  viel  weniger  Wirkung  gehabt  hat  als  sein  kritisches,  doch  von 
ihm  selbst  als  sein  Hauptwei'k  angesehn  wurde,  die  Nova  philo- 
sophia,  beweist,  dass  er  ein  Mann  ist,  der  nicht  nur  an  der  Hand 
der  Alten,  sondern  unabhängig  von  ihnen  gleich  ihnen  zu  philo- 
sophiren  versucht  hat.  Weil  der  Gegenstand  der  Philosophie  das 
All  ist,  und  weil  in  der  Untersuchung  sich  zeigt,  dass  das  All 
der  Abglanz  eines  Urlichtes ,  dass  es  in  einem  Einzigen  begründet 
und  von  ihm  beherrscht,  dass  es  beseelt,  endlich  dass  es  eine  in 
sich  geschlossene  Ordnung  ist,  deswegen  gibt  der  für  das  Grie- 
chische begeisterte  Mann  den  vier  Tiieilen,  in  welchen  diese  vier 
Punkte  durchgeführt  werden,  die  Ueberschriften :  Panaugia,  Pa- 
narchia,  Pampsychia,  Pancosmia. 

3.  In  den  zehn  Büchern  des  ersten  Theils  (Fol.  1 — 23),  dem 
er  den,  dem  Piilo  abgeborgten,  Namen  Panaugia  gibt,  den  er 
selbst  mit  onntifnrenfia  übersetzt,  entwickelt  er  seine  Theorie  des 
Lichts.  Wie  Telesvis,  so  stellt  auch  er  demselben  die  Finsterniss 
nicht  als  Abwesenheit,  sondern  als  contrarutm  positintm  von  prt- 
vdilvjim  entgegen ,  und  lässt  darum  der  abnehmenden  Eraanations- 
reihe  lux,  radi'i,  I innen,  sp.'cndor ,  n'üor  als  Correlat  gi^^genüber- 
stehn  Corpus  opacum ,  fenehrae,  obscif ratio,  nmbra ,  mnbratio. 
Nachdem  er  das  Licht  als  ein  Mittleres  zwischen  Materie  und 
Form,  als  substanzielle  Form,  bestimmt  hat,  geht  er  nach  einer 
Betrachtung  des  irdischen  (hyUschen)  Lichtes  zu  dem  ätherischen 
über,  und  bestimmt  mit  Tefesiits  den  Himmel  als  warm  oder  feu- 
rig und  also  leuchtend,  so  wie  die  Sonne  und  die  Sterne  als  Con- 
centrationen  dieses  Himmelsfeuers.    Ihr  Licht  verbreitet  sich  über 


n.  Die  Weltweisen      B.  Naturphilosoplien.     Patritius.     §.  244,  3.  4.        539 

die  Grenzen  der  Welt  hinaus  und  erfüllt  den  unendlichen,  die 
Welt  umgebenden  Raum,  das  Empyreum,  in  dem  es  keine  Dinge 
gibt,  wohl  aber  Geister.  Nach  diesem,  dem  himmlischen,  Lichte 
wird  das  unkörperliche  betrachtet,  wie  es  sich  in  den  Seelen  der 
Pflanzen,  1  liiere  und  Menschen  manifestirt ,  und  mit  einer  Betrach- 
tung des  Vaters  alles,  körperlichen  sowol  als  unkörperlichen,  Lich- 
tes geschlossen,  so  dass,  mit  steter  Erinnerung -an  christliche, 
hellenistische  und  neuplatonische  Weisheit,  das  dreieinige  Urlicht 
zum  Quell  alles  Lichtes  gemacht  wird.  Ob  nun  dieser  Vater  alles 
Lichtes  auch  der  Ursprung  und  das  Princip  aller  übrigen  Dinge 
ist,  dies  soll  in  den  zwei  und  zwanzig  Büchern  der  Panarchia, 
des  zweiten  Theils  (Fol.  1  —  48),  untersucht  werden.  Hier  wird 
zuerst  gezeigt,  dass  das  oberste  Princip  als  All -Eines  (Lhiomv'id) 
zu  fassen  sey,  dass  aus  ihm  als  Zweites  das  hervorgehe,  in  wel- 
chem Alles  nicht  mehr  iudisvrcte  zu  denken  sey,  so  dass  es  zu 
dem  Ersten  als  dem  Einen  (mnim)  sich  als  Einheit  (imUns)  ver- 
halte, dass  endlich  beide  durch  Liebe  wieder  Eins  seyen,  worin 
Zoroaster,  Platoniker  und  Christen  übereinstimmen.  Das  oberste 
Princip  ist  daher  nicht  mit  den  Aristotelikern  als  sich ,  und  zwar 
nur  sich,  denkende  mcvs  zu  fassen,  sondern  als  ein  Höheres,  aus 
dem  erst  die  vievy.  ja  eine  doppelte,  die  erste  (opi/r.r)  und  zweite, 
hervorgeht.  Anstatt  mens  pi  inm  sagt  er  auch  manchmal  in  wört- 
licher Uebereinstimraung  mit  Pro/. /es:  vitn.  Der  Stufenfolge  des 
Höchsten,  des  Lebens  und  des  Geistes,  entspricht  die  ihrer  Fun- 
ctionen, die  oft  als  snpienfin,  ivte/Zrc/io  und  iiUe//eclvs  bezeich- 
net werden.  Dass  sie  den  kirchUchen  Begriffen  Vater,  Sohn  und 
Geist  entsprechen  sollen,  versteht  sich.  (Es  kommt  indess  auch 
vor,  dass  die  Drei-  durch  die  Vierzahl  verdrängt  wird,  und  (Jni- 
1(1  s,  cssntdft,  ritn ,  iiiic/icrtiis  als  oberste  Principien  genannt  wer- 
den.» Aus  dem  letzten  Princip,  dem  Geist  oder  der  nmis  svcitvda, 
gehen  dann  weiter  hervor:  die  Intelligenzen,  in  deren  Hierarchie 
die  drei  Ordnungen  den  drei  Principien  entspiechen,  unter  diesen 
die  Seelen,  weiter  die  Katuren,  dann  die  Qualitäten,  Formen,  end- 
lich zuletzt  die  Körper.  Dabei  wird  stets  der  Grundsatz  aller 
Emanationslehren  eingeprägt  (vgl.  oben  §.  128,  2),  dass  jede  Pro- 
duction  auf  Niedrigeres,  nicht  Höheres,  gerichtet  sey. 

4.  Der  dritte  Theil,  die  Panipsychia  in  fünf  Büchern  (Fol. 
49 — 59),  bestimmt  den  Begriff  der  Seele  (tivtmvs,  da  das  Wort 
avimii  f  !r  die  menschliche  Seele  aufgespart  wird)  als  Mittleres 
zwischen  dem  Körperlichen  oder  Passiven,  und  dem  Activen,  also 
Unkörperlichen.  Ohne  ein  solcl.es  Mittleres  könnten  jene  gar  nicht 
auf  einander  einwirken.    Die  Lclire  von   der  Weltseele  wird  vor- 


540  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Perlode  (Uebergang). 

theidigt,  und  geleugnet,  dass  es  eine  absolut  unvernünftige  Seele 
gebe.  Am  Wenigsten  dürfe  die  thierische  so  angesehn  werdeil. 
Am  Ausführliclisten  ist  von  Piitriüns  der  vierte  Theil  seines  Sy- 
stems behandelt,  die  Pancosmia,  in  zwei  und  dreissig  Büchern 
(Fol.  61 — 153),  welche  die  Lehre  von  den  einzelnen  Dingen  ent- 
halten. Als  Bedingung  aller  materiellen  Existenz  muss  der  Raum 
das  erste  Element  aller  Dinge  genannt  werden.  Zu  ihm  kommt 
das  ihn  erfüllende  Licht  und  weiter  die  dasselbe  stets  begleitende 
Wärme.  Endlich  das  vierte  Element  ist  das  Flüssige  (fhior,  ßui- 
(Jnm) ,  das  Einige  wohl  auch  das  Feuchte ,  Andere  Wasser  genannt 
haben.  Alle  vier  zusammen  geben  den  einen  Körper,  dessen  ins 
Unendliche  sich  ausdehnende  äussere  Region  der  Feuerhimmel  ge- 
nannt wird,  an  den  sich  nach  dem  Centrum  zu  der  Himmel  an- 
schliesst,  dem  die  Regionen  des  Aethers  und  der  Luft  folgen,  so 
dass  diese  Worte  nur  locale  Unterschiede  in  dem  einen  Conti- 
nuum  bezeichnen.  Die  Sterne,  Concentrationen  des  Lichts  und 
der  Wärme,  sind  ewige  Flammen,  die  an  dem  Fluor  ihren  Nah- 
rungsstoff  haben,  und  selbst  leuchten,  obgleich  das  hinzugetretene 
Sonnenlicht  ihre  Leuchtkraft  steigert.  Wie  die  Sonne  von  den 
übrigen  Sternen  zu  trennen,  namentlich  nicht  zu  den  Planeten  zu 
rechnen  ist,  so  auch  der  Mond  nicht,  dieser  erdartige  und  (we- 
nigstens zum  Theil)  dunkle  Körper.  Wie  Palrituis  durch  Leug- 
nung der  bisher  festgehaltenen  Vielheit  der  Himmel  den  Bau  des 
Weltgebäudes  vereinfacht,  so  auch  die  Bahnen  der  Himmelskör- 
per ,  indem  er  der  Erde  Bewegung  zuschreibt.  FreiUch  straft  sich, 
dass  er  dem  Copernikus  nicht  ganz  folgt,  so,  dass  er,  um  mit 
den  Erscheinungen  in  Einklang  zu  bleiben.  Vieles  auf  ganz  will- 
kührliche  Bewegung  der  Planeten  zurückführen  muss.  Woraus 
die  Sterne  bestehn,  das  theilen  sie  mit;  eine  Einwirkung  der 
Sterne  auf  die  Erde  ist  daher  ganz  nothweudig.  Vielleicht  aber 
bilden  Sonne  und  Mond  dabei  die  Vermittler,  so  dass  jene  Licht 
und  Wärme,  dieser  die  Flüssig-  und  Feuchtigkeit  der  übrigen 
Sterne,  neben  der  eignen  der  Erde  zukommen  lassen.  Was  nun 
die  Erde  selbst  betriift,  so  polemisirt  Ptitriüns  in  einer  Weise, 
die  mehr  an  den,  von  ihm  nicht  erwähnten,  Cardanns  erinnert, 
als  an  Telesins,  den  er  sehr  oft  lobt,  gegen  die  Peripatetische 
Ableitung  der  vier  Elemente.  Das  Feuer  ist  ganz  auszuschliessen 
und  bei  den  drei  übrig  bleibenden  nie  zu  vergessen,  dass  sie  aus 
den  vier  oben  angeführten  eigentlichen  (primarhi)  Elementen  zu- 
sammengesetzt sind.  Auf  die  Particularkörper  geht  Pairitius  nicht 
weiter  ein.  Ihm  genügt,  die  integrirenden  Haupttheile  des  Welt- 
ganzen angegeben  zu  haben. 


n.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen      §.  245.  541 

§.  245. 
So  ehrlich  es  auch  gemeint  war,  wenn  Cardanus,  Telesins 
und  Pdtritiifs  ihre  Anhänglichkeit  an  die  römisch-katholische 
Kirche  und  Unterwerfung  unter  ihr  Urtheil  erklärten ,  so  hat  dies 
sie  doch  nicht  vor  kirchlichen  Censuren  sicher  gestellt.  Die  Kirche 
sah  hier  klarer  als  sie  selbst:  fortwährende  Polemik  gegen  den, 
der  einmal  für  die  Stütze  der  recipirten  Theologie  galt,  hätte 
höchstens  dem  vergeben  werden  können ,  welcher  nachwies ,  dass 
aus  den  neuen  Principien  die  wesentlichsten  Dogmen  eben  so  gut, 
oder  leichter,  abzuleiten  seyen,  als  aus' den  Lehren  des  Arisio- 
feles ,  gewiss  aber  nicht  Solchen,  welche  diese  Hauptlehren  kaum 
erwähnen.  Eine  solche  Stellung  ist  zu  unentschieden ;  sie  ist  so 
zweideutig  wie  sie  nur  bei  Laien  seyn  kann,  welche  die  Welt  so 
gefangen  hält,  dass  der  Bedeutendste  (Tc/eslus)  sich  sogar  durch 
ein  angebotenes  Bisthum  nicht  dahin  bringen  lässt,  auf  Ehe  und 
Famihenleben  zu  verzichten.  Klarheit  und  Entschiedenheit  in  dies 
Yerhältniss  zu  bringen,  wird  dagegen  Solchen  nahe  gelegt  seyn, 
die  zu  dem  stehenden  Heere  der  sich  vertheidigenden  Kirche  ge- 
hören. So  wird  sie  denn  auch  gebracht  durch  zwei  Mönche  des- 
selben Ordens,  welcher  während  der  Blüthezeit  der  Scholastik  in 
der  Philosophie  das  grosse  Wort  geführt  hatte,  in  dieser  Periode 
dagegen  fast  verstummt  war.  Die  beideh,  sich  durch  Vaterland, 
Charakter  und  Schicksal  so  nahe  stehenden  Dominicaner  Oinrpa- 
nclla  und  Bruno  entscheiden,  aber  in  ganz  entgegengesetzter  Weise. 
Den  Ersteren  bringen  die  neuen,  von  Telesins  aufgefundenen  Prin- 
cipien dahin,  die  Dogmen  und  die  Verfassung  der  Kirche  gegen 
alle  Neurer  zu  vertheidigen,  deswegen  von  allen  Weltmächten  die 
am  Höchsten  zu  stellen,  welche  am  Meisten  als  der  Hort  des  Ka- 
tholicismus  galt,  endlich  aber  für  das  Papstthum  mit  weltlicher 
Herrschaft  sich  so  zu  begeistern,  dass  er  eine  entschiedne  Vor- 
liebe für  den  Orden  zeigt,  der  seit  seiner  Entstehung  dies  als 
seine  Aufgabe  ansah,  es  gegen  seine  Feinde  zu  vertheidigen.  Den 
zweiten  dagegen  bringt  die  Begeisterung  für  die  neuen  Naturau- 
schauungen  dahin,  zuerst  die  Ketten  des  Ordens  zu  zerbrechen, 
dann  den  Krieg  gegen  Aristoteles  auf  die  Kirche  selbst  auszu- 
dehnen, weiter  die  Rom  am  Meisten  verhassten  Personen  und  Orte, 
die  englische  Königin  und  Wittenberg,  enthusiastisch  zu  preisen, 
endlich  gegen  die  Jesuiten  nur  Hass  zu  empfinden  und  diesen 
Hass  mit  seinem  Leben  zu  büssen.      ^ 


542      .  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

§.  246. 
Campanella. 

1.  Thomas  (ursprünglich  Ginrmi  Dnmeincn)  Campniiella,  am 
5.  Sspt.  1568  in  Stylo  in  Calabrien  geboren  und  schon  in  seinem 
15'"'  Jahre  dem  Dominicancrorden  einverleibt,  theils  mit  Poesie 
theils  mit  mittelalterlicher  Logik  und  Physik  beschäftigt,  ward  an 
dem  Meister  in  beiden,  dem  Arislolvlps,  irre,  als  ihn  des  Tele- 
slifs  Schriften  auf  den  Widerspruch  zwischen  dessen  Lehre  und 
der,  die  man  in  dem  von  Gott  geschriebenen  Codex  Natur  liest, 
aufmerksam  gemacht  hatten.  Enthusiastisch  ergreift  er  die  neue 
Lehre,  feierte  in  einem  Gedicht  ihren  Urheber,  vertheidigte  sie  ge- 
gen das  Pugnaculuin  des  Aiilovivs  Maria  und  suchte  in  seiner 
Schrift  de  sensu  rerum  und  de  investigatione  rerum  ihre  Wahrheit 
und  Uebereinstimmung  mit  den  Lehren  der  ältesten  Kirche  darzu- 
thun.  Während  eines  sechsjährigen  Aufenthalts  in  Piom,  Florenz, 
Venedig,  Padua  ruft  die  ungewöhnliche  Gelehrsamkeit,  so  wie 
die  schlagfertige  Redegewandtheit  tiberall  Verwunderung  aber  auch 
mit  Neid  gemischtes  Misstrauen  hervor.  Diesem  verdankt  er  es, 
dass  eine  angefangene  Metaphysik,  der  Anfang  einer  auf  neunzehn 
Bücher  angelegten  Physiologie,  ein  Compendium  derselben,  eine  Rhe- 
torik, eine  Sclirift  de  Monarchia,  eine  andere  de  regimine  ecclesiae 
ihm  unter  den  Händen  verschwinden  und  nach  Jahren  in  dem  Be- 
sitz der  römischen  Inquisition  wieder  gefunden  werden.  Im  Jahre 
1598  nach  Neapel,  dann  nach  Stylo  zurückgekehrt,  wird  er,  mit 
naturwissenschaftlichen,  ethischen  und  poetischen  Arbeiten  beschäf- 
tigt, unter  dem  Vorvvande,  gegen  die  spanische  Herrschaft  mit  djn 
Türken  conspirirt  zu  haben,  eingekerkert.  Dass  gerade  dieser  Vor- 
wand gegen  einen  Mann  gebraucht  wurtlc,  der  während  Ch'tnnis 
der  Achte  schon  Papst  war  und  PLiiipp  der  Zweite  von  Spanien 
noch  regierte,  seine  Schrift  de  Monarchia  hispanica  schrieb  (der 
Schluss  ist  freilich  erst  nach  zehnjähriger  Gefangenschaft  geschrie- 
ben), ist  eine  merkwürdige  Verhöhnung  der  Wahrheit.  Sieben  und 
zwanzig  Jahre  lang  war  er,  in  fünfzig  verschiedenen  Kerkern  ein 
Gefangener,  ward  sieben  Mal  gefoltert,  zuerst  sehr  streng  ja  grau- 
sam, (denn  selbst  Bücher  versagte  man  ihm,)  spater  besser  be- 
handelt. Im  Gefängniss  hat  er  viel  geschrieben.  Zu:^rst,  weil  es 
ihm  an  Büchern  fehlte,  nur  italiänische  Gedichte.  Diese  hat  To- 
bias Allami,  ein  Deutscher,  der  als  Instructor  den  sächsischen 
Edelmann  von  Biinatt  begleitete,  und  Campn/tctla  im  Kerker  ken- 
nen lernte,  zuerst  unter  dem  Titel  Squilla  septimontana  herausge- 
geben.   Derselbe  Mann  gab  dann  als  Prodromus  totius  philosophiae 


IL  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Campanella.     §.  246,  1.        5iö 

Cainpanellae  das  oben  erwähnte  Compendium  Physiologiae  heraus 
(Padua  1511;  dann  1617  Frankf.  bei  Tanipdch).  Eben  so  hat  er 
die  Schrift  de  sensu  rerum,  ferner  im  J.  1618  die  Medicinalia, 
endlich  im  J.  1520  die  Philosophia  realis  drucken  lassen.  Diese, 
so  wie  sehr  viele  andere  Schriften,  hatte  CnnquinoUa ,  der,  seit 
ihm  wieder  Bücher  bewilligt  waren,  in  der  Stille  des  Gefängnisses, 
durch  sein  Riesengedächtniss  unterstützt,  zu  einem  der  gelehrte- 
sten Männer  geworden  war,  im  Gefängniss  verfasst,  und  nach  sei- 
ner Art,  Adi.niü  mitgetheilt.  Gegen  Andere  war  er  eben  so  ver- 
trauend; auf  seine  Kosten,  denn  von  seiner  früher  schon  begonne- 
nen Metaphysik  sind  zwei  neue  Redactionen  ihm  entwandt  und 
erst  in  ihrer  vierten  Gestalt  ist  diese  Biblia  philosophorum,  wie 
er  sie  stolz  nennt,  in  seinem  Todesjahr  in  Paris  erschienen.  Eine 
Theologie  nach  seinen  Principien  in  neun  und  zwanzig  Büchern, 
ein  Buch  gegen  die  Atheisten,  seine  Pliilosophia  rationalis,  meh- 
rere mathematischen  Schriften,  so  wie  seine  Arbeiten  über  christ- 
liche Monarchie,  sind  alle  im  Gefängniss  geschrieben.  Endlich  am 
15.  Mai  1526  schlug  die  Befreiungsstunde,  und  er  ging  nach  Rom. 
Eine  Vertheidigungsschrift,  seine  Schrift  de  gentilismo  in  philo- 
sophia non  retinendo,  die  gegen  Aiislnlr.les  gerichtet  ist,  entstand 
hier,  zugleich  aber  drohten  neue  Verfolgungen,  denen  er  sich  durch 
Flucht  nach  Paris  entzog.  Hier  hat  er  sich  mit  hochstehenden 
Personen,  namentlich  aber  mit  Gelehrten  befreuiidet.  Unter  An- 
deren mit  dem  gelehrten  Bibliothekar  Nanflaeits,  an  den  sein:  De 
libris  propriis  et  recta  ratioue  studeudi  syntagma  gerichtet  ist 
(Gedruckt  Paris  164o).  Hier  ging  er  an  eine  Gesanimtausgabe 
aller  seiner  Schriften.  Dieselbe  sollte  zehn  Bände  umfassen,  und 
zwar  iin  1^*^"  die  Philosophia  rationalis,  im  2'''"  die  Philosophia  rea- 
lis, im  S'*""  Philosophia  practica,  im  4'*""  Philosophia  universalis 
s.  Metaphysica,  im  5"'"  Theologica  pro  cunctis  natiouibus,  im  6*'=" 
Theologia  practica,  im  7'^*»  Praxis  politica,  im  8"^"  Arcana  Astro- 
nomiae,  im  ü'*^^"  Poemata,  im  10'^"  Miscellanea  opuscula.  Mit  Cum- 
pane/ld's  am  21.  Mai  16i59  erfolgten  Tode  gerieth  wohl  das  Unter- 
nehmen in  Stocken.  Wenigstens  bezweifelt  Mor/.o/  die  Richtig- 
keit einer  von  ihm  nachgesprochnen  Notiz  von  den  zehn  Bänden. 
(Mir  selbst  ist  bekannt:  der  erste  Theil  der  Gesammtausgabe, 
auf  dem  Titel  so  bezeichnet,  der  die  philosophia  rationalis,  d.  h. 
die  Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik,  Poetik  und  Historiographie, 
enthält  und  in  Paris  1638  in  Quart  apud  Jo.  du  Bray  erschien, 
und  wieder  der  vierte  Theil,  gleichfalls  auf  dem  Titelblatt  als 
Operum  meorum  pars  quarta  bezeichnet,  aber  in  Folio  und  zwar 
bei  dem  Italiäner  M'//.  Barrilij  l(j3S  erschienen.     Er  enthält  die 


544  Mittelalterliche  Pliilosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Metaphysica  oder  Philosophia  universalis.  Nach  Bixner  ist  der 
zweite  Band  dieser  Gesammtausgabe  wieder  bei  einem  andern 
Verleger  erschienen,  bei  Dion.  Houssaie  1637.  Fol.,  wonach  der 
zweite  Band  ein  Jahr  vor  dem  ersten  erschienen  wäre.  Die  Phi- 
losophia reahs,  die  er  enthalten  soll,  kenne  ich  nur  in  der  Quart- 
ausgabe von  Tob.  Adami .  die  1623  in  Frankfurt  bei  Tampnch 
erschienen  ist,  die  für  den  dritten  Band  bestimmten  Medicinalia 
nur  in  der  Lyoner  Qnartausgabe  1635  bei  Oi/fin  t^-  P/d/giurrd^ 
die  für  denselben  Band  bestimmten  Astrologica  in  der  Frankfurter 
Quartausgabc  von  163U,  die  Schriften  Atheismus  triumphatus,  de 
non  retinendo  gent.  und  de  praedestinatione,  die  der  sechste  Band 
enthalten  sollte,  in  der  Quartausgabe  von  dn  Bray  Paris  1636,  die 
für  den  siebenten  Band  bestimmte  Monarchia  hispanica  in  einer 
Sedezausgabe  Hardervici  1640,  und  itahänisch  in  Opere  di  Tora- 
maso  Campanella.  Torino  Cugini  Pomba  e  Comp.  1854.  Voll.  2, 
endlich  die  Poesie  filosofiche,  die  in  den  neunten  Band  kommen 
sollte,  in  der  OreUischen  Ausgabe  Lugano  1834.) 

2.  Das  Urtheil  OuviKtnelln's  über  seine  Vorgänger  ist  über 
Ciirdtmiis  am  Abfälligsten,  derselbe  wird  fast  nur  erwähnt  um  ihn 
zu  widerlegen  und  um  ihm  Vorliebe  für  phantastischen  Aberglauben 
vorzuwerfen.  Viel  mehr  Gewicht  legt  er  auf  Pinuicclsits.  doch  nur 
als  Scheidekünstler,  das  Urtheil  über  die  Paracelsisten :  in  opcra- 
üonihiis  acuti,  in  jiidicio  jcre  ohtiisi  (Met.  II,  p.  194)  dehnt  er 
wohl  auch  auf  ihren  Meister  aus.  Das  Studium  des  Patritiiis  räth 
er  dringend  an,  und  zwar  nachdem  das  des  Arisloleles  voraus- 
gegangen, denn  durch  diesen  Gegensatz  werde  die  Wahrheit  um 
so  besser  erkannt  (de  libr.  propr.  p.  46).  Vornehmlich  aber  ist  es 
Telcsiiis,  den  er  bis  in  sein  spätstes  Alter  als  den  ersten  Philo- 
sophen gepriesen  hat.  Er  muss  es  auch,  denn  seine  Physik  hat 
er  sich  so  angeeignet,  dass  er  selbst  sagen  kann,  er  selbst  habe 
nur  gezeigt,  dass  dieselbe  den  Lehren  der  Väter  nicht  widerspre- 
che (Monarch,  hispan.  XXVII,  p.  265  u.  a.  a.  0.).  Doch  ist  er 
kein  bloss  wiederholender  Schüler,  sondern  geht  in  doppelter  Weise 
über  den  Tclesins  hinaus:  einmal,  indem  er  dessen  Voraussetzun- 
gen begründet  und  dadurch  der  Physik  ein  festeres  Fundament  zu 
geben  sucht,  andrerseits  indem  er  derselben  eine,  von  Telesiits 
mehr  angedeutete,  Ergänzung  gibt.  Jenes  geschieht  in  der  Meta- 
physik, dieses  in  der  Politik.  Das  Verhältniss  beider  zur  Physik 
wird  von  ihm  selbst  ausführhch  besprochen  in  dem  Werk,  das 
eben  bestimmt  war,  im  Umriss  („per  eucyclopaediam")  von  den 
Principien  und  Grundlagen  aller  Wissenschaften  zu  sprechen,  eben 
seiner  Metaphysik  oder  Philosophia  universalis  (so  u.  A.  II,  p.  4). 


II.  Die  Weltweiseu.     B.  Naturphilosopheu.     Campanella.     §.  246,  2.       545 

Der  seit  Ma.vumis  Confessor  (s.  §.  146)  fast  vergessene  Gedanke, 
dass  Gott  seine  Oifenbarungen  in  zwei  Büchern,  der  Welt  und  der 
Bibel,  niedergeschrieben  habe,  war,  seit  Ixitymund  von  Sabnnde 
ihn  wieder  ins  Gediichtniss  gerufen  hatte  (§.  222,  3)  sehr  oft,  na- 
mentlich von  den  Xaturpbilosophen  dieser  Periode  wiederholt  wor- 
den. Auch  Campanclla  lässt  die  alleinige  Wahrheit,  Gott,  durch 
Hervorbringen  von  Werken  und  durch  Dictiren  von  Worten  zu  uns 
sprechen ,  und  so  die  Welt  als  codex  virus  und  die  h.  Schrift  als 
codex  scriptiis  entstehn.  Was  der  letztere  enthält,  eignen  wir  uns 
durch  den  Glauben,  was  der  erstere,  durch  die  Wahrnehmung  (sen- 
svs)  an,  sowol  unsere  eigne  als  auch  fremde  (p.  1  tf.).  Durch  die 
wissenschaftliche  Bearbeitung  des  Geglaubten  entsteht  die  göttliche 
Wissenschaft,  die  Theologie,  durch  die  der  Wahrnehmungen  die 
menschliche  Wissenschaft,  die,  weil  der  Mensch  Gott  gegenüber 
so  klein  ist,  Mikrologie  genannt  werden  kann,  und  zu  der  erste- 
ren  im  Magdverhältniss  steht  (V,  p.  346),  Wie  die  Quelle  beider 
verschieden  ist,  so  auch  die  Begründung  in  ihnen;  für  den  Theo- 
logen sind  Weissagungen  und  Wunder  die  Beglaubigung,  Vernunft 
und  Philosophie  gelten  nicht  als  Bew^eis mittel,  höchstens  als  Zeu- 
gen. Anders  in  der  Philosophie.  Ihre  Quelle  ist  auf  Wahrneh- 
mung gegründete  Kunde  (lihtorine) ,  ihre  Beweisgründe  Vernunft 
und  Erfahrung.  Es  ist  daher  ein  logischer  Fehler,  wenn  der  Phy- 
siker sich  auf  Aussprüche  der  Bibel,  der  Theolog  auf  physikalische 
Gesetze  bemft  (Phil.  rat.  II,  p.  425).  Die  Theologie  des  Campd- 
nella  ist  nun  im  Wesentlichen  die  des  Thomas  von  Afpdno.  Nur 
in  der  Freiheitslehre  nähert  er  sich  den  Scotisten,  wozu  auch  sein 
Zorn  gegen  Lntlier  und  Oilvlu,  deren  Erwählunglehre  er  nicht 
müde  wird,  dem  Muhamedanismus  gleichzustellen,  beigetragen  ha- 
ben mag.  Was  aber  die  Philosophie  betrifft,  so  zerfällt  sie,  wenn 
man  von  den  instrumentalen  Wissenschaften  absieht,  die  nicht  mit 
Objecten  des  Wissens,  sondern  mit  der  Weise  desselben  sich  be- 
schäftigen, wie  die  Logik  und  Mathematik,  die  nur  Hülfswissen- 
schaften  sind,  in  die  PJa/osophia  uaturulis  und  P/iil.  moratis  oder, 
wie  sie  wohl  besser  genannt  würde,  legalis,  da  die  icf/islaturn, 
die  Staatsleitung,  darin  der  höchste  Gegenstand  ist.  (Phil.  univ. 
V,  p.  347.)  Sie  beide  zusammen  geben  was  Cuwpanella  Scientia 
(oder  Plälosophia)  retdis  nennt  im  Gegensatz  zu  der  Scientia  ra 
tionalis  oder  insiriimentidis. 

3.  Die  Kluft  zwischen  Theologie  und  Philosophie  wird  nun 
dadurch  viel  geringer,  dass  Campanella  zwischen  beiden  eine  mitt- 
lere Wissenschaft  annimmt,  die,  wie  das  in  der  Natur  der  Sache 
liegt,   allmählich  zu  einer  über  beiden  stehenden,  oder  sie  bfide 

Erdruann ,  Gesch.  d.  Philos    I.  35 


546  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergaug). 

begründenden  wird,  dies  ist  die  Metajjhysik,  die  sich  uacli  ihm  zu 
allen  Wissenschaften  so  verhält,  wie  die  Poetik  zu  den  Gedichten, 
die,  selbst  voraussetzungslos,  Alles  begründet,  was  für  die  ande- 
ren Wissenschaften  die  Voraussetzung  bildet,  und  durch  deren 
Ausbau  er  glaubt  sagen  zu  dürfen:  Omues  scicntuis  restaiiram 
(Epist.  dedicat,  zur  Phil.  univ.).  Versteht  man  unter  Principien 
Gründe  des  Seyns,  so  bilden  den  Inhalt  der  Metaphysik  nicht  nur 
die  Principien,  sondern  die  propriucipui  (Urgründe)  von  Allem, 
da  hier  betrachtet  werden  soll,  wodurch  Alles  nicht  nur  ist,  son- 
dern auch  sein  Wesen  hat  {esseniiatir  Phil.  univ.  1,  p.  78.  II,  p. 
93).  Um  zu  diesem  zu  gelangen,  geht  Cauipanellu  wie  früher 
Avyvstin  (s.  §.  144,  2)  und  wie  später  Üescartes  (s.  weiterhin 
§,  267,  1)  von  dem  aus,  was  auch  der  äusserste  Skepticismus  nicht 
leugnen  kann,  von  der  Existenz  des  eignen  Selbsts.  Da  sich  Je- 
der als  ein  Seyendes,  aber  als  ein  beschränktes  und  endliches  fin- 
det, Schranke  aber  und  Endlichkeit  eine  Negation  ist,  so  sind  die 
Vorbedingungen  oder  priiuipia  meines  wie  jedes  anderen  Seyns 
Ein  und  ISon-vns  oder  ISildl  (I,  p.  78).  Dass  das  Ens^  welches 
alles  Non-ens  ausschliesst  und  also  unendlich  ist,  existire,  ist  durch 
das  blosse  j actum  bewiesen,  dass  ich  es  denke :  ein  so  unbedeu- 
tender Theil  der  Welt,  wie  ich  bin,  kann  doch  unmöghch  Grös- 
seres erfinden,  als  die  Welt  (p.  84).  Retiectire  ich  nun  weiter 
nicht  nur  darauf  dass,  sondern  auch  was  ich  bin,  so  finde  ich, 
dass  mein  Wesen  im  pusse ,  coynoscere  und  velle  besteht,  alle 
drei  sind  beschränkt,  d.  h.  mit  ihrem  Nichtseyn  behaftet.  Ich 
muss  also,  da  der  Grund  mindestens  enthalten  muss,  was  das  Be- 
gründete enthält,  indem  Niemand  mehr  geben  kann  als  er  hat, 
in  das  Etis  und  Non-cns  Solches  setzen,  das  im  eminenten  Sinne 
enthält,  was  beschränkt  in  meinem  Können,  Wissen  und  Wollen 
enthalten  ist.  Und  so  ergeben  sich  als  Propriucipui  oder  Pri- 
muliUdes  des  Eiis:  Puteiiliu,  Supientia,  Anior^  des  Non-ens:  Im- 
poteulia,  lusipiciitia,  fJisamor  oder  Odium  (p.  78),  welche  letz- 
tere nur  Grenzen,  also  nichts  Positives,  bezeichnen.  Das  Evs  mit 
dem  göttlichen  Wesen,  die  drei  Primalilates  mit  den  drei  Perso- 
nen gleich  zu  setzen,  konnte  Campauclld  um  so  weniger  Beden- 
ken tragen,  als  seit  Abülurd  (s.  §.  161,  4)  und  Uiigo  (s.  §.  165, 
3)  die  späteren  Theologen  gewohnt  waren,  wo  sie  die  „relationes'- 
und  die  ,,appropriata''  in  Gott  besprechen,  gerade  so  zusammen- 
zustellen. 

4.  Wenn  dieses  Wesen,  das  als  unendlich  nichts  sich  gegen- 
über hat,  sondern  Alles  umfasst  (VIII,  p.  155),  ja  Alles  ist  (VII, 
p.  130),  über  im  eminenten  Sinne  und  darum  über  Allem  ist,  wenn 


II.  Die  Weltweisei).     B.  Naturphilosophen.     Campanella.     §    246.  4.        547 

dieses  nicht  dabei  stehen  bleibt,  nur  in  sich  selbst  zu  produciren, 
sondern,  wofür  kein  andrer  Grund  angeführt  werden  kann  als 
Ueberjfiuss  an  Liebe  (VIII,  p.  173),  auch  ausser  sich  hervorbrin- 
gen will,  es  aber  ein  logischer  Widerspruch  ist,  dass  ihm  Unend- 
liches gegenüber  stehe,  so  entsteht  das  EndUche,  in  welchem  das 
Seyn  von  Gott  ist,  die  Schranke  davon,  dass  es  Gott  oder  das 
Seyn  nicht  ganz,  nur  partiell,  in  sich  hat.  Man  kann  sagen,  dass, 
was  in  einer  solchen  Participation  sich  an  Seyn  findet,  ihr  von 
Gott  gegeben,  was  an  Nichtseyn,  ihr  von  Gott  gelassen  sey,  als 
ein  Ueberrest  des  Nichtseyns,  aus  dem  Gott  sie  ins  Seyn  rief 
(VII,  p.  138).  Je  näher  ein  solches  Product  der  Gottheit  steht, 
je  weniger  ist  darin  das  Nichtseyn  mächtig.  Darum  steht  am 
Höchsten  das  ewige  Urbild  der  Welt,  der  mniuhts  arc/telypiis,  wel- 
cher die  unendlich  vielen  Welten  befasst,  die  Gott  hätte  schaffen 
können  (IX,  p.  243).  Das  ganze  dreizehnte  Buch  ist  dieser  urbild- 
lichen Welt,  d.  h.  den  Ideen,  gewidmet.  Wie  bei  dem  ausstrah- 
lenden Lichte  die  vom  Mittelpunkte  entfernteren  Lichtsphären  im- 
mer dunkler  werden,  so  macht  sich  auch  hier  bei  den  weiteren 
Productiouen  Gottes,  der  Einfluss  des  noneiis  immer  mehr  geltend. 
In  das  Gehaltenseyn  durch  die  Macht  Gottes  oder  die  Nothwen- 
digkeit  (nccr.ssifus) ,  durch  seine  Weisheit  oder  die  Bestimmtheit 
(jntiim).  endlich  durch  seine  Liebe  oder  die  Ordnung  (liarmonin)^ 
mischt  sich  daher  immer  mehr  coulinc/cnfia,  casus  und  fortima  als 
die,  jenen  drei  correlaten,  Einwirkungen  des  Nichts  (VI.  Prooem.), 
die  weil  sie  nichts  Reales,  vom  Ens  nicht  gewollt,  sondern  nur 
geduldet  werden.  Warum?,  das  ist  nicht  zu  beantworten;  höch- 
stens kann  man  sagen  wozu,  d.  h.  welchen  Zweck  Gott  bei  sol- 
cher Duldung  hatte  (VII,  p.  138).  Abwärts  gehend  von  dem  iimn- 
ihfs  arvlietypiis  ergibt  sich  als  die  nächste  Participation  an  ihm, 
also  als  ein  noch  schwächerer  Lichtkreis  gleichsam,  die  Geister- 
welt (ninndas  inrittalis.  auch  (Diijelicifs  und  mctaphiisiciis  genannt), 
in  welchen  die  ewigen  Ideen  Gottes,  weil  durch  das  nih'dnm  de- 
terminirt,  die  nur  äviternen  Intelhgenzen  geben.  Unter  diesen  fin- 
den sich  erstlich  die  bekannten  neun  Engelordnungen.  Die  unter- 
ste der  (inmiiuk'wucs  soll  die  Weltseele  seyn.  Zweitens  gehören 
aber  hierher  auch  die  unsterblichen  Menschenseelen,  die  mentes. 
Sie  alle  werden  ausführlich  im  zwölften  Buche  der  Phil.  univ.  be- 
sprochen. In  weiterem  Herabsteigen  gelangt  Onnpitnclla  zu  dein 
mitndns  seiiipiterni/s  oder  inalf/etnaticiis.  worunter  der  Raum  zu 
verstehn  ist,  als  die  Möglichkeit  aller  körperlichen  Gestaltung,  mit 
der  sich  die  Mathematik  beschäftigt.  Durchdrungen  von  der  über 
ihm  stehenden   (Geister;  Welt,  participirt  er  an  ihr,   wie  wieder 

35* 


548  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

an  ihm  der  munrliis  iemporaHs  oder  corporalls  participirt.  Aber 
auch  diese  Welt  erscheint  dem  CampmieUa  noch  nicht  als  die  un- 
terste, sondern  er  unterscheidet  von  ihr  die,  welche  zu  ihrer  Exi- 
stenzweise nicht  Raum  und  Zeit  (lempits),  sondern  den  bestimm- 
ten Ort  und  eben  so  bestimmten  Zeitpunkt  (ieinpestas)  hat.  Mim- 
diis  sUiKills  ist  der  Name,  den  er  für  diese  Welt  gewöhnUch  braucht; 
ihm  entspricht  vielleicht  am  Besten,  wenn  wir  Jetztwelt  sagen. 
Das  Verhältniss  dieser  Welten  zu  einander  und  eben  so  die  Ein- 
flüsse der  je  drei  Primalitäten  auf  sie  hat  Cantj/auelfd  versucht 
in  graphischen  Schematen  darzustellen,  welche  zeigen,  dass,  trotz 
vielfaltiger  Polemik  gegen  Bnimundns  Liülns ,  er  sich  durch  des- 
sen Versuche  doch  hat  beeinflussen  lassen. 

5.  Betrachtet  man  die  unterste  (die  Jetzt-)  Welt,  so  ist,  da 
Alles  ein,  wenn  auch  verunreinigtes,  Abbild  des  Urwesens,  in 
jedem  Dinge  jene  Dreiheit  vorhanden.  Wenn  Etwas  nicht  seyn 
könnte,  sein  Seyn  nicht  fühlte,  d.  h.  wüsste,  endlich  es  nicht  wollte, 
so  träte  es  nicht  in  Existenz  und  erhielte  sich  nicht  darin,  wäre 
also  nicht.  Darum  gibt  es  Nichts,  was  nicht  beseelt  wäre.  Der 
Durchführung  dieses  Gedankens  und  dem  Nachweise,  dass  er  mit 
dem  Christenglauben  nicht  streite,  ist  die  Schrift  de  sensu  rerum 
gewidmet.  Dies  gilt  schon  vom  Raum,  diesem  unvergänglichen 
und  fast  göttlichen  (II,  p,  279)  Alles  durchdringenden  Behältniss 
aller  Dinge,  denn  die  Erscheinungen,  die  man  auf  den  honor  ra- 
ciä  zurückführt,  zeigen  dass  er  nach  Erfüllung  strebt,  also  fühlt 
(VI,  p.  41).  Eben  so  gilt  es  von  den  beiden  activen  Priucipien, 
durch  deren  Einwirkung  auf  den  Stoft'  alle  Dinge  entstehen,  der 
in  der  Sonne  concentrirten,  im  Lichte  sichtbar  werdenden  Wärme, 
und  der  von  der  Erde  als  ihrem  Sitze  ausstrahlenden  Kälte:  sie 
streben  sich  selbst  zu  erhalten  und  ihr  Gegentheil  zu  vernichten, 
sie  lieben  also  und  hassen,  d.  h.  sie  empfinden  (VI,  p.  40).  Nicht 
minder  ist  es  wahr  von  der  ganz  passiven  Materie,  die  durch  ihr 
Beharren,  durch  das  beschleunigte  Fallen  u.  dgl.  beweist,  dass  sie 
nichts  Todtes  ist.  Daraus  folgt  nicht  dass  der  Raum,  die  Wärme, 
die  Materie  Thiere  seyen;  auch  die  Pflanzen  sind  keine  Thiere, 
und  wer,  der  sie  nach  dem  Regen  erquickt  sieht,  wird  zweifeln 
dass  sie  leben  und  empfinden?  (p.  44.)  (Höchstens  könnte  man 
sie  unbewegte  Thiere  nennen,  die  die  Wurzel  zum  Munde  haben 
[Phil.  real.  p.  59].)  Dass  Alles  empfindet,  macht  die  überall  sich 
zeigende  Sympathie  unter  Gleichen,  Antipathie  unter  Ungleichen, 
erklärlich,  die  sonst  unbegreiflich  wäre.  Ganz  wie  bei  Tefcshis, 
entsteht  auch  hier  durch  das  Suchen  des  Gleichen  und  Hassen 
des  Entgegengesetzten  der  Gegensatz  der  kalten  Erde  im  Centro 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Natnrphilosophen.     Campanella.     §.  246,  5.         549 

und  des  sie  von  allen  Seiten  angreifenden  Himinels,  in  dem  die 
Anhäufungen  der  leuchtenden  Wärme  zu  der,  am  Mächtigsten  wir- 
kenden, Sonne,  und  zu,  theils  wegen  ihrer  Entfernung,  theils  we- 
gen ihrer  Xatur,  minder  wirksamen  Fixsternen  und  Planeten  wer- 
den. Eine  wichtige  Abweichung  von  Telcshis  ist,  dass  Compa- 
nnl/n  durch  Gnlilcxs  Untersuchungen  dahin  gebracht  wird,  die 
Planeten  als  erdartige  Körper  (.si/stemata)  zu  fassen,  welche  um 
die  Sonne  kreisen,  die  ihm  ein  blosses  Feuer  bleibt.  Auch  die 
Lehre  von  der  Bewegung  der  Erde,  sucht  er  in  einer  Schrift  als 
dem  Glauben  ungefährlich  darzuthun.  Indess  ist  es  ihm  doch  eine 
Art  Herzenseiieichterung,  als  die  Kirche  sich  gegen  Galilei  erklärt; 
er  sieht  darin  eine  Bestätigung  seiner  eignen  Ansicht,  nach  wel- 
cher sich  die  Planeten  um  die  Sonne  als  ihr  cevtrum  amoris  be- 
wegen, diese  aber,  weil  das  mit  der  feurigen  Natur  streitet,  nicht 
stille  steht,  sondern  sich  als  um  ihr  cevirnm  odll,  um  die  Erde 
bewegt;  mit  den  Planeten,  die  auf  diese  Weise  zwei  Centra  haben. 
Noch  sichtbarer  ist  dieses  in  Hass  und  Liebe  sich  bethätigende 
Bet^eeltseyn  in  den,  aus  jenen  Principien  hervorgehenden,  durch 
ihr  Zusammentreffen  gebildeten  und  in  sofern  gemischten  Wesen. 
So  in  den  Thieren,  in  welchen  ein  freier  und  warmer  Geist  (spi- 
riti/s)  durch  die  Wärme  des  Bluts  mit  einer  kalten  und  trägen 
Körpermasse  verbunden  ist.  Ihr  Instinct  ist  nichts  Andres  als  mit 
Nichtwissen  gemischtes  Wissen  (VI,  p.  45),  ihr  Selbsterhaltungs- 
trieb Liebe  zum  eignen  Seyu.  Dasselbe  gilt  natürlich  von  dem  Men- 
schen, diesem  omvivm  mvndornm  epilogns  (IX,  p.  249),  der  eine 
Verbindung  des  vollkommensten  Thiers  mit  dem,  unmittelbar  von 
Gott  ausgehenden  Geist  (miimus.  inens)  darstellt,  von  dem  der 
Leib  und  der  Lebensgeist  regiert  wird  (Philos.  real.  p.  102.  164). 
Die  Bekämpfung  der  Aristotehschen  Anthropologie,  die  Untersu- 
chungen über  die  Körperlichkeit  und  den  Sitz  des  spiriüis  u.  s.  w. 
zeigen  eine  fast  wörthche  Uebereinstimmung  mit  Telesius  und  sind 
zu  übergehen.  Eigenthümlich  ist  ihm,  wie  er  die  Lehre  vom  Men- 
schen an  die  Grundwissenschaft  anknüpft,  und  wie  sie  ihm  die  prak- 
tische Philosophie  begründet.  Sie  wird  ihm  dadurch  gewisser  Maas- 
sen  zur  Brücke  von  der  Metaphysik  zur  Ethik  und  Politik.  Da 
das  Können,  Wissen  und  Wollen  das  Wesen  des  Menschen  aus- 
macht, so  geht  natürlich  keines  derselben  über  sein  Wesen  hinaus, 
und  wie  ich  nicht  eigentlich  die  Dinge  empfinde,  sondern  mein 
Angeregtseyn  durch  sie,  so  verlange  ich  auch  nicht  nach  Speise, 
sondern  nach  meiner  Sättigung,  hebe  nicht  mein  Eheweib,  sondern 
mein  Ehehchseyn  u.  s.  w.  Die  Liebe  keines  Wesens  geht  darum 
über  sich  selbst  hinaus;  jeder  liebt  um  seinetwillen,   strebt  nach 


550  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang), 

Erhaltung  und  Nahrung  nur  des  eignen  Selbsts  (II,  p.  173.  VI, 
p.  77  u.  a.  a.  0.).  Xur  eine  einzige  Vusnahme  muss  hier  statuirt 
werden.  Die  Liebe  zu  Gott  ist  nicht  nur  ein  Accidens  an  der 
Selbstliebe,  sondern  in  ihr  vergisst  der  Mensch  sich  selbst,  so 
dass  man  sagen  kann,  sie  geht  der  Selbstliebe  voraus,  und  der 
Mensch  strebt  nach  der  Erhaltung  seiner  selbst  nur  als  einer  Par- 
ticipation  Gottes  (II,  p.  274).  Die  Liebe  zu  Gott  ist  bei  dem 
Menschen,  was  bei  allen  anderen  Wesen  der  Trieb  ist,  in  den  eig- 
nen Ursprung  zurückzukehren,  eine  Tendenz  die  sich  überall  ne- 
ben dem  Selbsterhaltungstriebe  zeigt  (u.  A.  II,  p.  217.  XV,  p.  204). 
G.  Dass  Cdvipanelia  in  seiner  praktischen  Philosophie  viel 
unabhängiger  von  Teles'uis  erscheint  als  in  seiner  Physik,  hat  sei- 
nen Grund  theils  darin,  dass  von  Anfang  an  sein  Nachdenken  sich 
mehr  auf  die  Menschen-  als  auf  die  untermenschliche  Welt  gerich- 
tet hatte,  theils  darin,  dass  die  historische  Kunde,  die  ihm  ja 
die  Basis  der  philosophischen  Erkenntniss  war,  so  weit  sie  die  Ply- 
sioloyicd  betraf,  im  Gefängniss  schwerer  zu  erlangen  war,  als  die 
vom  Menschen.  Psychologische  Erfahrungen  kann  man  auch  im 
Kerker,  ethnologische  Kenntnisse  pflegt  auch  der  nicht  Eingeker- 
kerte durch  Bücher  zu  erwerben.  Mit  Tvles'uis  darin  einverstan- 
den, dass  die  Forderung  des  eignen  Daseyns  das  höchste  Ziel  des 
Handelns,  definirt  Oimjjiniella  die  Tugend  (rirliis)  als  die  Regel 
zur  Erreichung  jenes  Ziels  (Realis  philos.  II,  p.  223).  Er  weicht 
aber  vom  Tclesuis  nicht  nur  in  der  Systematik  der  Tugenden  ab, 
sondern  auch  darin,  dass  er  die  Besiegung  der  Triebe  als  Maass- 
stab der  Verdienstlichkeit  einführt  (Ebend.  p.  225),  wodurch  er  vom 
Tugend-  mehr  zum  Pflicht -Begriff  einlenkt.  Mit  dieser  Abweichung 
geht  die  andere  Hand  in  Hand,  dass  er  mehr  als  Telcsins  den 
Menschen  nicht  nur  für  sich,  sondern  für  ein  grösseres  Ganzes, 
für  den  Staat,  geboren  seyn  lässt.  (Ebend.  p.  227.)  Wie  der  Mensch, 
so  ist  auch  seine  Erweiterung,  der  Staat,  ein  Abbild  Gottes,  und 
man  kann  ihn  daher  theils  so  betrachten,  dass  man  vom  ober- 
sten Wesen  zu  ihm  herabsteigt  und  nun  zusieht  wie  er  demselben 
gleicht,  theils  wieder  dass  man  zusieht,  wie  der  einzelne  Mensch 
zu  jener  Erweiterung  kommt.  Die  erste  (metaphysische)  Betrach- 
tungsweise ist  die  in  Campane//(i's  Jugendschrift,  Civitas  solis, 
einem,  wie  er  selbst  sagt,  das  Original  übertreflenden  Gegenstück 
der  Platonischen  Republik,  in  welchem  ein  viel  gereister  Genuese 
seinem  Gastfreunde  von  einem  Staate  erzählt,  an  dessen  Spitze, 
mit  dem  Namen  Sonne  bezeichnet,  ein  Mctaphiisicus  als  Herrscher 
steht,  dem  die  drei  Repräsentanten  der  PotenlUt .  Sapieiitut  und 
des  Amor  zur  Hand   gehn,   unter  deren   Aufsicht  die   Ehen   ge- 


II    Die  Weltweisen      B    Naturphilosophen.     Campanella.     §.  24S.  6.       551 

schlössen,  die  Gerechtigkeit  gehandhabt,  die  Gewerbe  betrieben 
werden  u.  s.  w.  In  seinen  übrigen  Werken  schlägt  CinupaiicUa 
den  entgegengesetzten  (empirischen)  Weg  von  unten  nach  oben 
ein.  Mit  ArisUitclps  (s.  §.  89,  2)  lässt  er  zuerst  das  Haus,  aus 
den  Hausständen  die  Gemeinde,  aus  Gemeinden  die  cirifas  ent- 
stehn.  Dann  aber  geht  er  weiter:  Cirifafes  vereinigen  sich  zur 
Prorinriri.  Provinzen  zum  rrr/inim,  Königreiche  zum  Jmpoiitm, 
Kaiserreiche  zur  MnnarrMn .  worunter  er  Universal  reich  versteht, 
das,  wie  das  Beispiel  Roms  zeigt,  sogar  in  republikanischer  Form 
existiren  kann,  obgleich  ihm  die  monarchische  mehr  entspricht. 
Aber  auch  darüber  steht  eine  höhere  Macht,  denn  während  die 
Mnvnrchia  höchstens  einen  oder  ein  Paar  Welttheile,  und  in  die- 
sen nur  die  Leiber  beherrschen  kann,  ist  das  Papstthum  durch 
keine  dieser  Schranken  gebunden,  und  ist  also  die  wahre  Univer- 
salherrschaft. Drei  Punkte  interessiren  hier  besonders.  Einmal, 
wie  weit  die  Maclit  geht,  die  Onnpavclln  dem  Staat  im  Verhältniss 
zum  Einzelnen  einräumt?  Bei  allem  Missbrauch,  der  im  Interesse 
der  Tyrannen  mit  der  Formel  getrieben  worden  sey,  dass  der  ,,rn- 
lio  sfddis'''  Alles  untergeordnet  werden  müsse,  hält  er  sie  doch 
für  richtig.  Das  Wohl  des  Staates  ist  wirklich  die  höchste  poli- 
tische Aufgabe  (Pieal  philos.  p.  378).  Von  dreierlei  hängt  dies 
Wohl  ab,  von  Gott,  von  Staatsklugheit  ('prvdpiiüa) .  die  freilich 
etwas  ganz  Andres  seyn  soll  als  die  nsiviia  Mucvh'HtrellVs  und 
von  Glücksfällen  (Occasio).  Und  wieder  sind  der  Mitttel  drei, 
wodurch  dies  Wohl  gefördert  wird :  Ueben'edung  (dnffita),  Gewalt 
(MUilia)  und  Geld.  Ueberall  müssen  sie  sich  vereinigen:  der  mit 
Gold  beladeue  Esel  muss  Soldaten  hinter  sich  haben ,  welche  die 
Zeit  benutzen  wo  die  Bestochenen  ihr  Geld  zählen  (Ebend.  p.  387. 
386.  De  mon.  hisp.  XXIY,  p.  219).  Die  Gesetze,  als  die  Regeln 
nach  welchen  das  Wohl  des  Staates  gefördert  wird,  sind  also  für 
das  Ganze,  was  die  Tugenden  für  den  Einzelnen,  und  die  Gesetz- 
gebungs-  und  Regierungskunst  erfordert  darum  die  höchste,  ja 
eine  fast  göttliche,  Weisheit  (Reahs  philos.  II,  p.  224.  III,  p.  381). 
Nie  wird  sie  Einer  üben  der  nicht  versteht,  sein  Haus  und  sich 
selbst  zu  beherrschen,  welches  Beides  man  nur  durch  Gehorsam 
gegen  Gott  lernt.  Ohne  diesen  wird  der  Herrscher,  der  ein  Hirte 
seiner  Untergebnen  seyn  soll,  eine  Geissei  derselben  (Ebend.  III, 
p.  373).  Schon  der  eigne  Gehorsam  gegen  Gott,  mehr  noch  die 
Rücksicht  auf  das  Wohl  des  Staates,  wird  den  gesetzgebenden 
Regenten  dahin  bringen,  dem  Entstehen  und  der  Ausbreitung  der 
Ketzerei  entgegenzutreten.  Da  die  Rehgion  sich  zum  Staate  ver- 
hält,  wie  der  höhere  Geist  (mevs)   im  Menschen   zu   ihm   selbst 


552  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

(Ebend.  p.  387),  so  muss  in  dem  Staate  nur  eine  einzige  Religion 
gelten.  Enthält  nun  gar  die  abweichende  Religion  Lehren,  welche 
allen  Staat  unmöglich  machen,  wie  der  Calvinisraus,  welcher  lehrt 
dass  Keiner  an  dem  Schuld  ist,  was  er  thut,  so  ist  es  doppelt 
nothwendig,  sie  zu  unterdrücken.  Als  wirksamstes  Mittel  dazu 
empfiehlt  Qimpanefla,  dass  man  den  theologischen  Grübeleien 
den  Quell  verstopfe,  indem  man  anstatt  des  Studiums  der  grie- 
chischen und  hebräischen  Sprache,  woraus  die  (eigentlich  gram- 
matischen) Ketzereien  zuerst  in  Deutschland,  dann  in  Frankreich 
hervorgegangen  seyen,  auf  den  Schulen  das  Interesse  auf  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaften  lenkt.  Noch  viel  mehr  Eigenthüm- 
liches  zeigt  ContpavcHa  in  dem  Zweiten,  was  hier  zu  erwähnen 
ist,  seinem  Anpreisen  der  Universalmonarchie.  Dass  sie  wün- 
schenswerth,  das  steht  ihm  fest;  er  untersucht  daher  nur,  wie 
und  wem  sie  möglich  ist.  Deutschland  und  Frankreich,  welche 
sie  früher  wohl  hätten  gründen  können,  vermögen  es  jetzt  nicht, 
wohl  aber  Spanien.  Zwar  hat  man  grosse  Fehler  begangen,  in- 
dem man  Lvihcr  frei  walten  liess,  und  sich  die  deutsche  Kaiser- 
krone entgehen  liess,  aber  mit  gehöriger  Staatsklugheit,  indem 
man  die  durch  Lvllcr  noch  grösser  gewordene  Zersplitterung 
Deutschlands  benutzte,  das  vereinigt  mächtiger  wäre  als  der  Gross- 
türke, liesse  sich  das  Verlorene  wieder  einholen.  Heirathen  der 
Herrscher  und  der  Vornehmen  mit  Ausländerinnen,  wodurch  die 
Nationalunterschiede  sich  immer  mehr  verwischen,  Schwächung 
der  Vasallen,  indem  man  sie  unter  einander  zur  Eifersucht  reizt, 
und  die  Vornehmsten  unter  ihnen  durch  hohe  Ehrenposten  in  frem- 
den Ländern  unschädhch  macht,  gerechte  Handhabung  der  Ge- 
setze und  der  Besteuerung,  so  dass  sich  der  Glaube  verbreitet, 
dass  die  Armen  und  Niedrigen  bevorzugt  werden,  Sorge  für  die 
Schulen  und  vor  Allem  Freundschaft  mit  der  Kirche,  —  das  sind 
die  Rathschläge,  welche  in  der  Schrift  de  Mon.  hisp.  nicht  nur  im 
Allgemeinen,  sondern  mit  steter  Berücksichtigung  der  Weltlage  ge- 
geben werden,  mit  der  Campanella  sehr  vertraute  Bekanntschaft 
zeigt.  Einige  Mal  sagt  er,  dass  er  Genaueres,  namenthch  darü- 
ber, wie  die  Protestanten  in  Deutschland  zu  gewinnen  seyen,  für 
ein  mündliches  Gespräch  mit  dem  König  Philipp  dem  Zweiten  sich 
vorbehalte.  Nach  seiner  Freilassung  haben  angesehene  Staatsmän- 
ner der  verschiedensten  Nationalität  gern  politische  Gespräche  mit 
ihm  geführt.  Wenn  in  diesen  Lehren  sich  manche  Berührungs- 
punkte mit  Daiile  (s,  §.  208,  8)  nachweisen  Messen,  so  tritt  dage- 
gen Campnvel/a  in  eine  entschiedene  und  bewusste  Differenz  zu 
diesem  in  dem  Dritten  was  hervorzuheben  ist,  in  seiner  Ansicht 


n.  Die  Weltweiseu.     B.  Naturphilosophen.     Bruno.     §.  247,  l.  553 

vom  Papstthum.  Die  weltliche  Herrschaft  desselben  ist  ihm  einer 
der  wesentlichsten  Punkte.  Die  ganze  Geschichte  bestätige,  dass 
Oberpriester  ohne  weltliche  Macht  zu  Caplanen  der  weltlichen  Für- 
sten werden,  dass  dagegen  wo  die  wahre  Religion  mit  der  Predigt 
auch  das  Schwert  handhabt,  sie  unwiderstehlich  ist.  Die  beiden 
Schwerter,  von  denen  C/risfns  sagt,  dass  sie  genügen,  sind  beide 
der  Kirche  übertragen.  Wie  darum  die  die  Würde  des  Papstes 
nicht  begreifen,  welche  das  Concil  über  ihn,  die  Heerde  über  den 
Hirten,  stellen,  eben  so  wenig  die,  w^elche  ihm  die  Macht  bestrei- 
ten, widerspenstige  Fürsten  zu  züchtigen.  Auch  hier  bestätige  die 
Geschichte,  dass  die  scheinbar  siegenden  Concilien  und  Fürsten 
zuletzt  den  Päpsten  unterlagen.  Die  Fürsten  als  ein  Senat  um 
den  Papst  versammelt,  das  ist  Cdiupniiclla's  Ideal.  Begreiflich 
ist  es  darum,  dass  er  gegen  keinen  Politiker  einen  solchen  Grimm 
zeigt,  wie  gegen  MdccIihn'cH  (s.  weiterhin  §.  253).  Des  Florenti- 
ners so  energisch  durchgeführte  (heidnische)  Vergötterung  des  Na- 
tionalitätsprincips  steht  zu  dem  (katholischen)  Universalismus  des 
Calabresen,  der  immer  auf  Racenvermischung  dringt,  der  Hass  Je- 
nes gegen  das  Papstthum  zu  der  Begeisterung  dafür  bei  diesem 
in  einem  zu  grellen  Contrast,  als  dass  man  sich  darüber  wundern 
dürfte,  dass  der  Letztere  sich  Jahre  lang  mit  dem  Plane  herum- 
trug, gegen  den  Ersteren  ein  eignes  Werk  zu  schreiben.  Das  hat 
er  nicht  gethan,  wohl  aber  in  allen  seinen  politischen  Schriften 
nicht  nur  Mdcchidvellis  Ziele  als  diabolisch,  sondern  auch  die 
Mittel,  die  er  anräth,  als  infernal  verklagt.  Wenn  er  dabei  immer 
darauf  pocht,  dass  man  nicht  gewissenloss  sein  solle  in  der  Wahl 
derselben,  so  wird  der  Leser  schwerlich,  wie  er  selbst,  vergessen, 
dass  er  selbst  oft  Rathschläge  gibt,  welche  gar  sehr  an  die  Pra- 
xis erinnern,  die  man  dem  von  ihm  so  hoch  gestellten  Jesuiter- 
orden  (ob  mit  Recht  oder  Unrecht  gehört  nicht  hierher)  vorzuwer- 
fen pflegt. 

§.  247. 

Bruno. 

Steffens  Nachgelassene  Schriften.  Berlin  1846.  p.  43 — 76.  Chr.  BaHholmess 
Jordano  Bruno.  Tom.  I  et  II.  Paris  1846.  47.  F.  J.  Clemens  Giordano  Bruno  und 
Nicolaus  von  Cusa ,  eine  philosophische  Ahliandlung.    Bonn  1847.     S.  §.   2*24. 

1.  Giordano  Bnmo  ist,  wahrscheinlich  im  J.  1550,  obgleich 
Manche  ihn  bedeutend  älter  machen,  in  Nola  nahe  von  Neapel  als 
Kind  einer  guten  Familie  geboren ,  und  sehr  jung  in  den  Domini- 
canerorden getreten.  Seine  Begeisterung  für  die  Natur,  die  sich 
ihm  auch  in  seiner  glühenden  Sinnlichkeit  als  seine  Herrin  an- 
kündigte, musste  ihn  mit  einem  Beruf  in  Conflict  bringen,  der  im 


554  Mittelalterliche  'Philosophie.     Di-itte  Periode  (ITebergäng). 

Namen  der  Gnade  den  steten  Kampf  gegen  die  Natur  forderte. 
Wie  früh  er  sich  des  inneren  Zwiespalts  bewusst  wurde,  ob  dem- 
selben eine  längere  Zeit  sdnvärmerischer  Frömmigkeit  vorausging, 
und  ob  die  dem  Papst  Pinf;  V  zugeeignete  Jugendschrift  dell' 
arca  Noe  nicht  nur  den  Titel,  sondern  auch  den  Geist  mit  der 
Schrift  Hugo's  (§.  165,  4)  gemein  hatte,  ist  nicht  zu  entscheiden. 
Die  Beschäftigung  mit,  zum  Theil  leichtfertigen,  Poesien,  der  En- 
thusiasmus, mit  dem  ihn  die  Entdeckungön  des  (hpcriiinis.  so 
wie  die  Lehren  des  Tclesiiis  und  ihm  nahe  stehender  Männer  er- 
füllten ,  w^ar  nicht  geeignet  ihn  mit  dem  Ordenskleide  auszusöhnen. 
Sein  wachsender  Widerwille  dagegen  erfüllt  ihn  mit  immer  grös- 
serem Hass  gegen  das,  was  in  seinem  Orden  für  Wissenschaft 
gilt,  gegen  den  scholastischen  Aristotelismus,  und  die  Schriften 
so  kirchlich  gesinnter  Männer  wie  Halm  und  LuH  (§.  206)  und  Nl- 
colnus  von  Cvsa  (§.  224)  w^erden  von  ihm  eifrig  studirt  nur  um 
ihm  neue  Waffen  zu  schaffen  gegen  Arisfofc/rs  und  die  kirchliche 
Theologie.  Während  solcher  inneren  Kämpfe  und  vielleicht  auch 
äusserer  Conflicte  mit  seinen  Oberen  ward  wohl  eine  oder  die  an- 
dere der  leidenschaftlichen  Schriften,  die  er  später  drucken  Hess, 
geschrieben  oder  doch  entworfen.  Durch  Flucht  entzieht  er  sich 
endlich  dem  unerträglich  gewordenen  Druck  und  beginnt  ein  Le- 
ben ,  das  wohl  dadurch  so  ruh  -  und  rastlos  wird ,  weil  er  nirgends, 
wenigstens  für  längere  Zeit ,  Hörer  fand ,  die  für  seine  Lehren  em- 
pfänglich waren ,  noch  auch  üljerall  Buchdrucker ,  die  bereit  waren, 
dieselben  der  Nachwelt  zugänglich  zu  machen.  Beides  fehlte  am 
Meisten  in  Genf,  wo  er  sich  zuerst,  im  J.  1580,  hinbegab,  von 
wo  aber  die  an  Starrheit  grenzende  religiöse  Strenge,  die  Beza's 
allbestimmender  Einfiuss  dort  erhielt ,  ihn  bald  weiter  trieb.  Dann 
scheint  er  in  Lyon  und  Toulouse  sich  längere  Zeit  aufgehalten  zu 
haben,  hat  auch  an  letzterem  Orte  den  vergeblichen  Versuch  ge- 
macht als  Lehrer  zu  wirken.  Glücklicher  war  er  in  Paris,  wo  bei 
seinem  Erscheinen,  1582,  sogar  eine  ordentliche  Professur  sein 
geworden  wäre,  wenn  er  sich  zum  Besuch  der  Messe  verpflichtet 
hätte.  Seine  Vorlesungen  betrafen  nur  die  Lull'sche  Kunst.  Auch 
die  in  Paris  gedruckten  Sachen,  mit  Ausnahme  des  Candelajo, 
eines  den  Geiz ,  Aberglauben  und  Pedantismus  verhöhnenden  ita- 
liänischen  Lustspiels,  betreffen  nur  die  ars  mngjsa.  Es  sind:  Can- 
tus  Circaeus,  Compendiosa  architectura  artis  Lullii,  und  de  um- 
bris idearum.  Dass  er  die  eigenthchen  Interna  seiner  Lehre  hier 
nicht  öffentlich  vortragen  könne,  sah  er  bald.  Auch  einen  Drucker 
für  sie  fand  er  nicht,  wenigstens  Keinen,  der  so  etwas  in  Frank- 
reich wagen  wollte.    Der  Gunst  des  König  Jlcivrichs  lU  und  an- 


II.  Die  Weltweisen.     B    Naturphilosophen      Bruno.     §.  247,  1.  555 

drei"  hoher  Gönner  dankt  er  es  wohl,  dass,  als  er  im  folgenden 
Jahre  nach  England  ging,  das  Haus  des  französischen  Gesandten 
Mmirissler  ihn  aufnahm.  Neben  diesem  gehörte  P/iil.  Sidney  zu 
seinen  Gönnern.  Selbst  die  Königin  Elisabeth  scheint  ihm  wohl 
gewollt  zu  haben.  Als  daher  seine  Vorlesungen  in  Oxford  über 
Unsterblichkeit  und  das  Copernicanische  System  bald  inhibirt  wur- 
den, zog  er  es  vor  in  London  im  engen  Freundeskreise  zu  leben; 
es  gab  ihm  das  zugleich  Gelegenheit,  durch  den  gelehi-ten  Buch- 
drucker Vdufrollicr,  der  gleichzeitig  mit  ihm  von  Frankreich  her- 
übergekommen war,  der  Welt  endlich  die  eigentlichen  arcava  seiner 
Lehre  vorzulegen.  Es  geschah  dies  in  den  italiänischen  Schriften 
La  cena  delle  ceneri,  della  causa  principio  ed  uno,  del  infinito 
universo  e  mondi,  Spaccio  della  bestia  trionfante,  Cabala  del  ca- 
vallo  Pegaso ,  degli  eroici  furori.  Die  Explicatio  triginta  sigllloram 
mit  dem  Anhange  Sigillus  sigillorum  Avard  gleichfalls  in  London 
veröffentlicht ,  betrifft  aber  wieder  mehr  die  Methode  seiner  Lehre 
als  sie  selbst.  Es  muss  charakteristisch  genannt  werden,  dass 
die  Schriften,  die  am  Meisten  Hass  gegen  die  kirchliche  Philoso- 
phie athmen ,  in  der  profanen  Nationalsprache  verfasst  sind.  War 
es  nun,  weil  seine  Gönner  England  verliessen,  oder  haben  andere 
Gründe  es  veranlasst,  genug  im  J.  1586  erscheint  Bruno  wieder 
in  Paris,  aber  nur  wie  ein  Durchreisender,  der  einer  dreitägi- 
gen Disputation  präsidirt,  in  der  ein  junger  Franzose,  Hcnne- 
(jitiv,  Bnino\s  Articuli  de  natura  et  mundo  vertheidigt,  die  gegen 
die  Aristotelische  Physik  aufgestellt  wurden.  In  derselben  Zeit 
wurde  auch  die  Figuratio  Aristotelici  auditus  physici  gedruckt. 
Nun  versucht  er  es  mit  Deutschland.  In  Marburg  zurückgewiesen 
begiebt  er  sich  nach  Wittenberg.  Trotz  der  von  ihm  rühmend  an- 
erkannten Duldsamkeit ,  die  er  hier  fand ,  hat  er  doch  in  den  zwei 
Jahren,  die  er  daselbst  zubrachte,  in  Vorlesungen  und  Schriften 
nur  Exoterisches,  Rhetorik  und  Lullsche  Kunst  betreffendes,  ans 
Licht  treten  lassen.  Der  Acrotismus,  welcher  seine  Pariser  The- 
sen und  ihre  Vertheidigung  enthält ,  de  lampade  corabinatoria  Lul- 
liana,  de  progressu  et  lampade  Logicorum,  -endlich  die  Oratio 
valedictoria  sind  in  Wittenberg  bis  zum  J.  1588  gedruckt,  so  wie 
das  erst  1612  erschienene  Artificium  perorandi  im  J.  1587  in  die 
Feder  dictirt  ward.  Vielleicht  glaubte  er  in  Prag,  wo  er  sich 
1588  hinbegab,  sich  freier  bewegen  zu  können.  Er  täuschte  sich: 
nur  de  specierum  scrutinio  und  articuli  centum  sex  adversus  Ma- 
thematicos  hujus  temporis  konnten  dort  gedruckt  werden.  Bessere 
Aussichten  eröffneten  sich  ihm  als  der  Herzog  Jidiiis  von  Braun- 
schweig ihn  nach  Helrastädt  zog.    Kaum  hingekommen  musste  er 


556  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

auf  den  Tod  seines  Gönners  eine  Oratio  consolatoria  halten,  ge- 
rieth  auch  in  Händel  mit  dem  Prediger  Boctinvs,  der  ihn  öffent- 
lich excommunicirte,  und  wenn  er  gleich  noch  ein  Jahr  in  Helm- 
städt  blieb,  so  hat  dies  Alles  ihm  doch  den  Aufenthalt  verleidet. 
Im  J.  15yi  findet  man  ihn  in  Frankfurt,  wo  ausser  de  imaginura 
signorum  et  idearum  compositione,  die  drei  lateinischen  Lehrge- 
dichte nebst  Anmerkungen  gedruckt  wurden ,  welche  mit  den  zwei 
itahänischen  della  causa  und  delinfinito,  für  die  gründliche  Kennt- 
niss  seiner  Lehre  die  wichtigsten  sind:  De  triplici  minimo  et  men- 
sura,  de  Monade  numero  et  figura,  de  Immenso  et  innumerabilibus 
s.  de  universo  et  mundis.  Während  ihres  Drucks ,  wie  sein  Ver- 
leger, der  dem  Phil.  Sidiiey  befreundete  Buchdrucker  Wcchel  in 
Frankfurt  meldet,  verlässt  Brvno  Frankfurt  und  Deutschland, 
scheint  im  Fluge  Zürich  berührt  und  dort  die  Summa  terminorura 
metaphysicorum  dictirt  zu  haben,  die  zuerst  in  Zürich  1595,  spä- 
ter erweitert  in  Marburg  1612  erschienen  sind.  In  demselben 
Jahre  lebt  und  lehrt  er  in  Padua.  Dem  immer  näher  kommenden 
Ungewitter  sich  zu  entziehn,  begiebt  er  sich  nach  Venedig.  Ver- 
gebhch,  denn  wenn  ihn  auch  die  Venetianer  nicht  gleich  auf  die 
Aufforderung  des  Gross -Inquisitors  nach  Rom  ausMefern,  so  hal- 
ten sie  ihn  doch  gefangen  und  weichen  endlich  dem  wiederholten 
Drängen.  Im  J.  1598  nach  Rom  gebracht,  hat  er  fast  zwei  Jahre 
der  Zumuthung  des  Widerrufs  widerstanden  und  hat  „als  Ketzer 
und  Häresiarch"  am  17"""  Fbr.  mit  dem  erhabnen  Worte  den  Feuer- 
tod erlitten:  Euch  selbst  macht  euer  Urtheil  mehr  zittern  als  mich. 
Die  Schriften  des  Bruno  waren,  weil  in  sehr  kleiner  Anzahl  ge- 
druckt, sehr  selten  geworden,  als  Ad.  Wagner  die  italiänischen 
herausgab:  Opere  di  Giordano  Bruno  Nolano  Vol.  I  et  II.  Lips. 
1830.  Als  Ergänzung  dazu  sollten  dienen:  Jordani  Bruni  Nolani 
scripta  quae  latine  confecit  omnia  ed.  A.  F.  G/rörer.  Stuttg.  Lond. 
et  Paris.  1834,  die  Ausgabe  ist  aber  leider  ins  Stocken  gerathen, 
so  dass  darin  nicht  nur  die  beiden  akademischen  Reden,  sondern 
auch  die  drei  wichtigsten  Schriften,  die  in  Frankfurt  herausge- 
kommenen Lehrgedichte ,  fehlen.  Dabei  ist  ohne  jedes  Princip  von 
der  chronologischen  Reihenfolge  abgewichen.  Ausser  diesen  Wer- 
ken finden  sich  von  Brinio  selbst  einige  Schriften  citirt.  Unter 
anderen  ein  Liber  triginta  statuarum,  von  dem  neuerlichst  die 
Buchhandlung  Tross  in  Paris  bekannt  macht,  sie  besitze  ein  1591 
in  Padua  geschriebenes  MS.  desselben.  Ausserdem  kündigt  dieselbe 
Buchhandlung  einige  bis  jetzt  ungedruckt  gebliebene  Autographa 
Brniids  an. 

2.  Wollte  Jemand  aus  Bruno" s  Schriften  alle  Sätze,   die  er 


II.  Die  Weltweiseu.»   B.  Naturphilosophen,    Bruno.     §.  247,  2.  3.  557 

früheren  Schriftstellern  entlehnt,  als  fremdes  Eigenthum  zusam- 
menstellen, so  gäbe  das  einen  reichen  Yorrath.  Er  selbst  spricht 
sich  über  diese  Entlehnungen  oft  so  aus,  als  wäre  er  eiu  reiner 
Eklektiker  (vgl.  u.  A.  della  causa  p.  258.  de.  umbr.  id.  p.  299). 
Nur  darin  zeigt  er  sich  anders  als  die  Synkretisten ,  dass  er  sehr 
genau  die  Verdienste  seiner  Gewährsmänner  unterscheidet  und  ab- 
wägt. Unter  den  Alten  stellt  er  besonders  hoch  den  Pyllmgorus: 
er  tadelt  den  Pinto,  dass  er,  um  originell  zu  seyn,  die  Lehren 
desselben  oft  verschlechtert  habe.  Aristoteles  und  die  Peripate- 
tiker  werden  oft  citirt,  aber  fast  nur  um  sie  zu  widerlegen;  ihnen 
gegenüber  nennt  er  sich  selbst  wohl  einen  Platoniker.  Die  Stoi- 
ker werden  von  ihm  oft  in  Schutz  genommen.  Mehr  noch  die 
Epikureer;  kaum  Einer  dient  ihm  so  oft  als  Gewährsmann,  als 
der,  gleich  ihm  selbst,  die  Xatur  vergötternde  LucreUiis,  Sowol 
auf  orientalisirende  Hellenen,  als  auf  hellenisirende  Orientalen  (s. 
oben  §.  110  — 114)  nimmt  er  Rücksicht.  Kühler  äussert  er  sich 
über  Albert  und  Thomas,  noch  kälter  über  Onus.  Dass  er  den 
Ersten  dieser  Drei  einmal  weit  über  ^dfy/A/oft'/es  stellt,  ist  erstlich 
in  seinem  Munde  kein  sehr  grosses  Lob,  zweitens  aber  ward  es 
auch  gesagt,  wo  es  sich  darum  handelte  Deutschland  zu  preisen. 
Mit  grosser  Anerkennung  spricht  er  von  Halm  und  Lull ,  aber  nur 
wegen  seiner  Methode,  die  ihm  als  eine  wirklich  göttliche  Erfin- 
dung gilt.  Ungemessen  aber  ist  seine  Ehrfurcht  vor  Xlcolaus 
COR  Cusa  (§.  224);  an  diesen  lehnt  er  sich  so  an,  dass  er  gera- 
dezu sein  Schüler  genannt  werden  kann.  Sogar  das,  wodurch 
Copernicirs  ihm  so  hoch  steht ,  die  Unendlichkeit  des  Raumes  und 
die  Bewegung  der  Erde,  sieht  er  nicht  als  dessen,  sondern  als 
des  Cusaners  Entdeckungen  an.  Neben  diesen  wird  stets  mit  Lob 
Telcsiiis  erwähnt,  und  nicht  nur  in  der  Bekämpfung  der  Peripateti- 
ker,  sondern  auch  in  vielen  physikalischen  Behauptungen  schliesst 
sich  Bruno  ihm  au.  Dass  die  erstere  allein  in  seinen  Augen  nicht 
adelt,  zeigt  er  in  seiner  wegwerfenden  Beurtheilung  des  P.  Hamus 
(s.  oben  §.  239)  und  Patritius  (s.  §.244).  Paracelsns  (s.  §.  241) 
gilt  ihm  als  der  genialste  Arzt,  Philosoph  sey  er  so  wenig  wie 
Copernicus.  Mit  entschiedner  Nichtachtung  spricht  er  von  den 
„Grammatikern",  die  an  die  Stelle  der  Philosophie  die  Philologie 
setzen,  und  Jeden,  der,  weil  er  neue  Gedanken  hat,  neue  Worte 
braucht,  verschreien.  Deutlich  wird  dabei  auf  JSlzollus  und  an- 
dere Ciceronianer  hingewiesen,  und  ihnen  der  Maugel  an  Selbst- 
ständigkeit vorgeworfen. 

3.   Eine  solche  Forderung  an  Andere  ist  ein  Beweis,   dass 
Bruno  sich  selbst  als  einen  originellen  Denker  ansieht,  womit  auch 


558  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

seine  Gewissheit,  bei  der  Nachwelt  mehr  als  von  der  Mitwelt  an- 
erkannt zu  werden,  zusammenstimmt.  Auch  hat  er  Recht,  trotz 
aller  jener  Entlehnungen,  denn  eine  ganz  neue,  bis  dahin  ganz 
unerhörte  Stellung  erhalten  in  seinem  Munde  alle  Lehren,  sie  mö- 
gen ursprünglich  angehören  wem  sie  wollen ,  der  römischen  Kirche 
und  dem  ganzen  Christenthum  gegenüber.  Dass  er  mit  beiden 
gebrochen  hat,  das  ist  seine  originelle  That.  Bei  den  formellen 
Untersuchungen,  welche  den  Inhalt  seiner  Pariser  Schriften  bil- 
den, konnte  dies  nicht  so  sichtbar  werden.  Sollte  ihm  daher  in 
Paris,  so  wie  später  in  Wittenberg ,  nicht  Vorsicht  geleitet  haben, 
so  hätte  schon  die  Wahl  seines  Gegenstandes  ihm  Zurückhaltung 
zur  Pflicht  gemacht.  Bei  seinen  Betrachtungen  der  Lullschen 
Kunst  konnten  höchstens  beiläufige  Bemerkungen  Platz  finden,  wie 
die,  dass  es  Faselei  gewesen  sey,  wenn  Lud  durch  seine  grosse 
Kunst  gemeint  habe,  beweisen  zu  können:  tjuae  confrd  omne  ru- 
liocinltim,  pliUosopli'uun,  utiam  ftdcm  ei  credtdUatcm ,  solis  C/iri- 
slicolis  siuii  renelala.  In  den  Pariser  sowol  als  den  Wittenberger 
Schriften,  verfährt  übrigens  Bnnio  so,  als  kenne  er  nur  die  Form 
der  Lullschen  Kunst,  welche  sie  später  in  der  Ars  compendiosa. 
Tabula  generalis  und  ihrer  Brevis  practica  erhalten  hatte ,  wo  näm- 
lich die  früher  sechzehn  Prädicate  der  VUjitru  A  auf  neun,  und 
die  vielen  Ringe  der  Fiijwru  unirersalis  auf  vier  reducirt  waren 
(s.  oben  §.  206,  4  10.  11),  setzt  aber  diese  Darstellungen  Lnlls 
bei  seinen  Lesern  so  voraus,  dass  er  u.  A.  gar  nicht  einmal  er- 
klärt, was  der  Buchstabe  T  bei  Lull  bedeutet,  durch  den  seine 
Ternionen  den  Anschein  von  Quaternionen  bekommen.  (So  in  den 
Pariser  Schriften;  die  Wittenberger  geben  diese  Erklärung  und 
sind  darum  verständlicher.)  Die  Pariser  Schriften  heben  im  Gan- 
zen mehr  den  mneinonischen  Nutzen  der  grossen  Kunst,  die  Wit- 
tenberger den  topischen  für  das  Reden  und  Disputiren  hervor. 
Die  beiden  Schriften  von  den  Schatten  der  Ideen,  und  von  der 
logischen  (d.  h.  W^ahrheits-)  Jagd  stellen  sich  in  ein  etwas  freieres 
Verhältniss  zu  Lull,  aber  auch  sie  betreffen  mehr  die  Methode 
als  das  Object  des  Erkennens  und  müssen  darum,  wie  alle  latei- 
nischen Schriften,  mit  Ausnahme  der  drei  Frankfurter,  zu  den 
exoterischen  gerechnet  werden,  welche  die  eigentüchen  Geheim- 
nisse seiner  Lehre  nicht  entwickeln,  darum  aber  auch  seine  Stel- 
lung zur  Kirche  nicht  verrathen.  Dass  er  dies  nicht  dürfe,  wo 
er  an  einer  Universität  wirken  wolle,  das  hatten  ihm  Toulouse, 
Paris,  Oxford  gezeigt,  und  er  vergass  es  auch  später  in  Witten- 
berg und  Helmstädt  nicht.  Nur  unter  gebildeten  Weltmännern 
oder  nur   indem  er  zu   einer  fortgeschrittenen  Nachwelt   sjjrach, 


U.  Die  Weltweiseu.     B.  Naturphilosophen.     Bruno.     §.  247,  3.  559 

konnte  er  dem  Drange  sein  tiefstes  Inneres  zu  olfenbaren  nach- 
geben. Für  beide  sind  die  Werke  gescimeben ,  in  denen  er  niclit 
die  von  der  Kirche  sanctionirte ,  sondern  die  profane  Sprache  re- 
det, die  seine  Muttersprache  ist  und  zugleich  die  der  gebildeten 
Höfe.  In  keinem  seiner  italiänischen  Werke  prägt  sich  der  Bruch 
mit  der  kirchUchen  Anschauung  so  grell  aus,  als  in  dem  Spaccio, 
es  ist  als  ob  der  Verfasser  im  Kreise  wissenschaftlich  gebildeter 
Gönner,  unter  dem  Schutz  einer  vom  Papst  excommunicirten  Kö- 
nigin, sich  endlich  frei  fühlt  von  dem  Druck,  unter  dem  er  in 
Itahen,  Genf,  Toulouse,  Paris,  Oxford,  geschmachtet  hatte,  und 
nun  all  seineu  Hass  und  Zorn  auslässt.  Zwar  ist  die  bcaüa  Irion- 
füute,  die  er  hier  abfertigt,  nicht,  wie  Manche  aus  dem  Titel  ge- 
schlossen haben,  der  Papst  oder  das  Papstthum,  sondern  Bruno 
legt  in  dieser  Schrift  die  Grundbegriffe  seiner  Moralphilosophie 
so  nieder,  dass  er  erzählt,  wie  Jupiter  sich  mit  den  Göttern  über 
die  neuen  Namen  beräth,  ^Yelche,  anstatt  der  früheren  mytholo- 
gischen, den  Sternbildern  zu  geben  seyen,  damit,  indem  zu  die- 
sen Namen  lauter  ethische  Begriffe  (Wahrheit,  Klugheit,  Gesetz- 
lichkeit u.  s.  w.)  genommen,  dagegen  die  früheren  Ungeheuer  am 
Himmel,  als  Symbole  von  Lastern,  entfernt  werden,  die  Menschen 
dahin  kommen,  statt  dieser  bisher  herrschenden  (triumphirenden) 
jene  zu  verehren.  x\ber  in  der  Durchführung  dieses  Thema's,  ganz 
besonders  in  dem,  was  Momus  (das  personificirte  Gewissen)  vor- 
bringt, spricht  sich  ein  solcher  Hohn  aus  gegen  die  christlichen 
Dogmen,  dass  man  es  nicht  als  zufälhg  ansehen  darf,  wenn  der- 
selbe ,  welcher  hier ,  bei  Gelegenheit  des  Centauren ,  über  die  Ver- 
einigung zweier  Naturen  spottet,  früher  gegen  die  Transsubstan- 
ziation  geschrieben  und  den  Besuch  der  Messe  verweigert  hat, 
später  bei  seinem  Tode  sich  unwillig  vom  Crucifix  abwenden  wird. 
Das  Dogma  vom  Gottmenschen  war  ihm,  der  Jesum  nur  neben 
den  PiiLliuynras  stellt,  und  dem  die  „Galiläer"  so  viel  gelten  wie 
die  Schüler  anderer  Weisen,  ein  Stein  des  Anstosses.  War  aber 
(s.  §.117)  der  Gottmensch  das  Christenthum  In  nuce,  so  ist  damit 
auch  BnuKj's  Stellung  zum  Christenthum  gesetzt.  Man  darf  ihn 
nicht  einen  Atheisten,  man  darf  ihn  nicht  irreligiös  nennen:  seine 
eroici  furori  zeigen  eine  religiöse  Begeisterung,  die  an  Gotttrunken- 
heit streift,  und  ihm  ein  Recht  gibt  an  den  von  ihm  gern  gebrauch- 
ten Namen  Philollieus.  Aber  seine  Religiosität  hat  gar  keine  christ- 
liche Färbung ,  seine  Begeisterung  gleicht  viel  mehr  der,  welche  uns 
in  dem  Hymnus  des  Kleanlh  (g.  97,  3)  begegnet,  als  etwa  der  eines 
Bonaventura  f  und  das  weiss  er  selbst  sehr  gut.  Darum  ist  es 
ihm  mit  dem  Hereinnehmen  mythologischer  Götternamen  viel  mehr 


o60  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

Ernst  als  etwa  dem  Dante,  darum  weiter  sind  seine  Ausfälle  ge- 
gen die  Ciiculiafi  stets  auf  die  römische  Kirche  gemünzt,  woraus 
aber  gar  nicht  folgt,  dass  ihm  das  Lutherische  oder  Calvinische 
Bekenntniss  mehr  zusage:  über  die  Rechtfertigung  nur  aus  dem 
Glauben  spottet  er  eben  so  bitter.  Er  versucht  eben,  und  er  ist 
der  Erste  der  dies  thut,  sich  ganz  ausserhalb  des  Christenthums 
zu  stellen,  und  bestätigt  dabei  das  Wort  dessen,  der  da  sprach: 
wer  nicht  für  mich  ist ,  ist  wider  mich.  Gebrochne  Liebe  ist  Hass. 
Er  weiss  es  selbst,  dass  seine  Lehre  heidnisch  ist,  darum  nennt 
er  sie  die  uralte  (Cena  p.  127). 

4.  Mit  dieser  Lossagung  vom  Christenthum  aber  muss  die 
Lehre,  als  deren  Anhänger  sich  Bruno  stets  bekennt,  wenn  er 
nicht  nur  die  cohicidentia  oppositorum  als  sein  Princip  angibt, 
sondern  auch  ihre  Hauptlehren  sich  aneignet,  die  des  Nicola ns 
ron  Cnsa .  sehr  wesentliche  Modificationen  erleiden.  Bei  diesem 
war  die  Lehre  vom  Gottmenschen  das  Centrum  seiner  Speculation 
gewesen,  indem  ja  in  dem  Gottmenschen  das  Unendliche  mit  dem 
Endlichen  Eins  ward,  und  also  auch  der  Monismus  oder  Totalis- 
mus, den  die  Lehre  von  dem  Unendlichen  gezeigt  hatte,  sich  mit 
dem  Pluralismus  oder  Individualismus  in  der  Lehre  vom  Endli- 
chen ausglich,  und  indem  wieder,  weil  die  Kirche  nur  der  zum 
Organismus  erweiterte  Gottmensch  war,  sich  von  selbst  der  kirch- 
liche Charakter  seiner  Lehre  ergab.  Nicht  nur  den  letzteren  wird 
die  jetzt  entchristlichte  Lehre  bei  dem  Nolaner  verlieren,  sondern 
auch  der  Monismus  und  Pluralismus  werden  jetzt  auseinandertre- 
ten, und  so  weit  dies  geschieht,  sich  den  beiden  Extremen,  die 
Nicolaus  so  glücklich  vermieden  hatte ,  dem  Pantheismus  und  Ato- 
mismus, annähern.  Nirgends  streift  Bnino  so  nahe  an  den  Pan- 
theismus als  in  den  beiden  italiänischen  Schriften,  die  gleichzeitig 
mit  dem  Spaccio  erschienen ,  der  Schrift  della  causa ,  aus  der  eben 
darum  F.  H.  Jacobi  Auszüge  machen  konnte ,  um  ihre  Verwandt- 
schaft mit  Spinoza  zu  zeigen ,  und  der  anderen  del  lufinito.  Was 
der  Cusaner  von  Gott  gesagt  hatte,  das  wird  in  diesen  beiden 
Schriften  (wenigstens  nahezu)  von  der,  von  Nicofaus  geleugneten, 
W^eltseele  prädicirt,  und  damit  das  beseelte  Univei-sum  fast  ganz 
an  die  Stelle  Gottes  gesetzt.  Dabei  ist  sich  Bruno  seiner  Annähe- 
rung an  den  Pantheismus  der  Stoiker  so  bewusst,  dass  er  ihren 
Alles  durchdringenden  Zeus  gern  zur  Bestätigung  seiner  Lehre 
citirt.  Der  allgemeine  Verstand,  der  nicht  als  (von  Aussen  zie- 
hende) Ursache,  sondern  als  (von  Innen  treibendes)  Princip  aller 
Dinge  bestimmt  wird,  heisst  ausdrücklich  die  vornehmste  Kraft 
der  Weltseele.     Derselbe  ist  mit  seinem  Seyn- können,   d.  h.  der 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Bruno.     §.  247,  4.  561 

Materie,  ganz  Eins,  so  dass  die  Materie  nicht  mit  den  Peripate- 
tikern  als  ein  prope  vi/iit ,  sondern  eher  mit  David  ron  Dhimif 
(§.  192)  als  ein  Göttliches  anzusehen  ist,  als  der  unendliche  Aether, 
der  alle  Dinge  in  seinem  Schoosse  trägt  und  aus  sich  hervorgehn 
lässt.  Dieser  beseelte,  den  unendlichen  Raum  erfüllende,  Aether 
oder  das  Universum  ist,  weil  es  Alles  umfasst,  das  Grösste,  weil 
es  in  Allem  ist,  das  Kleinste,  und  verbindet  mit  diesem  alle  an- 
deren Gegensätze:  weil  es  sich  unendlich  schnell  bewegt  ruht  es, 
weil  es  überall  Centrum,  ist  es  überall  (oder  auch  nirgends)  Pe- 
ripherie u.  s.  w.  In  diesem  unendlichen  Universum  bewegen  sich, 
durch  innere  Beseelung  und  nicht  durch  einen  von  den  Peripate- 
tikern  ersonnenen  primtts  mntor ,  die  Planeten  und  Kometen  um 
ihre  Sonnen,  und  bilden  so  unendlich  viele  Welten,  zwischen  de- 
nen nur  Die  Metakosmien  annehmen  werden,  die  von  schaalen- 
artigen  Himmeln  träumen.  Man  darf  ja  nicht  das  Universjim  oder 
All  mit  der  Welt,  ja  nicht  einmal  mit  dem  Complex  aller  Dinge 
verwechseln.  Die  Welt  ist  nur  ein  Sonnensystem.  Die  Dinge  wie- 
der sind  nur  wechselnde  vorübergehende  Weisen  oder  Zustände 
(civvonstanzie)  des  Alls,  die  immer  neuen  Platz  machen,  während 
das  Universum,  da  es  was  es  seyn  kann  schon  ist,  stets  dasselbe 
bleibt.  Darum  ist  die  Weltseele  als  diese  eine  und  selbige  in  der 
Pflanze  und  im  Thier  nicht  nur  zugleich,  sondern  in  ganz  glei- 
cher Weise,  der  Unterschied  in  der  Beseelung  von  Pflanzen  und 
Thieren  kommt  nur  von  der,  zu  jener  hinzukommenden ,  beschränk- 
ten Pflanzen-  und  Thier -Natur.  Während  das  unendliche  Uni- 
versum was  es  seyn  kann,  ewig,  ist,  verwii-klicht  sich  in  dem 
endlichen  Einzelwesen  Alles,  was  es  seyn  kann,  nur  nacheinan- 
der; alle,  die  körperlichen  oder  ausgedehnten  sowol  als  die  intel- 
lectuellen,  denn  sie  sind  der  Substanz  nach  nicht  verschieden, 
durchlaufen  daher  allmählich  die  in  ihnen  liegenden  Möglichkeiten, 
die  Thierseelen  steigen  zu  Menschenseelen  auf  u.  s.  w.  Die  Ein- 
zelwesen, welche  durch  die  Wahrnehmung  percipirt  werden,  sind 
daher  nicht,  wie  diese  sie  uns  vorspiegelt,  Substanzen,  sondern 
sind  Accidenzien  und  werden  durch  die  Vernunft  als  solche  er- 
kannt. Die  Vernunft  wird  nämlich  durch  die  Sinne  veranlasst,  zu 
dem  aufzusteigen,  das  alle  Gegensätze  in  sich  verbindet,  und  an 
dem  die  wahrgenommenen  Dinge  Accidenzien  sind.  Dass  dieses 
Eine  nicht  mit  dem  Gott  der  Theologen  zusammenfällt,  dess  ist 
sich  Bruno  wohl  bewusst,  er  trennt  daher  die  Philosophie  von 
der  Theologie ,  beschränkt  jene  ganz  auf  die  Naturbetrachtung  und 
behauptet,  der  wahre  Philosoph  und  der  gläubige  Theolog  hätten 
Nichts  mit  einander  zu  theilen  (della  causa  p.  275).     Nicoluus, 

Erdmann,  Gesch.  d.  l'liil.  I.  ßfi 


562  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

der  dies  nimmer  zugestanden  hätte ,  miiss  sich  von  ihm  den  Vor- 
wurf gefallen  lassen,  sein  Priesterkleid  habe  ihn  zu  sehr  beengt. 
5.  Hatten  die  beiden  Londoner  Schriften  gezeigt,  wie  nahe 
Bruno  die  Lehre  des  Cusaners  dem  Stoischen  Naturpantheismus 
zu  bringen  vermochte,  so  zeigen  dagegen  die  drei  Frankfurter 
Lehrgedichte ,  wie  viel  dem  Demokrit  und  Lircrez  Verwandtes  sich 
aus  jener  Lehre  ziehen  lässt.  Es  geschieht  aber  lange  nicht  mit 
solch  einseitiger  Consequenz  wie  dort  mit  dem  entgegengesetzten 
Momente.  Mag  in  den  sieben  Jahren  zwischen  der  Herausgabe 
von:  della  causa  und  von:  de  triplici  minirno  die  Erfahrung,  dass 
man  iu  der  ausschiesshch  theologischen  Universität  den  Anders- 
gläubigen ruhig  gewähren  Hess,  ihn  milder  gegen  die  Theologie 
gestimmt  haben,  mag  er  wh'klich,  wie  Einige  aus  einer  Aeusse- 
rung  in  der  oratio  consolatoria  und  dem  Factum  der  Excommuni- 
cation  gefolgert  haben,  in  Helmstädt  zur  reformirten  Confession 
aus  innerem  Drange  sich  bekannt  haben,  oder  mag  der  frühere 
Grimm  ruhiger  Gleichgültigkeit  gewichen  seyn,  was  man  fast  da- 
raus schliessen  möchte,  dass  er  (de  Immenso  Lib.  HI,  p.  332) 
nur  keiner  Antwort  würdige  Dummheit  darin  sieht,  wenn  man  die 
Physik  mit  Bibelstellen  angreift,  —  genug  das  Factum  ist  nicht 
abzuleugnen,  dass  Bnnio  in  seinen  letzten  Schriften  sich  weniger 
schroff  über  die  Theologie  äussert,  und  auch  wieder  mehr  der 
ursprüngUchen  Lehre  des  Nirolans  von  Cnsd  annähert.  In  den 
mannigfaltigsten  Formen  werden  die  drei  Stufen  Dens  —  T^//'- 
ciens  ille ,  quortuifjnc  (ippciietur  nomine,  uiiirersults  sagt  er  De 
Immeuso  I,  1.  p.  151)  —  Tsulura  und  Balio  als  Mens  super 
omnia ,  omnibns  hisitu ,  omnia  pervddeiis ,  oder  als  dietans ,  fn- 
ciens ,  conleiiipluns,  endlich  als  Monas,  Numerus  und  Numerus 
numerans  unter  einander  gestellt,  so  dass  das  Erste  die  Ideen 
in  sich  trägt,  das  Zweite  die  t:es(i(jla  derselben  darstelle,  das 
Dritte  die  umhrae  derselben  erfasse,  dass  Tot  um ,  Omnia  und 
Siiigaltnn  dieser  Stufenfolge  entspreche  und  des  Menschen  Auf- 
gabe sey,  den  omuiformis  Deus  aus  der  omni/ormis  imayo  ejus 
zu  erkennen  u.  s.  w.  Eine  Trennung  von  Gott  und  Universum 
will  er  auch  jetzt  nicht,  Gott  soll  weder  sKpra  noch  extra  omnia, 
sondern  in  omnibns  praesentissimns  seyn  (Ebend.  VIII,  10.  p.  649), 
ganz  wie  die  entitas  in  allen  entibus,  aber  dass  sie  beide  mehr 
unterschieden  werden ,  als  in  den  italiänischen  Schriften ,  und  dass 
er  sich  im  guten  Glauben  die  Unterscheidimg  des  Cusaners  zwi- 
schen implieatio  und  e.rplicatio  aneignen  kann,  scheint  zweifellos. 
Mit  dieser  Entfernung  vom  Pantheismus  geht  es  nun  Hand  in 
Hand,   dass  das  jenem  entgegengesetzte  Moment  sich  so  in  den 


II.  Die  Weltweiseii.     B    Naturphilosophen.     Bruno.     §.  247,  5.  563 

Vordergrund  stellt,  dass,  wenn  man  mit  Recht  in  della  causa  die 
Wurzeln  des  Spinozismus  (s.  §.  272)  gesehen  hat,  mit  vielleicht  noch 
grösserem  Rechte  seine  Schriften  vom  Kleinsten  und  der  Monade  die 
Quellen  genannt  worden  sind,  aus  welchen  Leilmiiz  (s.  §.  288)  seine 
Monadologie  schöpfte.  Der  Grundsatz  des  Nicolaus,  dass  es  in  der 
Sphäre  des  Theilbaren  keinen  endlosen  Progress  gebe,  führt  den 
Brinio  dahin ,  dass  überall  der  letzte  Grund  ein  minimnm  sey, 
welches  sich  zu  den  Dingen  verhalte,  wie  die  Einheit  zur  Zahl, 
das  Atom  zum  Körper.  Selbst  die  mathematischen  Begriife  Linie, 
Fläche  u.  s.  w.  machen  keine  Ausnahme.  Zwar  hinsichtlich  derjeni- 
gen Punkte,  welche  Grenzen  der  Linie  sind,  ist  es  richtig,  dass 
die  Linie  nicht  aus  ihnen  be-,  sondern  dass  sie  aus  ilmen  entsteht. 
Es  muss  aber  ein  Unterschied  gemacht  werden  zwischen  tcrm'uiiis 
fjiti  )utf((t  est  pars  und  minimvm  rjiiod  prima  est  pars.  Wenn 
der  Mathematiker  vom  Unendhchen  spricht,  so  heisst  das  eigent- 
lich nur :  gleichviel  wie  gross  oder :  unbestimmt  gross,  und  es  wäre 
besser  er  sagte  anstatt  uifinilnm  vielmehr  indefhiitum.  Der  Punkt, 
nicht  als  (er minus .  sondern  als  prima  pars ,  ist,  wenn  er  bewegt 
wird,  Linie,  diese,  die  prima  pars  der  Fläche,  ist,  wenn  sie  be- 
wegt wird,  diese.  Also  enthält  eigenthch  der  Punkt  alle  Dimen- 
sionen ,  da  sie  nur  seine  Bethätigungen  sind ,  gerade  wie  der  Saame 
den  Körper  enthält,  weil  dieser  nur  Ausdehnung  seiner  minima 
pars,  des  Saamens,  ist.  Denkt  man  sich,  wie  man  dies  muss, 
die  minima  sphärisch,  so  lässt  sich  durch  schematische  Darstel- 
lung zeigen,  warum  in  jedem  Quadrate  die  minima  der  Seite 
dichter,  die  der  Diagonale  undichter  gedacht  werden  müssen  (In- 
comraensurabilität),  dass  es  unrichtig  ist,  dass  unendhch  viele 
Linien  von  der  Peripherie  aus  das  Centrum  treffen ,  u.  s.  w.  AVie 
nur  durch  die  mathematischen  minima  mathematische,  so  sind 
eine  Menge  von  physikalischen  Schwierigkeiten  nur  durch  physi- 
kalische minima  zu  erklären.  So  Berührung,  so  Zunahme  der 
Körper,  so  das  Factum,  dass  es  nicht  zwei  ganz  gleiche  Dinge 
gebe.  Ueberhaupt  muss  dies  festgehalten  werden,  dass  ohne  ein 
mlnlmnm  raloris .  Iinninis  u.  s.  w.  weder  von  einer  Steigerung 
noch  von  einer  Vergleichung  die  Rede  seyn  kann,  da  überall  das 
minimiim  als  Maasseinheit  dient.  Eben  so  endlich  hat  man  drit- 
tens metaphysische  minima  zu  denken  (daher  de  iriptiri  minl- 
inn).  Wer  die  Seele  als  Entelechie  oder  Harmonie  denkt,  kann 
ihre  Unsterblichkeit  nicht  fassen,  wohl  aber  wer  sie  als  wirklich 
Untheilbares  fasst,  das  im  Tode  höchstens  sich  in  sich  ein-  und 
zusammenziehen  kann ,  wie  es  in  der  Geburt  in  Expansion  trat. 
Wendet  man  den  Namen,   der  ganz  passend   eigenthch  nur  für 

30* 


5C4  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

das  minimvm  der  Zahl  ist,  auf  alle  an,  so  sind  die  Monaden 
Keime  (modern  ausgedrückt:  Differenziale)  alles  Wirklichen  und 
das  Princip  aller  Principicn,  die  Monas  moiuidum  ist  dann  Gott, 
der,  weil  aus  ihm  Alles,  das  minimum,  weil  in  ihm  Alles,  das 
maximnm  ist. 

6.  Der  zuletzt  angeführte  Satz,  wie  alle  die  übrigen  über  die 
minima  der  Schrift  de  tripl.  min.  entnommen,  bahnt  den  üeber- 
gang zu  der  Explication  der  Ureinheit  in  dem  System  der  relati- 
ven Einheiten.  Sie  bildet  den  Gegenstand  der  Schrift  de  Monade, 
an  welche  sich  dann  sogleich  die  de  Immenso  anschliesst,  die 
natürlich  viele  Uebereinstimmung  zeigt  mit  der  italiänischen  del 
Infinito.  Die  Entwicklung  der  Eins  durch  alle  folgenden  Zahlen 
bis  zur  Zehn ,-  als  der  Zahl  der  Vollendung ,  welche  zu  erläutern 
ausser  dem  Commentar,  der  die  Verse  begleitet,  auch  schematische 
Zeichnungen  bestimmt  sind,  hat  wenig  Interesse.  Mehr  dagegen, 
wie  er  sich  über  die  Entwicklung  im  Ganzen  ausspricht.  Da  ist 
besonders  von  ihm  betont,  dass  das  Setzen  der  Welt  durchaus 
nicht  als  ein  vvillkührlicher ,  sondern  als  noth wendiger,  eben  darum 
aber  als  freier  Act  zu  denken  sey.  Freiheit  und  Nothwendigkeit 
ist  Eines,  weil  beide  den  Zwang  ausschliessen.  Wie  es  mit  dem 
Wesen  Gottes  unvereinbar  ist,  kein  Universum  zu  setzen ,  so  auch 
<lass  er  ein  endliches  setze.  Das  unendliche  All  enthält  unendlich 
viele  Welten,  die,  jede  vollkommen  in  ihrer  Art,  in  ihrer  Totali- 
tät die  höchste  denkbare  Vollkommenheit  zeigen.  Absolute  ge- 
nommen ist  Nichts  unvollkommen  oder  ein  Uebel;  nur  in  Bezug 
auf  Anderes  erscheint  es  so ,  und  was  dem  Einen  ein  Uebel ,  das 
ist  dem  Anderen  gut.  Je  mehr  der  Mensch  sich  zum  Anschauen 
des  Ganzen  erhebt,  um  so  mehr  verschwindet  für  ihn  der  Begriff 
des  Uebels.  Am  Wenigsten  wird  er  den  Tod  als  ein  solches  an- 
sehn. Der  Weise  fürchtet  den  Tod  nicht,  ja  es  kann  Fälle  ge- 
ben, wo  er  ihn  sucht,  wenigstens  ihm  ruhig  entgegengeht.  (Dies 
ward  geschrieben  unmittelbar  ehe  Bruno  seine  Reise  nach  Itahen 
antrat.) 

§.  24S. 

1.  Bruno  ist  eines  der  vielen  Beispiele,  welche  zeigen,  dass 
das  Zerbrechen  der  Sklavenkette  allein  noch  nicht  frei  macht. 
Alle  Bitterkeiten  gegen  das  Ordenskleid,  all  sein  Lechzen  darnach, 
ganz  der  Welt  anzugehören,  nimmt  ihm  nicht  jenes  mönchische 
Wesen,  das  ihn  selbst  im  Freundeskreise  zu  einer  fremdartigen 
Erscheinung  macht  und  vereinsamt,  und  aller  Hass  gegen  die 
Scholastik  hat  ihn  nicht  gehindert  zu  seinen  Führern  den  Lvftiis 
zu  uehmeu,  in  welchem  die  mittlere,  und  den  Cusaner,  in  dem 


II.  Die  Weltweisen.     Skeptische  Weltmänner.     §.   248,  1.  2.  565 

die  letzte  Periode  der  Scholastik  gipfelte.  Weder  der,  zuerst  doch 
aus  Neigung  erwählte,  dann  unerträgliche  Aufenthalt  im  Kloster, 
noch  das  spätere  Leben  an  solchen  Orten ,  wo  nur  die  herrschende 
Confession  Anhänger  zählt,  war  geeignet,  der  Kirche  gegenüber 
die  unbefangene  und  freie  Stellung  zu  erlangen,  auf  welche  der 
Geist  dieser  Periode  hinsteuert.  Ein  ganz  anderer  Geist  entwickelt 
sich  dort,  wo  verschiedene  Confessionen  neben  einander  vorkom- 
men, und  wo  die  Erfahrung  gelehrt  hat,  dass  ein  starres  Fest- 
halten dieser  Unterschiede  zu  Hass  und  Unfrieden  führt ,  während 
ein  Abstrahiren  davon  den  Reiz  des  Zusammenlebens  würzt,  weil 
es  den  Gesichtskreis  erweitert.  Treten  nun  in  diese  Atmosphäre 
Solche,  die  von  Geburt  an  ausserhalb  der  römisch-katholischen 
Kirche  stehn,  und  welclie  Geburt,  Erziehung  und  Lebensgang  dem 
Geistlichen  ab-,  dem  Weltlichen  zuwandte,  so  sind  die  objectiven 
und  subjectiven  Bedingungen  gegeben  zu  einer  Betrachtung  der 
Welt,  die,  eben  weil  jedes  Band  mit  der  Kirche  aufgehört  hat, 
sie  in  ihrem  Gebiete  gewähren  lässt,  nicht  ihr,  sondern  nur  der 
Scholastik,  dieser  Vermischung  des  Kirchlichen  und  Weltlichen, 
zürnt. 

2.  Wie  sehr  die  Voraussetzungen  zur  Bildung  jener  geistigen 
Atmosphäre  gerade  in  den  mittleren  und  südlichen  Provinzen 
Frankreichs  gegeben  waren,  sieht  man,  wenn  man  den  Typus  de- 
rer die  sie  bilden  helfen,  Michel  de  Mantingne  (geb.  1533  gest. 
1592)  genauer  betrachtet,  wie  er  sich  in  den  drei  Büchern  seiner 
Essais  darstellt,  die  1580  von  ihm  selbst,  nach  seinem  Tode  1593 
erweitert,  dann  sehr  oft  u.  A.  bei  Dldot  1859,  herausgekommen 
sind.-  Sohn  eines  gebornen  Engländers,  vor  der  eignen  Mutter- 
sprache mit  dem  Latein  so  vertraut,  dass  sein  späterer  Lehrer 
Mvrci  sich  scheute  mit  ihm  I^atein  zu  sprechen,  früh  mit  den  rö- 
mischen Autoren  vertraut,  ganz  jung  ein  sehr  geachteter  Parla- 
mentsrath  in  Bordeaux,  wo  ihn  Bekanntschaft  mit  sehr  Vielen, 
Freundschaft  mit  einem  der  bedeutendsten  Geister  seiner  Zeit  ver- 
band, endlich  noch  in  der  Fülle  der  Kraft  als  unabhängiger  Land- 
edelmann  lebend,  der  von  seinen  Reisen  stets  mit  Lust  heimkehrt,  hat 
sich  Montaigne  zu  einem  wahren  Ideal  feingebildeter  Lebensweis- 
heit ausgeprägt.  Auf  Selbstbeobachtung  gegründete  ausserordent- 
lich feine  Menschenkenntniss  ist  sein  Studium,  und  die  Früchte 
dieses  Studiums  legt  er  in  seinen  Versuchen  nieder,  von  denen  er 
darum  wiederholt,  sie  wollten  Nichts  schildern  als  ihn  selbst;  mit 
einbegritfen  natürlich,  wie  sich  in  seinem  Kopfe  die  Welt  abspie- 
gelt. Gründlich  gebildet,  aber  aller  Pedanterei  feind,  ehrlicher 
Katholik,  aber  tolerant  und  in  jeder  religiösen  Streitigkeit  nur  Un- 


566  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

heil  sehend,  durch  Seiteca  für  die  stoische  Lehre  eingenommen 
aber  aller  Uebertreibung  abhold  und  darum  vor  Allen  dem  P/n- 
turch  zugethan,  den  er  in  AiinjoVs  Uebersetzung  liest,  Bewunde- 
rer der  höhen  Aufgabe  des  Menschen,  aber  seiner  Schwächen  be- 
wusst  und  aus  Grundsatz  mit  Geschmack  geniessend,  bildet  sich 
bei  ihm  jener  gemässigte  Skepticismus  aus,  der  zu  allen  Zeiten 
den  feinen  Weltmännern  eigen  zu  seyn  pflegt.  Bei  Mfuttnigne  aber 
gründet  er  sich  auch  auf  die  Achtung,  die  er  vor  jeder  Individua- 
lität hat,  und  die  ihn,  wenn  er  sieht  wie  verschieden  Jeder  ur- 
theilt,  nöthigt.  Allen,  d.  h.  Keinem,  Recht  zu  geben.  Versuche 
wie  der  25'*'  des  ersten  Buchs  über  Erziehung,  der  8""  im  zweiten 
Buch  über  Elternliebe,  oder  der  13'*^  des  dritten  Buchs  über  die 
Erfahrung,  sie  zeigen  in  der  Uebenswürdigsten  Form  den  hon  scvs 
des  gebildeten  Cavaliers;  der  längste  unter  den  Versuchen,  der 
12'*' des  zweiten  Buchs,  die  Apologie  Uaimunds  von  Snbitvde,  des- 
sen natürliche  Theologie  Moiiiuigve  auf  den  Wunsch  seines  Va- 
ters übersetzt  hat,  enthält  ziemlich  vollständig,  was  in  den  übri- 
gen über  die  Grenzen  des  Wissens  und  sein  Verhältniss  zum  Glau- 
ben vereinzelt  gesagt  worden  war. 

3.  Trotz  dem,  dass  Monfnig/te  so  oft  seine  „Plaudereien  und 
Phantasien"  dem  wissenschaftlichen  Philosophiren  entgegensetzt, 
und  gewiss  sehr  erstaunt  gewesen  wäre,  wenn  ihn  Jemand  einen 
Philosophen  vom  Fach  genannt  hätte,  ist  doch  von  dem  ihm  be- 
freundeten ausgezeichneten  Kanzelredner  Pierre  Clutrron  (geb. 
1541  — 1603)  der  Versuch  gemacht  worden,  Monfaiffue's  Gedanken 
in  systematische  Form  zu  bringen.  Kicht  gerade  zu  ihrem  Vor- 
theil,  denn  wer  von  den  Versuchen  Montd'tgne's  zu  Vlmrron's 
drei  Büchern  de  la  sagesse  (zuerst  in  Bordeaux  1601,  später  u.  A. 
Amsterdam  1662  erschienen)  übergeht,  wird  darin  kaum  einem 
Gedanken  begegnen,  der  sich  nicht  bei  Jenem  anziehender  behan- 
delt fände.  In  dem  ersten  Buche  wird  in  fünf  Betrachtungen  die 
Selbsterkenntniss  erst  angepriesen,  dann  der  Weg  zu  ihr  gewiesen, 
indem  die  Eigenthümlichkeiten  des  Menschen,  seine  Unterschiede 
von  den  übrigen  Wesen,  die  Verschiedenheiten  des  Naturells,  Be- 
rufs, Standes  u.  s.  w.  ausführlich  entwickelt  werden.  Das  zweite 
Buch,  welches  die  allgemeinen  Regeln  der  Weisheit  betrachtet, 
entwickelt  in  zwölf  Capiteln  die  Voraussetzungen  der  Weisheit, 
setzt  ihr  Wesen  in  die  Rechtschaffenheit  (pritcV  liommie,  probite), 
zeigt  wie  sie  sich  in  der  wahren  Frömmigkeit  äussert,  und  wie 
Ruhe  und  Gleichmuth  ihre  Frucht  ist.  Endlich  im  dritten  Buch 
wird  in  zwei  und  vierzig  Capiteln  nachgewiesen ,  wie  sich  die 
Weisheit  in  die  vier  Cardinaltugenden  zerlegt.    Das  schulmässige 


II.  Die  Weltweisen.     Skeptit^cLe  Weltmänner.     §.  248.  3.  4.  567 

Gewand,  in  welchem  hier  diese  Gedanken  auftreten,  war  wohl  der 
Grund,  warum  gelehrte  Schriftsteller  von  diesem  Buche  mehr  No- 
tiz nahmen  als  von  dessen  eigentlicher  Quelle.  Clnirron  ward  hef- 
tig angegriffen  und  namentlich  ihm  vorgeworfen,  er  sey  in  Wider- 
spruch zu  dem  getreten ,  was  er  in  früheren  apologetischen  Schrif- 
ten gelehrt  habe.  Mit  Unrecht,  denn  es  ist  ihm  Ernst,  wenn  er 
au  das  Herabsetzen  des  Wissens  Lobpreisungen  des  Glaubens 
knüpft.  Sein  Glaube  ist  nur  weitherziger  als  der  seiner  Gegner. 
W'eder  will  er  die  Protestanten  aller  W^ahrheit  ledig,  noch  die  ka- 
tholische Lehre  ganz  frei  von  aller  menschlichen  Zuthat  seyn  lassen. 

4.  Wie  Mon((fi</ne  in  Bordeaux  gebildet  ist  endlich  der,  1562 
in  Portugal  geborne  Franz  Sunclez,  welcher,  schon  im  zwei  und 
zwanzigsten  Jahre  Professor  der  Medicin  in  Montpellier,  ]ß32  als 
Professor  der  Medicin  und  Philosophie  in  Toulouse  starb.  Mit 
Ausnahme  seiner  skeptischen  Hauptschrift  (Qnnd  nihil  sciiiir), 
die,  wenn  die  gewöhnliche  Angabe  richtig  seyn  sollte,  bereits  in 
seinem  neunzehnten  Jahre  erschienen  wäre,  sind  seine  Schriften 
erst  nach  seinem  Tode  herausgekommen  (Tolos.  Tect.  1636.  4). 
Der  hinere  Widerspruch,  in  den  er  dadurch  gerieth,  dass  sein 
Amt  ihn  verpflichtete,  den  Aristoteles  zu  commeutiren,  den  er  ver- 
achtete, gibt  seiner  Skepsis  mehr  Schärfe  und  Bitterkeit,  als  sie 
bei  j\Joiitai(/vc  und  Cliarroi}  gehabt  hatte.  Da  es  ein  wirkliches 
Wissen  nur  von  dem  gibt,  was  man  selbst  gemacht  hat,  so  be- 
sitzt es  eigentlich  nur  Gott.  Darum  ist  unsere  Weisheit  Thorheit 
bei  Gott.  Gerade  wie  der  Unwissende  Alles  was  in  der  Natur 
geschieht,  auf  den  Willen  Gottes  bezieht,  so  kommt  auch  der 
Philosoph  zuletzt  dazu ,  nur  dass  er  nicht  wie  jener  die  Mittelur- 
sachen überspringt,  sondern  durch  diese  so  weit  hinaufsteigt  als 
es  eben  geht.  Dieser  Mittelursachen  gibt  es  noch  sehr  viele,  die 
aufzusuchen  sind,  und  damit  hat  es  die  wahre  Philosophie  zu  thun, 
während  die  bisherige  Philosophie  sich  nur  mit  Worten  zu  thun 
macht.  Obgleich  für  den  Arzt  die  Erforschung  der  physikalischen 
Gesetze  mehr  Interesse  haben  musste,  als  für  seine  Vorgänger, 
so  hat  doch  Saiicliez  mit  dem  Weltmann  und  dem  Seelsorger  das 
Interesse  an  dem  Treiben  der  Menschen  getheilt,  und  wie  sie  hat 
auch  ihn  die  Verschiedenheit  desselben  zu  nachsichtiger  Beurthei- 
lung  Anderer,  zur  Scheu  vor  Selbstüberhebung  gebracht.  Je  mehr 
ich  denke,  um  so  zweifelhafter  werde  ich,  sagt  er  oft. 

5.  Durch  Männer,  wie  die  drei  Genannten,  wird  Frankreich 
in  dieser  Zeit  immer  mehr  zu  einer  grossen  Akademie  der  Lebens- 
weisheit, welche  in  immer  weiteren  Kreisen  das  Gefühl  verbreitet, 
dass  es  nichts  sey  mit  der  Philosophie,  welche,  wie  sie  den  Uni- 


5C8  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (üebergang). 

versitäten  ihren  grössten  Glanz  gegeben  hatte,   so  jetzt  fast  nur 
auf  den  Universitäten  den  schuldigen  Dank  der  Verehrung  empfing; 
dass  der  Umgang  mit  Menschen,   namentlich   aber  das  Bereisen 
fremder  Länder  die  wahre  hohe  Schule  sey,  auf  der  man  verler- 
ne, das  bei  uns  Geltende  für  das  Allgemeingültige  zu  halten,  und 
also  sich  von  Vorurtheilen  frei  mache;   dass  endlich  eine  an  die 
gegebnen  Verhältnisse  sich  anschmiegende  Weltklugheit,  wenn  auch 
nicht  die  ganze,   so  doch  ein  grosser  Theil  der  wahren  Weisheit 
sey.    Eben  deswegen  war  es  zwar  nicht  unrichtig,  aber  es  reichte 
nicht  aus,  wenn  jene  Männer  Skeptiker  genannt  wurden;  es  wurde 
dabei  das  positive  Moment  vergessen,   das  sie  von  den  blossen 
Skeptikern  unterscheidet.    Weder  ist  ihr  Nichtwissen  ein  bloss  ne- 
gativer Zustand,  noch  auch  streben  sie  jene  negative  Unerschüt- 
terlichkeit an,   nacli  der  sich  die  Skeptiker  des  Altcrthums  sehn- 
ten.   Jenes  nicht,   denn   wenn  man  sieht,  mit  welcher  Zuversicht 
ein   Siinc/icz  neue  Entdeckungen   und  Erfindungen   verheisst,   so 
sieht  man,   dass  es  eigentlich  nur  das  bisherige  Wissen  ist,   das 
er  so  gering  achtet.     Dieses  niclit,  denn  der  Eudämoiiismus  eines 
Mnvt(ji(/ite,  seine  Hoffnung,  dass  sichs  bald  viel  besser  auf  Erden 
leben  werde  als  jetzt,  steht  im  bewussten  Gegensatz  zur  sich  iso- 
lirenden  Ataraxie.    Auf  den  Trümmern  der  bisherigen  Wissenschaft, 
deren  Bankerott  sie  laut  ausrufen,  ein  Gebäude  bequemer  und  be- 
glückender Lebensweisheit  aufzuführen,  das  ist  es  wozu  jene  Män- 
ner auffordern,  und  indem  sie  diesen  Ruf  an  die  ganze  Welt  er- 
gehen lassen  und  überall  gläubige  Hörer  finden,  haben  sie  ganz, 
wie  das  früher  (§.  62)  von  den  Sophisten  gesagt  wurde,  eine  Rück- 
kehr zu  jener  Schulweisheit  unmöglich  gemacht,  haben  den  Strich 
gezogen  unter  die  bisherige  Entwicklung  und  den  Boden  geebnet, 
in  den  die  Keime  einer  neuen  gelegt  werden  können. 

6.  Wegen  des  Gesagten  mit  Monlnignc  und  seinen  Geistesver- 
wandten die  dritte  Periode  des  Mittelalters  abzuschliessen ,  wäre 
nicht  richtig.  Einen  Platz  einzunehmen,  wie  er  (§.  144)  dem  Aa- 
(jiisüniis  und  (§.  224)  dem  IMcohnts  rmi  Ciisa  angewiesen  ward, 
dazu  gehört  denn  doch  mehr,  als  Anleitung  zu  einer  angenehmen 
Lebensweisheit  zu  geben.  Es  gehört  schon  dies  dazu,  dass  dieses 
unklare  Schwanken  zwischen  dem  Misstrauen  nur  gegen  die  bishe- 
rige und  dem  gegen  alle  Wissenschaft  aufliöre,  also  ohne  alle 
skeptische  Färbung  mit  der  bisherigen  Wissenschaft  gebrochen 
werde;  es  gehört  dazu,  dass  gezeigt  werde,  warum  die,  allerdings 
bei  den  Weltmännern  in  Verachtung  gesunkene  Scholastik  diese 
Verachtung  auch  bei  den  schulmässig  Gebildeten  verdient;  es  muss 
wieder  gezeigt  werden,  warum  der  Zug  der  Geister  zu  der  Natur, 


n.  Die  Weltweiseii.     B.  Naturphilosophen.     Bacon.     §.  249,  1.  569 

der  einen  MoNtnh/ne  dahin  bringt,  eine  Zeit  zu  beneiden,  in  der 
es  noch  keine  Kleider  gab,  eine  wirkliche  Berechtigung  hat;  es 
muss  endlich  nicht  nur  als  eine  glückliche  Zugabe  zu  den  natur- 
wissenschaftlichen Studien  erscheinen,  dass  dadurch  das  Leben  be- 
quemer und  glücklicher  werde,  sondern  mit  bewusstem  Ausschlies- 
sen  aller  idealen,  über  die  wirkhche  Welt  hinausgehenden  Zwecke, 
seyen  sie  nun  kirchhche,  seyen  sie  die  der  sich  selbst  genügenden 
Wissenschaft,  müssen  die,  welche  unser  tägliches  Treiben  bestim- 
men, als  das  eigentliche  Ziel  der  Wissenschaft  dargestellt  werden. 
Damit  wird  an  die  Stelle  der  nur  geistreichen  Lebensweisheit  die 
auch  wissenschaftliche  Weltweisheit  treten,  die  hier  diesen  Namen 
mehr  als  in  allen  bisherigen  Erscheinungen  verdient,  weil  sie  so 
weltlich  ward,  dass  auch  das  letzte  Verhältniss  zur  Kirche,  der 
Hass  und  die  Furcht,  aufgehört  und  der  Indifferenz  Platz  gemacht 
hat.  Dabei  kann  zugestanden  werden,  dass  ohne  jene  französi- 
sche Lebensweisheit  dieser  Fortschritt  unmöglich  war,  wie  ja  auch 
zugestanden  ward,  dass  ohne  die  Sophistik  Sokratismus  und  Pla- 
tonismus  nicht  möghch  gewesen  wäre.  Wozu  Movtdiyve  und  seine 
französischen  Geistesgenossen  das  Vorspiel  bildeten,  das  hat  der 
als  Protestant,  in  England  geborene,  aber  von  ihren  Ideen  genährte 
Bucon  vollendet. 

§.  249. 
Bacon. 

W.  Bavley  The  life  of  the  right  honourable  Francis  Bacon  1670.  (Findet  sich 
in  fast  allen  lateinischen  Ausgaben.)  K.  Fischer  Franz  Bacon  von  Verulam.  Leipz. 
1856.  J.  Speddiag  The  letters  and  the  life  of  Francis  Bacon.  Lond.  1861.  62. 
("2  Voll,  bis  jetzt.) 

\.  Francis  Bacon,  der  jüngste  Sohn  des  Grosssiegelbewah- 
rers von  England  Nlcoi'avs  Bacon,  wurde  am  22.  Jan.  1560  ge- 
boren und  konnte  schon  1575  nach  vollbrachtem  Studium  in  Cam- 
bridge seineu  juristischen  Cursus  in  Gray's  Inn  beginnen,  während 
dessen  er  schon  die  Aufmerksamkeit  der  Königin  Elisabeth  auf 
sich  zog.  Ein  zweijähriger  Aufenthalt  in  Paris,  wohin  er  den  eng- 
lischen Gesandten  begleitete,  und  der  für  seine  Entwicklung  sehr 
wichtig  ward,  konnte  nicht  verlängert  werden,  da  sein  Vater  starb, 
ohne  die  für  den  Liebling  zurückgelegten  Summen  durch  Testament 
ihm  gesichert  zu  haben.  Der  völlige  Mangel  an  Vermögen,  bei  seinen 
vornehmen  Verbindungen  doppelt  schmerzlich,  die  Masse  von  Schul- 
den, die  während  drei  und  zwanzig  .Jahren  stets  sich  wiederholen- 
den und  immer  wieder  zu  Wasser  werdenden  Aussichten,  aus  ei- 
nem unbesoldeten  ein  besoldeter  Beamter  zu  werden,  hätten  viel- 


570  Mittelalterliche  Philosojihie.     Dritte  Periode  (rebergang). 

leicht  auch  einem  stärkeren  Charakter  das  Trachten  nach  Geld  zur 
Gewohnheit  gemacht.  Seine  Praxis  als  Jurist  war  unbedeutend, 
.  desto  grösser  sein  Name  als  Mitglied  des  Parlaments  (seit  1584), 
und  als  Schriftsteller,  seit  er,  von  Movlaigve  angeregt,  seine  lite- 
rarischen und  moraUschen  Essays  (1597)  herausgegeben  hatte,  die, 
unzählige  Mal  aufgelegt,  in  den  lateinischen  Ausgaben  sermones 
fideles  heissen.  Die  Strenge,  mit  der  man  es  getadelt  hat,  dass 
Bacon,  als  sein  Gönner  der  Graf  Essex  fiel,  als  Beistand  des  An- 
klägers fungirte  und  nachher  dem  Publicum  einen  die  Königin 
rechtfertigenden  Beiicht  des  Processes  vorlegte,  erscheint  dem  als 
ungerecht,  welcher  weiss  wie  sich  Bacoji  abgemüht  hat,  den  Gra- 
fen zur  A'ernunft,  die  Königin  zur  Milde  zu  stimmen,  und  dabei 
bedenkt,  dass  er  was  ihm  die  Mouarchin  auftrug,  kraft  seines  Am- 
tes thun  inusste.  Erst  mit  der  Thronbesteigung  Jnhohs.  mit  dem 
die  beiderseitige  Hochachtung  vor  gelehrtem  Wissen  ihn  enge  ver- 
band, änderte  sich  Bncoits  Lage.  Mit  sechs  Aemtern  und  drei 
Titeln  hat  ihn  nach  einander  die  Huld  seines  Königs  beschenkt. 
Als  er  Grosssiegelbewahrer,  Lord  Kanzler,  Baron  von  Verulam, 
Viscount  von  St.  Albans  geworden  war,  brach  die  Katastrophe  ein. 
Bei  der  Anklage  wegen  Annahme  von  Geschenken  erklärte  er  sich 
schuldig,  ward  aller  Aeinter  entsetzt,  ja  für  einige  Tage  eingeker- 
kert. „Nie  war  ein  Urtheil  gerechter,"  sagt  er  später,  „und  doch 
hat  England  vor  mir  noch  nie  einen  so  redlichen  Lord  Kanzler 
gehabt."  Alle  späteren  Anerbietungen,  in  das  öffentliche  Leben 
zurückzukehren,  hat  er  abgelehnt,  und  ist  in  ländlicher  Zurückge- 
zogenheit, nur  mit  der  Wissenschaft  beschäftigt,  am  9.  April  1626 
gestorben.  In  diese  Zeit  der  Zurückgezogenheit  fällt  zwar  nicht 
die  Abfassung,  aber  die  Herausgabe  der  meisten  seiner  Werke. 
So  erschienen-  die  1612  vollendeten  Cogitata  et  visa  im  J.  1620 
als  (zwölf  Mal  umgeschriebenes)  Novum  Organon,  so  das  1603 
verfasste  Advancement  of  learning  sehr  erweitert  im  J.  1623  als 
De  dignitate  et  augmeiitis  scicntiarum.  Nach  seinem  Tode  kam 
die  Sylva  sylvaruin  s.  historia  naturalis  (1664  Frankf.  Schünwet- 
ler)  heraus.  Ausserdem  gab  Gntter  eine  Sammlung  heraus,  wel- 
che die  Cogitata  et  visa,  Descriptio  globi  intellectualis,  Thema 
coeli,  de  fluxu  et  refluxu  maris,  de  principiis  et  originibus  s.  Par- 
menidis  et  Telesii  philosophia,  endhch  eine  Menge  kleiner  Aulsätze 
unter  dem  Gesammttitel  Impetus  philosophici  enthält.  W'ie  über- 
haupt Bdcon  im  Auslande  eher  anerkannt  ward,  als  bei  seinen 
Landsleuten,  so  erschien  auch  die  erste  Gesammtausgabe  seiner 
Werke  lateinisch  in  Frankfurt  am  Main  (1665  Scliöuicetler  Fol). 
Später •  begann  erst  die,   fast  zur  Vergötterung  steigende  Vereh- 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Natiu-philosophen.     Bacon     §.  249,  2.  571 

rung,  von  der  man  in  England  höchstens  hmsichtlich  seines  Cha- 
rakters zurückkommt.  Unter  den  englischen  Ausgaben  kann  als 
erste  die  von  1740  London,  mit  dem  Leben  von  Mallct,  als  neuste 
die  von  Spcddivg,'  Ellis  und  Heaih  (London  7  Voll.  8.  1857  —  59) 
genannt  werden,  an  die  sich  die  oben  angeführte  Biographie  und 
Briefsammlung  von  Speddhuj  anschliesst. 

2.  Schon  dem  in  Cambridge  studirenden  Jüngling  stand  es 
fest,  dass  der  Zustand  sämmtlicher  Wissenschaften  ein  trauriger, 
und  dass  er  selbst  berufen  sey  zur  Besserung  desselben  beizutra- 
gen. Wie  wenig  er  diese  „Instauratio  magna*'  während  seiner  ju- 
ristischen und  politischen  Arbeiten  aus  den  Augen  verloren  hat, 
beweist  unter  Anderem  der  Titel:  Temporis  partus  niaxiraus,  den 
er  einer  Jugendschrift  vorgesetzt  hat.  Je  älter  er  ward,  desto  mehr 
sah  er  ein,  dass  einem  Versuch  der  Restauration  der  Nachweis 
vorausgehen  müsse,  dass  wirklich  die  gegenwärtige  Wissenschaft 
so  mangelhaft.  Diesen  Nachweis  gibt  nun  das  advancement  of 
leaniing,  das  in  seiner  erweiterten  Gestalt  als:  De  dignitate  et 
augmentis  seien tiarum  eben  darum  als  Erster  Theil  des  gros- 
sen Werks  bezeichnet  wird.  Damit  nirgends  eine  Lücke  bleibe, 
muss  zuerst  in  einer  encyclopädischen  Uebersicht  das  ganze  Ge- 
biet des  W'issens  (glohiis  ui/e/lectiialis)  dargelegt,  dann  aber  zwei- 
tens bei  jeder  Wissenschaft  gezeigt  werden,  was  sie  noch  zu 
wünschen  übrig  lasse.  Die  menschliche  Wissenschaft  (so  genannt 
im  Gegensatz  zu  der  von  Gott  geoffenbarten  Theologie)  wird  am 
Besten  nach  den  drei  Grundvermögen  der  menschlichen  Seele  Ge- 
dächtniss,  Phantasie  und  Vernunft  in  Geschichte,  Poesie  und  Phi- 
losophie eingetheilt.  Die  Geschichte  zerfällt  in  eigentliche  und 
in  Naturgeschichte.  Zu  jener,  der  Jnsioria  cimlis,  ist  auch  die 
Kirchengeschichte,  die  Literaturgeschichte,  die  uns  noch  ganz  fehlt, 
endlich  die  Geschichte  der  Philosophie  zu  rechnen.  Die  hisloria 
nafiiralis  wieder  erzählt,  wie  die  Natur  wirkt  sowol  dort  wo  sie 
frei  ist,  als  dort  wo  sie  irrt,  endlich  da  wo  sie  gezwungen  handelt. 
Schon  in  erster  Beziehung  ist  unsere  Kenntniss  sehr  lückenhaft, 
viel  mehr  aber  noch  hinsichtlich  des  Zweiten  und  Dritten,  der 
Monstra  und  Artefacta.  Die  Poesie  wird  von  Bacon  in  erzäh- 
lende (d.  h.  epische),  dramatische  und  parabolische  (d.  h.  Lehr-) 
Poesie  getheilt;  die  letztere  stellt  er  am  Höchsten  und  führt  als 
Beispiele  derselben  die  Mythen  vom  Pan.  Perscus  und  Diovysos 
an,  die  er  zu  deuten  versucht.  (Eine  verwandte  Aufgabe  stellt  er 
sich  in  der  der  Universität  Cambridge  zugeeigneten  Schrift  De  sa- 
pientia  veterum.) 

3.  Mit  dem  dritten  Buche  der  Schrift  de  dißn.  et.  augm,  sc. 


572  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

geht  Bmon.  zur  Philosophie  über.  Nach  ihren  Objecten  zerfällt 
sie  in  die  Lehre  von  Gott,  der  Natur  und  dem  Menschen;  allen 
dreien  aber  liegt  als  gemeinschaftliches  Fundament  die  philosophia 
prima  zu  Grunde,  die  nicht  wie  das,  was  man  bisher  so  nannte, 
ein  Gemisch  theologischer,  physikalischer  und  logischer  Sätze  seyn, 
sondern  die  eigentlich  transscendenten,  d.  h.  über  alle  besonderen 
Sphären  hinausgehenden,  darum  in  allen  geltenden,  Begriffe  und 
Axiome  entwickeln  und  zeigen  muss,  was  ens  und  iion-evs,  was 
möglich  und  unmöglich  u.  s.  w.  und  warum  manche  Axiome,  die 
man  bloss  für  mathematische  hält,  in  der  Politik  ganz  dieselbe 
Gültigkeit  haben.  Die  angegebnen  drei  Theile  der  Philosophie 
vergleicht  er  mit  optischen  Erscheinungen:  unser  Wissen  von  Gott 
gleicht  dem,  durch  Hineintreten  in  ein  andres  Medium,  gebroche- 
nen, unser  Wissen  von  der  Natur  dem  directen,  unser  Wissen  von 
uns  dem  reflectirten  Strahl.  Eben  darum  muss  die  natürliche 
Theologie  sich  genügen  lassen,  die  Gründe  für  den  Atheismus 
zu  widerlegen.  Weil  man  in  der  gegenwärtigen  Theologie  mehr 
wollte,  die  Wahrheit  der  Dogmen  beweisen,  deswegen  ist  bei  ihr 
nicht,  wie  bei  den  anderen  Wissenschaften,  Mangel,  sondern  viel- 
mehr der  Ueberfluss  zu  bedauern.  Der  heidnische  Gedanke,  dass 
die  Welt  nicht  Werk,  sondern  Abbild  Gottes  sey,  der  hat  dazu 
verführt,  aus  der  Beschaffenheit  der  Welt  Rückschlüsse  auf  das 
Wesen  Gottes  zu  machen,  und  Philosophie  und  Glauben  so  zu 
vermischen,  dass  jene  phantastisch,  dieser  häretisch  wurde.  Im 
Gegensatz  zu  dieser  Vermischung  verlangt  Barou  stets,  dass  man 
dem  Glauben  gebe  was  des  Glaubens,  dem  Wissen  dagegen  was 
sein  ist,  d.  h.  das  durch  Wahrnehmung  und  Vernunft  gefundene. 
In  jenes  Gebiet  hat  die  Vernunft  nicht  hineinzureden,  in  dieses 
der  Glaube  nicht.  Wer  in  den  Glaubenslehren  Etwas  findet  was 
der  Vernunft  widerspricht,  wird  darüber  nicht  erschrecken.  Ein 
grösserer  Widerspruch  als  er  zwischen  den  Lehren  des  Christen- 
thums  und  der  Vernunft  Statt  findet  ist  kaum  denkbar  —  (so  in 
dem  Fragment  de  scientia  humana,  besonders  aber  in  den  nach 
seinem  Tode  erschienenen  Paradoxa  christiana)  —  ein  Widerspruch 
mehr  oder  weniger  macht,  wenn  man  einmal  den  Entschluss  ge- 
fasst  hat  zu  glauben,  keinen  Unterschied.  Es  ist  wie  mit  dem, 
der  einmal  eingewilligt  hat  an  einem  Spiele  Theil  zu  nehmen,  und 
nun  natürlich  allen  auch  noch  so  seltsamen  Piegeln  desselben  sich 
unterwerfen  muss.  Wie  den  Wissenden  jene  Widersprüche  mit  der 
Vernunft,  weil  sie  nur  im  Gebiete  des  Glaubens  auftreten,  nicht 
turbiren,  so  braucht  umgekehrt  der  Glaube  von  der  Wissenschaft 
Nichts  zu  fürchten;   vielleicht  die  eben   erst  gekostete  nicht  aber 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosopheu.     Bacon.    §.  249,  3.  57d 

die  ausgeschöpfte  Wissenschaft  kann  von  Gott  ableiten.  ^Yeiss 
doch,  wer  die  Wissenschaft  ganz  überschaut,  dass  das  Gebiet  des 
Glaubens  ein  völlig  von  dem  seinen  getrenntes,  nur  seinen  eignen 
Gesetzen  gehorchendes  ist,  und  wird  also  den  Glauben  nie  an- 
greifen. —  Während  die  Theologie  hier  ganz  verschwindet,  ge- 
winnt dagegen  der  zweite  Theil  der  Philosophie,  die  Naturphi- 
losophie (iKttuntJ  plälosophy)  eine  um  so  grössere  Ausdehnung. 
Dieselbe  wird  zunächst  in  speculative  und  operative  eingetheilt, 
deren  erstere  die  Naturgesetze  kennen,  die  zweite  sie  benutzen 
lehrt.  Jede  derselben  zerfällt  wieder  in  zwei  Theile,  so  dass  der 
Physik  als  ihre  praktische  Anwendung  die  Mechanik,  der  Meta- 
physik dagegen  die  natürliche  Magie  entspricht.  Unter  Metaphy- 
sik ist  also  durchaus  nicht,  wie  bisher,  die  philosophia  prima  zu 
verstehn,  sondern  der  Theil  (nur)  der  Naturphilosophie,  welcher, 
während  die  Physik  die  materiellen  und  bewegenden  Ursachen 
betrachtet,  vielmehr  die  Formen  und  Zwecke  ins  Auge  fasst.  (Da- 
rum rauss  der  weltbekannte  Satz  Bacons.  dass  die  Teleologie  einer 
unfruchtbaren  Jungfrau  gleiche,  auf  die  Physik  beschränkt,  auf 
seine  Metaphysik  nicht  ausgedehnt  werden.)  Damit  geht  ein  zwei- 
ter Unterschied  Hand  in  Hand,  dass  nämhch  die  Physik  es  mit 
den  concreten  Erscheinungen,  dagegen  die  Metaphysik  mit  dem 
Abstracten  und  Constanten  zu  thun  habe.  Eine  Beschränkung  er- 
leidet dieser  Gegensatz,  indem  innerhalb  der  Physik  ein  unterer, 
der  Naturgeschichte  näherer,  und  ein  oberer,  der  Metaphysik  zu- 
gewandter, Theil  unterschieden  werden  muss,  von  denen  jener  die 
concreten  Dinge  oder  Substanzen,  dieser  dagegen  ihre  Naturen 
oder  Eigenschaften,  d.  h.  das  Abstractere  in  ihnen,  wie  die  Haupt- 
zustände (sclemaüsmi)  der  Materie  und  Hauptformeu  der  Bewe- 
gung, betrachtet.  Schon  die  Physik  lässt  in  ihrer  gegenwärtigen 
Gestalt  Vieles  vermissen,  wie  z.  B.  die  Astronomie  ein  Gemisch 
blosser  Beschreibung  (d.  h.  Geschichte)  und  allerlei  mathemati- 
scher Hypothesen  ist,  welche  alle  ganz  gleich  gut  zu  den  Er- 
scheinungen passen,  anstatt  dass  sie  physikalische,  d.  h.  aus  dem 
W^esen  der  Himmelskörper  folgende,  Erklärungen  geben  und  so 
zu  einer  lebendigen  Astromomie  werden  müsste,  an  die  sich  eine 
gesunde  Astrologie  anschliessen  könnte.  Und  nun  gar  die  Meta- 
physik! Diese  ist  ganz  und  gar  ein  Desiderat;  denn  was  den  einen 
Theil  ihrer  Aufgabe  betrifft,  die  Zweckursachen,  so  hat  man  diese 
zwar  berücksichtigt,  aber  in  der  Physik,  wodurch  diese  verdorlien 
ward.  Und  wieder  hat  man  geglaubt,  an  den  wirkenden  Ursachen, 
welche  der  Physiker  findet,  auch  schon  die  denselben  zu  Grunde 
liegenden  Formen  zu  haben,   und  sich  mit  physikalischen  Erklä- 


574  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

mngen  begnügt,  als  gäben  diese  schon  metaphysische  Erkenntniss. 
Kurz  eine  Metaphysik,  ohne  welche  man  u.  A.  keine  Theorie  des 
Lichts  haben  kann,  muss  erst  geschaffen  werden.  Als  einen  An- 
hang zur  Physik,  weil  sie  blosse  Hülfswissenschaft,  behandelt  Ba- 
con  die  Mathematik;  in  einer  Weise,  welche  zeigt,  wie  sehr  ihm 
dieses  Gebiet  verschlossen  war.  — 

4.  Das  vierte  Buch  der  Schrift  de  dign.  et  augra.  sc.  macht 
den  Uebergang  zum  letzten  Theil  der  Philosophie  zur  Lehre  vom 
Menschen.  Dieselbe  ist,  je  nachdem  sie  den  Menschen  ausser- 
halb oder  in  der  Gesellschaft  betrachtet,  Lehre  vom  Menschen 
oder  vom  Bürger.  Die  erstere,  die  philosophld  /nimana,  enthält 
theils  die  Wissenschaften,  die  seinen  Leib,  theils  die,  welche  seine 
Seele  betreffen.  Beiden  aber  rauss  vorausgeschickt  werden  die 
Lehre  von  der  Natur  und  Person  des  ganzen  Menschen  und  dem 
Bande  (focdiis)  jener  Beiden,  was  Alles  unter  keine  jener  Abthei- 
lungen passt.  Den  Leib  betreffen  die  Medicin,  ferner  die  Schöu- 
heits-,  Kraft-  und  Lustlehre  (Cosmetha.  AUdetica,  Volnpiaria). 
Zu  der  letzteren  werden  auch  die  schönen  Künste,  mit  Ausnahme 
der  Poesie,  gerechnet.  Die  Lehre  von  der  Seele  muss  die  ver- 
nünftige oder  menschliche  Seele  (das  spinicnliim)  der  theologi- 
schen Betrachtung  überlassen,  sich  auf  die  Untersuchungen  über 
die  thierische  Seele  beschränken,  diese  aber  nicht  logisch  als  (tc- 
tiis.  sondern  physikalisch  als  durch  Wärme  sehr  verdünnten  Körper, 
d.  h.  ganz  wie  Telesins  fassen.  Ihre  Haupteigenschaften  hat  man 
ziemlich  genau  untersucht,  doch  liegt  ein  Punkt  noch  sehr  im 
Argen:  das  Verhältniss  der  spontanen  Bewegungen  zur  Empfin- 
dung, so  wie  der  Unterschied  dieser  letztern  von  der  blossen  Per- 
ception,  die  auch  dem  Empfindungslosen  zukommt.  Als  Anhang 
zu  den  Thätigkeiten  der  Seele  werden  ihre  ganz  unvermittelten 
Perceptionen  und  Wirkungsweisen,  die  dirinfitlo  und  /'osciiKiflo 
betrachtet  werden  müssen.  Die  Bethätigung  der  Seelenthätigkei- 
ten  und  die  Objecte  derselben  betrachtet  die  Logik  (Lib.  V  und 
VI)  und  Ethik  (Lib.  \II).  Jene  betrachtet  das  Erkennen  und 
das  Verhalten  zur  Wahrheit,  so  dass  sie  die  Anweisung  zum  Er- 
finden, Beurtheilen,  Behalten  und  Mittheilen  gibt,  also  Alles  ent- 
hält was  der  Dialektik,  Mnemonik,  Grammatik  und  Rhetorik  an- 
gehört, freilich  noch  viel  mehr  enthalten  müsste.  Die  Ethik  wie- 
der, welche  den  Geist  betrachtet  wie  er  Wille  ist  oder  auf  das 
Gute,  d.  h.  das  Nützliche  geht,  zerfällt  in  die  Lehre  vom  Muster- 
bilde oder  vom  Guten,  und  die  von  der  Leitung  und  Cultur  des 
Willens  (Georgien  (in'imi).  Nicht  nur  das  individuell  Gute  (bo- 
nvm   snitnfts).  sondern   auch  das  was  der  Gemeinschaft  frommt 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Bacou.     §    249,  4.  575 

ist  schon  in  der  Ethik  zu  betrachten,  weil  die  sittliche  Cultur  da- 
rin besteht,  dass  der  Mensch  nicht  nur  sich,  sondern  auch  Ande- 
ren lebe,  etwas  was  die  Alten  bei  ihrer  Verherrlichung  des  specu- 
lativen  Lebens  verkannt  haben.  Eine  ausführliche  Darstellung  der 
Ethik  hat  Bacoii  nicht  gegeben.  Zerstreute  Bemerkungen  auch 
über  die  Fundamente  derselben  finden  sich  in  seinen  Essays. 
Seine  Betrachtungen  über  Selbstliebe  und  Liebe  zur  Gesellscliaft, 
über  Triebe  und  Leidenschaften,  über  die  Beherrschung  der  letz- 
teren u.  s.  w.  zeigen  den  gemässigten,  allen  Extremen  abholden 
Sinn  des  gebildeten  Weltmannes.  Ein  Gräuel  sind  ihm  alle  Strei- 
tigkeiten, welche  durch  die  Religion,  das  Band  des  Friedens,  ver- 
anlasst werden.  Er  nennt  dies,  die  eine  Tafel  des  Gesetzes  ge- 
gen die  andere  stossen,  und  darüber  dass  mr  Christen  sind,  ver- 
gessen dass  wir  Menschen  seyn  sollen.  Den  zweiten  Theil  der 
Lehre  vom  Menschen,  den  letzten  der  Philosophie,  bildet  die  Po- 
litik (philosophia  ririlis) ,  welche  das  achte  Buch  bildet.  Von 
ihren  Gegenständen,  dem  geselligen,  geschäftlichen  und  staatli- 
chen Leben,  j)llegt  man  die  ersten  beiden  gar  nicht,  das  letztere 
nur  vom  Standpunkt  weltunkundiger  Philosophen  oder  der  Juristen 
zu  betrachten,  die  beide,  nur  aus  entgegengesetzten  Gründen, 
dazu  nicht  taugen.  Der  Staatsmann  wird  hier  das  entscheidende 
Wort  sprechen.  Einem  Könige  gegenüber  wie  der,  an  den  er 
schreibt ,  will  Baron  sich  mit  Winken  begnügen ,  und  gibt  eine 
Menge  von  Aphorismen,  unter  welchen  die  wichtigsten  sind,  dass 
der  Staat  nicht  nur  Sicherheitsaustalt  für  Privatrechte  sey,  son- 
dern dass  zum  Wohl  der  Bürger  auch  Rehgiou,  Sittlichkeit,  ehren- 
volle Stellung  zum  Auslande  u.  s.  w.  gehöre.  Praktische  Rath- 
schlägc  über  das  zu  Stande  kommen  und  Anwenden  der  Gesetze 
schUessen  sich  daran.  Da  der  Inhalt  der  Theologie  als  geoffen- 
bart ganz  ausserhalb  des  Gebietes  der  Philosophie  lag,  so  betref- 
fen die  Untersuchungen  des  neunten  Buches,  in  dem  er  sich  sehr 
heftig  gegen  die  erklärt,  die  wie  Paracclstts  und  die  Cabbahsten 
aus  der  Bibel  Philosophie  lernen,  oder  wieder  die  Bibel  philoso- 
phisch erklären  wollen,  nur  die  Form,  in  welcher  die  Glaubens- 
wahrheiten vorzutragen  sind.  Hier  vermisst  er  alles  das,  was  in 
späterer  Zeit  Apologetik,  Irenik  und  Biblische  Theologie  genannt 
worden  ist.  Zuletzt  stellt  er  alle  seine  Desiderate  als  einen  no- 
vus  orbis  scientiarum  zusammen. 

5.  Wenn  diese  Umschau  über  den  ganzen  Wissenskreis  ge- 
zeigt hat,  dass  sein  Zustand  nicht  sein-  glänzend,  so  entsteht  die 
Frage :  warum  so  ?  Ein  Hauptgrund  ist  dem  Bacou  die  sklavische 
Abhängigkeit  von  den  Alten.     In  fast  wörtlicher  üebereinstimmung 


576  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

mit  Bnnio  (Cena  delle  cen.  p.  132)  sagt  er,  dass  die  Ehrfurcht  vor 
dem  Alter  uns  dahin  bringen  müsse,  unsere  Zeit  über  Alles  zu 
setzen,  denn  sie  ist  um  Jahrtausende  älter,  als  die  der  s.  g.  Alten, 
und  ist  in  ihrem  längeren  Leben  durch  Erfahrungen  und  Erfin- 
dungen aller  Art  gereifter.  Mit  Telesins.  den  er  als  den  grössten 
unter  den  neueren  Philosophen  bezeichnet,  weisst  Bacon  oft  auf 
die  drei  grossen  Erfindungen  des  Schiesspulvers,  der  Magnetnadel 
und  der  Buchdruckerkunst  hin,  durch  welche  die  Gegenwart  sol- 
chen Vorsprung  vor  der  Vergangenheit  habe.  Da  dem  Alterthum 
mit  diesen  und  anderen  Erfindungen  auch  alle  gemeinnützigen  An- 
wendungen derselben  fremd  waren,  so  ist  es  erklärlich,  dass  dort 
der  selbstsüchtige  Gesichtspunkt  festgehalten  ward,  dass  die  Phi- 
losophie nur  um  des  Genusses  zu  wissen  willen  da  sey.  Die  ver- 
ständig gewordene  Menschheit  denkt  nicht  so  epikureisch,  sie  setzt 
als  Maassstab  der  Philosopliie  die  Gemeinnützigkeit,  die  praktische 
Anwendbarkeit.  Die  Ausstattung  des  Lebens  mit  Bequemlichkei- 
ten aller  Art  ist  ihr  Ziel  (so  u.  A.  im  Valerius  Terminus  p.  223. 
ed.  Ellish  Dazu  kommt,  dass  man  von  dem  Alterthum  nicht  ein- 
mal die  Lehren  entlehnt  hat,  die  es  am  Meisten  verdient  hätten. 
Pi'alo,  namentlich  aber  der  neidische  Aristoteles ,  der  wie  die  tür- 
kischen Kaiser  sicher  zu  herrschen  nur  glaubte,  wenn  alle  Präten- 
denten des  Throns  getödtet  wurden,  sind  vom  Schicksal  begün- 
stigt, fast  allein  zu  uns  gelangt,  ein  Beweis,  dass  auch  auf  dem 
Strome  der  Zeit  die  leichte  Waare  fortgetragen  wird,  die  gewich- 
tige zu  Boden  sinkt.  Hätte  man,  anstatt  dieser  Beiden,  von  de- 
nen der  Erstere  wegen  seiner  Vorliebe  für  Theologie  und  Politik 
die  Physik  vernachlässigt,  der  Zweite  wegen  seines  Eifers  für  Lo- 
gik sie  verdirbt,  indem  er  die  Welt  aus  Kategorien  ableitet,  den 
Dcmokrit,  Empedokics  und  andere  Naturphilosophen  zu  Lehrern 
genommen,  welche  Alles  aus  wirkenden  Ursachen,  nichts  teleolo- 
gisch wie  jene  Beiden,  erklärten,  so  stünde  es  besser.  Denn,  da 
jede  gemeinnützige  Praxis  sich  zuletzt  auf  Beherrschung  der  Na- 
tur zurückführen  lässt,  die,  seit  sie  der  Mensch  durch  seinen  Fall 
verlor,  nur  durch  Benutzen,  darum  aber  Erkennen,  ihrer  Gesetze 
möglich  ist,  so  muss  die  Naturphilosophie  als  der  Haupttheil  der 
Philosophie  angesehen,  und  auf  ihre  Anwendung  vor  Allem  hin- 
gearbeitet werden.  Dies  aber  Hess  der  Einfluss  des  Aristoteles 
nicht  zu,  indem  es  durch  ihn  zu  einem  fast  stehenden  Axiom 
wurde,  dass  das  einzig  wissenschaftliche  Verfahren  das  syllogisti- 
sche  sey.  Zwar  wird  in  der  Logik  des  Aristoteles  und  der  Scho- 
lastiker neben  dem  Syllogismus  auch  die  Induction  angeführt;  ab- 
gesahn  davon  aber,  dass  ihr  eine  untergeordnete  Stellung  ange- 


II.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Bacou.     §.  249,  5.  6.         577 

wiesen  wird,  ist  auch  diejenige  Induction,  welche  sie  meinen,  eine 
ganz  untergeordnete,  ja  kindische,  indem  sie  darin  besteht,  dass 
einzehie  Beispiele  gesammelt  werden,  was  doch  allerhöchstens  zu 
einer  Vermuthung,  nie  zu  einem  Wissen,  bringt.  Für  die  Schola- 
stiker, die  durch  ihr  Denken  nichts  Neues  gefunden,  höchstens  das 
Alte  zerlegt  haben,  war  das  syllogistische  Verfahren,  das  nur  dem 
schon  Bekannten  Alles  subsumirt,  das  nicht  Erfindungen  sondern 
nur  Worte  macht,  und  dem  an  dem  regnum  hominis  wenig,  an 
dem  nuniiis  pro/essoriiim  sehr  viel  zu  liegen  scheint,  ausreichend. 
Anders  in  der  Gegenwart.  Die  Zeit,  deren  Eigenthümlichkeit  ist, 
täglich  neues  Gemeinnütziges  zu  erfinden,  bedarf  einer  neuen  Lo- 
gik, durch  welche  jene  Erfindungen  aufhören,  wie  bisher,  ein  Ge- 
schenk des  Zufalls  zu  seyn,  also  die  Erfiudungskunst  die  erste 
Stelle  einnimmt. 

6.  Zu  dieser  neuen  Logik  geben  nun  die  Grundzüge  die  co- 
gitata  et  visa  vom  Jahre  1607,  in  erweiterter  Gestalt  das  Novum 
Organon,  welches  darum  als  Zweiter  Theil  des  grossen  Werkes 
zu  dem  globus  intellectualis  als  dem  ersten  (s.  oben  sub  2.  3.  4) 
hinzutritt.  Nach  dem  so  eben  Erörterten  kann  es  nicht  Wunder 
nehmen,  wenn  als  das  Ziel  das  Verständniss  der  Natur  (iniev- 
prefatio  milurae)  angegeben  wird.  Wie  bei  jeder,  so  ist  auch  bei 
dieser  Interpretation  das  Hineintragen  zu  vermeiden;  darum  sind 
vor  Allem  alle  Anticipationen  wegzulassen.  Auf  sie  bezieht  sich  der 
Zweifel,  mit  dem  nach  Bacon  angefangen  werden  soll,  und  der 
eben  deswegen  gar  nicht  mit  dem  der  Skeptiker  des  Alterthums 
verglichen  werden  kann.  Weder  gründet  er  sich  auf  Misstrauen 
gegen  Wahrnehmung  und  Vernunft,  denn  Bacon  vertraut  beiden, 
noch  auch  dehnt  er  sich  so  weit  aus,  wie  dort,  denn  anstatt  des 
Skeptischen:  Nichts  wird  gewusst,  sagt  Bacou:  bis  jetzt  wird  sehr 
wenig  gewusst  (vgl.  §.  248,  6),  noch  endhch  beruhigt  er  sich  bei 
der  Akatalepsie  (s.  §.  101,  1.  2),  sondern  er  sucht  vielmehr  die 
Eukatalepsie.  Er  wird  es  nicht  müde,  die  zu  tadeln  welche,  weil 
sie  Etwas  nicht  erkannt  haben,  sogleich  durch  eine  matitiosa 
civcumscriplio  der  Vernunft  die  Fähigkeit  des  Erkennens  abspre- 
chen. Auch  mit  dem  absoluten  Zweifel  des  Üescartes  (s.  unten 
§.  267,  4)  darf  der  Baconische  nicht  zusammengestellt  werden,  da 
sich  der  letztere  nur  auf  die  ÜTigen  vorgefassteu  Meinungen,  auf 
das  was  er  idola  nennt,  bezieht,  durchaus  aber  nicht  so  weit  geht, 
das  Daseyn  der  Sinnenwelt,  Gottes  u.  s.  w.  in  Frage  zu  stellen. 
Dieser  idola  werden  nun  zuerst  drei,  später  vier,  Arten  unter- 
schieden :  die  welche  in  allen  Menschen  herrschen,  weil  sie  in  der 
Menschen  Art  gegründet  zu  seyn  scheinen,  können  deswegen  idola 

Knlm.iuu  Oescli.  d.  i'liil.  1.  "tT 


578  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

tribus  heissen;  die  Vorurtlieile  wieder,  die  in  den  Schranken  der 
eignen  Individualität,  die  Bncon  oft  mit  der  Höhle  des  P.'ato  (s. 
§.  77,  8)  vergleicht,  ihren  Grund  haben,  nennt  er  eben  darum 
idola  specvs;  im  Verkehr  mit  Menschen  unter  einander  entwickelt 
sich  eine  dritte  Art  von  Vorurtheilen ,  die  idola  fort  (pdlalii); 
endUch  kommt  dazu  eine  vierte,  die  Fictionen  nämlich  und  fal- 
schen Theorien,  welche  uns  beherrschen  weil  sie  Mode  sind,  die 
Idola  thediri  Da  der  zweiten  Art  unzählige  shid,  so  verzichtet 
Bncon  darauf,  auch  niu'  die  hauptsächlichsten  namhaft  zu  machen. 
Anders  bei  den  übrigen:  Unter  den  idoUs  tribus  wird  besonders 
die  Neigung,  überall  Gleichmässigkeit  vorauszusetzen,  ferner  die, 
aus  Finalursachen  zu  erklären,  unter  den  idolis  fori  vor  Allem 
das  Vorurtheil  gerügt,  dass  man  in  den  Worten  mehr  sieht  als 
Spielmarken,  welche  anstatt  der  Dinge  gelten,  ein  Vorurtheil  aus 
dem  eine  Menge  von  Irrthüniern,  z.  B.  alle  antinominalistischen 
Sätze,  entstehn.  Die  falschen  Modetheorien  endlich,  die  idola  thcu- 
tri,  sind  der  Wissenschaft  am  Verderblichsten  geworden.  Man 
kann  sie  auf  die  Hauptformen  der  sophistischen,  empirischen  und 
abergläubigen  Theorie  zurückführen,  von  denen  die  erste  sich 
durch  Worte  und  allgemein  herrschende  Vorstellungen,  die  zweite 
durch  unvollständige  und  nicht  gehörig  geprüfte  Erfahrungen,  die 
dritte  durch  Hineinmengen  theologischer  Ansichten  fesseln  lässt. 

7.  Die  Reinigung  des  Geistes  von  den  Idolen  ist  nur  der  nega- 
tive Theil  dessen ,  wozu  das  neue  Organon  anleiten  will ,  und  Bu- 
con  selbst  vergleicht  sie  oft  mit  dein  Reinmachen  der  Tenne.  Als 
positive  Ergänzung  tritt  hinzu  die  Anweisung,  wie  man  zu  wahrer 
und  gemeinnütziger  Erkeuntniss  gelangt.  Sie  bildet  den  Inhalt 
des  zweiten  Buches,  während  das  erste  besonders  die  Idole  be- 
traf. In  dem  richtigen  Verfahren  lassen  sich  zwei  Stufen  unter- 
scheiden: Zuerst  müssen  aus  der  Erfahrung  die  Axiome  abgeleitet 
werden ,  dann  aber  inuss  von  den  gefundenen  Axiomen  zu  neuen 
Erfahrungen  übergegangen  werden.  Ausgangspunkt  also  ist  die 
Erfahrung,  d.  h.  der  allein  richtige  Weg  ist  die  Induction.  Nur 
muss  man  nicht,  wie  dies  gewöhnlich  geschieht,  sich  damit  begnü- 
gen, diejenigen  Fälle  (iitslanüae)  zusammenzustellen,  die  für  Et- 
was sprechen,  sondern  mit  derselben  Genauigkeit  muss  man  die 
Fälle  registriren,  die  das  Gegentheil  darthun  (instdufiue  neguticae^ 
exclnsirue) .  also  allen  den  Fällen,  wo  Licht  und  Wärme  zusam- 
men vorkommen,  die  entgegenstellen,  wo  sie  nicht  vereinigt  sind, 
gerade  wie  man  in  einem  Process  Belastungs-  und  Entlastungs- 
zeugen vernimmt.  Endlich  aber  müssen  auch  die  Fälle  zusam- 
mengestellt werden,   wo  mit  Mehrung  oder  Minderung  des  Lichts 


n.  Die  Weltweisen.     B.  Naturphilosophen.     Bacon.     §.  249,  7.  8.  579 

eine  gleiche  der  Wärme,  und  wieder,  wo  nicht,  eintritt.  So  genau 
nun  auch  diese  Instanzentafehi  eingerichtet  seyn  mögen,  so  ist 
klar,  dass  eine  absolute  Vollständigkeit  unmöglich  erreicht  wird, 
und  es  entsteht  nun  die  Frage,  wie  trotz  dem  der  inductive  Weg 
eine  Sicherheit  gewähren  kann?  Nur  dadurch,  dass  einzelne  Fälle, 
wenn  auch  sehr  selten,  den  Vorzug  haben  vor  anderen,  die  sehr 
häufig  vorkommen.  Den  geraden  Gegensatz  gegen  diese  werden 
die,  sehr  häufig  vorkommenden,  Zufälhgkeiten  oder  „Possen"  der 
Natur  bilden,  die  der  Beachtung  gar  nicht  werth  sind.  Jene  Prä- 
rogative, d.  h.  der  -qualitative  Vorzug,  gewisser  Instanzen  wird 
nun  von  Bacon  sehr  genau  betrachtet  und  auf  sieben  und  zwanzig 
Hauptarten  zurückgeführt,  welche  nach  der  ihm  eigenthümlichen 
Weise  mit  Namen  bezeichnet  werden ,  die,  wenn  auch  seltsam,  ihm 
die  prägnantesten  scheinen.  Unter  ihnen  kommt  die  iustantki  cruci.s 
(enghsch:  /im/erposl)  vor,  so  genannt,  weil  sie,  wie  der  Wegwei- 
ser am  Kreuzweg,  auf  die  Lösung  anderer  Aufgaben  hinweist.  Da 
eine  solche  Rangordnung  nur  ein  Product  des  abwägenden  Ver- 
standes ist,  so  hat  Bacon  Recht,  wenn  er  den  von  ihm  beschrie- 
benen Empirismus  dem  gewöhnlichen  als  e.vperientia  Uferata  ent- 
gegenstellt. Eben  so  aber  auch  dem  Ableiten  aus  blossen  Hypo- 
thesen. Nicht  wie  die  Ameisen  nur  sammeln,  nicht  wie  die  Spinne 
aus  sich  selbst  die  Fäden  ziehn,  sondern  wie  die  Biene  aus  dem 
Gesammelten  Honig  macheu  soll  der  wahre  Empirismus,  d.  h.  die 
Philosophie.  Eine  jModification  früherer  Ansichten  muss  man  da- 
rin sehn,  dass,  wenn  er  unter  den  entscheidenden  Instanzen  die 
anführt,  welche  durch  Parallelismus  und  Analogie  mit  anderen  eine 
besondere  Wichtigkeit  bekommen,  hier  Sätze  durchgenommen  wer- 
den ,  welche  Bacon  früher  der  philosophia  prima  zugewiesen  hatte 
(s.  oben  sub  3) ,  so  dass  also  diese  letztere  zu  verschwinden  scheint. 
Unter  den  für  die  Naturwissenschaft  fruchtbaren  Analogien  wird 
nicht  nur  der  Aristotelische  Gegensatz  zwischen  dem  Oben  und 
Unten  der  Pflanzen  und  dem  der  Menschen  angeführt,  sondern 
auch  die  Analogie  zwischen  Spiegeln  und  Sehen,  zwischen  Wie- 
derhallen und  Hören. 

8.  Die  möglichst  vollständige  Aufzählung  der  wichtigsten  In- 
stanzen gibt  nun  den  Stoff  (darum  oft  syha  genannt),  dieser 
heisst  ihm  auch  hlsioria,  so  dass  also,  ganz  wie  bei  den  italiä- 
nischen  Naturphilosophen,  die  Geschichte  zur  Grundlage  der  Wis- 
senschaft wird.  Eine  möglichst  vollständige  hislorla  iiatiiralis  sollte 
sich  als  dritter  Theil  seines  grossen  Werks  der  encyclopädi- 
schen  Uebersicht  und  dem  Novum  ürganon  auschliessen.  Nur 
Bruchstücke  einer  solchen  hat  er  gegeben.    Die  historia  veiitorum 


580  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

und  h.  vitae  et  mortis  sind  ausführliche  Abhandlungen,  die  h.  densi 
et  rari,  h.  sympathiae  et  antipathiae  rerum,  h.  sulphuris  mercurii 
et  salis,  sind  nur  Inhaltsangaben  von  dergleichen.  Er  gibt  mehr 
als  vierzig  solcher  historiae  an,  die  geschrieben  werden  müssten. 
Seine,  erst  später  ins  Lateinische  übersetzte,  Sylva  sylvarum,  so 
genannt  weil  hier  die  (historiae  oder  sylvae  genannten)  Materia- 
liensammlungen zu  einer  Sammlung  verbunden  wurden,  zeigen  Ba- 
ron als  fleissigen  Compilator,  der,  ohne*  sie  immer  zu  nennen,  als 
Hauptquellen  die  Probleme  des  .Aristoteles,  die  Naturgeschichte 
des  P/inius,  Arosta-'s  Historia  natural  y  moral  de  las  Indias,  Por- 
ta's  Magia  naturalis,  Cardav's  Schriften  de  subt,  und  de  variet., 
Scnligers  Exercit.  adv.  Card.,  Sendifs  Reisen  und  andere  Werke 
excerpirt.  Ueberhaupt  schöpft  er  fast  nur  aus  Büchern ;  wie  schlecht 
es  mit  seinem  eignen  Experimentiren  aussieht,  darauf  haben  Las- 
son,  Liehuj  u,  A.  ein  grelles  Licht  geworfen,  und  was  er  als  von  ihm 
selber  gesehn  erzählt,  zeigt  wie  wenig  er  Einbildung  und  Wahr- 
nehmung zu  unterscheiden  vermochte.  Mit  Absicht  vermeidet  er 
in  dieser  Materialiensammlung  jeden  Anschein  einer  systematischen 
Ordnung,  denn  die  Zusammenstellung  von  je  hundert  Erfahrungen 
zu  einer  Centurie  wird  man  doch  nicht  so  nennen,  und  geht,  nach- 
dem eine  Menge  von  theils  vereinzelten  (solitary)  theils  combinir- 
ten  (consort)  Erfahrungen  hinsichtlich  der  Töne  aufgezählt  waren, 
zu  solchen  über,  welche  die  Farben  der  Metalloxyde,  dann  zu  sol- 
chen, welche  die  Verlängerung  des  Lebens  betreffen  u.  s.  w.  Diese 
Materialien  aber  geben  nur  den  Stoff,  aus  welchem  die  Biene  den 
Honig  machen  sollte,  und  Tiacon  sucht,  da  er  die  interpretafio 
der  ganzen  Natur  als  Etwas  ansehn  gelernt  hat,  was  über  die 
Kräfte  eines  Menschen  geht,  wenigstens  an  einem  Beispiel  zu  zeigen, 
wie  er  sich  diese,  höchste,  Aufgabe  der  Naturphilosophie  denkt. 
9.  Was  Bacon  dem  vierten  Theil  seines  grossen  Werks 
als  Aufgabe  zuweist,  ist  eigentlich  das  Werk  selbst,  eben  die  iii- 
terpretatio  naturae,  deren  Nothwendigkeit  im  ersten,  Methode  im 
zweiten,  Ausgangspunkt  im  dritten  Theil  festgestellt  worden  war. 
Hier  handelt  sichs  zunächst  darum,  das  Ziel  dieser  Naturerklä- 
rung zu  fixiren,  eine  Aufgabe  die  so  nahe  mit  der  methodologi- 
schen zusammenhängt,  dass  ihre  Beantwortung  in  dem  Neuen  Or- 
ganon  versucht  wird.  Als  dies  Ziel  wird  wiederholt  angegeben, 
dass  die  den  Erscheinungen  zu  Grunde  liegenden  Formen  erkannt 
werden  sollen.  Da  nun  dies  oben  (sub  3)  als  die  Aufgabe  der 
Metaphysik  bezeichnet  war,  so  ist  also  die  Aufgabe:  die  dort  ver- 
misste  Metaphysik  aufzustellen.  Der  Weg  dahin  führt  durch  die 
Physik,  die  an  die  Naturgeschichte  anknüpfend  in  ihrem  oberen 


II.  Die  Weltweiseu.     ß.  Naturphilosophen.     Bacon.     §.  249,  9.  10.         581 

Theile  sich  mit  den  abstracten  Naturen  oder  Eigenschaften  der 
Körper,  wie  Hitze,  Kälte,  Dichtigkeit  u.  s.  w.  beschäftigt.  Aber 
auch  bei  ihnen  hat  sich  die  aufsteigende  Induction  nicht  zu  beru- 
higen, sondern  fortzugehn  zu  dem  Aufsuchen  der  Formen  dieser 
Qualitäten.  Mit  dem  Worte  Form,  das  Bacon  den  Scholastikern 
entlehnt,  verbindet  er  einen  ganz  andern  Sinn  als  sie.  Ihm  ist 
Form  der  allerdings  zunächst  verborgene,  aber  durchaus  nicht  un- 
erkennbare, tiefere  Grund  der  sich  manifestirenden  Erscheinungen 
und  Eigenschaften.  Daher  fällt  ihm  Form  bald  mit  der  wahren 
Differenz  oder  wesentlichen  Eigenschaft,  bald  mit  der  erzeugenden 
Natur  der  Dinge,  bald  mit  dem  den  Erscheinungen  zu  Grunde  lie- 
genden Gesetze  zusammen,  so  dass  ihm  Suchen  der  Formen  und 
der  letzten  Axiome  zum  Synonymon  wird.  Sehr  früh  hat  Bacon 
darauf  hingewiesen,  dass  dieser  letzte  Gmnd  der  physikalischen 
Eigenschaften  ganz  besonders  in  der  verschiedenen  Configuration 
der  kleinsten  Theilcheu  (den  Schematismen)  der  Materie  und  den 
verschiedenen  Bewegungen  liegen  möge.  Sollte  er  ja  die  Hoffnung 
gehabt  haben,  dass  ihm  selbst  die  Reduction  aller  von  der  Phy- 
sik betrachteten  Naturen  auf  diese,  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
natnrae  naturanles  gelingen  werde,  so  hat  er  diese  stolze  Hofifnung 
bald  mit  der  viel  bescheidenem  vertauscht,  dass  er  an  einem  Bei- 
spiel diese  Reduction  zeigen  könne.  Dies  ist  die  Wärme,  die  in 
ihrem  tiefsten  Grunde  nichts  seyn  soll,  als  eine  zitternde  Bewe- 
gung der  kleinsten  materiellen  Theilchen,  so  dass  also  Bewegung 
die  Form  der  Wärme  ist.  Hinsichtlich  der  Wärme  wird  dies  wie- 
derholt und  ganz  entschieden  ausgesprochen.  Andeutungen,  dass 
es  hinsichtlich  andrer  physikalischer  Eigenschaften  sich  eben  so 
verhalte,  kommen  bei  ihm  vor;  sie  berechtigen  höchstens  zu  sa- 
gen, er  habe  gewünscht,  nicht:  er  habe  gesagt,  dass  alle  physi- 
kalischen Eigenschaften  sich  auf  das  zurückführen  Hessen,  was 
man  heute  Molecularbewegung  nennt.  Dagegen  ein  Andres,  was 
man  nach  heutiger  Ansicht  für  untrennbar  hält  von  solcher  Nei- 
gung, Vorliebe  für  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  die  Phy- 
sik, findet  sich  bei  ihm  gar  nicht.  Im  Gegentheil,  wie  Aristote- 
les wegen  seiner  teleologischen  Ansicht  (s.  §.  88,  1)  den  Pytha- 
goreern,  so  wirft  Bacon  den  Mathematikern  vor,  dass  sie  die  Phy- 
sik verderben,  weil  diese  es  mit  dem  Quahtativen  zu  thun  habe. 
Diese  Nichtachtung  der  Mathematik  ist  einer  der  Gründe,  warum 
er  die  Ungeheuern  Entdeckungen  seiner  Zeit  so  wenig  würdigte. 

10.  Aber  auch  das  Finden  der  zu  Grunde  liegenden  Formen 
ist  noch  nicht  das  Letzte.  Dies  liegt  vielmehr  in  der  auf  solches 
Erkennen  gestützten  Naturbeherrschuug.    Die  Erkenntniss  der  pri- 


582  MittelalteiHche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

mitiven  Formen  setzt  in  Stand,  neue,  secundäre,  Qualitäten  er- 
scheinen zu  lassen.  Wer  den  Grund  aller  Eigenschaften  des  Gol- 
des erkannt  hätte,  wäre  im  Stande  alle  seine  Eigenschaften  zu- 
sammen erscheinen  zu  lassen,  und  dann  hätte  er  Gold.  Der  letzte 
Zweck  alles  Wissens  ist  Macht  über  die  Natur,  und  deswegen  zielt 
es  eigentlich  auf  das  Hervorbringen  von  Artefacten.  Auch  bei  die- 
sen ist  ein  Repertorium  dessen,  was  bereits  erfunden  ist,  Vorbe- 
dingung dazu,  dass  man  das  zu  Erfindende  erkenne.  Darum  theilt 
sich  die  letzte  Aufgabe  in  eine  doppelte,  und  Bncon  kann  als 
fünften  Theil  seines  grossen  Werks  ein  Register  des  schon  Er- 
fundenen, als  sechsten  Winke  zu  neuen  Erfindungen  angeben. 
Was  er  hier  geleistet  hat,  von  dem  gesteht  er  selbst,  es  sey  äus- 
serst gering.  Für  uns  ist  das  wichtigste  der  durchgeführte  prak- 
tische Gesichtspunkt,  der  ihn  nicht  abschreckt  auch  wo  er  ihn  da- 
hin bringt,  die  Wissenschaft  banausisch,  die  Poesie  prosaisch  zu 
behandeln.  Glaubt  er  doch  den  Mythen  des  Alterthums  einen  gros- 
sen Dienst  zu  erweisen,  wenn  er  sie  in  oft  sehr  frostige  Allego- 
rien physikalischer  und  moralischer  Lehren  verwandelt.  Gemein- 
nützigkeit, Förderung  der  menschlichen  Bequemlichkeit,  dieser  letzte 
Zweck  alles  menschlichen  Thuns  und  Treibens  wird  am  Sichersten 
erreicht  durch  Naturerkenntniss ,  denn  Wissen  ist  Macht.  — 

§.  250. 
Die  nicht  abzuleugnende  Thatsache,  dass  die  Schriften  Ba- 
coiis.  mit  denen  der  italiänischen  Naturphilosophen  verglichen, 
mehr  als  sie  den  Geist  der  Neuzeit  athmen,  und  dass  er  doch  die 
Entdeckungen,  welche  sich  für  die  Folgezeit  als  die  fruchtbarsten 
erwiesen  haben,  ja  ihre  Urheber  (Cojiermcvs ,  Galilei.  Gilbert, 
Harrcy  u.  A.)  ignorirt  oder  doch  nicht  wie  jene  zu  würdigen 
weiss,  dass  ferner  trotz  seines  Lobes  der  Naturwissenschaft  er  ge- 
rade auf  die  Ausbildung  dieser  keinen  nennenswerthen  Einfluss 
geäussert  hat  —  (Thatsachen  die  in  neuester  Zeit  zu  so  ver- 
schiedner  Beurtheilung  des  Bncon  geführt  haben)  —  lassen  sich 
nur  (dann  aber  leicht)  vereinigen,  wenn  man  dem  Bncon  nicht 
die  Stelle  eines  Anfängers  der  neueren  Philosophie  anweist,  son- 
dern in  ihm  den  Abschluss  der  mittelalterlichen  sieht.  Er  hat  hin- 
ter sich  die  Standpunkte,  wo  die  Naturwissenschaft  sich  dem  Dogma 
unterwarf  und  wo  sie  es  bekämpfte.  Er  steht  darum  höher  als 
sie  und  der  Neuzeit  näher.  Dieser  Fortschritt  betrifft  aber  nur 
das  Verhältniss  der  naturwissenschafthchen  Lehren  zur  Rehgion 
und  Kirche.  Die  Lehren  selbst  aber,  wenn  ihnen  auch  das  Skla- 
ven- oder  Freigelassenenkleid  abgestreift  wurde,  sind  im  Grunde 
nicht  sehr  verschieden  von  denen,  welche  jene  niedrigem  Stand- 


II.  Die  Weltweisen      B    Katurphilosophen.     Bacon.     §.  250.  Oöo 

punkte  hervorbrachten.  Es  ist  wahr,  er  sagt,  die  bisherige  Wis- 
senschaft sey  nicht  die  rechte,  aber  eine  bessere  an  ihre  Stelle  zu 
setzen  vermag  er  nicht,  und  er  zeigt  daher  stets  diesen  Contrast 
zwischen  dem  berechtigten  Gefühl  ganz  anders  zu  stehn  als  die 
Frühereu,  und  der  Unfähigkeit  eine  Naturwissenschaft  darzustellen, 
die  specifisch  von  der  des  Telesuis  und  CdnipanoUn  verschieden 
ist.  AVie  der  Vogel  der  noch  nicht  flügge  mit  aller  Anstrengung 
der  Flügel  allerhöchstens  sich  etwas  über  das  Nest  erhebt,  aber 
stets  in  dasselbe  zurückfällt,  so  quält  sich  Bacon  ab,  aus  den  mit- 
telalterlichen Lehren  herauszukommen,  bei  denen  es  ihm  nicht  ge- 
heuer, und  verfällt  ihnen  stets  wieder.  Den  gi'ossen  Schritt,  durch 
welchen  sich  die  moderne  Naturforschung  von  der  antiken  und 
mittelalterlichen  unterscheidet,  dass  an  die  Stelle  der  Erfahrung, 
die  man  macht,  das  Experiment  tritt,  in  dem  man  auf  dieselbe 
ausgeht,  ahndet  er  nur;  sobald  er  ihn  in  Gedanken  fixiren  will, 
verschwindet  er  ihm  oder  wird  wenigstens  schief  gefasst.  Dass 
im  Experimente  absichtlich  alles  Individuelle  entfernt,  nur  was  Be- 
dingung des  Gesetzes  ist,  übrig  gelassen  wird,  verwandelt  er  in  ein 
Aufsuchen  negativer  Instanzen,  als  wäre  Abwesenheit  wahrnehmen 
schon:  sie  veranlassen.  Und  wieder,  wenn  er  in  der  Lehre  von 
der  Prärogative  einiger  Instanzen  vor  anderen  ganz  richtig  zeigt, 
dass  nicht  Alles,  was  oft  oder  auch  immer  sich  zeigt,  darum  ein 
durch  Experiment  gefundenes  Gesetz  sey,  so  fehlt  doch  bei  ihm 
die  positive  Ergänzung,  dass  nur,  wenn  das  Gefundene  rational, 
darum  <i  priori  gewnsst,  es  als  Gesetz  anzusehn  ist.  Hätte  er  mehr 
als  in  Worten  zwischen  Erfahren  und  Experimentiren  unterschieden, 
so  hätte  es  ihm  nicht  geschehen  können,  dass*  bei  der  Ermittelung 
des  specifischen  Gewichtes,  obgleich  er  das  Verfahren  kannte,  das 
längst  Archimedcs  und  kurz  vor  ihm  selbst  Porlu  eingeschlagen 
hatte,  sein  eignes  so  roh  bUeb.  Die  Erfahrung  und  darum  die 
Induction,  durch  die  sich  Bacon  leiten  lässt,  war  schon  von  Te- 
lesiiis  und  Cavtpanel/a  zur  Führerin  genommen ;  sie  Alle  aber  wis- 
sen höchstens  der  Natur  Geheimnisse  abzulauschen,  dagegen  Fra- 
gen an  sie  zu  stellen,  auf  die  sie,  und  zwar  mit  Ja  oder  Nein, 
antworten  muss,  und  bei  denen  man  die  Antwort  voraussieht, 
vermögen  sie  nicht.  Die  bei  dem  Studium  Baconischer  Schriften 
sich  oft  aufdrängende,  und  auch  oft  gezogene,  Parallele  zwischen 
Bacon  und  A.  von  HumbokU  übersieht  den  Umstand,  dass  der 
Letztere  nicht  nur  Lücken  im  Wissen  bemerkte,  sondern  auch 
füllte,  mehr  aber  noch  bestimmte  Aufgaben  zu  stellen  vermochte, 
durch  welche  sie  gefüllt  wurden,  darum  aber  auch  mit  jedem  auf- 
strebenden Geist  sich  in  Rapport  zu  setzen  wusste,  während,  sei- 


584  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

ner  Stellung  gemäss,  Bncov  mit  den  gleichzeitigen  Gründern  mo- 
derner Naturwissenschaft  gar  keinen  Verkehr  hat,  nur  von  damals 
schon  Gestorbnen,  d.  h.  Büchern,  sich  helfen  lässt.  Sein  Vergleich 
des  eignen  Thuns  mit  dem  Thun  des  Richters,  der  die  Zeugnisse 
für  und  wider  abwägt,  ist  charakteristisch:  weder  mit  dem  Augen- 
zeugen noch  gar  mit  dem  Polizeispion  wagt  er  sich  zu  vergleichen. 
Kurz,  des  Erasmvs  Wort  über  Sciiccn  (s.  §.  107,  3)  gilt  auch 
hier:  An  dem  Maassstabe  des  Mittelalters  gemessen  erscheint  Ba- 
coii  als  modern,  an  dem  der  Neuzeit,  als  mittelalterlich.  Damit 
aber  ist  auch  ausgesprochen,  dass  sein  Verdienst  kein  kleines  ist. 
Er  hat,  was  die  mittelalterliche  Naturphilosophie  geleistet  hatte, 
zusammengefasst ,  er  hat  ihr  dann  weiter  einen  ganz  weltHchen 
Charakter  gegeben,  indem  er  alle  idealen  Zwecke,  sey  es  nun 
die  Ehre  Gottes,  sey  es  Befriedigung  des  Wissensdurstes,  bei 
ihrem  Studium  verwarf,  und  die  prosaischen  industriellen  Zwecke 
an  ihre  Stelle  setzte.  Es  scheint  als  wäre  ein  Weltmann  im  gu- 
ten und  schlechten  Sinne  des  Worts  am  Meisten  geeignet  gewe- 
sen, dies  durchzuführen.  Gewiss  aber  waren  der  enghsche  Ur- 
sprung und  das  so  frühe  Einathmen  der  Atmosphäre,  die  im  vo- 
rigen §.  geschildert  wurde,  wesentliche  Momente  für  die  Entwicklung 
dieses  Standpunkts,  der  sich  allerdings  rühmen  kann,  er  sey  ein 
ganz  andrer  als  die  bisherigen,  und  doch  zu  dem  der  Neuzeit  un- 
gefähr so  sich  verhält  wie  sich  des  Prologoras:  Jeder  Mensch  ist 
das  Maass  aller  Dinge,  zu  des  Sokrates:  „Der"  Mensch  ist  es,  ver- 
halten hatte  (s.  §.  64,  1). 

•       C.   (vgl.  §.  241.) 
Rechtsphilflsophen. 

H.  Fr.    W.  Hinrichs    Geschichte    des  Natur-  und  Völkerrechts  etc.     1848 — 52. 
3  Bde. 

§.  251.  • 
Während  die  Weltweisheit  als  Naturphilosophie  den  Makro- 
kosmus zum  ausschliessenden  Gegenstand  ihrer  Betrachtung  macht, 
lenkt  sich  bei  anderen,  gleichfalls  von  der  bisherigen  Gottesweis- 
heit Abgewandten,  das  Interesse  auf  die  Welt  im  Kleinen.  Die 
Gesetze  derjenigen  Welt,  deren  Bestandtheile  nicht  Elemente  oder 
Gestirne,  sondern  Menschen,  deren  bewegende  Kräfte  nicht 'Wär- 
me oder  Kälte,  sondern  Leidenschaften  und  Neigungen  sind,  diese 
zu  erforschen  wird  jetzt  die  Hauptsache,  und  wenn  dort  allmählich 
die  ganze  Philosophie  der  Physik  untergeordnet  ward,  so  geschieht 
hier  ganz  Aehnliches  hinsichtlich  des  jus  natiirae  et  gentium.  Die 
drei  verschiedenen  Stellungen  der  Weltweisheit  zur  Kirche  und 


II.  Die  Weltweisen.     C.  Rechtsphilosophen      a.  Kirchliche.     §.  252,  l.      585 

zur  christlichen  Religion  sind  bereits  oben  (§.  240)  angegeben; 
auch  das  Naturrecht  und  die  Politik  dieser  Periode  durchläuft  die 
Stadien  des  kirchlich-,  antikirchlich- und  unkirchlich -Seyns.  Nur 
unterscheidet  sich  der  Gang  hier  von  dem,  den  die  Naturphilo- 
sophie ging,  dadurch,  dass  der  Bruch  mit  der  Kirche  und  der 
Hass  gegen  sie,  früher  eintritt  als  dort.  In  der  Entwicklung  der 
Rechtsphilosophie  steht  der,  welcher  in  der  sich  entwickelnden 
Naturphilosophie  dem  Bruvo  (s.  §.  247)  entspricht,  dem  Anfange 
der  Periode  fast  eben  so  nahe,  wie  sein  entsprechendes  Correlat 
ihrem  Ende.  Eine  Folge  davon  ist,  dass  das  Gleichgültig  werden 
gegen  die  Kirche  einen  längeren  Zeitraum  einnimmt  und  eine  grös- 
sere Zahl  von  Zwischenstufen  darbietet.  Wo  die  kirchhch  gesinn- 
ten Naturrechtslehrer  auf  jenen  Bruch  mit  der  Kirche  Rücksicht 
nehmen  und  demselben  entgegentreten,  wird  ihr  Standpunkt  zur 
Reaction ;  wo  er  ihnen  unbekannt  bleibt,  ist  ihre  Kirchlichkeit  un- 
befangen, naiv,  und  selbst  wenn  sie  später  leben,  als  der,  der  mit 
der  Kirche  brach,  werden  sie  vor  ihm  abgehandelt  werden  müssen. 
Ein  solches  Ignoriren  aber  ist  hier  um  so  eher  möghch,  als  die 
Empörung  gegen  die  Kirche  zu  ihrem  Organ  einen  praktischen 
Staatsmann  hat,  dessen  Theorie  nicht  als  solche  vorgetragen  ward, 
sondern  aus  seinen  praktischen,  auf  örtliche  und  Zeit  -  Umstände 
berechneten  Rathschlägen  erst  später  herausgelesen  worden  ist. 

§.  252. 
a.  Die  kirchlichen  Naturrechtslehrer. 
C.  V.  Kaltenbom  die  Vorläufer  des  Hugo  Grotius.     Leipz.  1848. 

1.  Bei  dem  Ansehn,  welches  Thomas  von  Aqvino  in  der  rö- 
mischen Kirche  genoss,  lag  es  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die 
auf  dem  Standpunkte  der  unveränderten  römisch-katholischen  Lehre 
verharrten,  und  die  deswegen  die  alt-katholischen  Rechtsleh- 
rer genannt  werden  können,  die  von  ihm  gelegte  Grundlage  (s. 
§.  203,  8.  9)  nicht  verliessen.  Namentlich  wenn  sie  wie  z.  B.  Do- 
men'icus  de  Solo  (1494 — 1560),  Verfasser  der  libri  decem  de  ju- 
stitia  et  lege  (gedr.  u.  A.  Venet.  1588)  zu  dem  Orden  gehörten, 
den  T/'omas  verherrlicht  hatte.  Nur  muss  nicht  an  eine  blosse 
Wiederholung  gedacht  werden.  Durch  entschiedenere  Berücksich- 
tigung des  kanonischen  Rechts  drängt  sich  bei  diesen  Nachfolgern 
des  Thomas,  viel  mehr  als  bei  ihm  selbst,  eine  und  die  andere 
Bestimmung  des  römischen  Rechts  in  den  Vordergrund.  Mehr 
noch  als  bei  den  Theologen,  welche  wie  Thomas  die  Aristoteli- 
sche Begründung  besonders  festhalten,  geschieht  dies  natürlich  bei 
den  Juristen,  welche  namentüch  (wie  Cicero  und  andere  römische 


586  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Schriftsteller)  das  jus  nainrae  und  gentium  als  Eins  setzen ,  und 
nun  die  Bestimmungen  desselben  mit  dem  kanonischen  Rechte  in 
Einklang  zu  bringen  suchen.  Die  Juristen  Franciscirs  Coimanris, 
Didaevs  Covarrnrius  von  Leyva  (1517  — 1577),  Albertus  Bolog- 
netus  (1539  — 1588),  Verfasser  der  Schrift  de  lege,  jure  et  aequi- 
tate,  können  hier  als  Beispiele  einer  Behandlung  der  Rechtslehre 
angeführt  werden,  bei  der  es  ganz  erklärlich  ist,  dass  sich  Theo- 
logen mit  ihr  befreundeten. 

2.  Zwar  im  Gegensatz  zu  der  römischen,  aber  durchaus  nicht 
zur  katholischen  Kirche  behaupten  die  Protestanten  zu  stehn. 
Bei  der  Stellung  aber,  die  Luther  dem  kanonischen  Rechte  gegen- 
über einnahm,  bei  dem  ausschliesslichen  Betonen  des  Schriftprin- 
cips,  mussten  sich  ihre  Untersuchungen  anders  gestalten,  als  bei 
den  römisch-katholischen  Theologen  und  Canonisten.  Luther  selbst 
hat  es  mehr  bei  gelegentlichen  Aeusserungcn  über  Recht  und  Ge- 
rechtigkeit, über  den  Staat  und  seine  Gewalt  bewenden  lassen. 
Der  mystische  Zug  in  seinem  Wesen  lässt  ihn  oft  diese  Fragen, 
als  den  äusseren  Menschen  betreffend,  in  einer  Weise  behandeln, 
die  es  erklärlich  macht,  dass  der  weltverachtende  Böhme  (s.  §.  234) 
so  "Vieles  ihm  entlehnen  konnte,  und  wieder  lässt  der  tiefe  Re- 
spect  vor  der  von  Gott  eingesetzten  Obrigkeit  ihn  Aeusserungen 
thun,  welche  Staatsvergötterer  mit  Freuden  citirt  haben.  Dies  ist 
einmal  das  liOos  in  sich  reicher  Naturen,  die  nicht  nur  Eines  sind, 
sondern  Viel.  Ganz  anders  als  Luther  steht  Philipp  Melanclithou 
(1407—1560).  Seine  Ethicae  doctrinae  elementa,  zuerst  1538, 
dann  oft  gedruckt,  sind  für  die  Protestanten  auch  in  ihrem  na- 
turrechtlichen Theil  lange  Zeit  von  fast  kanonischem  Ansehn  ge- 
wesen. Der  Hauptunterschied  zwischen  ihm  und  den  römischen 
Katholiken  besteht  darin ,  dass  er  das  jus  nftturate,  diese  Gmnd- 
lage  alles  positiven  Rechts,  ganz  besonders  im  Dekalog  wieder  zu 
entdecken  sucht.  Dies  hindert  ihn  aber  nicht,  die  Aristotelischen 
Untersuchungen  über  die  Gerechtigkeit,  so  wie  die  Begriffsbe- 
stimmungen des  Corpus  juris  gleichfalls  auszubeuten.  Im  Inhalt 
unterscheidet  sich  die  Lehre  Mehiuchthons  von  der  der  Römisch- 
Katholischen  natürlich  dort,  wo  das  Verhältniss  von  Staat  und 
Kirche  zur  Sprache  kommt.  Zwar  nicht  eine  absolute  Trennung, 
wie  Luther  vielleicht  eine  Zeit  lang  gewünscht  hatte,  doch  aber 
eine  strengere  Sonderung  beider  Gebiete,  und  besonders  eine  grös- 
sere Unabhängigkeit  des  Staates  wird  von  ihm  gefordert. 

3.  In  dem  Gleichsetzen  des  jus  naturale  mit  den  Vorschriften 
des  Dekalogs,  so  wie  vielen  anderen  Punkten,  schliesst  sich  selbst- 
geständig an  MeUmchthon  an  Johannes  Oldevdorp ,   der  als  Pro- 


II    Die  Weltweisen.     C.   Rechtsphilosophen,    a.  Kirchliche    §.  252,  4.  5.     587 

fessor  juris  1561  in  Marburg  starb,  und  dessen  sämmtliche  Werke 
in  Basel  1529  in  zwei  Foliobänden  erschienen  sind.  Seine  juris 
naturalis  gentium  et  civilis  elacr/coyt)  war  bereits  früher  Cöln  1589 
erschienen  und  ist  als  der  erste  Versuch  anzusehn,  ein  System 
des  Naturrechts  aufzustellen.  Die  Kenntniss  des  urspilinglichen 
J7(s  naiiirnle,  dessen  Ausdehnung  auf  die  Thiere  an  Ulplan  streng 
zu  tadeln,  ist  durch  den  Sündenfall  verdunkelt,  durch  den  De- 
kalog wieder  erneuert.  Da  die  Griechen  von  den  Hebräern  ihre 
Weisheit  entlehnten,  die  Verfasser  der  zwölf  Tafeln  aber  von  den 
Griechen  gelernt  haben,  so  ist  die  Uebereinstimnmng  des  römi- 
schen Rechts  mit  dem  Dekalog  und  dem  natürlichen  Rechte  er- 
klärlich. 

4.  Der  Däne  Nicohms  Jlemvüny  (1518  — 1600),  ein  langjäh- 
riger persönlicher  Schüler  ISJelavclthoiis  ist  besonders  zu  erwäh- 
nen, weil  er  in  seiner  Schrift  de  lege  naturae  methodus  apodictica 
(1562,  dann  öfter  gedruckt)  für  das  Naturrecht  eine  strenge  Form 
nach  Art  der  philosophischen  Wissenschaften  und  eine  Ableitung 
aus  dem  Principe  des  Rechts  fordert.  Das  von  Gott  in  den  Men- 
schen gesetzte,  durch  das  Gewissen  laut  werdende,  Gesetz  der 
Natur  bezieht  sich  eben  sowol  auf  sein  Denken  als  auf  sein 
Handeln.  Darum  gibt  es  einmal  eine  Dialektik,  andrerseits  eine 
Moralphilosophie.  Hat  man  bei  jener  es  als  nothwendig  erkannt, 
alles  methodisch  abzuleiten,  so  ist  es  inconsequent ,  es  bei  dieser 
nicht  zu  thun.  Es  muss  also  eine  Definition  des  Naturgesetzes 
für  das  Handeln  aufgestellt  werden  (ähnlich  wie  dort  das  Denk- 
gesetz) und  durch  Anakse  alles  darin  Enthaltenen  müssen  die 
Normen  für  alle  Verhältnisse  abgeleitet  werden.  Der  Aristoteli- 
schen Eintheilung  gemäss  wird  ethisches,  ökonomisches  und  poli- 
tisches Leben  unterschieden,  das  erstere  aber  als  rita  spiritvalis 
gefasst  und  über  die  beiden  anderen  gestellt,  wie  denn  auch  in 
dem  Dekalog,  dieser  epitome  legis  naturae.  die  erste  Tafel  die 
vitn  spiritiialis  betreffe,  während  die  Gebote,  welche  das  ökono- 
mische und  politische  Leben,  den  Hausstand  und  die  Erhaltung 
des  Friedens,  betreffen,  sich  auf  der  zweiten  Tafel  finden.  Die  Ver- 
bindlichkeit aller  jener  Bestimmungen  lasse  sich  übrigens,  ohne 
Berufung  auf  die  Offenbarung,  aus  der  Vernunft  ableiten. 

5.  Was  Hemmivg  gefordert  hatte,  das  sucht  Bcnedlrt  Wivk- 
Icr  (Professor  der  Rechte  in  Leipzig,  starb  als  Syndicus  von  Lübek 
im  J.  1648)  auch  zu  leisten.  Seine  Principiorum  juris  libri  quin- 
que  erschienen  in  Leipzig  1615,  und  sind  wirklich  ein  methodisch 
gedachtes  Buch.  Vor  Allem  warnt  er  vor  einer  Verwechslung  von 
lex  xmdjvs.  die  sich  wie  consl'dvens  und  covstitvtum  oder  Ursache 


588  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

und  Wirkung  verhalten.  Zuerst  betrachtet  er  die  lex  nnturne, 
dann  das  jus  natvrae.  Wie  von  Allem,  so  ist  ihm  auch  vom  na- 
türlichen Rechte  Gott  der  aller  erste  Grund.  Indem  aber  das 
Recht  vermittelst  der  menschlichen  Freiheit  und  des  Willens  ent- 
steht, ist  Gott  nur  entfernte  Ursache  desselben,  und  so  lange  Gott 
die  menschliche  Freiheit,  die  cunsd  pro.rhnn  des  Rechts  bestehn 
lässt,  kann  Gott  selbst  es  nicht  ändern.  Hinsichtlich  des  Rechts 
muss  aber  unterschieden  werden  zwischen  dem  jus  iwivrae  privs, 
dem  Rechte,  wie  es  in  dem  idealen  Zustande  des  Menschen  wäre, 
wo  es  in  der  Liebe  seinen  Grund  hat,  und  dem  jvs  nahirne  poste- 
rius s.  jus  gentium,  d.  h.  dem  Recht,  welches  aus  der  Natur  des 
gegenwärtigen  Menschen  folgt,  eben  darum  aber  auch  bei  allen 
Völkern  der  Gegenwart  gilt.  Dieses  hat  zu  seiner  Quelle  die  pru- 
deiitid  und  verhält  sich  zu  jenem,  wie  zum  Verkehr  mit  Freun- 
den der  mit  Nichtfreunden.  Zu  diesen  beiden  kommt  dann  als 
Ergänzung  hinzu  das  durch  die  lex  civilis  bestimmte  Recht,  das 
also  einen  positiven  Charakter  hat,  während  das  nattirliche  Recht 
als  Folge  der,  den  Menschen  vom  Thiere  unterscheidenden  rciHo 
einen  rationalen  hat.  Dem  jus  jwturac  prius  ist  das  dritte,  dem 
jus  vnturae  posterius  das  vierte,  dem  jus  cimle  das  fünfte  Buch 
des  Werks  gewidmet,  in  welchem  stets  mit  Nachdruck  hervorge- 
hoben wird,  dass  für  den  Rechtslehrer  das  Wohl  des  Einzelnen 
nur  untergeordnetes,  das  des  Staats  das  höchste  Interesse  habe. 
Im  dritten  sowol  als  im  vierten  Buche  wird  gezeigt,  dass  sich  die 
aus  der  Vernunft  abgeleiteten  rechtlichen  Bestimmungen,  im  Deka- 
log finden,  der  deshalb  auch  als  der  InbegTitf  (iudex)  des  natür- 
lichen Rechts  bezeichnet  wird. 

6.  Wenn  der  Standpunkt  der  Jesuiten  von  dem  des  altrö- 
mischen als  neukatholischer  unterschieden  wird,  so  stimmt 
dies  mit  der  Aufgabe,  die  dieser  Orden  stets  als  die  seinige  an- 
erkannt hat:  gegen  den  Protestantismus  zu  reagiren.  Jedes  Reac- 
tionssystem  ist  verghchen  mit  dem  Standpunkt  der  guten  alten 
Zeit  eine  Neuerung.  Dass  aber  der  Jesuitismus  durch  seine  eigen- 
thümliche  Ausprägung  der  Lehre  vom  freien  Willen  wirklich  dog- 
matische Neuerungen  eingeführt,  und  nur  durch  das  Betonen  der 
päpstlichen  Gewalt  sich  vor  kirchlichen  Censuren  sicher  gestellt 
hat,  möchte  selbst  der  rechtgläubigste  römische  Katholik,  voraus- 
gesetzt natürlich,  dass  er  nicht  selbst  zum  Orden  gehört,  einge- 
stehn.  Alles  drei  aber,  die  Reaction  gegen  den  Protestantismus, 
die  zum  Pelagianismus  hinneigende  Lehre  vom  freien  Willen,  end- 
lich der  Eifer  im  Vertheidigen  der  päpstlichen  Gewalt,  ist  ein  we- 
sentliches Moment  geworden  in  der  jesuitischen  Ansicht  vom  Recht 


II.  Die  Weltweisen.     C.  Eechtsphilosophen.    b.  Widerkirchliche.    §.  253,   1.    589 

und  namentlich  vom  Staat.  Wenn  die  protestantischen  Xaturrechts- 
lehrer  stets  betonen,  dass  der  Staat  eine  göttliche  Ordnung,  wenn 
sie  den  Unterthan  dem  Monarchen  gegenüber  so  gern  in  die  Stel- 
lung setzen,  in  dem  das  Kind  dem,  nicht  selbst  gewählten  Vater 
gegenüber  steht,  wenn  sie  endhch  an  der  unantastbaren  Majestät 
des  Staatsoberhauptes  festhalten,  so  treten  dem  die  jesuitischen 
Staatsrechtslehrer  auf  das  Entschiedenste  entgegen.  Im  Interesse 
der  Kirche  wird  von  ihnen  der  menschliche  Ursprung  des  Staats 
durch  einen  ursprünglichen  Gesellschaftsvertrag  behauptet,  und 
daraus  gefolgert,  dass  wo  der  Fürst  sich  der  ihm  übertragenen 
Macht  unwürdig  zeige,  das  ihm  ertheilte  Mandat  zurückgenommen 
werden  dürfe.  Nur  das  Haupt  der  Kirche,  die  von  oben  her  ent- 
stand, ist  unabsetzbar.  Diese  Grundsätze,  die  schon  der  zweite 
Ordensgeneral  Laijnez  während  des  Tridentiner  Concils  öffentlich 
aussprach,  sind  dann  weiter  geltend  gemacht  worden  von  Ferdi- 
nand Vusfjuez  (1509  —  1566),  LndoiUus  Molinii  (1535  — 1600), 
schärfer  von  Bellar min  {1542  —  1621),  am  Schroffsten  von  Ma- 
riana (1537  —  1624).  Bei  Fr.  Snarez  (1548  —  1617)  und  Leo7ift. 
Less  (1554 — 1623)  treten  sie  etwas  gemildert  hervor,  aber  doch 
nicht  so  sehr,  dass  man  deshalb,  wie  Werner  in  seiner  Schrift 
über  Suarez  (Regeusb.  1861),  behaupten  darf,  dass  ihnen,  noch 
viel  weniger,  dass  überhaupt  den  Jesuiten  die  Theorie  vom  Ge- 
sellschaftsvertrage  fremd  sey.  Uebrigens  liegt  es  in  der  Natur 
der  Sache,  dass  die  genannten  Männer  sich  besonders  mit  dem 
kanonischen  und  dem  Staats-Rechte  beschäftigen,  dagegen  das  Ci- 
vil- und  namentlich  das  Privatrecht  mehr  vernachlässigen.  Dass 
mit  ihren  Lehren  Campanel/a  (s.  §.  246,  5)  nicht  unzufrieden  seyn 
konnte,  ist  begreiflich. 

§.  253. 

b.    Die  widerkirchliche  Politik. 

Th.   Muiidt  Nicolo    Machiavelli    uud    das  Princip    der  raoderneu  Politik.      Dritte 
Ausgabe  Berlin   18C1. 

1.  Bei  allem  Unterschiede  zwischen  der  Behandlung  des  na- 
türlichen Rechtes  vom  (alt)katholischen ,  reformatorischen  und  an- 
tireformatorischen  (neukatholischen)  Standpunkte  aus ,  sind  sie  doch 
darin  einverstanden,  dass  die  beiden  Schwerter,  möge  nun  ein, 
mögen  zwei  Männer  sie  führen,  nur  zu  Christi  Ehre  gebraucht 
werden  müssen.  Noch  mehr,  dass  das  Schwert  der  geistlichen 
Gewalt  dem  welthcheu  Schwert  vorgehe,  die  höchste  Pflicht  des 
Staates  die  sey,  die  Kirche  zu  schützen,  das  gestehen  am  Ende 
auch  die  Protestanten  ein,  bei  denen  Wlnkler ,  der  doch  oifenbar 


590  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergaug). 

der  Vernunft  des  Menschen  mehr  als  Alle  bisher  einräumt,  nicht 
müde  wird,  die  Jurisprudenz  thcologiae  famula  zu  nennen,  und 
wo  die  Consistorien  und  theologischen  Facul täten  es  völlig  in  der 
Ordnung  finden,  wenn  der  Fürst  sie  befragt,  ob  er  Krieg  anfan- 
gen dürfe.  Ist  zwar,  dass  überhaupt  so  viel  über  den  Staat  nach- 
gedacht wird,  ein  Beweis,  dass  er  viel  höher  in  Achtung  steht, 
als  in  der  Zeit  der  Scholastik ,  so  nähert  sich  doch ,  was  über  ihn 
gesagt  wird,  in  so  Vielem  den  frülieren  Ansichten,  dass  es  be- 
greiflich ist,  unter  den  jesuitischen  Ilechtslehreru  auch  Solche  zu 
finden,  die  sich  um  das  Wiederbeleben  der  absterbenden  Schola- 
stik am  Meisten  gemüht  haben.  Und  doch  kann  es  bei  der  An- 
sicht, dass  der  Papst  die  Länder  vertheile,  nicht  bleiben.  Gerade 
wo  mächtig  in  die  Welthändel  eingreifende  Päpste  die  Tiara  tra- 
gen ,  niuss  es  dem  Näherstehenden  klar  werden ,  dass  ihre  Erfolge 
nicht  mit  dem  Schlüssel  Petri  erreicht  wurden,  sondern  mit  dem 
Schwerte  und  durch  Bundesgenossen,  d.  h.  dass  sie  den  Geboten 
der  Staatskunst  gehorchen,  nicht  befehlen.  Nahe  aber  musste  mau 
dem  Getriebe  der  röunschen  Curie  stehn.  Darum  ist  es  begreif- 
lich, dass  in  Italien  zuerst  der  Versuch  gemacht  werden  konnte, 
nicht,  wie  bisher,  im  Gehorsam  gegen  die  Kirche,  sondern  in  der 
Empörung  gegen  sie,  das  Heil  des  Staates  zu  sehn,  anstatt  des 
über  die  Natur ,  und  darum  auch  über  die  Nationalitäten ,  hinaus- 
gehenden Christenthums ,  vielmehr  das  Princip  der  Nationahtät  zur 
entscheidenden  Norm  zu  machen. 

2.  Nicolo  Machiavelli,  am  3.  Mai  1469  in  Florenz  geboren, 
war  schon  in  seinem  29''"  Jahr  Secretair  der  Regierung  seiner 
Vaterstadt,  was  er  auch  nach  der  Vertreibung  der  Medici  blieb. 
Diplomatische  Reisen  nach  Frankreich  und  Deutschland  entfernten 
ihn  oft  für  längere  Zeit  von  Florenz.  Die  Rückkehr  der  Medici  im 
J.  1512  beraubte  ihn  seiner  Stellen,  brachte  ihn  auf  die  Folter  und 
ins  Gefäiigniss  und  endlich  dahin,  von  allen  Staatsgeschäfteu  entfernt 
in  kümmerhchen  Verhältnissen  auf  dem  Lande  zu  leben.  Hier  ent- 
standen seine  Discorsi  über  den  Limas  und  seine  Denkschrift  del 
Principe,  letztere  in  der  offen  ausgesprocheneu  Absicht,  sich  mit  den 
Medici  zu  versöhnen.  Erst  nach  dem  Tode  Lorenz'  con  Medici 
(1519)  hat  er  sich  wieder  längere  Zeit  in  Florenz  aufgehalten;  im 
Verkehr  mit  dem  Kreise,  der  sich  damals  in  den  Gärten  Rucellai 
versammelte,  wurden  die  Discorsi  geendigt,  sein  Buch  über  die 
Kriegskunst  so  wie  sein  für  Leo  X  bestimmtes  Memoire  über  die 
Reformen  der  Florentinischen  Verfassung  geschrieben.  Das  Ein- 
zige, was  er  von  den  Mediceern  erreichte,  war,  dass  die  Verschwö- 
rung der  Alamauni  nicht  auch  an  ihm  gestraft  wurde  und  dass 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtsphilosophen,  h.  Widerkirchliche.  §.  253,  2.  3.    591 

der  Cardinal  Julius  ihm  den  Auftrag  gab,  die  Florentinische  Ge- 
schichte zu  schreiben,  später  (als  Papst  Clemens  VII ),  seine  Va- 
terstadt zu  befestigen.  Als  in  Folge  der  Einnahme  Roms  durch 
die  kaiserlichen  Truppen  das  Volk  die  Medici  abermals  vertrieb, 
musste  MadilarelH  für  den  mit  ihnen  gemachten  Frieden  büssen. 
Jede  Wirksamkeit  im  Staat  ward  ihm  genommen  und  er  starb 
missvergnügt  am  22.  Jul.  1527.  Von  den  Gesammtausgaben  sei- 
ner Werke  ist  die  in  Quarto  vom  Jahre  1550  (ohne  Druckort)  die 
erste. 

3.  Man  hat  es  ein  unauflösliches  Räthsel  genannt,  dass,  wäh- 
rend MucliuirdU's  Discorsi  überall ,  namentlich  in  seiner  Beurthei- 
lung  Cäsars,  den  für  die  Republik  begeisterten  Mann  verrathen, 
er  doch  in  derselben  Zeit,  wo  jene,  seinen  Principe  schreiben  und 
darin  die  Mittel  angeben  konnte,  wie,  mit  oder  ohne  Beobachtung 
republikanischer  Formen,  eine  Gewaltherrschaft  gegründet  und  be- 
hauptet werden  könne.  Des  Räthsels  Lösung  ist,  dass  ein  ein- 
ziger Wunsch  ihn  beseelt:  Itahen  als  einen  Einheitsstaat  gleich 
Frankreich  oder  Spanien  zu  sehn,  dass  er  als  die  Aufgabe  des 
Politikers  ansieht,  die  Erfüllung  seiner  Wünsche  nicht  zu  träumen, 
sondern  als  erreichbar  darzustellen,  und  dass  der  zum  Diploma- 
ten geborne  und  erzogene  Mann  den  Muth  hatte  sich  selbst  und 
aller  Welt  zu  gestehn,  was  bis  jetzt  die  Diplomaten  aller  Zeiten 
nur  in  ihrem  Handeln  verratheu,  dass  der  Erfolg  die  Mittel  hei- 
lige. Obgeich  von  den  fünf  Staaten,  die  damals  in  Italien  in 
Rechnung  kamen,  MucJdiivelit  Venedig  am  Meisten  bewundert, 
so  kann  doch  der  Florentiner  den  Wunsch  nicht  aufgeben,  dass 
von  der  eignen  Stadt  die  Einigung  Italiens  ausgehe.  Florenz  zu- 
erst in  sich  stark,  dann  zum  Haupt  Italiens  zu  machen,  das  ist 
wonach  er  strebt.  Wäre  nun  das  italiänische  Volk  so  gesund, 
wie  es  das  römische  nach  Vertreibung  der  Könige  und  vor  Cäsar 
war,  oder  zeigte  es  so  viel  Gewissenhaftigkeit  wie  das  deutsche, 
an  welchem  MiicIihneUi  u.  A.  bewundert  (Discors.  I,  c.  55),  dass 
in  seinen  freien  Städten  die  —  (heut  zu  Tage  nur  in  Bremen  fort- 
dauernde) —  uncontrollirte  Selbstbesteuerung  auf  Bürgereid  mög- 
hch  sey,  so  wäre  ein  einiges  Italien  als  Republik  möglich.  Jetzt 
ist  dies  eine  Unmöglichkeit,  denn  unter  allen  Völkern  sind  die 
romanischen,  unter  diesen  aber  ist  das  italiänische,  am  Meisten 
verdorben.  Als  einzige  Hoffnung  bleibt  daher,  das^s  in  Florenz 
ein  Mann  (Lorenz  von  Medici)  sich  der  absoluten  Selbstherrschaft 
bemächtige.  Durch  welche  Mittel  dies  geschehen  kann,  das  ist  in 
dem  Principe  auseinandergesetzt  und  dabei  oft  C(l.s<tr  Borgia.  we- 
gen seiner  Rücksichtslosigkeit  im  Verfolgen  seiner  Zwecke,   zum 


592  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Muster  genommen.  Ist  erst  Florenz  zu  einer  Militärmonarchie  ge- 
worden, wobei  sichs  empfiehlt,  republikanische  Formen,  z.B.  das 
so  leicht  zu  lenkende  allgemeine  Stimmrecht,  beizubehalten,  so 
sind  die  Mittel  zur  allmähhchen  Vergrösserung  und  Annäherung 
an  den  letzten  Zweck  gegeben.  Ausbildung  der  Militärmacht  ist 
dabei  die  Hauptsache,  und  sind  dabei  besonders  die  Römer  zu  Mu- 
stern zu  nehmen.  Es  handelt  sich  nämlich  darum,  an  die  Stelle  des 
Söldnerheers  ein  Volksheer  zu  setzen,  andrerseits  aber  den  Bür- 
ger dahin  zu  bringen,  dass,  wenn  er  ausgedient  hat,  er  eben  nur  ein 
ruhiger  Bürger  sey.  Die  Verpflichtung  Aller,  für  einige  Jahre  als 
Soldat  zu  dienen,  scheint  das  beste  Mittel  zu  seyn.  Dass  bei  der 
Verdorbenheit  xVller  das  Werk  nicht  mit  reinen  Händen  ausgeführt 
werden  kann,  gesteht  Mach'uweUi  ein.  Der  Schein  des  Guten 
ist  bei  dem  Staatsmann  mehr  als  das  Gutseyn  selbst.  Nur  vor 
den  Verbrechen  hat  sich  der  Gewalthaber  unbedingt  zu  hüten, 
welche,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  überall  die  Gemüther  erbittern: 
vor  Eingriffen  in  das  Privateigeuthum  und  die  Farailienehre.  Hü- 
tet er  sich  vor  diesen ,  vergisst  er  nie,  dass  alle  Menschen  schlecht, 
die  allermeisten  dabei  auch  noch  dumm  sind,  und  handelt  dem- 
geraäss ,  so  wird  er.  sich  erhalten ,  sonst  nicht.  Die  Geschichten 
Roms,  Florenz',  Venedigs  werden  vor  Allem  angezogen,  um  die 
Richtigkeit  dieser  Weisungen  zu  belegen. 

4.  Wie  Mac/fiavc/li  Alles  entschuldigt,  was  dem  von  ihm 
gewünschten  Ziele  näher  führt,  so  muss  er  natürlich  Alles  ver- 
werfen, was  seine  Erreichung  verhindert.  Darum  vor  Allem  die 
römisch-katholische  Kirche,  dieses  eigentliche  Hinderniss  der 
Einheit  Italiens  (Disc.  I,  c.  12).  Die  beiden  einzigen  Weisen,  in 
der  die  Kirche  diese  Einheit  nicht  hindern  würde,  wären:  Ent- 
weder die  weltliche  Herrschaft  des  Papstes  erstreckt  sich  über 
ganz  Italien,  oder:  sie  hört  ganz  auf.  Das  letzte  Mittel  führt, 
wie  das  Beispiel  Dantes  zeigt,  zu  einem  ausländischen  Schutz- 
herrn. Das  erstere  (welches  im  Gegensatz  zu  Dante  und  Ma- 
chlaoelli  später  Campanella  vorschlägt)  erscheint  dem  Machia- 
tielli  als  platter  Unsinn,  so  verharrt  er  also  in  der  ganz  negati- 
ven Stellung  gegen  die  Kirche.  Fort  mit  ihr!  Seine  Politik  ist 
ganz  antikirchlich.  Darum  bestreitet  er,  dass  der  Staat  die  An- 
stalt sey,  welche  die  Sicherheit  gibt,  dass  der  Zweck  der  Kirche, 
die  Seligkeit,  ungestört  angestrebt  werden  könne;  ihm  ist  der 
Staat  Selbstzweck,  sich  zu  erhalten  und  zu  vergrössern  ist  seine 
alleinige  Aufgabe.  Was  die  Handlungsweise  des  MachuweHi  zeigt, 
behauptet  auch  seine  Theorie :  Wirksamkeit  im  Staat  ist  die  höch- 
ste Aufgabe  des  Menschen.    Daher  auf  der  einen  Seite  seine  Be- 


n.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtspliilosoplien.    c.  Kirchl.  indifTereute.    §.  254,  1.    59o 

geisteruiig  für  den  antiken  Staat  und  seine  Annäherung  andrer- 
seits an  den  modernen  Staatsbegriff.  Ist  er  doch  eigentlich  der 
Erste  gewesen,  bei  dem  //  stato  nicht,  wie  bisher,  den  Zustand 
eines  bestimmten  Volks,  sondern  das  Abstractum  Staat  bezeich- 
net. Ganz  wie  Giordano  Bnmo  durch  seine  feindselige  Stellung 
zur  römisch-katholischen  Kirche  dazu  kam,  zwar  nicht  der  Religion, 
wohl  aber  der  Christlichen,  den  Rücken  zuzukehren,  ganz  so 
MuchhirelU.  Irreligiös  ist  seine  Staatslehre  nicht;  man  braucht 
nur  das  11^''  Capitel  im  ersten  Buch  seiner  Discorsi  zu  lesen,  seine 
Vergleichung  der  Verdienste  des  Romnlus  und  Ninmi ,  um  zu  sehn, 
dass  es  ihm  Ernst  ist,  wenn  er  so  oft  die  Religion  das  Funda- 
ment der  Staaten  nennt.  Aber  er  spricht  es  ohne  Scheu  aus 
(üisc,  II,  2),  dass  die  Religion  der  Römer  dem  Staatsleben  för- 
derlicher war  als  die  christliche,  weil  jene  Mannhaftigkeit  und 
Liebe  zum  Vaterlande,  diese  Ergebung  und  Sehnsucht  nach  dem 
Jenseits  lehrt.  Doch  möge  das  ursprüngliche  Christenthum  besser 
gewesen  seyn,  als  das  gegenwärtige,  bei  dem  es  so  weit  gekom- 
men sey,  dass  je  näher  eine  Gegend  dem  Sitze  des  Papstes  hege, 
um  so  weniger  Rehgion  in  ihr  zu  finden  sey.  Als  römisch-katho- 
lisches ist  ihm  das  Christenthum  der  Gegensatz  zur  wahren  Reli- 
gion, ein  anderes  aber  kennt  er  nicht,  Ist  nun  aber  das  Christen- 
thum der  eigentliche  Träger  aller  ideellen  Interessen,  so  bringt 
seine  widerkirchliche  und  antichristliche  Tendenz  den  Machiavelli 
dazu,  auf  alles  Ideale  in  seiner  Politik  zu  verzichten.  Er  gibt 
eine  Theorie  des  Staates ,  die  ausser  Erhaltung  und  Vergrösserung 
der  materiellen  Macht,  worin  das  Wohl  des  Staates  besteht,  nichts 
Höheres  kennt.  Ja  selbst  die  Liebe  zur  Freiheit  gründet  sich 
nach  ihm  darauf,  dass  dieselbe  mehr  Macht  und  Reichthum  gibt 
(Disc.  II,  2). 

§.  254. 

0.    Die  kirchlich  indifferenten  Politikei'. 
Bodin.      Grentilis.      Grotius. 
1.  Ueber  das  unfreie  Unterordnen  des  Staates  unter  die  Zwecke 
der  Kirche  durch  die  Theologen,  über  den  nicht  minder  unfreien 
Hass  des  Staatsmannes  gegen  die  Kirche,  gehen  die  hinaus,  wel- 
che in  ihren  politischen  und  rechtsphilosophischen  Untersuchungen 
die  Rechte  der  Kirche  gar  nicht  antasten,  aber  sie  dahin  gestellt 
seyn  lassen  und  nur  fordern,  dass  der  Staat  nicht  in  seinem  Thun 
gehindert   werde.     Noch   sehr  bescheiden  sind  in  dieser  Hinsicht 
die  Forderungen  zweier  Männer,  die  ihre  Arbeiten  gegenseitig  mit 
•Achtung  erwähnen,  und  deren  Uebereinstimmung  wohl  noch  grös- 

Erdiuaan,  Gesch.  d.  Tliil.  1  iJK 


594  Mittelalterliche  Philosoi)hie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

ser  wäre,  wenn  nicht  der  Eine  durch  Geburt  und  mit  seinem  gan- 
zen Herzen  dem  katholischen  Frankreich  angehörte,  der  Andere 
durch  freie  Wahl  sich  zu  einem  Gliede  des  englischen  Staats  und 
der  englischen  Landeskirche  gemacht  hätte.  Jean  Bodin  und  Al- 
hericvs  GentUis  zeigen  und  bahnen  den  Weg  einem  Dritten,  des- 
sen Ruhm  den  ihrigen  so  weit  überragt,  dass  sie  heut  zu  Tage 
höchstens  als  seine  Vorläufer  pflegen  genannt  zu  werden.  Dieser, 
nicht  immer  dankbare,  Erbe  Beider,  Hugo  GroCuis,  den  eine  be- 
deutende Stellung  in  einer  Republik,  dann  die  eines,  von  einem 
der  grössten  Staatsmänner^  an  den  grösstcn  seiner  Zeit  geschick- 
ten Gesandten  zu  vielseitiger,  seine  Stellung  innerhalb  der  eignen 
Confession  zu  (;iiier  freisinnigen  Ansicht  des  staathchen  Lebens 
bringen  konnte,  macht  einen  Fortschritt,  der  es,  wenn  auch  nicht 
rechtfertigt,  so  doch  erklärt,  dass  er  als  der  Vater  des  Natur- 
rechts bezeichnet  wird. 

2.  Jcdu  Bofliit ,  1530  in  Angers  geboren,  1597  gestorben, 
nachdem  er  zuerst  als  Lehrer  des  Rechts  in  Toulouse,  dann  als 
Advocat  in  Paris,  endlich  als  königücher  Beamter  in  Laon  ge- 
lebt hatte,  kommt  hier  besonders  in  Betracht  durch  seine  1577 
herausgegebenen  Six  livres  de  la  republique,  die  er  im  J.  1586  in 
lateinischer  Bearbeitung  herausgab,  weil  die  in  England  heraus- 
gekommene Uebersetzung  zu  fehlerhaft  war,  und  die  er  im  J.  1581 
in  einer  anonym  herausgegebenen  Schrift  vertheidigt  hat.  Erst 
in  neuerer  Zeit  ist  sein  Colloquium  heptaplomeres  vollständig  her- 
ausgegeben (von  Noac/,  1857),  in  welchem  eine  Disputation  unter 
sieben  Religionsparteien  zur  Toleranz  mahnen  soll.  Gleich  im  Be- 
ginnen seines  Werks  erklärt  sich  Bo<J'ui  sehr  entschieden  gegen 
alle  utopistischen  Darstellungen  des  Staates  und  fordert  das  stete 
Zurückgehn  auf  die  Geschichte.  Er  selbst  kommt  dieser  Forde- 
rung so  nach ,  dass  er  jede  Behauptung  durch  historische  Citate 
unterstützt,  die  dem  Verfasser  der  L5G6  in  Paris  erschienenen, 
von  Montaigne  gelobten,  Methodus  ad  facilem  historiarum  cogni- 
tionem  sehr  geläufig  waren.  Vor  Allem  die  Geschichte  Roms, 
aber  auch  die  Frankreichs,  der  Schweiz  und  Venedigs  dient  ihm 
dabei.  Mit  demselben  Nachdruck  aber  fordert  er,  dass  der  Rechts- 
begriff festgehalten,  namentüch  aber,  dass  exacte  Definitionen  von 
Allem  aufgestellt  werden.  Er  will  damit  eben  sowol  gegen  die  Ver- 
theidigung  des  Hergebrachten  als  solchen,  wie  gegen  das  unklare 
Räsonnement  die  Rechts-  und  Staatslehre  sicher  stellen.  Seine  De- 
finition vom  Staat  bestimmt  denselben  als  eine  durch  Autorität 
und  Vernunft  geregelte  Gemeinschaft  von  Familien.  (So  im  Er- 
sten Buch  p.  1  —  173  der  lateinischen  Bearbeitung.)    Als  erster, 


n.  Die  Weltweisen.   C.  Rechtsijhilosopheu.    c  Kirchl.  indifferente.  §.  254.  2.     595 

Bestancltheil  des  Staats  wird  zuerst  die  Familie  betrachtet.  Der 
Familienvater,  der  als  solcher  imbediugter  Herr  ist,  verliert  im 
Ziisammeutreffen  mit  anderen  durch  die  sich  hier  zeigende  unter- 
drückende Gewalt  einen  Theil  seiner  Freiheit  und  wird  dadurch 
zum  Bürger,  d.  h.  einem  unterworfenen  Freien.  Als  Hauptmangel 
der  bisherigen  Staatslehren  wird  getadelt,  dass  der  Begriff  der 
Majestät,  d.h.  der  dauernden,  durch  Gesetze  nicht  gebundenen, 
Macht  nirgends  richtig  bestimmt  noch  gehörig  betont  worden  sey. 
In  der  Monarchie  kommt  die  Majestät  dem  Fürsten  zu,  dessen 
Macht  darum  absolut  ist.  Umgekehrt,  da  die  Macht  des  Kaisers 
beschränkt,  so  ist  er  kein  Monarch  und  das  deutsche  Ptcich  ist 
eine  Aristokratie.  Alle  Majestätsrechte,  deren  Untersuchung  na- 
türlich die  wichtigste  ist ,  werden  auf  das  eine  Recht  reducirt,  al- 
lein Gesetze  zu  gel)en  und  von  Keinem  empfangen  zu  dürfen,  aus 
welchem  sich  die  übrigen,  wie  Begnadigungsrecht  u.  s.  w.  von 
selbst  ergeben.  Dabei  wird  stets  die  Untheilbarkeit  der  Majestäts- 
rechte ausdrückhch  behauptet.  Im  zweiten  Buch  e  (p.  174 — 2'd6) 
wird  durchgeführt,  dass,  je  nachdem  die  Majestät  bei  Einem,  Vie- 
len oder  Allen,  der  Staat  Monarchie,  Aristokratie  oder  Demokra- 
tie ist.  Durch  das  ganze  Buch  geht  Polemik  gegen  Aristoteles 
hindurch,  dem  namentlich  ein  Vorwurf  gemacht  wird,  dass  er  aus- 
ser jenen  dreien  noch  gemischte  Verfassungen  als  gesunde  an- 
führe, wozu  ihn,  wie  viele  Andere,  die  Verwechslung  z^\ischen 
Status  und  gubernundi  ratio  gebracht  habe;  bei  monarchischer 
Verfassung  kann  republikanisch  regiert  werden;  nicht  dies  macht 
den  Unterschied  zwischen  König  und  Tyrannen,  dass  jener  weni- 
ger selbstständig  wäre ,  sondern  dass  er  sich  dem  Gesetz  der  Na- 
tur und  Gottes  unterwirft,  der  Tyrann  nicht.  —  Das  dritte  Buch 
(p.  237  —  365)  betrachtet  die  verschiedenen  Aemter  im  Staat ,  und 
zwar  zuerst  den  (nur  berathenden)  Senat,  dann  dic-vorübergehend 
mit  einer  Commission  betrauten,  endlich  die  permanenten  Ftegie- 
rungsbeamten.  Wiederholt  wird  diesen  das  Recht  abgesprochen, 
die  Rechtmässigkeit  der  Gesetze  zu  prüfen ;  Vorstellungen  zu  ma- 
chen ist  ihnen  erlaubt.  Nur  bei  ganz  unzweifelhaftem  Widerspruch 
gegen  Gottes  Gebot  kann  man  dem  vom  Herrscher  Befohlenen 
ungehorsam  seyn;  ßodin  warnt  aber  davor,  subjective  Ansicht  für 
Ueberzeugung  zu  halten.  Stände -Vereine  und  Corporationen  sind 
für  den  Staat  nothwendig,  obgleich  sie,  namentUch  wo  heimliche 
Zusammenkünfte  erlaubt,  gefährlich  werden  können.  Die  Rang- 
ordnung der  Stände  führt  Bodin  auf  die  Sklaverei,  deren  Ver- 
schwinden er  für  wünschenswerth  hält,  ohne  sie  selbst  für  abso- 
lut unvernünftig  zu  erklären.     Im  vierten  Buche  (p.  365 — 490) 

38* 


596  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

werden  die  Umwandlungen  der  Staatsform  und  ihr  Untergang  be- 
trachtet. Diesen  verzögert  am  Sichersten  Vorsicht  und  Langsam- 
keit bei  Veränderung  der  Gesetze.  Die  Beantwortung  der  Fragen, 
ob  lebenslängliche,  ob  jährlich  wechselnde,  oder  ob  auf  Widerruf 
übertragene  Staats  -  Aemter  vorzuziehn,  ob  der  Monarch  überall 
persönlich  hervortreten,  wie  er  und  wie  Private  sich  bei  Parteiun- 
gen  zu  benehmen  haben,  zeigen  überall  den  durch  Erfahrungen 
gewitzigten  Praktiker,  der,  je  weniger  er  hofift,  dass  überall  die 
Tugend  auf  dem  Throne  sitzt,  um  so  mehr  nach  Mitteln  sucht, 
welche  diesen  unter  allen  Bedingungen  sicher  stellen.  Interessant 
sind  seine  Aeusserungen  über  religiöse  Secten.  Es  ist  ein  ent- 
schiedener Irrthum ,  dass  der  Staat  ohne  Religion  bestehen  könne, 
den  Atheismus  darf  er  daher  nicht  dulden,  eben  so  wenig  die 
Zauberei,  welche  völHge  Gottlosigkeit  ist,  und  gegen  welche  Bo- 
diii  theoretisch  (Demouomanie  des  sorciers  Paris  1578)  und  prak- 
tisch sich  sehr  streng  erwiesen  hat.  Anders  ist  es  mit  der  Ver- 
schiedenheit der  Religionen,  hier  soll  der  Staat  um  so  weniger 
exclusiv  seyn,  als  er  aus  ihr  Vortheil  ziehn  kann.  Wünschens- 
werth  ist,  dass  nicht  nur  zwei  Confessionen  den  Staat  spalten, 
sondern  dass  eine  grössere  Zahl  möglich  mache,  sie  gegenseitig 
in  Schach  zu  halten.  Das  fünfte  Buch  (p.  491  — G20)  betrachtet, 
was  bisher  Alle  vernachlässigt  haben  sollen,  die  natürlichen  Unter- 
schiede der  Völker,  aus  welchen  sich  nothwendig  Verschiedenheit 
der  Staatsformen  und  Gesetze  ergeben.  Nicht  nur,  dass  es  ein 
Naturgesetz,  dass  die  südlichen  Völker  der  Religion,  die  nörd- 
lichen der  Gewalt,  die  mittleren  der  Klugheit  und  Gerechtigkeit 
die  höchste  Stelle  einräumen,  sondern  innerhalb  desselben  Klima's 
ist  es  ein  Naturgesetz,  dass  die  Bergvölker  die  Freiheit  mehr  He- 
ben u.  s.  w.  Diesen  Unterschied  muss  man  auch  bei  der  Frage 
berücksichtigen,  ob  ein  Staat  stets  militärisch  gerüstet  seyn  müsse. 
Was  hinsichtlich  einer  Republik  richtig ,  kann  falsch  seyn  für  eine 
Monarchie ;  was  für  ein  kleines  Bergland  nothwendig ,  für  ein  gros- 
ses ebnes  Land  unnütz.  Betrachtungen  über  Verträge  und  ihre 
Garantie  schliessen  das  Buch,  —  Das  sechste  Buch  (p.  621— 779) 
beginnt  mit  volkswirthschaftlichen  Untersuchungen,  wobei,  wie  schon 
früher  in  einer  eignen  Schrift  (Discours  sur  le  rehaussement  et  la 
diminution  de  la  monnaie)  Bod'm  seine  gründliche  Bekanntschaft 
mit  dem  Münzwesen  beweist.  Dann  wird  zu  einer  Vcrgleichung 
der  Staatsformen  übergegangen  und  die  Erbmonarchie  als  die  beste 
bestimmt,  selbst  was  die  Ausartung  betrifft,  denn  die  Tyrannei 
Eines  sei  weit  der  der  Masse  vorzuziehn.  Das  Schlusscapitel 
preisst  den  monarchischen  Staat  als  die  Erscheinung  der  wahren 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtsphilosophen.    c.  Kirchl.  indifferente.    §.  254, '2.  3.    59  < 

Gerechtigkeit,  deren  mathematisclie  Foniiel  über  den  einseitigen 
Formen  des  arithmetischen  und  geometrischen  Verhältnisses  hinaus 
liege,  und  die  er  als  das  harmonische  Verhältniss  bezeichnet.  Er 
wirft  dem  Plaio  und  Arisfoleles  vor,  sie  hätten  seine  Bedeutung 
nicht,  darum  aber  auch  nicht  erkannt,  wie  hoch  über  der  Aristo- 
kratie die  Monarchie  stehe,  dieses  schönste  Abbild  des  harmoni- 
schen, von  Einem  beherrschten,  Alls. 

3.  Alhericus  GentUis.  1551  in  der  Mark  Ancona  gebo- 
ren, verliess,  vielleicht  aus  religiösen  Gründen,  sein  Vaterland 
und  kam  nach  England,  wo  er  als  regius  professor  an  der  Uni- 
versität Oxford  1611  gestorben  ist.  Seine  erste  Schrift  mag  wohl 
die  de  legationibus  gewesen  seyn,  von  der  er  im  J.  1600  sagt, 
sie  sey  vor  langen  Jahren  geschrieben,  (r.  Kditenhorn  führt  eine 
Ausgabe  von  1585  an;  ich  kenne  nur  die  1594  Hanoviae.  Auch 
von  seiner  wichtigsten  Schrift  de  jure  belli  libri  tres  kenne  ich 
die  bei  r.  Kaltenborn  citirte  von  1588  nicht,  sondern  die  Hanauer 
von  1612.  Obgleich  Genlilis  in  seiner  Schrift  de  nuptiis  Hanov, 
1601  jene  Hauptschrift  citirt,  steht  doch  auf  dem  Titel  der  Aus- 
gabe von  1612:  mmc  primum  editi.  Ausserdem  führt  er  als  eigne 
Schriften  au:  de  maleficiis,  disputatio  ad  prim.  libr.  Machab.,  de 
armis  Romanis,  de  legitimis  temporibus,  de  condicionibus,  die 
ich  Alle  nicht  zu  Gesicht  bekommen  habe.)  Nachdrücklich  unter- 
scheidet Genlilis  zwischen  dem  Rechtskundigen  und  dem,  der  die 
Rechtswissenschaft  betreibt  (de  nupt,  I)  und  tadelt  darum  die, 
welche,  was  Recht  ist,  nur  aus  der  Geschicbte  und  dem  herr- 
schenden Brauch  abstrahiren  wollen ,  anstatt  es  aus  höheren  Prin- 
cipien  abzuleiten.  Wie  gegen  die  einseitigen  Routiniers  und  Prak- 
tiker, eben  so  erklärt  er  sich  gegen  die  Kanouisten  und  Theolo- 
gen, welche  nicht  gehörig  sondern,  was  zum  menschlichen  und 
was  zum  göttlichen  Recht  gehört.  Damm  ist  auch  bei  ihm  nicht 
mehr,  wie  bei  Mclanchlhon  oder  auch  noch  WinLler,  davon  die 
Rede,  dass  der  Dekalog  einen  Inbegriff  des  Naturrechts  enthalte, 
sondern  hier  wird  geschieden:  die  erste  Gesetz -Tafel  (d.  h.  nach 
reformirter,  nicht  nach  lutherischer  Abtheilung,  die  ersten  fünf 
Gebote)  sind  der  Theologie  zu  überlassen,  dagegen  unterliegt  die 
tabula  secunda,  deren  Zusannnenfassung  in  dem  Non  concupisces 
enthalten  ist,  der  rechtswissenschafthchen  Untersuchung  viel  mehr 
als  der  theologischen.  Einzelne  Punkte  gibt  es  indess,  wo  die 
Rechtswissenschaft  auch  ül)er  Kirchliches  entscheidet,^  z.  B.  über 
Verbrechen  der  Geistlichkeit,  in  einigen  Ehesachen  u.  s.  w.  Im 
Ganzen  aber  wird  man  sich  hier  der  Landeskirche  zu  unterwerfen 
haben  (de  nupt.   I,  88).     Ihre   eigenthümlichen  Lehren  hat   die 


598  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang\ 

Rechtswissenschaft  weder  aus  der  Geschichte  noch  aus  der  kirch- 
lichen Autorität  zu  schöpfen ,  sondern  aus  dem  natürlichen  Rechte. 
Dieses  gründet  sich  zum  Theil  auf  allgemeine,  über  die  Menschen- 
welt hinaus  gehende  Naturgesetze ,  wie  z.  B.  das  Occupationsrecht 
auf  das  Herrenlose  nur  eine  Folge  davon  ist ,  dass  die  Natur  kein 
Leeres   duldet   (de  jur.  belli  p.  131).     Vorzüglich  aber  sind  die 
Bestimmungen   des  Naturrechts   aus  der  Natur  des  Menschen  zu 
schöpfen.     Diese  nun  fordert  nicht  den  Streit  unter  den  Indivi- 
duen (Ebend.  p.  87) ,  sondern  vielmehr  sind  wir  Alle  Glieder  eines 
grossen  Körpers    und   darum    auf  die  Gemeinschaft  hingewiesen 
(p.  107).     Nur  in  der  Gemeinschaft  aber  gibt  es  Rechte,   wie  ja 
auch   das  jus  divimnn  oder  die  religio  ledighch  die  Gemeinschaft 
mit  Gott  betrifift.    Da  es  unter  Menschen  und  Thieren  keine  wahre 
Gemeinschaft  gibt,   so   auch  Rechte  nur  unter  Menschen  (p.  101), 
daher  ist  die  römische  Unterscheidung  unter  jvs  iiatvrae  und  fieii- 
tium  unhaltbar.    Aus  der  Bestimmung  zur  Gemeinschaft  folgt,  dass 
der   eigentlich   sittliche  Zustand   der  Friede  ist,    der  Krieg  aber 
nur   erlaubt   als  Abwehr   oder  Verhinderung  der  Friedensstörung 
(p.  13).     So  ist  auch  die  Sklaverei,   die  eigentlich  gegen  die  Na- 
tur ist,  hinsichthch  derer,  die  gegen  die  Natur  handeln,  kein  Un- 
recht (p.  43).     Die  öffentliche  Verletzung  des  natürlichen  Rechts 
durch  die  Cannibalen  berechtigt  jedes  Volk ,   mit  ihnen  Krieg  an- 
zufangen (p.  191).    Eben  so  gegen  solchen  Götzendienst,  der  Men- 
schenopfer fordert ;  sonst  aber  sollen  Religionskriege  nicht  geführt 
werden,  und  die,  von  Bodhi  geforderte,  Toleranz  des  Staates  ist  das 
richtigste  Verhalten  (p.  71).     Nur  mit  erklärten  Atheisten  ist  es 
eine  andre  Sache,  die  sind  den  Thieren  gleich  zu  achten  (p.  203). 
Wie  schon  der  Anfang  des  Krieges  nicht  allem  Rechte  ein  Ende 
macht,  so  bestehen   auch  während  des  Krieges  noch  Rechte,  ja 
bilden   sich  neue:   ein  Krieg  ohne  Ankündigung,   mit  unehrlichen 
Waffen  u.  s.  w.   ist  gegen   das  Jus  geid'uim  und  das  jus  müurue. 
Als  eine  Verletzung  desselben  ist  auch  der  Versuch  anzusehn,  das 
Meer  zu  verschliessen,   das  nach  natürlichem  Rechte  Allen  offen 
steht  (p.  209.  228.  148). 

4.  Hugo  de  Grooi  (bekannter  unter  dem  lateinischen  Na- 
men Grotius),  geboren  zu  Delft  am  10.  April  1583,  als  Jurist 
und  Theolog  gleich  beriihmt,  schrieb  während  er  Generalfiscal  in 
Rotterdam  war,  sein  Mare  liberum  (Lugd.  Bat.  1609),  in  dem  er 
aus  dem  Natur-  und  Völkerrecht  beweist,  dass  Niemand  das  Recht 
habe,  den  Niederländern  den  Handel  nach  Ostindien  zu  verweh- 
ren. Als  Rathspensionarius  in  Rotterdam  mit  Oldenbarnerelde 
eng  verbunden,  verlor  er  sein  Amt  und  lebte  von  da  an  meist  in 


II.  Die  Weltweiscn.    C.  Rechtsphilosophen.    c.  Kinhl.  indifferente     §.254.4.5.590 

Paris,  zuerst  als  Privatmann,  später,  durch  O.rievstcrna  zum 
schwedischen  Gesandten  ernannt,  als  solcher.  Vor  dieser  Ernen- 
nung, im  J.  1625,  ^Yurde  mit  einer  Dedication  an  Lvdmg  XIIl 
sein  weltberühmtes  Werk  de  jure  belli  et  pacis  libri  tres  veröffent- 
licht. Auch  die  Al)fassung  seiner  theologischen  ^Yerke,  der  Anno- 
tationes  in  V.  T. ,  in  N,  T ,  so  wie  seine  apologetische  Schrift  de 
veritate  rehgionis  Christian ae  fällt  in  die  Zeit  seines  Pariser  Aufent- 
halts. Am  28.  August  1G45  ist  er  auf  einer  Reise,  in  Rostock 
gestorben.  Sein  Hauptwerk  ist  später  oft  gedruckt.  Der  hier  fol- 
genden Darstellung  liegt  die  Ausgabe  Amstelod.  apud  Janssenio- 
Waesbergios  1712  zu  Grunde. 

5.  In  den  Prolegomenen ,   welche  auch  eine  kritische  Ueber- 
sicht  der   bisherigen  Leistungen  für  Rechtswissenschaft  enthalten, 
rühmt  Groibis  den  Genitlis  (p.  08)  und  Bodiu  (p,  55),  citirt  aber  im 
weiteren  Fortgange   nur  den  Letzteren,   obgleich   er   gerade   dem 
Ersteren  Manches   entlehnt  haben  möchte.    Was  er  an  ihnen,   so 
wie  au  allen  bisherigen  Rechtslehrern  tadelt  ist,   dass  Keiner  das 
Recht,   welches   die  Völker  unter  einander  verbindet   und  in  der 
Natur  des  Menschen  gegründet  sey  (p.  1),  gehörig  betrachtet,  ge- 
schweige  denn   wissenschaftlich   dargestellt  habe  (p.  30).     Diesen 
edelsten  Theil  der  Rechtswissenschaft  (p.  32)  wolle  er  hier  so  be- 
arbeiten,  dass  er  ihn  auf  gewisse  Principien  zurückzuführen  ver- 
suche, die  Niemand,  ohne  sich  Gewalt  anzuthun,  bezweifeln  kann 
(p.  39),   dass   er  ferner   genaue  Definitionen  aufstelle  und   streng 
logisch   eintheile.     Namentlich    das  Letztere   sey  nöthig,   um  den 
gewöhnlichen  Fehler  des  Vermischens  ganz  verschiedner  Dinge  zu 
vermeiden.    Es  handelt  sich  erstlich  darum,  dass  man  nicht,  wie' 
Bodiii;  die  Wissenschaft  vom  Recht  mit  der  Politik,  der  nur  auf 
den  Nutzen  gehenden  Staatskunst,  verwechsle  (p.  57),  ferner,  dass 
man  nicht,   was   natürliches   und   darum  uothwendiges  Recht  ist, 
mit  dem  verwechsle,  was  nur  bei  einem  einzigen  Volke  Recht  ist, 
oder  auch,  worüber  die  Völker  willkührlich  übereingekommen  sind 
(p.  40.  41).     Zu  diesem  Zweck  muss  vor  Allem  nach  der  eigent- 
lichen Quelle   alles  Rechts   gesucht   werden.     Wie  Alles,   so   hat 
natürlich   auch  das  Recht  seinen   ersten  Grund  im  Willen  Gottes 
und   ist  in  sofern  jedes  Recht  dirinmn  und  roliodarinm.     Indess 
ist  doch  ein  Unterschied  zu  machen  zwischen  dem,   was  Gott  di- 
rect  als  seinen  Willen  in  der  Bibel  ausspricht  und  dem,  was  eine  . 
Folge  ist  der  (von  Gott  gewollten)  menschlichen  Natur.    Von  dem, 
was  Gott  in  der  ersten  Weise  will,  kann  man  sagen:   weil  er   es 
will,  deswegen  ist  es  gut,  von  dem  aber,  was  Gott  in  der  zweir 
ten  Weise,  mittelbar,  will:   weil  es  gut  ist,  deshalb  wollte  er  es 


600  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

(Lib.  I,  1,  15).     Damit  hängt  zusammen,  dass  Gott  das  Erstere 
ändern  kann,  das  Zweite  aber  eben  so  wenig,  als  dass  zwei  mal 
zwei  vier  ist  (ebend.  20).     Dem  Letzteren  muss  man  deswegen 
eine  Geltung  beilegen  unabhängig  von  Gott,  so  dass   es  gültig 
wäre,  wenn  kein  Gott  existirte  (Prol.  p.  71).     Der  grösseren  Be- 
stimmtheit halber  soll  unter/».«  divinum  nur  verstanden  werden  der 
Inbegriff  dessen,  was  Recht  war  oder  noch  ist,  weil  Gott  es,  jenes  im 
Alten,  dieses  im  Neuen  Testamente  ausdrücklich  vorgeschrieben  hat, 
und  diesem  soll  entgegengesetzt  werden  das  menschhche  Recht 
(jus  humaiunn),   mit  dem   allein   die   gegenwärtige  Untersuchung 
zu  thun  hat.     Etwanige  Anführungen  aus  der  Bibel  können  nie 
beweisen,  dass  etwas  natürliches  Recht,  wohl  aber,  dass  es  nicht 
gegen  das  natürliche  Recht  ist,  da  die  beiden  Willen  Gottes  sich 
nicht  widersprechen  können  (I,  1,  17).     Was  nun  das  menschliche 
Recht  betrifft,  so  ist  dieses  nach  den  verschiednen  Subjecten  des- 
selben Personenrecht  oder  Vökerrecht  (so  dass  also  unter  jus  (jen- 
lium  nur  das  internationale  Recht  von  Groüits  verstanden  wird). 
Bei  beiden  ist  aber  wieder  der  Unterschied  zu  machen,   dass  die 
Quelle  des  Rechts  entweder  die  Natur  der  Menschen  und  Völker 
ist,  oder  ihr  Beheben,  so  dass  also  viererlei  unterschieden  wer- 
den muss:   jus  naiurae^jus  civil e  und  Jus  (/eufiurn  nahirale  (in- 
ternum,  necessarium)  ^  jus  gentium  voluntarium ,   welches  letztere 
also  das  jwjy  civih'  populonnn  wäre  (Prol.  p.  40.  41.    Lib.  III,  2,  7). 
Durch  Vernachlässigung  dieser  Unterschiede,   welche   zu   tadeln 
Grotius  nicht  müde  wird,  sey  es  gekommen,  dass  die  rein  positiven 
Bestimmungen  des  römischen  Rechtes  für  natürliche  Rechte,  blosse 
Gebräuche  unter  den  gebildeten  Völkern  für  Regeln  des  Völker- 
rechts  gehalten  seyen.     Auch   sey   es  dadurch  gekommen,  dass 
man  die  Rücksicht  auf  den  Nutzen,  die  allerdings  die  Quelle  des 
jus  voluntürium   sey,   zum  Princip  des  Naturrechts  gemacht  habe 
(Prol.  p.  16).     Wie  das  jus  divinum  sich  zum  jus  huimmnm  ver- 
hält,  gerade   so  das  jus  dvile  und  jus  gentium  voUintarium  zu 
dem  natürlichen  (Einzel-  und  Völker-)  Rechte:  sie  enthalten  nähere 
Bestimmungen  zu  dem  letzteren,  also  mehr  als  es  und  sind  stren- 
ger als  dasselbe.    Darum  kann ,  wie  die  Berücksichtigung  des  gött- 
lichen Rechtes  wenigstens  ein  negatives  Correctiv  wurde  für  die 
Betrachtung  des  menschlichen,  ganz  eben  so  die  Berücksichtigung 
des  jus  volnntarium   fruchtbar   werden  für  das  jus  naturae.     Na- 
mentlich gilt  dies  vom  Völkerrecht;  wo  sich  bei  allen,  wenigstens 
bei  den  edleren,  Völkern  gewisse  völkerrechtliche  Bestimmungen 
finden,  da  kann  man  ziemlich  sicher  seyn,   dass  dieselben  nicht 
gegen  das  natürliche  Recht  der  Völker  sind  (p.  40). 


II    Die  Weltweiseii.   C.  Rechtsphilosopheu.    c.  Kirclil.  iudiflferente.  §.  254.  6.  7.    601 

6.  Unter  dem  natürlichen  Rechte  ist  also  zu  verstehn  das 
Recht,  welches  nicht  beliebig  von  Gott  oder  Menschen  festgestellt 
ist,  sondern  aus  der  Xatur  des  Menschen  nothwendig  folgt.  Nur 
des  Menschen,  denn  die  bei  den  römischen  Juristen  recipirte  De- 
finition des  jus  nutnrav  ist  zu  weit  (Lib.  I,  1,  11.  Prol.  p.  8). 
Durch  seine  eigne,  ihn  vom  Thier  unterscheidende,  Natur  aber 
ist  der  Mensch,  der  eben  deshalb  auch  allein  Sprachfähigkeit  be- 
sitzt, auf  die  Gesellschaft  gewiesen,  d.  h.  auf  die  ruhige ,  vernunft- 
mässig  geordnete  (darum  von  einer  Heerde  zu  unterscheidende) 
Gemeinschaft  (Prol.  p.  5).  Alles  nun,  was  mit  einer  solchen  ge- 
ordneten Gemeinschaft  von  Vernunftwesen  streitet,  ist  unrecht 
(Injustmn) ,  was  aber  nicht  unrecht  ist,  nennt  man  Recht  (jus). 
Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  dieses  Wort  gebraucht  wird,  sowol 
um  den  moralischen  Zustand  der  Person  zu  l)ezeichnen,  als  auch 
die  gesetzhchen  Bestimmungen,  die  jenen  Zustand  sicher  stellen 
(Lib.  1 ,  1 ,  3.  4.  9).  Ob  Etwas  dem  natürlichen  Rechte  gemäss, 
kann  a  priori  und  (i  jtoslcriori  festgestellt  werden.  Jenes  ge- 
schieht, wenn  gezeigt  wird,  dass  aus  der  auf  die  Gesellschaft  ge- 
wiesenen Natui"  des  Menschen,  die  allgemeine  Geltung  des  zu  Prü- 
fenden folgt,  dieses  dagegen,  wenn  aus  der  allgemeinen  Geltung 
desselben  darauf  zurückgeschlossen  wird,  dass  es  in  der  Natur 
des  Menschen  liege.  Die  zweite  Weise  des  Verfahrens  ist  zwar 
populärer,  die  erste  aber  wissenschaftlicher  (ebendas.  p.  12). 

7.  Bei  dieser  Solidarität  von  Recht  und  Gesellschaft,  ist  es 
natürlich,  dass  Grotiirs.  wo  er  den  Ursprung  des  Rechts  erörtert 
(und  mit  dieser  Aufgabe  beschäftigt  er  sich  am  Anfange  des  er- 
sten Buches)  die  Betrachtung  dort  beginnt,  wo  die  Gesellschaft 
noch  nicht  zu  Stande  gekommen  ist.  Den  Zustand  des  ganz  iso- 
lirten  Menschen  nennt  er  den  Naturzustand.  In  diesem  haben 
Alle  auf  Alles  in  sofern  ein  gleiches  Recht,  als  Alles  eigentlich 
nicht  Allen,  sondern  Keinem  gehört,  ein  Zustand  der,  wenn  er 
einmal  aufgehört  hat,  nur  in  den  Fällen  der  äussersten  Noth  und 
annäherungsweise  im  Kriege  wiederkehrt.  Diesem  Zustande  macht 
die  Occupation  ein  Ende,  durch  welche  das  Hen*enlose  in  Besitz 
und  Eigenthum  verwandelt  wird,  eine  Verwandlung,  der  sich  das 
nicht  Occupirbare,  wie  Luft  und  Meer  entzieht  (vgl.  II,  2,  6  ff.). 
Wird  das  so  Angeeignete  angetastet,  so  entsteht  durch  den  ge- 
waltsamen Widerstand  Krieg,  zu  dem  der  Angegriffene  berechtigt 
ist,  sowol  um  das  Seinige  zu  behaupten,  als  um  es  wieder  zu  be- 
kommen, endlich  auch  um  den  Angreifer  zu  strafen.  Dass  Einer 
wegen  zugefügten  Uebels  Uebel  erleide,  ist  ein  Naturgesetz,  und 
darum  darf  im  Naturzustande  Jeder  den  Angreifer  nicht  nur  abweh- 


602  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

ren ,  sondern  streifen.  Dies  ändert  sieb  nun ,  wenn  durch  das  frei- 
willige Zusammentreten  von  Menschen,  jene  künstlichen  Körper 
entstehen,  in  welchen  die  Vereinigung  gleichsam  die  Seele  (11, 
9,  3),  und  deren  vollkommenste  der  Staat  ist,  in  welchem  eben 
deswegen  das  Uebergewicht  des  Ganzen  über  die  Theile  am  Gröss- 
ten  ist  (II,  5,  23).  Wenn  gleich,  eben  weil  es  ein  freiwilliges 
Uebereinkommcn ,  die  Einzelnen  nicht  so  unselbstständig  wer- 
den, wie  die  Glieder  eines  Leibes  (II,  5,  8  und  G,  4),  so  erlei- 
den doch  im  Staat  die  Rechte  des  Einzelnen  eine  sehr  wesent- 
liche Modification,  indem  jetzt  der  Staat  die  höchte  Gewalt  be- 
kommt. Dies  heisst  nicht,  dass  das  Volk,  d.  h.  Alle,  diese  Macht 
habe,  denn  mit  dem  Begriff  der  Gesellschaft  ist  eben  sowol  Gleich- 
heit als  Ungleichheit  vereinbar,  und  es  ist  sehr  gut  möglich,  dass 
ein  Volk  den  Entschluss  fasst,  sich  einem  Einzelnen  als  Haupt 
zu  unterwerfen,  der  dann  das  Herrscherrecht,  imjieriiim,  allehi 
besitzt  (I,  1,  3.  3,  7).  In  diesem  Falle  kann  die,  höchste  Gewalt 
temporär  oder  dauernd  übertragen  seyn;  die  Dictatur  und  das 
Königthum  unterscheiden  sich  daher  nicht  so,  dass  der  König 
mehr  Gewalt,  sondern  dass  er  mehr  Würde  (majestas)  hat  (I, 
3,.  11).  Das  Königthum  selbst  aber  kann  verschieden  seyn,  je 
nachdem  das  imppr'mm.  als  reines  Eigen thum,  das  der  Inhaber 
veräussern  darf  (rcgvmv  jutirtmoniale)  erscheint,  oder  er  (was 
jetzt  meistens  der  Fall)  vielmehr  nur  Nutzniesser  und  Fideicom- 
missar  desselben  ist;  es  kann  ferner  die  Gewalt  des  Königs  mehr 
oder  minder  beschränkt,  sie  kann  ganz  ungetheilt  seyn  oder  ge- 
theilt  (ebend.  14.  16.  17).  Welches  dieser  Verhältnisse  Statt  fin- 
det ,  und  in  wie  weit  dem  gemäss  die  Unterthanen  dem  Monarchen 
gegenüber  berechtigt  sind,  hängt  von  dem  ursprünglichen  Sub- 
jeetionsvertrag  ab ,  welcher  die  Nachkommen  bindet ,  weil  das  Volk, 
wenn  gleich  jetzt  aus  anderen  Individuen  bestehend,  doch  (wie 
ein  Wasserfall  oder  Strom)  dasselbe  geblieben  ist,  und  man  prä- 
sumiren  muss,  es  wolle  dasselbe  wie  damals,  eine  Vermuthung, 
die  übrigens  durch  die  stillschweigende  Einwilligung  bestätigt  wird 
(II,  7.  27).  Eben  so  wird  man  ganz  neue. Verhältnisse  nur  dann 
richtig  beurtheilen,  wenn  man  sich  fragt:  wie  würden  wohl  die, 
welche  den  Urvertrag  abschlössen,  in  diesem  Falle  gewollt  haben? 
die  Antwort  darauf  gibt  an ,  was  heute  Recht  ist.  Gerade  so  grün- 
det sich  ja  im  Civilrecht  die  Intestaterbfolge  des  Sohnes  auf  die 
Vermuthung,  der  Vater  würde,  hätte  er  testirt,  den  Sohn  zum  Er- 
ben eingesetzt  (ebend.  10.  11).  Diesem  Principe  gemäss  wird  in 
der  Erbmonarchie  eigentlich  nicht  gesagt  werden  dürfen ,  dass  das 
imperivm  übergeht,  sondern  dass  es  in  der,  ursprünglich  gewähl- 


II.  Die  Weltreisen.    C.  'Rochtspliilosoplicn.    c.  Kirdil.  inclifFeiente.   §.  254,  7.  8.    60o 

ten  Familie  gel3lieben  ist  (I,  3,  10).  Stirbt  die  Familie  aus ,  dann 
kehrt  das  Imperium  zum  Volk  zurück ,  d.  h.  es  tritt  der  Naturzu- 
stand vor  dem  Staatsvertrage  ein  (II,  9,  8). 

8.  Da  der  Staat,  gerade  wie  der  Einzelne,  Rcclitssubject  ist, 
so  ergeben  sich  eine  Menge  von  Rechtsverhältnissen  unter  den 
einzelnen  Staaten ,  welche  eben  das  jus  geitllnm  bilden.  Wie  der 
Einzelne,  so  kann  auch  der  Staat,  wo  sein  Recht  verletzt  wird, 
in  Krieg  gerathen,  und  so  werden  vier  Arten  von  Kriegen  unter- 
schieden werden  müssen:  des  Einzelnen  gegen  den  Einzelnen,  ei- 
nes Staates  gegen  einen  Staat,  des  Staates  gegen  den  Einzelnen 
und  zwar  gegen  den  eignen  oder  gegen  einen  fremden  Unterthan, 
endhch  des  Unterthans  gegen  den  Staat.  Die  drei  ersten  können 
gerecht  oder  ungerecht,  der  letzte  kann  nie  gerecht  seyn  (I, 
4,  1).  Der  Untersuchung,  welche  Fälle  den  einen  oder  andern 
dieser  Kriege  rechtfertigen,  wobei  der  leitende  Gesichtspunkt  im- 
mer der  ist,  dass  der  normale  Zustand  der  Friede  ist,  dessen 
Störung  den  Krieg  veranlasst,  dessen  Wiederherstellung  er  be- 
zweckt, ist  der  bei  weitem  grössere  Theil  des  Werks  gewidmet, 
das  eben  darum  seinen  Namen  erhielt.  Eingeflochten  aber  wird 
die  Betrachtung  aller  Rechtsverhältnisse.  Ja  noch  mehr,  indem 
dem  jus  externvm  sehr  oft  das  jns  inferrnnu  entgegengestellt  und 
diesem  Alles  zugewiesen  wird,  was  die  BilMgkeit,  das  Ehrgefühl, 
besonders  aber  das  Gewissen  betrifft,  so  ist  auch  die  Moral  von 
ihm,  zwar  nicht  ausführlich  abgehandelt,  aber  gegen  die  Rechts- 
lehrc  abgegrenzt.  Wie  gesagt  aber,  die  Betrachtung  des  Krieges 
ist  der  Hauptgegenstand.  Da  der  öffentliche  (Staats  -)  Krieg  ganz 
dieselben  Rcchtstitel  hat,  wie  der  private  (Einzel-)  Krieg,  so  wird 
sehr  ausführlich  (II,  20)  der  Fall  betrachtet,  wo  der  Staat  Ge- 
walt übt ,  nicht  um  einen  Angriff  abzuwehren ,  sondern  um  den 
gemachten  Angriff  zu  strafen.  Was  zunächst  die  Strafe  des  Ein- 
zelnen betrifft,  so  durfte  im  Naturzustande  der  Uebelthäter  sie 
von  jedem  erleiden.  Im  Staat  verliert  der  Einzelne  das  Strafrecht 
und  es  geht  schickHcher  Weise  auf  den  über,  der  die  Gewalt  im 
Staate  hat.  Zweck  der  Strafe  ist  immer  die  Besserung,  theils  des 
Bestraften,  theils  der  Uebrigen  (durch  Abschreckung).  Denjeni- 
gen, welche  die  Strafe  als  Vergeltung  fassen  Avollen  und  sich  da- 
bei auf  die  göttlichen  Strafgerichte  berufen ,  erwidert  Grolivs,  Got- 
tes Berechtigung,  auch  den  zu  strafen,  der  sich  nicht  bessern 
wird  oder  sich  gebessert  hat,  liege,  wie  das  Heimsuchen  an  den 
Kindern,  was  der  Mensch  nicht  dürfe,  darin,  dass  er  der  All- 
mächtige sey,  der  nach  Belieben  mit  uns  schaltet  und  waltet. 
Menschen  dürften  nur,  wie  Sencvn  richtig  sage,  strafen  von  (piia 


604  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  Uebergang). 

pecaUnm  est  sed  ne  jieccetur.  Was  dann  das  Verhältniss  zu  an- 
deren Staaten  betrifft,  so  wird  die  Frage  aufgeworfen,  ob  ein 
Staat  den  anderen  mit  Krieg  überziehen  dürfe,  bloss  um  ihn  zu 
strafen.  Nur  offenbare  Verletzung  des  göttlichen  und  natürlichen 
Rechts  scheint  ihm  dazu  ein  Recht  zu  geben.  Daher  dürfe  der 
Staat  erklärte  Feinde  der  „wahren  Religion,  die  allen  Zeitaltern 
gemeinschaftlich"  und  als  deren  Inhalt  er  das  Daseyn  Gottes  und 
die  Vergeltung  für  unser  Thun  angibt,  wenn  sie  seine  Untertha- 
nen  sind,  unterdrücken,  wenn  nicht,  bekriegen.  Wer  aber  dies 
auf  Alle  ausdehnen  wollte,  die  nicht  Christen,  der  bedenke  wie 
viel  ganz  unwesentliche  Lehren  sich  an  das  ursprüngliche  Chri- 
stenthum  angesetzt  haben,  die  man  Niemand  aufdrängen  darf.  Zum 
Scliluss  möge  noch  zur  Uebersicht  bemerkt  werden ,  dass  des  Gro- 
tiiis  Buch  im  Ersten  Buch  in  vier  Capiteln  den  Ursprung  des 
Rechts,  den  Begriff  des  Krieges,  den  Unterschied  des^  privaten 
und  öffentlichen  Krieges,  endlich  das  Verhältniss  von  Herrscher 
und  Unterthanen  erörtert,  im  zweiten  Buche,  welches  das  aus- 
führlichste, in  sechs  und  zwanzig  Capiteln  die  verschiedene  Ent- 
stehungsart der  Kriege,  ausserdem  aber  auch  das  Eigenthum,  das 
Vertragsrecht,  das  Strafrecht  betrachtet,  endlich  im  dritten 
Buch  in  fünf  und  zwanzig  Capiteln  untersucht,  was  während  des 
Krieges  nach  natürlichem  Rechte  zu  beobachten  ist,  avo  er  von 
Friedenschlüssen  und  Abkommen  handelt  und  zu  dem  Resultate 
kommt,  dass  Treue  und  Redlichkeit  die  beste  Politik  sey. 

§.  255. 
So  gross  der  Fortschritt  auch  ist,  den  Bodin,  GenüUs ,  na- 
mentlich aber  Grntlvs  gemacht  haben,  wenn  man  sie  z.  B.  mit 
den  jesuitischen  Staatsrechtslehrern  vergleicht,  oder  auch  mit  den 
kirchlich  gesinnten  Protestanten ,  so  tritt  doch  bei  ihnen  eine  eigen- 
thümliche  Halbheit  hervor,  die  den  Letzteren  abgeht.  GenUlis, 
dem  das  Loskoinmen  vom  Dekalog  nur  in  soweit  gelingt,  als  er 
die  eine  Tafel  ignorirt  und  nur  die  zweite  als  Norm  beibehält, 
zeigt  diese  Halbheit  in  der  schlagendsten  Weise.  Groüns  aber 
laborirt  an  ihr  kaum  minder  und  geräth  durch  sie  in  höchst  selt- 
same Widersprüche.  Er  hat  sich  vorgenommen  von  dem  geoffen- 
barten Worte  Gottes,  ja  von  Gott  selbst  ganz  zu  abstrahiren,  und 
den  Menschen  zu  betrachten  in  paris  natnralibus .  wie  der  Aus- 
druck lautete.  Und  dieser  natürhche  Mensch,  wie  er  nichts  ver- 
nimmt vom  Worte  Gottes,  wird  von  ihm  geschildert  wie 'er  das 
göttliche  Gebot  christlicher  Bruderliebe  vernimmt,  denn  etwas  An- 
deres ist  wirklich  jenes  Verlangen  nach  friedlicher  und  vernünfti- 
ger Gemeinschaft  nicht.    Von  dem  wirklichen  Menschen  gibt  Gro- 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtspbilosophen.    c.  Kirchl.  indifferente.    §.  255.    bUD 

tius  es  zu,  dass  sein  natürlicher  Trieb  ihn  ganz  wo  anders  hin- 
führt ,  denn  das  ganze  Ji/s  vohmiurunu  geht  ihm  auf  gar  nichts 
Andres  als  auf  Nutzen.  Aber  in  jenem  Zustande,  welcher  der 
Staatenbildung  vorausgeht,  da  soll  er  seinen  Nutzen  vergessen 
haben  und  nur  nach  friedlicher  Gemeinschaft  getrachtet  haben. 
Heisst  dies  etwas  Andres  als  unter  anderem  Namen  die  blibhsche 
Lehre  vom  Paradies  und  Sündenfall  einführen?  Er  will  weiter  in 
seinem  Naturrecht  von  aller  Geschichte  abstrahiren ,  den  Menschen 
betrachten  als  wäre  er  nicht  Kind  eines  bestimmten  Volks,  einer 
bestimmten  Zeit,  also  in  seiner  vollständigen  Vereinzelung,  und 
doch  kann  er  wieder  nicht  umhin  dort,  wo  er  die  späteren  Gene- 
rationen durch  den  Urv ertrag  gebunden  seyn  lässt,  das  Volk  als 
ein  Continuum  (einen  Strom)  zu  denken,  in  welchem  den  Einzel- 
nen (Tropfen)  durch  das  Ganze  die  Stelle  angewiesen  ist.  Heisst 
dies  etwas  Anderes  als,  trotz  aller  Entstehung  des  Staates  aus 
dem  Belieben  der  Einzelnen,  ihn  doch  vor  sie  stellen?  Es  geht 
ihn  wie  bei  der  Intestaterbfolge ,  die  er  auf  die  Vermuthung  grün- 
det, im  Falle  eines  Testaments  wäre  dieses  ausgefallen,  wie  es 
iicqnissimum  et  honesüssimum  war,  wo  er  nicht  bedenkt,  dass  er 
also  ein  ae(jintm  et  hone  st  um  statuirt,  welches  unabhängig  ist  von 
allem  Testiren,  und  dass  seine  Behauptung,  bei  der  Thronfolge 
gehe  die  Herrschaft  eigentlich  gar  nicht  über,  sondern  bleibe  in 
der  Famihe,  gerade  so  auf  jeden  vererbten  Besitz  anwendbar  ist. 
Immer  drängt  sich  bei  Grofuis,  was  er  eben  geleugnet  hatte,  wie- 
der hervor,  und  die  Behauptung,  dass  erst  in  der  Gemeinschaft 
das  Unrecht  hervortreten  kann,  wird  neutralisirt  dadurch,  dass 
der  Mensch  von  Natur,  also  auch  vor  dem  Urvertrage,  Rechte 
habe.  Alle  diese  Halbheiten  werden  verschwinden,  wenn  in  dem 
fingirten  Zustande,  der  dem  Staate  vorausgeht,  der  Mensch  genom- 
men wird,  wie  er  auch  heute  ist,  weil  die  Natur  des  Menschen  eine 
und  dieselbe,  d.  h.  so  war,  wie  sie  gegenwärtig  ist,  und  wenn  ge- 
zeigt wird,  dass  auch  die  gegenwärtigen,  niu'  ihren  Nutzen  su- 
chenden, Menschen  wenn  sie  sich  zuerst  träfen,  einen  Staat  bilden 
würden.  Mit  diesem  Eliminiren  einer  paradiesischen  Natur  wird 
erst  wirklich  alle  Theologie  über  Bord  geworfen,  damit  aber  auch 
jede  Spur  scholastischer  Behandlung  des  Naturrechts  verschwun- 
den seyn.  Statt  der  wenigstens  halbtheologischen  tritt  hier  eine 
physikahsche  oder  naturalistische  Politik  hervor,  die,  weil  sie  die 
Geschichte  ganz  ignorirt,  den  Staat  völlig  a  priori  construirt. 


606  Mittelalterliche  Pliilosopliie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

§.  256. 
d.  Die  naturalistische  Politik. 
1.  T/toriKts  Hohbes,  am  5.  April  1588  in  Malinesbury  in  Wilt- 
sliire  geboren,  auf  der  Schule  sehr  gründlich  unterrichtet,  wurde 
in  Oxford  in  die  scholastische  Philosophie  eingeführt,  und  hat  von 
daher,  trotz  seines  Gegensatzes  gegen  die  Scholastik,  gewisse  no- 
niinalistische  Grundsätze  in  sich  aufgenommen,  die  unerschüttert  ge- 
blieben sind.  Im  Jahr  1610  als  Begleiter  eines  jungen  Edehnanns 
nach  Frankreich  und  Italien  gereist,  machte  er  dort  Bekanntschaft 
mit  den  bedeutendsten  Männern,  die  ihn  der  scholastischen  Philoso- 
phie noch  mehr  entfremdeten.  Nach  sehier  Rückkehr  besonders 
mit  den  Alten  beschäftigt,  trat  er  (wohl  erst  nach  dessen  Sturz) 
mit  Lord  Bacon  in  Verbindung,  dem  er  bei  'der  Uebersetzung  sei- 
ner Werke  ins  Lateinische  geholfen  haben  soll,  von  dem  er  aber 
dafür  manche  wissenschaftliche  Anregung  empfangen  hat.  Es  ist 
vielleicht  kein  Zufall,  dass  erst  nach  dem  Tode  desselben,  wäh- 
rend eines  neuen  Aufenthalts  ün  Auslande,  llobbcs  anfing,  sich 
mit  Mathematik  zu  beschäftigen,  woran  sich  während  eines  dritten 
Besuches  von  Paris  (1631)  eine  genaue  Freundschaft  mit  Gasseiidi 
und  Mersoine,  so  wie  Berührung  mit  Dcscartcs  schloss.  Bei 
seiner  Rückkehr  bewog  ihn  die,  sich  vorbereitende,  Revolution  seine 
Gedanken  über  den  Staat  in  den  beiden  englischen  Schriften  On 
human  nature  und  De  corpore  politico  niederzulegen,  die,  nur 
einem  kleinen  Kreise  mitgetheilt,  uns  zeigen,  dass  seit  dem  er 
eigentlich  gar  keine  Modification  seiner  Ansichten  erfahren  hat. 
Unzufrieden  mit  dem  Gang  der  Dinge  ging  er  wieder  nach  Paris, 
und  Hess,  in  wenigen  Exemplaren,  1642  seine  Schrift  de  cive  dru- 
cken, die  im  J.  1647  erweitert  bei  Elzecir  in  Amsterdam  erschien. 
Auf  dieselbe  folgte:  Leviathan  1651  (1670  lateinisch),  nach  dessen 
Herausgabe  er,  weil  er  den  Hass  der  Kathohken  fürchtete,  nach 
England  zurückging.  Hier  erschien  de  corpore  1655  und  de  ho- 
mine  1658.  Die  erste  Sammlung  seiner  Werke  in  lateinischer 
Sprache  veranstaltete  er  selbst.  Sie  erschien  bei  Blacif  in  Am- 
sterdam 1668;  weder  sind  sie  in  drei  Theilen  noch  in  der  Reihen- 
folge gegeben  wie  er  gewünscht  hatte,  sondern  ohne  eigeuthches 
Princip  in  zwei  Quartbände  vertheilt.  Nachher  verfasste  er  eine 
Selbstbiographie  so  wie  die  Uebersetzung  des  Homer,  beide  in  la- 
teinischen Versen.  Kurz  vor  seinem  Tode  erschien  sein  Behemoth, 
ein  früher  geschriebner  Dialog  über  die  englische  Revolution;  ge- 
gen seinen  Willen,  da  Carl  II  den  Druck  nicht  gewünscht  hatte. 
Er  starb  am  4.  Dec.  1679.    Zwei  Jahre  darauf  erschien  eine.ano- 


II.  Die  Weltreisen.    C.  Reehtsphilosophen.    d.  Naturallstische.    §.   256,  2.  607 

iiynie  Biographie  (Carolopoli  apud  Eleutlierium  Aiigiicum  1681) 
(leren  Verfasser  nach  Einigen  Hobbes  selbst,  nach  Anderen  Aitbnj 
seyn,  und  die  Ilalp/f  Balhursf,  nach  Anderen  Rlcf/ard  Blackbourn 
übersetzt  haben  soll.  Eine  englische  Gesainintausgabe  erschien  in 
London  1750  in  Folio.  In  neurer  Zeit  hat  ISiolesvorUi  eine  ver- 
anstaltet. 

2.  Durch  die  Definition  der  Philosophie,  nach  welcher  sie  die 
durch  blosse  Vernunft  theils  aus  den  Ursachen  vorwilrts,  theils 
aus  den  Wirkungen  rückwärts  erschlossenen  Erkenntnisse  enthält 
(De  corp.  c.  1)  stellt  er  sich  erstlich  in  Gegensatz  zur  Scholastik, 
die  zu  schelten  er  nicht  müde  wird  (de  corp.  Schluss.  Leviath. 
c.  8).  Denn  da  die  Theologie  nicht  aus  der  Vernunft,  sondern 
aus  übernatürlicher  Offenbarung  stammt,  so  ist  sie  sogleich  aus 
der  Philosophie  ausgeschlossen.  Die  Vermischung  beider,  des  Glau- 
bens und  der  Vernunft,  ist  eine  Versündigung  an  beiden.  Wer 
den  Glauben  mit  der  Vernunft  prüft,  gleicht  dem  Kraidcen  der 
anstatt  die  heilsame  Pille  zu  verschlucken  sie  zerkaut  und  nur 
einen  bittern  Geschmack  gewinnt  (de  civc  17,  4.  Leviath.  32). 
Und  wieder,  wer  gegen  Physiker  oder  Politiker  die  Bibel  citireii 
wollte,  vergässe  dass  sie  nicht  dazu  gegeben  ist,  uns  die  Natur 
oder  den  irdischen  Staat,  sondern  den  Weg  zu  dem  Picich,  das 
nicht  von  dieser  Welt  ist,  kennen  zu  lehren.  Was  mit  diesem 
Zweck  nicht  zusammenhängt,  hat  Christus  dahin  gestellt  seyn  las- 
sen. (Leviath.  8.  45.)  Bis  dahin  ist  nun  llobbcs  ganz  mit  Lord 
Bücon  einverstanden,  wie  denn  der  Vergleich  mit  der  Pille  und 
der  mit  dem  Spiel  (s.  oben  §.  249,  3)  ganz  auf  Eins  herauskommt. 
Seine  Definition  der  Philosophie  aber  lässt  ihn  zweitens  dieselbe 
dem  Empirismus  entgegenstellen;  zunächst  dem  Baconischen,  da 
llobbes,  der  Verehrer  der  Geometrie,  mit  ihres  Verächters  Anprei- 
sen der  Induction  nicht  zufrieden  ist,  sondern  ausdrücklich  den 
der  Induction  entgegengesetzten  Weg  der  Philosophie  eben  so  vin- 
dicirt.  Das  ganze  sechste  Capitel  der  Schrift  de  corpore  behan- 
delt den  Unterschied  der  ntcihodiis  reso/ulird  oder  (utalt/ftc((  und 
rompusUiia  oder  sijitl/tetica  und  behauptet  mit  Nachdruck,  dass 
beide  befolgt  werden  müssen.  Dann  aber  setzt  er  die  Philosophie 
überhaupt  allem  Empirismus  entgegen.  Er  nimmt  dazu  Vieles, 
was  eigentlich  im  zweiten  Theil  seines  Systems  abgehandelt  wer- 
den müsste,  vorweg:  der  aller  erste  Ursprung  alles  Wissens  liegt 
in  der  Einwirkung  der  Dinge  auf  unsere  Sinnesorgane,  die,  wie 
alle  wirkenden  Thätigkeiten ,  nichts  Andres  seyn  können  als  Be- 
wegungen. Die,  durch  die  Reaction  des  Organs  vermittelte  Wir- 
kung jenes  Gegenstandes  (nicht  sein  Bild,  denn  blau,  wohlriechend 


608  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

u.  s.  w.  hat  nicht  die  geringste  Aehnlichkeit  mit  den  Bewegungen 
im  Gegenstände)  nennen  wir  Empfindung  (sensioj  oder  auch  Wahr- 
nehmung (conccption)f  wobei  nie  vergessen  werden  darf,  dass  die- 
selbe nur  in  uns  liegt,  also  tdea,  plmnUisma,  fannj,  kurz  etwas 
ganz  Subjectives  ist  (u.  A.  Human  nature  c.  2.  Leviath.  c.  1).  Da 
alle  Körper  gegen  Einwirkungen  reagiren,  so  haben  einiger  Maas- 
sen  die  Recht,  die  allen  Dingen  Empfindung  beilegen.  Da  unter 
Object  einer  Empfindung  nur  die  Ursache  derselben  zu  verstehn 
ist,  so  darf  man  wohl  sagen:  ich  sehe  die  Sonne,  nicht  aber:  ich 
sehe  das  Licht;  die  Bewegung,  die  sich  meiner  Netzhaut  mittheilt, 
wird  nicht  gesehen.  Nach  einem  überall  herrschenden  Naturgesetz 
mu5s  auch  die  Affection  des  Sinnesorgans,  wenn  die  Einwirkung 
aufgehört  hat,  fortdauern,  und  dieses  Nachtönen  der  Empfindung 
heisst  Erinnerung,  Gedächtniss  oder  Imagination.  Es  ist  von  dem 
Empfinden  so  untrennbar,  dass  es  der,  die  übrigen  begleitende, 
sechste  Sinn  genannt  werden  kann  (Human  nature  c.  3),  ja  es  ist 
das  Empfinden  selbst,  denn  smlirr  se  scnsisse  esl  mcmorln ,  und 
ohne  dasselbe  wäre  gar  kein  Empfinden  möghch,  indem  Einer  der 
nur  sähe  und  nur  Eines  sähe,  in  dem  er  das  Sehen  nicht  vom  (frü- 
heren) Hören,  die  gegenwärtige  P'arbc  nicht  von  einer  anderen  (frü- 
her gesehenen)  unterschiede,  eigentlich  gar  nicht  empfände  (de 
corp.  c.  25).  Die  Summe  dessen,  was  in  unserem  Gedächtniss  sich 
befindet,  nennt  man  Erfahrung,  die,  je  grösser  um  so  mehr,  ver- 
bunden ist  mit  der  Erwartung  des  bereits  Erfahrnen,  der  Vor- 
aussicht oder  Klugheit  (u.  A.  Human  nature  c.  4),  welche  dem 
Thier  nicht  abzusprechen  ist,  dass  aber  darum  keine  Wissenschaft, 
noch  Philosophie  besitzt.  Zu  diesen  ist  ein  Hauptschritt  die  Er- 
findung der  Wörter,  d.  h.  willkührlich  erfundener  Namen  oder  Zei- 
chen zunächst  zur  Erinnerung  an  Wahrgenommenes  (murks,  no- 
lue),  dann  zur  Mittheilung  (signs,  signa)  (Human  nature  c.  5.  De 
corp.  c.  2).  Da  Wörter  die  Gegenstände  bezeichnen  wie  sie  in  der 
Erinnerung  liegen,  so  aber  sie  weniger  deutlich  vorgestellt  wer- 
den als  während  sie  angeschaut  wurden,  so  werden  sie  zu  Zeichen 
für  viele,  ähnliche,  und  bekommen  den  Charakter  der  Allgemein- 
heit, den  also  die  Dinge  nie,  die  Wörter  wohl,  haben  (Human  na- 
ture c.  5).  Nennt  man  Verstehen  (nnterslandiny)  das  Verbinden 
einer  Vorstellung  mit  dem  gehörten  Wort,  so  kommt  dies  auch 
dem  Thier  zu,  welches  z.  B.  einen  Befehl  versteht  (Leviath.  c.  2). 
Dagegen  vermag  nur  der  Mensch  die  Zeichen  unter  einander  zu 
verbinden  oder  sie  zu  trennen.  Etwas  was  man,  wenn  es  Zahlzeichen 
sind.  Rechnen,  sonst  aber  Denken  oder  Vernunft  (rcnsnnmg)  nennt. 
Vernunft  ist  daher  nur  die  Fähigkeit  zu  addiren  und  zu  subtrahi- 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtsphilosophea.    d.  Naturalistische.    §.  2.j6,  2.  3-     609 

ren,  uud  Kinder,  die  noch  nicht  sprechen,  haben  keine  (Leviath. 
c.  5).  Eine  Wortverbindung,  die  Vereinbares  zusammenstellt,  d.  h. 
das  was  aus  einem  Worte  folgt  von  ihm  bejaht,  ist  eine  Wahrheit, 
ihr  Gegentheil  Un^vahrheit  oder  eine  Absurdität.  Beide  Prädicate 
haben  nur  einen  Sinn  für  Wortverbindungen  oder  Sätze;  den  Din- 
gen Wahrheit  beilegen  heisst  Verschiedenes  so  confundiren,  wie 
die  Scholastiker  das  Wesen  eines  Dinges  mit  seiner  Definition 
(Leviath.  c.  4).  Der  Besitz  wahrer  Sätze  ist:  Wissenschaft  (science), 
sehr  vieler:  Weisheit  (sapicnfiaj.  Die  Wissenschaft  hat  es  deshalb 
nur  mit  Solchem  zu  thun  was  aus  den  Namen  der  bezeichneten 
Dinge  folgt,  und  wieder  was  aus  den  wahren  (d.  h.  diese  Fol- 
gerungen ziehenden)  Sätzen  folgt,  immer  also  mit  Folgerungen 
(Leviath.  c.  9).  Darum  gibt  uns  die  Erfahrung  Bericht  über  ein- 
zelne Facta  und  schützt  uns  vor  Irrthum,  die  Wissenschaft  dage- 
gen gibt  uns,  da  Worte  Allgemehies  waren,  allgemeine  Wahrhei- 
ten und  sichert  vor  dem  Absurden.  Da  aber  Wörter  und  Sätze 
das  Werk  des  Menschen  sind,  so  hat  man  ein  wirkhches  Wissen 
nur  hinsichtlich  dessen,  was  man  selbst  gemacht  hat,  und  dies 
ist  einer  der  Gründe,  warum  flohhea  die  Geometrie  über  alle  Wis- 
senschaften stellt,  ja  oft  fast  als  einzige  ansieht  (De  hom.  c.  10. 
De  corp.  c.  30). 

3.  Natürlich  erscheint  hier  als  erste  Aufgabe  die  genaue  Be- 
stimmung der  Bedeutung  der  Wörter.  Verständlichkeit  derselben 
ist  das  eigentliche  Licht  des  Verstandes  und  verständliche  Defini- 
tionen sind  der  Anfang  alles  Räsonnements  (Leviath.  c.  5).  Der  In- 
begriff der  Definitionen  aller  der  Wörter,  deren  man  sich  in  al- 
len Wissenschaften  bedient,  bildet  bei  llohhcs  die  pinlosophia 
priiud.  Es  ist  darum  eigentlich  nicht  richtig,  wenn  er  diesell)e 
in  seiner  Schrift  de  corpore  abhandelt  (c.  7  — 14)  uud  in  der  sche- 
matischen Uebersicht  aller  Wissenschaften  (Leviath.  c.  9)  ausdrück- 
lich der  natirnil  pliUosophy  zuweist.  Da  ohne  sie  sogar  die  ganze 
Eintheilung  des  Systems  als  rein  zufällig  erscheint,  so  hätte,  mehr 
als  dies  jetzt  geschieht,  hervorgehoben  werden  müssen,  dass  die 
erste  Philosophie  die  gemeinschaftliche  Grundlage  aller  Wissen- 
schaften ist.  Die  wichtigsten  Capitel  sind  hier  die  drei  ersten 
(De  corp.  7.  8.  9),  welche  von  Raum  und  Zeit,  Körper  und  Acci- 
dens,  Ursache  und  Wirkung  handeln.  Ausser  ihnen  verdient  be- 
sonders der  Abschnitt  über  Quantität  (c.  12)  Beachtung.  Denkt 
man  sich,  um  das  Universum  aus  Principien  zu  entwickeln,  für 
den  Augenblick  Alles  uns  Gegenüberstehende  weg,  so  bleibt  doch 
die  Erinnerung  des  uns  Gegenüber  gestanden  habens,  oder  Aus- 
ser uns  gewesen  seyns;  dieses   Ausser  uns  seyn  nennen    wir 

Krdmaiu).  (iescli    d.  Phil.  i.  ^9 


610  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Raum,  unter  dem  also  ein  inuujbwr'uim  zu  verstelin  ist  oder  das 
blosse  phanidsma  rel  p.risfenifs  (jvaicuifs  exislenils.  Ganz  eben 
so  hinterlcässt  die  Erinnerung  der  früher  wahrgenommenen  Bewe- 
gungen in  uns  das  phantasma  der  Bewegung,  sofern  sie  Succes- 
sion  ist,  d.  h.  die  Zeit,  von  der  Ifobbes  zugibt,  dass  bereits  jlrl- 
sfofelps  sie  so  (subjectiv)  gefasst  habe.  Eine  Menge  unnützer  und 
nicht  zu  entsclieidender  Fragen,  wie  nach  Unendlichkeit  und  Ewig- 
keit der  Welt,  meint  er  seyen  nur  entstanden,  weil  man  Raum 
und  Zeit  als  etwas  an  den  Dingen  Haftendes  ansah.  War  einmal 
die  Räumhchkeit  als  das  bestimmt,  ohne  welches  es  keine  Gegen- 
ständlichkeit gibt,  so  ist  es  kaum  eine  Folgerung  zu  nennen,  wenn 
weiter  gelehrt  wird,  dass  alles  Gegenständliche  ein  Räumliches 
oder  ein  Körper  ist,  dem  wir,  weil  es  unabhängig  von  uns  ist, 
Subsistenz  beilegen,  und  das  wir,  weil  es  dem  Theile  jenes  (imagi- 
nären) Raumes  mit  dem  es  coincidirt  unterliegt,  supposltmn  oder 
snbjectnm  nennen.  Die  Grösse  oder  Ausdehnung  eines  Körpers, 
das  was  man  wohl  seinen  realen  Raum  genannt  hat,  bestimmt, 
welchen  Theil  des  (imaginären)  Raums  oder  welchen  Ort  er  ein- 
nimmt. Beide  unterscheiden  sich  wie  Wahrgenommenes  und  Erin- 
nerungsbild desselben.  Die  Bewegung  oder  Ortsveränderung,  ver- 
möge der  der  Körper  nie  an  einem  einzigen  Ort  sich  befindet, 
denn  dies  wäre  Ruhe,  bringt  ihn,  wie  die  Grösse  unter  die  Gewalt 
des  Raumes,  so  unter  die  der  Zeit.  Es  folgt  dies,  wie  Hobbes 
selbst  sagt,  aus  seiner  Definition  der  Zeit.  Auf  die  verschiedenen 
Bewegungen  kommt  nun  Alles  hinaus,  was  wir  Accidcnzien  der 
Dinge  nennen,  von  welchen  dasjenige,  nach  dem  wir  den  Körper 
nennen,  sein  Wiesen  heisst.  Xennt  man,  wie  das  zu  geschehen  pflegt, 
dieses  Hauptaccidens  Form,  so  wird  das  Substrat  oder  die  Substanz 
den  Namen  Materie  bekommen,  der  also  nur  dasselbe  besagt,  wie : 
Körper.  Wird  Körper  gedacht  und  dabei  von  aller  Grösse  abstra- 
hirt,  so  gibt  dies  den  Gedanken  der  maier ia  prima,  dem  zwar 
nichts  Reales  entspricht,  der  aber  für  das  Denken  unentbehrlich 
ist  (c.  8).  Es  schliesst  sich  hieran  die  Reduction  der  Begriffe 
Kraft  und  Ursache  auf  den  des  Bewegenden,  der  Aeusserung  und 
Wirkung  auf  den  des  Bewegten,  wobei  das  grösste  Gewicht  darauf 
gelegt  wird,  dass  nur  Bewegtes  und  Berührendes  bewegen  kann, 
so  dass  der  scholastische  Begi'iff  eines  unbewegten  Bewegenden, 
und  die  Aimahme  einer  Wirkung  in  die  Ferne  gleich  widersinnig 
seyen.  Da  nun  alle  Accidenzien  oder  Qualitäten  der  Dinge  Wir- 
kungen derselben  auf  unsere  Sinne  waren,  so  kann  die  wissen- 
schafthche  Betrachtung  ihres  Wesens,  d.  h.  ihrer  Hauptaccidenzien, 
nur  ihre  Bewegungen  zum  Gegenstand  haben  (c.  13),  und  die  Pili- 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtsphilosoplieii     d.  Naturalistische.    §.  256,  3.  4.    611 

losophie  hat  es  lediglich  mit  dem  Körperlichen  als  dem  allein  Exi- 
stirenden  zu  thiiii.  Dem  Einwand,  dass  es  doch  Geister  gebe,  be- 
gegnet er  damit,  dass  unkörperliche  Substanzen  viereckige  Cirkel 
seyen  (u.  A.  Human  nature  c.  11);  dem  weiteren,  dass  doch  Gott 
existire,  stellt  er  entgegen,  dass  Gott  kein  Object  des  Wissens 
und  der  Philosophie  (u.  A.  Leviath.  c.  3),  abgesehn  davon,  dass 
sehr  fromme  Männer  Gott  Körperlichkeit  beigelegt  haben  (Answ.  to 
bish.  Bramh.  p.  43«).  Also  Philosophie  ist  Körperlehre.  Nun  aber 
gibt  es  natürliche  und  künstliche  Körper,  und  da  unter  den  letz- 
teren der  Staat  die  höchste  Stelle  einnimmt,  so  zerfällt  die  Phi- 
losophie in  nntaral  und  civil  philosoplni  (Politics),  jene  handelt 
de  corpore  diese  de  ciritate.  (Leviath.  c.  9.  Table.)  Die  Lehre 
vom  Menschen,  welcher  höchstes  Naturwesen  und  wieder  erster 
Bestandtheil  und  Urheber  des  Staates  ist,  wird  bald  (de  corp.  J) 
dem  zweiten,  bald  (Leviath.  9.  Table)  dem  ersten  Theile  zuge- 
wiesen. Beides  offenbar,  weil  Hohhes  von  der  Vorstellung  der 
Scholastiker  nicht  loskommt,  dass  die  Eintheilung  dichotomisch 
seyn  müsse.  Hätte  er  inmier  festgehalten,  was  er  in  seiner  ersten 
Schrift  erklärt,  dass  die  Philosophie  in  drei  theilen  de  corpore, 
de  homine,  de  clrilafe  handle,  Etwas  was  am  Schluss  seines  Le- 
bens, in  dem  Fingerzeig,  den  er  seinem  Verleger  für  die  Anord- 
nung seiner  Werke  gab,  bestätigt  wird,  so  wäre  es  ihm  nicht  ge- 
schehen, dass  in  der  Uebersichtstafel  aller  Wissenschaften  im  neun- 
ten Capitel  des  Leviathan  die  Bau  -  und  Schifffahrtskunst  zwischen 
die  Astronomie  und  Meteorologie,  und  getrennt  von  dem  zu  stehn 
gekommen  wäre,  was  die  übrigen  Artefacta  des  Menschen  betrifft. 
Auf  die  philosophia  prima  folgen  also  die  Physik,  Anthropologie 
und  Politik  als  die  drei  Theile,  in  welche  die  Philosophie  zerfällt. 
4.  In  der  Physik  beschäftigt  er  sich  mit  Vorliebe  mit  dem 
Theil,  der  mehr  angewandte  Mathematik  ist.  Neun  Capitel  der 
Schrift  de  corpore  (c.  15—24)  betrachten  die  raliones  motunm  et 
magiiitudiiuim,  d.  h.  die  Gesetze  der  gradlinichten  und  kreisförmi- 
gen Bewegung,  der  gleichförmigen  und  beschleunigten  Geschwin- 
digkeit, der  Reflexion  und  Refraction,  wobei  der  Begriff  des  punc- 
iiim  (unendlich  kleines)  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen  hat.  Den 
Ruhm,  den  er  für  diese  Partie  in  Anspruch  nimmt,  Alles  streng 
bewiesen  zu  haben,  ambirt  er  nicht  für  den  Theil,  den  er  selbst 
Physica  nennt,  wo  er  es  mit  dem  Qualitativen  zu  thun  hat,  und 
welcher  darauf  ausgeht  die  Phänomene  der  Natur  durch  angenom- 
mene Hypothesen  zu  erklären  (c.  25  —  30).  Er  erkennt  sich  als 
dankbaren  Schüler  des  Copeniicns  und  Kepler,  seit  denen  es 
erst  eine  Astronomie,   GalUeVs,  seit  dem  es  erst  eine  allgemeine 

39* 


612  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uehergang). 

Physik,  ganz  besonders  aber  flarrey's,  seit  dem  es  eine  Wissen- 
schaft vom  Lebendigen  gebe.  Er  erklärt  am  Schhiss  seiner  Physik, 
jede  seiner  Hyothesen  aufgeben  zu  wollen,  freilich  nicht  gegen  die 
Träume  der  Scholastiker  von  substanziellen  Formen  und  verborge- 
nen Qualitäten,  sondern  gegen  einfachere  als  die  seinigen,  und 
die  eben  so  Avenig  wie  diese  gegen  die  Priiicipien  der  philosophia 
prima  streiten.  Diese  Principien  fordern  nun,  dass  das  die  Erde 
in  Bewegung  setzende  Centrum  unseres  Planetensystems  selbst  als 
(in  einem  kleinen  Kreise)  bewegt  gedacht  werde,  ferner  dass  die 
Bewegimg  der  Planeten  nicht  durch  Wirkung  in  die  Ferne  sondern 
als  durch  den,  zwischen  ihnen  und  der  Sonne  liefindlichen ,  an 
sich  ruhigen,  Aetlier  vermittelt  erklärt  werde.  Nimmt  man  dabei 
Rücksicht  auf  die  Wasser-  und  Festland  -  hälfte  der  Erde,  so  lässt 
sich  die  von  Kepler  behauptete  elliptische  Bahn  der  Erde,  und  las- 
sen sich  die  Nutationen  der  Erd-axe  construiren.  Eben  so  wird  man 
mit  Kepler  die  anziehende  Kraft  der  Sonne  mit  der  des  Magnets 
zusammenstellen  können,  ohne  eine  Wirkung  in  die  Ferne  anzu- 
nehmen, und  wird  zugleich  erklären  können,  warum  der  Magnet 
sich  stets  nach  Norden  richtet.  Man  hat  dal)ei  nur  festzuhalten, 
dass  seine  anziehende  Kraft  nur  in  der  stetigen  Bewegung  seiner 
kleinsten  Theilchcn  besteht,  die  sich,  durch  ein  Medium  natürlich, 
dem  Eisen  mittheilt  und  deren  Ptichtung  der  Erdaxe  parallel  ist. 
Nicht  nur  bei  den  empfindungslosen,  sondern  auch  bei  den  sinn- 
begabten Wesen,  sind  alle  Erscheinungen  nur  verschieden  compli- 
cirte  Bewegungen.  IJurcey  hat  bewiesen,  dass  das  Leben  im  Blut- 
umlauf, der  Tod  im  Aufhören  desselben  besteht.  Das  Herz,  das 
dabei  als  Druckwerk  dient,  wird  selbst  in  Bewegung  gesetzt  durch 
gewisse  mit  der  Luft  eingeathmete  Körperchen,  welche  der  Orga- 
nismus behält,  so  dass  die  ausgeathmete  Luft  nicht  mehr  diese 
belebende  Wirkung  zeigt  (de  hom.  c,  l).  Wie  das  Leben  so  ist 
auch  das  Empfinden  eine,  sehr  complicirte,  Bewegung.  Das  Sehen 
z.  B.,  mit  dem  sich  Ihhhes  am  Meisten  beschäftigt  und  dem  er 
neun  Capitel  (1 — 9)  seiner  Schrift  de  hominc  gewidmet  hat,  kommt 
so  zu  Stande,  dass  die  Sonne,  oder  auch  die  Flamme,  d.  h.  der 
eigenthümlich  sich  bewegende  (brennende)  Körper,  den  sie  umge- 
benden ruhenden  Aether  in  Bewegung  setzt  und  die  Unruhe  (fer- 
mentuüo),  in  die  er  geräth,  die  Netzhaut,  diese  aber  wieder  ver- 
möge der  in  den  Nerven  befindlichen  feinen  Materie  (spirits)  das 
Gehirn  bewegt,  von  wo  sich  die  Bewegung  auf  den  eigentlichen 
Grund  der  Empfindung,  weil  von  da  die  Reaction  ausgeht,  das 
Herz,  fortpflanzt.  Weil  diese  von  Innen  nach  Aussen  gehende 
Reaction  die  Empfindung  blau  u.  s.  w.  hervorbringt,  deswegen  kann 


II  Die  Weltweiäeii      C.   Eechtsphilosophen.    d.  Naturalis^tiscLe.    §.  256.  4.  3.    blö 

dieselbe  aucli  ohne  äussere  Einwirkung  im  Traum  u.  s.  w.  eiit- 
stelin.  Ganz  Aelmliches  wie  vom  Sehen  lasse  sich  vom  Hören, 
Tasten  u.  s.  w.  nachweisen.  Alles  dies  gilt  vom  Tliier  nicht  min- 
der wie  vom  ]\Ien5chen,  daher  werden  in  der  Febersichtstafel  der 
Wissenschaften  die  Optik  und  ^lusik  (d.  h.  Akustik)  zu  den  Wis- 
senschaften gerechnet,  welche  die  (iiümals  in  gener al  betreifen. 
Erst  die  Untersuchungen,  mit  welchen  das  folgende  Capitel  der 
Schrift  de  homiue  sich  beschäftigt,  rechnet  jene  Uebersicht  zur 
Wissenschaft  vom  Menschen  insl)esondere. 

5.  Die  Anthropologie  anlangend,  so  sind  die  theoretischen 
Vorzüge  des  Menschen  vor  dem  Thier,  die  Sprache  und  die  Wis- 
senschaft (de  hom.  c.  10)  bereits  oben  sub  2  erörtert.  Es  kom- 
men hier  also  nur  die  Untersuchungen  über  das  praktische  Ver- 
halten des  Menschen  in  Betracht,  die  de  hom.  c.  11  — 15  ange- 
stellt und  in  der  Uebersichtstafel  des  Leviathau  unter  den  Namen 
Ethivs  zusammengefasst  sind.  Was  das  Verhältniss  des  Theore- 
tischen und  Praktischen  betrifft,  so  ordnet  er  jenes  entschieden  die- 
sem unter.  Obgleich  er  manclimal  die  Seligkeit  des  Wissens  preist, 
so  besinnt  er  sich  doch  immer  ^^1eder  und  verwii-ft  das  Wissen 
um  des  Wissens  willen;  sein  Zweck  sey  der  allgemeine  Nutzen. 
Selbst  seine  Lieblingswissenschaft  die  Geometrie  nmss  sich  gefal- 
len lassen,  besonders  gepriesen  zu  werden,  weil  sie  lehrt  Maschi- 
nen l)auen.  Neben  der,  durch  Einwirkung  der  Objecte  hervorge- 
rufenen Reaction,  welche  die  Empfindung  erzeugte,  geht  eine  an- 
dere, welche  in  dem  Bestreben  Lust  zu  empfinden,  Unlust  los  zu 
werden  besteht,  appetUvs  und  [''(ja.  Von  der  ersten  Regung  der- 
selben, d.  h.  der  kleinsten  und  innerlichsten  Bewegung  (conntirs, 
endedvovr)  bis  zur  heftigsten  zum  Ausbruch  kommenden  (anind 
perfirrbiilio)  gibt  es  eine  Stufenfolge,  die  ffobbes  ziemlich  genau 
beschreibt,  und  in  der  jene  beiden  Bewegungen  verschiedene  Na- 
men bekommen.  Das  Abwechseln  verschiedener  Begehrungen  heisst 
Ueberlegung  (de'iberafioj;  was  man  bei  diesem  Abwechseln  zu- 
letzt begehrt,  das  will  man.  Der  Wille,  der  nicht  die  Fähigkeit, 
sondern  der  Act  des  Wollens  ist,  ist  also  die  letzte  der  Ausfüh- 
rung vorausgehende  Regung.  Weder  das  Begehren  noch  das  Ver- 
al)schcuen  kann  frei  genannt  werden ;  schon  deshalb  nicht,  weil  es 
Wirkung,  zunächst  der  Eindrücke,  später  der  Zeichen  und  Worte, 
und  also  passives  Bewegtwerden  ist.  Dann  aber,  weil  es  ein  lo- 
gischer Fehler  ist,  das  Wort  frei,  das  nur  bei  Subjecten  d.  h. 
Körpern  einen  Sinn  hat,  einem  Accidens  oder  einer  Bewegung,  wie 
das  Begehren  oder  der  Wille  ist,  beizulegen.  Nur  beim  Thun  des 
Gewollten  ist  man  frei,  den  Willen  aber  will  man  nicht  (u.  A.  Le- 


614  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (UehergaDg). 

viath.  c.  21).    Worauf  das  Begehren  geht  nennt  man  gut,   worauf 
das  Verabscheuen:  übel.     Bonmn ,  jucundum^  pu/c/irmif,  utile  be- 
deutet daher  ganz  Gleiches ,   d.  h.  -  eine  Beziehung  zu  einem  be- 
stimmten Subject;   Verschiedenen  ist  Verschiedenes  gut  oder  be- 
gehrungswerth.     Bomim   simpllciler  dici  non  polest.    Für  Jeden 
aber  gibt   es  ein  höchstes  Gut,   das  ist  die  Erhaltung  der  eignen 
Existenz,  und  ein  höchstes  Uebel,  das  ist  der  Tod.    Jene  zu  su- 
chen,  zu  schützen   und  durch  Befreiung   von   allen  Schranken  zu 
wahren,  diesen  abzuwehren  ist  daher  das  höchste  Gesetz  der  Na- 
tur.   Denkt  man  sich  nun  mehrere  Menschen  zusammen,   so  sind 
sie,   da  auch  der  Schwächste  und  Dümmste   dem   Stärksten  und 
Klügsten  sein  höchstes  Gut,   das  Leben,  nehmen  kann,  offenbar 
an  Stärke,  Verstand,  Erfahrung  einander  nahezu  gleich.    Eben  so 
darin,  dass  Jeder  eben  so  gut  wie  der  Andere  thun  kann  was  er 
will,   sind  sie  alle  gleich  frei.    Die  Folge   dieser  Gleichheit  kann 
nur  seyn  gegenseitige  Furcht,  beiderseitige  Schutzversuche,  kurz 
Krieg  Aller  gegen  Alle,   dessen  bester  Ausdruck  ist  I/omo  hom'mi 
Ivpus  (De  cive  I,  1.  3.  11.   Epist.  dedic).   Es  wäre  nun  ein  Wi- 
derspruch in   sich,   wenn  der  Mensch,   dem  die  Natur  vorschrieb 
sich  zu  sichern ,  in  diesem  Zustande  verharrte ,  und  weil  für  den 
Einzelnen  die  Selbsterhaltung,  so  ist  für  eine  Summe  von  Einzel- 
nen Sicherheit,  d.  h,  Frieden,   zu  suchen  das  erste  Naturgesetz 
(II,  2),   woraus  sich  weiter  ergibt,   dass,  was  als  unerlässliche 
Friedensbedingung,   damit  als  ein  Grundgesetz  der  Natur  darge- 
than  ist  (I,  15.  1).    Sowol  in  der  Schrift  de  cive  (cap.  3)  als  im 
Leviathan  (c.  16)   werden,   dort   zwanzig  hier  neunzehn,   solche 
Fundamentalgesetze  aufgestellt,   die  sich  als  Folgerungen  aus  je- 
nem Naturgesetz  ergeben,  indem,  wenn  Verträge  nicht  gehalten, 
wenn  Dankbarkeit  nicht  geübt  u.  s.  w.,  jener  erste  Zweck  verfehlt 
würde.    Zum  Schluss  gibt  er  als  einfachste  Regel  zu  finden,  was 
zu  thun,  diese  an:  Man  frage  sich  stets,  wie  man  wünsche,  dass 
die  Andern  gegen  uns  handeln  mögen.    Da  mit  der  natürlichen 
Freiheit  Aller,   zu  thun  was  Jedem  beliebt,   die  Sicherheit  unver- 
einbar ist ,  so  bleibt  nur  übrig,  dass  Jeder  auf  diese  Freiheit  ver- 
zichtet unter  der  Bedingung,  dass  die  Andern  dies  auch  thun. 
Dieser  Vertrag  ist  darum  nicht,  wie  man  (d.  h.  Aristoteles.  Gro- 
tius)  gesagt  hat,  eine  Folge  des  Geselligkeitstriebes  oder  der  Liebe 
zu  seinen  Genossen,   sondern  lediglich  der  Furcht  und  der  Sorge 
für  den  eignen  Nutzen  (de  cive  II,  4.  I,  2).   Da  ein  solcher  Ver- 
trag ein  Widersinn  wäre  ohne  die  Sicherheit,   dass  die  Anderen 
an  der  Verletzung  desselben  durch  Furcht  verhindert  seyn  werden 
(V,  4),   so  ist  er  nur  so  möglich,    dass  die  bisherige  Macht  und 


II.  Die  Weltweibeii.     C  Recbt!*pliilosoplien.    d.  Naturalistische.    §.  256,  5.  6.    61ö 

Freiheit  Aller  Einem  (Menschen  oder  CoUegium)  übertragen  wird, 
unter  dem  nun  Alle  stehn,  und  der  anstatt  ihrer  will  und  kann 
(V,  8).  Durch  diesen  Unterworfungsact ,  durch  welchen  an  die 
Stelle  der  bisherigen  Freiheit  die  Herrschaft  (iinpcrlnm ,  domi- 
niiitfij  tritt,  wird  aus  der  bisherigen  blossen  Summe  (niulütiido) 
eine  wirkliche  Einheit,  eine  Person  die  ihren  Willen  hat  (V,  11). 
Ist  diese  Unterwerfung  eine  von  Xatur  gesetzte,  nur  auf  Gewalt 
gegründete,  so  hat  man  patriarchalische  Herrschaft,  wie  sie  uns 
in  der  elterlichen  Gewalt  entgegentritt,  und  in  der  Herrschaft  über 
Sklaven.  Ist  sie  dagegen  eine  selbstgewollte  und  vertragsmässige 
(insiifi/llrd).  dann  hat  man  einen  Staat  (cirUasJ.  die  Verbindung, 
in  welcher  der  Naturzustand,  in  dem  der  Mensch  frei  und  darum 
/omo  I/omii/i  Inpiis  gewesen  war,  dem  der  Gebundenheit  Platz  ge- 
macht hat,  in  welcher  Isomo  'loin'mi  Dens  wird.  (De  cive.  Epist. 
dedic.) 

G.  Die  Lehre  vom  Staat  betrachtet  das  Artefact,  welches 
die  höchste  Stelle  einnimmt,  denn  wenn  der  Mensch  in  seinen 
Automaten  das  Lebendige  wiederholt,  so  bringt  er  im  Staat  einen 
Menschen  im  Grossen  hervor,  ein  Werk  das  mit  jenem:  Lasset 
uns  Menschen  machen!  parallelisirt  werden  kann  (Leviath.  Introd.) 
Eben  weil  der  Staat  Werk  des  Menschen,  gibt  es  von  ihm  eine 
demonstrative  Wissenschaft,  obgleich  mau  gestehn  muss,  dass,  ehe 
die  Schrift  de  cive  geschrieben  war,  auch  nicht  einmal  ein  Ver- 
such zu  einer  solchen  existirt  hat.  (De  hom.  10,  .3.  de  corp.  Ep. 
dedic.)  Der  Staat  ist  wesentlich  von  der  Menge  verschieden,  und 
es  ist  ein  Unglück,  dass  das  Wort  "S'olk,  welches  dem  ersteren 
synonym,  von  Vielen  zur  F)ezeichnung  der  Menge  gebraucht  wird 
(De  cive  (3,  1).  Da  bloss  durch  das  siimmum  unperiitm  die  Menge 
zu  einem  Volke,  d.  h.  zu  einer  Person  mit  einem  Willen  wird,  so 
ist  der  Herrscher  nicht  mit  dem  Haupt,  sondern  mit  der  Seele 
eines  Körpers  zu  vergleichen  (Ebend.  6,  19),  ja  der  Souverain  ist 
das  "N^olk  und  die  unter  ihm  stehenden  dürfen  sich  nicht  Volk, 
sondern  müssen  sich  Ljiterthanen  irennen  (12,  8).  Indem  in  dem 
Urvertrage  Alle  sich  ihrer  Macht  und  ihres  Willens  entäussert  ha- 
ben, stehen  sie  dem  Staate  gegenüber  machtlos;  er  ist  der  Le- 
viathan  der  sie  alle  verschlingt  oder,  um  ehrfurchtsvoller  zu  spre- 
chen, der  sterbliche  Gott,  der,  dem  unsterbHchen  ähnlich,  nach 
seinem  Wohlgefallen  schaltet  und  dem  wir  Friedeh  und  Sicherheit 
danken  (Leviath.  c.  17).  Erst  im  Staate  und  durch  ihn  gibt  es 
ein  Mein  und  Dein,  da  im  Naturzustande  Jeder  Alles  als  das  Sei- 
nige ansah  und  darum  Keiner  es  als  das  Seinige  hatte  (de  cive 
6,  5).  Da  Angriff  gegen  das  Eigenthum  Unrecht,  I'reiheit  sich  da- 


616  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uehergang). 

gegen  zu  wahren  Recht  ist,  so  gibt  es  Recht  und  Unrecht  eigent- 
lich nur  im  Staat.  Im  Naturzustande  fällt  Macht  und  Recht  zu- 
sammen. Im  Staat  dagegen  ist  Unrecht  was  der  Souverain  ver- 
bietet, Recht  was  er  erlaubt.  Die  GeAvohnheit  ist  eine  Quelle  des 
Rechts  nur  in  sofern  als  der  Souverain  geduldet  hat,  dass  Etwas 
zur  Gewohnheit  wird  (Leviath.  c.  29).  Die  Gesetze  des  Staats 
können,  da  er  die  Sicherheits-  und  Friedensanstalt  ist,  mit  dem 
Grundgesetz  der  Natur,  den  Frieden  zu  suchen,  und  den  Folge- 
rungen daraus,  nicht  streiten,  dagegen  der  natürlichen  Freiheit 
zu  Allem  treten  sie,  als  dieselbe  beschränkend,  entgegen.  Ueber- 
haupt  ist  es  eine  grosse  Verwirrung,  wenn  man  anstatt  die  Be- 
griife  von  lex  und  jks  als  entgegengesetzte  zu  nehmen,  sie  als 
Eins  nimmt.  Je  nachdem  die  Souverainetät  ausgeübt  wird  durch 
Stimmenmehrheit,  durch  Wenige  oder  durch  Einen,  je  nachdem 
ist  der  Staat  Demokratie,  Aristokratie  oder  Monarchie.  Wer  sie 
schelten  will  pflegt  anstatt  dessen  Ochlokratie,  Oligarchie,  Des- 
potie zu  sagen.  Da  der  Vertrag,  durch  welchen  der  Staat  erst 
wurde,  einer  war  in  dem  die  Mehrheit  die  dissentirende  Minder- 
heit zwang,  so  kann  man  sagen,  die  Demokratie  ist  der  Zeit  nach 
allen  Staatsformen  vorausgegangen  (De  cive  7,  1.  7).  Sonst  muss 
auf  die  Frage:  welche  die  beste  dieser  Formen?  geantwortet  wer- 
den: die  gerade  bestehende  (Leviath.  c.  42).  Hobbcs  wird  es  nicht 
müde  auszusprechen,  dass  jeder  Versuch,  eine  Staatsform  zu  än- 
dern, ganz  wie  der  Verjtingungsversuch  der  Peliaden  endige.  Wel- 
che dieser  Formen  aber  in  einem  Staate  die  bestehende  sey,  bei  je- 
der hat  der  Souverain  das  unbedingte  Recht  zu  befehlen,  der  Un- 
terthan  die  unbedingte  Pflicht  zu  gehorchen,  und  dies  Verhältniss 
kann,  da  ja  nicht  der  Einzelne  mit  dem  Staat  den  Vertrag  abge- 
schlossen hat,  nur  so  aufhören  dass,  wie  bei  dem  Urvertrage,  alle 
Einzelnen,  also  der  Souverain  mit,  erklären  sie  wollten  in  den 
Natur  oder  Kriegszustand  zurückkehren  (De  cive  6,  20).  Ein  Ueber- 
rest  des  Naturzustandes  ist  der  Krieg,  welchen  auch  wo  er  straft  der 
Staat  gegen  den  Angreifer  führt.  Sein  Zweck  dabei  ist,  den  Wi- 
derstand den  er  findet  zu  brechen,  daher  den  Verbrecher,  oder 
wenigstens  andere  zu  bessern  (Leviath.  c.  28).  Ueberhaupt  darf 
man  keinen  Unterschied  machen  zwischen  dem  natürlichen  Recht 
der  Menschen  und  der  Völker.  Das  sogenannte  Völkerrecht  ist 
das  Recht,  dessen  Subject  nicht  eine  Einzelperson,  sondern  ein 
Volk  ist,  eine  moralische  Person,  (de  cive  14,  4.  5.)  Da  erst  der 
Staat,  d.  h.  der  Souverain  dem  Unterthan  Rechte  gibt,  so  ver- 
steht sichs  von  selbst,  dass  weder  jener  diesem  Unrecht  thun 
kann,  noch  umgekehrt  dieser  jenem  gegenüber  Rechte  hat  (De  cive 


II.  Die  Weltweisen.    C.  Rechtsphilosophen,    d.    Naturalistische.    §.  256,  f..  7    617 

7,  14).  Es  sind  aber  gegenwärtig  überall  einige  Grundsätze  ver- 
breitet, eben  so  falsch  wie  staatsgefährlich,  zu  deren  Ausrottung 
der  Staat  Alles  thun,  namentlich  aber  dafür  sorgen  muss,  dass 
auf  den  Schulen  und  Universitäten  nicht  die  Lehre  des  Aristote- 
les Alles  beherrsche,  dessen  Politik  das  gefährlichste  Buch  ist, 
■wie  seine  Metaphysik  das  al)surdeste  (Leviath.  c.  46).  Der  weit 
verbreitete  Irrthum,  dass  man  Eigenthum  besitze,  das  der  Sou- 
verain  nicht  antasten  dürfe,  vergisst,  dass  Eigenthum  nur  im 
Staat,  d.  h.  durch  den  Souverain  existirt;  der  nicht  minder  weit 
verbreitete  Wahn,  dass  der  Souverain  unter  Gesetzen  stehe,  be- 
denkt nicht,  dass  nur  sein  AVille  Gesetz  ist;  von  dem  dritten  Irr- 
thum, dass  die  Gewalt  im  Staat  getheilt  seyn  müsse,  hat  der 
einzige  Bodin  eingesehn,  dass  dies  den  Staat  zerstöre;  einen  vier-  - 
ten,  nach  welchem  mau  das  Volk  oder  auch  die  Yolksrepräsen- 
tauten  dem  Souverain  gegenüber  stellt,  als  wäre  er  nicht  der  ein- 
zige Repräsentant  des  Volkes,  ja  das  Volk  selbst  (Leviath.  c.  22), 
danken  wir  ganz  besonders  dem  Aristoteles .  der  in  seiner  Vor- 
liebe für  republikanische  Staatsformen  behauptet ,  nur  bei  ihr  werde 
das  Wohl  der  Regierten,  dagegen  in  der  Monarchie  das  des  Re- 
gierenden zum  Principe  gemacht.  Dies  ist  ganz  falsch,  in  jeder 
Staatsform  ist  das  Wohl  des  Volks,  d.  h.  des  Staats  das  aller- 
höchste Gesetz  (De  corp.  polit.  II,  8.  5).  Kein  Irrthum  aber  ist 
so  gefährlich  als  der,  dass  der  Unterthan  nicht  gegen  sein  Ge- 
>vissen  handeln,  und  dariun  wo  dieses  ihm  Etwas  verbietet,  dem 
Befehl  des  Souverains  nicht  gehorchen  dürfe.  Als  wenn  nicht  das 
Gewissen  vielmehr  antreiben  müsste,  den  auf  den  Frieden  gehen- 
den L^rvertrag  zu  halten  (De  corp.  polit.  II,  6),  und  als  wenn 
nicht  für  das ,  was  auf  Befehl  geschieht ,  einzig  und  allein  der  Be- 
fehlende einstünde  (Leviath.  c.  29  u.  16).  Eins  gi1)t  es  freilich, 
worin  man  nicht  zu  gehorchen  braucht,  dies  aber  ist  das  Ein- 
zige: Sich  selbst  zu  tödteu  ist  Keiner  verpflichtet,  da  ja  Selbst- 
erhaltung der  Zweck  der  Staatenbildung  gewesen  war  (Leviathau 
c.  21). 

7.  Da  die  saatsgefährliche  Lehre  von  der  Berechtigung  der 
Privatül)erzeugung  einen  starken  Halt  daran  hat,  dass  die  Reli- 
gion mit  ins  Spiel  gezogen  wird,  so  spricht  sich  Uobhcs  sehr 
ausführlich  über  sie,  namentlich  über  die  christliche  aus,  sowie 
über  die  Kirche  im  mittelalterlichen  Sinne.  Bei  de  cive  cap.  15 — 
17  und  Leviath.  c.  32  —  47,  die  ganz  diesem  Gegenstande  gewid- 
met sind,  muss  man  stets  bedenken,  dass  ein  Glied  der  engli- 
schen Landeskirche  redet:  Von  den  beiden  Wegen,  auf  welchen 
Gott  sich  dem  Menschen  vernehmlich  macht,   der  gesunden  Ver- 


618  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

nunft  und  der  Offenbarung  durcli  seine  Propheten,  führt  schon 
der  Erstere  dazu,  die  (lediglich)  auf  die  Allmacht  der  Weltursache 
gegründete  Ehrfurcht  durch  äussere  Zeichen ,  Worte  und  Handlun- 
gen, unter  welchen  letzteren  der  Gehorsam  gegen  die  Gebote  der 
Natur  die  erste  Stelle  einnimmt,  zu  äussern  (Leviath.  c.  31).  In 
diesem  Cultus  besteht  die  Religion  (de  hom.  c.  14).  Der  Staat 
zeigt,  dass  er  Eine  Person  ist  so,  dass  er  den  Personen,  aus  wel- 
chen er  besteht,  gebietet  ihren  Cultus  öffentlich  und  gleichförmig 
zu  üben.  Je  mehr  die  Erfahrung  lehrt,  dass  nichts  den  Frieden 
so  stört,  wie  Differenzen  in  diesem  Punkte,  um  so  weniger  darf 
sich  der  Staat  darauf  einlassen ,  dass  ihm,  wie  man  das  ausdrückt, 
nur  das  weltliche,  nicht  das  geistliche  Scepter  zukomme.  Die, 
aus  der  Souverainetät  folgende  geistUche  Macht  des  Staats,  ver- 
möge der  der  Souverain  den  Cultus  vorschreibt,  soll  nun,  wie  die 
Leute  meinen,  unvereinbar  seyn  mit  einer  durch  Propheten  geoffen- 
barten Religion ,  obgleich  doch  Christus  nirgends  den  Königen  pro- 
phezeiet liat,  dass  sie  durcli  Uebertritt  zum  Christenthum  an 
Rechten  und  an  Macht  einbüssen  würden  (Leviath.  c.  49).  "Viel- 
mehr muss  gerade  das  Gegentheil  gesagt  werden.  Die  Geschichte 
des  Alten  Bundes  zeigt  eine  vollständige  Verschmelzung  dev  geist- 
lichen und  weltlichen  Macht  in  Mose.  .Josita.  später  den  Königen, 
welchen  nur  in  einzelnen  Fällen  die  Propheten  sie  zu  kürzen  ver- 
suchen (Leviath.  c.  40).  Was  aber  Clirisium  betrifft,  unseren  Kö- 
nig, so  wird  er  dies  doch  nur  durch  die  vollbrachte  Versöhnung, 
ist  es  also  vor  seinem  Tode  nicht;  ferner  sagt  er  selbst,  das 
Reich,  dessen  König  er  sey,  sey  nicht  von  dieser  Welt,  es  werde 
erst  beginnen,  wenn  er  kommen  wird,  um  die  könighche  Funktion 
zu  übernehmen  in  dem  Reich,  in  welchem  die  Gläubigen  ewig  le- 
ben sollen.  Bis  dahin,  fordert  er,  sollen  wir  uns  auf  jenes  Reich 
vorbereiten,  indem  wir  die  Gesetze  des  bestehenden  Staates  be- 
folgen (c.  41).  So  Clivisliis.  Gerade  wie  Gott  sich  in  Mose  als 
eine  Person,  in  Christo  als  zweite  Person  gezeigt  hat,  gerade  so 
im  heiligen  Geiste,  d.h.  den  Aposteln  und  ihren  Nachfolgern  als 
dritte.  (Persona  ganz  wie  im  Drama  genommen.)  Durch  die  Haud- 
auflegung  wird  bei  diesen  das  Amt  C//risli,  für  das  künftige  Reich 
durch  die  Predigt  zu  werben  und  vorzubereiten,  immer  w^eiter 
fortgepflanzt.  Sie  sind  also  Lehrer,  Zeugen  (Mar ty res)  dessen 
was  sie  gesehn  haben,  die,  eben  weil  sie  zum  Glauben  bringen 
sollen,  der  keinen  Zwang  leidet,  keine  Zwangs-,  darum  aber  über- 
haupt keine  Gewalt  haben.  Die  Excommunication  schliesst  nur 
von  dem  künftigen  Reiche  aus.  Mit  dem  Augenblick,  wo  der  Sou- 
yerain  eines  Staates  Christ  wird,   wird  die  bisher  verfolgte  Ge- 


II.  Die  Weltweiscn.     C.  Rechtsphilosoiihen.    d.  Xaturalististlie.    §.  25ß,  7.       (öH* 

meiude  zu  einer  Kirche,  unter  welcher  also  uur  zu  verstelm  ist 
ein  aus  Christen  bestehender  Staat,  in  welchem  die  Unterordnung 
unter  den  Souverain  ganz  dieselbe  ist,  wie  bei  den  Juden  und 
Heiden.  Wie  Conslaniin  der  erste  Bischof  des  römischen  Reichs 
war,  so  ist  es  in  jedem  aus  Christen  bestehenden  Staate,  wenn 
er  eine  Monarchie  ist,  der  König,  der  sich  eben  deshalb  allein  „von 
Gottes  Gnaden",  die  unter  ihm  stehenden  Bischöfe  aber  „durch 
die  Huld  Seiner  Majestät"  so  nennen.  Zwar  tauft  u.  s.  w.  der  Kö- 
nig nicht,  aber  nur  weil  er  Anderes  zu  thuu  hat.  Der  Staat  setzt 
fest,  welche  Schriften  kanonisches  Ansehn  haben,  welcher  Cultus 
zu  üben  sey,  und  fordert  darin  unbedingten  Gehorsam;  er  behan- 
delt den  als  Ketzer,  welcher  eigenshmig  seine  Privatüberzeugung 
im  Gegensatz  zu  der  vom  Souverain  autorisirten  Lehre  öffentlich 
ausspricht  (c.  42).  Alle  diese  Lehren  können  den  nicht  beunruhi- 
gen, der  seine  rehgiösen  Belehrungen  aus  der  Bibel  schöpft,  und 
daraus  lernt,  dass  es  zur  Aufnahme  in  das  Reich  Gottes  nur  zweier 
Dinge  bedarf,  des  Gehorsams  und  des  Glaubens.  Der  Gerechte 
(nicht  der  Ungerechte)  wird  seines  Glaubens  leben  heisst  es.  Die 
Summa  nun  des  von  Christo  geforderten  Gehorsams  liegt  in  seinem 
Worte:  Alles  was  Ihr  wollt,  dass  euch  die  Leute  u.  s.  w.,  die 
Summa  wieder  alles  Glaubens  ist  in  dem  Satze  enthalten,  dass 
Jesus  der  Christ  ist,  aus  dem  sich  das  ganze  Taufsj-mbolum  mit 
Leichtigkeit  ableiten  lässt.  Bedenkt  man  nun ,  dass  eben  alle  na- 
türlichen Gesetze  in  dieselbe  Weisung  zusammengefasst  wurden, 
so  ist  klar,  dass  ein  Conflict  zwischen  dem  Gehorsam  des  Bürgers 
und  des  Christen  gar  nicht  vorkommen  kann,  und  wieder  wie  ein 
Souverain,  sogar  wenn  er  selbst  yicht  Christ  wäre,  dazu  konnnen 
sollte,  seinen  Unterthanen  zu  verl)ieten,  auf  ein,  jenseits  des  Auf- 
erstehungstages liegendes  Reich  zu  hoffen,  bis  dahin  aber  den 
Staatsgesetzen  zu  gehorchen,  ist  gar  nicht  abzusehn  (c.  43).  Bibel- 
gläubige aber  sind  es  auch  gar  nicht,  welche  den  Ungehorsam 
und  die  Rebellion  predigen,  sondern  die  Kinder  der  Finsterniss, 
welche  die  Bibel  theils  nicht  verstelm,  theils  durch  Heidenthum, 
falsche  Philosophie  und  allerlei  Sagen  und  Mährchen  verunreini- 
gen. Ihr  Hauptirrthum  ist,  dass  sie  das  künftige  Reich  Christi 
mit  einem  gegenwärtigen  Institute  verwechseln,  das  sich  Kirche 
nennt,  ohne  doch  eine  bestimmte  (d.  h.  Landes-)  Kirche  zu  seyn, 
in  welchem  Weihungen ,  wie  es  die  Sakramente  sind ,  in  heidnische 
Verzauberungen  verwandelt  wurden ,  in  welchem  anstatt  der  allein 
bibhschen  Lehre,  dass  die  durch  Adams  Fall  sterblich  geworde- 
nen Menschen  nur  durch  den  Glauben  das  ewige  Leben  em- 
pfangen,  also  nach  der  Auferstehung  die  Ungläubigen  erst  ihre 


620  Mittelalterliche  Philosophie.     Dritte  Periode  (Uebergang). 

Strafe,  dann  aber  den  zweiten  (d.  h.  wirklichen)  Tod  erleiden 
werden ,  eine  Unsterblichkeit  auch  der  Ungläubigen  gepredigt  wird, 
und  daran  Fabeln  vom  Fegfeuer  u.  dgl.  geknüpft  werden  (Lev. 
c.  44).  Alle  diese  Irrthümer,  die  freilich  der  römischen  Klerisei 
sehr  profitabel  sind,  finden  stete  Nahrung  darin,  dass  man  die 
Gebiete  des  Glaubens  und  Wissens  nicht  sondert,  dass  man  in 
die  Glaubenslehre  allerlei  Lehren  der  Physik  hineingebracht  hat, 
die  doch  ganz  der  Vernunft  angehört,  und  wieder,  dass  man  über 
den  Glauben  nachgrübelt  ohne  zu  bedenken,  dass,  wo  gewusst  wird, 
der  Glaube  aufhört  (de  hom.  c.  14).  Vor  Allem  aber  nährt  diese 
Irrthümer  die  auf  Universitäten  und  Schulen  herrschende  Aristote- 
lei.  Die  einzige  Hoffnung  bleibt,  dass  Schriften,  wie  der  Levia- 
than,  die  eine  gesunde  Philosophie  lehren,  in  die  Hände  eines 
mächtigen  Fürsten  fallen,  und  durch  ihn  die  darin  entwickelten 
Grundsätze  immer  mehr  in  die  Praxis  eingeführt  werden  mögen 
(Lev.  40.  47.  31). 

§.  257. 
Schlussbemerkuug. 
Wenn  oben  (§.  14)  die  Reformation  als  die  Epoche  bezeichnet 
worden  ist,  welche  das  Mittelalter  von  der  Neuzeit  scheidet,  so 
zwingt  dies  nicht,  Böhme .  ßacov  und  llohbes,  weil  sie  nach  der- 
selben lebten,  ja  in  den  durch  sie  geltend  gemachten  reUgiösen 
Vorstellungen  aufgewachsen  sind,  zu  den  Philosophen  der  Neuzeit 
zu  rechnen.  Dass  ein  neues  Princip  erst  später  als  in  den  ande- 
ren Gebieten  des  Lebens  sich  in  der  Philosophie  geltend  macht, 
dass  dies,  wenn  jenes  Princip  ein  sehr  wichtiges  und  reiches  ist, 
oft  sehr  viel  später  geschieht,  das  folgt  aus  dem  Begriff  der  Phi- 
losophie (vgl.  oben  §.  12),  und  dies  hat  sich  bei  den  ersten  An- 
fängen der  christlichen  Philosophie  gezeigt,  die  durch  fast  zwei 
Jahrhunderte  vom  Eintritt  des  Christenthums  getrennt  sind.  Und 
wieder  lehrt  das  Beispiel  nicht  nur  Luthers,  der  die  Philosophie 
bekämpft,  sondern  auch  Melanchihons .  der  sie  achtet  und  lehrt, 
dass  es  für  sie  keine  andere  Philosophie  gab ,  als  den  Aristotelis- 
mus  des  Mittelalters,  d.  h.  einer  Zeit,  der  im  religiösen  Gebiete 
sie  selbst  ein  Ende  gemacht  hatten.  Zu  allen  Zeiten  hat  es  Sol- 
che gegeben,  deren  Herz  dem  Kopf  voraneilte,  oder  denen  das 
Herz  brennt  und  deren  Augen  doch  gehalten  sind,  so  dass  sie 
nicht  wissen,  wer  zu  ihnen  redet,  und  darum  ist  es  an  und  für 
sich  keine  Unmöglichkeit,  dass  Kinder  der  Neuzeit  und  eifrige 
Protestanten  in  ihrem  Philosophiren  sich  vom  Geist  des  Mittelal- 
ters nicht  losgemacht  haben.    Dass  dieses  an  sich  Mögliche  aber 


Sfhlussbemerkung  zur  Mittelalterlichen  Philosophie.     §.  257.  D-il 

hinsichtlich  der  drei,  von  welchen  hier  die  Rede  ist,  wirklich  Statt 
findet,  geht  aus  dem  Inhalt  und  Charakter  ihrer  Lehre  hervor. 
Als  das  Eigen thüniliche  des  Mittelalters  war  ohen  (§.  119)  ange- 
geben, dass  durch  den  Gegensatz  zur  Welt,  die  Forderung  Geist 
zu  seyu  zu  der  geworden  war  geistlich  zu  seyn.  Damit  bekommt 
natürlich  das  Hingegebenseyn  an  die  Welt  den  Charakter  des  un- 
geistlich-seyns,  den  es  im  Alterthum  nicht  gehabt  hatte,  und 
darum  auch  die  Weltweisheit  den  Cliarakter  der  ungeistlichen 
Weisheit.  Dass  über  diesen  Gegensatz,  um  den  sich  das  Mittel- 
alter dreht,  die  Neuzeit  liinauszugehn  habe,  ist  ebendaselbst  schon 
angedeutet  worden,  und  wird  sogleich  ausführlicher  zur  Sprache 
kommen.  Von  dem  Versuch  eines  solchen  Hinausgehens  zeigt  sich 
bei  den  genannten  Männern  keine  Spur.  Böhme  mit  seiner  Verach- 
tung alles  weltlichen  Treibens  und  aller  weltlichen  Weisheit,  steckt 
nicht  tiefer  in  diesem  mittelalterlichen  Dualismus  als  Bacou  und 
Hobhcs  mit  ihrer  Verachtung  der  Geistlichen  und  der  geistlichen 
Wissenschaft.  Die  Zahl  der  Darstellungen,  welche  sie  von  dem  Mit- 
telalter trennen,  ist  sehr  gross;  besonders  hinsichtlich  Barons  nnd 
llohhes'.  Der  Hauptgrund  scheint  ihr  Gegensatz  zur  Scholastik  zu 
seyn.  Soll  aber  dies  entscheiden,  dann  muss  man  auch  so  cousequent 
seyn,  wie  Bilfcr,  der  alle  in  diese  Uebergangsperiode  Fallenden 
zur  Neuzeit  rechnet.  Ja  wenn  dies  der  leitende  Gesichtspunkt, 
und  also  die  mittelalterliche  Philosophie  als  gleichbedeutend  mit 
Scholastik  genommen  wird,  so  ensteht  die  Frage:  wo  gehijren  die 
Kirchenväter  hin,  die  doch  gewiss  eben  so  wenig  Scholastiker  wa- 
ren, wie  der  Meister  Erkhart  oder  Böhme,  von  denen  sie  sich 
nur  so  unterscheiden,  dass  sie  es  noch  nicht,  diese  nicht  mehr 
sind.  Die  dem  Baron  und  llohbes  hier  angewiesene  Stellung, 
dass  sie  eine  Periode  abschlicssen,  erklärt  auch  warum  nicht,  wie 
bei  allen  epochemachenden  Systemen ,  sich  sogleich  ein  Kreis  von 
Schülern  und  Fortbildnern  ihnen  anschliesst,  sondern  geraume 
Zeit  vergehen  musste,  ehe  sich  die  Aufmerksamkeit  späterer,  weit 
vorgeschrittener  Geschlechter  auf  sie  richtet.  Es  ist  wie  mit  iSiro- 
lans  ron  Cusa,  bei  dem  zu  den  im  §.  225  angeführten  Gründen  auch 
dieser  angeführt  werden  konnte,  um  zu  rechtfertigen,  dass  er 
nicht  an  den  Anfang  einer  Periode  gestellt  ward.  Umgekehrt 
kann ,  was  ganz  am  Ende  jenes  §.  gesagt  ward,  hier  hinsichtlich 
Böhmens,  Barons  und  Ifohhes'  Wort  für  Wort  wiederholt  werden. 
Ein  Piückblick  aber  auf  den  Verlauf,  den  die  Philosophie  des  Mit- 
telalters genommen  hat,  zeigt,  dass  auch  hier,  wie  im  Alterthum, 
von  den  drei  Perioden,  die  sich  von  einander  sondern  (§.  121  — 
148,  149  —  228,  229^256),  die  mittelste  nicht  nur  den  am  Mei- 


622    Mittelalter!.  Philos.    Dritte  Periode  (Uebergang).    Schlussbemcrkung.    §.  257. 

sten  systematischeu  Charakter  zeigt,  sondern  überhaupt  die  be- 
deutendste ist.  In  ihr  wiederholen  die  drei  Nebenperioden,  wel- 
che unterschieden  wurden  (§.152  —  177,  178  —  209,  210  —  228), 
in  verkleinertem  Maassstabe  den  Unterschied  der  patristischen, 
scholastischen  und  Uebergangs  -  Periode ,  und  dass  der  Erste  inner- 
halb der  Jugendperiode  der  Scholastik,  Erigemi .  in  seinein  Phi- 
losophiren an  die  Art  der  Kirchenväter  erinnert,  die  Letzten  in 
der  Verfallperiode  derselben  sich  den  Philosophen  des  fünfzehn- 
ten und  sechzehnten  Jahrhunderts  annähern,  darf  nicht  Wunder 
nehmen. 


Druckfehlei*  im  ersten  Bande. 


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hamar  toi. 

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demnach              ., 

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zum 

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in  Italien 

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..      ist 

desselben   ist 

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Zeitverlust 

Z  e  i  t  v  e  r  1  a  u  f 

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denn 

dann 

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kann                     ,, 

kann  ,  und  dem  u  t  q  u  f  > 

,.  424 

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einen  göttlichen  „ 

i  u  n  e  u  g  ö  1 1 1  i  c  h  e  n 

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Jandunus             ,. 

J  ondunus 

„  430 

,.  23 

.,     oben 

..      Rolle 

Stelle 

.,  437 

,.   16 

,.     unten 

seiner 

seines 

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.,  14 

ihrem 

seinem 

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Brücken               ,, 

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verdient               ,, 

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weiter 

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DrucU    von    Kr.    Fiommanu    in    Jena. 


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