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Giftof
PETER PARET
STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES
5-/
4%
VERZEICHNIS DES INHALTS
GeschtChts lehre von Kurt Breysig
Hiflleiiung: Philosophie der Eirtzelwissenschaften 1 — Not-
wendigkeit einer Ceschichtslehre, d. 'h, einer empirisch aus der
werkfiligcn Gcschichlsforschung aurgleig«n(l«n Mechanik, Be-
vegunfslehre des geschichtlichen Geschehens, ini Unterschied
zu den Geschichlsphilosophieen 2 — Cesamlstreben der heutigen
Wissenschaft nach Bauten von unten her 3 — Seitenstück der
allgemeinen Erdkunde 4 — Ähnlichkeiten der Porschuagg weise,
der Forschungsziele 5 — Abgrenzung des BegriPs Geschichts-
lehre, int Unterschied au erzihlcndcr, sei es beschreibender, sei
es entwickelnder Geschichtsforschung 7 — Die Ge seh ichts lehre
als Krönung eines Gebäudes def vergleichenden Entwicklungs-
geschichte 8 — Aurbau in Schichten 9.
I. Besonderer, beschreibender Teil einer Geschichts-
lehrc (die Entwicklungsverläufe): Stufenbilder, Beispiel der Urzcit-
vSlker roter Rasse, Einzelaufgaben 10 — Entvicklungsstammbäume
der BauFornicn von Staat, Familie, Sprache II — Andere Frage-
Stellungen 12 — Die Entwicklungsbilder der höheren Stufen, inner-
halb ihrer der Rassen und Volkergruppen 13 — Beispiel eines
Entwicklungsstammbaumes höherer Stufe: Hofe, Parlamente,
höchste Behörden in MitteUlter oder Neuzeit der germanisch-
romanischen Völker 14 — Entwicklungsreiben der Sach- und der
PcrsSnlichkeitsgeschichte^ gegen den Kollektivismus 16 — Ge-
sainigeschLchten von Völkern, Völkergruppen, Rassen 17 — Volks-
tum und Gebärde, Volkstum und Volksseele 18 — Übersicht
aber das Ganze der \Feltgeschichte 19.
IL All gemeine r» beobachtender Teil einer Geschieh ts-
lehre (Entwicklungslehre): 1) Beobachtung des Werdens, zu-
erst in den Stufen, etwa in der Urzeit 20 — Beispiel: Beob-
achtung der Entwicklungsrichlung in der Abfolge der Bauforraen
der Geschlechterverfassung (Australien, Schottland) 21 — 2) Be-
obachtung der gegenseitigen BeeinRussungen, Kreuzungen^
Störungen der einzelnen Entwicklungsreihen; Beispiel: Die Grund-
IV
frage des geschichtlichen Materialismus 23 — Feinere Problemt:
Einwirkung des Macbttriebes, Einlud des Landes auf die Ge-
schichte seines Volkes 24 — Das Verhältnis der Sach- und Per-
sönlich keitsgeschichtc, Mann und M*sse 25 — 3) Beobachtung
des Entwicklungsganges der Völker- und Rassengeschichlen 26 ^ ,
4) Beobachtung des Stufenganges der Menschheit 26 — Mögtich-
Iceit allgemeiner Formelgehung: Wechsel von Persönlichkeits- und
Gemeinschaftstrieb 28 — Drei-Stufen-Ähnlichkeiien 29 — Andere
FormelmÖglichkeiien : Wechsel enger und weiter Geistesverfassung
in der Geistes- und Gesellschaftsgeschii^hte der Stufen 30 — Zn-
sammenfassung der Einzelmerkmale als dritte Möglichkeit 32 —
5} Zusammenfassung der Entwicklungslehre zu Gesetzen: Vor-
gangs- und Verlaufsgesetze, irrtümliche Gruppierung nach
Natur- und GeisteswEssenschaften 33 — Stufenleiter der Regel-
hafiigkeiien und Gesetzmäßigkeiten 34 — Gesetze höherer Ord-
nung 36 ~ Martgel aller Gesetiesforttiungen, Ergänauttg durch
Entwicklungsbilder 37 — Weltgeschichtliche und Sonderforschung
müssen sich ergänzen 38 — Das Geheimnis des Werdens als
Gegenstand aller GeschichtsforicbuDg 39.
Stile
Der Engelstaat von Benhold Vallentin 41—120
^ 1 Einleitung 4) — 'S 2 Die Engclsordnungen als Gegen-
stand gesellschaftswissenschaftlicher Anschauung 43 — Fest-
stellung ihres Bestandes 44 — § 3 Der gesellschafls mäßige
Gehalt des Begriffs Engelshierarchie 49 ~ ^ 4 Innere Struktur
des Hierarchiebegriffs 55 — S 5 Das Untcrtlnigkeits Verhältnis 56
— $ 6 Der freie Wille als gesellschaftliches Moment 60 —
Repressalien dagegen. Staatsgewalt 61 — § 7 Der Engelsverband
im Bilde einer Staatsordnung 62 — § S Der Engelstaat als Vorbild
irdischen Regimentes 64 ~ $ 9 Qarstelluog irdischen Regimentes
(Staat und Kirche) nach dem Bilde des Engelslaates 67 ^—
S 10 Wellliche Staatsordnung. Erste Klasse Amanlissimi Regls
— Seraphim Ö9 — S 11 Zweite Klasse Räte— Cherubim 72 ~
S ]2 Drifte Klasse Richter — Throni 74 — § 13 Vierte Klasse
Magnaten — Dominationcs 7S ~ $ 14 Fünfte Klasse Praesides
Provinciae ^Principatus 80 — § 15 Sechste Klasse Militärische
Befehlshaber — Potestates 87 — § lö Siebente Klasse Voll-
streckungsbeamte ~ Vinutes 90 — 'S 17 Achte und neunte Klasse
Vorbemerkungen 93 — $ 13 Achte Klasse Gesandte — Arcb-
angelL97 — § lö Neunte Klasse Kuriere — Angeli 99 — $20 Zu-
sammenfassende Betrachtung «ter weltlichen Staatsordnung
Wilhelms 101 — Das Vernunftprinzip 104 — Der klassische
Einfluß 105 — §21 Einfluß der weltlichen Staatsordnung Wilhelms
auf die spätere Literatur 107 — Ägidius von Kom, De ecclesiastica
poiestate 108 — S 22 Geistliche Hierarchie 1)5,
China und das achtzehnte Jahrhundert ron Friedrich
Andrere ,..,,,..
I. Kunde von China: Marco Polo, Alandeville 121 — Ge-
&itidtschAitsbetic'hie 122 — Missionsbericbte 124 — Ihr Charikter
126 — Kaufmannsberichte 127 — Differenz zwischen den ein-
zelnen Berichten und ihre Rückwirkung auf Europa 12S —
Rokoko und Rousseaurealismus in Ihrem Verhallen zu Ghiai.
Ende der Chinabegeisterung 129.
II. Einflüsse der chinesischen Ein Fuhr nach Euro pi:
Analyse des Rokoko 130 — Seine Empfänglich keU für chine-
sische Einflüsse 133 — Wirkungen der chinesischen Einfuhr-
artikel auf seine Kultur: Seide 133 ~ Paplertapeien 135- Tee
136 — Lack 138 — Porzellan 141.
III. Umbildung der chinesischen Künste und Moden
In Europa: Baukunst 147— Blldnerei: Der romantische Fak-
tor ]4S — Chinesische Häuser 149 — Meierei 150 — Ganen-
und Zierkunst 151 — Literatur 153 — Musik, Philosophie löl
— Feste 162 — Schönheitsideal und Mode 163.
IV. China und die europäische Volkswirtschaft: Vor-
steliung vom Reichtum und der wirtschaftlichen Vortreffiich-
keit Chinas 165 — Von der Bevölkerung 167 ~ Von der Volks-
eraihrung 170 — Wirtschaftliche Tugenden der Chinesen 171
— Alter und Höhe der landwirtschaftlichen Kultur in China
172 — Intensität der Landwirtschaft in China 173 — Pflege
des Landhaues durch die chinesischen Kaiser 174 — Der
pflügende Kaiser 175 — Meiiorationen 176 — Bauempolilik 178
— FinaDzwinschaft 18Ü.
V. China und die europaischen Verfassungsfragen
und Probleme: Vorbildlicher Charakter Chinas 184 — Die
chinesischen Kaiser und die Tugenden des aufgeklärten Ab-
solutismus ISe — Garaniieen für die „Moderation" der Chine-
sischen Kaiser ISS — Patriarcbaliscber Despotismus 18Ö —
Einspruchsrecht der Mandarinen 192 — Geschieh tstribunal 193
— Einwendungen der d^tracteurs 194 — Verteidigung der
Paoegyriker 196 — Ausblick in das neunzehnte Jahrhundert 198.
Seilt
121-200
Über die theoretische Begründung des Absolutismus
im siebzehnten Jahrhundert von Fritz 'Wolters 201—222
Herrschaft und Dienst; BegrilF und Person im Mittelalter 201
— Kirche und Reich als Gegner 202 — Ihr Streit um den
unmittelbaren göttlichen Ursprung 202 — Ihre Zersplitterung
und Bildung der Nationalstaaten 203 — Gegensätze im Staate:
Kirche, Herrscher, Volk 203 — Das Naiurrecht als neue
GESCHICHTSLEHRE
von KURT BREYSIG
Bs hat seit langem die Neigung bestanden und sie regt sich
heute von neuem sehr stark, neben die eigentlich fachliche und
naturgemäß erfahrungswissenschaftlich verfahrende BehAndlungS-
weise der einzelnen Gattungen der Forschung eine andere zu
stellen, die man am öftesten philosophisch genannt hat, und der
man das Recht beimaGi sich etwa nur mit den Ergebnissen
der beschreibenden und erfahrungs mäßigen Arbeit ihres Bezirkes
zu begnügen, aus ihnen aber einen eigenen kühneren Gedanken-
bau aufzurichten. So ist neben der Rechtswissenschaft eine
Rechtsphilosophie, neben den Naturwissenschaften eine Natur-
philosophie geschaffen worden, so ist noch in unseren Tagen
neben der Volkswirtschaftslehre eine Wirtschaftsphilosophie und
neben der freilich erst in den unreifsten Anfängen begriffenen
Gesellschaftslehre eine Sozialphilosophie auf den Plan getreten.
Das Verhalten, das die alten Besitzer dieser Wissenschaftsreiche
den neuen Eindringlingen gezeigt haben, ist ein verschiedenes
gewesen. Allein man wird sagen dürfen, je stärker die alten
Mächte waren, desto heftiger haben sie sich dieser Eingriffe
erwehrt. Die naturphilosophische Unternehmung Schellings ist
eine Episode geblieben, die heutige Gesellschaftslebre, die als
Erf ah rungs Wissenschaft weder über hinreichende geschichtliche
noch statistische Fjilfsmittel verfügt, hat sich von der ganz
philosophisch verfahrenden Soziologie fast völlig und willig über'
wältigen lassen.
Die Geschichtsforschung ist sicher am häußgsten als Unter-
lege zu solcher halb fremder, halb verwandter Umbildung be-
nutzt worden. ^Aber sie hat sich ebenso gewiß auch am
sprödesten wider sie verhalten. Daß zwei so eindringliche
Geschichtspbilosophien wie die von Fichte und Krause, daß eine
so gewallige wie die Hegels die deutsche Geschichtsforschung
des neunzehnten Jahrhunderts so gut wie gar nicht haben beein-
Brcysig, Geschieh» lehre J
Aussen können, ist bezeichnend. Noch auFfilliger vielleicht,
daß iq unseren Tagen, da selbst Name und BegrlCT der längs
totgegUubteo Naturphilosophie wieder auftauet) eti, tiicb
ein einziger Versuch neuer Geschichtsphilosophie Ansehen
gewonnen hat.
Aber vielleicht ist dies Versagen auswärtiger Einwirkung
in der Gegenwart nicht nur ein Verlust, sondern ebensosehr
ein Ansporn zu eigener Bemühung, und also ein Gewinst
Zwischen der rückhaltlosen Unterwerfung^ die die Geschichts-
philosophen, sei es laut, sei es unausgesprochen, von den
Geschichtsforschern forderten, und der völligen Ablehnung, die
diese tatsächlich den geschichtsphilosophischen Lehren zuteil
werden ließen, ist nämlich noch eine dritte iVlöglichkeit gegeben,
die gesunder erscheint, als jene beiden, und deren Verwirklichung
in Wahrheit zu Fordern ist: es ist die Errichtung eines begriff-
lichen Oberbaus auf der Grundlage beschreibender und erfahrungs-
TTiaDiger Geschichtsforschung, nicht durch die zu Hilfe zu rufenden
Philosophen, sondern durch uns Geschichtsforscher selbst.
Den Bestrebungen der Philosophen liegt eine Absicht zu-
grunde, die 2war in Wahrheit von jeher auch den Geschichts-
forschern als Ziel hätte vorschweben sollen, die aber von der
höheren Ebene begrifflicher Wissenschaft eher zu erliennen war,
als in den Schächten und Steinbrüchen der werktätigen
Geschichtschreibung. Es ist die vielleicht schon oft triebmäßig
empfundene, aber erst heut ktar werdende Anschauung, daß die
Geschichte eine Wissenschaft ist, die zwar das Nacheinander
menschlicher Bigebenheiten zum Gegenstand hat, die aber nicht
slleiu die Aufgabe bat, alle die Verlaufsfolgen dieser Begeben-
heiten schildernd oder auch erklärend und also entwickelnd
7u begleiten, sondern auch das Wesen dieses Nacheinanders
selbst, das Geheimnis des Werdens menschlicher Dinge zu
ergründen. Diese AuFgftbe führt mit sich, daO die Geschichts-
forschung dieser Gattung sich löst von den Fesseln eben der
Zeitfolge und der Raumzusammenhänge, an die die beschreibende,
ja noch die entwickelnde Geschichtsforschung unabänderlich
gebunden ist.
Es kann nicht zugegeben werden, daß eine der große
deutschen Geschichtsphitosophien eine so sicher gezogene Grenze
zwischen werktätiger und begrifflicher Geschichtsforschung
gefunden hat. Kegels Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte stellen ihrem H&uptkörper nach weit eher eine
ordnende und begritfliche Begleitung der Geschichte durch eine
Anzahl ihrer zeitlichen und räumlichen Bezirke dar, die tiur ia
^
der symmetrisch wiederkehrenden, stark stilisierten Anordnung
der Zeitalter nach drei Graden einer weniger geschichtlichen als
dialektischen Art den Kern einer über den Zeiten stehenden
gesetzmäßigen Mechanik der Geschichte enthält. Vico bewußt,
Herder ahnend, Comte mit allem Nachdruck, sind alle in diesem
Betracht weiter gegangen. Aber selbst Comtes Lehre von den
Kräften der Gesellschaft, die in Wahrheit eine geschichtliche
Dynamik ist, wird heut nicht erneuert werden dürfen, wenn
auch gewiß notwendig sein wird, die Ergebnisse einer nicht von
Philosophie oder Soziologie, sondern von der eigenen geschicht-
lichen Erfahrung herlcommenden Entwicklungslehre mit den
Anschauungen Comtes zu vergleichen, um von ihnen vielleicht
noch vielfachen Gewina zu ziehen.
Eben das Bedürfnis der Geschichtsforschung nicht unter
Leitung der Philosophie, sondern auf eigenem Wege zu einer
Bewegungslehre, einer Physik des menschlichen Geschehens zu
gelangen, das heute wieder heraufsteigt, wird auch gedanken-
geschichtlich nicht mit dem Wiedererwachen Comtes oder irgend-
welcher Früheren verkettet werden dürfen. Dies ist sicher weit
eher die Folgeerscheinung einer eigenen inneren Umwandlung
der Geschichtsforschung. Dadurch, daß die entwickelnde
Geschichtsauffassung sich ihrer selbst ganz bewußt wurde, war
der Antrieb gegeben, auch die Frage nach dem inneren Gesetz
aller dieser Ursachenverkettungen aufzuwerfen, und dadurch, daß
die vergleichende Geschichtschreibung ihre Kreise immer
weiter zog und schließlich nur mit dem Ganzen der Geschichte
zufrieden gestellt sein wollte, war eine Allgemeinheit der
Geschichtsanschauung wenigstens in der Forderung erreicht, die
wiederum ihrem innersten Wesen nach auf eine Geschichtslehre
vorbereitet, wenn nicht auf sie hindrängt. Und so soll wahrlich
keinem Forscher verwehrt werden, von irgendwelchen höheren
Warten Geschichte zu sehen und unseren Induktionen kühnere
Deduktionen entgegenzusetzen — noch heul sollte jedem jungen
Geschichtsforscher die ernsthafte Aufnahme, der großen Gedanken
Hegels über Geschichte zur Pflicht gemacht werden, denn sie sind
ein Denkmal nicht nicht nur der Stärke, sondern auch der
Schönheit seines Geistes — aber eine Geschichtsforschung, die
ihre besten Ehren und ihre schwersten Pflichten nicht in fremde
Hände fallen lassen will, wird nicht darauf verzichten wollen
noch dürfen, durch ein Bauen von unten her an einem Werke
zu arbeiten, daß jene von oben her schneller, aber auch vielleicht
vergänglicher zu vollenden trachten.
Und auch darauf wird sie sich bei solchem Unternehmen
l*
berufen kSnnen, daß innerhalb der Philosophie selbst in unseren
Tagen das Bauen von unten her recht eigentlich die Losung
geworden ist. Niemand wird wünschen dürfen, d&Q die Großen,
Kühnent die Baumeister weiter Gedankenpaläste und hoher
Ideendome nicht wieder unter uns aufstehen^ aber der vor-
herrschende Zug der Forschung hat auch hier das langsame
AuFschichten und EmporstuFen eines auf breiten Erfahrungs-
vesten ruhenden Bauwerkes zum Zieh* Es ist nicht undenkbar,
daß einmal noch ein ganzes System von Überbauten sich auf-
türmt, daß die Geisteswissenschaften der Vergangenheit zu einer
Geschichtslehre, die der wirkenden Lebens- zu einer Gesell-
schafts-, einer Geisteslehre, alle aber zu einer allgemeinen
Geisteswissenschaft zusammenfaßt, daß die organischen Natur-
wissenschaften einer Biologie, die anorganischen einer Physik,
beide einer höheren Bewegungslehre unterordnet und schließlich
jene oberste Geistes-, diese oberste Naturwissenschaft zu einer
letzten Lehre vom Leben vereinigt.-
Es gibt eine unter den Wissenschaft en^ nicht zwar unter
den Geist es Wissenschaf ten» bei der die Geschichtsforschung für
solche Absichten Bestärkung ßnden kann, und deren werktätige
Erfahrung vielleicht in diesem Betracht wichtiger als irgendeine
aprioristische Hilfe werden kann. Die Erdkunde war ursprüng-
lich und ist es zu ihrem gri>ßteit Teil noch heut Länderkunde,
d. h. eine dem einzelnen Bezirk zugewandte beschreibende
Erforschung der ErdoberflSche, Die Vorläufer, die vom sieb-
zehnten Jahrhundert ab auf dieser Grundlage zu allgemeinerer
Erkenntnis vordringen wollten, so vornehmlich Varenius mit
seiner Geographia genpratis von 1650,^ kommen trotz der
weissagerischen Kraft ihrer Wünsche nicht allzusehr in Betracht.
In den letzten Jahrzehnten aber haben Richtbofen und Penck
die Ausbildung einer allgemeinen Erdkunde, die überhaupt sich
in dieser Zeit anbahnte,* so glücklich gefördert, daß hier eine
^ Man verglfiicbe die programtnälischen Auäfübmngen von Stumpf
(Die Wiedergeburt der Philosophie, Berliner Festrede [19071 22F., 251.).
— * Man liehl hier vielleicht meinen Beitrag zu der Umfrage über die
Zukunft der Sotiologie (Dokumente des Fortscbritts I [1908] 230!.) in
Betracht. — " Über seine Bedeutung: Herrn. Wagner, Lehrbuch der
Gcogrkphie I ('1903), löf. — ' Mit Richthofens Führer für FarschungS-
reiscnde von 1886 müssen etwa die Abschnitte über FbyBiographie, Petro-
graphic und GeOtektonik, über dynamische und bistOriscbe Geologie in
dem damals ersten Handbuch {Hann, Hocfastetter und Pokorny,
Allgemeine Erdkunde [M88ß] 253ff., 272fF., 324fF., 4S9ff.) im Hinblick
auf die Forscbungsweise verglichen werden, was dem Fernstehenden iwar
gewiü nicht im einzelnen, wohl aber für die Grundrichtung mSglicb ist.
4
■
Wissenschafr höherer Ebene, wie sie in der Geschichtsforschung
beut nur erst gefordert werden kann, im ganzen organisiert
und in wesentlichen Teilen schon vollendet erscheint.
Die Ähnlichkeit des wissenschartsgeschichtUchen Vorgangs
ist um so schlagender, als es sich auch hier durchaus nicht
um die Verdrängung, sondern um die Ergänzung der älteren
Forschungsweise durch die neue handelt. Ganz in demselben
Sinne wie bisher in der erzählenden Geschichte die einzelnen
Zeitalter abgeschildert worden sind, so früher in der Erdkunde die
einzelnen Länder. Darüber hinaus aber hat sich eine allgemeine
Erdkunde erhoben, die, sich von dem einzelnen Land und seiner
Beschreibung völlig lösend, eine Formenlehre der Gebilde der
ErdoberHäche aufstellt, die für ihr Ganzes aJlgemeiogültig ist.
Sie hat Gesamtbeobachtungen »ufgestellt über die Massen-
bewegungen der Landoberfläche, seien sie durch Wind, Flüsse
oder Gletscher hervorgebracht, andere über die Formen der
"Landoberfläche, über Entstehung, Alter, Arten, Querschnitt der
Täler, der Tallandschaften^ d. h. der Tafel- und Gebirgsländer,
sie hat Schichtstufen-, zerbrochene, Schollen- und Faltungs-
gebirge voneinander gesondert^ sie hat die Bewegungen der
Meere, die Formen ihrer Küsten, ihrer Gründe, ihrer Inseln in
Gruppen geteilt, und sie hat endlich den Gesamtaufbau der
Festländer und der sie trennenden MeerCäler im allgemeinsten
gezeichnet.'
Fast sollte man meinen, hier wäre eine Gelegenheit zum
Eingreifen gewesen für diejenigen Philosophen, die, ihre Stellung
über Natur- und Geisteswissenschaften betonend, eine methodo-
logische Führer- und Vermittlerrolle in Anspruch nehmen und
auch mit allem Recht ausüben. Hier hätten sie auf die Gleich-
läufigkeit geschichtlicher und erdkundlicher Forschungsbedürf-
nisse hinweisen und den Geschichtsforschern das Vorbild der
Erdkunde vorhalten sollen. Denn in der Tat, es treffen hier
Voraussetzungen und Ziele zweier Wissenschaftsbewegungen,
einer schon im Gang befindlichen und einer zukünftigen, beut
erst zu fordernden, in mehr als einem Stück zusammen. Erstlich
ist es die Zusammenfassung und Ableitung von allgemeinen
Beobachtungen aus einer in tausend Einzelbeschaffenheiten zer-
spaltenen Wirklichkeit: nur daß das eine Mal die Verschieden-
heiten des Raumes, das andere Mal die der Zeit überwunden
werden müssen. Zum zweiten handelt es sich in beiden Fällen
<■ Penck, Morphologie der Erdoberfläche I (18M) 219ff., 244ir.,
II (1S&4) SSff., 142ff., 321«., 40211.; der allgemeiiie Teil: 1 &5ff.
um die Notwendigkeit, unzähüg viele Formenreich&, farbenschöne
Einzelheiten fahren zu lassen und aus ihnen die freilich viel
blasseren und weiteren Umrißünien eines allgemeinen Verhaltens
abzuleiten. Wäre die Erdkunde den anderen Zwei£en der Natur-
wissenschaften minder nahe, stünde sie nicht nur an den Grenzen
der Geisteswissenschaften, und hätte sie ein ähnliches, nach
Jahrtausenden zählendes Alter und eine ähnliche, nach Tausenden
von Werken zählende Breite der Überlieferung wie die Ge-
schichte, so hätte diese neue allgemeine Erdkunde wohl unter
viel härteren Geburtswehen das Licht des Tages erblicken
müssen. Entsteht doch unter den Geschichtsforschern schon
ein lautes Klagen, wenn nur die allgemeinen Fragen der
Forschungsweisen erörtert werden sollen: alle schöne Buntheit
fliehe und ein ödes Grau der BegrifFlichkeit drohe^ sich an ihrer
Statt auszubreiten.
Zum dritten ist die geistige Form, die die allgemeine Erd-
kunde angenommen hat, ganz ähnlich der, die der heut zu
fordernden allgemeinen Geschichtskunde zu wünschen ist, Ihr
wesentlichstes Werkzeug sind scharf geprägte und umgrenzte
Begriffe; sie zu schaffen, war nicht der geringste Teil der zu
leistenden Arbeit. Man ist so weit gegangen, das grundlegende
Werfet eine Formenlehre der Erdoberfläche, als systematische
Klassißkation und Terminologie zu kennzeichnen.-'' Alle die
Zusammenfassungen aber, die man vermittelst dieser Werkzeuge
hergestellt bat, streben ihrem innersten Wesen nach zur Formel,
zur Regel, zum Gesetz. Und vielleicht gelingt der heut nur
als Hoffnung aufgestellte Plan, der eine geschichtliche Erdkunde
zu schaffen verheiüt, nicht in dem alten Ritterscheti Sinn einer
Verbindung von Erdkunde und Geschichte, sondern in dem
anderen tieferen, naturgeschichtüchen einer Geschichte der
Erdoberfläche. Schon ist m dieser Richtung eine Sicht darauf
ereignet, daß auch diese neue Form der Naturgeschichte sich
den Entwicklungsgesetzen des biologischen Artenstammbaums
werde unterordnen lassen. iVIan hat Altersstufen der Täler
— wie zuvor schon der Flüsse — unterschieden und zwischen
ihnen und den Entwicklungsaltern einer Tierform, der Equiden,
eine auftälltge GleichläuBgkeit gefunden." Gelangt diese Wissen-
schaftsbewegUDg an ihr Ziel, dann wird die Erdkunde der
' So über Pencks Morphologie H, Vagner, Geognpbie ^1 241;
vergl.335. — ^ Peuck, Die Geomorphologie als geoetische Wisaenschaft:
eine Einleitung zur Diskussion über geomorpbologiscbe Nomenklatur
(Report on the VI. Internat Geograph. Cangress IIS96] 73Sff.},
Geschichte tioch näher gerückt, und es sind nicht allein mehr
Räume, sondern Zeiten selbst, die den Zeitabschnitten der Ge-
schichte als durch eine Formenlehre zu überbauende Unterlage
entsprechen.
Zuletzt können weder philosophische Belehrungen, noch
geographische Ähnlichkeiten der Geschichtsforschung die Pflicht
abnehmeti, auf ihre Weise einen solchen allgemeinen Oberbau
zu schaffen. Und wenn auf den folgenden Blättern versucht
Verden soll, für ihn einen Plan zu zeichnen, so können Freilich
für die Geschichtslehre, wie hier eine solche allgemeine Ge-
schichtskunde genannt werden soll — der Name Geschichts-
philosophie* ist zu anspruchsvoll und weist zugleich in einem
gar nicht wüiischedswerien Sinn über die Grenzen der Ge-
scbichtsForschung hinaus — für heut nur die blassesten und
weitesten Umrißlinien entworfen werden, Sie werden sicher
alle Mängel eines ersten Versuches an sich tragen, aber mag
man sie in späteren En tw ick lungs altern beibehalten, ändern oder
verwerfen, vielleicht nützen sie in jedem dieser drei Fälle. —
Unter Geschichtslehre sei hier verstanden die Wissenschaft
von dem Wesen und den Regeln des Werdegangs und der Ver-
laufsabfolgen der Geschichte der Menschheit.
In dieser Begriffsabgrenzung sind mit Absicht Regeln und
Wesen der geschichllichen Verläufe geschieden. Denn wenn
auch die Absicht vorliegt, zuerst und zuletzt die Gemeinsam-
keiten der nach Rasse, Volkstum, Wohnsitz so vielfach unter-
schiedenen Einzelentwicklungen herauszustellen, so wird mit der
gleichen Aufmerksamkeit uod ohne alle Voreingenommenheit
jede Besonderheit dieser Einzeientwicklungen verfolgt werden
müssen. Am wenigsten wird verabsäumt werden dürfen, die sehr
mannigfaltigen Beeinflussungen, Störungen, Durchkreuzungen, ja
Endigungen zu verfolgen, die eine nicht geringe Anzahl von
Entwicktungen einzelner Gesittungs- und Bluteinheiten — Völker-
schaften, Stämme, Völker — durch andere solche Einheiten
erlitten haben.
Der ergänzende Gegensatzbegriff einer solchen Geschichts-
lehre ist die Schwesterwissenschaft der erzählenden Geschichts-
forschung. Ihr Amt ist es, sei es beschreibend, die Einzel-
erscheinungen, die Einzeitatsachen in ihrem zeitlichen Verlaufe
abzuschildern, sei es entwickelnd, ganze Erscheinungsreihen als
' Der mir freilich ebenso ungeeignet für den Gegenstand der Ge-
schichtsforscbungslebre (fVletbodoIogle der Geschichte) erscheint, für den
man ihn jüngst bat bestehen lassen wollen,
8
Gliederketten, also als Teile wie als Ganzes, zu 'begreifen uj
in ihrem Ursachenzusammenhang vorzuführen.
Es soll nicht versäumt werden, auch an diesein Ort auf den
grundlegenden Unterschied der beiden möglichcD Formen er-
zählender Geschichtsrorschuiig hinzuweisen, da er so häutig ver-
kannt und nicht selten geleugnet wird. Beschreibend verfährt
noch jede GeschichtsForscbung, die zwar die einzelnen Tatsachen
durch Ursachenverknüpfungen leise aneinander bindet, im wesent-
lichen aber nicht mehr beabsichtigt, als den Bestand der ein-
zelnen Tatsache von den Schlacken mangelhafter Überlieferung
zu reinigen und sie in ihrer Besonderheit möglichst getreu
wiederzugeben. Solche beschreibende Geschichtsforschung, wie
sie jahrtausendelang die einzige war, wird auch in Zukunft un-
entbehrlich bleiben Für die Herstellung der festen Grundlagen
jeder anderen Form der Geschichtswissenschaft: ohne sie ist
alles höhere Bauwerk auf den Sand gebaut. Nur muß Freilich
gewünscht, ja gefordert werden, daß die beschreibende Geschichts-
forschung ihre Arbeit den Aufgaben, den Fragen anpabt, die ihr
die entwickelnde Geschichtsforschung und die Geschichtslehre
stellen. Dafür wird ihr Rechte jeden, auch den mindesten Tat-
sflchenirrtum, den jene begehen, zu rügen^ nicht im kleinsten
bestritten werden dürfen.
Die entwickelnde Geschichtsforschung erhält ihr Gepräge
dadurch, daß sie nicht von der Einzeltatsache, sondern von der
Tatsachenreihe ausgeht. Entwickelnd wird eine geschichtliche
Untersuchung oder Darstellung erst dann, wenn sie den StoFf
begrifflich ordnet, wenn sie absichtlich und unermüdlich durch
Vergleiche die Abweichungen der späteren Tatsachenmassen von
den Früheren feststellt, wenn sie ebenso unermüdlich immer
wieder die gleichen Fragen an den Stoff stellt, wenn sie diese
FrageQ nicht allein für die jüngeren Zeitalter von den älteren,
sondern ebenso für die älteren von den jüngeren Zeiten her-
leitet, wenn sie nicht Handlungen, sondern Handlungsweisen,
wenn sie nicht Persönlichkeiten, sondern Persönlichkeitsformen
letztlich herausstellen will, wenn sie die Ursachenverkettungen
so tief und so weit wie möglich verfolgt. Solchergestalt wird
sie eine flieDende Zustandsgeschichte gewinnen, die allein das
Verhältnis von Einzellatsache zu Tatsachenmasse, von Tatsachen-
glied zur Reihenkette recht abspiegelt.
Soll die Gesamtheit der Geschichte in diesem entwickelnden
Sinne behandelt werden, so wird diese Forschungs weise ihrer
begnIFItchen Neigung nach nirgends eher haltmachen dürfen,
als bis sie bei den Grenzen der Menschheit selbst angelangt
isit sie vird sich nicht mit europäiscH-vorderorientalischer Ge-
schichte begnügen dürfen, sondern alle Völker des Erdballs in
ihren Bereich ziehen müissen. Sie wird sich nicht bei der Ge-
schichte des Staates oder gar nur der Staats- und der Kriegs-
kunst beruhigen» sondern alle Formen des handelnden und des
geistigen Lebens zum Kreise schließen müssen. Ja, ihr wird
erlaubt sein, die Geschichte der Völker nicht nach der Schein-
ordoung der Zeit darzustellen» sondern sie nach Entwicklungs-»
nach Lebensaltern der Menschheit zu ordnen.
Trotzdem, und hier setzt die Untersuchung der Aufgaben
der Geschichislehre ein, die sich diese Blatter zu geben vor-
gesetzt haben» kann selbst eine so weit getriebene Entwicklungs-
geschichte, und hätte sie auch so viel Vollkommenheiten, als
ihren tatsächlichen Ausführungen in der Regel Irrtümer tind
Mängel anhaften werden, nicht die Stelle einer Wissenschaft
vom Werden der Geschichte einnehmen. Einer solchen gegen-
über wird ihr immer noch der Stempel erzählender, ja ver-
gleichsweise beschreibender Wissenschaft anhaften. Denn mag
sie sich auch von der unumschränkten Herrschaft der Zeitfolge
schon losgemacht haben, mag sie an Stelle der Jahrestafeln
einen Stufenbau von Entwicklungsaltern setzen, immer bleibt
ihr Zweck nicht das Wie» sondern das Was der Menschheits-
geschichte zu überliefern.
Kein Zweifel, keine Geschicblslehre jenes Sinnes ist zti
denken, ohne das vollendete Werk einer entwickelnden Dar-
stellung der Geschichte der Menschheit. Denn nur an ihm
wird sie ihre Beobachtungen sammeln können. Aber sie muQ
von vornherein einen grundsätzlich anderen Arbeitsplan -veT"
folgen. Was ihr not tut, läßt sich unter einen Satz fassen: sie
hat an die Stelte der zeitlichen Gebundenheit die begriffliche
zu setzen, sie soll nicht Ursachen zusammenhänge darbieten,
sondern das Triebwerk dieser Ursachenzusammenhänge auffinden.
Allein, es wären sehr viele Bahnen zu denken, die in dieser
Richtung eingeschlagen werden könnten. Es ist unerläßlich,
einen — nicht den einzigen — möglichen Weg zu beschreiben,
soll hier mehr als die allgemeine Losung ausgegeben werden.
Der Sinn einer Geschichtslehre ist, von aller Fülle, »Her
Breite des Erfahrungsstoffes auszugehen und zu Immer höheren,
immer umfassenderen Gesamthcobachtungen aufzusteigen. Damit
ist ihrem Aufbau schon ein herrschender Gedanke vorgeschrieben,
dem sie sich nicht wird entziehen dürfen, wenn anders ihr daran
liegt, ihr Wesen als das einer zwar bauenden, aber von unten
her bauenden, einer Er fahrungs Wissenschaft, einer induzierenden,
nicht deduzierenden, auFrecluzuerhalien. Sie wird ihr Werfc in'
mehreren Geschossen aufrichten müssen, von denen die unteren |
der erzählenden Geschichtsforschung mögHchst nahe bleiben,!
die oberen aber sich entschiedener über sie fortheben. — ,
Die Geschichtslehre wird beginnen müssen mit einem be-
sonderen, vergleichsweise beschreibenden Teil, der dem Verlauf'
der Entwicklung gewidmet ist, und der nichts anderes bedeuten
soll, als eine Zusammendrängung der Ergebnisse, die eine ent-
wickelnd verfahrende Geschichte der Menschheit zu liefern
haben wird. In ihm wird der Verlauf der Entwicklung Fest-
zulegen sein, geordnet nach Stufen. Doch wird rätlich sein,;
nicht sogleich das GesAititbild einer ganzen Stufe, etwa der!
Urzeit, aufzurollen, sondern zunächst nach Rassen uod Volker-'
grüppeti geschiedene Sonderbilder zu entwerfen.
Ein solches Sonderhild — es schwebt etwa das der Uraeit-
völker roter Rasse vor — müßte folge ndergestalt angelegt
sein. Es wird im selben Sinne in eine Reihe einzelner Sichten,
nach den Bezirken des Lebens geordnet, zu teilen sein. Nach-|
einander werden in einer Einleitung Land und Leute, in einer
ersten Hälfte alle Formen des handelnden Lebens, in einer
zweiten Hälfte alle Arten des geistigen Schaffens vorzuführen sein. I
Nirgends werden hierbei die Ergebnisse einer vorliegenden ent-'
wicklungsgeschichtlichen Darstellung der Urzeitvolker dieser
Gesamtgruppe ungewandelt hingenommen werden können. Denn
diese Darstellung zerstückte im Fall der roten Rasse, wie es
notwendig war, um sie vor blasser Allgemeinheit ?u behüten,
den Stoff nach fünf Stämmefamilien und Völkergruppen in
ebensoviele Teile. Hier aber wird nötig sein, von den einzelnen
Bereichen des handelnden wie des geistigen Lebens ein alle
auf Urzeitstufe verbliebenen Glieder der Rasse umfassendes
Bild zu entwerfen. Die Aufgabe wird dabei eine dreifache
sein: die bei allen fünf Gruppen zutreffenden Gemeinsamkeiten
beiseite zu bringen, so die den einzelnen Gruppen allein zu-
gehörigen Besonderheilen zu gewinnen und endlich eine
Rangordnung von Unterstufen der Urzeitgeschichte herzustellen,
einen idealen Entwicklungsstammbaum zu ermitteln, auf dessen
Stammteile und Zweige die einzelnen tatsächlich nachgewiesei
Zustände als Entwicklungsabschnitte abzutragen wären.
Die beiden ersten Aufgaben verstehen sich von selbst;
dritte bedarf einiger Erläuterungen. Jede geschichtliche Auf-
fassung der Urzeit, die auf Formung eines einheitlichen Bildes'
drängt, wird für ihre Pflicht halten, durch fortgesetzte Ver-
gleiche die Einzel zustände, welche die heutige Völkerkunde
snAttl
; dl?
k
kennen läßt, sei es als gleiche oder ähnlich gerichtete Ent-
wicklungsstrecken zusatTtmeüzuordneti, sei es als Mutter- oder
Tochterbildungen, oder als noch entferntere Gebilde auf- oder
absteigender Verwandtschaft zu erkennen, sei es endlich als
gänzlich voneinander getrennte Wachstümer, als verschiedene,
wenn auch schlieDHch von einem Stamme oder einem Ast ent-
sprossene Zweige eines anzunehmenden vielfach verästelten
Baumes zu deuten. Die Bluteinheit der hier als Beispiel be-
nutzten roten Rasse im besonderen kann so wenig in Frage
gezogen werden, die Verzweigung kleinerer Teilgruppen in ihr
— ein einleuchtendes Seitenstück geringeren Maßstabes — läßt
sich aus Sprach- und Verfassutigsgeschichte so unwiderleglich
nachweisen, daD man für sie am wenigsten an der Notwendigkeit
dieses Verfahrens wird zweifeln dürfen. Nur so kann man mit
einiger Sicherheit zu einer Entwicklung innerhalb der Urzeit
gelangen, Und was sonst nicht ein Unglück nur für die Be-
troffenen, sondern ebenso für die Forschung ist, die gewaltsame
Durchschneidung der einzelnen Gruppenentwicklungen durch
die Zufälligkeiten der europäischen Eroberung, wird so noch
ein Anlaß zu fruchtbarer Bereicherung unserer Erkenntnis-
möglichkeit: die Parzenschere der Übermacht der Weißen hat
diese Fäden an den verschiedensten Stellen durchschnitten^ und
so läßt sich bei ailer Brüchigkeit und Beschränktheit der vor-
handenen Beschreibungen gar nicht selten eine Folge von Zu-
standen herstellen» die zwar verschiedenen Stammesentwicklungen
entnommen, doch als eine schlüssige Reihe von Abschnitten
des gleichen Werdegangs gedeutet werden können und müssen.
So ist gar nicht daran zu zweifeln, daß es möglich sein
wird, etwa innerhalb der roten Rasse einen Stammbaum der
Bauformen von Staat und Familie zu entwerfen; der der
Glauhensformen wird größere Schwierigkeiten bereiten, von
vielen anderen zu geschweigen, an die heut noch gar nicht zu
denken ist. Einer dieser Stammbäume müßte, falls man nur
den Stoff schon durcharbeitet hätte, auf die sichersten und
klarsten Umrisse gebracht werden können: die der Sprache.
Denn da sie in ganzem Umfang vorliegen, und da eine ge-
schichtliche Auflösung dieser freilich kristallhart gegebenen
Zustandsbilder einer eindringlichen Anstrengung keinen Wider-
stand wird leisten können, so wird hier einstmals das muster-
hafteste Bild eines Entwicklungsstammbaumes entworfen werden
können. Für heut ist daran freilich nicht zu denken, die
Philologie^ die fort und fort bemüht ist, Für die Forschungsweise
der Queltenprüfung die köstlichsten und feinsten Werkzeuge
fF
anzufertigen, hat für die Sprachgeschichte der UrzeJtvölker nur
erst wenig Zeit und wenig Arbeiter übrig gehabt. Und doch
lockt hier ein Forschungsfeld, das die reichsten Ernten tn Aus- |
Sicht stellt Sind die Hunderte amerikanischer Spracheti und
Mundarten, die bestehen, einmal einer Stammtafel eingeordnet« |
so wird dies nicht allein der weitest verflochtene^ nein auch
der sicherst gefügte der Stammbäume sein. Und eben die
Philologie, die zu Jacob Grimms Zeiten die besten Lorbeeren
solcher Kulturgenealogie gepflückt hat, wird dann noch einmal
schöne Siege feiern. Es ist ein Gedanke, fast betrübend für
den Geschichtsforscher von Staat und Gesellschaft, daß die
Sprachwissenschaft, die schon die sichersten Forschungsweisen
für Prüfung und Zerlegung der Nachrichten, also für die be-
schreibende Geschichtsforschung, ausgebildet hat, einstmals auch
noch dem Entwicklungsgedanken die vollkommensten Dienste i
leisten wird. Aber eine Reihe von Jahrzehnten erst wird zu
diesem Ziele führen, heul ist der Zustand der, daß erst eine
begrenzte Anzahl von Sprachen auch nur notdürftig aufgenomraeti
ist, ganz wenige aber wirklich beraeistert sind.
Ein Stammbaum der Bauformen von Familie und Staat ist
schon um deswillen weit leichter aufzurichten» weil hier die
Formenfülle sicherlich weit geringer ist, als im Reich der
Sprache. Sehr oft wird es gar nicht nötig sein, dieser Stamm-
tafel so viel Zweige und Aste zu gehen, wie die Rasse selbst
sie hat. Denn da nur der ideale Stammbaum der Bauformen
erforderlich ist, werden oft sehr verschiedene Stämmefamilien
und Stammesgruppen in eine Entwicklungslinie zusammen-
zufassen sein. So ist z. B. die unzusammengesetzte, unpaarige
Siedlerschaft, d. h. die Keimform eines Staatsgebildes, das zwar
schon in Sonderfamilien, aber nicht in weitere Blutsverbände
zerfallen ist, über den größten Teil von Südamerika verbreitet,
aber in gleichsinniger Bildung auch im äußersten Norden von
Nordamerika zu finden. Andrerseits weist die viel reichere
Entwicklung des gedoppelten, aus der Vereinigung zweier Horden
entsprossenen Geschlechterstaates, die in Nordwest- und Nord-
ostameriba so zahlreiche und wohlgegliederte Beispiele aufzu-
weisen hat, weit eher eine geradlinige Folge von auseinander
abzuleitenden Stufenzuständen auf, als ein vielverasteltes
Zweignetz. So ist lu vermuten, daß auch ein endgültiges Bild
dieses Stammbaumes der roten Rasse im wesentlichen nur zwei
Starke Zweige der Familieü- und Staatsverfassung aufweisen
wird, entsprießend aus dem vorauszusetzenden Stamm der Horde.
Die gleichen Fragestellungen wie für Familie und St
Glauben und Sprache, sind für äie anderen Sonderbezirke des
Lebens der Urzeitvolker der roten Rasse für Wirtschaft und
Geselligkeit, Familie und Klasse, Für Recht, Staats- uitd Kriegs-
kunst im Bereich der gesellschaFiüchen Ordnung, für Kunst
üijd Sprache, Tanz-, Ton- und Dichtkunst, für Wissen, Werkzeug
und Heilkunde im Bezirk des geistigen SchaPFens, für die Form
der Persönlichkeit in beiden Gebieten notwendig. Eine Zu-
sammenfassung der Antworten wird ein neues Gesamtbild dieser
Familie von Urzeitvölkern ermöglichen, wird zur Herstellung
von letzten Charakteristiken der einzelnen Teilgruppen, der
Kolumbianer, der Nordostaitierikaner usf. führen, wird Einheit
und Entwicklungsgang der rcten Rasse überhaupt erkennen
lehren, wird die auswärtigen Beeinflussungen durch Fremde
Rassen leichter ausscheiden lassen.
Erst wenn allen Rassen und Völkergruppen der Urzeitstufe
die gleiche Behandlung zuteil wird, ist der Boden geschaffen
für eine zweite, höhere Schicht der Zusammenfassung, für eine
Vergleichting dieser Menschheitsteile zuerst In Hinsicht auF die
einzelnen Entwicklungsreihen der VerFasstjng, der Famtlie,
des Glaubens, der Kunst usf., wobei dann wieder die Ge-
meinsamkeiten, die Besonderheiten und die Unterstufen der
Entwicklung zu betrachten sind. Zum zweiten muß eine Ver-
gleichung der Rassen und VÖlkergruppen als einer Reihe von
Einheiten siatiFlnden. Sie wird zugleich die Grundlegung einer
geschichtlichen und also wahrhaft unparteiischen Rassenlehre
bilden. Sie wird zeigen, wie ungerecht viele Rassen angriffe
sind, insofern sie im Grunde nicht Rassen-, sondern Stufen-
verschiedenheiten treffen. Sie wird die von den einzelnen Rassen
nod VÖlkergruppen innerhalb der Urzeit zurückgelegten Ent-
wicklungsbahnen vergleichen und als Begleichungen gegeneinander
abschätzen, sie wird Kraft oder Schwäche, Blässe oder Farbigkeit
der einzelnen geistigen oder gesellschaftlichen Hervorbringungen
der Rassen und der VÖlkergruppen gegeneinander abstufen, sie
wird endlich erweisen, daß zwar die Richtung der einzelnen
Urzeitentwicklungen die gleiche, ihre Geschwindigkeit aber,
ihr Zeitverbrauch ein verschiedener ist.
Wird das gleiche Verfahren für die höheren Entwicklungs-
stufen befolgt. Für Altertum, IVlittelalter, neuere und neueste Zeit,
die alle sich in nach oben abnehmender Völkerzahl an der Pyra-
mide der Menschheitsgeschichte wahrnehmen lassen, so tritt zum
mindesten in dem neueuropäischen Weltalter, bei der germanisch-
romanischen Völkergruppe,' vielfach aber auch sonst der weit
günstigere Fall ein, d&D die immer weiter fortgehende Ver-
flstelung und Verzweigung des Stammbaumes der Entwicklung
nicht mehr durch mühsame Aneinanderfügung von Stücken gans.
verschiedener Entwicklungsbahnen und durch begriffliche Er-
gänzung von fehlenden Zwischengliedern, von missing links za
erschließen ist, sondern an den olfensichtlich vollzogenen, nach
Jahreszahlen geordneten Verläufen unmittelbar abzulesen ist.
Auf eine der Entwicklungsverzweigungen höherer und
höchster Stufen, die sich in durchaus stammbaumhafter Form dem,.
Blick darstellen» sei im Vorübergehen hingewiesen. Vor allem
um einem der Einwände zu begegnen, die gegen eine derartig
biologische Geschichtsauffassung am Öftesten gemacht werden.
Man erklärt immer wieder, es sei völlig ungerechtfertigt, ein so,
pflanzenhafles Wachstum menschlicher Einrichtungs- oder Vor-
sEellungsmassen antunehmeti, wie es hier etwa für Verfassungs-
und für Glauhensgebilde lebender Urzeitvölker geschehen ist.!
Der Mensch handle bewußt, und nach dem Dogma der Willens-
freiheit dürfe ihm durchaus nicht zugemutet werden, als Träger
derartig über ihn hinauswachsender Entwicklungen zu gelten.
Allenfalls könne derartiges für die frühen dumpferen Alter der
Menschheit zugegeben werden, nicht aber für die höheren,
dtiferenzierteren. Solchen Beweisführungen
nützlich, darauf zu verweisen, daß sich im
gut überlieferter Geschichte Entwicklungen
die in jedem Sinne sich wie Wachstum und
gegenüber ist es,
hellen Tageslicht
vollzogen haben,
Verzweigung dar-
stellen: so die der mittelalterlichen und neuzeitlichen Stände-
vertretungen und Verwaltungsbehörden.
Diese Beispiele sind für den genannten Zweck um so dien-
licher, als es sich um Körperschaften von geringer Kopfzahl und
von bedeutender Stellung, von persönlicher Befähigung ihrer Mit-
glieder handelt. Denn auch in neuester Zeit, und gerade in
ihr, liegen geschichtliche Erscheinungen vor, an deren pflanzen-
hafter Entwicklungsfähigkeit nicht wohl zu zweifeln ist: so die
großen wirtschafts- und klassengeschichtlichen Umbildungen der
Arbeiterschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Hier aber, so pflegt
man einzuwenden, lägen Massenerscheinungen vor, die von'
gleicher Dumpfheit wie jene Urzeitverläufe, auch gleich wenig
bewiesen für Vorgänge in der höheren Schicht, in der die
Persönlichkeit weit mehr zur Geltung komme. Allerdings begehl
man dabei einen Fehlschluß, dem schon grundsätzlich entgegen-
getreten werden muß; man hält nämlich die Macht der Per-
sönlichkeit für gleichbedeutend mit einer Ausnahmestellung,
mit einer Art von Außergesetzlichkeit ihres Handelns. Ini
Wahrheit aber ist eben die stärkste Persönlichkeit nicht
i$
willkürliche Ablenkung, sondern in der Regel eine Beschleunigung
der in den Händen der Massen oder der Mittelmäßigen oft nur
sLlzu trägen Entwicklungsverläufe. Die Kraft des Einzel-
menschen aber hat nichts £u schaffen mit der Bedingtheit und
Verursachtheit seiner Handlungen, wie denn ein so eifriger
Verehrer und Förderer der Persönlichkeit, wie Nietzsche, der
iiberzeugteste Deterrninist war. Jeder Forscher bat Anlaß
genug, Selbstbeobachtung zu üben, die Selbstbeobachtung, die
dem geschichtswissenschaftlichen Denken ohnehin nötig ist,
und er möclite leicht gewahr werden, wie die allermeisten seiner
angeblich eigensten Meinungen und Gedanken durchaus zeit-
gemäßej will sagen massenmäßige oder doch überlieferte, auf
ilin eingeflossene sind.
Aber eben weil man dies heute noch so häufig verkennt,
mag es nützen, an eine Entwicklung zu erinnern, die von
wenigen Häuptern getragen, den Niederungen der Geschichte
enthoben und doch durchaus den Eindruck eines tierischen
oder pflanzlichen Artenstammbaumes macht; es ist die unendlich
vielverzweigte Stammtafel von Staatseinrichtungen, von Ver-
fassungs- und Verwal tu ngskörpersc haften, an deren Spitze als
Abnengebilde die curia regis des frühen Mittelalters steht. Aus
ihr sind einmal alle Parlamente, Ständeversammiungen, Reichs-
und Landtage hervorgegangen^ zum zweiten alle auFeinander-
Folgenden Formen der obersten Gerichte, Verwaltungs- und
Finanzbehörden: Hof des Königs, Hofgericht, Parlament, Ex-
chequer, chambre des comptes, Rat des Königs, Geheimer Rat,
Hofkammer, Kammergericht ^ Generaldirektorium , Staatsrat,
Kabinett, Ministerium, mit allen ihren Hunderten von Ab- und
Spielarten. Hier ist ein Muttergebilde von quallenhaFter Un-
bestimmtheit und Unfestheit, und hier sind tausend Filiationen,
in denen sich immer neue Tochterformen abgegliedert und ab-
gespalten haben. Frankreich^ Deutschland, England, aber auch
alle germanisch-romanischen Staaten der zweiten Reihe sind
an diesem Stammbaum beteiligt, der bis in die Karlin gerzeiten
zurückreicht und noch in unseren Tagen nicht aufhört, immer
neue Sprossen und Äste zu treiben.'
' Man Tergleiche vor allem Schmotters Einleitung über Behörden-
organisaiton, Amtsvesen und Beamlentum (Acta borassica I). Ich darf
ferner ftuT den Versuch hinweisen, den ich gemacbt habe, diesen Stamm'-
bftum in seiner Siteren Schicht (bis gegen 1550) zu verfolgen. (Schmollers
Jahrlsuch f. GesetTgebung XXI [1897] 57ff., I227ff,) Die umfassendste und
gefiaueste Übersiebt über die neuere und neueale Zeit gab, wenigstens für
die BauforTnen der obersten Siaatsbebörden der groß angelegte Vortrag
Hintzcfi auf dem Kongreß deutscher Historiker zu Dresden 1907.
16
Es wird kaum in einem Bezirk der Gesellschafts- wie d
Geislesgeschichte unmöglich sein, Stemmbäume der Formen d
menschlichen St:haifens aufzustellen, die dem hier angedeuteted
wahlverwandt sind. In gewissen Zweigen geschichtlicher Wissen-
schaft ist seit Jahrzehnten, in anderen seit anderthalb Jahr
hunderten die Arbeit nach diese tn Grundsatz geordnet: dif
Geschichte der Baultunst, die des Rechts, die der Sprache leuch^
ten in diesem Betracht hervor. Aber auch dort, wo dk Betrach-«
tung des einzelnen, sei es der Einzeltat, sei es des elnzelned
Schaffenden, dieser Bewegung Widerstand geleistet hat, wird
deren Sieg nicht ausbleiben. So wird in der Geschichte de<
Schrifttums ein sicherer Boden für die Würdigung des einzelnei]
Diebfers, die heut noch ebensosehr überwiegt» wie die LebensJ
beschreibung, doch erst dann gewonnen werden, wenn die langet
Reihen der Entwicklung der einzelnen Dich tun gs formen her
gestellt sind. Noch das geistige Vermögen der Größten kant
erst dann recht abgeschätzt werden, wenn man ihr Erbgut inven-i
tarisiert hat; selbst Goethes Wahlverwandtschaften können einen
dauerhaften Maßstab ihres Wertes erst durch eine vollsländiga
Entwicklungsgeschichte des europäischen Romanes im achtzehnied
Jahrhundert erhalten. Und wo heut die Erkenntnis so vielel
Ettizelglieder in diesen Verkettungen, so vieler Einzeleinfiüssej
EinzeUbhängigkeiten mit Glück eingeleitet worden ist, da wirjj
schließlich erst die Eröffnung ganz weiter Sichten die volld
Befriedigung dieses wissenschaftlichen Bedüri^nisses herbeiführen]
Man schelte auch nicht auf die Zertrennung der Reihen alfl
willkürlich und allzu anatomisch, dem einen und vollen Lebeij
-gegenüber. Denn es ist notwendig, die Teilentwicklungen zu
übersehen, ehe der Versuch gemacht wird, den Werdegang ded
Ganzen anzuschauen. Und es ist eine Entwicklung da, dereif
innerstes Wesen schon eine Vereinigung und Verknüpfung alte|
anderen bedeutet: die Entwicklung der Persönlichkeit. j
Daß nämlich über dem Streben nach Erkenntnis der Sach^
zusammenhänge nicht der Einzelmensch, der starke Einzelmenscb
vergessen werde, dafür wird eine Geschichte der Persönlichkeit
Sorge tragen müssen. Denn nicht dies ist die iWeinung, den
Entwicklungsgedanken als eine Gattung des geschichtlichen Kol-
lektivismus aufzufassen : so verwandt beide Formen geschichtlicheij
Auffassung sein mögen, ein und dasselbe sind sie nichtJ
Tausendmal mögen die Forscher, die der Entwicklung nach-J
spürten, auf Massen Vorgänge gestoßen sein, tausendmal mdgeif
sie die JVlacht der Zustände, d. h, der Massenvorgänge, dort zurj
Geltung gebracht haben, wo man zuvor irrig die Taten Einzelne.
17
diein wirksam sah. Aber das sei ferne, d&Ü nun etwa die
große Tat, der große Mensch miQkflnnt werde üjid an Stelle der
alten, in ihrer biographischen Einseitigkeit gewiß nicht haltbaren
Losung: Männer machen die Geschichte, die neue schlimmere:
Massen machen die Geschichte, gesetzt werde. Denn so häufig
die Anwälte der Bevöllierungsschichten von ungeheurer Kopfzahl
und ihrer Massenbewegungen das Feldgeschrei ausgegeben haben,
das wäre keine frohe, sondern eine schlimme Botschaft. Wir
würden durch sie um das kostbarste Gut der Geschichte, um die
Verehrung der groCen Menschen betrogen. Und begrifflich liegt
hier, bei den sozialistisch-radikalen, wie bei den bürgerlich-
gemäDigten Vertretern des Kollektivismus, unzweiFelhaft em
Fehlschluß vor. Die Folgerichtigkeit des Eniwtcklungsgedankens
kann nie dadurch in Frage gestellt werden, daß sich oft, in
bestimmten Bezirken der Geschichte — in Kunst und Dichtung
etwa — sehr oft, als Glieder der Ursachenketten nicht sogenannte
Zustände, richtiger Massenveränderungen, Massenvorgänge, son-
dern die Gestalten großer Einzelner herausstellen. Tausend Schuh-
machermeister können allenfalls leisten, was ein Schnhfabrikleiter
leistet, aber noch nie ist glücklicherweise jemand auf den miß-
ratenen Gedanken gekommen, die Bücher von tausend Gold'
schnitt-Dichterlingen könnten das Werk Goethes ersetzen. Niemand
wird das Dasein und die Schubkraft der höchsten oder stärksten
Wellen des Meeres darum ableugnen dürfen, weil er annimmt,
daO fiÄT ihre Entstehung die gleichen Bewegungsgesetze gelten,
wie für die der niedersten und schwächsten. So gewiß aber
diese Forderung dem Massengedanken, dem Kollektivismus ent-
gegentritt, 50 gewiß soll sie auch nicht etwa ein Aufgeben des
Entwicklungsgedankens bedeuten oder eine Rückkehr zur reinen
Beschreibung, in diesem Fall der Lebensbeschreibung. Nicht
darauf kommt es an, die Bildnisse einzelner Führender zu-
einander zu häufen, sondern auch hier die Wandlung in langer
Linie zu verfolgen, nicht Geschichte der Personen, sondern
»Geschichte der Persönlichkeit zu geben. —
l Neben die Einzelentwicklungen der verschiedenen Sach-
und Persönlichkeitsgeschichten stellen sich aber Geschichtskörper
anderer An, die, an räumliche oder an Blutsschranken gebunden,
inaich Vereinigungen aller jener Reihen darstellen: dieGeschichten
der Völker, Völkergruppen, Rassen, die im Grunde Sache
der erzählenden Geschichtsforschung in verkürzten Maßen und
zusammengedrängten Übersichten dennoch auch hier nicht fehlen
dürfen. Auch diese Gesamtentwicklungen haben ihr eignes
Säfteströmen und Aufwärisschießen und müssen es otfenbaren.
I
Es ist notwendig, sie über alle Grenzen der StuFenalter der
Menschheit Fort zu verfolgen, sie im Längsschnitt als Einheiten ^
zu begreifen. I
Aber diese Ihre Eigentümlichkeit wird nicht durch eine
rohe Aneinanderfugung ihrer Einzelenlwicklungen, ja auch noch '
nicht völlig durch eine Beobachtung der Bewegungsgem einsam- ■
keiten dieser Einielentwicklungen aufzufinden sein, Volkstümer
— und in etwas minderem Grade auch die ZeiiaUer, für die
rückgreifend diese Darlegung ebenfalls gelten mag — haben ■
einen Hauch von Eigenheit, der sich dem Sehenden wenigstens
viel sichtbarer und deutlicher in gewissen Zügen ihres äußeren,
ihres inneren Wesens darbietet, als in allen Sachgeschichten.
Zunächst im äußeren: in der Gebärde.
Es gibt ein halb seelisches, halb sinnliches Sichgeben der
Einzelnen wie der Gemeinschaften, das sich in einer bildhaften
Stärke und unmißverständlichen Deutlichkeit ausprägt in der
leibhaften Gebärde, in der Haltung, im Schrittmaß des Ganges^
des Tanzes und aller ihrer Spiegelbilder und Nachhalle, in Kunst
und Dichtung, Sprache und Rede, im Schauspiel und Tonbild.
E$ spricht eine stumme und unendlich schwer zu erlernende,
aber zuletzt doch aufzuschlieCende Sprache; am deutlichsten
vielleicht dort, wo die bewußten, die begrifflich zu formenden
Gedanken sich am wenigsten einzuschleichen vermögen, so in
Gang, Gebärde und Tanz der wirklichen, wie der von Malerei
und Bildnerei widergespiegelten Menschen, oder in den Linien
der Bau- und der Zierkunst, oder in den Ausdrucksmitteln, den
Zärtlichkeiten und den SeelentÖnea befreundeter, sich liebender
Einzelmenschen. Aber derlei Gebärde und Schrittmaß beherrscht
auch die scheinbar entferntesten Bezirke des handelnden wie
de$ geistigen Schaffens: es gibt noch ein Gebärde der Staais-
kunst, es gibt noch eine Gebärde de« Philosophierens. Bismarck
Wandelte in anderem Schrittmaß über die Bühne des europäischen
Mflchtspiels, als Napoleon; Kants Werke haben eine so köstliche
Bizarrerie des Vortrags, der Abschnittsteilung und noch der
Dispositionsfehler, daß sie einer gotischen Kathedrale oder einem
scholastischen Lehrgebäude weit verwandter sind, als etwa
Spinozas lichter Gedankengeometrie oder der weich schwellenden,
üppig reichen Phantasiefiille des höchsten Platon. Und wer
will sagen, ob die im unmittelbaren oder im abgeleiteten Wort-
verstand sinnlichen Werte der so entstehenden Gebärdenbilder
der Völker und der Zeiten für eine zukünftige Erkenntnis der
Geschichte nicht mehr noch bedeuten werden als die festeren
Gefüge der Stammbäume von Staats-, Denk- und Kunstformen.
I
ä
19
Und noch ein zweites so zartes Gesamtbild wird für die
Vollistümer — wie ebenfalls für die Stufenalter — zu scbaffen
vonnoten sein, ein dem inneren Leben Hngehöriges: eines von
der Seele der Völker, der Zeilen, Man hat so viel von der
Volksseele» von der Massenspyche in der Geschichte gesprochen,
iber ich weiß nicht, ob dabei eigentlich vorgeschwebt hat, an
was ich denke. Es gibt Klänge der Volkslieder, so gut wie der
höchsten Tonkunst, aus denen herauslönt, was das Zarteste,
Eigentümlictiste eines Volkes ist. Es klingt aus der Wort- und
Satzbetonung vielleicht ungebrochener hervor, als aus den
Formen oder gar der Satzlehre einer Sprache. Es sieht vielleicht
nicht im Wortlaut^ wohl aber in den Randnoten der Erlasse der
Könige. Es ist eher auFzußnden im Satzbau oder in den Schluß-
formeln, als im eigentlichen Inhalt der Aktenstücke. Es zeigt
sich in kleinen Eigentiimlichkeiren der Farben und Linien, aber
auch der StoPfwahl der Gemälde vielleicht unzweideutiger als
in denjenigen Grundzügen von Form und Inhalt der Bilder,
die man der Beurteilung ihres Stiles zugrunde zu legen pflegt.
Es ist in der Anekdote der großen Menschen öfter zu ßnden,
als in den bedeutenden Handlungen ihrer Lebensgeschichte. Die
Gebärde selbst wird in ihrem Gesamtumfang als Zeugnis Für
die Geschichte der Seele auszunutzen sein; di^ Haltung der
Seele ist die innere Gebärde der Einzelnen und der Völker, so
wie die Gebärde Nachhall und Auswirkung der Seele ist. Die
Gebärde ist der plastische, die Seele der flüssige musikalische
Ausdruck der gleichen GrundkraFt. Wenn man von einem Fluidum
der Zeiten spricht, hat man dies Schwankende recht bezeichnet;
das Wort Humor triPft die Flüssigkeil aller Seelenzusiände noch
sicherer. Und es wird erlaubt sein, von einem Humor der
Völker, der Zeiten zu reden, nur daß es in dem tiefsten, wuch-
tigsten Sinne dieses proteisch wandelbaren Wortes geschehe.
Der Vorgang der Weltgeschichte selbst, den es endlich ins
Auge zu fassen gilt, ist zustande gekommen, freilich zuerst durch
das Nebeneinander einer großen Zahl von ungefähr gleich ge-
richteten, wenn auch sehr ungleich weit gediehenen Entwick-
lungen, sodann aber dadurch, daß diese Entwicklungen sich
tausendfach berührt, durchkreuzt, beeinflußt, gestört und selbst
zerstört haben. Zu einem größtenteils gefesteten Geschichts-
körper ist diese breiteste aller Gesamtentwicklungen erst seit
wenigen Jahrzehnten geworden, eine vollkommene Geschlossen-
heit wird sie erst in Zukunft aufweisen. Bis dahin hatten noch
viele Gliedergruppen dieses weitesten Gesellschaftsverbandes so
wenig Berührungen miteinander, daß man immer bis zu den
2*
20
I
Wurzeln der Anfänge der Geschichte zurückgehen müßte, um
der Einheit dieses Gebildes innezuwerden, &n der an sicti
trotz aller dieser Einschränkungen picbi gezweifelt werden ksnn. ■
Dieses so tausendfach zerspaltene, dieses unsäglich ver-
worrene Geflecht mit einem Blick übersehbar zu machen,
müßte möglich sein. Die Stimme aber aus jenem Nebeneinander ■
und diesem Durcheinander der Völkereniwicklungen würde die
Gesamtheit der Menschheitsgeschichte ausmachen, die an sich
allerdings, im Gegensatz zu den Entwicklungen aller Teile einen
Verlauf von höchster und wahrhaft vollkommener Einzigkeit
darstellt. —
So schlüssig und überzeugend aber auch diese und viele
andere Geflechte von Fortnen der gesellschaftlichen Ordnung
oder des geistigen Schaffens zuletzt werden hergestellt werden
mögen, so übersichtlich das Gesamtbild der Verläufe der Völker-
entwicklungen und der Menschheitsgeschichte gestaltet werden
mag, ^ wenn nicht heute, so doch nach jahrzehntelanger
Arbeit — alle solche Verknüpfungen werden doch dem Wunsche
bauender Wissenschaft nur wie Stoff und Grundlage ihrer eigent-
lichen Aufstellungen erscheinen. Denn ebendies Fordert ihre
Sendung, daß sie nirgends sich an der Aufßndung von einzelnen,
bestimmten Vorgangsverkettungen genügen läßt, sondern daß sie
den Erscheinungen das Gesetz ablauscht, daß sie nicht die Ver-
läufe selbst nur, sondern die Regel dieser Verläufe aufzudecken
trachte.
Ein zweiter allgemeiner, ein beobachtender Teil wird sich
diesem Amt zu umerziehen haben. Doch auch er wird auf die
Pyramidenschichien des ersten besonderen Teils nicht ohne
weiteres allgemeine Gesetze des geschichtlichen Werdens auf- ■
bauen dürfen. Er wird vorsichtiger vielmehr die einzelnen
Gruppen der Verlaufserscheinungen prüfen und aus ihrem Was
das Wie der Entwicklung zu gewinnen trachten. Er wird da-
mit beginnen müssen, die Zustandsketien innerhalb der ein-
zelnen StuFenalter miteinander zu vergleichen, und versuchen
müssen, etwa innerhalb eines einzelnen Sachbezirks, z. B. der
Verfassungsgeschichte, Abfolgeregeln, Verkettungsgesetze zu
finden. Dies Verfahren aber wird durchaus nicht auf die ein-
zelnen Reihen der Sachgeschtchte beschränkt bleiben dürfen,
sondern auch der Persöntichkeitsgeschichte zuzuwenden sein. Ge-
lingt es noch einmal, Reihen, Kurven der PersönlichkeitsForm
in den Zeiten herzustellen, so ist damit schon die Aufgabe ge-
stellt, auch der Regel dieser Reihen- und Kurvenbildung nach-
zuspüren.
2t
Ein Beispiel mag auch hier das Ziel verdeutlichen. Die
halb Staats-, halb familiengescbicbtliche Entwicklung der Ge-
schlechterverfassung in der Urzeit, ohne Zweifel die wJchiigsie
Erscheinung in aller GesellschaPtsgeschichte dieses Entwicklungs-
alters läßt sich in einer Anzahl von Rassen und Familien der
lebenden Lirzeitvölker in Staniiribaunifolge ordnen, so in Amerika,
so noch klarer und sicherer auf dem australischen Fesilande.
Afrikanische, mongolische^ semitische, insonderheit arabische,
kellische, römisch-griechische, germanische Formen werden sich
einordnen und angliedern lassen. Die Forschung wird sich
nicht immer nur auf entwicklungsgeschichtlich zu erschließende
Reiben zu verlassen brauchen, sie wird oFt auch überlieferte
Zustandsfolgen herbeiziehen können, und so wird möglich sein,
eine Anzahl von Entwicklungen des Geschlechterbaus neben-
einander zu stellen. Vielleicht wird man eine Anzahl Grund-
einrichtungen zu einer einzigen idealen Entwicktungslinie ver-
binden können; sicher aber wird möglich sein, in den Ver-
zweigungen eines Stammbaums die sehr häußg ähnlichen, oft
sogar gleichlänßgen Entwicklungsstrecken zu vereinigen. Einem
solchen Emwicklungsbilde aber, das zu umreißen Aufgabe des
besonderen, beschreibenden Teils der Geschichtslehre sein
würde, müssen sich Beobachtungen ablocken lassen über die
Richtung und das Wie und vielleicht schon über das Warum
der Abfolge, wenn nur überall mit der höchsten Vorsicht das
Allgemeingültige von den Besonderheiten der Einzelfalle abge-
schieden wird, und wenn nirgends stufenungleiche Entwicklungs-
strecken zu Unrecht zusammengestellt werden. Immer wird
es vor allem andern auf die Übergänge, die Umschläge, die
Biegungen der Entwicklungslinien ankommen. Und es wird
ledesmat von neuem nötig sein zu ermitteln, ob diese Biegungen
aus der Entwicklungsreihe selbst oder aus irgendwelchen An-
stÖDen oder Einflüssen von außen, von anderen Reihen her ab-
zuleiten sind. Aber unzweifelhaft wird die Zusammenstellung
so vieler verschiedener Einzelentwicklungen Prüfungs werk zeuge
und UnterscheiduQgsmittel an die Hand geben ^ die Einzel-
beobachtungen niemals zur Verfügung haben würden.
Würde manj dies eine Beispiel wenigstens sei zu Hilfe
gerufen, für die Entwicklungsrichtungen des beherrschenden
Gebildes aller Staats- und Familienordnung der Urzeit, der Ge-
schlechterverfassung eine Regel aufsuchen wollen, so würde
man allerdings aus jener wohlgeschlossenen Kette aneinander
passender Zustände der Amerikaner, von der schon die Rede
war, mehr als einen Schluß allgemeiner Gültigkeit ziehen dürfen.
Aber schon wo diese Gültigkeit beginnt, wo sie endet, würde
sich erst aus der Verglejchüng mit allen anderen Eniwicklungs-
reihen ergeben. Und oft kommen die räumlich am weitesten
getrentiten einander zu Hilfe. Auf die schottische Geschlechter-
Verfassung den Blick zu lenken, gibt uns schon der Käme Clan
Anlaß, den man mit Recht und mit Unrecht auF ganz entlegene
Gebilde von Blutsverbänden angewandt hat, obwohl ihr selbst
Morgan nur eine ganz nüchtige Aufmerksamkeit geschenkt hat.*
Aber gerade an ihr fallen zwei Eigenschaften ins Auge, die allen
Beobachtungen widersprechen, die etwa an den Geschlechter-
staalen der amerikanischen Urzeitvölker zu machen wären.
Die schottischen Clane weisen zuletzt nicht die mindeste Sptir
des Inzuchtverbotes auf, ^ das im Grunde als eines der ent-
scheidenden Merkmale aller Geschlechterbildung zu gelten hat,
und sie sind ferner zu örtlichen Gemetnschafien geworden,
deren Sitze zusammenhängende und wohlumgrenzte Bezirke
darstellen;^ auch dies im schroffsten Gegensatze zu den ameri-
kanischen Geschlechterstaaten, deren Blutsverbände in weit
zerstreuter Gemengelage über die örtlichen Bezirke, ja auch über
die einzelnen Siedterschaften hin versprengt zu sein pflegen.*
Wie wichtig ist es da nun, zu erfahren, daU es im südc>stliclien
Australien Völkerschaften gibt, die diese beiden Eigentümlich-
keiten, die so weit von der Grundform des Geschlechterbaus ab-
' Br Elfit es erfitaunlicherwelse bei einer Benutzung Scottsefaer
Romane sein Bewenden haben; eine Quelle, die um so bedenhljcher ist,
als selbst Scotts geachicb (liehe Anschauung von den schottischen Groß-
gescblecbtern in die Irre ging; er war noch von der allen Meinung be-
herrscbr, die in ihnen Ausflösse des Lehnswesens sahy und die Clan-
bäuptlinge als Lehnsherren, die ClanTnitglieiÜer aber als abhängige Hinrer-
sassen auFFaßte. Noch verwunderlicher ist vielleicbt, daß Morgan die
CebJetBverteilung nach Geschlechtern, die so veit von den Einrichtungen
Beioer Irokesen abweicht, gar nicbt Aia Verschiedenheit bemerkt ba^
(Morgan^ Ancient Society {1877} 357f., Urgesellschaft ^1891] 301 f.) —
^ C n rad y, Geschicbte der Clansveifassung in den ächattischen
Hochlanden (1898) 27, vgl. dazu Andrew Lang, A Hisioryt of Scntland I
(1900} 4, Skene, Celtic Scotland 11! (1880) 2IOff., 28iff., und für die
entsprecbenden Verhlltnisse in Walea: Seeböhm, The tribal &y&Um in
Wales (1895) 54ff. und Skene, Cell, ScotL HS 197 ff., für die in Irland:
SalUvans Introduction (in O'Carry, Of the Manners and Cuslonis of
tke Ancient Irish 1 (1873] S, CLXlIff.) und wiederum Skene, Ceti.
Scotl. II! 135ff., I9lff. " » Adam, The elanx, septs and regiments of
the Scottish Highiands (1908) 2-iff., dazu die Karte des Ciaubesttics.
— * Howitts The Native Trtbes of Soatk East Australia (1904) S29f.,
257ff.: Forschungen von einer Genauigkeir und Eindringlichkeit, durch die
die alleren Darstellungen {z. B. Brough Smyth, Tke Aboriginei of Vic-
toria 1 ([187SJ 7Sff.) völlig beiaelte geacboben worden sind.
23
"weichen, ebenfalls aufweisen. Da sind» alle an der Küste des
heutigen Staates Victoria, die Yerkla, Narrinyeri und andere, bei
denen die Geschlechter zu örtlich geschlossenen, beieinander
siedelnden Genossenschaften geworden sind, und ferner die
Narrang-Ga, bei denen nicht allein diese Verörtlichung des
Blutsverbandes zu beobachten ist, sondern ebenso auch der
gänzliche Mangel jedes Inzuchtverbotes innerhalb der Geschlechter,
und denen es ebensowenig an Seitenstücken fehlt.
K Handelte es sich hier um Absonderlichkeiten, um Zufällig-
leiten im Sinne der Entwicklungsgeschichte, so wäre es offen-
barer Aberwitz, sich auf dieses Zusammentreffen zu berufen.
Die Gefahr ist gar nicht gering, Formähnlichkeiten 2u benutzen,
die, weil stufenungleich, nicht eigentlich auf gleichem Geripp
des Baus beruhen und in Wahrheit nur der Oberfläche ange-
hören. Hier aber steht es mit nichten so. Die Völkerschaften,
■die diese Formeigenschaften aufzeigen, stehen vielmehr am
Endpunkt einer langen Entwicklungsbahn, für deren zahlreiche
Teilabschnitte eine Fülle von Beispielen aus dem sehr mannig-
faltigen Formenschatz australischer Geschlechierordnungen bei-
zubringen ist. Auch ist kein Zweifel an der Richtigkeit dieser
Umordnung eines räumlichen Nebe nein anders in ein zeitliches
Nacheinander. Gesetzt den Fall also, es lie&e sich noch sehr
viel mehr Beobachtungs&toPT zusammenbringen und die Be-
hauptung erweisen, daO die Entwicklungsrichtung der Ge-
■schlechter auf Aufhebung des lozuchtverbotes uod, was sehr
fiel minder gewiQ ist, auf örtlichen Zusammenschluß ihrer
Glieder abziele, so wären hier schon zwei sehr wesentliche
Stützen gewonnen. —
H Die Beobachtung der gegenseitigen Beeinflussungen der
Entwicklungsreihen untereinander wird zum zweiten ermöglichen,
das Wie dieses Auf- und Ineinanderwirkens zu erkennen, wird
lehren, wie sich diese Fäden der faniilien-^ der Staats-, der
wirfschafisgeschichdichen Entwicklungsreihen zu dem Gewebe
der Gesellschaftsgeschichte eines ganzen Stufenalters zu-
sammenschlingen. Denn erst wenn der Stoff so weit zu-
sammengebracht und von Schlacken geläutert ist, wird es möglich
sein, an die alte Frage des geschichtlichen /Waterialisraus, an
Bdie Behauptung der Vorherrschaft der wirtschaftlichen Ent-
wicklung über alle anderen, wirklich gerüstet heranzutreten,
während man sie bisher immer nur mit willkürlich gewählten
und oft auch willkürlich genug ausgelegten Einzelbeispielen zu
lösen versucht hat. Die eine grundsätzlichste Antwort auf dies
Gewirr von Fragen wird freilich heute schon mit Fug geweissagt
24
werden dürfen: daü hier niemals die Einseitigkeit und Ein-
tönigkeit der Ursachenverknüpfungen als Endergebnis sich heraus-
stellen wird, die der gescbichtliche Materialismus so oft im all-
gemeinen behauptet und nie im einzelnen bewiesen hat. Da
überall sonst doch ein unendlich feines GeFlecht zahllos hin-
und wieder wirkenden Fäden sich als EinscTilag und Kette ge-
schichtlicher Ursachen und Wirkungen hersusstellf, ist in dem
einen Fall nicht die plumpe Grohfädigkeit zu erwarten, die jene
Geschichtsanschauung als Grundsatz fordert, mit soviel Recht
sie auch in hundert einzelnen Verkettungen die Macht wirt-
schaftlicher Einflüsse auF die übrigen Bezirke des Lebens der
Völker geltend gemacht hat.
Und so dringend die Losung dieser Fragengruppe sein mag,
feinere Instinkte des GeschichtsTorschers werden doch ihre
Befriedigung hei Losung anderer, in Wahrheit tieferer Rätsel
ßnden» von denen man nur noch nicht so unendlich viel Geredes
und Gepränges gemacht hat. Verfolgt man von einem Stand-
punkt erfahrungswissenschaftlicher Kenntnis aus, wie er allein
durch wahrhaft weltgeschichtliche Zusamment ragung und Be-
wältigung des Stoffes erreicht werden katin, die Auswirkuttgen
des Machttriebes mit dem gleichen Eifer, wie ihn die Anwälte
des geschichtlichen Materialismus dem Erwerbstrieb zugewandt
haben, so wird man auf ein nicht minder mannigfach gesponnenes
Netz von Wirkungen und Gegenwirkungen stoßen, und es würde
sich eine Formenlehre von Einflüssen der in Staatsgewalt ge-
bundenen Macht auf Recht und Wirtschaft, auf Klasse und
Familie, aber auch auf Glauben und Kunst und Forschung auf-
stellen lassen, die an kasuistischem Reichtum dem des ma-
terialistischen Geschichtsglaubens kaum nachstehen würde.
Ingleichen müßte endlich die Gegenrechnung aufgestellt werden
und eine Lehre von den Einwirktjngen der Formen des geistigen
Schaffens, des Ahnens, Bildens, Forschens auf das handelnde
Leben geschaffen werden. Es müDte etwa dem unermeülichett
EinfluH nachgespürt werden, den der Glauben nicht auf die
äußere Gestalt der gesellschaftlichen Ordnungen nur, nein, noch
mehr auf ihren inneren Kern, auf die seelischen Gewalten aus-
geübt hat^ die sich in jenen nur auswirken. Und dies alles
nicht in dem Sinne der leichten, gelegentlichen Bemerkungen,
die zwar allen diesen Zusammenhängen schon hier und da
gegönnt worden sind, sondern mit einem Rüstzeug von Ant-
worten, die einen ungeheuren ErFahrungsstofF immer mit den
gleichen, unerbittlichgleichen Fragstellungeaabgelockt worden sind.
Dann wird auch wieder die Erörterung einer älteren Frage
25
aufgenommen werden, die der nach dermsterialistischen, richtiger
Ökonomistischen, Ausdeutung der Geschichte wahlverwandt,
aber viel älteren Ursprungs ist: der nach den Grenzen des
Einflusses von Boden und Himmel auf die Geschicke der
Völker. Wohl ist dieses Grenzgebiet zwischen Erd- und Ge-
schichtskunde von bedeutenden Geographen durchzogen und
durchforscht worden, am wirksamsten von Ritter einst und von
Ratzel heute, jedoch im Grunde ist dies eine Aufgabe^ die zum
größeren Teil den Geschichtsforschern gestellt ist Denn sie
allein sind, belehrt von den Erdkundigen über die wirkenden
Bestandteile der BeschaFFenheit von Boden und Himmel eines
Landes, imstande, deren Einflüssen auf das Schicksal seiner
Bewohner nachzugehen. Und so wenig sich heute auch nur
mit halber Sicherhett über diese Dinge wird sagen lassen, für
Hdie Forschungsweise ist doch schon eine Regel zu erkennen:
daß hier nur durch Zusammentragung und Vergleichung sehr
vieler und möglichst weit verstreuter Fälle ein Ergebnis zu
erreichen ist. Denn wie in den großen Vorgängen der heutigen
Völkerentwicklung, denen die Statistik nahekommt, muß auch
hier das Gesetz der grollen Zahl die im Einzelfall kaum zu-
tage tretenden Schattierungen des Geschehens durch seine
Vergrößerung erkennbar machen. Es ist zuletzt der gleiche
Grundsatz, dem schon der Begründer dieser Grenzwissenschaft
gefolgt ist: Ritter hatte sich wenigstens dies schon als Ziel
gesetzt, die Besonderheit jedes Landes und seiner Einwirkung
auf den Menschen durch die Vergleichung des Schicksals aller
in ihm angesiedelten Völker in der Folge der Zeiten zu erkennen.'
Alle diese Verknüpfungen betreffen Paarungen von zwei
oder Verbindungen von wenigen Reihen. Eine Gegenüberstellung
aber gilt allen zusammen: die von Sach- und Persönlichkeits-
geschichie, wobei unter Sachgeschichte die Entwicklungsreihen
aller einzelnen Formen menschlichen Dichtens und Trachtens,
im Bereich des handelnden wie des geistigen Lebens, verstanden
werden sollen. Hier findet also in dem Bauplan der Geschichts-
lehre eine der brennendsten und zugleich rätselvollsten Streit-
fragen aller Geschichtsanschauung überhaupt ihre Stätte: die
Frage nach dem Verhältnis zwischen Mann und Zeit. Denn
auch mit jener Vorentscheidung, daß dem starken Etnzelmenschen
sein Platz in der Geschichte gewahrt werden müsse, ist nur eine
der Vorfragen für die Aufklärung dieses Verhältnisses gelost:
^V ^ Man vergl. die begriPnicb scharfe Abgrenzung von Ritters Anteil
^Kbei Herrn. V^tgnert Lehrbuch die Geographie I (^ \9Q3) 22.
die nämlich, ob nur die Zeiten, die Zustände, die Massen-
vorgänge Glieder der Kelte der Entwicklung seien, und zwar
im verneinenden Sinn: zugunsten der Persönlichkeit. An die
Hauptfrage aber, die sich nun erst mit neuer Wucht erhebt, ist
□och nicht gerührt: an die Frage nämlich nach der Abgrenzung
der Eintlußbezirke des starken Einzelmenschen hier, der großen
Menge dort.
Um für ihre Beantworlung, wenn anders eine Antwort
hier überhaupt wird gefunden werden, die Forschung recht
geschickt zu machen, tut vor allem diese Erkenntnis not: däü
Ergebnisse in dieser Richtung nie plumpe und in der Mehrzahl
der Fälle auch nie ganz entschiedene sein können. Denn da
das Leben hundert grobe und tausend Feine Fäden um die
größte wie um die kleinste Handlung spinnt, so kann auch die
Erkenntnis des Lebens nur zu ganz zusammengesetzten, sicher
immer noch viel zu wenig zusammengesetzten Bildern fähren.
So werden namentlich zwischen dem Begri^ des großen Führer-
menschen und dem der Menge viele Zwischenstufen unterschieden
werden müssen. Sie werden vermutlich im Bezirk der Gesell-
schaftsgeschichte sehr zahlreich ausfallen, während von Goethe
bis zum kleinen Dichtersmann vielleicht überraschend wenige
Grade, wenn auch in um so weiter gemessenen Sprüngen,
abwärtsführen. Um hier rasch zu schlüssigen Erkenntnissen zu
kommen, wird es vorläufig vermutlich am dienlichsten sein, einen
sachlich, zeitlich und räumlich ganz begrenzten Bezirk bis ins
letzte hinein zu untersuchen, während andere Teile dieses
unendlich gliederreichen Fragen Zusammenhanges freilich nur
durch weite Übersichten zu lösen sein werden. —
Neben die Einzelentwicklungen der verschiedenen Sach-
geschichten und der Persönlichkeitsgeschichte treten auch hier
wiederum die Geschichten der Völker, VÖlkergruppen, Rassen.
Das Ineinandergreifen dieser viel zusammengesetzteren Gesamt-
entwicklungsreihen muß der Gegenstand eines dritten Unter-
teils der allgemeinen Entwicklungslehre sein. Für die mannig-
fachen Formen der Berührung und Kreuzung, der feindlichen
wie der freundlichen, der Beeinflussung^ der Angliederung und
der Einverleibung, der Störung und der Zerstörung der einen
Gesamtentwicklungen durch die anderen müssen sich Regeln
und Grundsätze aufspüren lassen. Allerdings wird es hier Vor-
gänge geben, die in vielen ihrer Teile in aller Geschichte ein
hohes Maß von Einzigkeit behaupten: so wie der für die ger-
manischen Völker so folgenreiche und schicksalsschwere einer
unablässigen geistigen Beeinflussung durch di^ Gesittung zweier
27
toten Völker, der Griechen und der Römer. Immerhin fehlt es
auch hier nicht an teilweise ähnlichen Seitenstücken: die Wirkung,
die die babylonische Wissenschaft auf alle späteren auch im Tode
noch ausgeübt hat, gehöre in die gleiche Gruppe, wie ungleich
sie auch an Wucht und Allseiligkeit der Beeinflussung jener
anderen Verkettung sein mag. Die minder aufKUige und doch
so folgenreiche Beeinflussung der Romer durch den Geist der
Griechen findet in der der Assyrer durch die Babylonier, in der
der Japaner durch die Chinesen Ähnlichkeiten. Es wird hier
am dringlichsten sein, die Grenze zwischen Einzigkeil und Regel-
hafeigkeit in jedem einzelnen Falle auf das sorgfältigste zu
scheiden. Immer von neuem aber gilt der Satz, daQ der Be-
sonderheit der zusammengesetztesten, also feinsten, also einzig-
artigsten Vorgänge durch eine Feststellung des Kerns von Regel-
haftigkeit in ihnen nicht nur kein Eintrag geschieht, sondern
daß sie dann erst mit GewiSheil und Gewähr der Dauer aus-
gesprochen werden kann. Und vielleicht ist es möglich, zuletzt
seihst dem Gesamtvorgang der Menschheitsgeschichte, dessen
Einzigkeit ganz unbezweifelt ist^ und dem deshalb durch Seiten-
stücke nichts abgewonnen werden kann, Regeln seines Ver-
laufes abzulocken. Denn einmal wäre möglich, daß er mit dem
Werdegang gewisser seiner Glieder, etwa dem sehr zusammen-
gesetzter Völkergruppen, Ähnlichkeiten hatte, sodann könnten
sich innerhalb seiner eigenen Geschichte Teilstrecken finden,
deren Entwicklungen miteinander Gleichläufigkeiten aufwiesen. —
Aber noch ist die Anzahl der Möglichkeiten nicht erschöpft,
die sich der teilenden, reihenden Regelsetzung in der Geschichte
eröffnen. Denn zum vierten ist notwendig, allen den Längs-
schnitten, die die Einzelentwicklungen der Sachgeschichten und
die Gesamtentwicklungen der VÖlkergeschichten, ja die noch die
Menschheitsgeschichte selbst darstellt, Querschichten an die Seite
zu stellen, die alle jene Längsreihen durchschneiden. Es sind
jene Entwicklungsstrecken, nach deren Ordnung der hesondere,
.beschreibende Teil der Geschichtslehre hier umrissen worden
tlst: die Stufen, die Lebensalter der Völker^ der Menschheit. Sie
weichen vielleicht voneinander ab in höherem MaO, in tieferem
Sinn als die Rassen und Volkstümer. Und da es sich hier um
die zusammengesetztesten Gebilde handelt, von denen die Ge-
schichte überhaupt weiß, so macht sich hier stärker als irgendwo
das Bedürfnis nach formelhafter Zusammendrängung ihrer Wesens-
eigentiimlichkeiten geltend. Denn, man überblicke nur, jedes
dieser Lebensalter der Menschheit umfaßt eine Anzahl von
Volks-, wenn nicht von Völkergruppenentwicklungen, von denen
h.
28
jede wiederum ein Bündel von Sachgescbichten und Persön-
lichkeitsentwicklungen darstellt. Nun werden sich allerdings
bestimmte von diesen Ein^clreitien $o weit aus dem Gesamt-
bilde herausheben, daß sie die kennzeichnenden Merkmale für
das Ganze darbieten. So wird man heut schwerlich für alle
IVlittelalter, die europäischen wie die außereuropäischen» ein
hervorstechenderes Kennzeichen finden, als die Adelsherrschaft
ihrer Staats- und Klassenverfassung und die Mystik ihres
Glaubens. Aber einmal ist nicht sicher, ob unsere Wahl dieser
schärfsten Profile eine endgültige ist; es ist eher wahrscheinlich^
daü sie eine sehr zeitgemäße und deshalb allzu zeitgemäße ist.
Und sodann tut gerade hier eine Kennzeichnung des Ganzen
nach einem oder zwei Teilen unserem Bedürfnis nach voll-
kommener Bemeisterung der noch so zerstreuten Stoffe nicht
ein volles Genügen.
Einen Versuch, hier Ersatz zu schaffen, bedeutet der von
dem Schreiber dieser Zeiten seit Jahren verfocbtene und be-
gründete Vorschlag, für das handelnde, wie das geistige Leben der
Völker gemeinsame "Wurzel Vorgänge des gesellschaftsseelischen
Gebarens der StuFenalter aufzuspüren^ aus denen letzte und
ursprünglichste Bewegungs- und Entwicklungserscheinungen in
allen Bezirken dieses doppelten Seins der iUenschhett sich
erklären lassen: so insonderheit den, daü auf den einen Ent-
wicklungsstrecken der Einzelne sich als das handelnde Ich
der Gemeinschaft, als das schauende Ich der Umwelt ein- und
unterzuordnen trachtet^ auf den anderen aber sich ihnen zu ent-
ziehen oder sie zu beherrschen trachtet. Für die europäische Ge-
schichte läßt sich mit einiger Sicherheit wahrscheinlich machen,
daß die Urzeit eine Stufe übervt'iegenden Gemeinschaftsdranges
ist, das Altertum aber — das Zeitalter der kretisch -mykeni sc heu
Gesittung in Griechenland, das vor Gründung des Freistaats in
Rom, das der Merowinger und Karlinger bei den Germapen —
mit seiner starken Königsherrschaft eine der gewaltigsten Aus-
wirkungen des Persönlichkeitstriehes hervorgebracht hat. Jede
Ausdehnung vergleichender Forschung auf die außereuropäischen
Völker bringt neue Beweisstücke dafür auf, daü die lebenden
Urzeitvölker hundert Formen des Gemeinschaftsgedankens, sei
es in der Volksherrschaft des Staates, sei es in der Gemein-
wirlschaft von Jagd, Fischfang und Ackerbau, sei es in den
Familienzusammenhängen der Geschlechter, Großgeschlechter
und Bruderschaften, ausgebildet haben, daß ihre Kunst im selben
Sinn ein Aufgehen des Ichs in der von ihm mit möglichster
Treue nachgeahmten Natur bedeutet, daß die Anfänge ihres
26
fr
Forschers die gleichen Wege gehen, und daß noch ihr phantasie-
siärkstes Schaffen, das im Glauben und in der heiligen Sage
dem Willen und Ziele nach nie etwas anderes erstrebte, als
Verständnis und Ausdeutung der Wirklichkeit. Ingleichen mehren
die Bilder auCereuropäischer Altertums- und Miitelaliervölker
cur die Überzeugung, daß die Stufe des Altertums voll ist
-von Zeugnissen überstarker Ichbetätigung in Staat, Kunst und
Gisuben, und daß das Mittelalter vornehmlich bedingt und
bestimmt i$t von einer Haltung des Einzelnen, auch des starken
Einzelnen, die in Staat und Stand in der Körperschaft aufgeht,
im Glauben gar das mächtigste Gebilde des geistigen Persön-
lichkeitsdranges ^ den höchsten und einzigen Gott auflöst in All
und Allbeseelung. Wenigstens in der griechischen und in der
germanisch-romanischen Entwicklung stellen dann neuere und
neueste Zeit, wenn man nur die gröbsten Umrisse der
Bilder in Rechnung zieht, Hebungen des PersÖnlichkeits-
dranges — die erste — und des Gemeinschaftstriebes — die
zweite — dar.
Gesetzt den Fall, diese Aufstellung könnte auch in den
Nebenlinien als überwiegend gültig nachgewiesen werden, so
würde sich hier eine Kurve von bedeutungsvoller Regelmäßig-
keit ergeben. Vor allem ist auffällig, wie bestimmte Formen
des gesellschaftlichen Verhalteos wiederkehren. Das Mittelalter
ist der Urzeit im selben Sinne verwandt, wie die neuere Zeit
dem Altertum. In den staatlichen und ständischen Einrichtungen
rinnern die Körperschaften des Mittelalters oft so auffallend
an die der Urzeit und heben sich gemeinsam so deutlich gegen
die dazwischenliegenden Schöpfungen der Altertumsstufe mit
ihrem Königs- und Beamtengepräge ab, daß sie sich nicht selten
wie Zeichen einer Wiedergeburt der Urzeit ausnehmen. In*
gleichen hat die Mystik des Mittelalters unendlich viel nähere
Verwandtschaft zu dem Geister- und Allseelenglauben der Ur-
zeit, als zu den scharf umrissenen Göttergestaltea des Alter-
tums, das auch in den Reichen der Himmlischen die Königs-
herrschaft beraufführte. Die Verwandtschaft zwischen dem starken
Königtum der Altertumsstufe mit der unumschränkten Eimel-
berrschaft der neueren Zeit ist ebenso offensichtlich. Und noch
die neueste Zeit nimmt teil an diesen Gleichklängen: ihre
Völksherrschaft ordnet sich oft genug der der Urzeit zu, ihr
Sozialismus erscheint fast wie eine Erneuerung der Gemein-
wirtschaft der Urzeit, ihr Genossenschaftsgeist gibt sich oft be-
wußt, öfters noch unbewußt wie eine Wiederbelebung des
Mittelalters. Die starke Unterströmung des Casarismus und
30
Imperialismus aber schließt sich der Reihe der starlten Konigs-
herrschaften des Altertums und der neueren Zeit völlig an.
Oft reichen diese Ähnlichkeiten bis in die Einzelheiten des
äußeren Gepräges, und aus den Bezirken des Rechts und der
Wirtschaft, der Kunst und Dichtung lassen sich zahlreiche
Seitenstüclie anfügen.
Gelingt dieser Versuch einer gesamtgeschichtlichen Formel-
gebung, was sich endgültig erst nach einer umfassenden Auf-
arbeitung des weltgeschichtlichen Stoffes würde sagen lassen,
so -wäre damit eine Sicht über die Geschichte erÖPFnet vom
Standpunkt des gesellschafiUchen Lebens: das geistige Schaffen
ist hier wie das hEndelnde unter dem Gesichtswinkel des Ver-
haltens des Ichs zur Außenwelt gesehen« die Fragestellung ist
letzten Endes dem gesellschaftlichen Sein des Einzelmenschen
entnommen^ Es ließe sich denken« eine ähnlich umfassende
Anschauung aufzusuchen vom geistigen Wesen des Ichs her.
£s könnte zunächst für Glauben, Bilden und Forschen einer
Stufe eine letzte Formel aufgesucht werden, es könnte geprüft
werden, ob sie nicht auch für die Hervorhringungen in Staat
und Klasse, Recht und Wirtschaft Gellung hätte. Es dürften
auch hier nur die allgemeinsten Eigenschaften ins Auge gefaßt
werden. So ist man versucht, das geistige Gepräge der Urzeit
In der Enge und Begrenztheit des Sehens, it) der Beschränkt-
heit auf nächste Ziele zu erblicken. Die Kunst und das noch
nicht in Glauben und Forschung geschiedene Erkennen trägt
diesen Stempel nächster Enge. Das Reich der Toten ist jenseits
des nächsten Flusses, die JUenschheit und die eigene Völker-
schaft ist eines, und so einbezogen auch ist die geistige Leistung
bei Abschluß der staatlichen, der Blutsverbände. So weist in
schroffstem Gegensatz dazu und in unzweideutiger Klarheit das
nächste Stufenalter der Menschheil, das der Altert ums Völker,
den Grundzug zu weitem Sehen und riesenhaftem Planen auf.
Der Umfang der Reiche, die Macht der Könige, die Größe der
WirtschaFtsbet riebe, die Gestalten der Götter, die Maße der
Tempel, der Blick der Forscher in Weltall und Himmelsraum,
sie alle wachsen ins Riesenhafte: Geist und Gesellschaft er-
scheinen in Hinsicht auf die Weite des Wurfs der planenden
Gedanken ganz von gleicher Art. Die Mittelalter, die europaischen
wie die außereuropäischen, sind auch in diesem Betracht be-
stimmt durch eine Rückbiegung zur Urzeit: jetzt zieht sich
das Ausmaß der Entwürfe wieder ins Enge. Wohl strömt die
Mystik aller Mittelalter ins AH, aber sie sucht Welt und Gott
in das Ich zurückzuziehen und ihre Glaubensgemeinschaften,
31
die Klösier der buddhistischen und der romanisch-germanischen
I Mönchsorden ebensosehr wie die Mysteriengesellschaften der
^■Griechen dieser Stufe rücken ganz nahe zusammen zu esoterisch
^^ausschiießticher oder traulich freundschaftlicher Enge. Die
gotische Kathedrale ist Sinnbild und Gleichnis dieser Bemessung
der Glaubens Vorstellung: dem Himmel, dem Gotte zu reckt sie
sich wohl ins Unendliche und behält^ ja steigert die Maße des
voraufgehenden Alters, aber unten im Grunde rückt sie die
Mauern zusammen, gleich als könne sie die Gemeinschaft der
Gläubigen nicht eng genug vereinen. Die alten Königreiche
aber zerfallen an hundert Stellen: der Staatsgedanke fliegt nur
mehr bis zu den Grenzen des eigenen Gaues, der Kleinstaat ist
das Ergebnis, sei es, daß er sich ganz durchsetzt, sei es, daD er die
GroDstaateti der Altertümsstufe von innen her teilt und spaltet.
^m Und wieder schwingt das Pendel der anderen Seite zu:
"die neuere Zeit ist in dem alt- wie in dem neueuropaischen
Weltalter eine Entwicklungsstufe weiter Würfe, großer Plane.
kopas und Michelangelo, Aischylos und Shakespeare sind
riesenhaft mehr noch in ihrer Leidenschaft^ wie in ihren
Maßen. Die großen Daseins forscher beider Neuzeiten haben
Gedankendome der höchsten Abmessungen erbaut. Das Tat
gewordene Staatsdenken ist vollends von demselben Drang zu
Weite und GröÜe beherrscht: der Staatsgedanke erfuhr in beiden
Wellaltern nach aul^en wie nach innen die stärkste Steigerung.
Die eigentümliche Zwiegespaltenbeit der neuesten Zeit macht
sich auch in dieser Richtung und in beiden Weltaltern geltetid,
wenn auch in hundertfach gestuften Abschattungen, Aristoteles
und Kant sind Cüsaren des Denkens, ihre Forschungsgebäude
von nie erhörter Ausdehnung; die beschreibende und erfahrende
Wissenschaft des Hellenismus wie des 19. Jahrhunderts aber
sucht alles Erforschbare sich in nächste Nähe zu bringen und
zieht den Kreis jedes Arbeiters so eng wie möglich. So auch
trägt die Kunst der Klassizismen beider Weltalter — auch die
Aphrodite von Melos ist eine Erneuerung alter Klassik — ■ weite
nd große Züge, während die Naturalismen beider ihr Glück in
der Versenkung ins Einzelne und Enge suchen. Im Staatlich-
wirtschafilichen aber vertreten Cäsarismus, Imperialismus, Groli-
betrieb hier, Demokratie und Sozialisrnus, auch das spätrömische
Genossen Schafts-, das heutige Zunftweseti dort, die gleiche Zwie-
gespaltenheit eines einmal ins Größte schweifenden Plauens
uad Denkens und dann wieder der Versenkung in die Enge, der
die Genossen nahe aneinanderrückenden Einung, einer den
Nächsten liebend umfassenden Gesellschaftsgesinnung.
32
Allerdings, und dies sei sogleich zugestanden, alle diese an
sich geistigen Formen des Planens und Deniiens, sei es auf das
Schauen^ sei es auf das Handeln gerichtet, möcbten in ihrer
letzten Wurzel als Auswirkungen jener tieferen gesellschafts-
seelischen Grunderscheinungen anzusehen sein. Denn eben in
allen den Stufe^i altera, die gehoben und getragen sind von dem
Umsichgreifen der großen Persönlichkeit, ■weiten sich die Würfe,
höhen sich die Plane, in allen denen aber, die beherrscht sind von
dem Gemeinschaftstrieb des anlehnungs-, hingäbe-, zusammen-
schlußbe dürft igen Einzelnen, ziehen sie sich ins Enge, Be-
grenzte, Trauliche ein. Aber einmal ist dadurch der Wert
dieser Formelgebuag rein geistigen Gesichtswinkels nicht in
Frage gestellt, und sodann wird möglich sein, diesen iVla&stab
noch von ganz anderen Blickpunkten her anzulegen.
Und sicher wird es gelingen, diesen Formelfolgen, die
die Gesamtheit ganzer Entwicklungsalter zu erfassen trachten,
noch andere an die Seite zu stellen. Denn solche UmriQ-
zeichnungen können immer nur einseitig sein, da sie ja von
einem bestimmten Standpunkt her aufgenommen sind. Sie
bedürfen daher um so mehr der Ergänzung durch andere ihres-
gleichen, die dann ebenso einseitig ausfallen müssen, die aber
in ihrer Gesamtheit und mit jenen im Verein zuletzt ein Ganzes
ergeben müssen, das dem Zweck der Vereinfachung und Zu-
sammendrängung des Anblickes der Geschichte nützt, ohne ihr
mehr Vergewalfigung, als billig, anzutun. Denn ohne einen
gewissen Grad von Vergewaltigung wird freilich keine Forme!
aufgestellt werden können; sie liegt im Wesen jeder Verein-
fachung. Und CS ist das Recht der Formel, d. h. der letzten
Verkürzung eines Wissensstoffes, abweichende Nebenzüge über
den Grundlinien zu vernachlässigen, ein Recht, von dem die
Geschichtslehre um so freier wird Gebrauch machen dürfen, je
gewissenhafter sie im Gegensatz zu ihren obersten begrifflichsten
Ausgipfelungen in der Aufstufung ihrer Ergebnisse die unteren
erfahrungsmäßigeren Schichten mit aller erdenklichen Fülle der
Eiozelformen ausstattet.
So ist nicht ausgeschlossen, vielmehr wahrscheinlich, daß
es gelingt, vom Standpunkt der Seele und von dem der Gebärde
her, wie für die Volkstümer und Völkergruppen, so für die
Stufenaller der Gesamtgeschichte, allgemeine Anblicke zu ge-
winnen, die sieb vielleicht sogar zu Formeln zuspitzen lassen.
Doch sei dies Für jetzt dahingestellt. Ein ursprünglichstes Mittel
der Kennzeichnung dieser großen und weitverzweigten Ent-
wicklungsabschnitte wird auch bei Wahrnehmung aller dieser
33
PormelmögllchkeLten nicht vemach lässig! werden dÜTfen: die Zu-
sammenfassung aller Grenzmerkmale der Einzelentwicklungen.^
Denn immer nur aus einem Zusammenwirken von Einseitigkeit
und Vielseitigkeit, von helle Lichter setzender und gleichmäßig
Hell und Dunkel verteilender Farbetigebung wird dem Kern der
Dinge beizulcommen sein. —
Jeder begrifflichen, Jeder bauenden Wissenschaft ist ihrem
Wesen nach der Wunsch eingeboren, nicht allein ihre letzten,
nein, alle ihre Ergebnisse zu formelhafter Vereinfachung und
Verkürzung zuzuspitzen. Deshalb wird eine letzte Aufgabe der
Geschichtslehre sein müssen, in einem Mikrokosmus von Regeln
noch einmal alle die Beobachtungen wiederholten Geschehens
zusammenzufassen, die zu machen ihr überhaupt verstattet ist.
■Sie wird zu geschichtlichen Gesetzen vordringen müssen,
t Die Frage, ob es erlaubt sei, die Wiederholtheiten des
geschichtlichen Geschehens dann Gesetz zu nennen, wenn ihre
Ausnah mslosigkeit erwiesen oder mit einem gewissen Maß von
■Berechtigung vermutet werden kann, soll hier nicht von neuem
"erörtert werden. Sie soll, da ein großer Forscher, wie Schmoller,
der zwei weite Wissensgebiete übersieht und beherrscht und
dazu, ursprünglich ganz Empiriker, jahrzehntelang gegen die
Gesetzesauffassung der älteren Volkswirtschaftslehre gefochten
hat, sich Für die Gesetzmäßigkeit ausspricht,- und da einige der
Ersten unter den Denkern unserer Tage, wie Dilthey und Wundt,
sich teils in analogen, teils in gleichen Fällen für den Gesetzes-
rang dieser Entwicklungsregeln ausgesprochen haben, als ent-
schieden^ im bejahenden Sinne entschieden angenommen werden.
Der strittige Punkt betrifft ohnehin eher den Namen, als das
Wesen der Sache, wenn auch ganz gewiß die herkömmliche
Meinung irrt, die zwischen Geistes- und Naturwissenschaften
»die für das Gesetz eatscheideode Grenze ziehen will.
Es ist eine Auffassung möglich, die ganz einfache Vorgänge,
womöglich nur die aus einer oder wenigen Ursachen und einer
oder wenigen Wirkungen bestehenden Vorgänge unter das Gesetz
ziehen will: Vorgänge, wie die, mit denen die Physik und die
HChemie zu schaffen haben. Sie lehnt aber ab, so zusammen-
^gesetzte Vorgänge, wie die Eniwicklungsverläufe, die etwa
Biologie, Physiologie, Geologie, Sternkunde und Geschichte
i
Ein vorläuflger Versuch dieser Art steht in dem Buche: Die
Völker ewiger Urzeit I (1907)76— 78. — ^ SchmoIIer, Jahrbucb f. Geseiz-
lebung XXIX (1906) 739ff., dazu Scbmoller, Allgemeine VolkswirtscbiFlB-
khre 11 (»-« 1904) ll24ff.
L
34
behandeln, auch dann dieser Ehrenbezeichnung für wert zu halten,
wenn die Regelhaftigkeit erwiesen ist. Hierzu ist zu bemerken,
daQ man an der Zusammenstellung einiger Zweige der Natur-
wissenschaft mit der Geschichte nicht AnstoO nehmen darf,
denn da sie atle EnlwickEungs Vorgänge beobachten, im Grunde
also geschichtlicher Art sind, so stehen sie insofern der Geschichte
näher, als der Physik und Chemie und einer exaktesten Seelen-
kunde, die immer nur mit scharf umgrenzten Einzel Vorgängen
sich zu schaffen machen. Die andere Auffassung aber setzt
VerEaufäbeobachtungen an Wert den Einzelbeobachtungen gleich
und sieht in der Zusammengesetztheit und Undurchdringlichkeit
dieser Verläufe kein Hindernis, ihre Gesetzmäßigkeit dann zu
behaupten, wenn sie sie regelmäßig wiederholt flndet. Und sie
wird zwischen der Entwicklungsgeschichte eines Sonnensystems
und der eines Siaatensystems vielleicht nicht einmal allzugroDe
Unterschiede in Hinsicht auf die Vielfachheit der sie zusammen-
setzenden wirkenden Teile mutmaßen, über die im übrigen
Bestimmtes, ZahlenmäDiges auszusagen in beiden Fällen gleich
mißlich ist.
So mag die Grenzlinie, die hier zu legen ist, weit eher durch
die Reiche der Natur- und der Geisteswissenschaften hindurch,
als zwischen ihnen hergehen. Entscheidend bleibt für die
Frage, ob Gesetz oder nicht, nur der Begriff des Gesetzes selbst
Und in ihm ist durchaus nicht die Forderung der Unzusammen-
gesetztheit, der Unteilbarkeit der unter das Gesetz gestellten
Vorgänge enthalten. Er fordert immer nur die Notwendigkeit
des Geschehens, genauer gesagt, die AusnahmsLosigkeit des
Bishergeschehenseins.
Sucht man aber im allgemeinen festzustellen, welche Gruppen
geschichtlicher Vorgange denn unter das Gesetz fallen sollen,
so ergibt sich sogleich, wie notwendig es ist, der nahen Ver^
wandtschaft von RegeihafEigkeit und Gesetzmäßigkeit eingedenk
zu sein. Alle die auffälligsten Besonderheiten und Hnzigkejten,
die eine vergleichende Geschichte und eine auf ihr ruhende
Geschichtslehre nicht nur nicht verwischen, sondern vielmehr
erst recht deutlich hervorheben werden, weit deutlicher, weit
sicherer als jede beschreibende und betont individualistische
Geschichtsauffassung, die Besonderheiten der Volkstümer, Rassen,
Zeiten, die Einzigkeiten gewisser größter Handlungen, gewisser
größter Menschen, sie scheiden schnell aus dem Bereich der
Gesetzmäßigkeit. Nicht als ob nicht tausend gleichsam durch
sie hindurchleitende Entwicklungsströme vorhanden wären, an
deren Gesetzmäßigkeit nicht zu zweifeln ist, nicht, als ob nicht
35
C fiir
noch Michelangelo, Shakespeare und Goethe in sehr wichtigen
Teilen ihres Schaffens, ihres Wesens unter die manaigrachsten
Gesetze der Entwicklung fielen, aber es bleibt ein Gewaltiges
als ihr Rest, der in nichts anderem aufgeht. Kein Zweifel,
auch dieser Rest steht nicht außerhalb des Gesetzes: aber die
Erkenntnis der in diesem höchsten Kreise gültigen Regeln ist
deshalb so schwer und vielleicht für immer unzugänglich, weil
,die Zahl der Fälle, die unter sie gehören, so gering, so oFt nur
»ins ist: keine Regel aber laßt sich auf einen Fall aufbauen.
Und schon bei den Männern der zweiten Reihe wird jener Rest
, kleiner und immer kleiner^ ihre Besonderheiten werden immer
inwichtiger. Denn freilich einzig im malhematischen Sinn ist
noch der geringste Tagelöhner, und eben hier liegt der folgen-
schwerste Trugschluß einer Geschichtsauffassung, die so
individualistisch in ihrer Beschreibung vorgeht, daß sie sich noch
gegen die allgemeinste Zusammenfassung sträubt und jede
kleinste Stadt-, jede ZunFtgeschichle für einzigartig erklärt. Es
gibt nämlich tausend und aber tausend Formen der Einzigkeit,
auf die gar nichts oder so gut wie nichts ankommt, sie sind so
subaltern und gleichgültig, daß sie z:u übersehen nicht ein Schaden,
sondern ein Vorteil, ja, eine Notwendigkeit ist. Sehr viel Grade
leiten von dieser untersten bis zu jener obersten Staffel der
Leiter aufwärts, und was von der Persönlichkeitsgeschichte gilt,
^fcst von der Sachgeschichte aller Gattungen, wenngleich in ganz
^■Verschiedener Bemessung, auszusagen.
B Immer wieder stößt man, wie es der hundertfach abge-
schalteten Wirklichkeit gegenüber nicht wundernehmen kann,
auf ein langsames Ineinanderfließen, ein vielgradig abgestuftes
Aufsteigen von Besonderheit zu Gesetzmäßigkeit. Daraus läßt
steh eine Grundregel für jede Formung von Geschichtsgesetzen
ableiten, der etwa entsprechend, die sich schon für das Ver-
hältnis von Mann und Masse, Genius und Zeit in Geltung
fand: es darf nicht eine Gegenüberstellung von Besonderheit
Pund Unregelmäßigkeit hier und Gesetz dort stattßnden, sondern
ts muß ein Weg aufgesucht werden, der langsam von dem
einen zum andern Lager hinüberführt, der auch allen Zwischen-
^_stufen zwischen den Endpunkten der Leiter gerecht wird.
^B Es müßte von den ganzen und halben Einzigkeiten der
Geschichte der Ausgang genommen werden. Es müßten dann
die Ähnlichkeiten, Gleichläufigkeiten, Gleichheiten aufgesucht
werden, die vielleicht nur zwei, dann die mehreren, endlich die
vielen Entwicklungen gemeinsam wären. Dann erst» am Schluß
^Ener längeren Bahn, würde das Ziel der wirklichen, ausnahmslos
3*
I
statthabenden Gesetzmäßigkeit erreicht sein. Und dem Forscher,
der bis hierher gelangte, würde nicht erlaubt nur, nein geboten
sein, riickwärtsblickend den Maßstab dieser wirklichen Gesetze
und ihrer Strenge an jene anderen Kegeln mit begrenztem
Geltungsbereich zu legen.
Heute soll der vor eitiigeti Jahren gemachte Versuch, eine
Anzahl von Entwicklungsgesetzen aufzustellen, nicht erneuert fl
werden. Er war auch damals nicht in dem Gedanken unter- ^
nommen worden, einer endgültigen Formung vorzugreifen, was
gänzlich unstatthaft gewesen wäre, sondern mit der Absicht^
durch Vorwegnahme einiger halbwegs sicherer Ergebnisse einer '
späteren vergleichenden Forschung an wenigen Beispielen nurH
Art und Möglichkeit solcher Gesetze aufzuzeigen.^ Nur dies
sei erklärt, daß eine Abstufung, die sich auch noch innerhalb
der Gesetze wird vornehmen lassen, ganz im selben Sinne wie
jene der Regeln wird angelegt werden müssen.
Die Gesetze ersten Grades werden Fl:glich nur die AuF-
einaoderFolge zweier bestimmter Zustände, richtiger Ereignis^-
gruppen betrcFTen — etwa, daß auf die Horde stets die in
Sonderfamilien zerfallende Siedlerschaft Folgen muß, oder daß
aus der Vereinigung zweier Horden stets das Doppelgeschlechl
und die zweigeteilte Ordnung eines Geschlechtsbaus hervor-
gehen muß — zweier Ereignisgruppen also, die an eine bestimmte
StuFe, ja, an eine bestimmte Entwicklungsstrecke gebunden sind.
Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß gewisse Aufeinanderfolgen
sich in mehreren Stufen wiederholen. Aus dieser Wiederholung
müßte ein Schluß gezogen werden auf ein Gesetz etwas höherer
Ordnung. Ebenso müßte möglich sein, aus ganzen Gruppen
von dem Gesetze ersteti Grades allgemeinere Regeln abzulesen:
so etwa die immer sich wiederholende Aufeinanderfolge von
Zeitaltern vorwiegend wirklichkeitsnaher und vorwiegend wirfclich-
kettsFemer Kunst- und Forschungsweisea, vorwiegend genossen-
schaftlicher und vorwiegend individualistischer Staats- und
Wirtschaftsordnung, und — wenn man die tieferen gesell-
schaftsseelischen, geistigen und rein seelischen Wurzeln in Be-
tracht zieht, aus denen alle diese Wandlungen Saft und Nahrung
ziehen — den entsprechenden Wechsel von Altern, vorwiegenden
Gemeinschafts- und vorwiegenden Persönlichkeitsdranges, und
von Zeilen engen und weiten Geistes, weicher und harter
SeelenbeschafTenheit.
I
' Sa bervorgehoben in der SchriFt: Der SluFenbau und die Gesetie
der Weligeschichie (1905) 107, 123.
37
^
iVlan erhebe hier nicht den Einwand, das sich derlei Hoff-
QungeD allzu weit von den Gegebenheiten odef -«wenigstens dem
augenblicklicK vorhandenen Bedürfnis erfahrungswissenschaft-
licher Wissenschaft entfernen. In Wahrheit sind schon hundert-
mal Gesetzlichkeiten dieser Atigemeinheit und dieses Ranges
behauptet worden: Buckles Gesetze z. B,» die Droysen mit so viel
im besonderen berechtigtem^ im allgemeinen so unbegründetem
Hohn angriff, gehören etwa hierher. Und wahrlich ist der Zweck
dieser Zeilen nicht, solchen leichthin gefundenen und oft noch
sorgloser geformten Gesetzen das Wort zu reden, sondern im
Gegenteil aufzuzeigen, wie weit und mühevoll der Weg bis zu
m Punkt ist, auf dem mau mit einigem Recht diese letzten
Formeigebungen der Geschicbtslehre wird vornehmen dürfen.
Ja selbst eine Geschichlsauf Fassung, die dem letzten Ziel
CS Gesetzes mit der drängendsten Sehnsucht zustrebt, wird
sich einen Mangel nicht verbergen dürfen, der jeder, auch der
vorsichtigsten und spätesten, GeseEzesformung anhaftet. Das
Gesetz muß seinem Wesen nach die Vorgänge oder Verläufe,
die es umspannt, vereinfachen, d. h. es ist gezwungen, auf einige
Fäden aus dem Geflecht allein das Augenmerk zu richten, die
anderen aber ganz oder fast ganz zu vernachlässigen. Gelingt
es also nicht, einem Vorgang, einem Verlauf von sehr viel ver-
schiedenen Seiten beizukommen und jedem Hauptsatz eines Ge-
setzes noch eine Anzahl von Hilfs- und Uaterformeln beizugeben
— und es ist anzunehmen, daß dies immer erst sehr spät, wenn
überhaupt geschieht — so ist durchaus notwendig, neben die
alUu eiaseitigen, allzu bruchstückhaften letzten Formeigebungen
eine Geschichtslehre zu stellen, die das Wesen der Entwick-
lungen nach allen Seiten hin und in seiner Bedingtheit, Ver-
flochtenheit und Zusammengesetztheit erkennen läßt. Niemals
wird eine noch so ausgebildete und noch so gegliederte Schlacht-
ordnung von Gesetzen der Geschichte die Entwicklungslehre als
Ganzes verdrängen dürfen, so wenig wie eine Entwicklungslehre
als Ersatz für eine erzählende Darstellung der Weltgeschichte
gelten dürfte. Nur durch ein Nebeneinander der verschiedenen
Erkenntnis formen wird das Ziel der geschichtlichen Wissenschaft
u erreichen sein.
In einem ähnlichen Sinn wird endlich das Gesamtverfahren
der Geschichtslehre vor einseitiger Übertreibung eines ihrer all-
gemeinsten Fofschungsgrundsätze zu behüten sein. Die Voraus-
tzung aller bisherigen Darlegungen war, daß die geschichtliche
Entwicklungslehre sich aufbauen müsse auf der Gesamtheit einer
erzahlenden Weltgeschichte. Und es gibt sehr viele und sehr
38
gute Gründe, die diese Forderung stützen; nur aus einer
Beobachtung, die alle Falle umFaßt, laßt sich eine Formenlehre, h
ein Gesetz des Geschehens ableiten, nur eine allgemeine Er-I
Tahrung berechtigt zu allgemeinen Sätzen, nur die Sicherheit, alle
Arten der Entwicklung zu kennen, läßt ein Urteil über Wichtigkeit
und Verbreitung, Ausoahmlosigfcejc oder Begrenztheit gewisser
Formen des Geschehens zu. Allein einer Ergänzung ist auch
diese Richtung auf das Allgemeine, dieser Aufbau der Geschichts-
lehre auf eine die Gesamtheit der Wellgeschichte umfassende
Grundlage bedürftig. Es ist durchaus vonnöten, daß auch ganz
begrenzte Einzelgebiele der Forschung im selben Sinne, wie dort^
das Ganze, auf die Mechanik des Geschehens, auf die Verlaufs- fl
und VerursachungsFormen untersucht werden. Die leleskopische
Sehweise der vergleichenden weltgeschichtlichen Arbeit muß
durch die mikroskopische der Einzelforschung unterstützt werden.
Es wäre Torheit und Frevel zugleich, zu verkennen, daß
die entwicklungsgeschichtlicbe Auffassung bereits zu Winckel-
manns, zu jACOb GHmms und wieder zu Jacob Burckhardts
Tagen ihre besten Siege noch viel öfter auf Einzelgebieten der
Weltgeschichte davongetragen hat, als in ihrem Gesamtbereich
oder selbst in großen Teilbezirken. Und doch ist, was hier vor-Ä
schwebt, noch etwas anderes und sicher erst der Zukunft vor-
behalten: eine Einzelforschung nämlich^ die sich in jedem Be-
tracht im größten, wie im kleinsten in den Dienst der alf-fl
gemeinsten weltgeschichtlichen Arbeit, ja der Geschichislehre
selbst stellt, und die dann die Vorzüge beider Arbeitsweisen
vereinigen würde. Es wird eine Deutung^weise noch für diefl
letzte geringfiigigsie Einzeltatsache gefunden werden, die alle"
Weite der Sichten in die fernsten Zusammenhänge mit aller
Wucht der zu tiefst bohrenden Sonderforschung verbindet. Ihre
Voraussetzung würde sein, die begrenzte Entwickhing, die sie
bearbeitet — das Jahrhundert einer Volks- oder nur einer |
Sachgeschichte — immer nur als Teilstrecke einer weiteren
Reihe zu sehen, einer weiteren Reihe also, die vor- wie rück-
wärts über sich hinaus wiese, jedes Stück in ihr als Glied einer
Kette zu erkennen, ihr eigentümlichstes Amt aber müßte sein:
die Art der Verkettung dieser Glieder in dem eigenen Bezirk
aufs genaueste und einzelnste zu untersuchen: nicht allein um
ihrer selbst willen, sondern weit mehr um der artvertretenden,
der typischen, Bedeutung willen für alle Geschichte überhaupt.
Mit anderen Worten: es müßte mit dem weitverzweigten Frage-
bogen, den allein vergleichende Weltgeschichte und Geschichts-
lehre aufzustellen vermögen^ auch noch dem entlegensten
3&
^
P
*
I
EinzelzusammenhaTig jede Antwort abgelockt werden^ die man
aus ihm zu pressen vermag. Insbesondere wie die Strömung
sich in die Gegenströmung umsetzt, wie eine Verfassung, eine
Glaubens-, eine Denk-, eine Kunsiform in iiir Gegenteil um-
schlagen, kurz, wie sich das Neue in heftigem Stoß oder in
langsamem, unmerklichem Wachsen an die Stelle dos Alten
setzt, das ist im beschränkten Bezirk vielleicht gar sicherer
zu erkennen^ als in allen Weiten der Weltgeschichte.
Und hier ist es, wo zum andernmal unverkennbar deutlich
wird, daß die fernsten wie die nächsten Ziele unserer Wissen-
schaft nur durch die innigste Verbindung zwischen atigemeiner,
-vergleichender, zuletzt gesetzmäßiger Forschung hier und
bohrerischster Einzelarbeit dort erreicht werden können. Die
wenigen, die heute gegen die laute oder stille Mißbilligung eines
ganzen Gelehrtengeschlechtes allgemeine Forschungen zu unter-
nehmen wagen, bedürfen dieser Mahnung nicht: keiner von
ihnen denkt heut daran, Hegels oder auch nur Buckles Wege
einzuschlagen, jeder ist davon überzeugt, daß neun Zehntel aller
gelehrten Arbeit der Einzelforschung gelten müssen; jeder weiß»
daß auch das letzte Zehntel, eben ihre allgemeine Forschung,
nur durch Ausnützung, durch dankbare und getreue Ausnützung
der von den Einzelforschern geschaffenen Grundlagen entstehen
kann, und daß es ohne sie eitel Hirnspiel und Literatengerede
sein würde. Aber die IVlänner der Einzelforschung mit wenigen
schönen Ausnahmen sehen nicht oder wollen nicht sehen, daß
auch ihre Arbeit niemals Störung, sondern nur Anregung, Be-
fruchtung, Bereicherung erfahren kann von allgemeiner Ge-
schichtsforschung und Geschichtslehre, ja, daß sie dieser Hilfe
notwendig bedarf^ um das eigenste Werk recht zu tun. Man
hat einmal mit allem Recht gesagt, es gibt gar keine Be-
schreibungen, die ohne Vergleichung recht angestellt werden.
Eben die Zahl der Wege in die Tiefe der Besonderheit, der
Einzelheit, der Gründlichkeit ist so groß, daß hier auch der
unterrich leiste SonderForscher der wegweisenden Hand dessen
bedarf, der ihm freilich nur Fragen vorlegen kann — Fragen
aber, die an anderen, jenem unbekannten Stoffen gewannen, durch
die besondere Übung vergleichender Arbeitsweise geformt und
aufgehellt, zugleich ebensoviel Streiflichter ins Dunkel bedeuten.
Vielleicht ist die Zeit nicht tnehr allzu fern, da die be-
beschrei beide Erforschung der Einzel tatsachen nie mehr als
Zweck nur noch als Mittel geschichtlicher Wissenschaft an-
gesehen wird. Dann werden beschreibende und entwickelnde,
allgemeine und Sonderforschung nicht in Zwietracht, sondern
40
vereint sich auf das eine ihnen allen gemeinsame Ziel richten,
auf das letzte und tiefste Rätsel unserer Wissenschaft:
auF dss Geheimnis des Werdens, des Werdens der neutd
Vorstellungea und der netieo Handlungen der Menschen, der
Völker, der Zeiten. Dann ■wird Amt und Sendung der Geschichts-
lehre sein, diesen Schatz letzter Erkenntnis nicht ohne, sondern
Für jene zu verwalten. Nicht Fürchten, vielmehr erwarten, fast
hoffen sollen wir, daß diesem innersten Heiligtume nicht unserer
'Wissenschaft nur, nein der Menschheit selbst die zagen Schritte,
die scheuen Blicke der vorwärts Dringenden sich wohl nahen,
aber daß sie es nie betreten, seinen Schleier nie ganz lüften
werden. Denn nie wird, nie soll auf der Fahrt nach der Wahr-
heit sich unser hungerndes Suchen in sattes Finden wandeln.
DER ENGELSTAAT.
ZUR MITTELALTERLICHEN ANSCHAUUNG
VOM STAATE.
(BIS AUF THOMAS VON AQUINO.)
VOfl BERTHOLD VALLENTIN.
S 1
EINLEITUNG,
Behandlung geseHschaftswissenschaftlicher Probleme
im Mittelalter. Gesellschaftswissenschaftliche Vorstellungen
als Teil und im Gewände theologischer Lehren.
Den mittelalterlichen Menschen schließt enger al$ der ver-
meintliche Mangel zureichender Erkenntnis- und Ausdrucks-
raittel der unbeirrbare Ring seiner Ordnungen ein. So tief
herab durch alle Schichtungen der Gesellschaft hangt dieser
Geist) daß er noch das Leben des einzelnen anrührt und seine
Gesetze und Gliederungen in dasselbe hineinträgt. Der Geist,
der die Zweibeic der Gewalten In einer Hand versammelt, ihre
Ausübung aber verteilt, das eine Schwert dem weltlichen Arm
leiht,^ derselbe Geist übt seine Herrschaft am Einzelleben:
ordnet den Korper unter die Botmäßigkeit der Seele und laßt
ihn seine Rechte nur zu Lehn der Seele genießen.^ Dieser
Geist, dem jedes Gebild zugleich einheitlich, zugleich gegliedert
erscheint, zugleich Ejgenwesen, zugleich Teü eines Fremden,*
greift so auch den Menschen als Ganzes an und hält ihn
in seinen sich schneidenden Ordnungen fest, die immer wieder
einem höheren Kreise eingebettet, zuletzt „dem in Gott selbst
gegebenen Menschheitsverband" einruhen, von dem sie selber
' Glerke, Geno^g^nscb- R. lEI, S. 517—33. — ' Aegidius
Romanus, de eccIeEJasticH pQt«state, Prooem. 7. cup- cjt btt Kmus,
Aeg. V. Rom, in Österr. Viertel jabrscbr. f. kath. Tb. 1, 12, 4»ia Scholz,
Publizistik zur Zeit Philipps des äcbönen u. Bonifaz Vllh i. Klrchenrecbtl.
AhbdlEP. Heft 6/8, 48, 59, 161. — ' Gierke a. b. O. 514,
42
I
nur ein getreues Abbild sind.* Dieser Geist, wie viel mehr
er als der späterer Epochen (t, B- der AuFklÄrurtgszeü) den
einzelnen in seinem eigenen Bestände anerkennt,- hat ihn doch
fester und sicherer als alle früheren und späteren Zeiten von
einer Auswirkung seiner Persönlichkeit zu eigenen Zwecken
Ferngehalten, die Sicht auf Möglichkeiten der Entfaltung und
Gestaltung seines Lebens abgeschnitten. Immer traf, wie
persönlich in ihrem Gehalt, Tat oder Blick in den Kreis einer
Ordnung. Daraus und nicht aus dem Mangel an Erkenntnis-
oder Ausdrucksmitteln, wie v. Mohl meint,^ ist es zu erklären,
wenn das Mittelalter ihm keine Schrii't aufzuweisen scheint,
die über den Bestand des jeweiligen politischen Wesens hinaus
den Blick zu möglichen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens
lenkt, den Versuch einer Utopie, wie sie die Renaissance und
auch das Altertum kannte, w>, ■
Was überhaupt an zusammenhängenden Erörterungen des
Staatswesens zu verzeichnen ist, außerhalb des Rahmens rein
accidenteller Streitschriften, das tritt als akademische, jeden
Bezug zu irgendwelcher Tatsächlich keit vermeidende Aus-
spinnung von, meist antiken, Theoremen auf und ist durchaus
frei von eigentlich politischen Gesichtspunkten;^ oder aber ■
— und damit öEfnet sich der Rahmen jener StreitschriFten-
Literatur ^ es orientiert sich an den gerade hervortretenden
Bedürfnissen des Kreises gesellschaftlicher Ordnungen, dem
es entspringt: wie alle fene den Streit der zwei Schwerter
betreffenden Publikationen.
Darüber hinaus gibt es dann allerdings noch — öfter gelegent-
lich als gerade mit besonderer Betonung des Gegenstandes —
Ausführungen gesellschaftswissenschaftlichen Charakters, die
ohne besonders zeitpoHtisch bedingt zu sein, den allgemeinen
politischen Zustand derart betreffen, daß in ihnen doch ein
näherer Bezug zur Wirklichkeit aufscheint. Ausführungen dieser
Art pflegen sich auch dem Kreise der gegebenen Ordnungen
eng einzugliedern und treten an seinen verschiedenen Stellen,
und gerade an solchen, die nicht das Staatswesen betrefTen, als
Zeugnisse des einheitlichen Geistes auf, der das ganze mittel-
alterliche Weltgebäude durchdringt und Sitte und Recht und
Religion und Staat vom selben Quelle speist/ Sie stellen sich
I
' Gierke a. a. Q., 512. ~ ' Vgl. u. a. Girild. Csmbr, Symbol,
Elect. ed. Warner, London 1891. Bd. S. LVIII. — ^ Gesch. u. Litt, der
Staatswiasengcli. I, 178. — * Rlczlcr, lllerar. Widersacher d«r PSpste,
S- 131, vgl, a. Gierke a. a. Q., 512. — ^ Poole, [llustratioos ot th«
blstory of medleraL thougt. London 1SS4, 23df. — " cf. Gierke tbid.
I
*
n
dann teils als Analogien oder Exemplinkationen, mit welchen
irgendeine Lehre irgendeiner Disziplin gestützt wird,' dar, teils
«uch als merkwürdige unmittelbfire Einbeziehungen in irgendeine
ihnen Fremde Ordnung — unter scholflstischer Überspringung
logischer Kategorieenscheidung.
In dieser Weise sind dem großen theologischen Lehr-
gebäude, das das Mittelalter auf den Fundamenten der Patristik
mit Bausteinen aus der antiken und jüdisch -arabischen
Philosophie auFgerichlet hat, größere und kleinere Partieen
gesellschaftswissenschartlichen Charakters eingefügt. Dieser
Charakter liegt nicht immer offen zutage; wo analoge Verhält-
nisse irdischen Lebens denen des himmlischen an die Seite
gestellt sind, fehlt oft der besondere Hinweis darauf; oft auch
fehlt selbst das Bewußtsein der Analogie, und nur die allgemeine,
geistige und körperliche Bezirke gleicbmä[3ig durchdringende
Gliederung läßt in theologischen Ordnungen zugleich staatliche
aufschtinen. Immerhin umschließt die mittelalterliche Theologie
auf diese Weise die Darstellung staatenahnlichen Lebens.
S 2
Die Engelsordnungen als Gegenstand gesellschaftswissen-
schaFliicher Anschauung. Feststellung ihres Bestandes.
Abgesehen von dem groDen Bau der sichtbaren Kirche,
der, auf Grund der gegebenen Verhältnisse dargestellt, nur an
einzelnen Stellen (Zwei-Schwerter-Lehre) den Boden staats-
■wissenschaftlicher Theorien berührt, entwirft die Theologie ganz
freie, an keine irdische Bedingung geknüpfte Pläne zu Staats-
gebitden, die eine ferne Verwandtschaft mit den „Utopien"
späterer Zeit wohl erkennen lassen, deutlich aber durch Ur-
sprung und Ziel von diesen eudämonistischen Versuchen ab-
getrennt sind.
Der Ursprung dieser Plane nämlich ist rein theologischer
Natur. Sie werden entworfen zum Zweck der Darstellung
himmlischer Ordnungen, und ihr Ziel ist, wenn auch nicht aus-
schließlich, so doch in der Hauptsache, gleichfalls theologischen
Charakters: eben jene Einhelligkeit des gesamten Wellgebäudes,
„den in Goii selbst gegebenen einheitlichen Menschheitsverband"
^ Über gesellscbariswissenscbaftlicbe Ausdeutungen de& Tierreichs
v£l. Ysengrimu«, berau&geg, von Ernst Volgr, Hille 1884, Einleitung
LXXVIII, XCl, XCll.
44
darzustellen. Dieses Ziel aber bringt es mit sich, daß die
Darstellung himmlischer Ordaungen fast immer ^ sei es
bewußt, sei es unbewußt — ein Abbild irdischer Beziehungen
in sich trägt, ganz besonders da, wo weder Schrift noch Über-
lieferung den Verfassern hinlänglich Material zur Ausführung
und AusFüllung ihres Bauwerks gaben, und der Blick in irdischen
Verhältnissen notwendig die Ergänzung suchte.
Dies ist in ganz besonderer Weise bei der Darstellung
jener himmlischen Ordnung der Fall, die von Anfang an — auf
Grund der heiligen Schriften — eine staatenähnliche Gliederung,
Reihenfolge und Rangordnung, zu erfordern schien: bei der
Darstellung des Engelsverbandes. Hier haben schoti die frühen
Exegeten gegenüber der großen und in den Schriften selbst
unter verschiedenen Bezeichnungen auftretenden Anzahl der
Einzelwesen den Beruf gefühlt, in Schichten tu. teilen, indem
sie dabei sich teils von anscheinend in der Bibel selbst ent-
haltenen, teils von rein spekulativen Argumenten leiten ließen.
Bis in das spätere Mittelalter aber blieb diese Darstellung fast
immer oberflächliche Einteilung; erst nach und nach wurde den
einzelnen Stufen ein bestimmterer Charakter, spät erst er-
Fülleades Leben zugeteilt. Erst von dem Standpunkte her, den
die Behandlung des Engels verbau des durch Wilhelm von Auvergne
in seinem Werke De Universo (1231— J236)* behauptet, läßt
sich mit einigem Rechte dieser Verband als ein Staat in dem
Sinne ansprechen, daß er in einem — allgemein gesehenen —
irdischen Staatswesen sein Abbild und dieses — sei es auch
nur rein theologisch gesehen — in ihm sein Vorbild finde.
Den Engelsverband, den wir danach vorwegnehmend als
Engelsstaat bezeichnen zu dürfen glauben, ohne damit einen
Irrtum zu erwecken, ließen die Väter, anschliefSend an die
heiligen Schriften,'' von einer Unzahl von Einzelwesen erfüllt
sein. Eine bestimmte Zahl, sei sie auch noch so ungeheuer,
anzugeben, widerstand ihnen. Nur einige unter ihnen glaubten
die Anzahl der Engel zu der der Menschen in ein bestimmtes Ver-
hältnis setzen zu sollen. Die allegorische Ausdeutung von
Matth. IS, 12, Luc. 15, 4 führte dazu, unter den 99 nicht ver-
irrten Schafen die Engel, unter dem einen verirrten aber den
Menschen zu verstehen, der berufen sei, durch die Fürsorge
des Hirten Christus, jene 9Q am Jüngsten Tage zur vollen
' Schindele, Beltr. z. MelhapbyB. d. V^ v. A. Müncb. Dias,
1900, 5 fr. ~ ' Deut. 33, 2, Dan. 7, 10, Hiob 25, 3, Hebr. 12, 22,
Apoc. 5^ II.
4S
I
HuDdertzahl zu ergänzen.^ Daraus leitete man dann her, daß
[die Engel die 99fache Anzahl der Menschen ausmachten.
Dafür, daß die unermeßlichen Engelscharen einer teilenden
Ordnung unterständen, schien dem mittelalterlichen Geiste schon
der biblische Text sichere Grundlagen anzubieten. Wenn auch
einige Väter die verschiedenen Namen, unter denen die Engel
in den heiligen Büchern erscheinen, 4U verschiedene Bexeich-
nungen derselben Kategorie ansahen,- so lenkten den mittel-
alterlichen Geäst, der die Welt seinem neuen Begriffsvermögen
Untertan zu machen, d. h. zunächst in seine Kategorieen einzu-
ordnen trachtete, die wechselnden Namen^ mit denen die Bibel
die Engel aufführt, in der Hauptsache dahin, in diesen Namen
den Ausdruck innerer Unterscheidung zu sehen.
Ad quid enim coelestium noraina innotuerint, si ne
opinari quidem salva 6de aliquid licet de rebus, quarum
nomina sunt?^
Die Bezeichnungen Seraphim, Cherubim, Sedes (Throni) etc.
<Col. 1. 16, Eph. 1, 21) erfüllten sich von ihrer wörtlichen Be-
deutung her auf dem V/ege theologisch- mystischer Erklärung,
auf die unten noch eingegangen werden soll, derart mit Leben,
daß sie eine einigermaßen sichere Grundlage für die Einteilung
Ider Engelscharen zu bieten schienen.
Ordo angelorum dicitur multitudo coelestium spiritualium,
qui intra se prae aliis in aliquo dono assimilantur: ut Sera-
phim, qui prae altis ardent charitate.
^ Hugo a St. Victor, Sent. 11. 5. Migne, Patrol. S. L. 176,
p. S5 auf der Grundlage des Gregorius M., den er zitiert:
In illa summa civitate quisque ordo eius rei nomine
censetur, quam in munere plenius accipit.
Man mußte sich nur darüber einig werden, wieviel derart
unterschiedener Bezeichnungen man in der Bibel zu sehen
glaubte. Denn teils bestanden Zweifel darüber, ob einem Aus-
druck überhaupt der Wert einer Artbezeichnung oder nur der
eines schmückenden Beiworts zukomme, teils darüber, ob nicht der
eine oder andere miteinander synonym sei.* Der heilige Augustin
I
• Hilar., Comm. in Maitb. 18 n.5. Migne, Piirol., S. L. 9, p. 1020/1.
AmbrOs., Comm. in Luc. 15,4. Lib. VII. Migne, Pitrül., S. L. 15 p. 1756,
cfr. Bonav. 2 disl. 9. a 1 q. 5, Tund. concl. et ad t— 4. — " S, Ttirmel
in Rcvuo d'hist. et litt. r£l. IV., p. 217. — ^ Beritb. CUriv. de cons.
V. 4, Migne, Patrol., S. L. 182, 792F,, folgt genau Gregor M., hom.
34, iOf. Migne, Pilrol.» S. L, 76, 1251. Gull. Alv-., De Uiliw. II. 2,
cäp. 114 (p. 965), Ibnlicb Maimonidcsjnd Chasaka I, Kap. II, der die
ipltere Scbola^tilc sehr beeinflußt hat. — * Turmel ibid.
verhält sich in dieser Hinsicht ziemlich skeptisch, indem er
ausdrücklich ablehnt:, darüber Entscheidung zu treffen, ob unter
die Angeli auch die Archangeli zu begreifen, ob diese letzteren
wieder mit den Virtutes gleichzusetzen seien und was endlich
die vier wetteren Namen Sedes, Dominationes, Principatus,
Potestales ^Coloss. 1, l&.) bedeuteten.^ Auf diese Weise ließ
sich eine sichere Anzahl von Ordnungen natürlich nicht kon-
stituieren. Der heilige Augustin selbst scheint an jener Stelle die
vier letztgenannten Klassen als die gesamten Engel umfassend.
Also dem Ausdruck Angeli untergeordnet anzusehen, womit er
wohl die Meinung des Apostels trifft, der hier mtl einer jüdischen,
im Talmud enthaltenen, Lehre übereinstimmt.' Andere -wieder
lasen aus den heiligen Schriften sieben oder acht oder gar neun
bis zehn Klassen heraus oder nahmen eine unbestimmte Zahl von
Klassen an.* Zu den letzteren gehört auch der heilige Hier-
onymus/ der vermutet, Paulus habe in Eph. 1» 21^ einer alten
jüdischen Geheimlehre folgend oder in tieferer Erkenntnis der
heiligen Schriften das, was in den Büchern Numeri und Regum
an irdischenGewalten (reges, principes, duces, tribuni,centuriones)
aufgezeichnet sei, als ein Abbild himmlischer Herrlichkeit er-
kannt. Hier wäre also schon ganz früh der Begriff des Engels-
verbandes als einer Staaten ähnlichen Ordnung, wenn auch noch
nicht Ausgeführt, so doch schon vollkommen bewußt atigedeutet.
In dieser Beziehung wird noch weiter unten auf diese Hier-
onymus-Stelle einzugehen sein.
Wenn so die Engelsnamen der Bibel zwar den näheren Anlaß
und die Grundlage der Klasseneinteilung, nicht aber auch das
iVlaterial zu ihrer Durchführung boten, so ergab sich das Material
hierzu, d. h. zur Feststellung der einzelnen Klassen einmal wieder
aus allegorischer und symbolischer SchriFterklärung, andererseits
aber aus dem Einstrom neuplatonischer Lehren, der gegen das
Ende der patristischen Periode das Schrifttum zu beeinflussen
begann.'^ Wie die Kirchenväter die Anzahl der Enget aus dem
Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Schafe ab-
* Encheirid., cap. 5S. Migne, Pairol., S. L. 40, S59. — ^ Ciiiert
bei Gfrörer, Geschichtö des Urcbrisieaiums I, 359. — ' Turmel
B. 8. O. 217. ~ Const. Apost. I. 8 c. 12. Cbrys. bom. 4-. de incompr.
Amtiros., Comm. ia Luc. 15^ 4. Lib. VII. ~ ^ Comm. in Epb. 1, ^1,
Migne, Patrol., S. L. 26, 4ei;2. — ^ Pregerj Gesch. d. dtsch. Mystik
i. M. A. Leipzig 1S74 I^ 14S. Kocb, Pseudodionysius Areopagiia i. 8.
BezLebgn. z. Neupl&toniEm. u. Mysterienwesen. ForBchgn. z, cbristl. Lit.
ü. Dogm.-Geach, B. 1. H. 2'3, S. Iff.j 255ff,; vgl, Langen^ Dionys. vom
Areopag u. d. Scbotaetiker in Revue internat. de tb^ologie 8, 207 f.
Oberwcg-Helnie, Grundrifi der Gesch. d. Philosophie II, 139lf.
47
6'
üij
zuJesen versuchten, so glaubte Gregor der Große die sichere
Anzahl der Engelsklassen aus dem Gleichnis vom verlorenen
□d viedergeruadenen Groschen, das jenem anderen angereiht
ist (Luc. 15, 8 — 10) entnehmen zu können. Wie dort unter den
Ö9 nicht verirrten Schafen die Engelsheere, werden hier unter
«n Ö nicht verlorenen Münzen die Klassen der Engel ver-
standen, und wieder wie dort ist das verlorene eine Stück der
erlöste Mensch, der dereinst berufen ist, die volle Zahl aus-
zufüllen. Freilich scheint auf diese Art der Auslegung nicht
ohne Einfluß gewesen zu sein, daß Gregor der Große in der
Bibel die Namen neun verschiedener Engelarien zu erkennen
glaubte/
Die Meinung Gregors blieb bis in das hohe Mittelalter für
&s Abendland maßgebend. Sie findet sich bei Isidor von
Sevilla^ und noch ganz spät bei Bernhard.^
Wie weit bei dieser Schrifterklärung etwa schon die Be-
kanntschaft mit Schriften jener andern Gattung, die auf philo-
sophischen Grundlagen zur Feststellung von Engelkategorieen
gelangten, mitwirkte, kann hier nicht näher untersucht werden.
Jedenfalls steht fest, daß die HauptschriFt dieser Galtung, auf
die sogleich näher einzugehen sein wird, des Dionysius Areo-
pagita fl^Qi Tijy 'le^a^x^ag ovgariov dem Gregor bekannt ge-
wesen ist.^
1 Von hier aus, von dieser Schrift des Areopagiten, erst stellt
sich die Neunzahl der Klassen als eine innerlich begründete
fest und erlangt so für die Schriften der großen Scholastiker,
die ganz auf Dionys fuiSen, Autorität.'* Diese Begründung
entbehrt nun freilich völlig der gesellschaftswissenschaftlichen
Färbung, was aber nicht verhindert, daß die auf sie gestützte
Feststellung in diesem Sinne ausgedeutet, ausgestaltet wird.
Diese Begründung fließt vielmehr» wie oben berührt, aus
rein philosophischen Ideen," die hier nur in Kürze wieder-
gegeben werden sollen. Dionys lehrt, ganz der neuplatonischen
Emanaiionslehre hingegeben,'' daß das Göttliche nicht unmittel-
r, sondern nur durch Vermittelung der Engel zu uns Hieße.
Aber auch diese werden des Göttlichen nur teilhaft nach
der dreigeteilten göttlichen Ordnung: xQ^ai^itjitcci — v.ctO-(xiQtiv,
1 ^ Greg. M., Hom. 34, 6,7. Migne, Pilrol., S. L. 76, 1249. —
f SejUent 1, X, 15. Migne, Patr., S. L., 85, 555. — =• Consid. V. 4, 5.
Migne, Patr., S. L., 182,792. — ' Ucberweg-Heinie a. i. O., Bd. 11, 145.
— '■ Langen a.a. O., 207. — •Koch, Pseudodiönys usw. in Forschungen
2. Christi. 1,11, u, DogmengeBchichte 1,2, 199. — ' Ebeada 255ff. Preger,
«. Ä. O., 148. l5Üff. THrmel a.a.O., 218.
fpojzt^iai^ai — (fiuziuiy. TeXsldd-ai — iiXfoiQvqyth: Diese drei Stufen
aber sind wieder nach dem Modus gestuft/ daQ in ihnen Erste,
Mittlere und Letzte sind, und die Oberen immer Mysten und
Handfiihrer der Unteren im Aufstieg zum Göttlichen, so daß auf
diese Weise drei obere Ordnungen, die er Hierarchieen nennt, und
in jeder dieser iffieder drei Ordines entstehen. Auf diese Weise
genügt der Areopagit der in der neuplatonischen Schule
und in aller Mystik sanktionierten dreifachen Dreiheit.' Diese
Lehre hat sich in Gestalt der aus der höchsten Intelligenz
emanierten neun unteren Intelligenzen^ die wechseEweise Ur-
sache und Auswirkung voneinander sind, in der arabischen
Philosophie erhalten.* Durch das Zusammentreffen uad Ein-
anderdurchdringen pseudodionysischer und arabischer Fort-
wirkungen und Einflüsse hat sich dann in der späteren Schola-
stik — vom zwölften Jahrhundert an — diese Neunzaht für
die Engelsordnungen auch intierlicb befestigt utid ihr geistiger
Gehalt festgestellt,* so daß in der Blütezeit dieser Epoche
bei Wilhelm von Auvergne diese Zahl als eine grundlegende
derart feststeht» daß er sie nicht nur, wie schon der Areopagit
in der kirchlichen, sondern auch in der weltlichen Hier-
archie von vornherein ausgedrückt ßndet^ und die Himmels-
hierarchie ihm nur noch als das notwendige Analogon dieser
selbstverständlichen irdischen Ordnungen erscheint.
Damals sind dann auch die Namen der neun Klassen wie
folgt: Seraphim, Cherubim, Throni, Dominationes, Principatus,
Potestates» Virtuies, Archangeli, Angeli recipiert worden,
nicht ohne daO bezüglich ihrer Reihenfolge noch lange Schul-
streite bestanden, die erst durch Thomas von Aquino völlig
geschlichtet wurden/''
Erst in dieser Zeit des verstärkten Eindringens neu-
platonischer Lehren durch den Zustrom arabischer Einflüsse^
hat sich dann auch jene obere Einteilung des Dionys in
die drei Hierarchieen durchgesetzt. Während noch Bernhard^
0091 — 1153) nur die neun Engelsklassen kennt, bahnt sich be-
• De Coelesti Hiefarchia c. 3S3,4, §3i. f., cfr. Koch a.a.O., 177,234.
— ' Koch a. a. 0-, 178 o 1,, cfr. Turmel a. a. O., 220. — * Muolt,
MfiUngea de philos. juive ei arabe. Paris 1859,331,2. — * Turmel a. (i.O.,
S. 223 u. 3, 4. Im Orienr uiiier dem stärkeren Einfluß pseudodianysiscber
und srabiacber Philosopbetne, war diese Entvicklung bereits im &chteti
Jahrhundert abgeschlossen, — '" Guil. Alv,, De Universo II, 2, c. 112,
p. 963, col. 2 B. Gtosse des Pachymeres zü Pseudodionys. Migne,
Palrol., S. Gr. 3, S. 204. Türme! a. a. 0., 223/4. — ^ Uebcrweg-
Hcinze a. a. O. Muiik a. a. O., S. 3307. Schindele a. a. Q., &4 n. 2.
— ' De Consid. V, 4, 5.
49
relts unter dem ihm gleichzeitigen Hugo von San« Victor
(1096 — 1141) die Zusammenfassung der neun Klassen in drei
Hierarchieen an; freilich noch nicht mit ausdrücklicher Be-
zeichnung der drei oberen Ordnungen; aber doch tatsächlich
durchgeführt, indem sich ihm die Dreiteilung der neun Engels-
klassen als ein willkommenes Abbild der in der ganzen Welt
vorherrschenden Trinität darstellt.
^ Et inveniuntur in istis ordinibus tria terna esse, et in
■ unoquoque tres ordines, ut Trinitatis similitudo in eis
prs aliis creaturis Impressa videatur. Sent. II. 5. i. i. Migne,
Patrol. S, L. 170, 85.
B $0 findet sich diese Teilung auch noch in dem zusammen-
lassenden Sentenzenwerke des Petrus Lombardus {-J- 1164) wieder,
der seinerseits das Vorwalten der Trinttät auch als die innere
Grundlage der dionysischen Einteilung bezeichnet.^
Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts ist dann auch die
obere Einteilung in drei Hierarchien völlig durchgedrungen, und
im dreizehnten Jahrhundert werden ihr bereits gründliche Studien
gewidmet. -
S 3
Der gesellschaftsmäßige Gehalt des Begriffs
Engelshierarchie.
Wenn die von Pseudodionys unternommene Einteilung in
Hierarchieen, wie sie dem kirchlichen Leben entnommen^ und
von ihm selbst auch auf die kirchliche Ordnung angewandt wurde,
auf den ersten Blick einen tbeokratischen, verfassungsmäßigen
Ctiarakter zu haben scheint, so kann dies doch nur von dem
äußeren Schema der Einteilung gelten. Die innere Motivation der
Teilung bleibt, wie oben angedeutet wurde, gesellschaftstnäßigür
Ausführung Fern und ruht auf theologisch -philosophischem
Grunde. So enthält auch die Konstruktion des Begriffs Hie-
rarchie, soweit äußere Ordnungsprinzipien in Betracht kommen,
wohl Ausdrücke tbeokratischen Einschlags, der innere Kern
aber ist ganz von coatemplativ- mystischem Geiste genährt.
' Sent. II. dfBt 9, 1. Migne, Patrol. S. L. 192, 669. Daher irrt Langen
I. E. O. 204, veno er die dionysische Dreiteilung erst durch Thomt«
ron ActulDO der Scholastik vermittelt werden IBßr. — * Albertus M.,
Sent. II., 9. Thomas von Aquino, Summa Ibeol. 1, Q. 108. cf. Turmel
a. a. O. 222. — * DiOD. Areop,, De C. H. 1, J 3. i. i. Mtgne, Palrol.
G. 3, 122.
50
äi^kot, ihova tijg d-aaQX'^^^^ ojQüinTtjTog iv tä^iat yal tjciazi^-^tatg
ItQaQX'^^^Si ■^'^ '^'jb" oixeiag iXldfiipecog lEQov^yol-aav jivoti^qiü, xal
Dion. Areop., De Cael. Hier. cap. 3 § 2 ß.; vgl. auch
Cap. 751 BfF., S 2 A. Migne, Patrol. S. G. 3, 166, 208.
In der dem dreizehnten Jahrhundert angehörigen Glosse
freilich kommt das äußere, das staatliche Ordnungsprinzip stärker
zum Ausdruck: Pachymeres zu cap. 1. Migne, Patr, S. G. 3,
127, 133/5.
Diese Durchdringung geistiger Gehalte mit oft mehr sehe'
matischen al$ systematischen Aiiordnungselementen ist für die
beginnende Scholastik, die ja ganz auf dem Areopflgilert fußt,
bezeichnend und darf nicht dazu verfilhren, in der gewillkürtea
Paarung innere Zusammenhänge aufzusuchen. Neben einer
ferndeutenden Mystik, die der Verknüpfung so heterogener Ele-
tnente, wie philosophischer Spekulationen mit gewachsenen staat-
lichen Rangteilungen leicht entspringt, dürfen dabei noch allen-
falls bizarre ästhetische Reize^ nicht aber irgendwelche Ergeb-
nisse, seien es auch nur ordnende, wissenschaftlicher Natur
erwartet werden.
Freilich dazu trug die Übertragung des Begriffes Hierarchia,
der bei Dionys ebensowohl die Gesamtheit als eine der drei
Hauptabteilungen bezeichnet und im folgenden immer in ersterem
Sinne gebraucht werden wird, auf den Verband der Engel doch
bei, daQ in den mittelalterlichen Geistern sich die Vorstellung
von diesem Verbände als einem gesellschaftsmäBigen, einem
irgendwie politisch geordneten befestigte. In dem Begriffe
Hierarchie gewann das Bild einer stadtstaatmäßig geordneten
GemeinschaFt der Engel, wie es die Schriften des Urchristentums
und der Kirchenväter ganz allgetneio andeuteten, eine bestimm-
tere, wenn auch etwas andere Färbung, insofern das Prinzip der
Ordnung innerhalb der Gemeinschaftj das eigentlich gemein-
schahbildende stärker betont wurde.
'l-t'/yeloi BiiovQävioi, jEuhriiöfafOL iv 'irjQovaaKiifi ifi avcä
tfj h ovQayois Hippolytus II, Phil. VI. 34, p, 192 tf.
Quomodo autem se habeat laetissima illa et superna
societas, quae ibi sin* differentiae praepositurarum
(in einzelnen Mss.: personarura.)
Universam ipsam coelestem societatem
Augustin, Encheirid. SS. Migne, Patrol. S. L. 40, 25Ö.
In illa sancta civitate.
Greg. Magn.i hora. 34. S. Migne, Pairol. S. L. 76, 1250.
Sl
coelestium civium
ibid. p. 1255.
aber bei Bernhard schon:
Iet primo quidem cives esse spiritus Illlc potentes
glorioses beatos, dlsiinctos in personas, dispositos in digni-
tates, ab initio stantes in ordine suo
De consid. V. 4. i. i. Migne, Patrol. S. L. 182, 791.
Wilhelm von Auvergne bat dann den Hierarchiebegriff als
solchen herausgestellt, in ihm unter Zuhilfenahme irdischer
sacraler aber auch profaner Ordnungen den gesellschaftlichen
Gehalt stark herausgetrieben. Dieser stellt sich nun aber an
sich weniger als ein staatenähnlicher — wie man nach den
früheren Bezeichnungen vermuten sollte — denn als ein standes-
mäßiger dar. Nicht die gesamte „Civitas" lebt in ihm, sondern
nur ein „Ordo". Es muß freilich hier sogleich bemerkt werden,
daß in dem Hierarchiebegriff die gesellschaFtsmäßige Anschauung
Wilhelms vom Engetsstaate nicht ihren endgültigen Ausdruck
erfahren hat. War er durch die dionysische Tradition zunächst
darauf geführt, diesen Begriff, als den die Engelsscharen inner-
lich ordnenden, lu urgieren, so hat er sich bei der Betrachtung
der nach ihm gegliederten Ordnungen selbst nur zu bald wieder von
ihm entfernt. Hier — bei der Darstellung der Ordnungen im
einzelnen — hat er nicht nur sie selbst, sondern auch ihr
Gesamtbild in der Vorstellung eines völh'gen Staatswesens,
nicht nur eines Ordo, begritFen und durchgeführt. Darauf wird
weiter unten einzugehen sein. Es sei nur erlaubt, schon
an dieser Stelle zu bemerken, daß noch eine weitere gesell-
schaflsmäßige Vorstellung mit dem Engelsverbande verknüpft
wird: die eines weltlichen Hofstaats. Und es sei auch erlaubt,
darauf hinzuweisen, wie keine dieser verschiedenen Vorstellungen
voa der andern reinlich geschieden bleibt, vielmehr bald mit
dieser, bald mit jener verquickt wird, wie ja auch im Staats-
lebeo des Mittelalters selbst Staat, Stand, Königshof sich ohne
ganz sichere Grenzen durcheinanderschoben. ^
hp Zunächst aber miissen dem Hierarchiebegriff, weil er das prin-
'"fepielle Ordnungselement des Engelsverbandes für Wilhelm dar-
stellt^ noch einige Erörterungen gewidmet werden. Die Hierarchie
wird von ihm — im Anschluß an Dionys — als „Ordo* be-
zeichnet. Welchen besonderen gesellschaftlichen Begriff er mit
dieser Bezeichnung verbindet, wird nicht völlig klar. Nur
' Sander, Feudilslaat und bürgcrl. Vertasaung.
b^drs. 12/13.
Berlin 1906. II f.
4*
52
so viel erhellt» daß er darunter eine irgendwie geordnete
Genossenschaft begreift, und zwar im besonderen eine kirch-
liche. Welche engere Umgrenzung aber dieser zu geben ist,
daFür bietet er wenig Anhalt. Er müht sich zwar, diese näher
zu bestimmen, indem er den Gehalt des Begriffes ,Ordo'
klarzustellen versucht. Aber dies wird ihm dadurch erschwert,
daß der „Ordo", wie er die Hierarchie als Ganzes bezeichnet,
auch ihre einzelnen Glieder ausdrückt. Diese Schwierigkeit
ist keine zufällige, das Bemühen, sie zu lösen, kein bloß
terminologisches. Es handelt sich hier vielmehr um die geistige
Bewältigung: Erfassung und Einordnung der Erscheinungs-
und Vorstellungswelt überhaupt. Zwar hat das Mittelalter
mit seinem auf ein Ziel hin systematisierenden Geiste^ den
wir eingangs berührten, Ordnungen über Ordnungen gehäuft.
Aber noch ist ihr Verhältnis zueinander nicht festgestellt. Eine
Ordnung steht gegenüber und in der anderen als ein lediglich
und gleichmäßig Abschließendes; jedes Anderssein ist ein gleich-
wertig Scheidendes, T^och sind die Differenzen, die StuFungen
in den Ordoungsprinzipien nicht aufgedeckt, Stand und
Standesklasse sind noch nicht im sicheren Verhältnisse voti
Ober- und Unterglied. Der Stand der Milites steht noch so
neben dem der Clerici, wie innerhalb der Milites: Duces,
Marchiones, Coraites, innerhalb der Clerici: Saeculares und
Claustrales. Keine schnelle Vorstellung» kein sicherer Ter-
minus bedient Co- und Subordination. Daher bedarf es der
langen Erörterung über den „Ordo" als Bezeichnung des
ganzen Verbandes gegenüber den neun ihm nachgeordneten
Ordines. Aber trotz dieser Erörterung entsteht kein sicheres
Bild vom „Ordo^ials zusammenfassendem Oberbegritf. Eine
feste Stelle in gesellschaftlicher Schichtung ergibt sich nicht,
wenn auch irdische Ordnungen zum Vergleich herangezogen
werden. Denn bald wird er den Milites und Clerici parallel
geordnet, bald wieder unterhalb der Clerici den Monachi, Cano-
nicij Templarii. Wo dem mittelalterlichen Menschen überhaupt
irgendwelche Ober- und Unterordnungen sich wiederholen, setzt
er sie gleich» ob nun auch die eine Oberordnung sich als Unter-
ordnung der andern Oberordnung erweist Er ringt mit der Ver-
begrifFlichung des Einzelnen. Nach und nach erst spannt er
das gesamte Weltgebäude in seinen Plan. So kann er das eine
Mal den Engelsordo dem der Clerici an die Seite setzen, wo dann
die Engelsklassen Welt- und Klostergeistlichen entsprechen würden,
und wieder auch dem der Klostergeistlichen, -Templer, Kanoniker
selbst, wö dann die Engelsklassen mit den Amtsstufen innerhalb
53
dieser Verbände gleich zusetzen wären. AlsWertvolles und Sicheres
bleibt ihm nur die Vergegenätändlichung eines Sturenverhähnisses
innerhalb einer Gemeinschaft, von der er sich ein undeutlicties
Bild in der Richtung einer kirchlichen Genosseaschart macht.^
Daß ihm zunächst ganz allgejjiein eine solche vorschweben
mußte, ist aus vielen Gründen erklärlich. Neben dem Umstände,
daO Wilhelm von Auvergne selbst Bischof, daQ die geistliche
Hierarchie die glänzendst geordnete war, der Engelsverband zu
ihr die nächste innere Beziehung hatte» wies darauf der Begriff
Hierarchie und die schon früh der kirchlichen Hierarchie zu-
geschriebene Nachbildung nach himmlischen] Vorbilde hin.^
Pseudodionys halte überhaupt für beide einen einheitlichen
HierarchiebegrifF gesetzt» den er noch auf die Gottheit selbst
susgedehnt und dann dreigeteilt hatte: als hierarchia divina,
engelica, ecciesiastica. In dieser mystisch durchstrahlten Syste-
matisierung hatte er die Hierarchia angelica dahin definiert:
I'Efni fiiv ^pa^;;/a — TCt^ig tcpo Kai iTiiatiifirj Kai iveQyBia
■HQug TÖ &^oUähg t^g ttpixvnv dtpofiOwuf.Uvrj —
Coel. Hier., cap. 3 § 1 i. i. Migne, a. a. O., 164.
Diese Deßnitiou kehrt dann allgemda bei den Meistern der
hohen Scholastik wieder. Bei Wilhelm von Auvergne findet sie
sich ^ und bei Bonaventura auch. Wilhelm aber gibt der Dreiteilung
tä^ig xßi fjciatTJfttj y.ai. Ivi^yiia eine systematisierende Auslegung,
die deutlich das Analogen der kirchlichen Hierarchie verrät.
Aus dem ^divinitus aggregata et ordinata societas et scientia
et actio*^ macht er eine scientialiter et oFficialiter geordnete
societas, erhebt scientia und oFficiuni zu Abstufungsgründen
innerhalb der EngeEshierarchie, damit den Gedanken an die
Abstufung der kirchlichen Hierarchie nach ordo und jurisdictio
wachrufend.
Bonaventura aber sagt — gelegentlich der Darlegung der
pseudodionysischen Definition der kirchlichen Hierarchie, die er
dahin wiedergibt; nHierarchia est rerum sacrarum et rationabilium
ordinata potestas, dehitum in subditos obtinens principatum." — :
„Haec autem deßnitio potest etiam convenire angeljcae
^h hierarchiae." *
^ De Univerao II. 2. c. 141. p. 991 col 1 A-D. Abgelehnt die Vor-
siellung des Engelsverbandes als Schule ibid. cap 111 p. 96^ cal. IB. —
^ Die kirchliche ist überhaupt nur Symbol zum Zweck der Hinatif-
f&hrung zur bimmljscben HJerarcbie. Paraphrase des Pacbymeres zu
Peeudodionys. Migne, PairoU S. G. 3, 133/5^ cf. Kocb, Pseudodionys.
a. a, O. 199 et passim. — '' L. c. cap. 143 p, 992 col. 2 G. — ■* Centiloq.
p. 3 seci. 16.
54
Damit ist die allgemein vorwaltende Vorstellung von dei
Engelshierarchie als ein&m der kirchlichen verwandten Verbände
deutlicli zum Ausdruck gebracht. Sie hat auch bei der Dar-
stellung der inneren Gliederung im Einzelnen vorgeschwebufl
Freilich hat hier neben ihr auch die profane weltliche Ordnung
ihren Einfluß geübt; bei Wilhelm von Auvergne ist eine Gliede-
rung der Engelshierarchie nach Analogie beider Gewalten ver-
sucht, ja die ausführlichere ist sogar die auf weltlicher^
Grundlage. fl
Aber auch der Gesamtcharakter der Engelshierarchie ßndet
sich bei ihm unter dem Bilde eines weltlichen Ordo dargestellt.
Er nennt cap. 112 (p. 963 coL 2 C) die Hierarchie einen sacer
principatus, indem er das Kecht dazu teils aus der den anderen
Creaturen übergeordneten fürstengleichen Stellung der Engel
teils aus ihrer vollkommenen und unabänderlichen Unter-
tanenschaft gegenüber dem primo principi atque principio'
herleitet.
Mit dem spirituellen Leben verknüpft sich im Mittelaltei
nahe ein an den reichen äußeren Anschein des Lebens hin-
gegebenes Empfinden. Diesem genügt weder eine rein geistige
Einteilung und Unterordnung, noch die Vergegenständlichung im
Bilde beruflicher Stände. Sehnsucht nach Pracht, Prunk, äuße-
rem Apparatus erfüllen es. Die Herrlichkeit der Himmel er-
scheint ihm nur würdig wiedergegeben unter dem Abbild höfi-
schen Haushalts. Auch eine solche Vorstellung der Engels-
hierarchie ßndet sich bei 'Wilhelm : Ornatus aulae praeclarissimae;'
diese wird an einer andern Stelle durch Aufzählung zahlreicher
weltlicher Hcfämter unter Betonung ihrer Amtsabzeichen weitecH
durchgeführt,'' V
Im Allgemeinen aber begegnen wir, soweit der Begriff
„Engelshierarchie" als solcher in Frage steht — ausdrücklich
sei nochmals betont, daß bei der Darstellung des Verbeindes im
Einzelnen durch Wilhelm ein ganz anderes, staatenähnlichcs
Bild vorwaltet — dem Bilde einer kirchlichen (sei es Standes-,
sei es Ordens-) Genossenschaft.*
r-
I
^ Dieses Anschießen van anklingen (Jen, besonders sprschlicb ver-
wandten Begriffen an Vorstellungen (principi stque principio) ist in der
Scholasiik überaus biußg und bewirkt, Khnlich wie der unmittelbire Über-
gang aus Allegorie und Symbol in die zugrunde liegende Wirklicbketl,
den seltsamen Eindruck einer zwischen sinnlicher und geistiger Apper-
ception unruhig bewegten Welt. " ^ ibid, csp. 138 p. 987. col. 1 D. —
» ibid, cap. 136. i. f, p. 9S5 col. 2 D, 993 col- IE. — * Cfr. Koch
B. a. O-, 199.
i
55
Innere Struktur des HierarchiebegrifFs.
Allgemeine Organisaljonsprinzipien,
igriff
die
;rarcniebegritt" lassen die mittelalterlichen Lehrer
von einem bestimmten inneren Ordnungsprinzip durchwaltet sein,
das einer verFaäsungsmäGigen Tendenz nicht völlig entbehrt.
Bonaventura lehrt:
^b Kecesse est, quod ex quadam convenienti diversitate
^B in quadam proportionabili gradalione consurgat quaedam con-
H venientia ordinata
^P Et in eodem ördine ponenda est quaedam gradatio et
^m quidam ordo, licet non sit tantus excessus, quantus reperitur
H in an^elis diversorum Ordlnum. 2. Dist. Q. a. un« 9. 8.
H £5 wird damit deutlich eine gewisse StuFung der Klassen und
Hd^rEinzelnen in ihnen nach dem Verhältnis ihrer Gaben ausgedrückt.
B Freilich ergibt sich der geistige Gehalt dieses Ordnungs-
prinzips wie der des HierarchiebegrifFs selbst als eine Aus-
wirkung jener von uns schon oben berührten mystisch-theo-
logischen Theoreme, die in Pseudodionys aus dem Zusammen-
wirken neuplatonischer und christlicher Ideen und Vorstellungen
erwuchsen. Ka&aigi f}'iir.--Aa3-aiQft.i% (fi\}ziCi.a!}i.u-ff'(.iJiil^e,iv, zt7.(,iaO-ai-
tt).EffiovQyEir sind die stufenmäßig bestimmten Gaben bzw. Auf-
gaben der dionysischen Hierarchie. Alle drei Gaben hat die erste
Trias unmittelbar von Gott. Sit strahlt sie der zweiten weiter,
die aber nur das tp(UTiCea-.9ai und /.aS-aiQ^ad ai in demselben JVlaDe
wie die erste erhält, das reXeiaftai nicht vollständig; diese wieder
tpiüTitsi und y.üäaiQ£i die unterste Trias, die das (poirlttad-ai
wieder pur ög ItpiKtöv, das v.aS-atQeaO-ai aber vollständig er-
hält und damit dann die kirchliche Hierarchie bereinigt.^ Dieses
rein spirituelle Prinzip, weniger auf die Engel als auf die in sie
aufgegangenen intelligiblen Substanzen neuplatonischer Theorie-
zu beziehen, hat erst spät — nicht vor den Zeiten der
hohen Scholastik ^ eine mehr das Organisatorische in ihm be-
' WiT folgen hier den klaren und kurzen Darlegungen K ü c b s a. a. Q.,
177, — «Tufmeta.a,0.,218fF. Koch a.fl: O., 176ff, Cf, Munk a.a.O.,33l f.
In äbnlicter Weise wurden auch die Ideen (als Modelle der sinnlichen
Erich einungen) in der philonischen Philojophte mit den Engeln identi-
flilert. Dähne, Gesch. d.jfid.-aleicandrin. Philosophie. Halle 1834,259,38].
Neumark, Gesch. der jüdischen Philosophie des M. A. Berlin 1907.
1, 2Qf. (hier der Zusammcahang mit Plato deutlich aufgezeigt).
5Ö
tonende und ijainit gesellschaftliche Zustände abbildende Aus-
prägung erhalten utid so die innere Verbindung zwischen den
schon früh gesellschafilich auFgefaßteB Vorstellongen der Engels-
hierdrchie im ganzen und Ihrer einzelnen Klassen herstellen
können. Das Organisatorische in jenem Prinzip ist eine nach
abnehmendeHj von einer der andern Klasse vermittelten Aus-
zeichnungen, doppelt nach scientia und ofßcium (s. oben S. 53)
gestufte Ordnung. Sie findet ihren irdisch-gesellschaftlichen
Ausdruck in einem Körper von Rangordnungen, deren obere
immer die untere ausstattet und zugleich unter ihrer Bot-
mäQigkeit hat. Beide Beziehungen entFaltet sehr deutlich und
noch in ihrem Zusammenhange mit den spirituellen Grund-
lagen Bonaventura:
In angelis enim ordo, qui ordini praefertur, excedit in
natur&libus et gratuitis, etiam quodammodo influit purgando
illuminando et perficieado et etiam ministeria complenda
idiungit. Bonftv. 2. dist. 0. a. un. q. &.
Das Abhängfgkeits- und Untertänigkeitsverhältnis ist dann
sehr stark von ihm in |ener oben viedergegebenen Deßnition
der kirchlichen Hierarchie, die er auch für die englische an-
gewandt wissen will, ausgedrückt:
rerum sacrarum et rationabilium ordlnata potestas, debi-
tum in suhditos obtinens principatum.
Ähnlich spricht sich auch Albertus Magnus aus, nur bat er
für principatum domiaatum.^
Dem Unterordnungs Verhältnis gibt Wilhelm von Auvergne
die Farbe besonderer gesellschaftlicher AbstuFungsgrilnde.
ordinem enim habent dignitatis, alia enim aliis digniora
sunt, habent etiam ordinem subiectionis sive obedientiae et
praelationis sive imperii et multos alios.
De Univ. 11. 2. cap. 143. p. 992 col. 2F.
55
Das Untertänigkeitsverhältnis.
Dieses Unterianigkeitsverhaltnis mußte den Meistern die
erheblichsten Bedenken erregen. Die Bedingtheit der irdischen
Beziehungen,^ die in den himmlischen ja gerade ein Vorbild
> Sem. 11 dlst. g. A. Art. I. — ^ Der Staat als ron Goit zugelassen
oder sündllcb erpreOr, bei Gregor VII, an verscfaiedenen Stellen; s. Poole
a. 8. O. 22Gt., ebenso bei Bonaventura, s. Scholz a. a. O. 119 n. 19Ö.
57
und Regulativ Snden sollen ^ — wird doch immer die Unbe-
dingtheit, die Absolutheit der oberen betont' — möchte man,
so sehr die Vorstellung des himmlischen Reiches der Anlehnung
an irdische Abbilder bedarf, aus ihr entfernt wissen. Man
hält sich die Aussprüche def Schrift und der Heiligen vor, die
jede Herrschaft zm verwerfen scheinen, «nd müht sich, dem mit
Vorstellungen aus einer ständischen Ordnung gefügten Bau das
im Mittelalter nur bei den Sektierern" anzutreffende Postulat
absoluter Herrsch aftslostgkeit, einer seligen Anarchie einzu-
verleiben.
^ Quod dicit „debitum dominatum retinens in subditis",
videtur esse contra praeceptum Summi Hierarchae Christi
qui dicit suis hierarchis; Reges gentium dominantur
eorum ei qui potestatem etc. (Luc. 32, 25). Item I. Petr, 5. v. 3
Neque ut dominantis in cleris. Item Bernardus ad Eu-
genium: Noü quaerere dominari, ne tibi dominelur omnis
iniquilas.
Alb. Magn., Sent. IL dist. 9. A. Art. 1. ed. Borgnet 27, ISO.
iftan legt den Aussprüchen der Schrift einen einschränkenden
Sinn unter und urgiert auf der anderen Seite in dem Herr-
scfaafts- bzw. Untertänigkeits Verhältnis den substantiellen Gehalt,
den reinen Supremat, einen natürlichen Vorrang und Führer-
schaft der Besseren.^ Man sagt:
quod illum dominatum non interdi\it Christus, sed
potius dominatum ambitionis: iste enim dominatus (ut dicit
Diony^sius) dicit superpositionem sive excessum prtmorum
et possessionem pulcbrorum bonorum et firmitatem cadere
Don valentem. Alb. Magn. 1. c. Art. 2. p. 193.
' Guil. Alv,, I. c. c«p. 113 i. f., p. 965 col. 2 B. — ^ Bonav. 2
diet. 9. a. un. q- 9. Gull. Alv., 1. t. cip. 143, p. 992 col. 2 G. — * So
bei den Brüdern des tttien Geistes. CFr. Pissauer Anonymus
Positionen 113, 43, 92 et pSssim. Citiert bei Prcger x. a. O. I, 212. —
* ctr. die Oben Citierten Stellen des Bonaventura und Albertus M.
— ' Dem PseudodiOityS, mehr transcDudcnCen als politiscbcn Idealen
eingegeben und ftls MfStagOgua mehr ein Freund schweigenden Gehorsams
»Iv irdischer Befreitingen, hätte eine derartige Verwahrung sicher Fern-
gelegen. Sein Glossator Pachymeres lißt sich damit gcaügco, von der
Hierarchie der Engel tu ä^j^sii' Tvpawixöv und das to iz^j^ie^ai ßiaiav
auszuscb ließen. Mlgnc, Patrol. S. G- 3, 127/8. — Übrigens ßndct sich
jgelagcntlich auch Im hoben Mittelalter, veranlaßt durch den Eifer voll-
kommener Analogisierung irdischer Verhältnisse, noch die bedingungslose
AuFruFung eines Untertanen- ja, eines nackten Gehorsam sverhältniss es
auch für den EngelsslaaC.
bibenl etiani ordincm subiectionis sive obedicnliac et praelalioni«
Sive imperü. GuÜ. Alv. I- c. cap. 143, p. 992 C9l. Z K
SS
Sacros enim principatus sive hierarchias oranes ordincs
nominat non tarn propler potestativa officia^ quae habent in
subditos, sed quia inter subslanlias creatas priacipatum nobili-
tatis obtinent.
Guil. Alv., De Universo II, 2 c. 136, p, 984 col. 2 H.
Man konnte damit freilich nicht fortleugnen, daß auch der
himmlischen wie jeder anderen Rangordnung eine Über- und Unter-
ordnung einwohnen müsse, aber man wußte dieser himmlischen
Über- und Unterordnung den Scliein einer absolut gerechten
Weltordnung dadurch zu sichern, daß man die irdische als
mangelhaft preisgab: Hier seien die Würden durchaus nicht
nach Verdienst verteilt, nicht jeder, der einem anderen über-
geordnet sei, übertreFTe diesen auch an innerem Werl. Darin
aber sei die Engelsordnung vollkommen und vorbildlich, daß
jeder durch seine innere Vortrefflichkeit auf seinen Platz berufen
sei.' Bei dieser Deduktion kam dem mittelalterlichen Menschen
die Lehre von den natürlichen und den durch götlHche Gnade
verliehenen Kräften zu Hilfe, die bei den Engeln immer, nicht
so bei den Menschen zusammenträfen, die bei den Engeln
immer gleichmäßig, bei den Metischen wechselnd seien. Nur
für die Kirche wird insofern eine Sonderstellung in Anspruch
genommen, als in ihr, die dem Vorbild himmlischer Ordnung
am nächsten, wenigstens eine durch Autorität, Amt, Weihe, inner-
lich begründete Abstufung vorhanden sei.* Im Schluß kommt man
dann zum Ergebnis;
Dicendum est igitur, quod proprie et perfecte in solis
angelis ponenda est distinctio ordinum; in hominibus vero,
etsi aliquo modo (eben in der kirchlichen Hierarchie) re-
periatur in presenti, reperitur imperfecte et incerte.
Bonaventura, 2 dist. 9. a. un. q. 9.
' Man vergleiche damit, was Rousseau über den Unterschiedl zwischen
naiürlicher und moralischer oder politischer Ungleichheit sagt. {Discours
sur l'oriiine et les fondemetiiä de l'Iii€gallt€ parmi les hommes.) Der Zu-
stand der natürlichen Ungleichheit ist ihm der Zusiand der Natur an stcb,
der der poHttscben ein Zustand der Mißverhältniaae, wo der Starke, anstatt
in berrscben, dient, das Volk, anstait ein wirkliches Glück, eine ein-
gebildete Rübe genieHt. Man wird linden, daß die Gegenüberstellung der
bimmliscben und der irdi&cben Hierarctiie durch den miitelallerlicben
Meister diesen GegensaU hinlänglich efschöpft und wird bemerken, daß
da$ dreizebnie Jahrhundert im Gewände iheologischer Vorstellungen seine
Erkenntnis gesellschartlicher Zustände bis in Tiefen irieti, die gründlich
aufzuiucben, erst dem Zeitalter der AuFklirung gegeben war. Dber diesen
selisamen, aber nicbtv&llig unerklätlicben Paralleltsm der beiden Epocben
wird noch unien an seinem One ausführlicher zu handeln sein. —
= Bonav., 2 disi. 9. a. un. q. 9.
59
I
I
I
oder im leidenschaftlicheren Tone des Wilhelm von Auvergne:
Ordinata etiam ofRcia convcnientissima impositione
ac pulcherrima dispositione eoruni} non iuxta difTorinitareni,
quae apud nos, pro dolor, saepissime invenitur. PraeclarJora
namque ac subiimiora ofßcia ilüs imponuniur, qui et minime
sciunt lila exequi et exercere et maxime executLonem ipsorum
oderunt et pulchritudinem eorum perversitate sua deturpant
intolerabiliter ac deformant: ibi vero Onlnia ad congruum,
ad decentiflm et decorem omnia composita sunt et con-
stituta: omnia quippe offtcia idoneis imposira sunt et apiis
apiissime coaptata.
Guil. Alv-, De Univ. IL 2. cap. 143. p. 692 coL 2 G.»-»
Auf diese Weise wußte man zwar der himmlischen Rang-
ordnung den Makel unbilliger Herrscbafts- und Abhängigkeitsver-
hältnisse zu nehmen; aber es blieb bestehen die doch durch die
Rangordnung selbst geforderte, mit den evangelischen Prinzipien an
sich schlecht zusammenstimmende innere Ungleichheit/ die nun
geradezu, da die himmlische Hierarchie ja als vorbildlich für die
irdische galt^ die Sanktion einer ewigen Einrichtung erhielt. Damit
blieben die scholastischen Lehrer, wenn sie schon einen großen
Teil weltlicher Privilegien preisgaben, doch am äußersten Rande
noch innerhalb des kirchlich oder staatlich gefärbten Christen-
tums, während gleichzeitig unabhängig wirkende Geister — be-
sonders in den Sekten — diesen Boden langst verlassen und
das erst spät zum Staatsprogramm erhobene Postulat absoluter
Gleichheit und Brüderlichkeit schon damals ihren flammenden
Streitschriften vorangesetzt hatten.* Dabei ist freilich für diese
wie für die innerhalb der Schranken staatlich-kirchlicher Ord-
nung verbliebenen Scholastiker darauf hinzuweisen, daß die
Theoreme beider nicht gesellschaftlichen Strebungen, sondern
theologischen Spekulationen ihren Ursprung verdankten. Wie
in den Sektierern der Pantheismus oder egocentrische Theis-
mus, unbeirrbar vorwärtsgetrieben: Gleichheit aller Wesen in
' Für die Klagen Wilhelms i3ber die tingcrecbte Verteilung der
Ämter in der WeU bietet sein Leben selbst latsächliche Unterlagen. Mehr-
fich hatte er Als pSpstlicber Beauftragter gcist[iche Vürdeniräger wegen
ihrer Verfehlungen zu leklifizieren, ober die Würdigkeit von Prälaten
Bein Urteil var dem Papst abiugeben, cf. Valois a. a. O., 84ff. —
' Doch wird auch die irdische Rangordnung, freilieb in idealisierter
Gestalt^ von Wilhelm an anderer Stelle in Schutt genommen als
getreues Abbild der Engelsbierarcltie, deren Schdnbeit und Ordnung nur
uincomparabilker major atque praestamior" aei. cap. 113 i. f., p. 965.
col. 2 B, — ^ Koch a. a. 0., 231—233. — * cfr. Preger s. a. O.» I.,
60 ^^
Gott forderte, so verlangte die auch paatheistisch dirigierte
Emänationslehre der Scholastiker Stufen der ascensio in Deutn.
Diese in gesellschaftlicher Umdeutung — freilich ohne eigent-
lich inneren Zusammenhang beider Bezirke — ergeben die
Abfolge gesellschaftsmäßiger Stufen, welche dem evangelischen,
im Pantheismus notwendig wiederkehrenden, Gleichheitsprinzip
widerstreitet.
S 8
Der freie Wille als gesellschaftliches Moment. Repressalien
dagegen. Staatsgewalt.
Mit diesem Prinzip innerer Ungleichheit,^ steht, sobald ihm
übertiaupt eine gesellschaftliche Beziehung untergelegt wird,
die Theorie von der Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein
Tun und Handeln la Verbindung. Es ist begreiflich, daß kirch-
liche Lehrer gn dem in dieser Theorie enthaltenen Grundsatz
der freien Willejisbestimmutig nicht vorübergegangen sind, wo
ihnen Gelegenheit gegeben war, ihn auszusprechen. Obwohl
es scheinen konnte, daß die im Engelsreiche vorwaltende, auf
dem Zusammentreffen von Natur und Gnade basierende Ewig-
keit der Ordnung dem ein Hindernis wäre, lassen die Scholastiker
doch auch in den Engeln einen Willen zu° und setzen diesen
sogar ihren natürlichen Gaben voran. Die theologische Be-
gründung hierfür, die aus dem Sehnsuchtstriebe, in Gott ein-
zugehen, abzuleiten ist, gehört nicht hierher. Sie erkennen
jedenfalls den freien Willen für die Engel an und be-
tonen geradezu seine Bedeutung als wesentlichen Faktor der
ihnen subintelUgierten Gesellschaftsordnung, ja, der Gemein-
schaftsbild ung überhaupt, indem sie ihn als das Ferment der
dereinst — nach dem jüngsten Tage — aus den Engeln und
den erlösten Menschen zu bildenden Gemeinschaft, als das
innere Vehikel der Angliederung dieser als einer zehnten
vollendenden zu den neun eigentlichen Engelsklassen be>
trachten. Ja, sie urgieren den freien Willen als verbindendes
* Bei Pacudodionys scheint m nur für die einzelnen Ordnungen,
Hiebt auch für deren Glieder gegolten zu haben, a^rg. c. cOnlr. C. H. 4- S 3,
wo eine Abstufung jtptüiai, fcsonc^ rtXtvraim nur für die Hicrarcbien
selbst, nicbl wieder für die einzelnen Qrdincs gesetzt ist. Im Mittelalter
aber ist es auch für die Glieder der eiuzelnea Ordines durcbgefübrt
worden. Vgl. Hugo a. St. Victor, senMI- 5. Mägne.S. 176,86,7. Bonav.2
dist e. a. nn. q. 8. — ^ Stabiliendo libn arbiiri Tcrtibüilatem. Bonar.,
brevil., IL ad. c. 8. 9.
S1
Clement der beiden miteinander zu einenden Kreise derart, daO
sie ihm die Macht zuschreiben, die von Natur verschiedene
Art beider Kategorien zu i^berwinden^ und über sie hinweg
die Gemeinschaft des derein$tigen himmUschen Reiches her-
zustellen. Diese Macht Fassen sie schon ganz deutlich fils eine
unmittelbar politisch organisierende, nicht etwa lediglich als eine
mittelbar wirkende, innere Macht auF. In diesem Sinne sagt
Bonaventura:
Icum maior sit unitas voluntatum quam facierum et plus
facit ad uniiatem pacis et societatis et ordinis conservandam.
2 dist. 0. a. I. 9. 5. fund. concl. et ad 1—4.
Wie die Wirkungen der Ungleichheit und Freien Willens-
tätigung nach einer äußeren Ordnung und Herrschaft ver-
langen, ein Grundsatz, den der Verlauf der irdischen Dinge
unausgesetzt herausstellt, erweist sich auch in einem besonderen
Falle innerhalb der Engelsgcmeinschaft. Gegenüber den ab-
trünnigen Engeln, die mit freiem Willen sich gegen Gott erhoben
haben, wird die Gewalt Gottes geradezu als eine Art Staatshoheit
geltend gemacht. Ihr Abfall wird als eine Art Felonie, ihre
Absicht als eine thronräuberische gebrandmarkt.
ICum princeps ille malignorum spirituum ab initio contra
creatorem se erexerit et partem regni eiusdem ei detraxerit
et ad se traxerit.
Guil. AIv., 1. c. cap. 139. p. 989 col. 1 C.
Gott tritt ihnen gegenüber als der in einen Aufruhr ver-
strickte König auF, der seine Truppenmacht zur Unterdrückung
der geiährlicheD Erhebung aufbietet' Weit ab wird der Gedanke
gewiesen, als hätte solch Kampf Gott nicht angestanden, über-
gangen die Frage, warum der vorauswissetide Schöpfer diesem
Abfall nicht begegnet, wie seine Güte Tat und Strafe nicht gehindert
habe. Gott wird durchaus als Inhaber einer staatlichen Exekutive
vorgestellt, die er anwendet, um die iniquissimos ac nequissimos
hostes in ihre Schranken zurückzuwerfen. Dazu bedient er
sich derjenigen Engelsklasse, der — nach Wilhelms Auffassung —
das besondere Amt der politischen Exekutive zugefallen ist
{s. unten S. 87), der Poiestates, Diese Repression wird derart
unter dem Gesichtspunkt eines staatlichen Machtmittels gegen
unbotmäßige Untertanen aufgefaßt, daß geradezu von Gott
I ' Das Bereich des Willens von dem der natürlicbeD Triebe deutlich
Kcscbieden bei Vilhelm von Auvergne (1. c. cap. 138, S. 987. coU 1 D>
indenü lediglich für jenes, als in aubsiantiis intelligibllibue, die dreigeteilie
Verwaltung Gottes (durch Gott, Engel, Menschen) In Anspruch ge-
DAimnen wird. — ' Guil. Alv. Ibid.
h.
1
Ö2
gesagt -wird, es würde ihn, falls er es nicht nngewendet hatte,
der Makel eines sich selbst aufgebenden — quia vel vinci
vult — oder Feigen — vel in fugam se vertere — Herrschers
treffen. So starker Folgerungen ist die Vorstellung von der
in Gott als Hierarchen der Engel Festgehaltenen Staatsgewalt
fähig.
§7
Der Engelsverband im Bilde einer Staatsordnung.
Allgemeines.
Es ist im vorhergehenden wiederholt — so auch zu-
letzt, am Ende des vorigen Paragraphen — berührt worden,
wie sich die gesellschaPtliche Ordnung des Engelsverbandes für
die mittelalterlichen Meister nicht in dem von Dionys über-
kommenen HierarchiebegrilT erschöpft. Es ist daraufhingewiesen
worden, daß neben der gesellschaftlichen Ausdeutung dieses
obersten und einheitlichen BegriüFs der dionysischen Lehre das
lebendige Bild der neung€glied€rten Ordnung selbst ihre Ge-
danken noch in einer anderen Richtung mit gesellschaftlichen
Anschauungen erfüllt hat. Durch ihre Bezeichnungen mußten
einzelne Ordnungen schon ganz natürlich die Vorstellung
staatlicher Machtfaktoren erwecken; ihre in regelmäßiger Ab-
folge gestufte Organisation schuf die Gesamtheit der Glieder
leicht in ein politisches System um. Noch bevor die Neunzahl der
Ordnungen sich festgestellt, die Lehre des Pseudodionys sieh
entfaltet hatte, war der heilige Hieronymus dazu fortgeschrittenj
die Engelsgemeinsehaft unter dem Bilde staatlichen Lebens vor^
zustellen. In seinem Kommentar zu Eph. 1,21 sagt er:^
Si autem sunt principatus et potestates et virlutes et
dominattones, necesse est, ut et subiectos habeant et timentes
se et servientes sibi et eos qui sua fortitudine rcborentur.
Quae di$tributiones oFficiorum non solum in praesentiarum,
sed etiam in futtiro saectilo eruat, ut per singulos proFectus,
et honores et ascensiones, etiam et descensiones vel crcscat
aliquis, vel decrescat, et sub alia atque alia potestate, virtute,
principatu, et dominatione Rat. Nos homitnculi rito in cinerem
et pulverem dissolvendi si consensu homtnum levamur in
reges, tantas habemus ministrorum diversitaies et multitu-
dines, quantas facilius possumus sentire quam dicere: verbi
Migtie, Patr. S. L. 26, 491,2.
I causa, quod praefectus in parte civili iudices provioicias et
ordinem SEium habeat: rursum niilitia in tot comites, duces,
tribunos et muttiplicetn scindalurexercitum. et putamusdeum,
DomiDum dominonim et Regem regaantium, simplici tantum
ministerio contentura?
Hier ist in einer Sprache, die Freilich die tatsächlichen
o]gerui]gen des Prinzips stark heraustreibt, die innere Or-
ganisation des Engelsverbandes als eine staatenmäßig in Be-
^Ksmtenkategorieen gegliederte deutlich getiug vorgestellt und
^»bezeichnet. Abgesehen von der Andeutung weiterer Stufen-
kategorieen in den subiecti, timentes, servientes und denjenigen,
qui fortitudine (ihrer Oberen) roborentur — womit eine doppelte
Beziehung der Beherrschung und Ausstattung der Unteren
durcb die Oberen (s. oben S. 56) ausgedrückt wird — -, ist
sogar auf eine Art von Aufrücken in der Beamtenhierarchie
angespielt mit den Worten: per singulos profecius etc.: wenn
natürlich auch der eigentlich zu Grunde liegende Sinn immer
theologisch gefärbt bleibt.
Schliesslich aber greift Hieronymus ganz geradezu auf die
weltliche StaaisherrschaFt hinüber und vindiziert von ihr aus,
nämlich daher, daß da$ Schnell vorüberrauschende Königtum
eines Sterblichen mit einer so weitschichtig geordneten Schar
von Beamten ausgestattet sei, für den König der Könige ein
gleiches in vollkommener Ausgestaltung.
Wie Hieronymus diese weitschichtige Herrschaft beschreibt:
tantas habemus ministrorum diversitates etc., das legt im Zu-
sammenhange mit den vorhergehenden Ausführungen über die
subiectos timentes servientes und diejenigen, qui fortitudine (ihrer
Oberen) roborenturj die Vermutung nahe, seine Vorstellung
des himmlischen Reiches habe sich auf das Bild eines tatsäch-
I liehen Erdenregiments gestützt, habe den großen Apparatus eines
weltlichen Staates unmittelbar vorm Auge gehabt.
^H Dies erscheint titir zu wahrscheinlich, wenn man erwägt,
^PdaQ Hieronymus die Aufzählung der Engelsordnungen durch
^den Apostel auf dessen tiefere Einsicht in das Wesen der im
Alten Testament überlieferlen irdischen Herrschaften zurückFühft,
iiü er dem Apostel zuschreibt, er habe in den in den Büchern
Numeri und Regum überlieferten Reges principes duces tribuni
und centuriones das Abbild der oberen Herrschaften erkannt.
Daraus ergab sich für den Heiligen mit einer gewissen Notwendig-
keit die Konstruktion der himmlischen Hierarchieorganisation
nach einem bestimmten weltlichen Vorbilde. Ob nun dieses
Ldas der alten jüdischen Reiche, wie sie die heiligen Schriften
64
schildern, oder das sonstiger vorderasiatischer Herrschaften oder
das des alten Rom ist, das läßt sich nach den unscharfen Ausdrücken
des Heiligen nicht mit Sicherheit sagen: vielleicht haben auch
alle zusammen eingewirkt. Auf jeden Fall aber hat die nahe
Verbindung, in die der Heilige die himmlische Organisation mit
concreten irdischen Herrschaften gesetzt hat, auf späte Nach-
folger noch ihren Einfluß geübt. Nicht nur ßnden sich z. B. bei
Wilhelm von Auvergne ganz auffällige äußerliche Anklänge an
des Hieronymus Ausführungen: die fCategorieen der principes
duces tribuni cenlurioaes kehren genau so bei ihm wieder,
nicht nur Gndet sich bei ihm gelegentlich die Vorstellung des
himmlischen Reiches unter dem Bilde eines so weitschichtig
gegliederten irdischen Hofhalts mit purpurati togati anulati fibulati
und mitrati, daß man dabei an vorderastatische oder byzan-
tische Staatsordnungen denken muß — ■ nein, noch ganz spät
bei den Publizisten des Naturrechts begegnen wir — nun freilich
im Wege und zum Zwecke historischer Ableitung — der Zu-
sammenstellung des Engelstaates mit einem irdischen Regiment.
Man wird den Kommentatoren der Migne-Ausgabe nicht unrecht
geben können, wenn sie in der späten Aufstellung des Grotius,
die Schilderung des Engelstaates durch Paulus sei auf das
Urbild des persischen Hofstaates zurückzuführen,' den Einfluß
des heiligen Einsiedlers wirksam glauben,^ der dem Paulus zu-
geschrieben hatte, er habe die Engelshierarchie aus den Herr-
schaften des alten Bundes abgelesen.
S 8
Der Engelstaat als Vorbild irdischen Regiments.
Wilhelm von Auvergne.
D^r Grundgedanke des Hieronymus, daß die Engels hie rare hie
in dem weltlichen Regiment des Alten Bundes ein irdisches
^ Daß taCsl4:blich im Engelstaal, wie ibti die heiligen SchriFren über-
lieferten, mancherlei Anklänge an die persische Hafäalrung zu verzeichnen
sind, scheinen die Kommentatoren mit Kecbc anzumerlten. S. Xenopbon,
Cyropadie VIII, 1,b, h, *o; 2,7-»; 3,,x. Vgl. CurtiuSi Griecb. Gescb.
6. AuH., 1, 601, Duncker, Gesch. des Altertums, 4. Aufl. 4, 524if,
V. PräBcfc, Gesch. der iWedcr und Perser. Gotha 1906. I^ 203, 238».
— * Es sei auch darauf hingewiesen, daß bereits im dreizehnten Jahr-
bunderi, in der weiter uncen (S. 108} mirgeiellten Stelle aus des Ägidiua
Romanus Traktat De eccieaiastica potestaie die Engelsklasse der Prlnci-
patus einer Rangstufe des persischen Horbalrs gleichgesetzt wird, die
dort als Principes bezeicbnet wird.
65
Abbild gefunilen habe, hat aber noch weitere Frucht getragen.
Bei Hieronymus selbst ergibt sich daraus nur eine Stütze für
die auftiohende Vorstellung der HimmelsherrschaFt. Spätere
haben betontere Folgerungen aus dem Grundsatz des im welt-
lichen Regiment abgebildeten Himmelsreiches gezogen. Wilhelm
von Auvergne lehrt am Schlüsse seiner Stufenfolge imaginärer
Staatsklassen:
necesse est in illo regno pulchritudinem et decentiam,
numerum et Ordinationen! non solum similes esse istis, quas
de regno terrento posui, sed etiam exemplares istarum. - —
Quia igitur omnis rex bonus exemplum est et similitudo
primi a.c summi regis, qui est Creator benedictus, erit
necessario et omne regnum bene dispositum exemplum et
similitudo regni tUius, et ordinatio huius ordinalionis et
ordtnes huius ordinum illius.
Guil. Alv., 1. c. cap. 112 p. 964 coL 2G., ähnlich cap.
113 i. f. p. ges cöl. 2B.
Hier mündet jene Aufhöhung irdischen Wesens zum göttlich
Übergeordneten schon in die vorausnehmende Anerkennung des
Exemplarischen im Himmelreiche. Davon ist bei dem kräftigen
Vorstellen des Frühen Eremiten noch die Rede nicht. Die
ganzen geistigen Einströme von den im göttlichen Nus vorbildlich
dargestellten Ideen,* übertragen in die halb mystisch, halb
tnoralische Welt christlicher Dogmen, haben diese Anerkennung
des himmlischen Anordnungsprinzips als eines für das weltliche
Regiment vorbildlichen aDgebahnf. Diese Pronqnziatlon ist erst
spät, und wohl mehr von dem scholastischen Hange, die
allgemeine Geltung des göttlichen Gesetzes zu erweisen,
als von einer politisch-ideologischen Absicht herausgetrieben
worden.
Man wird aber über der Betonung dieser rein geistigen
Auswirkung des zugrunde liegenden Prinzips nicht übersehen
dürfen, wie diese im Resultate ein höchst lebendiges Problem
der mittelalterlichen Staatsauf Fassung zu beeinflussen geeignet
war. Von Gregor VII.- bis zu Thomas von Aquino läuft eine
fortgesetzte Reibe von Aussprüchen, welche den irdischen Staat
als in der Sünde von Gott erpreßt, als eine strafweise Zulassung
r ^ Dberweg-Heinze I. S. 382, II, S. 21217., 283. Baumgartncr
a. a. 0., S. TlEf. Schindele n. a. O., S. 33r v. Herlüng, Albertus
Magnus, Köln 1880, S. 8S. — ' Ep. Vlll, 21- Jaffa, Bibl. Rer.
Germ. 2, 457, vgl. Scbolz a. a. 0„ S. 119 n. igs, — ■ Scbolz,
icbeada.
5
86
Gottes ansehen. Erst mit Thomas läQt man im allgemeinen eine
staatsfreundlichere, von Aristoteles beeinflußte Meinung Platz
greifen. Da muß es nun auffallen, nie hier — ein Menschen-
aller vor Thomas — der Staat nicht nur nicht als eine unvoll-
kommene, Gott miQlallige Institution, sondern geradezu als die
genaue und getreue Nachbildung der himmlischen Herrschaft
angesprochen, der König, insoweit er gut ist, als ein
Abhild Gottes gerühmt wird. Auch wenn man erwägt,
daß die wilhelmische Staatsordnung, von der Wirklichlteit weit
entfernt, ein Gebilde der Phantasie ist, bleibt immer doch be-
stehen, daß unter ihr ein weltlicher, von der kirchlichen Gewalt
gesonderter Staat verstanden wird. Und man wird sich am
Ende diese Hinneigung zum weltlichen Staate nicht allein damit
erklären können, daß sie sich im Wege allegorischer Aus-
deutung aus rein theologisch - dogmatischen Substraten er-
gehen habe: auch in diesem Gewände muO sie, in diesem
Zeitalter von einem hervorragenden Kleriker geäußert, auffällig
erscheinen.*
Es bleiben vielmehr nur zwei Erklärungsgründe Für diese
auffallende Antizipation erst später zu allgemeinerer Anerkennung
gelangter Grundsätze: einmal die gerade von NCilbelm aus
arabischen Quellen und auch sonst früh gewonnene Kenntnis
aristotelischer Schriften^ und dann seine Stellung als Fran-
zösischer Bischof in unmittelbarer Nähe des Hofes. War
an sieb schon die Haltung der fränzösichen Bischöfe gegenüber
dem Römischen Stubl eine ausnehmend Freie, mehr dem Staate
zugeneigte, als etwa die der deutschen Bischöfe," so mußte
die nahe persönliche Verbindung, in der Wilhelm dauernd
zum französischen Throne stand, die Ausprägung seiner Ge-
sinnungen in slaatsfreundlichem Sinne noch erheblich be-
fördern: wie er sich denn auch in seinem politischen
Wirken nie als einen unbedingten Eiferer für den Ko-
mischen Stuhl, oft als einen Vertreter königlicher Interessen
bezeigte.^
> SoTJel vir sehen, findet sich Bine abnlicbe Äußerung nur noch
bei einem Kleriker dieser Epoche: bei dem in der zweiten HiUte des
12. Jahrhunderts blühenden Jdbannes von Salesbury In seinem Policraticus
IV, t, wo auch der Fürst als Abbild Goties und seine Macht als aus Göti
Aleaend dargestellt wird, Auch auf ihn, der seine Bildung in Frankreich
erhielt, werden 9bnlicheErkl9rung8sründe wie auf Vilhelm anzuwenden sein.
Vgl. aber Poole a. a. O-, 235. ~ "* Jourdain, Pbilosophie de Sc. Tbomas.
Paris, 1858, I, 50. — " Poole a. a. O., 247. Scholz a. a. O., 20S. —
* Valoia a.a.O., 68, 74f., 144r.
67
I
«9
arstellung des irdischen Regimentes (Staat und Kirche)
nach dem Bilde des Ezngelsiaaces.
Allgemeines.
Die Vorstellung, daß dem Etigelstaat exemplarische Be-
deutung für das irdische Regiment zukommt, hat Wilhelm dazu
veranlaßt, ihn in seiner ganzen Gliederung in die beiden irdischen
Gewalten — weltliche und geistliche — zu projizieren. Er
entwirft für beide eine vollkommen der Folge der Engelsklassen
entsprechende neungegliederte Ordnung, die aber jeweils nicht
das Ziel hat, weltlichem oder geistlichem Hegiment als Vor-
bild zu dienen, sondern umgekehrt durch ihre Existenz das Be-
stehen des vorbildlichen Engelsreiches dartun und veran-
,schaulicheii soll.
1 Diese Existenz ist nun freilich naturgeniäll eine rein ima-
ginäre — nach Wilhelms Meinung allerdings der aprioristisch er-
faßte ideale Gehalt jedes Weltregimenis. Sie ist in Wahrheit erst
durch das Vorbild des Engelsstaates, den sie gerade erweisen
sollj in die in Wirklichkeit ganz anders geordneten irdischen
Hierarchieen hineingetragen worden und stellt so keine tatsäch-
liche, sondern nur eine ad hoc iingierte Weltordnung dar; welche
Für die kirchliche Hierarchie, die durch ihr dogmatisch sanctio-
nierles Gefüge vor einer eindringenden Neuordnung gesichert
war, nur in geringen Umstellungen und Ausdeutungen zum Aus-
druck kommt, für die weilliche aber zu einer einheitlichen voll-
kommen neuen Staatsordnung führt. Denn hier hinderte nicht
nur nicht eine geheiligte Stufenfolge von Klassen den Entwurf
einer neuen Gewaltenordnung, sondern das indecis vielgestaltige
Durcheinanderlaufen staatlicher, ständischer, höfischer Ordnungen,
das noch dazu in keinem der westeuropäischen Regimente einen
allgemein verbindlichen Ausdruck gefunden halte, forderte ge-
radezu, sollte eine dem Engelsstaat gegenüberzustellende ein-
heitliche Ordnung gegeben werden, zu einer vollkommenen
Neuschöpfung heraus. Hier wirkte sich naturgemäß, da der
Rückhalt irdischer Institutionen nur sehr dilFus war, das Vorbild
des Engelsverbandes völlig aus. Aus den Namen der Engels-
klassen und den mit diesen, sei es theologisch -dogmatisch, sei
es spekulativ unter platonischem oder aristotelischem Einflüsse
verknüpften Vorstellungen sog die von Wilhelm aufgestellte
Reihenfolge welllicher Klassen ihre wesentlichen Inhalte und
formte sich zu einem geschlossenen neuen Staatsordnungsge bilde.
5*
68
Nur innerhalb dieses Rahmens an einzelnen Stellen ver-"
mochte sich noch das Gewicht tatsächlicher politischer Zustände
Geltung zu verschaffen, das der mitceialterliche, auf ein All-
gemeines, den in Gott gegebenen Weltverband, gerichtete Geist
überhaupt nur ungern bereit war, in seinen Systemen zu berück-
sichtigen/ So erhielt das Bild irdischer Staatsordnung, das
Wilhelm als Abbild des Engelsstaates entwarf, im wesentlichen,
ohne daß diese Tendenz vorgewaltet halte, doch den Charakter
einer politischen Ideologie und ist als solches im Mittelalter,
so viel wir sehen, ejn einzig dastehendes Gebilde,^ von dem man
wird sagen können, daß es in scholastischer Umgrenzung die mit
dem Erlöschen antiken Geistes unterbrochene Reihe politischer
Utopieen wiederaufnimmt^ und auf die Renaissance weiterleitet-
Wilhelm beginnt seine Darstellung der die Engelsklassen
widerspiegelnden irdischen Gewalten mit der weltlichen Staats-
ordnung, ohne hiefür einen besonderen Grund anzugeben.
Ebenso ist sie es auch, die er im weiteren Verlaufe fast aus-
schließlich berücksichtigt. Man wird dafür zunächst in dem
oben angegebenen Umstände, daß sie als ein im wesentlichen
ideologisches Gebilde der Entfaltung allgemeiner und vorbildlicher
Normen, insbesondere auch in der Richtung der Verwertung
klassischen Materials, den breitesten Raum bot, eine Erklärung
suchen. Aber diese Erklärung wird nicht völlig befriedigen.
Sie vermag die ohne jeden Versuch der Rechtfertigung er-
folgte Zurücksetzung der kirchlichen Hierarchie, die doch auch
aus sachlichen Erwägungen den Vorrang hätte haben müssen,
nicht ganz zu begründen. Es werden daneben Momente persön-
licher und zeitgeschichtlicher Natur zu berücksichtigen sein. Man
weiß} wie Ludwig IX., dessen vertrauter Ratgeber Wilhelm war,^
trotz seiner hingegeben christlichen Gesinnung dem Römischen
Stuhle gegenüber die königlichen Rechte wahrzunehmen ver-
stand. ° Man wird vielleicht aus der offenbaren Bevorzugung
der weltlichen Macht bei der Abspiegelung des Engeistaals in
den irdischen Gewalten einen Schluß in der Richtung ziehen
^ Poolea. a, O,, 233, Riezlera. a. O., 131. — ' Der Policrarlcus des
Johannes von Snlesbury kann bier als alizueebr in Allcgorieen verstrickt,
als alUufern jeder polLtiscben Systemaiik gamicbi in Betrachi kommen. —
* cf, Oncken, Slaaislebre des Arisioteles. Leipzig 1870, 1,67 FT. Schneid,
Aristoteles in der Scbolasiik. Bichstäct I37&, 148. ^ * Valois, Cuillaume
d'Auvcrgne 1, IMff. — ■' Ranke, Veltgescbichie VJEI, 438 f. Franzdsischti
Ge&chichie I, 31. Valois, I. c. 66, 151. Lucbaire, Manuel des Institutions
ffaneaises. Piiris 1892, 463. Bouiaric, St. Louis er Alpbonse de Poitiers.
Paris 1870, 2IG f.
69
dürfen, wie Schon in den Zeiten Ludwigs IX. sich selbst in den
kirchlichen Häuptern Frankreichs das Bewußtsein von den
Rechten des weltlichen Regimentes aflzubflhnen begann. Be-
merkenswert ist in dieser Hinsicht auch wie stark dje ver-
gleichsweise Anrufung der weEtlichen Macht einsetzt: Scito quod
tempore adolescentiae meae cum cogitarem de sacris istis
principatibus et ordinibus, incidit mihi cogitatiis de regno terrae
bene ordinaio etc. gegenüber der blassen Einführung der kirch-
h'chen Hierarchie: Addam tibi et aliam simililudinem regni scilicet
spiritualis — ^ {Hierzu wäre die bereits oben verwertete
Stelle über das Königsregiment als Abbild des göttlichen an-
zumerken. S. S. 66.)
Bei der Beziehung der einzelnen himmlischen Stufen auf
die entsprechenden irdischen lo&titutiooen sieht Wilhelm von der
von Pseudodionys vorgenommenen starken Dreiteilung ab. Den
drei Hierarchieen schuF er keine irdischen Gegenstufen. Ihn
beherrscht'hier ganz — wie den frühen Eremiten- — der starke
sinnfällige Klang der neunmal gestuften himmlischen Rangord-
nung. Ihr fand er in irdischem Bilde Abglanz und Widerschein.
S 10
Weltliche Staatsordnung.
Erste Klasse
Amantissimi Regis — Serafim.
Wilhelm beginnt nach dem kurzen, oben wiedergegebenen
Auftakt: wie ihm als Jüngling im Gedanken an die Himmels-
hierarchie sich aprioristisch das Bild vom wohl bestellten
Efdenstaate dargesielh habe, sogleich mit dessen Aufrollung,
indem er die Beziehungen der einzelnen Rangstufen zu den
Engelsklassen am Schlüsse darlegt, vermittelt durch die oben
mehrfach berührte Auseinandersetzung, daß die irdische Muster-
ordnung, da der Glanz aller irdischen Herrschaft nur ein Ab-
bild der himmlischen sei, notwendig in der Engelsgemein schaff
vorbildlich verkörpert sein müsse.
Er eröffnet die Reihe weltlicher Gewaltordnungen mit den
Proximi ac laterales Regis. Diese scheiden sich nach ihm not-
wendig in drei Ordnungen, „quos necesse est indesineater et
tateraliter assistere ipsi Regi".^ Daß diese Dreiteilung und die
' t>e Univ. cap. 112, 113 p. 964 col I G. p. 965 coi. IC.— * Oben
^S. 62 ff.
Cap. 112 p. 964 col. 1 G.
70
ganze VorsceÜung völlig von der pseudodionysischen Schilderung
der ersten Engelshierarchie beherrscht wird, ist offenbar. Man
vergleiche De Caei. Hier. VI $ 2.
Kai iT^wjffV (sc. T^ia&i/iTiii) (Av eivaC ^r^oi tijv 7u^l ßeöv ovaav
aei xai 7rpoffexii*t' ßtif;) xat Tt^o twi' aXXmv af^idaivi^ rjvitia9ai
v/Teffy.Eifi(vr^ii iyyürijTa jtsqI Öcö^ afteOLog lÖQVEad-ai.
Damit ist ein Licht auf die Inanspruchnahme der Wilhel'
mischen Herrschafistheorie als einer aprioristisch erfaßten ge-
worfen. Man bemerkt, wie sie sich zunächst an der theologischen
Ideensysieraatisierung des Dionys orientiert, um dann sich freilich
in freierer, speltulativer Entfaltung hinaufzuranken.
Dem „indesinenter et lateraliier assistere Regi* vindtciert
Wilhelm einen besonderen Sinn nicht. Es wird damit eben nur
die PHicht dieser obersten Beamtenklassen (des persönlichen
Gefolges, der Räte und der Richter) zu unmittelbarer Umgebung
des königlichen Throns» und die Bedeutung» die für den königlichen
Thron in ihrer nahen EereUschaFr liegt, zum Ausdruck gebracht-
Er gehl alsbald zur Auseinandersetzung der ersten Gangordnuni^
über, die er als die
Amantissimorum hoc est maxime Regem amantlum et
amore ipsius super omnes ferventium^
beschreibt^ Die Beeinflussung durch die Bezeichnung der ent-
sprechenden Engelsklasse ist deutlich. Wilhelm selbst weist
bei der Vergleichung derselben unabsichtlich darauf hin, indem
er vorgibt, die innere Ähnlichkeit beider zeige sich schon in
dem Namen Seraphim an „quae est totus ardens sive incendium
eorum."^ In Wahrheit hat «ich seine weltliche Ordnung auf
dem Grunde der dogmatischen Ausdeutung des Engelsnamens
constituiert. Diese ergibt zwar nach neuerer Auffassung einen
ganz anderen Sinn, bedeutet; Edle, Magnaten;" die ältere und
auch die heute herrschende katholische Lehre aber leitet den
Engelsnamen von f^'w ab, das eigentlich „verbrennen* heiDt,^
von den Auslegern dieser Richtung aber von jeher im Sinne
von f,m Liebesglut verzehren" aufgefaßt wurde.*
' p. 964 col. IG. — * p. 964 col. 2 G. — ^ Geseniua, Htnd-
wfirterbuch. — * Wobei man aber aucb an eine in Mos. 4, 21, 8; 5, 8, 15
vorkommende Schlangenart des gleichen Vortstammes wird denken
müaeen. Dadurch e^^ält dann dies« Ableitung, wenn man sie mit der
dcB Namens Cberubin zusamniejibiilr, doch elae gewisse Wxbrscbein-
llcbkeit. S. unten S. IZ Q. 1. — '> Scbeeben, Haadb, der kilh. Dog-
matik II, 90.
71
Die auf dieser Grundlage konstituierte Ordnung erhält eine
.leicht gesellschaftswissenschaftliche Färbung« indem Wilhelm
Ifortfdhrt :
haec est consuetudo Regum omnium, sciHcet ut et
velint habere et habeaot juxta se et proximos sibi, quos
sibi credunt amicissimos.^
Hier spiegelt sich weniger eine bestimmt umgrenzte
Staatsauffassung als die allgemeine Anschauung des mittelalter-
lichen Menschen von Wert und Vermögen der Königsherrschaft
wieder. Trotz der in den Zeiten Wilhelms schon fortgeschrittenen
Konsolidierung der Monarchie in Frankreich' erscheint ihm noch
immer das königliche Regiment als ein wesentlich auf Persönlich-
keit gegründetes, des persönlichen Anhangs bedürftiges. Die
Schatten der im Umkreis — besonders in den deutschen Haus-
virren Friedcichs II. mit seinem Sohne Heinrich, wo die Ent-
scheidung fast ausdrücklich in die Zuverlässigkeit persönlicher
Anhängerschaft gestellt war" — wanicenden Kronen fallen herein.'
Doch JäÜt die kühle, von der begeisterten Begründung der
späteren Klassen scharf abstechende Ausführung über die Bei-
ordnung der Amantissimi als eine consuetudo Regum, ut
velint habere et habeant — quos credant amicissimos
die Zweifel Wilhelms an der Rechtmäßigkeit wie auch an der
Wirksamkeit solcher Thronstützen deutlich durchblicken. Ob
es aber in seiner Absicht lag, diesen Bedenken hier gerade
Ausdruck zu geben, kann man billig bezweifeln. Ihn mußte
davon abhalten, daQ die Parallele zur Königsherrschaft auf den
göttlichen Thron selbst führt, dessen Bestand und Grundlagen
gegenüber derartige Zweifel zur Gotteslästerung werden mußten.
Es wird in seinem Sinne wesentlich gelegen haben, ein rein
innerliches Verhältnis, ein Gemälde biblischer Patriarchen- und
Königsumgebung abzubilden. Was aber ^ wohl wider seinen
Willen — hindurchklang, war der Widerhall der Zeit, ihrer
Wirrungen und Strebungen in der Seele eines selbst zur nächsten
Wahrung der Königswürde berufenen, aber mehr der zweiten
Ordnung: Sapientes als der ersten: Amantissimi zuzuschreibenden
Mannes.*
I
^ GuU. Alv., Ibid. — " Boutaric a. 8. O., 11 r. Viollet, Histolre
des InstitutioDS polit. et admin. de la France. Paris 1898, IL, 193,
Lucbalre, Manuel, 463, ^1. — 'Kanke, Weltgeschichte VllI, 354. —
' De Unlverao ist verraHt zwischen 1231 und 1236. S, Schindele
I. I. O., S. B. — ^ Ober Wilhelms Stellung am Hof« Ludwigs IX.,
vgl. Valols a. a. 0., 144fr.
k.
72
S II
Zveite Kla«&e
Räte — Cherubim.
Die zweite Ordnung, der himmlischen der Cherubim assi-
milieri, und mit dieser auf dieselbe Weise, wie die Amantissimi
mit den Seraphim, durch die Namensausdeutung verknüpft —
3113 bedeutet an sich Greif (zusammengesetzt aus Mensch, Stier»
Löwe, Adler, den Symbolen der Macht und Stärke),^ wird
aber ähnlich wie Seraphim, von der katholischen Theologie
auch nach heute'^ auf Grund der Autorität des Philo^ mit „Wissen-
schaft und Einsicht", „Plenitudo sapienti&e vel fusio scieotiae"*
übersetzt — die Sapientes leitet Wilhelm mit der Lobpreisung ein:
quo ordine nihil regi convenlentius nihil decentius.**
Diese Meinung entspricht ganz der Sinnesart eines Mannes,
welcher dem Throne selbst als einer der ersten Ratgeber zur Seite
stand. Sie enthält darüber hinaus die theoretische, wohl von
Aristoteles* beeinflußte Meinung eines mittelalterlichen Staats-
manns vom Amt des Königs überhaupt. Nicht mit eigener
Machtvollkommenheit und nibht auf eigene Versrand es mittel
allein vertrauend, versehe der König sein Amt. Er nehme
vielmehr die Unterstützung der Weisesten des Landes in An-
spruch.
Tu quoque scis, quam necessarii sunt sapientes guber-
nationibus regnorum.'
Es ist nicht völlig von der Hand zu weisen, daß zu diesem
Ausspruch auch zeitgenössische Bewegungen mitgewirkt haben.
Es mag sein, daü Wilhelm, je mehr die Gesetzgebungsgewalt
des Französischen Königs sich von der einst erforderlichen Zu-
stimmung der Barone zu befreien wußte,* um so mehr einen
Schutz gegen ihre willkürliche Handhabung in einem Ratskolleg
für geboten erachtete, wie ein solches seit dem Komitat der
^ Gesenius, HandwSrterbucb. Wie wenig die in Tiergesuli auf-
tretende Urform der Engel als eEne Symbolisierung von Naturktäfien
lufjufassen, wie vielmebr sie als reines Fabelwesen anzusehen ist, dem
später die Syinboleigciungen bineingedeutet wurden, darüber stehe
Breysig, Die Entstehung des Gattesgedankens und der Heilbringer.
Berlin I90S, S. ÖTFT., eine Anschauung, der vielleicbi nicbt nur die Gestalt
des Cberub, sondern nach dem oben S. 70 n. 4 von uns Gesagten cucb
die de& Seraph als Unterlage dienen kSnnter — - Scheeben a. a. O., 90.
— 3 über die Engellehre des Pbilo s. oben S. 55 n. 2. — * p. 964 col. 2G.
— " p. 964 col. IG.— '* Scholz a. a. O^ 111. Aristo. Rhet. I, 4, 1359b,
18fF., Eth. Nicom. UI, 5, 1112b, 21 ff. — " p. 964 col. IG. — " Viollet,
I. a. O., 11, S. 191ff. Luchiiire, Manuel, a. a. O,, 500.
73
'inger nie ganz erloschen/ mit dem dreizehnten Jahr-
hundert in immer gesteigertere Wirksamkeit trat^ (Curia regis).
Es mag auch sein, daß auF ihn die englischen Geschicke,
tnit denen er in enger Fühlung stand — - er vermittelte
1234—1235 im Auftrage des Papstes Friedensverhandlungen
zwischen Heinrich 111. und Ludwig IX.'' — nicht ganz ohne Ein-
fluß geblieben sind. Hier begegnen wir seit 123ß neben dem
König einer Versammlung von zwölf Räten, „die dem König den
Eid leisteten, ihn treu zu beraten".'' Anfänglich wohl reines
Verwaltungsorgan und mit dem König ergebenen Elementen be-
setzt,^ wurde sie bald ein Werkzeug, durch das die Stände ihre
das Königtum beschränkenden Forderungen, insbesondere Auf-
rechterhalcung und Ausgestaltung der Magna Charta, durchsetzten. "
So weit gehende Absichten werden bei der verschiedenen
Richtung, in der die englischen und die französischen Geschicke
sich bewegten," dem Postulat Wilhelms nicht zuzuschreiben sein.
Alan wird bei ihm immer nur an ein den König beratendes,
nie an ein ihn aus eigener Macht beschränkendes Organ denken
können^ womit die tatsächliche Stellung des Ratskollegs im
Frankreich des 13. und 14. Jahrhunderts bezeichnet ist.* Nur so
weit reicht auch die Tragweite der von "Wilhelm gewählten Worte
selbst; sie drücken eben doch mehr einen politisch-ethischen Grund-
satz, als eine aktuell-praktische Forderung aus. Sie reklamieren
— im Fluß antiker Theoreme, wie sie auch sonst im Mittelalter
hervortraten * — die königliche Würde als ein dem Volkswohl die-
nendes Amt, aber sie stellen sie nicht zur Diskretion des Volkes.
Darauf läuft auch die gleich folgende, an die Sprüche Salo-
i
onis '" angelehnte AusFührung hinaus:
'- VloUet a.. &. O.^ III., I77f?. LuchacTe ibid. Idem, HisLdes inslitu-
tions monirch. de la France. Paris 1891, 1, 196ff. — "^ Viollel a, a. O.,
III., 38 fF. Luchaire a. a. O , EOl. — "" Valois a. a. O., 113. — * PI eh n,
Hit politische Cbarakier des Macheus Parj^iensis m Staats- und sozialwissen-
scbafUichen Fofschüftgea XIV. 3., 74. — ^ Dieses Zwölfrätekollegium, durch
Tilheln von Valence eingefübn, geht selbsi auf das Vorbild Frankrekba
lurficfc. Plehfl ibid. — « Pleho a. a. O., 75- — ^ Ranlte, Weltgeschichte
Vni., 333. — " Viollet a.a.O., S. 388. Glasson, Hisl. du droit eUl es
iosiif. ae la France 5, 377 ff., bsdrs.387. Luchaire, Manuel 501. — » Isidor.
Hispal. Senr. IIl. cap. 49 i. f. Paris 1601. M. 685 col. 2B. Job. Saresb.
PoEicraiicus IV, 1, 2. Maitigold von Laulerbacb, eil. bei Poole a. a. O.,
232. vgl. Jflurdaifl, F^cursions hisioriques et pbllosophiques h travers
te M.-A. Paris 1888. 517EF. ^ '° Die loansprucbnabme Salomos selbst
ila des Vorbildes königlicher Weisheit ist eine im MitrelPilrer weitverbreitete
Übung. Bildliche Darstellungen eines gerechten Regiments wählen mit
Vorliebe zum Symbol das Urieil Salomonts. Vgl. z. B. die etwas spätere
Darstellung an der Fassade des Dogenpalasces zu Venedig.
74
per sapientjam conduntur leges et sfsfüTä säTüTäiTr
hominibusque pemtilia eduntur.
Damit stimmt es aufs beste überein, wenn Wilhelm an'
späterer Stelle ausdrücklich den Fürsten als »minister, quasi
pater, subdiiorum",' seine „dtgnicates et ofßcia"^ aber als
„gravissiniB onera" '^ bezeichnet. Es ist dieselbe Anschauungj'
und aus denselben antiken, neu eröffneten Quellen geschöpft,
welche fünf Jahrhunderle später den absoluten Fürsten als ersten
Diener seines Staats proklamiert, ihm in seinen Räten die Mittel
zu rechter Handhabung seiner ungeheuren Macbtfülie präsen-,
tiefend.*
S 12
Dritte Klasse
Richter — Throni.
Die dritte Klasse sind die ludices. Sie ist der Engels-
hlftsse der Throni oder Sedes an die Seite gestellt, deren Namen
Wilhelm dahin erläutert:
In illis tanquam in regno regalis excellentiae suae sedet
rex ille et Dominus saeculorum et inde sive per illos iudicia
sua exercet. P. 964 co!, 2 G.
Wieder hat der dogmatische Gehalt des Engelnamens die
Basis abgegeben, auf der Wilhelm sich das Wesen des irdischen Ab-
bildes konstruiert. Wenn man sich die Throni bildhaft als
Sedes göttlicher Herrlichkeit vorstellt, so ergibt sich die ideelle
Substanz dieser Sedes von selbst aus der Anschauung, welche
als die sicherste Grundlage jeder Regierung die Gerechtigkeit
ansieht.* Der Thron Gottes ist danach die Gerechtigkeit, die
einzelnen Glieder der Ordnung die Gerechtigkeit Übenden: die
Kichter. Diese Einschätzung des Richterstsndes ist im JVlittel-
alter alt und allgemein. Dem mitteUlterUchen Menschen er-
schien als das vornehmste Amt des Königs das Richteramt.'
Dieses zu verwalten ist besonders der König von Frankreich
> p. 964 col. 2 H., p. 9S7 col. 2 C. - ' ibid. - => Darüber s. niher«
untenS.SSfT.—^Teaa wir auch den oft cltiertenWahlEprucb Kaiser Fraai I.
,iu&titia fundamentum regnorum' dem Wortlaut nach für eine frühere
Zeit nicht belegen können, der Gedanke Hadei sich schon in der jusii-
nianeischen KodifikalloQ 1. 2 $ 4 Dig. de orlgr lur. 1. 3 (per quoa ,
clvUas fundarefur legibus). — '• Viollet a. a. O., 209. Fustel de Cou>
larges, L'organisatioa iudCcIalre au Mofen^Age. In: Rerue des Deux
Mondes. 1. Oct. 1871. —
75
von Gott eingesetzt.^ Die Gerechtigkeit rieF ein französischer
König noch sterbend als dss seiner Krone einwohnende
Mysterium an.^ Ludwig IX. hielt das Königsgericht unter den
alten Eichen von Vincenaes persönlich ab," und von seinem
Eifer für eine strenge Pflege des Rechts ging eine lebhafte
Wirkung auf seine gesamte Hc^fballudg aus,^ So unmittel-
baren Einflüssen, so tief gewurzelten, das gaoze Leben durch-
dringenden Überzeugungen gegenüber vermochte die gekühlte
und geschmückte Abstraktion antiker Staatstheorerae sich nicht
zu behaupten. Die für Wilhelms Zeit und Werk auch sonst
schon wankende' Autorität Piatos, die das Gericht als ein den
untersten Ständen notiges Übel nur widerwillig duldete,* fand in
dem lebendigen Bewußtsein Wilhelms vom Wesen und Wirken
seiner Zeit keinen Eingang. Seinem Bewußtsein fügte sich die
dogmatische Vorstellung von der Gott zum Throne dienenden
Gerechtigkeit als eine beglückende Bestätigung ein.
Bei solcher Vorstellung muß es aber merkwürdig er-
scheinen, daß der die Gerechtigkeit vertretende Stand erst
die dritte Stelle behauptet. Er hat zuvor auch häußg die
Führung unter den Engeln gehabt. Pseudodtonys läßt die
dytoizazovg O^bvovg die englische Hierarchie einleiten. '^ Sein
Glossator Pachymcres berichtet von den im AnscbltiB hieran ent-
standenen Streitigkeiten über den Rang dieser Klasse.^ Aber die
herrschende Ansicht des JVIittelalters hat sie endgültig auf die
dritte Stelle gerückt.' Wilhelm rechtfertigt diese Rangstellung
ausführlich. Seine Gründe sind mehr ethisch als dogmatisch und
mehr der irdischen, als der himmlischen Welt angemessen. Er
meint, die richterliche Gewalt hätte nicht anders als den „Creatoris
amatoribus sapienlibus Deique consilia atque iudicia scientibus"
anvertraut werden können; denn «Rege — insipiente et Dei
inimico nihil Reipublicae perniciosius";^" damit hat es den An-
schein, als ob Wilhelm diese Gaben, die Voraussetzungen der
potestas iudiciaris, mit dieser cumuliert erst in der dritten Klasse,
I ' So ein Chanson de gesie Guesclins de SassoignSj abgedruckt bei
fiucourdray, Origines du Parlemenl de Paris et la justEce au ireizieme
et quatorzieme siäcles. Paris 1902, p. 39 f. — ^ Vlollei a. s. O., 210.
— ■ Viollet a. a. O., 212. Jourdain a. a. O., S3&. — » Ducourdray
a. ft. O., 40/1. Ranke, Franz&s. Gescb. 1, 30. — '■ Verner, Wilhelm
v. Auvergties Verhältnis z. d, Plaionikern des zwölften Jahrhunderts in
d. Siiiungsberlchlen der PbLIos.-Histor. Klasse der Kais. Akad. d. Wiss.
zu \Plen. 74> 172. — * Vgl. Pierson, Vergleichende Charakleristifc der
plaroD. u. aristotel. Analcbt vom Staate. In: Rhein. Mus. 13, 36 f. —
' De Cael. Hier. VF, 2. - « Migne, Patrol. S. G. 3, p. 204. — " Greg.
Hom, 34. Bonav., Brevil. II, c, 8. — " p. 972 col. 1 H.
76
in den vorhergehenden aber nicht fände. Hier hat däe politische
Ausgestaltting seines Systems, die eine durchgehende Sonderung
der Aufgaben verlangte, in Wilhelm das Bewußtsein des dog-
matischen Substrats zurückgedrängt, daß nämlich die Fülle gött'
iicher Gaben je höher, je vollkommener vorhanden ist und nur
nach unten einzeln und unvollkommen weitergestrahlt wird. Aus
der rechten dogmatischen AuTfassung hätte also auch gegen das
Richteramt der ersten beiden Klassen nicht erinnert werden
können, daU die richterliche Gewalt „noa est danda nisi crea-
toris amatoribus sapientibus Deique consilia atque iudicia haben-
tibus". Denn die erste Klasse ist aller dieser Gaben voll-
kommen, die iweile aber gerade der Sapientia und Potestas
iudiciaria und aller späteren vollkommen, und nur des amor Dei
<üg Ifpmiüv teilhaftig.^
Die richtige Begründung für die Nachordnung der ThrOüi
nach Seraphim und Cherubim bzw. der ludices nach Amancis-
simi und Sapientes mtiß so lauten, wie Wilhelm sie später gibt:
Potentiam locum habere non dehere nisi post chari-
tatem et sapientiam, quarum alieram habet ut imperatorem
suum, alleram autem ut consiliarium. P. 973 col. 2 A.
Damit ist die oben urgierte Auffassung, welche, festgehalten,
dazuhalte führen müssen, den späteren Klassen eine zunehmende
GabenFülle zuzuweisen, verlassen, und zutreffend sind die aus
der Machtfülle nach unten derivierten einzelnen Herrschaftsauf-
gaben^ nach einem ethischen Prinzip gestuft, wo denn freilich
entsprechend deti evangelischen Grundsätzen Übung der Charitas
und Sapientia derjenigen der Potestas iudiciaria voraufgeben
müssen. Damit ist auch ein mit dem Charakter Wilhelms über-
einstimmendes Bild gewonnen: ihn hinderte sein zu friedlicher
Ausgleichung neigendes Gemüt an der Ausübung der ihm zu-
stehenden Gerichtshoheit in streitigen Sachen, seine tiefe Ein-
sicht in die menschlichen Verhältnisse aber wußte die Streit-
fälle oft in friedliche Übereinkünfte auszugleichen^ und darüber-
hinaus den Hader der Kronen und den Streit der beiden
^ De Cae!. Hier, cap, 3. cap. 7. ™ " Obwohl Wilhelm in cap. 120,
p. 970.1 gegen das Amt als Absiufungsgrund, eine Meinung Früherer
Theologen, polemi&ien, nimmt er unbemerkt hier die gleiche Anschauung
auf. Eine eingehende Betrachtung der äißersi tottiplizierien., sctaols-
stiscben Digression ist hier nicbi angängig. — Ägidjua von Rom unter-
nimmt in der unten <S. 108) mi iget eil leti Sielle seines Traktats De ec-
clesiAstica potestate affenbar unter dem EinftiiÜ Wilhelins den Versuefa
einer logischen Begründung, der aber im Letzten doch auf einen mysll-
fichen Grund, die Liebe Gottes als den Quell aller Gaben, zurückführt.
— ^ Valois, L c. 22.
77
■ewalten — der~we!tHchen und der geistlichen — zu ver-
söhnen.^
H Auch an dritter Stelle stehend, behauptet der Ordo der
Hudices einen hinlänglich hohen Rang, Er i$t den Großen des
Reiches, ja, den tributären und den vasalliiischen Königen
vorangesetzt, und die Statthalter und Heerführer folgen ihm in
weitem Abstände nach. Damit ist die ideologische Anschauung,
die ohne irdische Hinderungen ihren Staatsbau aufFührt, dem Ziele
absoluter Überordnung des Richterstandes nahegekommen, das
seit des Montesquieu Schrift De TEsprit des lois in einem noch
entschiedeneren Sinne das eifernde Bestreben von Theorie und
Vraxis auf sicii gezogen hat.
Den drei ersten Klassen schreibt Wilhelm noch eine
besondere Qualität zu.' Er läßt sie, die Gott ständig lateraliter
umgeben, von ihm a laCere mit außergewöhnlichen Botschaften,
die er den besonderen — den beiden letzten — Botenklassen
nicht anvertraut, beauftragt werdet); wie auch ein irdischer
König einen Fürsten seiner unmittelbaren Umgehung mit be-
sonderen Missionen betraue. Er erinnert an die Gebräuche
der italienischen Stadtrepubliken, die außer den gewöhnlichen,
durch ihre Kleidung bezeichneten Ambassatores zuweilen ihre
angesehensten Bürger entsenden. Die irdische Parallele zu den
a latere entsandten Engeln Gottes fuhrt aber unmittelbar zu den
a latere entsandten Kardinälen, deren seit dem Ende des zwölften
Jahrhunderts sich die Päpste in ständiger Übung zu ihren
größeren Aufträgen bedienten.^ Man wird, auch ohne daß
Wilhelm diese Übung ausdrücklich erwähnt, annehmen dürfen,
daß sie ihn zu der Zuteilung des Botschafteramts an die drei
oberen Klassen mit veranlaßt hat. Ein anderer Beweggrund ist
dogmatischer Natur: der nämlich, daß man von alters her die
Engel der großen Heilsbotschaften, insbesondere Gabriel, ungern
in die allgemeine Botenklasse der Archangeli verwies (darüber
siehe unten S. 97 f.).
Wilhelm macht bei Gelegenheit der Zuweisung des Bot-
schafteramts an die drei ersten Klassen Ausführungen darüber,
daß den Vornehmen nur Missionen von politischer Tragweite
anständen; für die geläufigen Aufträge solle man sich der
Lictoren,* denen er auch sonst die beiden unteren Engelsklassen
■ ' Valois, 1. c. 113, 65fr. et passim. — > p. 967 col. 1 A. B. C. —
^ Sagmitller, Die TSiigkeit und Siellung der KardlnSle bis Papst
BoDifaz Vlll. Freiburg i. B. 1896. S. GOt., lOSf. — '■ D«r Rückgriff auf
klassische Beamienbezeicbnungen la poJitisctien Theorj^en ist Im Mittel-
alter auch sonst lu bcobacbten, s. z. B. Job. Saresb. Policraticus. lib. VI prol.
78
assimiliert-, bedienen. Eigene ErFahrungen mögen Wilhelm zu
solchen Erwägungen veranlaßt haben. Ihn, der sein ganzes
Lebet! zwischen Kirchen pflichteo, gelehrten Arbeiten und poli-
tischen Missionen zu teilen hatte,' mag gewiß oft die geringe
Bedeutung der von ihm zu betreuenden Angelegenheiten seine
Entfernung von geistigeren Arbeiten unwillig haben empfinden
lassen. Daher dann das Bestreben, Fähigkeiten und Dienst-
leistungen in den Staatsämtern ins rechte Verhältnis zu setzen,
ein Unternehmen, das im platonischen Idealslaat seine vorzüg-
liche Ausbildung erfahren hatte. ^
5 13
Viert« Klasse
Magnaten — Dominationes.
Die vierte Stelle nimmt der Stand der Magnaten ein. Er
entspricht der Engelsklasse der Dominationes und wurde aus
den Elementen dieses Begriffs konstituiert. In den Dominatioties
erscheint Wilhelm die erhabene Herrschaft Gottes entstrahlt:
die königliche Gewalt aber hat ihren Widerschein in Macht
und Ansehen der Magnaten. Unter ihnen haben die Barone
geradezu von der Stärke und Tapferkeit den Namen erhalten.^-'
Diese etwas blasse Kategorie wird von Wilhelm durch
Exempliflkationen belebt. Er zählt als Glieder derselben her:
die Reges subditi und Reges tributarii, sowie die sogenannten
Proceres regni und die Barone. DaD die unterworfenen und
tributpflichtigen Herrscher hier schon schlechtweg der könig-
lichen Staatsordnung und nicht einmal &n erster Stelle ein-
geordnet werden, gibt einen Begriff davon, wie stark besonders
französische Geister im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts die
Gesamtstaatsgewalt fühlten. Die Konsolidierung der Monarchie
aus Feudalen und eroberten Gebietsteilen, die Zusammenfassung
der verteilten Einzelgewallen in einer starken Königshand zeigt
sich an." Man wird dabei allerdings nicht übersehen dürfen,
daß der der antiken Welt entlehnte BegriFT der Reges tributarii
• Valols, I. c. 1—156 p*sslm. — " Pierson a. a. O., ST —
■ P. 964, COl. 2 H. — * Id WAbrbäit bezeichnet bArO ursprüngUcb ill-
getnein Mann, homö. 'Vaitz, Deutsche VcrfissungsgesChichte. &d. 4, 2S1
n. 5. Doch hat die romanisCbe Bezeicbnung Baro eine ander« sprachliche
Wurzel, Schröder, Dtsch. R. G., 5. AuB„ 52, n. 29. — * Rank«, Welt-
gesch. Vlil, S. 329^ Französ. Gescbichte 1, 24. VioUct a. t. O., 14Sff.,
ei3ff. Luchaire, Manuel 463.
79
und subditi wohl mehr einer abstrakten als einer concreten Zu-
standen dienenden Theorie entspricht. Der innere Antrieb dieser
Anschauung aber kann bei einem Manne 'wie Wilhelm nicht
Twohl ohne einen näheren Bezug zur umgebenden Wirklichkeit
gestanden haben.
B Unter den Proceres regni sind die obersten königlichen
Lehnsträger zu verstehen/ sie und die Barones etwa den
Fürsten und freien Herrn unseres Rechts '^gleich zu setzen. Damit
ergibt sich nach den reges subdlti et tnbul&rii ein einigermaßen
rundes Bild Für diese Stufe, die so in einem — freilich nur
für die mittelalterliche Vorstellung kenntlichen — System'' den
Klassen der persönlichen Geleitspersonen des Königs und der
höchsteti Magistrate (Räte und Richter) als die der höchsten
ständischen Gewalten angereiht erscheint.
Den Dominatione& wei$t Wilhelm an einer späteren Stelle
seines Werkes als die sie auszeichnende Kraft die virtus con-
traria indebitae servituti sive servibilitaii et crecta praecellenter
contra omnem vilitatem et deiectionem subiectionis* zu, wodurch
die Auffassung einer ständischen Ordnung, wie wir sie oben
umschrieben, bestätigt wird. Wenn die Virtus der Klasse als
contraria indebitae servituti sive servibilitati und als erecta
contra omnem vilitatem et deiectionem subiectionis gekenn-
zeichnet wird, so scheint damit zunächst ein bestimmtes Dienst-
und Untertänigkeitsverhältnis vorausgesetzt, dieses aber in der
Richtung auf vollkommene Dienstbarkeit und Untertänigkeit hin
begrenzt: indem ein gewisses JVlaC von Diensten, ein gewisses
MaQ von BotmäQigkeit als das angemessene statuiert wird, dem-
gegenüber ein eigen herrenmäQiger Sinn seinen Platz behauptet:
damit ist auFs beste ein System lehnsständischer Verhältnisse
ausgedrückt^ das auch die sich soeben in Frankreich konsoli-
-diereade Monarchie nicht so schnell beseitigen sollte.^
H Und zugleich enthält jene Aussage das Bekenntnis eines
den ständischen Interessen zugewandten Geistes^ dem un-
beschadet der Ehrfurcht vor der Krone daran gelegen zu haben
' VlfllUt », «. O-, II, S. lÖI, ScbrÖdor a. a. O., S. 227, cfr. Waiu
«. 11.0., «o vielen Stellen- — * Schröder a- a. 0., S. 445, 504, - « VgK
die oben S. 52 gemitcbten Aus(ü}iruagen über die sich erst anbahoende
Subsumierung der Kategorieen, Irgendwie Abgeteillca slelllc steh Jcicht
in Reihen nebeneinander, ohne daß auf die innere Subsumplion oder Koor-
dination Vert gelegt wuide, sowie die Landkarten der Zeit oft Stidte,
Provinzen und Linder statt unter- nebeneinander verieichnon. — • P, 97&
col. 1 A. — <" Viollet a. a. O., 11, 191 (f., 237fr. Lucbalre, Minuel
.183, 472, Ducourdny «. i. O., 30.
L
so
scheint, die Mannhaftigkeit und Herrentugend der der Krone
unterworfenen ehemalig Unmiitelbaren aufzurufen. Davon liegt
viel in der Heraustreibung der ,Virius erecta contra omnem
vilitatem et deiectionem subiectionis". Es ist das Aufstehen
des Herrentrotzes gegen die unangemessenen AcsprUcbe der
neuen Herrschaft, das hier dem Stande als seine wesentliche
Eignung, mehr als eine Anforderung an ihn, vorausgerufen wird.
Ein Anklang daran auch in der Ableitung des Namens Domi-
nationes selbst ex eminentia insubücibiliiatis et inserviltbilitatis
ad omne aliud a Creatore,^ -wenngleich hier wohl zunächst das
Bild himmlischer Sphären dem Autor vorgeschwebt hat. Wilhelm
von Auvergne, dem es gegeben war, so viele in seinen Tagen
herausgetriebene Widersprüche der Gewalten friedlich aufzulösen,
mag geglaubt haben, es lasse sich eine beamtenmäßig organi-
sierte Königsherrschaft mit einem Körper lehnsiändischer Gliede-
rungen dauernd in eins verschmelzen. Ein solcher Glaube und
ein dahin zielendes Bestreben, in den noch unentschiedeaen
politischen Zuständen seiner Zeit nicht ohne Halt,^ wären be-
sonders versländlich bei einem Manne, der durch Abkunft und
verwandtschaftliche Beziehung auf alte herrenmäßige Tradition
hingewiesen war. Aber kaum wird map auf dies Argumetit hin
in dem Streite, der Wilhelm bald dem alten Stamme der Astorg,
bald dem der Barone d'Aurillac zuschreibt, bald ihn auch
als ein Bettelkind aus unterster Stufe emporwachsen läßt,^ die
Entscheidung im Sinne jener ersten Meinungen treffen mögen.
S 14
FGnFte Klasse
Praesides Provinciae — ■ Principatus.
Den Magnaten folgen als Fünfte Ordnung die Praesides Pro-
vinciae. In ihnen sind die „Principatus" der himmlischen
Hierarchie abgebildet.
Den Principatus ist im wesentlichen die göttliche Macht-
entfaltung gegenüber den Menschen, das überweltliche Regiment
der Menschen zugeteilt.* Indem ihnen so gleichsam eine Provinz
des göttlichen Weltreiches zur Verwaltung gegeben ist, können
als ihr irdisches Abbild die Provinzial-Staithalter angesehen
werden. Der Name Praesides Provinciae weist auf die römische
' p. 978 col. I H. — ^ Luchairc, Maüücl, 483, 472, 52a —
* ValPis, 1. c p, 3-5. — * p- 971 cpI. 1 A.
m
eamteiihierarchie hin, deren sich, wie schon erwähnt, die
mittelalterlichen Staat sschriften gern bedienten.^ Er hat hier
aber doch eine nähere Beziehutig z\xt Wirklichkeit. Die zeit-
genössische Gesetzgebung hat die auf die Praestdes Provinciae
des römischen Kaiserreichs bezüglichen Vorschriften- auf ihre
baillis und sen^chaux bezogen, die im großen ganzen — wie
fene — als die Vertreter der Zeniralgewalt in den Provinzen
anzusehen sind."
Die Machtentfaltung der Principatus wird von Wilhelm aber
lediglich als eine verwaltende vorgestellt; er sieht bei dieser
Klasse ganz ab von den stärkeren Mitteln, durch die sich eine
herrschende Macht darstellt. Diese weist er den folgenden, die
in ihrem Wesen ein Etwas wie vollstreckende Gewalt verkörpern,
Und er kommt bei dieser genauen Teilung fast zur Fest-
letzung einer Herrschaft lediglich durch gerechte und milde, un-
bestechliche und unbeirrbare Lenkung und Hinleitung Cinspiration)
er Untergebenen zu diesen Tugenden selbst.''- Er stellt damit,
die von Plato ausgeruFene pädagogische Tendenz des Staates er-
neuend, ein Bild utopistischer Herrschaft auf, das er Freilich
zunächst nur auf die Herrschaft der Engel über die Menschen
anwendet. Aber indem Ja die Herrschaft der Engel sich gerade
io der Hinleitung der Menschen — der Untergebenen — zu
den Tugenden, mit denen sie selbst die Herrschaft führen, voll-
zieht, wird diese Art der Herrschaft selbst als Ideal auch für die
Menschen in Anspruch genommen und werden für sie aus-
drücklich die gleichen Tugenden zur Leitung und Aufrecht-
erhaliung der Gemeinschaft gefordert.
t Damit wird Für das irdische Regiment ein Ideal aufgestellt,
das die antiken — platonischen und aristotelischen — Traditionen
vom besten Fürsten aufnimmt und zum geschlossenen Bilde
vereint. Frühere hatten auch wohl theoretische Erörterungen
über Pflicht und Tugend des Fürsten angestellt, aber ihre Aus-
einandersetzungen waren allzusehr palristischer Führung hia-
gegebcn, als daß sie sich hinlänglich hätten mit antikem Geist
erfüllen, dies zum Vernunftgrunde hinstrebende Element völlig
in ihre Pläne aulnehmen können. Nicht Isidor voo Sevilla,"
^ Er äadet sich auch in dem Poltcrxiiciis des Johinn vor Salisbury,
tder die Slflatsordnutig als einen menschliclicn Organismus aqsdeutetf in
dem jeoe Obren, Aogen und Zunge sind). Polier. V, II. — "^ L, 1- Cocf.
Lt omnesiudices 1,49. - » Vloltet a. a. 0^ 3, S. 254fF., besonders S. 265.
Vgl. Giraldus Cambrensi», De Prlncipi» lüstructionc Bist. | cap. 20,
ed. Tarner. London, 1891. Bd. 8. S. 117. — * p. 971 coi. 1 A, p. 97S
col. 1 H, 979 col. 1 A. — '^ Etbymol, 9, 3. Sent, 3, 48, ed, Paris 1601,
pp. 122 0*. 6S4fr.
6
82
noch Smaragdus Abbas, '^ noch Hincmar von Rhelms, noch Petrus
Lombardus^ waren nach dieser Richtung dirigiert; Johann
von Salesbury führte schon mehr antike Ideen, mehr den
natürlichen Stand der Dinge berücksichtigende Anschauungen
in seine seltsame Staatslehre ein." Aber auf den Boden eines
von den Philosophen des Altertums gewiesenen natürlichen
Erkennens und Begründens staatlicher Verhältnisse hat er sich
ebensowenig entschlossen gestellt* wie sein jüngerer Zeit-
genosse Giraldus Cambreas>i$. Heute wird für Ägidius von
Rom als Für den ersten dies Verdienst in Anspruch ge-
Dommen.^ Aber wir werden im NachFolgenden in unserem
Meister einen Geist erkennen, der ihm kräftig voranschritt und
seine eingewurzelte Kenntnis des Plato und die Frisch er-
worbene des Aristoteles — ein Menschen alter vor ihm — an
einem aus den Elementen der Vernunft aufgestellten Fürstenideal
bewährte. Freilich dieses wird dabei doch nicht völlig zu übersehen
noch in Abrede zu stellen sein, daß ein nicht ganz unbeträchtlicher
Teil der das Fürstenideal betreffenden Deduktionen sich im Wege
einer ununterbrochenen, hauptsächlich durch Isidor von Sevilla
vermittelten klassischen Tradition überall verstreut bei den
oben citierteti und noch manchen anderen mittelalterlichen
Autoren erhalten bat.'' Einzelne Postulate, so die cardiaalen
Fürsten tugen den, sind aus dem Schatze antiker Wehbildung
detn menschlichen Geiste niemals verloren gegangen."^ Aber
alles dies erscheint als zufälliges» nicht in seinem Grunde er-
faStes und rücksichtslos dem mittelalterlich-kirchlichen Denken
eingefügtes Gut. Bei Wilhelm, als der Ersten einem, ist der
Schatz dieser Überlieferungen an seinem Grunde aufgesucht,
in der Tiefe seiner grundsätzlichen Bedeutung erfaßt und in
dem Rahmen eines ihm adäquaten vernunftgemäßen Ergründens
und Auseinandersetzens nach allen Seiten entfaltet.^
'Via Regia passim, lV1ieae,PatnS,U102,S.931lf.— "Kraus, ÄgidiuB
von Rom in Österr. Vi^rteljahrschrift 1, 28 n. 2, — " Poole «. a, O., 233fr.
— * PoDle Ibid. Kraus ibid.— ^ Scholz a, a, O., 109 IT. — < Ebert, Gescb.
der Literatur des Mitte]«lt«rg 1, S. 560. Jourdaio, Exe. 517ir, — ' S. uoten
S.S5n.2. — "Es sei hier darauf bin gewiesen, daß die scbeinbar ganz abstrakie,
ganz theoretische Auseinandersetzung Wilbeims^ wie so oft^ auch hier nlcbc
ohne eine sebr lebendige Verbindung mit den näcbstumgebenden politiEchen
Zuständen besteht. Wenn J ourdain, Excursiona 529f. es ablehnt, diese
Zustände, die sieb in dem vollkommenen Fürstentum« Ludwigs IX. dar-
stellen, als auf die zeiigenöasiscben poiitiscben Theorien wirksam an'
zuerkennen, mag er, wie aucb aus seinen sonstigen Ausfübrungen ber-
Torgehi, mehr an den Engel der Schule, an Tbomaa selbst, als an die
geringeren Glieder derselben gedacht haben. Sicherlich ist ihm jeden-
83
An die Spitze seines HerrschaFtsideals stellt er den
Grundsatz :
I Longe differt principatus a tyrannide a rapina et op-
pressione subditorum.^
Omnes tyranni, quantacunque potentia praediti esse
videantur, vere impotenles sunt, quoniam vere servi nequitia-
rum suarum ^
und proklamiert es als des Fürsten Pflicht im Verhältnis zu
I Beinen Untergebenen:
decHiiftre tyrannides et itiiquas oppressiones atque rapa-
citates necnon et insidias et capliositates.^
Ausdrücklich wird die Herrschaft als eine Befriedigung
persönlicher Willkür abgelehnt^ als ein Mittel zur Beförderung
der Volkswohlfahrt angesprochen:
^ft De vero principe verissitnum est, quia prodesse intendit
^^ subditis suis et hoc solum amat in principatu suo, non praeesse*
und vom Fürsten gegenüber seinen Untertanen gefordert:
isummam intentionis et afhcii sul deducere, ut quietam
et tranquillam vitam habeant rectamque pariter scilicet absque
declinatione sive distorsione in devia vitiorum, ut ipsa
vita Sit eis via ad finem ultimum foelicitatis.^
In allen diesen Ausführungen lebt als innerer Kern der
Schatz Von Ideen, mit dem Plato wie Aristoteles die tyrannische
Zwingburg angreifen und ihr eigenes Gebäude des besteingerich-
teten Staates aufführen.'* iWan wird in ihnen aber auch unschwer
eine vorausweisende Linie erkennen. Mit der Aufnahme
platonischer und aristotelischer Ideen leben sie vom selben
Geiste, der das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert nährte. In
den angeführten Prinzipien ist fast schon ein Programm des
Wohlfahrtsstaates niedergelegt; es Fehlt nicht' die »quieta et
tranquilla vita**, die Behütung vor der ^decllnatio sive distorsio
in devia vitiorum", und am Ende scheint als das Staatsideal selbst
rhlls des Wilhelm von Auvergne Betrachtung über das Pürsleoideal
ebenso fremd gewesen» wie den ütirtgen Gelehrten des vorigen Jahr«
hunderis. SonEt hätte bei der unausgesetzt nahen Berührung^ die Ludwig IX.
und Wilbelm enge aneinander hielt, seine Ablehnung vohl einer vor-
Bichilgen Einschränkung tiedurft. Er selbst zeigt einen ähnlichen Zu-
sammenhang politischer Doktrin mit sia&tlicben Erscheinungen Für das
Zeitalter Ludvigs IV. in Bossuet auf. ~ ' Pag. 964 col. 2H. — '' Pag,
Ö73 cot. 2 BG. — * Pag. 971 col. I B. ~ * Pag. 965 col. 1 A. — = Pag. 971
col. JB. — * Pierson a.a.O., 214ff. Aristoteles, Polfl. 1278b, 32ff.,
I3l0b,31ff. Vgl, Cicero, De offlc. 1^ 25. Seneca, De dementia, cap. 12
SS et paasim. Oncken, Staatslehre des Aristoteles. Leipiig 1870. 11, 153,
286 ff., 30bS.
S4
„der Suis ultimus foeflcitatis* und das Staatsleben als Weg
dabin au F.
Dem Princeps wird demeatsprechend mit einem Ausdruck,
der, der Antike entlehnt, ebenso dem achtzehnten wie dem drei-
zehnten Jahrhundert angehört,^ die Stellung des ersten Staats-
dieners Zugewiesen:
Verl tiamqiie nominis princeps mitiistt-um — -^ se gerit
et exhibet subditorum.'^
Und es fehlt hier wie im achtzehnten Jahrhundert nicht der
sehnsüchtig der Staatsordnung des alten Rom nach trachtende
Blick. In der Lücke des obigen Citates beißt es:
quasi patrem,
ein Ausdruck, der als auszeichnende Bezeichnung Für den sein
Vaterland väterlich Versorgenden" aber schon bei Aristoteles
und gewiQ nicht zuerst bei ihm eine Stütze hat.*^ Daran wird
dann zur näheren lllusirierung des Verhältnisses des Princeps
zu seinen Untertanen, ganz wie im achtzehnten Jahrhundert, eine
Anecdöte aus der römischen Geschichte herbeigezogen:
Uode quidam Princeps Romaiiorum subditos nobiles
potentes commilitones suos vocabat.'^
Damit wird der Fürst, als innerhalb der Volksgemeinschaft
stehend, in ihrem Rahmen sein aufgetragenes Amt vollziehend
dargestellt/
Von dem Fürsten in diesem Stande werden nun bestimmte
Tugenden erwartet, die ihn teils dazu befähigen soElen, sein Amt
wohl zu versehen, teils ihn daran hindern sollen, über sein Amt
hinaus in eine Tyrannis hineinzuwachsen, und die durch ihre
weite Umfassung und ihre das Bestreben nach dem vernudft-
gemäQ besten Staat abbildende Ausgestaltung wieder den Blick
auf die antike Welt — insbesondere auf des Aristoteles Lehre
von den drei Herrsebertugenden' — zurücklenken, und die
weiterhin wieder die Parallele der Staatsschriftstelter des sieb-
^ Der Ausdruck findet «ich auch itn zwölften Jahrhundert schon
gelegen tlicb, 3- Job- Saresb. Policraticus IV, 2, Über die PRrsUele zwischen
dem dreizehnten und achtfebnlen Jahrhundert s. des nXberen unten
S. 85iT. — » P»g. 964 col. Z H- — * Den Ehrentitel Puter Putriae trug i. B.
Augustus davon. Aurel, Viel, De CtiesarlbuK Cap.l. cf. SenecH, De Clem-
cKp. 14. - *E|h. Nie. VIU, 12. - ^ Gull. AU. ibid. - « Dies ist eine auf
aniikem Grunde lubende, dHB Mittelalter durcbziebende prinzipielle Ao-
scbauuDg, der sieb besonders die Pilp^te In ibrem Streit mit der welilicben
Gewall bedienten: dxß d«s königliche Amt, lur Disposition des souveränen
Volkes siebend, von diesem dem K&nig ilbertragen werde. Manigold voa
Lauterbacb eitlen bei Poole a. b. O., 232. Vlolletli, 49fr — i Arlst.,
Polit. 1309«. aZIT.
85
zehnten and achtzehnten Jahrhunderts, am gteicben Quelle
■genährt, aufrufen.
Am Eingang stehen die drei Haupttugenden Rectitudo,
dementia, Pietas, ' die noch deutlich die in römische Form
gegossene Tugeodiehre griechischer Weltweisen erkennen lassen,*
Ihnen folgen bestimmtere, eingehendere Ansprüche an die Re-
genten. Es wird von ihnen erfordert,
ut sint incorruptihiles acceptione personarum vel mu-
Inerum, in&dulabiles hoc est blandimentis adulatorum in-
seducibiles, vel quod convenientius dicitur» indementabiles
falsis consilijs et suggestionibus infallibiles.^
Es ist dieselbe ängstliche Sorge, die, im Mittelalter früh
aufgetreten^ und nie ganz geschwunden, in der Puhlizistik
und in mancherlei für&iUchen Aussprüchen des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts'^ wieder zutage tritt, daß der mit so
großen Machtmitteln ausgestattete Regent, da er der Gesamtheit
des Volkes zu dienen bestimmt ist, nicht den Anschlägen
einzelner geschickter Beutemacher zum Opfer falle. Sie
zieht um das Amt des Fürsten einen Zaun von stoischen
Tugenden, die, indem sie es gegen volksschädliche Aus-
beutung sicherstellen sollen, oft gerade seine stärkste Aus-
^Wirkung hindern.
H Man wird das Erstaunen darüber, daß zwischen zwei so
getrennten Welten, wie der ständischen des dreizehnten und der
^absolut regierten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts,
^Kin einer Stelle so enge Berührung herrscht, bald durch einen
einleuchtenden Grund beschwichtigt finden. Das Ideal des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist aus naturrecht-
lichen Anschauungen erwachsen, die von der Gestaltung der
vorliegenden Verhältnisse Fort aus dem Grunde der Vernunft
* Gull. Air., pflg.971,col. IB.— " Wenigstens die beiden letitcn. Die
RectiEiido isE eine spatere Form für die klassische Aequitas. DerClementiaals
Fürstlicher TugeT:d hat Seneca eine eigene SchriTr gewidmet, die auf das Mittel-
alter von nacbbalitgem EinRuß gewesen ist. Pietas fundamentunt amnium
virtutum bei Cicero Pro Plane. 29. Valer. Max 5,4 ext.3. Vgl. insgeBamt
Cicero, de ofT. I, 4 (T. Wir finden diese Tugenden in den tbeoretiscben
Schrifien des Mittelalters seit Isidor (Sent. III, 48rr.), der auf Seneca und
Von da weiter auf die älteren Römer und die Griechen zurückweisr.
Vgl. Jöurdain, Exe. 5IB. Eben, Gescb. der Lil. d. Mitielftiters, I, 560.
— 3 cujt. 8, 5, n, 6. Tacit- bist. 1, 14. Plin. Paneg. 75. Im Minelalter
cl»nn ausfühflich über diese Punkte Isid. Hisp. I. c. cap. 53, 54. Smi'
ragdus Abbas, via Regia, cap. 25, Migne, Patr. S. L. 102, 956. — * Smi-
ragdus Abbss, ibid. — ^ Vgl. Richelieu, Testament politique. Amster-
dam 1691. F£n£loD, Aveniures de T^L£maque Livre II, III, V et passlm.
Idcio, Exanaen de Conscience sur les devoirs de la royaulg. ArticLe I.
se
ein Staatsgebilde zu formen trachteten. Nkht fem von diesen
Ideen, nur zu oft geheim in ihrem neuen Ausdruck verborgen,
lagen die Prinzipien antiicer Welterkenntnis und -aaschauung,
die so noch spät in dem fast ganz entch ristlichten Zeitalter
einen Triumph feierten.
Es ist nicht zu verkennen, wie weit von dem gegebenen
Zustand mittelalterlicher StaatsbiEdung fort die Theorien des
scholastischen Meisters Führen. Auch sie sind auf einen vor-
weggenommenen Zustand bedingungsloser Vollkommenheit ge-
gründet. Aber hier ist dieser Zustand nicht eigentlich und
nicht in derselben Weise wie im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert vorweggenommen. Er ist hier nicht anders vor-
weggenomnien wie die gesamte Weltanschauung selbst. Er ist
in Wahrheit den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich die
scholastische Welt dachte, mit eingewurzelt. Er ist die letzt
übergeordnete, aber doch — wie oben dargelegt — in den
ganzen Welt ordnungs bau mit einbezogene Schicht, die alle
Gliederungen umfaDt und von oben her mit ihrem vollkom-
menen Licht teilbar durchstrahlt. Die Idee ist hier in dem
tatsächlich zur irdischen Weltordnung gehörenden göttlichen
Wesen verkörpert und nimmt als real vorgestelltes Glied an
deren Bestand realen Teil.
Freilich der innere Gehalt dieser Idee ist hier, ebenso wie
in den späteren Zeitaltern, mit auf die Vernunft gegründeten
Elementen erfüllt, die» ebenso wie die der naturrechtlichen
Anschauung, wesentlich in antiker Welterkenntnis festgewachsen
sind. Sie sind zu einem Itleineren Teil von Anfang an dem
christlichen Gedankenbau verschmolzen gewesen, zum größeren
haben sie erst in der hohen Scholastik mit der verbreiteten
Kenntnis des Plato und der neugewonnenen des Aristoteles
ihren vollkommenen Ausdruck erlangt. Aber auch sie ver-
mögen, wie sehr sie von der ganz patristisch dirigierten An-
schauung der Frühen Scholastik abstechen und ein dem geklärten
Geiste klassischer Bildung entsprechendes Staatsidedl ans Licht
stellen, nicht das dogmatisch standhafte Weltbild zu zertrümoiem,
das alle den mittelalterlichen Geist erreichbaren Erscheinungen
umspannt, sondern nur in seinen bestehenden Rahmen dieses
Gebilde gelösten geistigen Dranges einzufügen.
So verbunden und so auch geschieden, hält das dreizehnte
am siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine Kette fest,
deren innerst gemeinsamer Kern: starke Herbei zwingung eines
Geistigen zum Bau des gegenständlichen Lebens ist (der ebenso
wie im innergesellscbaftlichen Leben der Völker, auch im
87
)]oHtischen Verhalten derselben und den anderen Zweigen
menschHcher Kultur seinen Ausdruck gefunden hal).^
B DaC die Ausführungen über den Fürsten von Wilhelm
^'gelegentlich des Ordo: Praesides Provinciae gegeben werden,
erklärt sich leicht daraus^ daß der König als das Abbild Gottes
selbst in seinen Ordnungen nicht erscheint, und daß die Prae-
sides Provinciae diejenige Ordnung darstellen, in der die Staats»
Verwaltung, wenn auch abgeleitet und auf einen räumlichen Teil
beschränkt, so doch mit vollkommen königsgleicher Befehls-
gewalt sich vollzieht.
S 15
Sechste Klasse
Militärische Befehlshaber — Potestates.
Den Praesides Provinciae folgen als sechste Klasse die
militärischen Befehlshaber: Duces legionum« bellorum instruc-
tiones, capiianei acierum.
■ Sie entsprechen der himmlischen Ordnung der Potestates,
aus deren Namen ersichtlich der Stoff zu ihrer Bildung her-
genommen vurde. Dieser Name wird aus der übermächtigen
Gewalt erklart, die ihnen verliehen ist, um jede gegen Gott
■aufstehende Widersetzlichkeit unwiderstehlich zu vernichten.'
Sie sind es, die, wie oben ausgeführt, Gott ins Feld schickt,
um die Unbotmäßigkeit der abtrünnig gewordenen Engel nieder-
zuwerfen.^ Indem nun dieser Name nicht Lediglich als Vocabel
nach der ihm zugeschriebenen Bedeutung verwertetj sondern als
Bezeichnung einer himmlischen Institution urgiert wird, gelangt
Wilhelm zur Aufstellung seiner irdischen» den Potestates assi-
milierten Klasse. Die Machtvollkommenheiten, die sich aus jener
Erklärung des Engelsnamens für ihn als eine Amtsbezeichnung
■ Eine ähnliche Uberelnsiimmuag, wie sie hier. fQr die Theorien
vom Fürsten aufgestellt wurde, bjit für ihre PersSnIicbkeltcn aelbat Bcu-
taric aufzeigen zu können geglaubt, indem er Philipp den Schönen als
den Fürslen absoluter Gewalt in eine Linie mit dem vierzehnten Ludwig
letzt und für Ludwig IX. wenigstens die ErrungeUSChAften einer diejenige
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vorwegnehmenden Cen-
tratiaation in Anspruch nimmt. Saint Louis et Alpbonsc de Poiticrs-
Paris 1870, 2, Sf- Dagegen, aber vras die Centralisation angeht, wohl zu
Unrecht; GUs^on, Hiatoire du Droit et des Instit. de 1a France 5, 289,
290; vgl. Ducourdr&y, *. a, O- 28(f„ Luchaire, Manuel, 463, 520/1. —
•» P. 985 coU 2C. — 8 P. 989 col. IC
h.
88
ergeben, werden voll ins Irdisch-Militärische entfaltet. Dabei
greift Wilhelm als auf einen Beleg seiner Consiruktion auf die
anklingende, in der zeitgenössischen Verfassung vorkommende
Beamten k^iegorie der Potestates zurück: homioes, qui potestates
äpud DOS dicuntur, ad hoc uttque constituti sunt, ut inimicos
reipublicae vel comprimant vel exterminent," worunter die Po-
desta der italischen Siadtrepubliken, der provencalfschen Con-
sularstädte, die sie eben erst — in den Zeiten Wilhelms —
von jenen übernahmen,* zu verstehen sind.
Aber mehr durch den Gleichklang, als durch innere Über-
einstimmung veranlaßt, erweist sich diese Zusammenstellung als
wenig glücklich, Obwohl matt von dem oft betonten Grundsatz
wird ausgehen müssen, daß eine strenge Verteilung der Amts-
aufgaben uüter die mittelalterlichen Beamtenkategorien nur
ganz vereinzelt durchgeführt ist, wird man doch nicht ver-
kennen können, daß bei einer so grundsätzlichen, dem gegebenen
Zustand fernen Gewaltanordnung, wie Wilhelm sie anstrebt,
gerade die Podesta weit weniger als Glieder der sechsten, denn
als solche der fünften Klasse seines Systems hätten auftreten
müssen. Denn sie sind vielmehr die allgemeinen Leiter der
Staatsgeschäfte, die anordnende Verwaltung, wie sie Wilhelm in
der fünften Ordnung in ausdrücklichen Gegensatz zur sechsten
und siebenten, den Exekutiven, stellt, als die militärischen
Vollstrecker des Staatswillens:^ für die ihnen vielmehr schon
damals die Condottieri (in der Provence: vicarii, lieutenants)*
zur Verfügung zu stehen begannen.
Der militärische Charakter aber ist es, von dem Wilhelm
als dem constimtiven Element der sechsten Klasse ausgeht.
Per eos in potestatem Regis reducuntur et rediguntur^ quj a
potestate recesaerant vel eidem rebellant.' Ganz richtig — und
schon systematisch im Sinn der neueren Staatslehre"^ — ist
der Begriff der Heeresverwaltung als politische Exekutive ge-
faßt, die, wie oben ausgeführt, zutreffend der Verwaltung
(Praesides Provinciae) entgegengesetzt, und der im weiteren die
bürgerliche Exekutive in der siebenten Ordnung, den Centuriones
oder ministri, eng angereiht wird.' Diese Scheidung in poli-
' P. 985 col. 2D. - ' Lucfaaire, Manuel, 442ff. — -^ Insofern er-
scheint die oben zitierte Interpretation Wühelms einseilig und gewAlisam.
— * Lucbaire, ibid. — ^ P. 665 col. 1 A. — " Ansätze zu dieser -^ und
fn viel weiterer, wenn auch theoretisch gegründeterer — Umspannung
linden sich im Mittelalter sonst erst später: soviel wir sehen, erst bei
Marsilius von Padua, Defensor pacis I, 15, wo der Gegensarz von Legislative
und Executive lucide auseinandergesetzt wtrd. — ■ Cf. p. 971 col. I C
^
'tische und bürgerliche ETcekuttve hat wieder ihren Halt in der
Bestimmung der himmlischen Ordnungen, indem der sechsteo,
den Potestates, aufgetragen ist; der Kdtnpf gegen die äuDeren
Widersacher der Erlösung, die contrarias Poiestaies, die Dä-
monen;' der siebenten, den Virtutes^ aber: die im Menschen
selbst wohnenden Laster zu bekämpfen und auszurotten.^
Die Eignungen, die den militärischen Befehlshabern zuge-
schrieben werden, sind sehr allgemein. Ihre Bezeichnungen
'selbst: Duces legionum, bellorum instructores, acierum capitanei
sind teils Anklänge an die antike Welt, teils an die gleichzeitige
Heerordnung, so daß sich eine bestimmte RangstuFung nicht
aufstellen laQt, wie sie wohl such vom Meister selbst nicht
beabsichtigt wurde. An einer anderen Stelle^ werden in aus-
führlicherer, aber ebenso antike und zeitgenössische Elemente
vermischender Aufzahlung als militärische Rangstufen verzeichnet:
centuriones, decuriones, quaterniones, Duces, Marchiones,
Comites, Contestabiliones. Interessant ist hier, wie der Ver-
mengung klassischer und mittelalterlicher Heeres bezeich nun gen
die Zusammenstellung beamtenmäßiger und lehnständischer
Institutionen parallel läuft Diese ist nur ein Ausdruck
der zeitgenössischen Verhältnisse, die neben die alten Heer-
Imter lehnsständischer Ordnung^ (den Seneschal und seinen
Nachfolger, den Connetabel, die Duces, Comites^ Barones) die
Beamtenofßziere führten, die den seit Philipp August in Auf-
nahme gekommenen berufsmäßigen Soldaten^ entsprachen."
An inneren Gaben wird den Heerfijhrern lediglich zuge-
^flchrieben, was ihrem himmlischen Gegenstück als selbstver-
ständliche Auszeichnung infolge des in ihm entstrahlten Teiles
der gottlichen Macht zukommt. Da dieser Teil sich als
^_ omaipotentia, contra quam nee resistentia ulla nee
^P rebellio stare potest nisi quae minus clare ostenditur,^
darstellt, so wird den Potestates und somit auch ihrem irdischen
Abbilde, den militärischen Befehlshabern, als Auszeichnung die
EmtneDtifl Invincibilitatis^ beigemessen: womit aber nichts Be-
sonderes über die innere Qualität, welche den Heerführer aus-
zeichnen muß, ausgesagt ist.
^V Zu bemerken ist allenfalls noch, daO in dem oben ange-
H^hrten „nisi quae minus clare ostenditur" wieder die Begreo-
H[ ' P. 971 col. 1 B. — * K 965 col. 1 A. — » P. 991 col. 26 D. —
^R Boutaric, Instituttons militaires de la France, Paris 1863, 267IF. —
^ JShns, Handbuch einer Geschictite des Kriegswesens von der Urzeit
bis zur Renaissance. Leipzig I8S0. S24. — " Boutaric a. a. O, 272. —
' P. 97Ö col. I B. - * P. 978 col. 1 H.
b!
90
zung der Exekutive auf äuQere Widerstände ausgedrückt ist: efT
wird angedeutet, daO gegen die sieb im Dunkel haltende
Kebellion das Schwert vergebens gezückt wird, daß die be-
waffnete Hand sich nur gegen den offenen Feind bewährt.
S 16
Siebente Klasse
Vollstreckungsbeamte — Virtutes.
Was nun die Centuriones, die ministri, die siebente Klasse,
der, wie schon oben erwähnt, die bürgerliche Exekutive zusteht,
angeht, so ist bereits angedeutet, daß auch sie im engsten An-
schluü an die himmlische Hierarchie constituiert wurde. Der
siebenten Ordnung, den Virtutes, ist zugewiesen, dermaßen gegen
jede Art von Laster im Menschen entbrannt zu sein, daü sie es
mit seinen Werken und Urhebern austilgen. Den Nartien
Virtutes tragen sie dann davon, daß sie so gänzlich den Lastern
entgegengesetzt sind, daß nur der volle Name „Virtus" ganz
diese Gegnerschaft auszudrücken vermag. Als der zeitlich zu
ahndenden Verfehlungen gleich entbrannte Widersacher werden
die bürgerlichen Vollstrecker irdischer Gewalt den himmlischen
Strafgewalten an die Seite gestellt: die Centuriones oder
Ministri. Der Name Centurio ist die in der fränkischen Ge-
richtsverfassung übliche Amtsbezeichnung des zur Vollstreckung
der Obergerichtsurteile berufenen niederen Richters.' Minister
kommt als vollziehender Hilfsbeamter des Richters schon in
der römischen Gerichtsbarkeit vor;^ im späteren Mittelalter wird
der Ausdruck Bezeichnung des dem ländlichen Centurio ent-
sprechenden städtischen, die niedere Gerichtsbarkeit und zu-
gleich die Vollstreckung der höheren ausübenden Beamten.^
In den Zeiten Wilhelms — im Frankreich der beginnenden
Centralisation — wurden diese Befugnisse vom bailli wahr-
genommen,'*' dem Nachfolger der alten ministertales oder offi-
ciales;'' es ist daher bemerkenswert, wenn Wilhelm an ihrer
Statt die Centuriones der Volksrechte aufruft. Es beweist dies,
^ SehrSder, Deutsche Rechtsgeschichte, ö!9. — " Der Gehilfe des
römischen Prätors ward minister genannt. L. 1 § 2 D. Si ventris nomine
25, S. — ' Schröder a.a.O., 644-646. — ^ Luchaire, Manu«! 547.
— ^ Glasson, Hist. du Droit et des institmions de la France. Paris
1S93, 5, 474. Er wird ausdrücklich als „ministre de la justice" bezeichne!.
Le Xain de Tillemonl, Vie de Soint-Louis, V, 47.
Ql
I
I
irfo die sonst schwache historische Tradition des Mittelalters,
auf dem Gehiete der Verwaltung eine sichere Kontinuität be-
wahrt.
Als das Amt der Centuriones und Minisiri wird angegeben:
vindictas exercere et justitias sive iudicla exequi.'
Alle drei Ausdrücke sind synonym für die von einem Ge-
richtshofe durch Urteil verhängten Strafen.^ Deutlich sind also
Centuriones «ad Winistd als die vollstreckende Strafgewalt ge-
kennzeichnet. Es kann nicht verwundern, daß Wilhelm ledigUch
die Diener der Strafgerichtsbarkeit aufführt. Obwohl er vorgibt,
die hesteingerichtete Erden Staatsordnung aufzeichnen zu wollen,
gibt er doch nur einen h&chst sprunghaften Abriß von einer
solchen. Indem ihn von vornherein das Vergleich sbild der
himmlischen Ordnungen gefesselt hält, vergißt er der irdischen
Erfordernisse und gibt so nicht mehr vom Rahmen des welt-
lichen Staates wieder, als eben durch jenes Vergleichsbild ver-
anlaßt ist. Da aber den seligen Ordnungen als geistigen Wesen
allein das ewige Heil der Menschen am Herzen liegt, kann
ihnen ein unmittelbarer Eingriff in deren materielle Streitig-
keiten nicht zustehen,^ Durch Strafweise Verfolgung der Sünden
alleit) üben sie ein Richter- bzw. VoHstreckeraml, ordnen sie die
geistigen Fehden; Klagen um Mein und Dein meldet Ihr Ent-
scheid. Daher finden sich denn auch in der den himmlischen
Urteilsvollstreckern parallelen Klasse nur die Vollzieher der
Strafgerichtsbarkeit, während das Amt der bürgerlichen Rechts-
bewirkung unberührt bleibt.
Das ofßcium der viriutes ist, vitia et vitiorum opera
totis studiis ac viribus exterminare — — —
Für ihr irdisches Abbild, die Centuriones, wird der etwas
allgemeine Ausspruch „totis studiis ac viribus" in bestimmte
irdische Verhältnisse projiziert: es wird für die irdischen Voll-
strecker die strenge Handhabung aller, auch der weltlichen,
JVldchtmittel gefordert: ut armis etiam militiae saecularis strenui
sint. *-
' ' P. 965 col. la. — " Du Gange, Glossar, suh his voc. — ^ Es
finden sich gelegentlich allerdings bei ^Cilheltn auch Züge einer Teilnahme
der Engel an den materialen Schicksalen der Menschen: so wenn er der
sechsten Ordnung, den Kriegsengeln, zuweist, daß sie in den Kriegen
der Menschen untereinander die eine oder andere Partei durch die Rat-
schläge und Enthüllungen Gottes zu unterstützen haben p. 971 coU IC.
Vgl. dazu die bei Glrörer, Gesch. des UrchrisientuTns H, 372 wieder-
gegebene jüdische Tradition, daß die Engel, sobald die ihrem besondem
Schutz vertrauten Nationen miteinander in Krieg geraten, selbst unter-
ciaander den Kampf aufnehmen. — '' P. 06ä co). 1 A. i. f.
02
Mit dieser seltsamen, weil doch Tür eine Klasse weltlicher
Beamten selbstverständlichen Anforderung wird tn Wahrheit
ihr ganzer Charakter umgedeutet. Indem nämlich ihre Tätigkeit
— die irdische Rechtsbewirkung — gleichsam nur als eine Aus-
führung und Foftwirkung der rein geistigen Korrekturen der
Engelsmächte angesehen wird, wird mit diesem betonten Aufruf
zur strengen Handhabung auch der *eltlichen Machtmittel ihr
ganzes Vollstrcckeramt in die Sphäre geistlicber Gewalten
gerückt. Es erscheint die weltliche Machtentfaltung lediglich
unter dem Gesichtspunkt des die geistliche Gewalt bedienenden
welllichen Schwertes. Und es wird nicht unterlassen, wenigstens
im Vorübergehen darauf hinzudeuten, daD diese Dienstbarkeit durch
den Charakter des weltlichen Sehwertes als eines dem geistlichen
Arme zur Verfügung stehenden Machlmiiiels gerechtfertigt ist.
armis militiae saecularis — — armis videlicet omnino
spiritualibus.''
Damit stimmt trefflich überein, wenn am Schluß des Satzes
neben der Anwendung der übrigen weltlichen Machtmittel noch
besonders die der ^arma justiliae" eingeschärft wird. Für eine
besondere Namhaftmachung dieser hätte vom Standpunkt einer
welllichen Gerlchtsbarkett aus kein Grund vorgelegen; sehr wohl
aber rechtfertigt sie sich vom Standpunlct geistlichen Gerichts,
wenn man darunter die eigentlich jurisdictionellen Strafmittel
im Gegensatz zu den kirchlichen Censuren versteht.
So wird hier ganz in Parenthesi das große mittelalterliche
Postulat der Zuteilung des weltlichen Schwertes an das geistige,
das gegen das Ende des Jahrhunderts auch die französische U'elt
noch in Flammen und ihre Geister in streitende Bewegung
setzen sollte," mit einem kurzen, scheinbar unwidersprochenen
Worte erhoben.
In diesem Sinne der Nutzbarmachung der weltlichen Gewalt
für kirchliche Censuren verstanden, steht diese Stelle bei Wilhelm
nicht vereinzelt da. Bei einer im wesentlichen wohlmeinend
milden Beurteilung der zeitlichen Verhältnisse ist ihm — ganz
ähnlich wie seinem königlichen Gönner — ein nicht geringes
MaO kirchlicher Strenge eigen, die oft über den Rahmen ihrer
sonstigen IHachtanwendung Opfer heischt.'
' Ibid. — ^ Cfr. Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipp des
Schönen und Eonifaz' VIII. Kirchenrechll. Abhdign. Heft 6,'8. passim.
— " Cfr. Guil. Alv. De Legibus cap, ] i. f. op. omnia 11, p. 28 co[2 GH.
De Univerao II, 2. cap. 50, p. 801 col. 2 A. üL fetiecine de Bourbon,
Anecdotes hisiortques ed. Lecoy de la Marche, Paris 1877. 3S3j3S7f. Eta-
blissemeois de St. Louis Livre E, cap. 90. Viollct, Iniroduction dazu 2S2/3.
ii
n
4
4
93
Die Anfeüerung, welche so die Vollstrecker der irdischen
ierichtsbarkeit aus ihrer unmittelbaren Ableitung von der himni-
lischen erfahren: ut . . , strenui sint, wird verstärkt durch die
für die himmlischen Strafmächte prätendierten Idealeignungen
der Infatigibilitas und IndeFeciibilitasJ Ähnlich wie bei der
politischen Exekutive der sechsten Ordnung aber fehlt innerhalb
dieser Ausdrücke einer aUgemein vollkommenen Vorbildlichkeit
eine nähere Hinweisung auf die Art, in der eine so vollkommene
Ausbitdung sich irdisch vorbereitet.
^K Den himmlischen Mächten der siebenten Ordnung wird —
^Bber abgesehen von der Aufgabe der Sündenftustilgung — ähnlich
^Hcr sechsten Klasse — noch die Anspornung der Menschen zu
den einer besonderen virtus bedürftigen Taten und darüber hinaus
ein eigenes, die absolute virtus verwirklichendes Tun zugeteilt.
Ihre vollkommene virtuosltas schafft die Wunder: quBe sunt
super omnem virtutem naturae,- in denen „magis apparere vide-
tur omnipotentia virtutis ipsius (Creatoris).^ Zu diesen beiden
Eignungen finden sich irdische Parallelen nicht. Ein volks-
pädagogisches Amt lag, wie nahe ihn auch der platonische Staat
hätte darauf führen müssen» nicht im Rahmen der doch insoweit
gegenständlichen Staatsanschauung Vt^ilhelms. Das Wunder-
bewirken aber als außerhalb der Grenzen der begreiflichen
Natur gestellt, konnte im irdischen Regiment ein Abbild über-
haupt nicht haben.
Achte und neunte Klasse
Vorbemerkungen.
Die achte und neunte Stufe der Staatsordnung nehmen die
Königsboten ein. Sie sind den entsprechenden Klassen der
Engelshierarchie, den Archangeli und Angeli» genau an die Seite
gesetzt, nach ihrem Vorbilde constituiert, wenn auch Wilhelm
bei dem Nebeneinanderstellen beider Ordnungen wieder schein-
bar erstaunt als Ergebnis der Vergleichung verkündet: eviden-
tissimam habent proportionem atque similitudinem.* Es scheint
im übrigen Wilhelm an dieser Stelle doch ein Bedenken über
den reinen a priori- Ursprung seiner irdischen Ordnungen gekommen
u sein, da er durch die genaue Befolgung der Engelsrangordnung
' p. 978 coi. l H., p. 979 col. 2 B. — * p. 971 Cöl. 1 C, — ^ p. 905
1. IBj p. ffiß col. 2D. — • p. 965 col. IB.
sieb von der Centuriones unmittelbar auf die Königsboten
geleitet und eine groEle Anzahl wichtiger Beamtenklassen
achtlos übergehen sah. Zur Beseitigung dieses Bedenkens
unternimmt er den Versuch einer sachlichen Rechtfertigung seines
Verhaltens, der aber als geglückt nicht anerkannt werden kann.
Es vird auf diese Ausführung in Hinsicht ihres, sachlichen
Gehalts nccb weiter unten näher einzugehen sein.
Die KoQigsboten &ls besondere irdische Gemein^chaftsordnuDg
spiegeln zunächst den eigentlichen Beruf der gesamten himtn-
lischen Ordnungen wider. Als das eigentliche, für das Volk das
fast ausschlieUliche Amt der Engel muß die Übermittelung der
göttlichen Aufträge gelten. Aber diesem Amte entsprach eS|fl
unter den Engeln eine besondere, ausschließlich diesem Diensf
vorbehaltene Schicht zu bilden. Ihm entsprach es auch, nach
der erheblicheren oder geringeren Bedeutung der von ihnen zufl
übermittelnden Botschaften diese Schicht wieder in zwei Klassen
zu teilen und, unabhängig von diesen besonderen Ordnungen» noch
für die Erötfnung der allerheiligsten Kündungen die gesamlen,
insbesondere die oberen, Rangordnungen der Engel bereitzustellen.'
Dies ist das eigentliche, das nähere Substrat der achten und
neunten Klasse Wilhelms, der Königsboten. Aber als irdische
Gemeinschaftsordnung sind die Königsboten auch nicht ohne Halt
in der tatsächlichen Gestaltung des mittelalterlichen Erdenregi-
ments. Im karolingischen Frankenreiche waren die zuvor nur
in außergewöhnlichen Fällen entsandten Königsboten, missi, zu
einer ständigen Institution geworden, während neben ihnen
immer noch die Entsendung außerordentlicher Königsboten vor-
kam.^ Ihr Amt — wie die meisten dieser frühen Zeit • — ent-
behrte einer allgemeinen Festen Umgrenzung. Man sieht sie
mit den verschiedensten Aufträgen das Reich durcheilen.^ Zu-
sammenfassend wird man sagen können, daO es ihres Amtes war,
die Rechte der Centralgewalt in den Territorien wahrzunehmen
(ad justitias factendas).^ Ihre Erscheinung verblaßt mit der
abnehmenden Bedeutung der Centralgewalt.'^ Aber ganz erloschen^—
sind sie eigentlich nie." Wir besitzen Urkunden aus der Zel^f
Ludwigs VII, die ihr Vorkommen noch in dieser späten Zell
beweisen.^ Und im römischen Reiche begegnen wir ihnen noch
im dreizehnten Jahrhundert als einer ständigen Institution, frei-
■ Gull. Alv. 1. c. p964 col. 1 H 2E; 965 col, 1 B. — -^ SchröderJ|
Deutsche Rechtsgeschichte S. 138. — ^ Violletj Histoire des Instit l,
304. — * Schröder a. a. O,, S. 138. — " Viollei a. a. O., 306.— » A- M.
Glasson a. a. O., 5, 402. — ' Luchaire, hisioire des insttt.
I. France. Paris 1S91, I, 201, d. 3.
. monarch. d^H
lieb nuD ausschlieOlJch auf die HacdhabuDg der Gerichtsbarkeit
zurückgeführt.*
Es ist bemerkenswert, daß sie in dem Plane Willielais
wieder erscheiaen. Hat ihr Amt hier auch eine charakteristische
Wendung erfahren, so rufen doch die unterscheidenden Klassen-
aamen Legati und Nuncü die Erinnerung an die alte Institution
wach.^ Daß die Bezeichnung Legati von der Übung seiner Zeit
her eine andere — jener Wendung entsprechende — Färbung an-
genommen, vermag den Zusammenhang mit der alten Institution
nicht zu verwischen. Man wird mit dieser Neubelebung durch
Wilhelm zusammen halten müssen, wie ein Jahrzehnt nach der
Abfassung von Wilhelms Schrift der Monarch, dessen ständiger
Berater er war, die verblaßte, aber nicht völlig unterbrochene
Tradition der Missi wieder aufnahm, Die £nqu€leurs, die
Ludwig IX, vor seinem Kreuzzug zur Kontrolle der gesamten
Verwaltung hinaussandie,^ und die nach demselben eine ständige
Einrichtung der erstarkten Centralgevalt wurden, dazu bestimint,
ihre Befehlshoheii über die Territorialheamten aufrechtzuer-
halten, sind nichts als die unmittelbaren Nachfolger der alten
Missi.*
Wenn wir nun in Wilhelms System diese alte Institution,
wenigstens in ihren Bezeichnungen und dem Grundzuge ihres
Wesens, der Vertretung der Königsgewalt durch besondere Ent-
sandte, lebendig wiederfinden, werden wir an dem die Enquäteurs
anordnenden Beschlüsse Ludwigs IX. vom Jahre 1247 nicht
vorübergehen können, ohne jener Belebung der alteti Institution
durch Wilhelm zu gedenken, um so weniger, da wir unsern
Meister gerade an den dem Kreuzzug vorangehenden Beratungen
und Entschließungen Ludwigs den lebhaftesten Anteil nehmen
sehen.'*
Es fflulk aber bei alledem, der unleugbaren Aufnahme der
alten Königsbotentradition durch Wilhelm, doch festgehalten
werden, daG, wie wir schon andeuteten, diese Institution in
seinem System eine im Einzelnen ganz abweichende Bedeutung
erhalten bat. Wir bemerken in ihr, zu einem Teil wieder durch
voraufeilende zeitgenössische Strömungen beeinflubt, zu einem
anderen durch eine glückiiche Spekulation befördert, die Vorweg-
nahme von staatlichen Institutionen, die als allgemeine erst der
neueren Zeit vertraut geworden sind: nämlich eines politischen
Gesandtenamts und eines ständigen Kurierwesens.
= Schröder a. a. O., 512. - ^ Schröder a. a. O-, 138. VioUei
a. a. 0., 1, 304. — ^ Le Main de Tillemont» Vie de Sl, Louis, Ed. GauUe,
Paris 1849. V, 441. — ^ Luc baire, Manuel 553. ~ ' Valois a. a. O., 150 ff.
96
Wilhelm, der an der Entwicklung dieser Institutionen
im Laufe der Welt wohl selbst keineti ganz geringen Anteil
hatte, da er in fast allen Händeln seiner Zeit bald vom
Papst, bald vom Könige als Vermittler und Unterhändler aus-
gesaadt wurde, ^ erscheint ganz besonders dazu geschaffen,
dieser Entwicklung in einem vorbildlichen Staatsordnungs-
plan einen sie auch theoretisch begründenden Ausdruck zu
geben.
Wilhelm teilt die Königsboten — entsprechend den himm-
lischen Ordnungen — in zwei Stufen: die Nuncii magni, qui
legati usualiter nominantur, und die Nuncii minores. Ihr inneres
Wesen setzt er mit begriH'lichen Scheidungen gegeneinander ab,
die nicht ohne SchärFe die AbstuTung zwischen der sechsten
und siebenten Klasse, den Feldherren als politischen und den
Gericbisbeamten als niederen Vollstreckern, wiederholen. Jenen
kann man ein stattliches persönliches Bewirken in weitem
Kreise zuschreiben, diesen vollzieht sich ihr Amt im notwendig
abgesteckten, eng umschriebenen Cirkel, in genauer Ausführung
fremder Weisung. Ahnlich wird den Großboten^ den BotschaFtern»
□eben der Übermittelung wichtiger höchstpersönlicher Aufträge
auch eigentlich staatliche GeschäFtsbesorgung aufgetragen^ wäh-
rend die untere Klasse nicht anders denn als die Übermittler
des ausgedrückten königlichen Willens erscheinen. Es ist in
dieser Teilung ein römisch-rechtliches Prinzip genau zum Aus-
druck und zu politischer Erscheinung gebracht: nach ihm werden
die eigentlichen Willensvertreter von den bloßen Willensträgem
unterschieden.^ Es kann zweifelhaft sein, ob Wilhelm, dessen
Bildungsgang im Dunkeln liegt,^ der aber als Bischof an der
kirchlichen Rechtsprechung teilgenommen hat^* eine nähere
Kenntnib römisch-rechtlicher Definitionen innewohnte. War
dies nicht der Fall, so ist seine Einteilung als ein Beweis
seiner durch die scholastischen Kategorieen weniger als
hei anderen gehinderten geistigen Durchdringung der Lebens-
verhältnisse ^ anzusehen : In dem anscheinend komplizierten
Gewebe staatlicher Funktionäre weiQ er schon das per-
sönliche Elemetit von dem nur mechanischen Behelfe zu
sondern.
» Valöis» I. c. 84 ff. — ^ 1. 15 Dig. de pec. const. 13, 5. I. 37 Dig.
ad S. C. Treb. 36, 1, — ' Valois, !. c. 1 ff. Schindele, Beiträge
zur Metaphysik des Wilhelm v. A. Mütichener Dissertation 1900, S. I.
" * Valois a. a, O., 20 ff, — ^ Huit, Platonisme au IreiziSme siöcle
iti AntiDles de pbltosüphie cbr^tienne N. S. 21, 46tf. Baumgartiter
*. a. O., 2, 9ff.
97
S 18
Achte Klasse
Gesandte — Archangeli,
Die Magni Nuncii oder Legati — es wird auf den letzten Aus-
druck als den der Zejtübung entsprechenden ausdrücklich hin-
gewiesen, und wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß
die Bedeutung, welche in einem politisch Fortgeschrittenen Teile
der damaligen Welr, der Curie und den italischen Stadtrepubliken,
diesem Ausdruck beigelegt wurde, für Wilhelm der nähere An-
laQ zur Neubelebung des allen Legaten-, des Königsboteninstituts
gewesen ist — sind diejenigen
tqui magna nunciant et alüs nunciis non revelanda et
de magnis rebus atque negociis deTerunt ad quos Rex iusserit.^
In den groCen und anderen Boten nicht zu vertrauenden
Dtschaften erkennt man noch das Abbild der Verkündigung
und anderer Heilsoffenbarungen,* die Gott den Erzengeln als
bevorzugten Himmelsboten aufgetragen hat. In dieser Engels-
klasse haben denn die großen himmlischen Verkünder ihren
Rang, insbesondere Gabriel; doch ist auch diese ihre Stellung
nicht unbestritten und wegen der Außerordentlichkeit ihrer
Sendung ihre Zuordnung zu den obersten Rängen verfochten
worden,* wogegen mehr ihre ausdrückliche Bezeichnung als
Erzengel denn ihre Mission, die als so auDerordentlich wohl
die ausnahmsweise Beauftragung der höchsten Klassen gerecht-
fertigt hätte, zu sprechen schien.'
Die Zuweisung eines besonderen Standes nn diejenigen,
die die großen und die geheimen königlichen Botschaften aus-
richten und die wichtigen Staatsgeschäfte vermitteln, entspricht,
wie oben schon angedeutet^ nicht der allgemeinen zeitgenössischen
Staatsordnung, sondern nimmt die Entwicklung voraus. Daß
dazu Keime in der alten Institution der Königsboten lagen, ist
oben bereits erwähnt. Darüber hinaus bot die auch sonst voran-
schreitende päpstliche Verwaltung mit ihren frühen legati nati
und den späteren iegati a latere ein Moment der Anknüpfung. °
Allen voran aber haben die Vorläuferinnen jeder politischen
Entwicklung, die italischen Stadtrepubliken, schon in der Zeit
^(^ilhelms einen besonderen Slaatsboten stand — die Ambassa-
i^
1 P. 964 col. I H. — « P. 966 coh 1 E. — » Es wurde bereits oben
el den ersten drei Klassen auf ihre Funktion als außerordentliche Boc-
scbafier tiinge wiesen. ^ * Turmel i. a. O., p. 225^6. — ^ Säg mutier,
;itigkeit und Stellung der Kardinäle. 53 tF.
98
toren — ausgebildet, neben denen In außergewöhnlichen Fillen
noch angesehene Bürger als legati verwandt wurden. Wie stark
hier das Bewußtsein des besonderen Standes ausgeprägt w&r» geht
daraus hervor, daß jene Ambsssatoren Amtsabzeichen am Rock
und Hut trugen.' Die Nutzbarmachung jener atten heiniat-_
liehen und der neuen fremdländischen Form Für das allgemein-V
zeitliche Bedürfnis ist aber ganz das Werk unseres Meisters.
Es ist nicht wunderbar, daß gerade Wilhelm dies Bedürfnis be*_
griFf und ihm in seiner Organisation Ausdruck gab. Ibm, derfl
bald h[er bald da in den verschlungenen Wirren seines Jahr-
hunderts bald den päpstlichen, bald den königlichen Unterhändler
abgeben und darüber die von ihm so geliebte gelehrte Muße
aufgeben muQte, ^ mag die Notwendigkeit dieses neuen Standes
um so mehr eingeleuchtet haben^ als seine auch die Verhältnisse
ferner Gemeinwesen überschauende staatsmännische Erfahrung
in den italischen Stadtrepubliken den Vorteil eines besonderen
Gesandtenstandes bereits aufs glücklichste wahrgenommen sah.
Bemerkenswert ist bei der Constituierung dieser Klasse die
sichere Zusammenstellung der ihr zugeteilten Obliegenheiten.
Sie spiegeln deutlich im großen die denkbaren Falte der eigent-
lichen Ge sandten tat igkeit wieder: 1. die besonders wichtigen,
2. die geheimen Botschaften, 3< die Vermittelung der Staats-^
geschäfte. V
Als eine besondere Tugend der gleichlaufenden himm-
lischen Ordnung — allerdings auch der folgenden — und so als
vorbildliche Eignung auch auf die beiden irdischen BotenkCassen
zu übertragen — bezeichnet Wilhelm die provtdentissimam
curam et per omnem modum ineffabilem et enarrabilem ac
pure bonam in ea, quae regere et administrare atque ordinäre
dignatur (SC. Creator).^ Neben allgemein Doctrinärem ist hierin
doch viel von den wesentlichsten Anforderungen enthalten, die
der Legätus zu bewahren hat: vor allem die unablässig acht-
same, aber gegebenenfalls auch voraussorgende Aufmerksamkeit
bezüglich der Directiven des Oberen.* Über allgemeine, intuitiv
erfaßte Prinzipien hinaus beginnt sich ein in besonderer Berufs-
erfahrung erworbenes Wissen um die besonderen Berufstugenden
auszubilden und festzustellen: der Schritt, mit dem der Geist der
Scholastik entschlüpft, um unters Tor der Renaissance zu ireten. ^
1 P. 9S7 col. IC.— '' Valols a. a. 0., 6r. — ' P. Ö87 col. 2 B.
— *' Über die gleichfaUs in Italien zur volEen Entfaltung gebrachte,
besondere Kunst der Gegandtentätigkeit vgl. Burckhardt, Kultur der
Renaissaace in Italien, ä. Aufl. 1, lOOf. — " Burckbardt a. a. O,, ]41.,
B8
S 19
Neunte Klasse
Kuriere — Angeli.
Die Nuncii minores nehmen die den Angeli als den all-
gemeinen himmlischen Boten zukommende Stellung auf Erden
ein. Wie diese die weniger wichtigen göttlichen Aufträge den
Menschen zu übermitteln haben,^ ist ihiieu — den Nuncii
minores — der allgemeine königliche Botendienst vertraut. '
Während aber die beiden himmlischen Botenklassen Archangeli
und Angeli in der Tat nur nach dem Gehalt der ihnen über-
tragenen Botschaften zu scheiden sind, ist in die Abfolge der
beiden irdischen Klassen, wie oben gezeigt, ein inneres Unter-
scheidungsmoment eingeführt: sind den als persönlich Handeln-
den, als geistige Mittler in Betracht kommenden Großboten,
den Legaten, die Nuncii minores als die tatsächlichen Boten,
die reinen Nachrichtentrsger, die bloßen Übermittler des könig- ■
liehen Willens entgegengesetzt. Ihnen ist nicht aufgetragen,
^magna et aliis nunciis non revelanda nunciare" und „de magnis
rebus ac negociis deferre", sondern schlechtweg „iussa
regis et mandata deferre*. In ihnen ist — in einem schon
fast den Zusammenhang mit der Gesandtenklasse verlierenden
Sprunge — eine Klasse reiner Läufer und Kuriere constituiert,
deren Organisation mehr auf einen geordneten Nachrichten-
dienst als auf die Ausbildung irgendwelcher selbständiger
Fähigkeiten abzuzielen scheint. Sie werden als „per totum
regnum discurrentes sive equites sive pedites ju&sa regis et
maad&lfl deferentes" geschildert: wobei man den Eiadruck eines
das ganze Reich vom königlichen Stuhl her umspannenden
Botennetzes und eine lebhafte Erinnerung an den Etappendienst
der persischen Großkönige erhält. Dieser unter Darius Hystaspes
eingerichtet,' in der griechischen Welt ohne Folge* und in der
römischen als Cursus publicus erst zu spätem Leben erweckt,^
von wo ihn dann Chlodwig* gerne herübernahm, Karl der Große^
als er in Verfall geraten, wiedererweckt haben soll,'' mußte
1 P. 966 col. IC. — " ibtd. et p. 964 col. 2 E. — " cf, Herodot VllI,
9&. Xenopbon, Cyrop. VIII, 6, 17, — ^ Hartmann, Entvlcklungsgesch,
d. Posten. Leipzig 1868, 21 EF. IlwolF, Postwesen i. s. Entwicklung.
Graz 1880, 7f. — ^ llwolF a. a- O., IL Hartmann a. a, O., 40ff.
Flegler^Vieban, Zur Gesch. des Poscwesens in d. Histor.-Polit Blättern
42, 695. — « llwolf a. a. 0., 20. Hartmann a. a. O., I29ff. — ^ Doch
ist dies sehr streitig. Vgl. Harcm&nn a. a. O., 135^151. llwolf
a. a. O., 2L Flegler-Viebsn a. a, O., 702f.
7*
[00
mit fortschreitendem Mittelalter sich bald jeder eigentlich staat-
lichen Erscheinungsform beraubt sehen. Wir werden den Grund
hierfür nicht nur in äußeren Umständen, sondern mindestens
ebensosehr in den dem miltelaUerlicheti Geiste eigenen gesell-
schaftlichen Bildungen zu suchen haben,' Diese, auf Erstarkung
der einzelnen innerstaatlichen Ordnungen hinarbeitend, duldeten
schwerlich ein diese Scheidewände durchdringendes, lediglich
durch den Staatsrahmen gehaltenes Netz von Verbindungen:
daher denn auch die einzelnen Genossenschaften jede Für sich
nicht ganz eines Nachrichtendienstes entbehrten.' Man findet
Universiiäjsboten, Klosterhoten, Siädteboien und Metzgerposten
verzeichnet." Da ist es denn kein ganz geringes Zeichen setner
Einsicht in die Bedingungen des neuen ceniralisierten National-
staats, der in Frankreich seine Anfänge nahm, wenn unser
Meister Für das königliche Regiment diesen weitreichenden wohl-
geordneten Botendienst in Anspruch nahm. Trotz des Wort-
anklanges, den die „Missi discurrentes" des amulfingischen
Hausmeiertumes an unsere Stelle von den „Nuncii discurrentes"
aufweisen, wird hierin kaum eine nähere Veranlassung der
Vi'ilhelmtschen Aurstellting zu erblicken sein, da den Miss! eine
eigene, den Hausnieier darstellende Gewalt und ein hoher Amt$-
charakter innewohnte/ der den lediglich der Communikation des
königlichen Willens dienenden Läufern Wilhelms fehlt. Dagegen
kann man wohl annehmen, daß eine jener zuvor erwähnten
zeitgenössischen korporativen Einrichtungen ihren Einfluß auf
die Wilhelmischen Gedankengänge geäuOert hat. Gerade in
seiner unmittelbaren Nähe unterhielt die parisiscbe Universität,
an Bedeutung und Werbekraft gleichmäßig zunehmend, für die
Zwecke ihrer Studierenden eine grolle Anzahl von Boten, die
fast über ganz Europa zu bestimmten Zeiten ihre Kurse machten,
und die bei der immer steigenden Inanspruchnahme auch durch
nicht der UniversitAS litterarum angehörige Kreise einen voll-
kommen technisch entwickelten Organismus ausbildeten/ Das
i
i
1
i
' Vgl. IlwoEf a. a. O., 20. Hartmann a. a. O., 153, 157, 163.
Flegler-Vieban a. a. O., "JOSf. — ^ Harimann a. a. 0., 167. Uwolf
a. a. O, 22. FJegler-Vieban a. a. O., 7Ö4F. — ^ Hartmann a. a. O.,
170—213. llwotf a. a. 0., 22—32. Flegler-Vieban a, a. O., 7(Hff.
KliJber, P&stwesen in Deutschland. Erlangen ISlI^ 9fF. — ■• Schröder
a. a. O., 138. — * Die Einieilung dieser Organisation in Großholen und Boten
(arcbinuncn, nuncii majores und viatores parvi, nuncJi volantes) soll bei dem
seltsamen Gleichktang mit den V'ilhelmischen Katcgorieen hier nicht un-
erwähnt bleiben, wenn aucti eine innere Beziehung zu diesen nicht wohl
anzunehmen ist: da denn die Groliboten Jhr&n Namen wohl nur als eine
I .^^
J
101
^C^esentliche ist aber doch, daQ Wilhelm den Wert solcher
Institute für das gemeine Staatswohl und das dieses main-
tenierendt KönigsregimeDt begriff und ihnen beiden in Gestalt
einer eigenen Stafttsklasse zuschrieb. Stärker konnte die uni-
versale Bedeutung der Königsmacht kaum zur Anschauung
gebracht werden, ats daß man ihr eine ganze Schicht ihrer
Untergebenen zu dem einzigen Zwecke zur Verfügung stellte,
ihre Wirksamkeit bis an die äußersten Grenzen des Reiches
aufrechtzuerhalten.
■ Daß hier nicht lediglich das Vorbild der Himmelsbierarchie,
sondern sichere irdisch-politische Tendenzen die Feder Wilhelms
beeinflußten^ ist nach dem Vorgetragenen augenscheinlich und
wird noch weiterhin dadurch bestätigt, daß Wilhelm die lebendigen
Zwecke der Organisation, ihre Glieder nach equites und pedites
unterscheidend, urgiert. Ihm kam es hier in der Tat darauf
an, in der Anpassung an die HimmeEsordnung zugleich das
bochstvollkomrtiene Bild eines irdischen Kerrscbaftsmittels zu
t
S 20
Zusammenfassende Betrachtung der weltlichen Staatsordnung
Wilhelms. Das VernunFtprinzip. Der klassische Einfluß.
Es ergibt sich danach als die Staatsordnung Wilhelms, wenn
Vf'ir ihr die Ausdrücke einer entwickelten Verfassungslehre leihen,
;die Abfolge nachstehender Staatsschicbten, für die zutreffend
weder der Terminus Klasse noch der Terminus Stand zur Ver-
tfügung steht:
1. Persönliche Umgebung des Königs.
, II. Räte.
' lU. Richter.
Erinnerung an ihre ursprüngliche Bestimmung trugen, in Wahrheit aber
als in Paris angesessene, angesehene Bürger lediglich die Leitung des
Dienstes und überdem die finanzielle und sonstige bürgerlEche Versorgung
der Studierenden zu versehen hatten. Ausgeschlossen ist allerdings nicht,
daß die bloße Bezeichnung und Einteilung auf Wilhelm einen unmittel-
baren BinnuQ wenigstens bei der Benennung seiner Kategorieen geäußert
tat. Doch muß auch dies ungewiß bleiben, da jene Bezeichnungen, wenti
sucb wahrscbeinlich viel älteren Ursprungs, kaum für eine frühere Zeit
als das fünfzebnle Jahrhundert urkundlich zu belegen sein werden.
Harimann a. a. O., 205fT., besonders 20Sf, Flegler, Zur Gescbichte
der Posten, Nürnberg IßSS, 17/lS. Flegler-Vieban a. a. O.j 706ff-,
besonders 709f. - ^ P. 964 col. 2 B.
L
102
IV. Lehnständische Gewalten: Könige zu Tribut und
Lehn, Fürsten und Freie Herren.
V. Provinxialstatth alter (anordnende Verwaltung).
VI. Politische Exekutive: Heerführer.
VII. Bürgerliche Exekutive: Vollstreckungsbeamte.
Vin. Gesandte.
IX. Kuriere.
Man wird nicht übersehen, wie willkürlich und sprunghaft,
vom Standpunkt eines sachlich geordneten Staatswesens aus be-
trachtet, diese Ordnung fortschreitet. Man muß ini Auge be-
halten, daD es die himmlische Ständefolge ist, die sie als Rück-
grat stützt; ein inneres Moment bestimmt sie selbst nicht. Daher
mußten viele Elemente» die ein wohlgeordnetes Staatswesen nur
schwer entbehrt, und die unser Meister, da er ein solches dar-
lustellen sich vorgesetzt, hätte verzeichnen müssen, hier aus-
fallen. Man wird der seltenen mittelalterlichen Staatsschriften,
die ein Gesamtbild des Staates versuchen, gedenken müssen,
um zu ermessen, wie schwer es dem mittelalterlichen Geiste
war, sich von der Bindung durch Analogieen und Allegorieen weg
zu einer unbehinderten Betrachtung der politischen Dinge hin-
zufinden. Man wird in dem Policraticus des Johann von SalJs-
bury, dem einzigen Versuch eines grölieren Slaatsbildes vor
Wilhelm, eine noch engere Abhängigkeit von dem dort als Vorbild
dienenden menschlichen Organismus bettierken. Erst gegen das
Ende des Wilhelmischen Jahrhunderts scheint der Geist, von
solchen Fesseln befreit, einem sachlichen Ergründen des gesamten
Slaatslebens hingegeben. Insofern allerdings — das ganze Gebiet
staatlicher Organisation auf Aristoteles' Spur verstandesmäüig
durchdringend — wird Ägidius von Rom' — trotz Wilhelms
im Einzelnen ihm vorauslaufender Verdienste* — die Palme
des Ruhms für sich beanspruchen dürfen.
Es ist bereits oben darauf hingedeutet worden, wie dem
Meister selbst an einer Stelle der Ausfall einer Anzahl von Beamten-
kategorieen bemerkbar wurde, und er sich Mühe gab, ihn durch
eine prinzipielle Erwägung zu verdecken. Es wird hier der
Ort sein, auf diese Erwägung näher einzugehen.
Wilhelm versucht die Kluft, die zwischen den Gesandten
der achten Ordnung und den einfachen Botenlaufem der neunten
Ordnung klafft, und in der eine ganze Schar von Functionären
des Staatsdienstes, für die dies der letzte Platz einer Erwihnung
gewesen wäre, verschwindet, mit der Ausführung zu rechtfertigen:
' Scholz a.a.O., S. 109 ff. — ^ S.O. S. 82.
103
Non numero coquos in ista ramilla regia, quia nee regni
necessitas nee eiusdem decor aut gloria aed magis noxia
deliciositas eorum minfsteria exqulsivit. Sic dico de pincernis,
et de cubiculariis et thesaurarüs, hoc est thesaurorum custo-
dibus; quia curiositas et voluptas et avaritia causam dederunt
superfluitatj eorutr, cum longe minori apparatu et solliciiudJne
posset Regibus ministran et regna etiam gübernari.
Cap. 112 p. 964 col. 2E
Diese Ausführung scheint auf den ersten Blick nur die
^Beamten des königlichen Haushalts anzugehen und nur auf
eine Beschränkung der persönlichen Bedürfnisse des Königs
abzuzielen. Aber abgesehen davon, daß der mittelalterliche
Staate dessen Gefüge alle diese Ordnungen entnommen sind,
den persönlichen Dienst des Königs ununterschieden mit dem
am Staate verknüpft, die großen Kronämter jener vorerwähnten
Dienste ganz an Lehen bindet, die ihrerseits den wesentlichsten
Bestand des Staates bilden,' läuft zum mindesten in einem der
von Wilhelm erwähnten Ämter, dem des Thesaurars, auch nach
der Natur der Sache, königliches und staatliches Interesse so
nahe zusammen, daß man nicht wohl das eine angreifen kann,
ohne auch das andere mitzutreffen. Und am Ende verrät der
Schiuli des obigen Citats, daß es Wilhelm tatsächlich, wenn er
den königlichen Haushalt angreift, in Wahrheit auf eine Ver-
einfachung der Staatsverwaltung im ganzen ankommt. Damit
Wäre allerdings die Übergehung zahlreicher Beamtenklassen in
seinem System gerechtfertigt: wenn nur seine Meinung: longe
minor! apparatu et sollicitudine posset Regibus ministrari et
regna etiain guhernari durch hinreichende Gründe von ihm
belegt wäre. Der von ihm angeführte, der lediglich auf die
deliciositas, curiositas, voluptas, avaritia als die Ursachen vieler
Ämter hinweist und ihre Rechtfertigung durch die necessitas^
gloria oder den decor regni bestreitet, kann nur für den Kreis
reiner Hofämter Geltung haben, verfängt schon nicht mehr
beim Tbesaurat, das wichtige Interessen des Staats mit denen
des Königs vereint, und versagt völlig bei einer großen Anzahl
ausgesprochener Staatsstellen, die das System Wilhelms ganz
unberücksichtigt läQt, obwohl sie im Sinne einer wohlverstandenen
Staatsökonomie für die Verwaltung des Staates unerläßlich sind.
Viele wird man zur Not in den Häuptern ihrer Gattung, in der
fünften und sechsten Ordnung, den Statthaltern und Heerführern,
mit ausgedrückt Bnden können: die ganze Schar der Verwaltungs-
' Luchaire, Manuel Siaff.
)04
und MilitäroFßzianten. Für einige, und gerade die wichtigsten,
Ordnvtigen versagt aber ^uch dieser Behelf, tn dem System
Wilhelms ist für die groüen centralen Verwaltungsämter, ins-fl
besondere den Kanzler mit den ihm nachgeordneten Behörden,*"
ebensowenig Raum, wie für die communalen Organisationen.^
Und man wird am wenigsten diese Ordnungen als für den wohl-
bestellten Staat entbehrlich ansehen können. Man wird sich ^
mit der Erkenntnis begnügen müssen, daß Wilhelni, obwohl er^
vorgibt, im Wege der Intuition sein Musterstaatsge bilde gefunden
zu haben, und obwohl mancherlei spekulative Züge ihm ein-
gewoben sind, auch die rein geistige Bildung der platonischen
und aristoteliächen Staatsform ihm nicht ferngeblieben ist, doch
in der Hauptsache, so vor allem in der Aufstellung und Anordnung
seiner Klassen, der Einwirkung der himmlischen Hierarchie
derart unterlegen ist, daß gegen sie eine rein vernunftgemäße
Erfassung und Entwicklung des Staatsordnungsproblems sich —
nicht durchzusetzen vermochte. ■
Allerdings dies wird man ihm doch zugestehen müsseo, und
gerade die soeben besprochene Stelle beweist es zur Evidenz, daß
unter der ängstlich treuen Nachfolge der himmlischen Gewalten-
ordnung sich ihm immer wieder das Verlangen nach ihrer ver-
nunftgemäßen Begründung und Ausbildung aufdrängt. Anders
ist das Räsonnement, mit dem er die Aufnahme der Küchen-fl
meister, Mundschenken, Kämmerer und Schatzmeister in sein
System ablehnt, wenn man es auf seinen sachlichen Gehalt hin
betrachtet, nicht zu erklären. An sich bot die Vorstellung, welche
diemittelalterlichenGeisterinit dem himmlischen Reiche verbanden,
wie wir schon oben sahen, nur allzuviel Anlaß zu einem Bilde ver-
schwenderisch ausgestatteten Hofhalts. Und wir haben auch oben
bereits erwähnt, wie unser Meister auf der Spur des Hieronymus
gelegentlich dieser Vorstellung nachgab. Die späte Mutmaßung,
' Man wird nicht einwendeFi dürfen, daß XTilhelm hier dem öruck
der zeitgenössischen Verhähnisse nachgegeben habe. Mochten immerhin
die Träger der Französischen Krone gegen die Inhaber der großen Kron-^
ämter den Argwohn hegen, daß sie ihre Gewalt auf Kosten der Kronefl
zu vergrößern strebten; in einem Systeme vorbildUcher Sraatsordnung,
dessen Glieder aucb als von menschlichen Schwächen Frei zu denken
wären, hätten diese centra[en Verwaliungsämier um so mehr der Er-
wähnung bedurft, als die Übung der französischen Könige, sie interi-^
raistisch zu besetzen, deutlich genug ihre Notwendigkeit gerade für einfl
erstarkendes Köaigsium beweist. Cf. Luchaire» Alanuel 522ff. — * Wie™
diese sich gerade in jenem Zeitalter mächtig zu entfalten begannen, legt
an dem Beispiele Strasburgs dar: SchmolEer, Straßburgs Blüte im
Quellen u. Forschgn. z. Sprach- u, Culturgesch. Vi. bsdrs. 26 ff ,
105
daß die Engelklassen der Bibel eine Nachbildung persischer
Horstaatsordnung waren, ist auE derariige Vorstellungen zurück-
zuführen. Hier hätte also das Vorbild himmlischen Reiches
gerade zum Gegenteil der von Wilhelm vertretenen Anschauung
führen müssen. 'Wenn man nun sieht, wie gleichwohl Wilhelm
— und nicht ohne starke grundsätzliche Betonung — eben diese
Anschauung vertritt, so wird man zu dem Schluß kommen, daß
ihn dabei ein an Gewicht nicht ganz geringes Moment beein-
flußt haben muß. Und man wird dies Moment nicht etwa, wie
man versucht sein könnte, in den Verhältnissen seiner näheren
politischen Umgebung suchen dürfen. Wie lauteren und bis
zu franciskanischer Strenge mäüigen Lebens Ludwig IX. für
seine Person war,^ den groGen Prunk altfranzösischen Hof-
gesindes hielt er aufrecht wie ein JWerowijiger, Gerade die von
"Wilhelm besonders verworfenen Ämter der coqui und pincemae
standen an seinem Hofe, und nicht nur durch eine Rangstufe
vertreten, in höchster Blüte.^ Der umgebenden Welt Einfluß
also kann es nicht gewesen sein, der in Wilhelms Vorstellung
das Bild himmlischen Herrschaftsglanzes verdunkelt hat. Es
muß ein inneres Moment gewesen sein. Und war es. Wenn
"Wilhelm die Einrichtung des königlichen Kijchenmeister-j Mund-
schenken-, Kämmerer- und Schatzmeisteramtes als weder für
das Staatswohl nötig noch auch nur für dasselbe forderlich ver-
ivirft, sie lediglich auf die menschliche curiositas, voluplas,
avaritia zurückführend, und ihnen so eine Stelle in seinem
Staatsordnungsplane verweigert, so war das ihn dabei bewegende
JVloment hier eben die, unter antiker — und wie sich sogleich
erweisen wird, im besonderen platot^^sche^ — Einwirkutig aus der
Vernunft geschöpfte Vorstellung von einem bestregierten Staate,
die wir schon oben hei der Entfaltung des Fürstenideals wirk-
sam sahen. Daß dies der Fall ist, geht alsbald daraus hervor,
daß er selbst seinen Lehrmeister Plato zum Worte aufruft:
Tunc bene erat rebus humanis cum a deliciis et super-
fluis divitiis vanisque honoribus se Reges abstrahebant, et
sicut dicit Philosophus quidam, cum Philosophi regnabant
et reges philosophabantur. P. 964 col. 2E.
Das große platonische Ideal von dem unter den philo-
sophischen Regenten in seine drei Klassen geteilten vollkommenen
Staate scheint auf.^ Es erglänzt das Platonische:
' Ducourdray a. a. O.^ 4. Jourdain, Exoursions 528 ff. — ' Du-
courdray ibid., Luchaire, Manuel 552. — ^ Nohle, Staatslehre Piatos.
Jena 1830, passim. besonders lUS
106
'Eav fti] — ij Ol (fiX6(TO(poi /iaailEvatDaiv Iv taig iroX^^iv r^
ol ßaaikelg t£ vvv kfyö{iSvoi xßi ävvaarai q)iXoao(p^a<jjat
yvrjalws Tc v.al ly.avMe xä). zovto dg zavtbv ^viijzeaf] ävva^itc; te
7ioXiztv.i] xßi iptkoaofpla — ovk iazi Jtaxwv TcavXa raig hoXeoi,
öoyjft df ovÖ€ T((j äv&fftiniirrii yhet. Rep. V., p. 473.
Wenn man nun auch annehmen will, daß Wilhelm^ den
Vorstellungen einer über alle irdischen Einrichtungen hinaus voll-
kommenen himmlischen Staatsordnung hingegeben, nicht den
vollen Gehalt der platonischen Staatslehre mit ihren im Sinne
einer Verwirklichung sehr ernsthaft gemeinten Einzelheiten der
ganz göisiig orientierten Verfassung^ erschöpft hat, daß ihm
vielmehr ihr ganzes System nur als das schöne Bild einer das
tilmmUsche Vorbild erfüllenden entschwundenen Wirklichkeit
erschien, worauf die zeitliche Beziehung, in die er das platonische
Dictum setzt, deutet, so -wird man doch den lebendigen Einfluß
des platonischen Staatsplanes als eines geistigen Ganzen auf
Wilhelm nicht in Abrede stellen können. Allzu klangvoll, allzu
ge-wichtig tä\lt die Berufung auf die Zeit, cum Philosoph]
regnabant et Reges philosophabantur, als auf eine Zeit erwünschten
Erdenregimentes ein. Diese das Prinzip waltender Vernunft
zur Grundlage des Staatswesens erhebende, das ganze platonische
Staatsgebäude tragende Vorstellung wenigstens hat ihn tief ge-
troffen. Und aus ihr heraus und aus ihr genährt, versucht er
das ihm aus Dogmen und Traditionen übergelegte Staatsordnungs-
gefiige himmlischen Vorbildes zu durchdringen, zu durchbilden.
Und für dies Bestreben, dies Verlangen, in die vorgezeichnete
Reihe der Ordnungen den Geist gestaltender Vernunft hinein-
zutreiben, ist die obige Stelle ein lebhaftes Zeugnis. Und wie aus
ihr wird man aus vielen anderen, so namentlich der weiter oben
besprochenen über das Ideal des Fürsten den Schluß ziehen
können: daß, wenn ihm unter der Gewalt allegorischer Bindungen
und der Zwänge einer zum Dogma strebenden Analogie dieser
Geist erstickte, ohne daß er aus sich heraus und über fene Hem-
mungen hinaus ein selbständiges Staatsordnungsgebilde schaffen
konnte, eben darin doch sich seine lebhafte und vorwärtsstrebende
Macht bewährte, daß er von innen heraus den ihm übergelegten
Staatsbau mit dem Licht seiner Begründungen, dem Feuer seiner
Bildungen zu durchstrahlen trachtete: womit das in diesen Zeiten
immer häufiger wiederkehrende Bild eines seiner scholastischen
Hülle sich entringenden Geistes unmittelbarer neuzeitlicher
Lebenserfassuttg, Lebensdurchdringung bezeichnet wird.
Noble a. a. O., 34 IT., 113 IT., leSf.
lO?
»
S 21
EinHuÜ der weltlichen Staatsordnung Wilhelms auf die spätere
Literatur — Ägidius von Rom, De ecclesiasiica potesiate.
Bei allen neueren Schriftstellern, die sich mit der theo-
retischen Behandlung der SlaatsproWeme im Miitelfllter beschäf-
tigt haben» begegnen wir — wie schon wiederholt erwähnt —
der Auffassung, daß vor den Zeiten des Thomas der Versuch
eines ausgebildeten Staatsordnungssystems nicht gemacht worden
sei.' Allenfalls wird auf die merkwürdige Schrift des Johann
von Salisbury, die unter dem Bilde des menschlichen Körpers
eine völlige Staatsorganisation darzustellen unternimmt, ver'
"wiesen: und diese ist es auch, die über das Mittelalter hinaus
bis in die Zeiten der Aufklärung hinein die lebhaft benutzte
Quelle aller derer wurde, die sich ein Bild von der vor-
thomistischen Auffassung eines vollkommenen Staatswesens
machen wollten. Zu Unfecht. Denn von ihr 4us, die entsprechend
Ihrer frühen Entstehungszeit (1159 — 60) gegenüber der alle-
gorischen Anlehnung und Ausdeutung nur allzusehr den EinflJuQ
selbständig suchenden Geistes vermissen laßt, führt keine un-
mittelbare Brücke zu den philosophisch orientierten Systemen
der hohen Schule. Zu Unrecht ist der Name Wilhelms, der
auf anderen Gebieten, z. B. auf dem der Psychologie,^ ein immer
unvermindertes Ansehen genießt, auf den Tafeln der Staatswissen-
schaFt ausgelöscht. Er stellt — als der Ersten einer, der dem
platonischen den aristotelischen Geist einte und mit diesem neu-
geformten geistigen Machtmittel das ganze Gebiet ihm erreich-
liaren Wissens durchdrang — eine nähere, eine fast unmittelbar«
^Verbindung zum Gipfel der Schule, zu Themas, dar. Ja, über
diesen hinaus, und wo man dessen EinfluQ als den selbstver-
ständlich überlegenen vermutet, halt Wilhelm noch eine uu-
mittelbare innere Verbindung aufrecht. Gerade seine Abbildung
des Engelsregiments in einem weltlichen Staate, für die wir
jm Bezirke mittelalterlichen Schrifttums kein ihm adäquates
Analogon zu entdecken vermögen, bezeugt dies. Zwar hat
Thomas' bei Gelegenheit der Darstellung des von Pseudodionys
vnd Gregor für die Engel aufgestellten Stufensystems diesem
K
^ qf. Scholz 0. a. O., 117 et passim, Poole a. a. O., 216[f., 226 ff.
ourdatn, Excursions 530 ff . — ^ Baumgartner a. a.. O., 9{. Huit
a. a. O., 459[f. Schindele a. a. O., 9. Valois a. a. 0., 279ff. A. M.
de Wulf, Augustinisme et Aris totalis me au 13 siäcJe in Revue N€o-
«colastique ä acin^e p. 153. — ' Thomas Aquinas, Summa theol. P. I.
<^. 108. Art. 6. Concl.
108
eine aus menschlkhea Ordnung^verhältcissen herrührende innere
Begründung gegeben. Aber diese ist im groüen ganzen weniger
besonders gesellschaftlich, als allgemein geistig organisierend.
Nur an eituteln^n Stellen leckte der gesellschaftlich-staatliche
Ausdruck der Kräfteverteilung so sehr, da& Thotaas ihm nicht
'Widerstand und des Erdensfaats Parallele herbeizog. So belfl
den ersten drei Klassen und dem Principatus. Aber die Auf-
richtung eines Fortschreitenden Staatsplanes Für die Gemein-
schaFt der Engel fehlt. Hier behauptet trotz ihm, der im
einzelnen der systematischer Ergründende war, Wilhelm die
höchste Stelle der Entwicklung. Und sein Einfluß — über den
des Thomas hinaus — ist es, den wir noch an einer Stelle
wirksam'- glauben, die diese Einwirkung sowohl wegen der
Person als wegen der besonderen Umstände, auf die sie geübt
wurde, höchst bedeutsam erscheinen läßt. In seinem Traktate
De ecclesiastica potestate, der Grundlage der Bulle Unam
Sanctam' setzt Agidius von Rom, wie wir oben sahen, des Thomas
von Aquin bevorzugter Schüler," in dem Kapitel „Quare sunt duo
terreni gladii in Ecclesia et quomodo hi duo gladii sunt sumendi",
dem dreizehnten des zweiten Teils, das Schema einer vollkommenen
Staatsordnung auseinander, das sehr wesentlich von dem» das er
in seiner früheren Schrift De regimine principum auf aristo-
telisch-thomistischer Grundlage entworfen hat," abweicht. Dem,
der die weltliche, das Engelsregiment abbildende Staatsordnung
Wilhelms kennt, wird es kaum zweifelhaft sein, wo er die Quelle
dieses scheinbar originären Staatsordnungs planes, den Scholz
für dem Ägidius eigentümlich zu halten scheint,* zu suchen hat.
Wir lassen zunächst hier die Stelle nach dem Wortlaut des
noch ungedruckten iVlanuscriptes der Pariser Nationalbibliothek
Ms. lat. 4229 (olim Colbert 2402) fol. 33, 34^ folgen;
Advertendum it&que, quod angeli sibi invicem presunt
propter regimen universi, ut Universum sie regatur
gubemetur, quod electi salvi fiant. Si enim quis rex vellet'
regere aliquod regnum, primo essent illi, qui semper essent
circa regem et tales tripartiti essent, quia vel essent dilectlfl
et amici regis vel essent sapientes et assisterent regi vel
tercio essent, qui promulgarent aliis et publiearent ludicia et
CK
1 Scholz a. a. 0-, 124ff. Jourdain, Excursions I88ff. Fast wortHct^
damit übereinstLmmend Krauß a- a. O., 20 ff . — - Scholz a. a. O., 33.
Jourdain a. a. 0., 176, — ^Scholz a. a. O., 111. — ■> a. a. O., 111 n. 182 a.
— * Wir verdanken di« Mitteilung dieser Stelle der Liebenswürdigkeit
unseres gelehrten Freundes Dr- Mario Kratnmer, dem dafür unser«
verbindlichen Dank zu sagen uns an dieser Stelle vergönnt sei.
109
beneplacita regis, post illos essent illi, qui se inlromiiterent
de questionibus tocius regni, tercio essent illi, qui non de
loto regnOt sed de partibus regni se intromitterent. Eodem
eciam modo^ si rex vellet facere aliquod edifieium, primo
essent illi, qui semper assisterent regi, qui ut diximus, essent
tripartiti^ quia vel essent electi et amici regis vel [ersnt
amici] ^ regts sapienles vel essent regis iudicia et beneplacita
promulgantes; per hos ergo sciretur, quäle liedifLcium rex
vellet ßeri. Secundo essent illi, qui se intromitterent de tolo
hedificio, qui edam essent iriparlüi, quia vel boc facerent
precipiendo, quaiiter hedißcium ßat sJcut faciunt archJtectores
vel hoc agerent amminicula exhibendo^ ut hedificium pro-
moveatur vel impedimeata retnovendo, ne hedißcluin de-
trinientum paciatur. Tercio essent illi, qui non se intro-
mitterent de toto edificio, sed de partibus edlßcü, qui se
haberent sicut inferiores operarii et hü essent tripartlii, qui
aliqui facerent principaliores partes, ut illi qui conponerent
parietem vel tectum et aliqui operarentur particulares partes^
ut bii, qui dolarent lapides et ligtia et illi essent triparttti,
quia aliqui dolarent lapides maiores et ligna excelEenciora,
aliqui lapides minores et ligna minus excellencia.
Sic et in proposito in gubernacione mundi et in regimine
uoiversi aliqui sunt angeli quasi coniuncti Deo et in vestibulis
Dei scientes voluntatem eius, quaiiter vuU, quod Universum
regatur et illa est ierarchia prima, que continuit tres ordines:
Dilectos, sapientes et iudicia proFerentes. Dilecti sunt
Seraphim, sapientes Cherubim, iudicia proferentes Throni.
Inter angelos quidem plus est esse dilectum quam sapientem,
quia in dilectione est causa sciencie. Nam ex eo quod quis
est dilectus a Deo, ex hoc seit secreta Dei et plus est esse
sapientem quam iudicantem quia sciencia est causa iudicii,
ut unusquisque bene iudicat de hiis, que novit. Seraphim
itaque sunt supra Cherubim et Cherubim supra Thronos.
Seraphim ergo tanquam dilecti Dei et primo cognoscentes
secreta Dei, quaiiter Universum regi debeat» ut salventur
electi, de ilHs secretis illuminant Cherubim^ ut et ipsi dicantur
sapientes et scientes secreta Dei. Nam et Cherub sciens . . .'^
plenitudo sciencie interpretatur. Cherubim vero tarn illu-
minati per Seraphim et iam scientes secreta et iudicia Dei
illuminant Tbronos, ut ipsi iUa iudicia et illa secreta de
regimine universi annuncient aliis et illuminant alios. In
^ i; ] erant amici getilgt durch Striche. Offenbar ist auch das fol-
gende .regis' zu tilgen. — ^ z. T, getilel: iut ill* ^= unde ille?
L
110
Thronis ergo dicitur sedere Deus et in eis sua iudicla
proferre} quia iudicia Dei de regimine universi annuncrnnt
Tbroni inferioribus ierarchüs. Hoc est itaque ierarchia
prima hos tres ordines continens. ^M
SecuQds quidtm ierarchia e$l s« intromittsti» de ipsoV
generali regimine universi et hec continet tres ordines, quia
Uli qui presunt toti operi vel presunt precfpiendo, quatiter
omtiia fiant et iste sunt dominaciones a dominando dicte,^
quia dominantur et precipiunt, qualiter in hoc regimine omnii^P
fienda sunt, vel sie presunt toti operi adminicula exhibendo
et huius sunt virtutes, quibus tribuitur miracula facere in^
adminiculum gubernacionis mundi et salutls electormn. V(
sie presunt impedimenta removendo et iste sunt potestates"
cohercentes demones et potestates tenebrarum, ne impediatur
regimen uaiversi et ne temptent electos et universaliter
omnes homines ultra id quod possunt. Prima ergo ierarchia^
quantum ad regimen universi, sunt sicunt secrelarii et sicut
illi qui prius sciunt secreta Dei et eins iudicia. Secunda
vero Sunt quasi architectores, qui principalius se intermittunt
de regimine universi, Tercia quidem sunt quasi inferiores
operarii, quia sunt illi qui deputantur ad custodiendum partes
universi, sed huius partes vel est aliqua tota multitudo ut
aliqua tota provincia et isti sunt principatus, de quorum
numero erat princeps Persarum, qui preerat Persis, ut
habetur 1. Dan.'- vel princeps alius, qui preest alii genli.
Vel huius partes universi usu sunt multitudo vel provincia,
sed singulares partes, circa quas vel exercent que sunt
maiora, quod faciunt archangeli qui sunt principaliores nuncii
arcbos enim princeps, angelus vero nuncius interpretatur,
unde arcti angelus quasi princeps nuncius vel priucipalis
nuncius esse dicitur. Vel exercent que sunt minora et hoc
faciunt angell, qui sunt quasi simplices nuncü. Apparet ergo
ex dictis, quod omnes tres ierarchie celesüum spirituum ut
ierarchie sunt et ut sacri principatus sunt et omnes ordines
ibi existentes ordinati sunt et sibi invicem presunt ut requirit
regimen universi et salus electorum.
Schon der Eingang der Stelle, in dem die wechselweise
Überordnung der Engelsklassen aus dem allgemeinen Welt-
herrschaFtspriuzip, das durch sie als Vorbild für das
irdische Regiment dargestellt und vermittelt werden soll, ge*
rechtfertigt wird, erinnert an den von Wilhelm an die Spitze
* Entstellt. Die Stelle, welche in Betracht kommt, ist Dan.
11!
seines ganzen Sy^sCems gestellten Leits&tz, wonach die An-
ordnung des himmlischen Regimentes notwendig Für das wohl-
geordnete irdische exemplarisch sein müsse.' Was über Wilhelm
hinausgeht, ist vielleicht nur die von Agidius — wenn ich ihn
recht verstehe — der Engelsordnung subintelligierte Zweck-
bestimmung» als ein solches Vorbild für das Erdenregiment zu
dienen (während von Wilhelm diese Qualität nur als eine tat-
sächliche Eigtiung ihr zugeschrieben wird). Aber mit zwingender
Notwendigketr ergibt sich auch diese Abweichung nicht aus dem
Texte des Ägidius-
Der Gedanke des Eingangs wird dann noch einmal am
Schluß des Abschnitts aufgenommen. In starker Zusammen-
fassung wird die staatsmäßige Ordnung der Engel: als Hier-
archieen» als sacri principatus ausgerufen, ihre ganze Gliederung
als ein vorbildliches Genüge altwelllicher Regimentsbedürfnisse
angesprochen. Darin lebt von Wilhelmischem Geiste die aus-
drückliche, in so bandhaftem Ergreifen von niemandem sonst auf-
genommene und durchgeführte Beziehung von Himmels^ und Erden-
Staat.' Lassen sich einzelne Ausdrücke, so die sacri principatus,
durch eine Zurückführung auf die erste Quelle, des Pseudo-
dionysius Coelestis Hierarchia, erklären, das ganze ausgewirkte
Bild der Engelsstaatsordnungen hat nur ein völlig entsprechendes
Vorbild: des Wilhelm von Auvergne Gemälde von den die
Engelsklassen abbildenden irdischen Staatsgewalten. Nirgend
sonst ist in allen ihren Gliedern die himmlische Stufenfolge in
die Ordnung irdischer Gewalten übertragen, nirgend sonst jene
im ausgebreiteten Entwürfe staatlicher Gliederungen geschildert
worden. In solchem Unternehmen steht Wilhelm als Erster.
Der das gleiche nach ihm unternimmt, muD als sein Folger
gelten^ wo nicht sonderliche Meinung oder Darstellung seine
Eigentümlichkeit erweisen. Solches gilt nicht für Ägidius. Triebt
nur das Gesamtbild, auch die einzelne Ausführung und deutende
Meinung wiederholt das Wilhelmische Lehrbild. Wir lassen
unsern Blick auf den drei einleitenden Klassen ruhen und finden
sie bis auf den Wortlaut denen des Wilhelm ähnlich. Und hier
kann nicht etwa das gemeinsame Dionysische Vorbild die Über-
einstimmung erklären. Dieser hat die weltliche Ausdeutung in
die dreigeteilte königliche Umgebung, in Amici bzw. Delecti, in
Sapientes und ludlces nicht. Ebensowenig darf der Aquinat hier
als Quelle gelten, fa nicht -einmal als Vermittler Wilhelmischer
= Siehe oben S. 65 ff. — ' Selbst der Lombarde, der am eingehendslen
vor \FUhelm den sachlichen Gehalt des Engelsreiches auseinandergesetzt
hat, hat sie nicitt. Sentent. IIb. II dist. 9B. Über Thomas s. oben S. 107/8.
112
Lehre. Sind seine drei ersten Klassen auch dem Erdenstaat
angenähert, so entbehren sie doch des knapfien, politisch-präcisen
Ausdrucks, der Tür das WÜhelmische System so bezeichnend
ist und, beim Ägidius wiederkehrend, sogleich die Erinnerung
an jenes wachruft. (Im einzelnen mögen natürlich bler auch
Einflüsse des Thomas obgewaltet haben, obwohl nicht einmal
die Reihenfolge der drei ersten Klassen mit der des Ägidius
übereinstimmt.) Was einzig beim Ägidius über Wilhelm hinaus-
geht, ist die Auffassung der dritten Stufe, die bei Wilhelm als
ein Stand freier Richter — denen aber auch das Amt der Gesetz-
gebung obliegt^ — erscheint, die beim Ägidius aber nur als —
Organ zur Verkündung der königlichen Sentenzen und Gesetzes- fl
erlasse auftritt. Man wird darin vielleicht die Wirkung der in-
zwischen verlaufenen geschichtlichen Entwicklung erblicken
dürfen, die mehr und mehr alle Zweige staatlicher Verwaltung
dem einen Stamme königlicher Macht aufpfropfte.'
Man wird vielleicht darin aber auch nichts weiter zu sehen
haben, als eine Umbiegung des Wilhelmischen Gedankens zur
Annäherung an die seltsame Allegorie, die Ägidius nun aller-
dings als ein Gebilde eigentümlicher Findung mitten unter die
Gebilde des Wilhelmiscbeo Staatsplanes stürzt. Diese Findung,
die seltsame Sicht des Stäatsgebäudes als eines wirklich von
I
*p. 973C&I. 2. C. — ^ S. Ducaurdray H. a.O., BIfF. Auf die inzwischen
fast scliOEi vollzogene Entwicktung des feudalen Gemeinwesens zum Beamten-
Staate neuzeitlicher Observanz weistauch die Bezeichnung hin, mlCderÄgtdius
die erste Hierarchie als sicut secretarii anspricht; ganz besonders, indem
er dieser Bezeichnung als Begründung ihr Amt der Cesamtstaatsverwaliung
beiFijgL Man wird sich erinnern müssen, wie noch nicht zwei Jahrzehnte
später die unmitlelbacen königlichen Notare diesen Titel, der ohne gesetz-
liehe Festlegung im ganzen Mittelalter vorkommt, offiziell annahmen, sie,. J
die des Königs nächste GehilFen bei der Gesamlstaats Verwaltung, von '
Anfang an, dadurch, daß sie an seinen Beratungen teilnahmen^ in der
Entwicklung zu den eigentlichen Leitern dieser Verwaltung standen. Diese
Entwicklung hat noch im ersten, Fast noch im vorbereitenden Stadium
Ägidius erkannt und begrifflich festgelegt. Man wird annehmen können,
daß er, so nahe dem französischen Throninhaber, selbst nicht ohne
Einfluß auf sie gewesen ist, ein seltener Fall In dieser frühen Zeit, daß
StaaCscheorie und Verwaltung in enger Fühlung miteinander standen.
Vgl. Luchaire, Historie des Instif. etc. 1, 196f., [dem, Manuel, 534,
Viollet a. a, O. II, HOf. — Es muß hier noch angemerkt werden, daß
zur Einfügung des Begriffs „secretarii' vielleicht noch ein näherer,
ein eigentlich scholastischer Grund mitgewirkt hat. Thomas schon weist
der iweiten Klasse der Engel das „divina secreta cognoscere" zu; vön
da her lag für den römischen Publizisten eine Beziehung suf des
Königs vertraute Geheimschreiher nicht fem. Bei Thomas selbst ist
ausdrücklich nicht ausgesprochen.
113
einem König auf^uFührenden Baues — als solche nicht entfernt
von derjenigen, die den Staat als einen selbständigen Körper
erscheinen laßt (Johannes v, Salesbury, Poticraticus) — verlangt
zu ihrer vollkommenen Aüsgesraliung die Ableitung und Üher-
führung des königlichen Bauwillens, der in der ersten Hierarchie
festgestellt wird, durch eine Stufe von Verkündern dieses Willens
zu den eigentlichen Ausführern und Handwerkern der zweiten
bzw. dritten Hierarchie. Darin also und überall sonst, wo den
Ägidius die Vorstellung dieser seinen ganzen Staatsplan durch-
setzenden Allegorie beherrscht, weicht er von Wilhelm ab. Er
bleibt ihm aber trotzdem nah genug und verrät immer auFs neue
den Einfluß, dem er unterlag. So bewahrt er bei der Betrachtung
der Rangfolge der ersten drei Ordnungen deutlich, wie schon oben
S. 76 n. 2. angedeutet, den Wilhelmischen Versuch einerinneren
Begründung dieser Folge. Es ist bereits dort betont worden,
wie er sich müht, diesen vollkommen in einer Ableitung des
tudicium aus der sapientia und der sapientia aus dem Dilectum
esse a Deo zu logtsieren, dabei aber doch den Boden einer
ftl lesbegründenden Mystik, die aus der Gottesminne die Er-
kenntnis entstehen läßt, nicht verlassen kann. Auch hier ist
der nähere Einfluß des Thomas gewiß nicht zu übersehen.
Aber die Art der Digression ist, sowohl was ihre Einfügung in
die Gesamtstelle, als auch besonders was ihre, an Thomas ge-
messen, mehr handgreifliche als spirituelle Beweisführung
angeht, dem Pariser Meister verwandter als dem Engel der
Schule. Dieser Versuch, eine eigentlich dogmatisch gemeinte
Ordnung bei ihrer Übersetzung ins Politische auf den Grund
einer für dieses zulänglichen Sachbegründung zu stellen, ist
ein charakteristisches Glied weiter in der Kette, die den inneren
Zusammenhang der Engel sstaatsbll der des Wilhelm und des
Ägidius bezeichnet.
Der fernere Gehalt dieses Bildes, die zweite und dritte
Hierarchie, erscheint beim Ägidius wieder den Bildungen des
Wilhelmischen Planes ferner. Hier hat Ägidius in einem kühnen
Wurf, die allzu nahe Abhängigkeit von den Engelsnamen ver-
meidend, eine nur noch ihre Gliederung wiedergebende innere
Systematisierung gewagt. Man wird nicht fehlgehen, diesen
Versuch auf den unmittelbaren EinfluG des Thomas zurück-
zuführen, der an Stelle einer der Engelshierarchie nahe
folgenden staatlichen Organisation vielmehr ein jene um-
spannendes, allgemein geistig orientiertes System aufgestellt hat.
Die Systematisierung des Ägidius nun, dieses ins Politische
Übersetzend, geht dahin, der zweiten Hierarchie die Sorge für
8
114
dB5 Regiment des gesamten Staatswesens der dritten die Für
einzelne Teile desselben zuzuweisen. Obwohl das Einander-
durchdringen theologischer, politischer und nun auch noch
allegorischer Motive (vom Bilde des Bauwerks her) beim Ägidius
die deutliche Ausbildung und Durchsicht seines Planes behindert,
scheint es doch, als ob er mit dieser Teilung ein Etwas wie
centrale und provinziale Verwaltung habe in Gegensatz stellen
wollen: nur zu begreiflich bei einem Manne, der nicht nur als
Erzieher, nein auch durch Freundschaft Philipp dem Schönen
nahe verbunden war,^ Man wird also auch hier die Abweichung
des Ägidius von Wilhelm auf jn der Zwischenzeit hervor-
getretene — und zwar hier zwiefache — Einwirkungen zurück-
führen können.
Die einzelnen Glieder der zweiten und dritten Hierarchie
lassen nicht so völlig, wie ihr Gesamtbild, den Zusammenhang
mit Wilhelm vermissen. Wir bemerken zwar eine Umstellung
der Klassen, insoiern die Virlutes mit den Principatus die Stufe
vertauscht haben (eine alte Meinung, die hier, in der Gefolg-
schaft des Thomas, wohl nur aus Gründen des Systems wieder
aufgenommen wurde), auch eine Abwendung von dem Wilhelmi-
scben Vorbilde in der die zweite und dritte Hierarchie zum
Schaden des eigentlichen Staatsplanes fast vollkommen be-
herrschenden Allegorie vom Bauwerk, im Einzelnen aber doch
auch wieder Anklänge bei der Ausdeutung der Klassen, die
freilich nicht durchgehends ausschließlich die Erinnerung an
Wilhelm, sondern auch zuweilen die an den frühen athenischen
Meister wachrufen, die aber doch wenigstens bei den Principatus
die Verwandtschaft mit des Wilhelm Praesides Provinciae (über
die andeutende Vorstellung derselben bei Thomas hinaus) und
bei den Archangeli und Angeli mit des Wilhelm Nuncii maiores
und minores nicht übersehen lassen.
Aber es soll auf diese fernen und abgeschwächten Überein-
stimmungen hier kein Wert gelegt, nur das auffallende und in
seiner Wucht überzeugende Zusammentreffen der beiden Schriften
in ihrer grundlegenden Anschauung, in ihrer ausdrücklichen
und vollständigen Übertragung der Gesamtorganisatioo der Engel
ins Irdische und ihrer Darstellung der drei ersten Klassen
urgiert werden. Dieses Zusammentreffen Bndet, wie im Einzelnen
dargelegt, in der Zurückfuhrung auf die Beiden gemeinsame
Quelle, die Coelestis Hierarchia des Pseudodionys, ebensowenig
eine ausreichende Erklärung, wie etwa in der Annahme einer
■ Scholz a.a.O. 38,
MS
Vermittlung durch Thomas von Aquin. weist vielmehr auf eine
unmittelbare Abhängigkeit und Beeinflussung des Agidius von
unserem Meister bin.
Eine solche Beeinflussung ist auch nach den äußeren Um-
ständen nur zu natürlich. Wilhelm von Auvergne, um die Mitte
des Jahrhunderts der gefeierte Lehrer der Pariser Universilät,
BisctioF von Paris und Berater so der französischen Krone wie
des römischen Stuhls, mußte für den kaum ein Menschenalter
nach-ihm lebenden, in Franlcreich erzogenen' und wie er ebenso
der Kurie "wie dem Thron von Frankreich nahestehenden Erz-
bischof von Bourges eine nur zu vertraute und willkommene
Quelle für seine publizistischen Aufstellungen sein. Und es
ist überhaupt nur aus dem Umstände, daß Wilhelms Name so
völlig aus dem Gedächtnis der Staatsgeschichtschreiber getilgt
worden ist, zu erklären, daß auf diese sicheren Zusammen-
hange nicht früher hingewiesen, nicht häufiger zurückgegriffen
Orden ist.-
S 32
Geistliche Hierarchie.
Es Ist oben erörtert worden, einen um wieviel breiteren
Raum, ein um wieviel stärkeres Gewicht die Abbildung des
himmlischen Regimentes in der weltlichen Ordnung gegenüber
derjenigen in der kirchlichen bei unserem Meister in Anspruch
nimmt. Auch die Gründe dafür wurden oben auseinandergelegt.
Sie führen auf den Gegensatz der einen irdisch-vollkommenen
Kirche und der Vielheit weltlicher Regimente, die die Setzung
eines einheitlichen Paradigms erfordert. Indem dieses den
staatstheoreiisierenden Tendenzen des Meisters Raum gibt, hält
der Rahmen der kirchlichen Ordnung das Abbild der himm-
lischen in seinen positiven Grenzen fest und läßt slaatstheoretische
Divagationen über diese hinaus nur in sehr beschränktem Um-
fange zu.
Es wird dem Papste, indem er als das irdische Abbild des
himmlischen Königs angesehen wird, in dessen Stellvertretung
^P » Dupuy, histoire du diffärend d'enlre le pape Boniface VIII et
Philippe le Bei, roy de France. Paris E655, I. 2. 76. — - Dies bleibt
eine Bemerkung, der die Staatsgeschichtschreibung iri Hinsicht der von
ihr völlig unberücksichtigt gelassenen theoretischen Literaiur vor Thomas
nz allgemeia unterliegt.
8*
ihm kirchliches wie weltliches Regiment gleichmäßig zusteht,^
als das Abbild der drei obersten Himmelsordnungen Seraphim,
Cherubim, Throni der Cardinalat der römischen Kirche t>sacer
coetus Cardinalmm" nachgeordnet, ohne daO indes die himm-
lische Dreiteilung der obersten Hierarchie in der irdischen hier
anders als durch eine Schilderung der dem einzelnen Ordo nach
seinen) himmlischen Vorbilde zukommenden besonderen Tugend
durchgeführt würde.''
Es werden dem ersten Cardinalsordo als dem den Seraphim
entsprechenden die amore Creatoris ferventissimi et totaliter
ardenies, dem zweiten^ den Cherubim entsprechenden, die
Sapientissimi et in rebus dtvinalibus eruditissimi, dem dritten,
den Throni oder sedes entsprechenden^ diefenlgen als Glieder
zugeschrieben^ qui et jura spiritualia et teges Ecclesiasticas sivc
Clericales ad perfectum noverint et iura reddant petentibus.
Man wird in diesen — nur beim zweiten und dritten Stande
deutlicheren — Umschreibungen kaum die Gliederung, die dem
cardinalicischen Ordo im dreizehnten Jahrhundert zukommt,
wiedererkennen. Vielleicht lag eine solche Beziehung der himm-
lischen auf die einzelnen Cardinalsklassen auch gar nicht in der
Absicht des Meisters. Nur in einer entfernten Angleichung ■wird
man vom dritten, dem Stande der das geistliche Recht Ver-
waltenden, her einen Versuch machen können, die einzelnen
Ordnungen zu bestimmen, indem man diesen notdürftig auf die
CardinalbischÖFe, insofern sie die geistlichen Richter ihrer Sub-
urbikardiözese waren, wird deuten, in den Sapientissimi et
in rebus divinalibus Eruditissimi aber die Cardinal diahonen
und endlich in den Gottminnenden die Cardinalpresbyter
wird erblicken dürfen." Es muß aber betont werden, daü
in hezug auf die Verwaltung der Gesamtkirche in diesen Zeiten
das CardinalscoHeg noch durchaus als eine Einheit, nicht als
ein in coordinierte Ämter geschiedener BehÖrdencrganismus
handelt.*
Das Cardinalscotleg wird als das Organ bezeichnet, dessen
der geistliche Staat — als solcher wird die Kirche geradezu
' Dmnit scheint der sonst den staatlichen Interessen weit geneigtere
Meister noch über das hinauszugehen, iva& in dem erbinerten Streite
beider Gewahen später Ägidtus als das Recbt der Kirche vindiziert. Vgl.
Scholz a. a, O-, 48, 50ff,, ßO, 96fr. — " P, 965 col. ICD. — » Säg-
müller, Tätigkeit und Stellung der Kardinäle bis Papst Bonifaztus VIII.
Freiburg 1896. 177ff. Vg], Werminghoff, Geschichte der Kirchen-
verfassung Deutschlands im Mittelalter, Hannover 1905. I> 129ff. — * Säg-
müller a. a. O., 46ff., 90ff., 100, 101.
117
angesprochen^ — und seine Verwaltung dringend bedarf,
ist dies die einzige Stelle, an der die kirchliche Organi-
'sation als solche in die Erörterung gezogen, ihr Rahmen nicht
als ein traditionell feststehender hingenommen, sondern noch
ausdrücklich begründet wird. Die Ursache ist, daO von allen
kirchlichen Magistraturen einzig noch der Cardinalat, als die
jüngste von ihnen, im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts nicht
seine endgültige AbschlieOung erfahren, sondern, was seine
Stellung als kirchlicher Ordo überhaupt wie seine Machtbefug-
nisse anginge sich noch durchaus im Fluß der Entwicklung be-
fand.'' Noch traten Strebungen hervor, die dem Cardinalate
sogar vor dem Heiligen Stuhle selbst Geltung zu schaffen ver-
suchten,^ und auf der anderen Seite fehlte es nicht an Stimmen,
die dem Cardinal scolleg jede Einwirkung auf die Verwaltung der
kirche absprechen mochten.* An dieser Stelle allein innerhalb
]er kirchlichen Hierarchie vermag der Geist, den Wilhelm aus
dett himmlischen Ordnungen liest, seinen EinßuD zu üben. Er
hilft dazu, die letzten, noch nicht gutti. festen Steine dem sonst
unantastbar festgestellten Kirchenbau tiefer einztiFügen, indem
er ihre Notwendigkeit aus dem himmlischen Vorbild erweist.
Und da einmal zur Begründung geschritten ist, fehlt es bald
auch nicht an Kritik: das kirchenpolitische Problem des Cardi-
nalats i>tfnet sich nach allen Seiten, und dem an der Himmels-
hierarchie orientierten theologischen Geiste gesellt sich ein
politisch theoretisierender, der seine rechte Auswirkung in der zeit-
genössischen Publizistik erfahren hat.'^ Es wird die Gefährdung,
ja die völlige Zerstörung der Kirche vorhergesagt, wenn sich
Stelle jenes Collegs von Gottminnenden, Weisen, Rechts-
^"kundigen und Gerechten ein solches aus GottesFeindeD, Narren
uud unwissenden Rechtsverdrehern setzen sollte. Ein solches
Colleg wird als die „Antihierarchia Ecctesiastica mallgnantium'
und die „Synagoga Satanae** ausgerufen. IWan wird nicht fehl-
gehen, wenn man damit die Überheblichkeiten eines sich der Herr-
schaft des Papstes entziehenden, seine Unbotmäßigkeir, ja seine
PrSpotenz vor dem Papst verfolgenden Collegs getrotfen meint,
wie es an solchen seit den Tagen Gregors VII. von Zeit zu Zeit
Dicht gefehlt hat, und wie sie gerade die Feindschaft Friedrichs II.
egen die Curie lebhaft ermunterte.^
' P. 965 col. 1 D- et Scho]2 a.a.O., 60,— " Sägmüller a. s. 0.,
ZtOetpassim. — Md. a. a, O., SlStf-, besonder? 233^ 235fF, — Md. a.a.O.,
ailff. - ^ SaRmuller a. a. 0., 242, — -^ P. 965 col. 1 D col. 2 A. —
Scholz a. a. C, S, 190. Sägmüller «. a. O-, 234[F.
118
An die Cardinalshierarchle 'werden als vierter, den Domt-
nationes entsprechender Ordo die Patriarchen oder Primaten
angeschlossen; ihnen folgen auf einer Stufe mit den Principatus
als fünfte Klasse die Er^bischÖfe: beide ohne nähere Aus-
führung. Den sechsten, mit den Potestates gleichlaufenden Ordo
bilden die Bischöfe, deren Gleichstellung mit jener Ordnung der
kriegerischen Engel, noch besonders gerechtfertigt wird durch
die ihnen zugewiesene Aufgabe.
exercitus spiritualis regere legiones, ducere spirituales
acies, ordinäre atque instruere militiara spiritualem seu
docere, ^
-wozu dann noch außer der eigentlichen Fuhrung und Anleitung
der geistlichen Heerschar die Lehre und schriftliche Verbreitung
der geistlichen Kriegskunst, die Aufzeigung der gegnerischen
Streitkräfte und Machenschaften, sowie die Zurüstung und Ver-
teilung der geistlichen Waffen gehört, als deren hauptsäch-
lichste, die eigentliche Webre des Christen, das vom Bischof
zu spendende Conßrmationssakrament durch das Dogma be-
zeichnet wird.
Es ist hier die Vorstellung von der christlichen Ge-
meinschaft als dem streitbaren Heere Christi in ihrem historisch
ehrwiirdigsteoj dogmatisch centralen Gliede durchgeführt. In
dieser Annäherung und Hineindeutung in die himmlisch paraUele
Ordnung ist zwar der mystische und kultische Kern seines
Amtes untergegangen j aber im Geiste Wilhelms und seiner Zeit-
genossen, unter den unaufhörlich heranflutenden häretischen
Seelen, mußte die Gemeinschaft der Kirche bald als nicht viel
mehr denn als Streitgenossenschaft für den Glauben, der Bischof
— wie oft mochte Wilhelm, der Bischof von Paris, es empfunden
haben! — als ihr Heerführer und die Heiligtümer der Kirche,
besonders die Sakramente, als ihre beste Wehr und Waffe er-
scheinen.
Den Bischöfen folgen als siebenter, den Virtutes ent-
sprechender, Ordo die Archidiakonen. Während im weltlichen
Regiment die den Virtutes als Strafengeln einwohnende Eignung
in den Centuriones als bürgerliche Voltstreckungsgewalt wider-
schien, nimmt hier der Charakter der siebenten Klasse als
irdischen Ausdruck: die Richtergewalt selbst an, die den Archi-
diakonen zustand.^ Man sieht, wie weit und tndecis im Grunde
der in die Engelsordnung hineingetragene staatsrechtliche Begriff
' P. 965 col. 2 B. —
Schröder a, a, 0„ 59S.
P.965ccil,2A. WerminghQff a. a. O., 79.
war, daß er in zwei so getrennten irdischen Bea raten gruppen
sein Paradigm ßnden konnte. Man sieht aber auch, wie wenig
Wilhelm gegenüber der positiven kirchlichen Ämterfolge der
himmlischen Ordnung Raum gibt, während er die wellliche,
' wenn nicht au$»chIieDlicb, so doch hauptsächlich, nach ihren
I Einflüssen bewegte.
fArchangeit und Angeli, die achte und neunte Ordnung, er-
scheinen in den Archipreshytern und Presbytern widergespiegelt.
Die innere Beziehung der beiden Systeme ist in diesen Ordnungen
deutlich: Auch die Priester sind, wie die Engeisboten, Künder
des göttlichen Worts an die Gemeinde.-'- Die Auszeichnung der
Erzpriester vor den Priestern aber besteht nicht so sehr wie
^^ hei den himmlischen Ordines in der besonderen Weihe der
^■dhnen anvertrauten Heilsbotschaften - — alle, Archipresbyter und
Presbyter haben unuiitcr$chieden das eine und einheitliche
göttliche Wort zu verkünden — , als vielmehr in der eigentlich
hierarchischen Überordnung, die ihnen eine Aufsjchts&teüung
über die Presbyter gab. = Man sieht abermals vor dem unan-
lastbareo Gefüge der irdischen Kirche das Erfordern der himm-
lischen Ordnung weichen. Die innere, geistige Höhung eines
Ordo über den andern zum Ausdruck zu bringen, hätte hier
die Nachfolge der himmlischen Hierarchie antreiben müssen;
> der scholastische Geist genügte sich damit, aus Reihenfolge und
Anklang eine äußerlich scheinbare Übereinstimmung der Ordines
U zu schaffen.
^B Immerhin war in der kirchlichen Hierarchie eine durch
^'vlie Aufgabe der Vermittlung der göttlichen Gnaden bestimmte
innere Gliederung vorhanden, welche, indem sie einer späten
Beeinflussung durch die himmlische Ordnung widerstand, von
vornhei'ein so viel von ihrem Geist enthielt, daO sich in einer
größeren Anzahl ihrer Klassen ohne Zwang das Abbild der
himmlischen Ordnung auffinden ließ.
I
'Nicht den geringsten Teil der Ausführungen des IVleisters
nimmt die an die irdisch-weltliche Klassenfolge geknüpfte Unter-
suchung über die Amter der einzelnen Klassen und deren Ver-
"valtung als ein Abbild der den Engeln übertragenen Ämter und
ihrer Verwaltung in Anspruch. Einige der wesentlicheren Ge-
sichtspunkte dieser Untersuchung, die 2um Verständnis der
^ P. 965 col. 2A. — » WerminghofF a.a.O., 78.
120
Klassengliederung erforderlich waren, sind schon ohen ange-
deutet worden. Gleichwohl verlohnte es sich, eine erschöpfende
Behandlung des Problems der weltlichen Verwaltung, wie es
Wilhelm in Anlehnung an die sozial ausgedeutete Himmels-
hierarchie, gleichmäßig beeinflußt von moralisch-dogmatischen
und den Theoremen platonischer und aristotelischer Observanz,
auffaßte, zu versuchen. Hier aber verbietet ebensosehr die
innere Bestimmung als die äußere Begrenzung der Schrift ein
solches Unternehmen.
CHINA UND DAS
ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT.'
Von FRIEDRICH ANDREAE.
I.
Seit den Tagen, da das Buch des venezianischen Edlen
Marco Polo mit der Beschreibung seiner an Wundern so
reichen Reise durch das östliche Asien ( 1 271 — 1205) die
Gemüter des gesamten kultivierten Europa in das äuQerste
Erstaunen, in die äußerste Erregung versetzte, hat der Strom,
[der immer neue, immer deutlichere Kunde von den Küsten des
Stillen Meeres zu den Völkern im fernen Westen herühertrug,
der, immer wachsend, immer mächtiger anschwellend, das euro-
päische Leben überflutete mit den begeisterten Schilderungen
entzückter Reisender, mit den Fdbelhaften Nachrichten von dem
uralten Staatswesen der großen Könige voti Sina, das inmitten
[seiner ererbten Bräuche, seiner sorg^ltig festgelegten, peinlich
genau beobachteten Lebens- und Sittengesetze greis und starr
geworden war, bis auf unsere Zeit nicht mehr gestockt.^
I Marco Polos Werk von den Wundern der Welt, deHen
Lektüre den Umschau haltenden Leser ohne weiteres zu den
Schriften eines grÖQeren Vorgängers, zu den mit den Namen
der neun Musen geschmückten Geschichten des Herodot, führen
wird, hat auch darin des Halikarnassiers Geachick geteilt, daß
niemand ihm glauben wollte, ja, daß man es rund hundert Jahre
später über der Mandevilleschen FäUchung,'^ die bereits im fUnf-
■de:
'■ Diese Arbeit gebt in mehr denn einer ße/lehunK Mit Ant tnunntn
rück, die icb von meinem Pr^u^dc frit^ Wolter» tm^Mfifr riini, iriwj«
den Herren Hugo Bieber, Kurt Oroba, VrUt Kamm'-iri, i ml i-rtn^icn
und Richard Koebner, die mich bei der Sammliin); licn /yiaierinlFi nnlsf
stützten, sagt ich bier meineo Dank. ~ ■ V|] Cordler: fllhllolhBCt
Stdica. Dictionnsire blblic^aplilque des nitvraieii chlnnh. 2 vnli. av,
SUppl^m Paris 1879—1805. - > BnvcniChen: Johann vi/n Mind«v|||f
nach den Quellen seiner Rcj«ch«!>c:)irclhiififf. /«Itachr d^ QtWttKh, fDr
Erdkunde zu Berlia IS8S, XXIII, .10.% JHI.
122
zehnten Jahrhundert in acht europäischen Sprachen verbreitet
war, fast vergessen hatte. ^
Indessen fanden die Portugiesen^ die seit der Entdeckung
des Seeweges nach Ostindien (I49S) zur Gründung ihrer Kolonien
in Ostasien gelangt waren, viele von den Angaben des Venezianers
bestätigt, und Albuquerque, der zweite der glorreichen Vize-
Jtönige des neugegriindeten Kolonialreiches, bezog sich in seinen
Berichten an den portugiesischen Hof mehrfach auf Marco Polos
Buch.* Infolgedessen ward auf König Enianuels (14fl5 — lS2t)
Befehl ein portugiesisches Geschwader nach China entsandt,
das 1517 Malakka verlieO und einen für den Hof von Peking
bestimmten Gesandten an Bord führte.*
Diese Gesandtschaft des Galeotto Pereira^ eroITnet die
lange Reihe von chinesischen Gesandtschaftsreisen und Gesandt-
schaftsberichten der Europäer in der neueren Zeit,^ die nament-
lich seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts immer
bäuliger werden und neben den katholischen Missionsberichten
die wesentlichsten Quellen für die Kenntnisse von China im
achtzehnten Jahrhundert bilden."
■ Ebd. 1&4, Anm. I. — Cordier Bibt. Sin. 11^ 943ff. — "■ Raynat;
Hisfoire philosophique et policique des Etablissements et du commerce des
Europ6ens dans les deux Indes. Paris 1781, 1, I4l. — '^ Schäfer, Ge-
schichte von Portugal lll, Hamburg 1S50, 296ff. - '' Cordier Eibl. Sin.
II, 971» bei Schäfer III, 299 wird er Thom6 Pires, bei de Guignes:
Voyages ä Peking, Manilla er Tile de France (HS*— ISOO)) Paris 1807,
I]I, 154, Thomas Pereira genannt. — * Über die Kunde von China
im Altertum urd vor Marco Polo vgl. Cordier Bibl. Sin. II, 676ff.;
hier kommen vor allem arabische Reiseberichte in Befrachte denen
wir wie für Osteuropa ^vg]. Theodor Schiemann; Rußland, Polen und
Livland bis ins siebzehnte Jahrhundert, Berlin 1S86, I, 33ff.. 3S3ffO
so auch Fijr China die frühesten ausführlichen Nachrichten verdanken. Sie
wurden 1718 von Abbe Renaudot in Paris herausgegeben. — "■ Bei
de Guignes, einem der ersten Begründer der mit zureichenderen
Mitteln arbeitenden neuen Wissenschaft von der Erforschung Chinas
(vgl. Cordier: Fragments d'une histoire des etudes chinoises au
XVIlIi&me siäcle im Cent6nairede l'Scole des Jangues orientalcs Vivantes,
Paris [895, 224), landet sich eine allerdings nicht zuverlässige und un-
vollständige Zusammenstellung der Gesandtschaftsreisen (Voyages 111,
151 ff.) s. a. ähnlich: John Barrows Reisen durch China (1793—1794),
deutsch V. Hiittner, in der Bibliothek der neuesten und interessantesten
Reisebeschreibungen XXlll, XXIV, Wien 1805, XXIII, 5ff.; zur Ergänzung
vgl. Cordier Bibl. Sin. passim. Die wichtigsten der Gesandtschafts-
reisen im 17, Jahrhundert sind die drei holIämJischenr 1. Die Gesandt-
schaft der ostindischen Gesellschaft in den vereinigten Niederländern
an den lanarischen Chan und nunmehr auch sinischen Kaiser, ver-
richtet durch die Herren Peier de Goiern und Jacob Kaisern usw.
<1655— 1657> beschrieben durch Herrn Jakgb Neuhof. Amsterdam
123
Als Nebenbuhler der Portugiesen, die sich {seit 1557) in
M^cao festgesetzt hatten/ traten bald darauF die Holländer auf:
in Indien schon seit dem letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahr-
hunderts,' in China vor allem, nachdem sie 1662 Formosa, den
wichtigsten Stützpunkt ihres Handels mit Japan, den sie fast
fünfzig Jahre in Besitz gehabt, endgültig verloren hatten." Mit
ihnen oder bald nach ihnen erschienen spanische^ französische,
britische, schwedische, dänische und endlich auch preul3ische
Schiffe von der Emdener Kompagnie in den asiatischen Gewässern.
Es kann keineswegs die Absicht sein, an dieser Stelle auf
die Geschichte de$ überseeischen Handels der Europäer mit
China einzugehen,^ ebenso wie der Handel mit Rußland, dessen
1966, 1660^. 2. Gedenkwürdige Verrichtung d<r niederländischen Ge-
sellschaft in das Kaiserreich Taising oder Sina durch i]ire zweite Ge-
sandtschaft ausgeführt durch Johan v»n Kampen und KQnstantin Nobel
<ie62— 1663), Amsterdam 1676, 3. Die dritte Gesandtschaft an den
Kaiser von Sina oder Tatsing vorrichtet auf Befehl (ies hohen indischen
Eaths von Batavia (1666—1668) durch den edlen Herrn Peter van Hoorn
ebd. Im 18, Jahrhundert; 1. vgn Holländern; Van Braara Houkgeest:
"Voyage de l'ambassadeur de la Compagnie des Indes orientales vers
l'empereHF de la Chine <1794— 1VÖ5} pubJie par L. Moreau et de St. Möry,
2 vols., Philadelphia (1797—1798), deutsche Übersetzung, Leipzig 1798,
2 Bde. 2. Von Ei^gländern: Anderson: Reise der britischen Gesandlschaft
nach China (1792—1794), aus dem Englischen v. Sprenget. Halle I7Q6.
Siountoüi Reise der britiscben Gesandtschaft unter Lord Macartney in
Sprengel; Auswahl der besten ausländischen geographischen staiistischeR
Nachrichten usw. Halle 1789 XI. Hüttner: Nachricht von der britiscben
Gesandtschaftsreise, Berlin 1797 und Barrow: s.o. 3. Von Russen:
Adam Brands neuverniehrte Beschreibung seiner großen chinesischen
Reise 1692, Lübeck 1734' (mit C. Issbrants Edes zum Teil identisch).
Dreiiährige Reise nach China von Moskau ab zu Lande usw., gechan
durch den moskowitischen Abgesandten. Herrn C. Issbrants Ides, aus
dem Holländischen. Frankfurts. M. 1707. Unverzagt: Die Gesandtschaft
Ihrer kaiserlichen Majestät von Groß-Ruliland an den chinesischen Kaiser
(1719). Lübeck 1727, Vgl. a. Beschreibung des solennen Einzugs und
Audienz des m&skowitischen Gesandten bey dem Könige von China 1693.
Lünig: Theairum cereinoniale potiticum. Leipzig 1710, 1,769. Journal de
fa r^sidence du Sieur Lange, agent de Sa maiest^ imperiale de la Grande
Russie fi la cour de la Chine (1721—1732), Leyden 1726. Pallas:
Tagebuch zwoer Reisen, welche in den Jahren 1727, 1728 und 1736 . ..
nach Pecking gethan wurden, von Lorenz Lange, ehemaligem russisch
kaiserlichen Kanzleyrath. Leipzig 1781. Bell: Voyages depuisS:. Petersbourg
en Russte dans diverses contrees de l'Asie (nach Peking 1796, Bd. I und 11).
— ' KiJian; Nachrichten von Sina, in Fabris Geograph. Magazin. Halle 1786,
II, 4S2. — ■^ Wesselburger; Geschichte der Niederlande, Gotha 1886, II,
793fF. — ^van Kampen: Geschichte der Niederlande. Hamburg 1833, 11,
167, 168. — * Es sei auf die ziemlich eingehende Behandlung bei Raynal,
Bd. I und Bd. 111 verwiesen, für England im speziellen auf die kleine
124
Waren vom Norden her auf dem Landwege über Kjachta direkt
nach Peking geführt wurden, nur erwähnungsweise gestreift
werden kann»^ zumal da auch die Schilderungen der Kaufleute,
die selten üher Kanton hinauszukommen vermochten, im Ver-
gleich zu den Missionsberichten nur geringes Interesse haben.
Mit deu Portugiesen war auch das Christentum wieder von
neuem in China einbezogen. Dominikaner und Franziskaner,
vom Eifer der gegenreformato fischen Strömung beseelt, hatten^ die
Spanier nach Amerika, die Portugiesen nach Indien begleitet. Auf
ihren Berichten Fußt zum großen Teil die Geschichte Chinas^ aus
der Feder des spanischen Augustiners Mendoza, der um 1580 als
Gesandter Philipps II. in China weilte und um 1620 in hohem
Ansehen als Bischof von Popayan im spanischen Amerika verstarb.*
Wie an Pereiras Gesandtschaft sich die lange Reihe der welt-
lichen Gesandtschaftsberichte anschloß, so an Mendozas Buch die
noch stattlichere der Missiansberichte über China. Bald nach seinem
Erscheinen in Fast allen europäischen Sprachen gedruckt, bildete
es für viele der späteren Beschreibungen und Relationen von
China den Ausgangspunkt.
Allein die wesentlichsten Berichte über China, denen
auch das achtzehnte Jahrhundert das meiste für seine Kenntnis
verdankt," wurden erst von den Anhängern des Ignatius
von Loyola, die unmittelbar nach der Gründung des neuen
Ordens von der Gesellschaft Jesu zu umfassender Missions-
tätigkeit in die Gebiete beider Indien entsandt wurden, geliefert.
Franz Xavier (1506 — 1562), einer der nächsten Freunde des
Ignatius, der Apostel Indiens und Japans," vermochte China nicht
Studie bei Sprengel s. o. III. Schnelles Steigen des chinesischen
Handels der englisch-o&tindischen Compagnie s. dem Jahr 1TS4, für
Frankreich die Konsuiarberichte der Zeil bei CordEer: La France en
Chine au ISidme siecle. Paris 1885. — ' S. außer Raynal ül, 1291?.,
Lange s. o. passim, Büsching: Magazin, Hamburg 1760, III, 313, 37QffL,
Gatterer: Abhandlung von dem Handel&rang der Russen, Mannheim
1789. — ' Kalkar; Geschichte der römisch-katholischen Mission,
deutsche Ausgabe. Erlangen 186*7, 21, 24. — ' Historia . . . del gran
reyno de la China. En Roma 158&. Ausführlicher Titel bei Cordier
Bibl. Sin.t ') 3; dtsche. Übersctzg. von Kellner. Frankfurt a. M. 1589.
titel ebd. u. ff. — ' Biographie universelle XXVll, 624 ff. — '' „Selbst
Voltaire, der wenig Achtung für die Geistlichen hatte, gesteht gernj
daß man ihre Erzählungen für Nachrichten der verständigsten
Reisenden, welche je das Gebiet der Wissenschaften und der Welt-
weisheit erweitert und verschönt haben, ansehen müsse," Barrow
XXllI, 29, 30; s. fl. Hüttner 158, Anm, Rousseau; „La Chine paroit avoir
^t€ bien observ6e par les J^sultes" in den Noten zum Discours sur l'origine
de l'inegaiiie etc. Ausg. von 1795. Basel 1, 173. — ^ Kaikar 62, 22,
125
mehr zu erreichen. Er srarb „im Angesichte des Landes» nach
welchem er so sehnsüchtig ausgeschaut*.^ Erst Matthäus Ricci
(1522 — 1610)^ einem italienischen Jesuiten aus der Mark Ancona,
glüclite esj den chinesischen Boden zu betreten.
An ihn im besonderen, der trotz mancher Verfolgung« trotz
mancher Fährnis eine gesicherte Gemeinde zu gründen vermochte,
gliedert sich die groQe Zahl der Verfasser der Lettres ^dißantes,
»der Berichte über die jesuitische Missionstätigkeit, an,^ eine Elite
Wissenschaftlich und zum Teil auch künstlerisch hochgebildeter
Männer, die nicht müde geworden sind, immer aufs neue China,
ihr zweites Vaterland — denn nur in wetiigen Fällen haben sie
den heimischen Boden wieder betreten — in ihren begeisterten
Schilderungen zu verherrlichen. Unter ihnen findet man den
Namen des P. Le Comie," eines nächst dem P. Du Halde wohl
Bim meisten unter den Chi na- Au toritäten zitierten Schriftstellers,
unter ihnen aber auch eine ganze Reihe anderer, wesentlicherer,
wenn auch weniger bekannter Namen.*
■ Allen diesen jesuitischen Berichten aber ist auljer der
groDen Liebe für ihren Stoff eine bis in das zahlenmäQig-
statistische Einzelmaterial gehende Kenntnis eigen, die sich die
späteren Reisebeschreiber fast immer zunutze gemacht und mehr
' • Kalkar 23. — » Über die Lettres ^diflantes vgl. Cordier Bibl.
Sin. 1, 414. Der erste Herausgeber der L. £. war der P. Legobien. Ihm Folgte
als Redakteur der Recueils No. IX— XXV! der P. Du Halde (1674-1743).
Die Frucht dieser redKktionellen Tätigkeit bildet das große Werk: Dä-
scription gi;Dgraphique, historlque, chronaloglque, politique et physique de
Tempire de La Chine. Paris 1735. Voltaire äußert sich in den dem
SiScle de Louis XJV. angefügceti Bemerkungen über die „^crivalEis" dieses
Zeitalters (e. u. Halde) folgendermaßen^ ,J£suite, quoiqu'il ne soii point
EU le Chitiois, a donnä sur les m^moires de ses confr&res la plus ample
et la meilleure däscription de l'empire de la Chine qu'on ait dans le
monde." Es sei hier auch nocb die folgende interessante Mitteilung
Voltaires angeführt: „L'insatiable curLositS que nous dvons de connattre
ä Fond, la religion, les lois^ les msurs des Cbinois n'est point encore
saiisfaite: un bourgtnesrre de Middelbourg nomm6 Hudde, homme träs
riebe, gaiH par sa seule curiosite, aLla ä la Chine vers l'aa 1700.
11 eraplDj'a une grande partie de son bien ä s'insrruire de tout. 11 apprit
si parfaiiement la langue, qu'on !e prenait pour un Cbinois. Heureusemenl
pöur lui la forme de son visage ne le trahissait pas. Enfin it sut par-
venir au grade de Mandarin; 11 parcourut loutes les provinces en cette
qualitS et revint ensutte en Europe avec un recueil de trente annfes
observations ; elles ont ei6 perdues dans un naufrage, c'cst peut-Stre la
Klus grande perte qu^ait faite la röpublique des lettres, — * Louis
,e Comte ^f 1729), Nouveaux Memoires sur l'Efat present de ta Chine.
Paris 1696. Vgl. Cordier Bibl. Sin. I, 24ff. — * Cordier Fragments
186
oder weniger gera^je nach dieser Richtung hin die Missions-
berichie der Väter ausgeschrieben haben.'
Und in der Tat waren diese jesuitischen Missionare — die
übrigen Orden traten hinter ihnen zunächst völlig zurüclc,
wurden auch von den Jesuiten wohl geflissentlich beiseite ge-
drängt — die einzigen, die sich wirklich genaue Kunde und
zuverlässige Nachricht von China verschaffen konnten. Ich ent-
nehme einer dafür sehr bezeichnenden Notiz aus dem „Neu-
polierten Geschichts-, Kunst- und Sittenspiegel" des Erasmus
Franciscus,' daß die Chinesen nur drei Arten von Fremden in
ihrem Reich <d, h, außerhalb der für die Fremden geöffneten
Häfen)" duldeten: 1. die Gesandten der tributären Nachbar-
länder; Z. die Gesandten derjenigen Staaten, die ausdrücklich
dem chinesischen Kaiser Verehrung bezeugen wollem;'* 3. Per-
sonen, die durch die Gerüchte von der Vortrefflichkeit Chinas
und den Tugenden der Chinesen verlockt, sich zu dauernder
Niederlassung innerhaEb der chinesischen Grenzen bereit erklärt
haben. Zu dieser letzten Kategorie 'muQ man nun die Jesuiten
rechnen, die sich sofort mit der ganzen Geschmeidigkeit^ die
ihrem Orden eignet, den in China heimischen Verhältnissen
anzupassen wußten. IVlathäus Ricci war, bald als Bonze, bald
als gelehrler Mandarin verkleidet, durch das Land gezogen, um
bis zur Hauptstadt selbst vordringen 2u können.'' Mit un-
glaublicher Schnelligkeit hatten einzelne der Väter die Landes-
sprache erlernt,^ so daß sie vielfach am Pekinger Hof als Dol-
metscher und Unterhändler bei den Gesandtschaftsempfängen Ver-
wendung fanden und daher die Gelegenheit erhielten, unmittelbar
auf die auswärtige Politik Chinas einen nicht geringen Einfluß
auszuüben.^ Mathematisch und astronomisch gebildete Ordens-
^ Die Richtigkeit ihrer Angaben, die Bevölkerung betreffend, beton!
noch 1797 Hflltner^derals Hofmeister des jungen Baronet Stoutiton mit Lord
Macartney 1793— 17M in Cbina war. S, u. At>si:tin, HL — ^ Nürnberg 1670^
230 vgl. auch Gedenkwürdige Verrichtung 1, — ^ Vgl. Raynal III, 170ff.
— * Alle Gesandtschaften der Europäer, die zum Abschluß von Handels'
vertragen nach China gingen, konnten nur unter Vorgabe dieses Ver-
langens an den kaiserlichen Hof kommen. Vgl. die einzelnen Gesandt-
schaftsherichte. — '" Kaikar 25, s. a. 27r ^Dominikaner, Franziskaner,
Augustiner und andere Ordensbrüder verleugnen auch im Äußeren
nicht ihren Ordenscharakter, dagegen werden die Jeauilen in den Heiden-
lÄndern auf eine höchst kluge Art Gelehrte und Weise gleich den
Eingeborenen. In Indien waren sie Braminen, in China Bonzen oder
Mandarinen, in Afrika Marahut-* — 'So der P. Gerbillon hei Cordier;
Fragments, 225. — '•' Vgl, die einzelnen Gesandischaftsberichte, s. a.Jusii:
Vergleichung der europäischen mit den asiatischen und andern,
vermeintlich barbarischen Regierungen. Leipzig 1762, Vorrede.
127
leuie hatte man mit Vorliebe für den Missionsdienst in China
ausgewählr, weil die Chinesen, wie man mit groflem Scharfsinn
sogleich erkannt hatte, eben für diese Wissenschaften besonderes
Enteresse zeigten. Gerade die großen Kenntnisse der Jesuiten
auf diesen naturwissenschafilichen Gebieten waren es, die ihnen
zur Gewinnung der Seelen aus den höheren wie niedereii
Schichten verhalfen; denn die Souveränität, mit der die Väter
die chinesischen Sterndeuter und Wahrsager durch ihre exakten
Berechnungen beschämten, imponierten dem Volke wie den
Gebildelen in gleicher Weise S verschafften ihnen sogar die
Gunst der Kaiser. ^ Da sie ferner die tief im Wesen der
Chinesen beruhende fast göttliche Verehrung der Ahnen"
und die durch alten Brauch geheiligten Opfer an die Manen
des Konfucius mit der weitgehendsten Toleranz in den Ge-
meinden bestehen lieöen/ gelangten sie in immer nähere und
intimere Beziehungen zu den Neubekehrten und damit zu einer
immer gründlicheren und tieferen Kenntnis von China, während
aus dem Munde der übrigen Europäer und vor allen der Ge-
sandtschaftsreisenden immer wieder die Klage ertönt, daß „es
schier nicht auszusprechen, mit was großem Argwohn und
Mißtrauen" die Gesandten in Verwahrung gehalten werden.*
Ein noch weiterer Gegensatz klafft zwischen den Berichten der
europäischen Kaufleute und denen der europäischen Missionare.
„Es ist Wahr," sagt der deutsche Staatsrechtslehrer Johann
Heinrich Gottlob von Justi, „es fehlt sehr viel, daß die euro-
päischen, nach Sina handelnden Kaufleute eine ebenso schöne
^ Kfttkar 33, 33, — >* ebd. 42PP, — ^ Coucheron-Aamonr: Die
Chinesen und die christliche Religion, Leipzig 1904, 3SW. schildert, wie
auch heute noch der von den Missionaren „bis aufs Messer geführte Krieg
gegen diese liebste, älteste und heiligste Institution des Ahnenkuttus" die
Haupturssche der Verachtung des Chrislentums in China sei, —
■* Kaikar 27. Hieran knüpften sich vor allen Dingen die Beschwerden
der Dominikaner und anderer Orden über die Jesuiten heim Papste in
Rom und die katholischen MissiotisstreiCigkeiten, die ganz ähnlich
wie in Amerika (J^^uitenstaat Paraguay) erst mit der Auflösung des
Jesuitenordens (1773) endeten. Vgl. K al ka r 27 (f. Reflexiones supra
modernam causae Sinensis constitutioneni. 1709 ^Sinensia 1709—25.)
3^6 und des Dominikaners Mlnorelli Schrift: Observationes in Hb. XIX
T. II P. V historiae socieiaiis Jesu a P. Josepho Juvenico editae 1714. Vgl.
Großes Universales Lexikon XXVII. Leipzig, Halle 1743, Sp. 16226,
— " Gedenkwürdige Verrichtung s. o., vgl. auch die anderen Gesandl-
EchafisberichTe, 2. B. Anderson 62; «Hier wie überall äußerte sich die
argwöhnische Politik der chinesischen Regierung, indem jedermann auf
das genaueste bewacht und keinem erlaubt wurde, sich außer dem Bezirk
des Schlosses sehen zu lassen."
128
Abschilderung von dem Regieruagszustande dieses Reiches ge-
macht halten als Du Halde und andere Jesuiten. Unsere Kauf-
mannsleute sind denen sinesiscben Mandannen gar nicht vor-
teilhaftig."' Er führt diese Differenz wohl mit Recht einmal
auf das anmaßende und brutale Auftreten der europäischen
Kaufleute in Kanton^ und dann auf ihr mangelhaftes Wissen
von diesem Reiche, das sie in ihrer Beschränkung auf die
wenigen den Europäern zugestandenen Plätze nicht verbessern
konnten/ zurück. Die chinesische Regierung hatte die fremden
Kaufleute^ ebenso wie die Hannisten, d. h. die mit Huropa
handelnden chinesischen Untertanen* mit der äußersten Ver-
achtungt ja Strenge behandelt/^ daraus erklärt Justi ihre ab-
sprechenden Urteile über China. Dazu kam, daß die pro-
testantischen Holländer» die seit etwa 1650 als die Herren des
ostasiatischen Handels angesehen werden müssen, glaubten» die
Jesuiten hätten am Hofe des Kaisers gegen sie intriguiert und
wären allein schuld daran, «daO ihnen ihr wiederholtes Gesuch
eines freien und uneingeschränkten Handels in Sina abgeschlagen
wurde." "
Indessen übte diese Verschiedenheit der Berichte eine
starke Rückwirkung auf die Beurteilung Chinas in Europa aus,
Denn während man zuerst den Schilderungen der Väter ohne
weiteres geglaubt hatte, äuDerten sich besonders seit etwa 175D
immer mehr, immer neue skeptische Bedenken gegen das ge-
priesene chinesische Staatswesen, immer häußger traten neben
die .Panegyriker" Chinas seine „dötracteurs".^ So Hnden wir,
um ein Beispiel anzuführen, ganz gegensätzliche Schilderungen
' Ju&ti s. o. Vorrede. — " S. a. Rayna! 111, 170. — ' KQttners
Herausgeber wendet sich (15S, Anm.) gegen Socinerai (Voyages aux Indes
Orientales et ä la Chine [1774—1781]. Paris 1782.) Vgl. Cordier Bibl, Sin.
II, 938ff. „Dieser Mann kam nie weiter als nach Kanton; und doch wagt
er es, le Comte und andere Missionare, die den größten Teil ihres Lebens
in China angebracht hahen, bitter zu tadeln. Gesetzlj er hätte ebenso
rechte als er unrecht bat, so würde dies doch nichts gegen die Nachrlcbten
der MissLenare beweisen. Wer nach China geht, wcrd sie gewifl im ganzen
treu und wahr finden. — Wie käein ist der Mensch, der anerkanntes Ver-
dienst tadelt, weil es einige Flecken hat." — * de Guignes II, 144. —
'■ Vgl. a. Lange: Tagebuch <in Beils Reisen II, 25S, 276, 293), zitiert
bei A. Smith: Natur und Ursachen des Volkswohlstandes (1775) deuistb
V. LÖwentlial. Berlin 1879 U^ 193a, 194. Wackerbarth: Der Briten
erste Heerfahrt nach China. Leipzig I8ä0, 9ff. — * Justi ebd. In der
Faßmannschen Kompilation; Der auf Order und Kosten seines Kaisers
reisende Chineser. Leipzig 1721, 449 heißt es dagegen von einem Je-
suiten ausdrücklich : ^tiaü er den Holländern vor seine Person deo
freien Handel nach China herzlicb gern gönnte." ~ ' Raynal I, 227,228.
129
K
des zeitgeaösshclien Kaisers Kien-Iong (1735 — 1799),^ an den
Voltaire 1771 die schmeichelhafte Epistel: Au Roi de la Chine,
sur son recueil des vers qu'il a fsit imprimer gerichtet hatte.'
Und wenn die Männer des siebzehnten und der ersten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts glaubten, die Chinesen
nur mit den höchsten der idealen Vorbilder» mit denen aus der
Antike vergleichen zu können, wenn Konfuzius neben Sokrales
und Plato einen Ehrenplatz Fand,^ so sprach man nach 1750
immer vorsichtiger, kühler und zaghafter von dem Lande, das
so verschiedenartig beurteilt wurde/ dessen Staatsverfassung
bald zu sehr gepriesen, bald zu tief herabgesetzt sei. ^
Dieser Umschwung in der Betrachtung Chiofls durch die
"Europäer fällt mit der großen geistigen Umwälzung in Frankreich
zusammen, die ad den Namen Rousseau geknüpft ist. Folgt man
der Terminologie Kurt Breysigs, die nach 1750 ein Zeitalter des
Rousseaurealismus Festlegt/ so gliedert sich von selbst das Auf-
liören der Chinomanie, jener Begeisterung des stilisierenden
Sokoko für das im hohen Maiie stilisierte chinesische Leben,
«Is eine notwendige Begleiterscheinung dieser großen Umwälzung
auf allen Gebieten wirtschaftlichen, politischen und geistigen
Lebens an.
Volnays schmähende Ausfälle gegen China (17S1): .Das
£aaze Asien liegt in dicker Finsternis begraben. Die Chinesen,
dtirch übermütigen Despotismus regiert, durch ein unveränder-
^ Vgl. Reise des Herrn von M" nach China <Teutscher Merkur,
1775) I, 255 und v. Breitentauch; Lebensgeschichte des verstorbenen
Kaisers Kien-long usw. Leipzig 1788, s, a. Politisches Journal 17S7, I.
— ^ Voltaire: (Euvres par Beuchot Paris 1H40, XIII, 377ff. zitien bei
Alercier: L'an 2440. Paris 1772, 367 „L'empereur-poete auquel Voltaire
adressa une iolie epllre," — ^ Vgl. das Titelblatt von James Harring-
ton: Oceana and other Works London 1747. Dideroi nennt Gonfucius den
chinesischen Sokrates. CEuvpes Paris 1875fr. XHl, 450, s. a. Thomasius;
Oedanken über . . . neue Bücher 16S9, 600; Mercier 3ßS oder Voltaire
an Helvetius ((Euvres 1, 263 Ausgabe 17S4 Brief Nr. 32: Je vous salue
eo Piaton en Confucius etc. oder Helveiius: Pourquoi le nom de
Oonfucius est plus connu, plus respect^ en Europe que eelui d'aucun
des etnpereurs de la Chine et pourquoi l'on che tes noms d'Korace
et de Vlrgile ä cötä de celui d'Auguste. £bd. II, 147, 14S „Les Xenophons,
les Scipions, les Confucius, les C^sars, les Hannibals, les Lycncgus*^
ebenda 111, ^38. Dagegen Dideroi in der ünterbaltung über die Chi.
nesen im Haag: „Homer ist ein Tropf, Plinius ein Erznarr, die Chinesen
die ehrenwertesten Leute." XIX, tll. — ' Raynai 1, 176, — ^Sprengel
in der Vorrede zu Anderson, 1. — " s. Die letzte Wiedergeburt der
./Antike, Neue deuEsche Itundscbau (1902) 5Ödff, — In der Terminologie
der bildenden Kunst ist diese Periode ungenauer^ durch den Übergang
V-om Louis XV. zum Louis XVL bzw. ZopFstii ausgedrückte
130
liches Gesetzbuch von Gestikulationen, durch den Grundfehler
einer schlecht eingerichteten Sprache in Fesseln gelegt, bieten
in ihrer verunglückten Verfeinerung nur ein maschinenmäßiges
Volk dar," ' zeigen deurlicb das Ende dieser chio abegeisterten
Bewegung in Europa an, die ähnlich, wie man in der historischen
Vergangenheit die antiken Staaten als Vorbilder vollkommener
und glucklicher Verfassüngs zustände angesehen hatte,- in der
Gegenwart das chinesische Reich als eine Erfüllung utoplsiischer
Träume begrüßen zu können meinte.
Das Interesse an China bekommt von nun an unter
de Guignes Ägide einen anderen^ objektiveren und wissenschaft-
licheren Charakter. Gleichzeitig wendet man sich im Zeichen
des wieder aufblühenden Klassizismus, und dafür sind „die
Ruinen** Volnays ebenfalls charakteristisch,^ einem neuen Traum-
lande der Ferne zu: Ägypten.* Wenige Jahre darauf empfängt der
junge Bonaparte unter den Pyramiden die nachdrücklichsten
Anregungen zur Ausbildung eines ihm gemäßen kaiserlichen
Stiles, und noch auf Jahrzehnte hinaus (bis ca. 1848) beherrscht
Ägypten^ wenigstens in der weiteren Ausdehnung auf Nord-
afrika — es seien hier nur die Namen de Lacroix und Lamartine
genannt — die Sehnsucht der französischen Romantik.
Man pflegt eine ganze Reihe wichtiger Neuerungen in der
zweiten Hälfte des Mittelalters auf den Einfluß der Kreuzzüge
zurückzuführen. Besondere stilistische Eigentümlichkeiten der
Gotik, namentlich in der Zierkunst, hat man durch diesen
Einfluß des Morgenlandes zu erklären gesucht. Und ähnlich
hat man diesen Einfluß auch auf den übrigen Gebieten von
Kunst und Lehen wiederzubnden gemeint. Sicherlich mit Recht.
' Die Ruinen. Aus dem Französischen des Herrn v. Voloay, Berlin
1792, 102. — * Egger: L'Helienisme en France, Paris 1869 II, 275(T'. —
^ Voluay, passim vgl. vor allem das in den Anmerkungen verwendete
JV^aterisl. — * »Ini dritten Viertel des verflossenen Jahrhunderts war in unserer
Gartenkunst der chinesische Geschmack der herrscbendsle und belebteste.
Er muilte die Oewalt der Mode anerkennen und dem englischen Geschmack
Platz machen. JetJt ist in England der ägyptische geschätzt, und ist es
nicht vorausfusehen, daß durch di« Gesandtschaft, welche der weise
Alexander \etiX nach Chira geschickt hat, und welche voti braven Ge-
lehnen und Künstlern tiegleitet ist, der Gescbmftck der Chinesen im
Norden der herrschende werden dürfte." Grohmann: Ideenmagßzin für
Liebhaber von Gänen, englischen Anlagen usw, Leipzig 1799—1802.
Heft 40. Tflfel 4.
Vi
131
Mit gleichem Rechte sber hat man analog dazu, von den Tat-
sachen der großen überseeischen Entdeckungen ausgehend, äie
weitesien Einwirkungen der neu gefundenen Länder auf Europa
und die Europäer konstatiert.
Unter ihnen nimrtit, daran ist nicht zu zweifeln, China eine
Ihervo Fragende^ vielleicht die hervorragendste Stelle ein. Es muH
daher als wesentlich und wichtig die Frage aufgeworfen werden,
wodurch und wie weit der eur^ipäische Boden für den EinftuB
ieses von seinen heimischen Begriffen so sehr abweichenden
Landes, dem äicb die ersten Geister des achtzehnten Jahrhunderts
so schrankenlos hingegeben haben, bereitet war. Die Geschicht-
Bchreiber der bildenden Kunst im achtzehnten Jahrhundert haben
gewöhnlich als das Für die Wandlung vom Barock zum Rokoko
wesentliche Ereignis den Tod Ludwigs XlV. angesehen.^ Sie haben
ausgeführt, wie das Scheiden jenes Gewaltigen von seiner trotz
der allmählich sich regenden Opposition absoluten Führerschaft
über Frankreich dieses Land aus der unerträglichen Spannung,
in der er es eigentlich bis zu seinem letzten Atemzuge gehalten
hatte, löste. Sie haben in den Zügel losigkeiten des Regent-
schaftszeit alters die Losung dieser Spannung erblicken wollen.
Indessen handelt es sich nicht so sehr um dieses einzelne,
'bedeutsame, die Entwicklung sicherlich beschleunigende Ereignis,
als vielmehr um einen Generationsunterschied, ein Weichen-
müssen des alt und siech Gewordenen vor den überall und
■nicht nur in Frankreich auftauchenden Forderungen einer jungen,
mit ganz neuen, ganz anders gearteten Idealen gesättigten Zeit.'
■ In diesem Sinne mag dem Historiker der Tod Ludwigs XIV.
«her ein Symbol als ein Ereignis bedeuten. Sein Stil, trotz der
pathetischen Abwandlung des Barock, auch darin ein letzter Aus-
läufer der hohen Renaissance, war ganz auf das Repräsentative
gestimmt. Seine feierliche Haltung und pomphafte GröOe, die
der Intimität und Delikatesse nicht den geringsten Spielraum
lielj, offenbarte sich auch an seiner Person, wenn er sich selbst
noch von den wenigen Erwählten schied, die er seines näheren
Umgangs würdigte. Die Sehnstjcht der jungen, um den Gealterten
I' Vgl. die nicht eben atlzu tiefe Anatys« des Rokokostiles von
Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. Bonn 1SS6, II, 215 ff.
— '' Ich finde eine Bestätigung in dem Rank eschen Satze: „Es ist nicht
tetsSchlicher Widersiandj was den Staat Ludwigs XtV. bedroht, sondern
die Gedanken iler Menschen reil^en sich von ihm los; in jedem Zweige
der Armee^ der Kirche, der Administration, dem Handel, Überali stSHi
die Autorität des Fürsten auf die beginnende Regung freier Elemente."
kSXmti. Werke. Leipzig IStiQ, Xl^ 35.
t 9*
■
132
aufwachsenden Generation mußte dazu drängen, aus den kalten
Gemessenheiten der Zirkel von Göttern und Heroinen in Kreise
wärmerer, menschlicherer Annäherungen zu gelangen. Das
Momentane, Improvisierte muDte gegenüber dem durch die Zeit
sanktionierten, durch die Bräuche fest und starr Gewordenen
an Reit gewinnen.
Dies Bedürfnis macht uns die schnelle Steigerung des
Watteauschen Frauenideals zum modischen Frauentypus' sofort
verständlich. Aber vielleicht sinnen^lliger kommt dieser Wille
der neuen Zeit in der Anlage der Wohnräume zum Ausdruck,
die den Hauptakzent auf intime Reize und wohnliche Aus-
gestaltung der Innenräume legte.
Dieses Bedürfnis nach dem Intimen, Zärtlichen, klein Zier-
lichen, wenn man will, zeigt sich auch in allen anderen Zweigen
des Lebens. In der Wirtschaft verläQt nian immer mehr das
große Finanzsystem Colberts, um sich kleinen, im Moment ge-
borenen, im Moment reizvoll und aussichtsreich erscheinenden
finanziellen Machenschaften zu überlassen."- Die Politik gerat
iti die Hände galanter Abb£s, für die der Kardinal Berois viel-
leicht das bezeichnendste Beispiel ist, die Armee erhält Führer,
liebenswürdig und unbedeutend, wie den Prinzen Soubise.
Hettner weist sehr glücklich darauf hin, wie der satirische
Roman und die Märchendicbtungen Perraulls aus den Spätjahren
Ludwigs XIV. durchaus in der beiden gemeinsamen Oppositions-
lust gegen das klassische Epigonentum wurzeln,*^ denn in diesen
Dichtungen verkündet sich der gleiche Wille zu menschlich
näherer Wirkung, in dem einen Falle nach der Seile gesellig
befriedender Traulichkeit, in dem anderen nach der Seite ge-
sellig aufreizender, Abwehr und Erwiderung heischender Reg-
samkeit. Das Märchen der Romantik, in dem sich, wie bei
E. T. A, HoffmaniJ und Clemens Brentano, diese beiden Elemente
mischen, ist eigentlich nichts anderes als ihre letzte Konsequenz:.
Demselben Wunsch nach menschlich näherer geselliger Wirkung
entspricht das Wiederaufleben der französischen Gesell seh afts-
poesie.'^ Die Bezeichnungen solcher Dichtungen als ^po^sies
' Hannover, Anloine Watteau. Berlin '1SS9, 53, 63. — = Vgl. das
Lawscbe Bankunternehnien und di? vqh Casanova (Erinnerungen, deutscb
von Conrad, V, 3S ff, München 1907) sehr anschaulich geschildertea
Lotieriever&ucbe der französischen Regierung unter Ludwig XV. —
' Hetiner, Geschichte der französischen Literatur im IS, Jahrhundert.
Braunachweig 1894", 54 tf. — ■■ Ausfeld, Die deutsche anakreoniiscbe
Dichtung des 18. Jahrhunäerts. Ihre Beziehungen zur franiosiscben und
antiken Lyrik. StraOburg 1^7. I, 2.
fogitives", ihrer Dichter als HpoStes legers*, unter denen wiederum
der Kardinal Bemis als führende Persönlichkeit auFtritt« sind
ebenralls dafür charakteristisch.
In der Malerei verkündet sich ganz im Gegensatz zum
»Barock die neue Intimität, die neue Delikatesse in dem Streben
zur Nuance. So tritt hier an Stelle des leeren Rot Rigaudschen
Purpurs, de» eisigen Blau auf Lebrunschen Bildern das silbrige
Grün, das sterbende Blau,' das zarte Flei^chrosa Watteaus, das
I stufenreiche WeiD Tiepolos. Und endlich findet diis Zeitalter
die zeitgemäße Technik in der Erfindung des Pastells.
Halte das Barock seine exotischen Gelüste aus den Früchten
der Entdeckung des Seeweges nach Ostindien und der Erforschung
Amerikas bestritten, hatte es diese Reize intensiv gekostet und
mit der Geste des Conquistadors ausgebeutet und völlig aus-
geschöpft, so ward das Rokoko, das den Hacg zum Fremdartigen
nicht minder in sich nährte als die Liebe zum Neuen und
iVlodiscbeo, auf die pbaotasii schere a, bizarreren Schatze Chinas
hingewiesen^ die noch dazu seinem Willen zur Intimität und
t Delikatesse glücklich begegneten.
Denn China gab ihm mit seinen seidenen und papierenen
Tapeten: Stoffe zur Bekleidung der Winde, Stoffe, um seine
Räume, ohne sie durch die schweren Gobelins des Barock zu
verdnnkeln, wohnlich und reizvoll zu machen. Es gab ihm den
Tee^ ein seiner Geselligkeit durchaus entsprechendes Getränk.
Es gab ihm in der Fülle seiner Lackmöbel eine Menge neuer
Anregungen zur Nach&chafFung immer zierhafteren Hausgerätes.
Es gab ihm «-or alleu Dingen das Porzellan, du eigeutlicbe
»Material für die Ausprägung icinc» CcistcB,
Es sei verstattet, die obigen AusfQtirtiagcn durch einige
Beispiele noch ttiber m beleuLhien. Zunichst die Stoffe. Die
Seide, nach der tMm^tuhen Tradition die Erfladung einer ihrer
frübesten Katserioaen,* war wohl zuerst den Griechen auf dem
AlesancfeaacB nach Indien bekannt geworden. In der Kaiserzeii
galt sie alt eia l>egebreer Luxusartikel, der raii ungeheueren
Preisen bezahlt wurde. Seit dem dritten Jabrfaunden n. Chr.
ffitat nun in Italien be^odueii, »m Rohseide Gewebe zu ver-
B e f ti gen . Unter Juctioiafl hafK man in ByLÄOZ Seidtnraupeo
Hfezücbiet und so die Sei4tnUhrik»tU>n von Grvnd sut zu be-
l'
> Das , Sm t rWW iM «e F«#fer 4cr 4e«iacftM «cMUMsac*. VfL
b. T. Ze»es: A^faftacte mM*muM4 lA». ZcriKz^ VerHcfc {■
cctea »d SckUercfidicMea, UipKif 1)4«, — * KarnBl,
Ol, UBK.
134
treiben gelernt.' Von dort var diese Kunst hauptsHchtich durch
Vermittlung der sizilischen Normannen nach Italienj Spanien,
Frankreich verpflanzt worden.
Aber obwohl man in Huropa sehr schnell zu einer großen
technischen Vollkommenheit auf diesem Gebiete gelangt war,
vermochte man die aus China importierte Seide nicht iu ent-
behren; hauptsächlich wohl darum, weil es den Europäern nicht
glüciien wollte, die blendende Weiße (blancheur) der chinesischen
Seide zu erreichen.'' In diesem Zusammenhange gewinnt auch die
Bemerkung des Helvetius: nChina und Indien sind in der Fabri-
kation von Stoffen ebenso geschickt wie Europa" ^ an Interesse.
So kam es, daß im achtzehnten Jahrhundert, obwohl man
doch zu dieser Zeit gerade in Fast allen europäischen Ländern
einheimische Seide zu fabrizieren suchte,'' sich mit dem zu'
nehmenden Luxus der Seidenexport aus China nach Europa
noch bedeutend steigerte. Im Jahre 1766 wurden in Frankreich
80000, in England 104000 Stck. Seide eingeführt.^
Man verwaodte die Chinaseide wegen ihrer schitnmernden
Reinheit gern zu weißen Geweben, wie Blonden, Schleiertüchern,
Strümpfen," und so finden wir auch unter den Toilettenrech-
nungen der Pompadour und der Dubarry mehrfach Posten Für
weiße chinesische SeidenstoEfe auFgeFührt.'
In anderen Fällen ßnden wir chinesische Seide zu Schlaf-
röcken, wie sie Katharina II. an den im Feldlager weilenden
Potemkin schickt,^ zu Amazonen von ßohbrauner Farbe, der
LieblingsFarbe Marie Antoinettes, die die Pariser Damen bei
ihren Spazierritten im Bois trugen," zu Morgenhäubchen und
^ Yoshida, Entwicklung des Seidenhandels und der Seidenindustrie
vom Altertum bis zum Ausgang des Mittelalters. Heidelberg 1895. Vgl. a.
Schrader, Linguisfiscli-historische Forschungen zur Handelsgeschichte
und \Farenkunde- Jena 1886. 220ff. — = Raynal, III, 199. — Ober die Her-
kunft und Fabrikation der Seide in China vgl. v. Breitenbauch, SSff-,
Schiller] Neueste Nachrichten über China und dessen innere Verfassung,
1799, S2ff. Schedcl, Warenlexikon. OPFenbach 1797, 11,50511'. — ^ Hel-
vetius, V, 245. — * Vgl. u. a. Schmoller und Htntze, Die prculiische
Seidenindustrie im achtzehnten Jahrhundert und ihre Begründung durch
Friedrich den Großen. Berlin 1892. Bujattl, Geschiebte der Seiden-
industrie Österreichs. Wien 1893. — '■' Raynal, III, 199. S. a. den Artikel
Seidenwaren Großes universales Lexikon XXXVI (Leipzig und Halle 1743,
Sp. 1432ff.). — * Raynal, ebd. — ' E. et J. de Goncourt, Madame
de Pompadour. Paris 1903. Appendicc. — La Dubarry, ebd. — * Sbornlk,
Imperatorskawo, Russkawo, Istoritscheskawo, ObschlscEiegtwa XXVll.
St. Petersburg 18SI, 477. — ^ Tschudi: Marie Antoinettes Jugend,
deutsch von Lenk. Leipzig 1894, 91. E. et J. de Goncourt, La Fe mm«
du XVIll. sifecle. Paris 1903.
135
Sonnenschirmen ' und vor allem zw ■WafldbespanDUUE verwendet.
In Trautmannsdorf in dem Schlosse des Fürsten Batthyany gab
es ein gelbes chinesisches Zimmer, ein weißes chinesisches
Zimmer und ein Zimmer mit braungelber chinesicher Tapete,
das Maria Theresia ganz besonders lieble;'^ in Sctiönbrunn
Zimmer, die mit gelbem Peliingatlas oder mit weißem rot-
gebliimten Pekingatlas ausgeschlagen waren." Und wenn der
Dichter den Freund in die Freiheit der Natur locken will, so
■ mahnt er iho^ die Pracht chinesischer Wände zu verlassen.'
Einen Ersatz für diese kostbaren Stoffe boten die billigeren,
oft Originelleren Papiertapeien der Chinesen.^ Casanova schildert
in seinen „Erinnerungen" das Kabinelt einer Dame, das mtt
»solchen Tapeten, auf denen sich Darstellungen erotischer Szenen
befanden, geziert war." Eine genauere Vorstellung dieser
chinesischen Tapeten erhält man anläßlich einer Beschreibung
des kaiserlichen Lustschlosses Göding: Auf dem schwarzen
Grund der Tapete waren rote und blaue chinesiche Figuren
und Landschaften gemalt.^
Diese chinesischen Papiertapeten, deren Fabrikation man
bei Raynal kennen lernt/ bildeten gleichfalls für China einen
sehr bedeutenden Exportartikel. Allerdings lieQ der Handel
damit, nachdem man in Frankreich und England diese Tapeten
Kizu imitie:retii gelernt hatte, beträchtlich nach." In England ver-
stand man sogar Papiertapeten herzustellen, die wie chinesische
Seidenstoffe wirkten.^*
Der Tee, den schon Marco Polo erwähnte/* war im Anfange
des siebzehnten Jahrhunderts von der ostindischen Gesellschaft
in Holland eingeführt. 1633 hatte ihn Olearius in Persien als
Getränk vorgefunden,^^ 1674 war er in Moskau bereits überall
I
^P ' GoncDurl, Pompadour 435. — ^ B«rnoulli, Sammlung kurzer
"^ Reisebeschreibungen. Berlin 1781. X,238ff. — 'Bernoulii, XIV,3a,46;
s, auch Laxenburg ebenda 73. Esterhaz (Escerhazisches Schloß) IX, 256.
Ausierlitz (Kaunifzisches Schlod) XII, 260 oder Trianon XI, 209. —
* Oeat, Bremische Gedichte, Hamburg, 1751, 115 (an Herrn Nonne), —
^*Schedel,■«^a^e^lexilton 11,667. - "Casanova, VII (1908), 414, 420, 421.
— ' BernouKi, Xlll, 266. Vgl. auch Feldsberg (Liechtensteinisches
Schloftt XII, 245. Sehloßhof (Kaiserl. Lustschloß) XIII, 3. Niederweid
ebd. 7. Laxenburg XIV, 73. Preßburg und Iwanska (Schlösser des
Grafen GraschalRowitz) X, 190, 225. Außerdem Fürstenberg i. M., Rheins-
^ berg, für München und seine Schlösser: Münsterberg: Bayern und Asien
H'lm secbzehnten» siebzehnten uniJ achtzehnten Jahrhundert. Leipzig IS95,
■21, 22. - " 111, 207,208. - "" Raynal, 111,211. - " BernouUi, I, 133.
^B — '^ Lecky: Geschichte des Ursprunges der Aufklärung. Deutsche Über-
^* Setzung II, 286^ daselbst auch ausführliche Literiiurangaben. — '* Vermehrte
moskovidsche und persianische Reisebeschreibung. Schleswig 1656, 599, 600.
130
in Gebrauch/ 1636 war er zum ersten Male nach Paris»^ 1666
zum ersten Male nach London gekommen,^ Holländer und
Engländer blieben von da ab wenigstens in Westeuropa $uine
stärksten Konsumenten, Ein deutscher Reisender aus der
zweiten Hälfte des achtzehüteii Jahrhunderts äußert sein Er-
staunen darüber, daß die Holländer gar kein Maß im Tee-
trinken kennten/ und wenn man an den von immermann
so köstlich geschilderten Holländer seines „Münchbausen", den
Mynheer van StreeF, denkt, der selbst das Wasser der musischen
Quelle auF dem Helikon zur Teebereitung verwendet, so wird
man gern diesem Berichte Glauben schenken. Lichtenberg
spricht sogar vom BTeewasserblut" der Holländer.^
Der Teeimpoft nach Engtand betrug 1726 bereits 700000 Pfd.,
1793 23000000 Pfd,,« 1800 war er auf 23 723000 Pfd. ge-
stiegeo/ Raycal gibt als ZifFer der europäischen Einkäufe
in China für das Jahr 1766 die Summe von 25754994 Livres
an; *j^ dieser Summe entfielen lediglich auF den Einkauf von
Tee.^ „Man kann den Tribut," ruft ein deutscher Reisender
I77'5 aus, „den Europa jährlich den Chinesen für die Wut,
laues Wasser zu trinken, bezahlt, auf 25000000 rechnen."*
' Piercr- Universallexikon XXXIV (IS45) V, 130, — ^ Lecky 11,267.
— * V. Breitenbauch 92. — Ober die Herkunft der einzelnen Tee-
sorten Vgl. Raynal III, 172 ff. - " BernauUi 1,117. — ^ Grisebach:
Lichtenbergs Briefe an Dieterich, Leipzig 1898, 36. — » Hüttner 156,
— ' Klöpper: Engl. Reallexikon II, Leipzig IS9S, 2202. Nach Pierer
XXXI, 130FF. betrug die EinFuht von Tee nach England 1711:114995,
1741; 1031540, 1771; 5566793, 1801: 20237753 Pfd. Nach Schedel;
Ephemeriden (1784), 923, wo man auch die Tecprcise für das Jahr 1784
notiert findet (1026ff.) wurden nach Ostende 1784: 1 297553 Pfd. Tee Boh*,
812830 Pfd. Congo, 25848 Pfd. Pekao, 44492 Pfd. Soutschaon, 99B94 Pfd.
Haysan, 138695 Pfd. Haysan Skin, 224Ö45 Pfd- Songlo, 244047 Pfd. Tonkay
gebracht. Über die einzelnen Teesorten vgt Schede]; WarenJexikon ll,f}81 ff.
I^aynaf ^, o. Über Teeeinfuhr in Preußen zu Anfang des achtzehnten Jahr-
hunderts vgl. G und] in gl Nachricht von Commercien undiVtanufacturenetc.
0712) herausgegeben von Hoche, Halle J795: „Der Tee wird in großer
Menge konsumiert, beynabe soviel als Wein. Diese Ware liostet dem
Lande iährlicb an 100 000 Rtbl. Eine sehr grosse und schwere Accise
wäre wohl das einzige Mittel, diese Consumtion zu vermindern. Die
Holländer baben zwar in einer ganz anderen Absicht, um nämlich
andern Nationen mehr zuführen zu können, dies Mittel wirksam gefunden.
Die Deutschen haben angenehme Kräuter im Überfluß, die die Stelle des
Tees ersetzen könnten." Über Teeeinfuhr und Teepreise in Stettin
5. Schmidt: Geschichte des Handels u. der Schiffahrt Stettins. Baltiacbe
Studien XX, Hefr I, 250, — ' Raynal 111,221. - ' Reise des Herrn v.**.
Teutscher Merkur 1775, I^ 2&3, daselbst auch genauere Angaben über
den europäischen Teehandel 251 f.
137
I
Die Meinung von den günstigen GesundheitsvertÜftnissen
Chinas, die man zum großen Teil als eine Wirkung des Tee-
genusses ansab,' verschaffte dem neuen Getränk seine schnelle
Verbreitung. Neben dem Kaifee, neben dem Tabak erscheint
er seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts immer
häufiger in der populären wie wissenschaftlichen medizinischen
Literatur. ^
Mit der zunehmenden Verbreitung des Tees in Europa
bildeten sich nicht nur verschiedene Arten des Genusses/
sondern auch bestimmte Bräuche und Maniereo, den Tee zu
trinken, aus.* Bald gruppierte man um den „Teetrank' eine
Reihe leichter und zarter Speisen* in kleinen Mengen und
erhob so allmählich den Teegenuß zu einer täglich an be-
stimmten Stunden sich wiederholenden Zwischenmahlzeit," die
schließlich, man braucht sich nur an die etwas massiven Tees
der Directoirezeit ^ und später an die von E. T. A. Hoifmann
und HauJf so lustig parodierten ästhetischen Tees der Romantik
zu erinnern, zu einer gesellschaftlichen Institution wurde, welche
auch auf das geistige Leben ihren EinflulJ ausgeübt hat.
Vielfach zog maD den Tee dem Kaffee vor. Jedenfalls
galt der Tee als modischer, als galanter. So tadelt in Zachariäs
.Renommist' Pandur, der Schutzgott der rauhen, am alten
Brauche hängenden jenischen Studentenschaft, dem Kaffeegotte
gegenüber das galante Leipzig, das doch gewiß wegen seines
rj ^ „Als der Tee in Europa etnigermaßen bekannt war, und dabey
seine ihm «ugesctiriebenen Kräfte, die er an den Chinesern verrichtete,
ttund Turded, so bekamen die an allerhand Neuigkeiten Lust habenden
europäischen Nationen gar ungemeine Begierde, sich solcher Getrinke auch
?ubedieoeo.* Großes Univers. Lex, XXXXII, l74SjSp.52l, s.a. Raynal
1 II, 179. — * Tulpius: Observationee medicae. AntGterdam 1661. BontC'
koc:TraktatvanhetexceIlenslckruydrhee. Haag 1672. Albinus: tJeTahaco,
de Thea et de Cantttaridibus. 1684. Pechlin: Theophilus Bibaculus sive
de potu herbae Theae. Kiel 1684, Paris I68S. Blegna: Le bon usage du
ih6, du c4f6 et du chocolat. Lyon IS87, *aldschmidli Dispuiatio de
usu et abuäu pocus Thee. Kiel I6Ö2. Disputatio an potus herbae Thee
cxsiccandi et emaciandi virtuie polleat. Ktel 1702. Blanltaart (Blan.
cardus): De usu et abusu herbae Theae. 1686^ e. a. Hausrus PolychresH
oder zuverlissige Gedanken vom Thfe, CoffÄe, Chokolafe und Toback- 1705.
Vgl. Lecky II, 267. - ' So soll Mme de la Sabliere die Erfinderin der
Mischung des Tees mit Milch sein. Lecky U, 267. Klöpper: Fran?,
Reallex. Leipzig 1902, 1,567. — * Gr. Univers. Lex. s. o. Sp. 535.
— ^ Ebd. — ' Grimod de la ReyniCre: Almanach des Gcurmands.
Paris 1804. 53, 54. Grisebach, 2. — ' Grimod de la Reyniftrc, 53.
S. a. E. et J. de Goncourt: Hietöire de la sociftf fran^aise pendant
le DirertoiT«, Paris 1903, ISSff.
138
„massenhaften Kftffee trinke 05 " ' berüchtigt war, weil es
modischer Neuerungssucht dem Tee vor dem Kaffee
Vorrang gebe:
Die Stutzer dieser Stadt sind meist von dir getrennt,
Indem ihr Wankelmut den Tee als Golt erkenntj
Und bat d\s Mode nicht die Neuerung ersonnen,
Und die Galanterie den Tee nicht liebgewonnen?
Nein, Jena^ glaube mir, in allem groß und frei
Verschmätir den weibschen Tee und bleibt nur dir getreu,'
Feiner entscheidet Gleim den Streit zwischen Kaffee und
Tee, denn er entscheidet zugleich den Schönheitsstreit der
Brünetten und der Blondinen:
Den braunen Trank der Türken
Trink ich des Nachmittags
Zur Ehre der Brünetten,
Den weisen Trank der Serer,
Den Tee, trink ich des Morgens
Zur Ehre der Blondinen-'
Schon die Portugiesen hatten von Japan und China Lack-
waren nach Europa gebracht.* Mit der veränderten Kon-
stellation im ostasiatischen Handel übernahtnen dann im sieb-
zehnten Jahrhundert die HoHänder, die vor den übrigen
Europäern eine Art Handelsmonopol Für Japan besaßen," fast
den alleinigen Vertrieb chinesischen und japanischen Lackes.
Sie waren auch die ersten, die es seit 1640 unternahmen die
fremden Lacke in der Heimat herzustellen.
Das, wie es scheint, von den Chinesen sorglich gehütete Ge-
heimnis der Lackfabrikatjon soll zuerst durch Eustachius^ einen
Augustinermönch, nach Rom gebracht worden sein," Genauere
Nachrichten erhielt man durch die Jesuiten Du Halde und
D'incarville (f 1757).'
Die ersten wertvollen Resuätate in der Imitation ostasiatischen
Lackes wurden in Frankreich erzielt, wo man sich seit der
1
' Freytag: Bilder aus der dts<;h. Vergangenheit''. Leipzig ISSO,
rv, 289. — ' Zachariä: Poetische Schriften. Karlsruhe 1778, 1,53, 54.
— s Gleim; Sämtl. Schriften. Leipzig 1708, 11,54, — ' Ober die Ge-
winnung und Bereitung des Lackes vgl. Du Haider Discriptioti II, 173 A.
Raynal III, 202fF. Bucher; Gesch. d. techn. Künste (OberRäcbi. u. im
einzelnen ungenau) I. Leipzig 1S75, 175. Eingehender Krünitz in der
Enzyklopädie {17SS) An. Lackieren, Lackierkunst. Schede!: Warenlexikon
I,673ff. - "■ Raynal I, 295 ff. - " Krünitz 523. — ' Du Halde s. a.
— D'lncarville: M^moires sur le Vernis de la Chine. Paris 1760.
Auch gedruckt im Allgemeinen Magazin der Natur, Kunst und "Wissen-
schaften. XII (1767), 109 ff.
n
zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gleichfalls eifrig
mit dieser Industrie beschäftigt hatte.' Um 1730 stand die
französische Lackmalerei dem fremden Vorbilde nur noch
wenig nach.'^
An die Namen der vier Brüder MartlD, von denen der
eine, Robert, auch für Friedrich deii Großen tätig wat,'^ knüpfen
sich vor allem die Erfolge der französischen Lac kfabri Ration.
er schwarze und der rote Lack der Martins, der „Vernis de
!a Chine"/ wurde vorbildlich für ganz Europa. Sogar der china-
hegeisterte Voltaire machte sich zum Herold ihres Ruhmes und
pries siBj daß sie selbst China übertroffen hätten, in den Versen:
^^L Et ces cabineis oü Martin
^H A surpass6 l'art de la Chine/
^F \Fas die Martins Für Frankreich bedeuteten wurde Stob-
^asser (1740—1829) für Deutschland, der seit 1757 mit Erfolg
chinesische Lackwaren imitierte. Allerdings waren in Deutsch-
land auch vor 1757 schon Rezepte für die Lackfabrikation ver-
lireitet,^ und Städte wie Ansbach^ und Dresden^ waren durch
^Erzeugung einiger Lackartikel berühmt. Jedenfalls gelang es
aber zuerst Stobwasser <5eit 1763 in ßraunschweig, seit 1772
auch in Berlin)," die ausländische, namentlich englische, Kon-
kurrenz"* aus dem Felde zuschlagen. Seine lackierten Tabaks-
dosen waren besonders beliebt und weitverbreitet.
Diese Unternehmungen der Martins, Stobwassers, seines
Schwagers Gufirir „Vernisseur ä Brunswick" oder der Breslauer
' Turgot: Mdmaires stir )a Gumme ^lasdque. Oeuvres Paris 1810,
XX, 405ff. — ' Scherer: Job. Heinrich Stobwasser und seine Lack-
Fabrik m Braunschweig. Braunschweiger Magazin IWO, No, 7, 50. —
^ Graul: Ostasiatische Kunst imd ihr EinRuG auf Europa. Leipzig
190Ö, 25. Vergi. das Blumenkabinett in Sansouci «nd das Gelbe und
Silberne Schreibzimmer im neuen Palais zn Potsdam- Nicolai: Be-
schreibung der Residenzstädte von Berlin und Potsdam- Berlin 1786, III,
1216. 1273. — Vgt, a, das Lackkabinett im Lustschtosse Portici bei Neapel:
„Der sogenannte Lack de Martin bleibt aber doch der schönste," Volli-
^—rnann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien.^ Leipzig 1777, IIIj 294.
B~ • Springer II, 236. - * Voltaire XIII, SO. Vgl. a. XII, 48.
^^L Sous äts lämbri^ df>r6s
^^K Et vernis par Martin.
' — *> Vgl. Neuentdeckte Lacquierkunsi. Dresden 1754. — ' Ansbach lieferte
I z. B. die lackierten Korporal st öeke für die Armee Friedrich Wilhelms 1.
^^SchereräO. — *Krüniti523. — "Scherer 51; Nicolai 11,346.
^■^ '" Vgl, Hepplenwhites Lackmöbel bei Mulhesius: Die Anfänge der
modernen Innenkunst. Neue deutsche Rundschau 1905, 1039, — Ober
die Lackindusirie von Birmingham vgl. Sinapius: Schleslscher raerkanti-
listiätber Anzeiger, Breslau 1800 (No. 7), 50.
140
Lackfabrik' verdankten Ihren Erfolg hauptsächlich dem IntereSSST
das die zeitgenössischen Fürsten, die ihre Schlösser, ihre Kunst-
kammern mit Lackgeräten füllten,^ an diesen Erzeugnissen
japanischer und chinesicher Kultur hatten. Sie brachten die
Lackwaren überall in Mode. Die zeitgenössischen Memoiren,
Reiseberichte und vor allem Rechnungen geben genug Betspiele
dafür her. So heben z. B. die Memoiren von Bergholz, anläßlich
eines Besuches, den Katharina L, Peters des Großen Getnahlin,
der au5 China mitgebrachten Karitätensammlung des General*
kapitäns Ismailow abstattete, ausdrücklich hervor, wie sehr die
Kaiserin von den chinesischen Lackwaren entzückt war,^ Oder ein
deutscher Reisender berichtet (1 762), daß Wilhelmine von Bayreuth
in Kollendorf ein Lackmeublement besessen habe, das zum Teil
aus China stammte, zum Teil von der MarkgräRn auf das ge-
schickteste nachgeahmt war.^ Oder ein anderer Reisender erzählt
bei der Beschreibung des Schlosses von St. Veit von einem
Komraodenkasten aus weißem und lilafarbenen Lack, der mit
chinesischen Figuren eingelegt war und 2000 Gulden gekostet
hatte." Oder endlich sei abschließend die Lackgerätesammlung
Marie Antoinettes erwähnt, die man heute im Louvre Findet/
Das Beispiel der Fürsten suchten nun die Untertanen,
wenn auch in bescheidenerem Maße, nachzuahmen. Denn sie
konnten natürlich nicht Summen, wie sie die Pompadour für
Lackwaren ausgab," bezahlen. Sie begnügten sich daher gern*
mit den billigeren heimischen Imitationen. Übrigens gelangten
die Martins und Stobwasser ganz ähnlich wie die Künstler des
Porzellans bald nach ihrer Erfindung dazu, sich von den chine-
sischen Vorbildern zu emanzipieren.
Will man sich einen Begriff von dem ungeheuren Ein-
druck machen, den die Einführung des Porzellans in Europa auf
alle dabei in Frage kommenden Kreise, auf die Kaufleute, die es
von China nach Europa brachten, auf die Fürsten, auf die Ge-
' Sinapius 49 ff. — '^ Vgl. den Ratschin zu Prag im „Den
würdigen und Nützlichen des Elbstroms". Frankfurt a. M. 1741;
243 ff. Vgl. Eraunschweig, vgl. Kassel. Bernoulli IX, 154, 161^
— Über Lackgerät in Wiener Privathäusern s. Lady Montagu: Letfers^
herausgegeben von Lambecb- Berlin 1878, 37. — " Büsctaing; Magazin.
Halle 1789, 408 ff . — ■* Vgl. Schedel: Waren-Lexilion, H^ 275 ff. —
" Bernoulli IX, 117. - ^ Bernoulli XIV, 82. — ' Graul 25. Vgl. auch
die bayerisclien Lacksammlungen. Miinsterberg; Bayern und Asien, 22ff.
— ^ Goncourt: Pompadour, Append. 434. Vgl. als Gegenstück 2u der
Kommode von St. Veit unterm 22. November 1750, ^Une comtnode de
lacque ä pagodes etc," 24(K> L.
ptr
schlechter der Seestädte, die seine ersten Sammler wurden,^
ausgeübt hat, muß man sich einmal g&nz von den Gedanken
befreien, die uns infolge langer Gewöhnung an sein Vor-
Iiandensein, an den Nutzen, den es uns tagtäglich gewährt,
unwillkürlich anhaften. Man muß sich vorstellen, wie dieses
durchsichtige, im Glanz zartester Glasuren schimmernde Pro-
dukt der Fremden TöpFerkunst etwa neben den doch sehr
lioch entwickelten europäischen Fayencen der Renaissance
"^virkte, wie der Reiz des exotischen und die Vorstellung der weiten
Seereise, die unmittelbar mit diesem zerbrechlichen Gerät ver-
linüpft war, in gleicher Weise wie der Zauber des Unbekannten,
OeheimnisvoIIen seiner Herkunft, dem neuen Gut einen ideellen
vind materiellen Wert verlieh, der weit über den der übrigen
eingeführten Schätze hinausging. Der Wunsch, auch diese
begehrteste Gabe des Fernen Orients in der Heimat selbst zu
erzeugen, mußte sehr schnell rege werden, mußte sehr schnell
zu Nftchahmungsversuchen, wie -wir sie seit dem Ende des
fünfzehnten Jahrhunderts in Venedig finden," Führen.
Die Geschichte dieser Versuche ist sehr ausgedehnt und
reich an Ereignissen. Jede ihrer einzelnen Stationen ist inter-
essant und lehrreich. Wie man in Florenz unter Francesco
Alaria das Medici- Porzeil an erfand,^ von dem wir heute ungefähr
Dur noch dreißig Stücke besitzen,* wie sich die Delfter Fayence-
Fabriken unter chinesischem Einflüsse modelten,'^ wie man in
Rouen und St-C3oud zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts
'Weich Porzellan herzustellen wußte, '^ wie endlich BöttgCr in
r>resden 170fl das Hartporzellan entdeckte und dadurch über
die einzelnen vor ihm liegenden und nur stationär bleibenden
Versuche hinaus die Forzellanindustrie in Europa heimisch
machte.
Alchimisten und Arkanisten waren es, die sich hauptsächlich
der neuen Kunst bemächtigt hatten. Aus ihren Kreisen war
auch Böttger (1685^1719)'' hervorgegangen und hatte auf einem
Nebenwege seiner auf die Ergründung der Goldtinktur gerichteten
Arbeiten das Porzellan erfunden. Seine ersten Erzeugnisse
waren einfarbig oder farblos und unterschieden sich wesentlich
von den chinesischen Vorbildern. Goldschmiede lieferten die
Formen für die neuen Gefäße, die zunächst ganz nach den
' Davillief: Les origines de ia portelaine ta Europe. Paria,
London 1862, 9 ff, — ' Davillier 29, — ' Graul 6. — * Lehnert: Das
Porzellan. Bielefeld u. Leipzig 1902, 28. — " Rheinischer Antiquarius
1739, 680. Gtaul 11. — " Lebnert28.— ' Vgl. Wolff-Beckh: Johinn
Friedr. Bötiget. Berlin 1903.
142
Forderungen des herrschenden BarocVgeschmackes gebildet
wurden. Erst in der zweiten Periode der 1710 nach Meißen
verlegten Porzellanmanufaktur (1719 — 1735),' die man im Gegen-
satz zu der Böttgerschen Zeit die farbige zu nennen pftegi,*
zeigt sich mit dem ausgesprochenen Nachahmungswillen der
ostasiati sehen PorzelJanstücke, die man damals noch ziemlich
unterschiedslos als „indianisch« bezeichnete/ ein ungefähr ent-
sprechendes Können. Als Vorlagen dienten dem leitenden
Manne, einem iUaler namens Herold, die Illustrationen detfl
von Dr. Dapper redigierten zweiten und dritten Niederländischen
Gesandtschfiftsreise,* die an sich schon als phantastische, sehr
wenig der Wirklichkeit entsprechende Wiedergaben angesehen
werden müssen. Die Folge davon war, daß Herold zur ganz
freien und selbständigen Darstellung chinesischer Motive gelangte.^
Diese Tatsache ist nicht nur für die Entwicklung des
Porzellans in Europa, sondern auch für die Entwicklung der
chinesischen Einflüsse auf die europäische Kultur des acht-
zehnten Jahrhunderts überhaupt von größter Bedeutung. Denn
niemals handelte es sich um eine bloß naturalistische Nachahmung,
sondern um eine durchaus pbaTiiastische Umbildung: eine
romantische Neuschöpfung, die dem utopistischen Charakter
Chinas in der Auffassung der Staats- und Gesellschafts-^
theoretiker des achtzehnten Jahrhunderts völlig entspricht. ^|
Will man sich etwa ein Bild davon machen, inwieweit die He-
roldschen Chinoiserieen wirklichen chinesischen Malereien nahe
kamen, so vergleiche man sie etwa mit den kleinen Versen, die
Katharinas 11. einmal dem Fürsten de Ligne als chinesisch mitteiltrij
„Le ro] de ta Cbij i, i, i, i, i, i, t. nc
quand il a bien bu, u» u, u, u, u, u, u
faii une plaLsanie rai, i, i, i, i, i, ne."'
^ Es kann hier nicht die Absicht sein, auf die einzelnen Porzellan-
manufaktur-Gründungen nach Meißner Muster einzugehen. Man findet
chronologische Über&Lcbten bei Jacqucman und Le Bianr; Hisioire,
artistique industrielle et commerciale de la porcelaine. Paris IS62, 4E
46 u. in der populären Monographie v. Lehnert5&iT. Paris 1906. Vgl.
Brüning: Europäisches Porzellan d. XVIll.Jfthrh. Beri, 1904. Chavagnat
etCrollieriHistoire des porcelaines fran^aisesetc. Paris ISÜti. LeBretanr^
CÄramique espagnole. Paris 1879 s. w.— "Berliog: Das Meißner Porzellan.
Leipzig 1900, 32 fP. — " Brüning X. Anmerk., vgl. a. Lehnen, Minct-
witz: Gesch. v. Pillnitz. Dresden 1895, 17 Anm. Über die spätere
Unterscheidung d. einzelnen Porzellane u. ihre Benennung vgl. Ray-^
nai HI. — ■" Disch. Übers. Amsterdam 1076 s. o. — Brüning XIII. —^
— ^ Brüning XII. — Es sei hier auch an das sogen. Zwiebelmusier
erinnert, das als eine mtllverstandene Nachahmung eines chinesischen
CranalapFels- oder Pflesichmusters angesehen werden muß. Graul 15,i
— " Sbornik XLIL St. Petersburg 1885 349, 350.
ie
1
et
ire
i
r
Denn in beiden findet man als wesetnUches Moment das betonte
Herausgreifen bestimmter, den Europäern fremder Züge, cl9$
betonte Herausgreifen einer kleinzierlichen, ich möchte sagen,
trippelnden Gemessenheit und Steifheit, wie sie sich etwa auch
in der Auffassung des chinesischen Kaisers äußert, von dem
Katharina an einer anderen Stelle desselben Briefwechsels sagt:
IqLa gazette de P^quin djsoit que mon voisin chinois aux
petits yeux, suit avec une exaclitude vraiment exemplaire
les inombrables rtte^ auquels il est soumis." *
Diese betont herausgegriffenen Züge werden allein unter-
strichen, werden allein mit den auf heimischem Boden ge-
vachseneti Stilmitteln des Rokoko ausgebildet und mit einem
ziemlich Freien chinesischen Dekor, das nicht viel über die
Teetasse, den Sonnenschirm hinausgeht, umkleide!. Dasselbe
dürfte, trotz der Naturstudien, die Watteau nach einem Chinesen
gemacht hat,- auch von den Chinoiserieen der französischen
Maler gelten.
Mit der dritten, der sogenannten plastischen Periode
^1735—175(3)^ verläßt das Meißner Porzellan immer mehr die
Bahn des chinesischen Einflusses. Denn es stellt sich unter
Kändlers Initiative in der Darstellung figürlicher Plastiken andere
Aufgaben, als die von China eingeführten Porzellane im wesen-
tlichen gelöst hatten. Die Chinesen haben im Vergleich zu den
Japanern die Porzellanplastik verhältnismäßig wenig ausgebildet,
und man wird sagen dürfen, daß mit Ausnahme der Pagoden,
die allerdings wohl darum, weil sie mit ihren bizarren Formen*
die Forderungen nach der kleinzierlichen Groteske am meisten
erfüllten, sehr zahlreich im achtzehnten Jahrhundert verbreitet
waren, ^ die chinesische Porzellanplastik auf Europa damals keinen
' Ebd, 125^ — ■■■ Atigeb, bei Rosenberg: Antoine Watteau. Biele-
feld u. Leipzig IS96. Nr. 7. — ' ßerlitig 56ff. — * Voltaire i M. de
FarcalquJer au nom de Mme. la Marquise du Chätelet ä ijui il avail
cnvoyf upe pagodo chinoi&e XII, 511:
Ce grös Chinois en tout diff^re
Du Frangais qui me l'a donnä;
Son ventre en tonne et fagonnä
Et votre taille bien legäre.
11 a l'air de s'ewasier
En admirant noire hdmisphÄre
. . . Le CDU pecicb^ clignant les yeuv
11 ril aux artges d'iin soi rire, etc.
'• Vgl. die Pagodenburg bei Nymphenburg. „Pa gölten bürg, oder das
indianische Gebäude genannt, ein Churbayrisches Lustschloß ... mit
allerliBiid Chinesischen Figuren und Pagoden," Grqßes universales
(44
bedeutenden Einfluß ausgeübt bat. Die europäische Porzellan-
plastik des Rckoko muD ebenso wie der plastische Schmuck an
an den chinesischen I-usthäusero der fürstlichen Residenzen im
Grunde als etwas selbständig Gewordenes angesehen werden.
Gleichzeitig tritt aber auch in der Kolorisiik ein Wandel
ein. Die lebhafteren Farben der chinesischen Porzellane aus
der sogenannten Familie Rose (1644 — 1723) unter der Regierung
des Kaisers Kang~hi (1662 — 1722) und ihrer Ausläufer unter
Yong-tsching (1722—1735) und Kien-long (1736— 1796) mußten
vor den zarteren Farbentönen des Rokoko weichen.' In den
siebziger Jahren tadelt sogar ein Reisender den Geschmack der
Holländer, weil sie aus Handelsrücksichten dem „buntscheckigen"
Chinaporzellan den Vorzug gaben. ^ Und selbst Voltaire, der
die begeisterten Verse auf das chinesische Porzellan gedichtet
hatte:
„La porcelaine et la Fr^le beaut^
De cet 6mail ä la Chine empäli^
Par mjlle niains ful pour vous pr£par£e,
CuLle, recuite et pejnte et djapri^e"
muß eingestehen, daß auch auf dem Gebiete der Porzellaakun&t
China von den Europäern geschlagen sei.^
Derartige abgiinstige Meinungen über das chinesiche Porzellan
Jn der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entsprangen
einmal der vor allem durch Pauw verbreiteten Nachrichten über
die Unzulänglichkeit der bildenden Künste in China überhaupt,'^
dann aber dem Umstände, daß das chinesische Porzellan tat-
Lexikon XXVI, 1740 Sp. 239, 240. — Bei der Hochzeit des Ertprinzen
August Wilhelm iU Braunschweig-Lüneburg-"l!polfenbijtle! mit der ver-
winibten Erbprlnt^essin zu Holstein-Ploen (1710) hatte man als Tafel-
schmuck „kleine, nach der thinesischen Art gemachte Figuren in ge-
wissen \Ceiten aus einander gesetzt". Lünig: Theatrum ceremonial«
politicum. Leipzig 1719. Im Fasching 1734 im Nymphenburger Garten
erschienen bei einer maskierten Hirschtagd auch chinesische Pagoden.
Heigei: Nymphenburg. Bamberg IS9I, 44. Aullerdem in Traunnannsdorf
<Fürstl. Bathianisches Schloß): 7 Pagoden Bernoulli X 231. tn der
Parzellansammlung daselbst 4 Pagoden u. eine besonders große, ebd. 237^
In Laaschitz bewegl. japanische Pagoden, ebd, 214. In Iwanska mehrere
Pagoden, ebd. 225, In Estherhaz 24 Pagoden, ebd. IX, 26ä, s. a. Lady
Montagu 49.
'■ Scherer: Die Porzeliansammlung des Schlosses Vilhelmsthal
bei Kassel. Kassel 1892, 11. — "^ Bernoulli VIII, 99. Vgl, a. das
PorzeUanlager in Amsterdam. Sie brachten 2. B. in einem der ersten
Jahre des achtzehnten Jabrhunderts 45 000 Stücke chinesischen und
japanischen Porzellans nach Holland. Hannover 16^ 17. — " Voltaire
XIV, 136. — ■> Voltaire XLVtl, 519. - '' Kechercbes: phJlosopbiques
sur les Egyptiens et les Chinois.
145
sichlich immer schlechter wurde. Diese Verscblechterung
hatte ihren Girund nicht nur in der Massenfabrikation für den
europäischen Export,' sondern auch darin, daß die Chinesen,
mit der ihrer Nation eieentümlichen Geringschätzung alles
fremden Wesens, selbst ihre barbarischsten Erzeugnisse als völlig
ausreichend für die Befriedigung des europäischen Kauf-
bedürfnisses ansahen. -
Demgegenüber halfen sich die europäischen Kaufleute
dadurch, daß sie die rohesten Produkte chinesischer Töpferkunst
in der Heimat überdekorieren ließen. Unter den Rechnungen
für die Du Barry Ündet man eine Für ein chinesisches Service
nd dabei die Bemerkung, daO es von demselben Maler dekoriert
Set, wie ein vorher erwähntes Dejeuner chinois.^ Diese Über-
dekoration ging so weit, daQ man unter dem Directoire dem
modischen Geschmack entsprechend Japanporzellan mit etrus-
kischen Malereien versah.^
Indessen verloren natürlich die guten alten Stücke des
BUnc de Chiue, des Craquel^, der blauen Periode, der Familie
Verte etc., wie man sie in Dresden sieht,* nichts an ihrer
Schätzung. Sie bildeten nach wie vor die seltensten, geliebtesten
Inventars tu cke der außerordentlich reichen Porzeil ansamm tun gen
in den fürstlichen Schlössern.*
Es wäre müßig, hier noch weitere Beispiele anzuführen,
um zu zeigen^ wie weit auch die Begeisterung des Einzelnen
für das Porzellan ging. Nur eine dafür sehr bezeichnende
Anekdote sei zum Schluß erwähnt: Als August der Starke, der
sicherlich die wertvollste Porzellansammlung seiner Zeit besafi,
und der in den Jahren 1725 — 1733 aus seiner Meißener Manu-
faktur für li5253S Mark Porzellan entnahm,' daran ging, sich
in Pillniiz eine neue SchloGanlage zu schaffen, riet ihm Graf
iVackerbarth, das neue „orientalische* Lusthaus aus Porzellan
l ^ Metners: Abhandlungen sinesischer Jesuiten, Leipzig IT^S. I3ff.
U » Grau] 9, 10. — " Goncourt; 344 u. 7. Juli und 31. August 1773.
[- * Goncourt: Histoire de la sociftß fran^aise, 189. — '' VgL den
Führer durch die Dresdener Porzellan- und Geflßsammlung, Ent-
stein: Die Königliche Porzellan- und Gefäßsammlung. Dresden ISSQ.
^^- •* Vgl. die Porzellansammlung von Preßburg, Bernoulli X, 201 ff.
^■.anschitz ebd. 215, Esterbaz ebd. 256 tr, 266^ 267. Scbönbrunn ebd.
^jCIV, 24 ff., für Uresden: Keyßler: Fortsetzung Neuester Reisen durch
Teutschland. Hannover, 1741j 1084, 1085. Amsterdam: Sicbtermannisches
fslaiä, Bernoulli» XI II, 20. Leisching: Das Porzellanzimmer tm
bubskischen Palais zu Brunn 1902, Der Porzellanschatz im Rokokos chloQ
Ansbach 1S94. Scherers, o. Münsrerberg, 24 tf., s.a. Lady Montagu,
^7, 44, 124) 171. Antiquarius des Eibstroms, 140. — * Letinert 36,
10
146
er'bauen zu lassen, denn das vürde etwas so Besonderes sein,
wie man es weder in deutschen, noch welschen Landen, noch^
anderswo finden könne. ^ f
Fügt man zu den obengenannten Chinawaren noch die
mehr spielerischen Sammlungen von Nippes und Bibelois:^^
Hausgeräte aus Speckstein,^ Miniaturkopieen des Kaisers chlosse^H
von Peking,* künstliche Uhrwerke,^ Gemälde/ Medaillen mit
Darstellungen aus der chinesischen Mythologie^ oder endlich
chinesisches Feuerwerk, an dem Peter der Große ein beson-
deres Interesse hatte/ oder die Farbenprunkenden Tiere Chinas:
die Goldfasanen, die Gold- und Silberfische," die jedenFalls
nicht vor dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts nach
Europa gekommen waren, hinzu, so erhält man auch noch im
Einzelnsten die Farbtöne für das bunte und prächtige Bild des
China begeisterten Europa. ^M
Und indem sich das Rokoko mit solchen kleinen Kunst-
werken umgab, indem es sie wie keines der früheren Jahr-
hunderte mit seiner ganzen Liebe umfing, wie keines der früheren
Jahrhunderte, immer zarter und zärtlicher auszubilden verstand,
scheint es die Forderung des Weisen unserer Tage im voraus
erfüllt zu haben: fl
„Stellt kleine, gute, vollkommene Dinge um euch, ihr höheren
Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommenes
lehrt hoffen."
IJl.
i
Wenn In den obigen Ausführungen die Einwirkung Chinas
auf Europa mehr nach der materiellen Seite hin, an der Hand
der einzelnen von Ostasien eingeführten Handelsgüter fest-
gestellt und in ihren Weiterbildungen verfolgt wurde, so erscheint
es als Notwendigkeit, hier auP die feineret^ Äul^eruitgcn der
europäischen Chinabegeisterung in Leben und Kunst des acht-
zehnten Jahrhunderts einzugehen und seine freieren, eigentlich
von Anfang an selbständigeren Schöpfungen auf den Gebieten^
der bildenden und redenden Künste näher zu betrachten. ^M
> Minckwitz 18. — * Graul 25. — " Vgl. Kassel» Bernoulli
IX, IM, — • Im Haag, ebd. 207. — ^ In Berlin ein künstliches Uhrwerk
„so untterscta idtliche Figuren repräsentieret undi von denen Chinesen
soll gemacht worden sein". Hagelstange: Archiv für Kuliurgeschichie,
III, Heft 2, 208. — " Im Judenpalasf zu Amsterdam. Rhein. Antl-
quarius, 71. — ' Münzkabinett zu Halle, Bernoulli X, 107. — ^Büscblng
XX. s. o. — * Bernoulli VllJ, 125» XIV, 53, X, 218.
147
P
Man muß dabei die bereits oben anläßlich der Chinoiserieen
in der Kunst des Porzellans a.ngestellte Erwägung im Auge behalten
und sie an den einzelnen Äußerungen der Chinabegeisterung in
Architektur und Bildnerei, Malerei und Poesie nachprüfen; man
wird durchaus entsprechende Ergänzungen finden.
Dean in den Versuchen, chinesische Architektur nach-
zuahmen bemerkt man, ganz ähnlich wie in der Geschichte des
Porzellans, daß bei dem ausgesprochenen W^illen chinesisch,
oder doch zum mindesten „orientalisch"/ „indianisch" zu
sein, immer nur bestimmte, besonders hervorstechende, bizarre
Motive aus der chinesischen Architektur herübergenommen und
in die europäische einbezogen werden. So ist, um ein Frühes
Beispiel anzuführen, die AuQenarchitektur der Nymphenburger
Pagodenburg (1716) durchaus im konventionellen Stile der Zeit
gehalten und nur das Innere im chinesischen Geschmacke
dekoriert. Oder in Pillniiz (1720—1721) zeigt sich der
chinesische oder orientalische Einfluß lediglich in den aller-
dings äußerst charakteristischen Dächern, die, chinesischen
Kopfbedeckungen ähnlich, ohne eigentlich innere, organische
Verbindung auf den völlig barocken Unterbau aufgesetzt sind.'
Wie wenig man einen klaren BegriPF von chinesischer Architektur
besaß, geht auch daraus hervor, daß Mendoza die „gemeinen
Häuser* der Chinesen „auf römische Art gebaut" nennt
und von den chinesischen Triumphbögen meint, man könne sie
mit den römischen Antiquitäten vergleichen.^ Auch Gottsched
behauptet noch 1701, daß die chinesischen Gebäude mit den
griechischen und römischen Ähnlickkeit hätten.* Ebenso weist
in Dresden die Bezeichnung «Holländisches Palsis" neben dem
eigeatlicheo Namen japanisches Palais" <I713 — 1715)'^ darauf
hin, wie weit man von einer unbedingten Nachahmung des
asiatischen Vorbildes entfernt war. Und ähnlich Sndet man
im Innern der Pagodenburg das chinesische Dekor in freier
und phantastischer Weise mit Delfter Kacheln auf das ge-
schickteste verbunden.
Späterhin suchte man allerdings den chinesischen Vorbildern
immer näherzukommen. Aber auch das dafür vielleicht be-
zeichnendste Beispiel, das Japanische oder Chinesische Haus bei
* Miackwitz, IS. Anm. Vgl. a, Anliquarius des Elbstroms. 243Ef,
— • Die Abbildungen bei Minckwitz. — ' Mendoza (Kellner) 23,
22, 26. — ' Neuestes aus der anmutbigen Gelehrsamkeit XI, 487. —
'' Aniiquarius des ElbStroms, 313. Herder (Suphan VI!I, 10) ver-
gleicht auch die holländischen Gtrten mit den chlnesichen und tadelt
beide wegen ihrer Uonatur.
10»
US
Sanssouci, das 1755 von HeymüUer und Benkert erbaut wurde,'
stellt sich doch im ganzen^ trotz seiner vielen chinesisch sein
sollenden Naturalismen^ als eine ganz freie, von Chinesenturn
wie von reiner Rokokoarchitektur gleich weit entfernte Schöpfung
dar. Der plastische Schmuck, der nach den Zeichnungen des-
selben holländischen Bildhauers, von dem die chinesischen
Figuren im Konzertsaal des Potsdamer Stadt Schlosses stammen,
gefertigt wurde,' zeigt ebenso deutlich die weite Kluff, die
sie von chinesischer Plastik trennt. Sie sind wie das liebliche,
die Violine spielende Mädchen auf der Ostseite des kleinen
Lusthauses, Kinder einer freien, von den galanten und zärt-
lichen Empßndungen des Rokoko genährten Laune.
Dem entspricht denn durchaus, wenn Goethe im ^Triumph
der Empfindsamkeit* die künstlichen Grotten' in den englischen
Gärten der damaligen Zeit als „chinesisch-gotisch" bezeichnet,''
ein Ausdruck, den später ein deutscher Reisender auf die Kioske
des Parkes von Katharinenhof angewendet hatj' wenn Justus
Moser in einem satirischen Briefe über derartige Parkzieraten
schildert, wie in einem modischen Garten der Zeit neben einem
chinesischen Kanapee mit Sonnenschirm aus vergoldetem Blech
und neben einer chinesischen Brücke ein kleiner gotischer
Dom steht,' wenn der Holländer van Braam die Brücken in
China fast durchweg als gotisch bezeichnet.* Man sieht: die
Grenzlinien der einzelnen Stile verwischen sich und nur das
Romantische bleibt als wesentlich für den Eindruck bestehen.
1 Nicolai 111, 1228. — ' Ich denke hier vor allen an die als
Palmenbäume gestalteten Säulen mit ihren unstilisierten Blätterkapitälen.
— * Nicolai in, ]]45, 1273, — ^ Über die künstl. Grotten d. Chinesen
vgl. Neuhof 84, 179; Dapper 24; Faßmano VI, 263; Anderson 45;
Stounton lOl; de Guignes II, 19L — " Goethe: Werke, Weimarer
Ausg. XVJI, 3S; vgl. a. Herder (Suphan) VIlI, 91. -- " Meyer; Dar-
stellungen aus Rußlands K»iserstadt usy^. Hamb. 1829, 220, 221. —
^ Patriotische Phantasien ^1773), Berlin 1S42 II, 330ff. Vgl, a.
d. Anm. über die gotischen Häuser in meinem Aufsätze: Bemerkungen
2U den Briefen der Kaiserin Kath. II. an Ch.PrincedeLigne in
der Festschrift zu Theodor Schiemanns 60. Geburtstage. Berlin 1907, 112,
Vgl. dazu als Ergänzung: Im Parke des Gra.fen Tschernin zu Schönhofen
in Böhmen ein gotischer Tempel, abgebildet bei Grohmann, Heft 34,
Tafel 8. Zu Machern bei Leipzig, Ritterburg des preußischen Obers(3ll-
meis*ers Grafen Lindenau, ebd. Heft 39, Tafel 7, s.a. Sporschil; Wan-
derungen durch die Sactisische Schweiz. Leipz. 1840, 65. Ijn Parke zu
Hohenheim eine gotische Kapelle, Grohmann, Heft 40, Tafel 8, Bei
Dessau gotisches Jagdhaus, ebd. Heft 29, Tafel 10, In Roswalde gotische
Gebäude. Auswahl kleiner Reisebeschreibungen, Lips. 1785,1,35, Für
Dresden (KrubsaCius) vgl Schumann: Barock und Rokoko, Leipsig 18S5.
88; für Magdeburg vgl. J. A. Breysig II, 167b,— » van Braam 1, 121,11,40,
t49
R
I
Wie weil aber die Freude an derartigen architektonischen
Cbinoiserieen ging, möge folgende, rein statistische Zusammen-
srelluDg zeigen. Ich ßnde, daß die Königin Ulrike von Scliweden,
auch in dieser Neigung ^ ihren Brüdern Friedrich und Heinrich
und der bayreuthischen Schwester durchaus gleich gesonnen,
sich bei ihrem Lustschloß Drottningholm eine ganze chinesische
Anlage geschaffen hat." In Rheinsberg waren nicht nur ein-
zelne Zimmer chinesisch geziert," sondern neben dem chine-
sischen Lusthaus im Parke gab es dort eine chinesische Fischcr-
hüite, einen chinesischen Gefliigelhof und am See chinesische
Leuchtfeuer. In Sanssouci finde ich, außer dem chinesischen
Hause, eine heute nicht mehr vorhandene, dazu gehörige
chinesische Küche mit chinesischen Geraten ° erwähnt und einen
Turm, auf chinesische Art verziert und mit Drachen geschmückt.^
In Berlin je ein chinesisches und japanisches Haus.^ In Mon-
plaisir bei Schwedt einen chinesischen Pavillon.^ Ich Rnde
ferner bei Amboise in Frankreich die Pagode von Chanteloup,
das einzige, welches von dem prächtigen Besitztum übrig ge-
blieben ist".' In Luneville ein chinesisches Lusthaus,^" im
Garten des Grafen Palaviccini bei Genua ein chinesisches Tee-
äuschen, in Amsterdam Garten und Architekturen im chinesi-
schen Geschmack,'^ in Kew in England chinesische Garten-
gehäude^'^ in Learaington in einem chinesischen Garten einen
chinesischen Tempel.-^^ Ferner in Düsseldorf ein chinesisches
Lusihaus," in Wilhelmstal zwei chinesische Häuser;" in Äthers-
berg, ^"^ in Leipzig '^'^ je ein japanisches Haus, in Oranienbaum bei
Dessau ein chinesisches Haus und einen chinesischen Turm,^^ im
Parke zu Ballenstedt ein chinesisches Sonnenhauschen, nach dem
Entwürfe von Johann Adam Breysig,*" in Neu-Gattersleben einen
arte mit chinesischem Parasol.**^ In der Schweiz wurde ein
^ Vgl. meinen Aufsatz; Das Rokoko und die Tiere. Montagsblatt d.
Magdeb. Zeitung 1907, Nr.9ff. — " ßernoulli X, 91 ff. - ^ Hamilton:
Rheinsberg. London ISSO 1, 49. — * Ebd. II, 104, 105. — <■ Nicolai
in, 1228. - * Ebd. 1227. — ' Ebd. II, 934, 931. - " Eernoulli II, 273.
— " Semilassos vorletzter Weltgang. Stuttgart 1835 II, 202, — "> Ber-
noullt XV, 182. - " Ebd. X, 170. - '■= Muihesius 1030 — " Briefe
eines Verstorbenen. Siuiig. 1836, 111, 219. — '" BernoulJi XV, 329. —
iA (Wagner) Reise durch den Harz u. d. bess. Lande. Braunschweig
1797, 214. — '■" Der reisende Dorfprediger 1800. — " Eernoulli
XII, 309ff. — "^ Büttner: Pränner zu Tai; Anhaltische Bau- und Kunst-
denkmäier, 380 (mit Abbildung). — '" J. A. Breysig: Gedanken, Skizzen,
Entwürfe usw. Magdeburg 1799— ISOl, 251. — "<• ßernoulli IX s. Plan
Nr. 53, — Die Vorliebe für derartige chin. Parasols reicht noch bis
in die erste Jahrzehnte des neunzehnten Jahrh. hinein. (Graul 34.)
150
junger, aus Frankreich zurückgekehrter Mann wegen modischer
Neuerungssucht streng getadelt, weil er sich in seinem englischen
Garten chinesische Lusthäuser anlegen ließ.' Im englischen Garten
zu München befindet sich noch heute ein chinesischer Turm,
den Karl Theodor einmal „bis zum Gipfel" bestieg.^ im Garten
des Grafen Clam zu Frag gab es zwei chinesische Vogelhäuser
mit darauf sitzenden Schirme haltenden Chinesen," in VÖslau,
einem Gute des Grafen Fries, eine chinesische Kolonnade;* in
Laxenburg^ in Schönhof* chinesische Pavillons, in Roswalde tn
Mähren Pagode ntempel,^ in Felsburg, in Entzersdorf, in Traut-
raannsdorf, in Heimburg, in Esterhaz je ein oder mehrere
chinesische Lusthäuser, z. T, »sehr gustos geziert".' In dem
MarktHecken ManersdorF gab es ein Bad mit chinesischen
Pavillons* und in dem PalRschen Garten zu Preßburg neben
einem chinesischen Lusthause eine Nachbildung des Porzellan-
turmes von Nanking/
Ganze chinesische Dörfer sah man bei Drottningholm, in
Moulong^" und WeiOenstein bei Kassel; ^^ chinesische Brücken
in Potz-Neusiedel an der Leitha^~ oder in Erlau beim Fürsten
StRhremberg."* Einen Saal im chinesischen Geschmacke fand
man zu Tiefurt bei Weimar, auch zu Niederweit,'* auch zu
Iwanska in Ungarn."* In Hellbrunn bei Salzburg, in Traut-
mannsdorf hatte man chinesisch dekorierte Bäder;'* in Esterhaz
einen chinesischen Tanzsaal, in dem die Musikanten^ chinesisch
kostümiert, zum Tanze aufspielten; Ferner Bndet man chinesische
Theaierdekorationen häuHg erwähnt.'^
Will man sich aber einen Begriff von derartigen chine-
sischen Saaldekorationen machen, so muß man in Nymphenburg
die vom Maler Gumpp 1717 — 1718 ausgeführte .indianische
Schilderei' im Speisesaal der Pagodetiburg'^ betrachten, oder
So befand sicli in Magdeburg im HerrenJtrug, einem großen Volks-
ganen, ein chmesisetier oder japAnisctier Schirm, der 1818 errichtet
wurde u. bis 1856 dort stand. Vgl. Tolliii: August Wilh. Francke,
Ceschichtsbliltter f. Stadt u. Land, Magdeburg XX, 27. Dieser Schirm
erregte noch 1840 d&s gr&ßte Entzücken der Einwohner. Magdeb. Zeitung
1840 Stck. 110. — ■ (Ambschel:) Die Briefrascbe aus den Alpen.
Zürich 1780, IV, 111. — " Heigel 78. — " Bernoulli XII, 922. —
* Ebd. XVI, 231. — f' Abgebi3det bei Grob mann, Heft 8, Tafel 6; Heft 38,
Tifel 9. — " Auswahl kleirtCf ReisebeschreEbungen I, 29. — ' Ebd. 245,
XIV, 72, X, 230, 243Ef. — » Ebd. 254. — » Ebd. X, 197, 198. — ^" Weber:
Deutschland. Stuttg. 1834, 2. Aufl. IV, 340. — " (Wagner) Reise durch
d. Harz 194. — " Bernoulli X, 231. — " Ebd. XIV, 86. — " Ebd.
XIII, 7. — '^ Ebd. X, 226. ^ 1" Ebd. 249. — " Vgl. Goethe: Triumph
der Empfindsamkeit Akt II. — J. A. Breyslg, Gedanken usw. 11, Nr. I€7b.
— " Heigel 32.
151
man muß zu den Meistern der Cbinoiserieen in Frankreich
gehen: zu Gillot, der seine Motive dem cbiaesischen Porzellan
entlieh/ zu Watteau, der sein Schüler ward und das Schloß
La Muette mit Chinesischen Figuren schmückte,^ zu Huet, dem
Maler der Chinesen und der Affen in Cbantilly* oder endlich
zu Boticher, von dem man heute zahlreiche Cbinoiserieen im
Museum zu Besangon sehen kann.^
Wichtiger aber, als in diesen, im letzten Grunde betrachtet,
dach nur spielerischen Nachahmungen chinesischer Architektur
und Malerei zeigt sich der Einfluß Chinas in der Zier- und
Gartenkunst der Zeit.
Ich will von den chinesischen Gärten und ihrer Einwirkung
auf den englischen Gartenstil hier nichts weiter erwähnen, da
ich mich darüber demnächst an anderem Orte ausführlicher
zu äußern gedenke. Von der Zierkunst jedoch gilt, daß in ihr
der Einfluß Chinas kaum zu hoch veranschlagt werden kann.
Wohl finden sich auch hier Dinge, die keinen höheren Wert
als den der Spielerei, der Kuriosität beanspruchen dürfen; und
betrachtet man etwa Einrichtungsvorlagen tn chinesischen
Kabinetten, wie sie in dem Kupferstichwerke des Daniel Marot''
geboten werden, so wird man sich sogar eines sehr unangenehmen
rEindruckes nicht erwehren können.
f Solche Vorlagebücher wie das JHarotsche gab es aber eine
große Anzahl; vor allem In England, wo außer dem bahn-
.brechenden Buche von Chambers" eine ganze Reihe derartiger
■Publikationen'' auf Chippendale, (geb. zwischen 1710 und 1720)
den ersten der damaligen Möbel künstlet, gewirkt haben.
Aber wenn auch, wie man wobl mit Recht behauptet,^ solche
chinesischen Nacbahmungen von Chambers nur als ein Diver-
tissement innerhalb der immer strenger, immer klassicistischer
werdenden englischen Kuost der sechziger Jahre angesehen und
geduldet wurden, so hat doch einer der ersten Vertreter des
englischen Klassizismus, Adam, es nicht verschmäht, im Claydon-
K
d
'■ Hannover 16. — " E ei Ide. Goncourt: Van au ISiime siäice.
aris 1902, 1, 88. Abbild, b. Rosenberg 6fT., D'Arg«nty: Antoine
Watteau. Paris 1891, 118. — « Oraul: Das 18. Jahrh. Dekoration u.
Mobiliar. Berlin 1905, 18, wobei zu bemerken ist, daB Affen scbon in
der iVlalerei des 17. Jahrb., wie bei Teniers d. J., eine große Rolle
pielen. - ' Nr. 35029 - Nr. 35037. Goncourt: farl. I, 295, 296. -
S. d. Abbild, b. Grau! 21. — " Chambers: Oe&sins des äditices etc.
des Chinois. Londres 1757. — ■ Vergl. d. Buch v. Edwards u. Darley,
ca. 1750, zitEert bei Muttiesius 1027. Halfpenny: New designs Tor
Chinese Tetnples, Triumphales Arcbes, Gardenseats etc., 1750 ebd. 1030.
Für Deutschland vgl, Grohmana. — ^ Graul 31.
152
House Räume im chinesischen Geschmack, mit chinesisclien
Möbeln und chinesischen Türumrahmungen, — wie es scheint,
von Chippendale - — einrichten zu lassen/ Späterhin hat noch
Sheraton (1751 — 1806) einen Entwurf zu einem chinesischen
Zimmer für den Prinzen von Wales geliefert.^ Und noch heute
wird von Kennern das Stabwerk der Chippendale-Stiihle, dl^M
nicht nur für die moderne englische, sondern für die moderne
Möbelkunst überhaupt vorbildlich geworden sind, als bleibende
Frucht dieser chinesischen Nachahmung angesehen. M
Andererseits lassen sich die kühnsten und oFt auch die
feinsten Freiheiten der Französischen Rokoko-Ornamentik, etwa
der Cuvilli^s' zu Nymphenburg oder der deutscher KünstleiS
zu Würzburg und Bruchsal, gaf nicht ohne den chinesischen
Einfluß erklären.'
Es liegt nahe, diese Betrachtung über den Einfluß Chinas
auf die bildende Kunst des achtzehnten Jahrhunderts nicht zu
schließen, ohne noch einen vergleichenden Blick auf die künst-
lerische Einwirkung Ostasiens im neunitehnten Jahrhundert zisfl
werfen, Gewiß unterscheiden sich beide Jahrhunderte in der™
Annahme der fremden Einflüsse wesentlich. Das Rokoko war
historisch viel zu naiv, aber andererseits viel zu souverän,
als daß es sich in dem Maße hatte beeinflussen lassen, wie
es das neunzehnte Jahrhundert getan hat. Man kann viel-
leicht sagen, daß das neunzehnte Jahrhundert die fremden Ein-
Hüsse innerlicher verarbeitetete als das Rokoko, wo sie am
Ende doch nur auf der Oberfläche liegen blieben. Wichtiger
aber scheint mir zu sein, daß dieses der Wirklichkeit so ab-
gewandte Jahrhundert sich gattz selbstsicher und launenhaft
lieber verlieren wollte an die Reize esotischer und historischer
Romantik — hierfür sei Chippendales Kunst, in der sich so
seltsam die Liebe zu China und die Liebe zur Gotik mischen^*
noch einmal Zeuge — als daß es, wie die wirblichkeitstreuere
Schwester, technische oder Nützlichkeitslehren von den fremden
Künsten zu gewinnen trachtete.
Ein Blick auf die von China beeinflußte Literatur wird
die gleiche Ansicht gewähren. Zunächst kann man von dieser
'Graul3l.— ^Mulhesi US 1030, 103t. — "Graul 27, — 'MuIhesiuB
1030, 1031. vgl. a. das von den Engländern stark beeinflußte Grab-
mannsche Ideenmagazin, wo mehrfach auf ein und demselben Blatte
etwa Vortagen für chinesische und gotische Brunnenverzierungen (Heft 2,
Tafel 3) oder ehinesische und gotische Brücken gegeben werden {Heft m
Tafel S.)
I
153
r
Betrachtung die polyhistorischen Schriftsteller, deren Gelehr-
samkeit noch über die Antike und das Alte Testament hinaus
immer erst bei China aufhört, wie es Kotzebue in seinem
^jVielwisser" * so ergötzlich verspottet hat, ohne weiteres aus-
schliefen. Und ebenso soll hier von den exotischen Romanen,
die im siebzehnten Jahrhundert eine so große Rolle spielen,
die aber allerdings nicht allzu hauHg bis nach China gelangt
ind,- keine Rede sein.
Wichtiger scheint mir die deutliche Spnr, welche die große
EtaatsumwäUutie in Ostasien: der Sturz der chinesischen
Katserherrschflft durch die Tataren (1644) In der Literatur des
siebzehnten Jahrhunderts zurückgelassen hat. ^ Es ist natürlich
nicht wunderbar, da& gerade ein Holländer dazukam, dieses be-
deutsame politische Ereignis im fernen Orient als Stoff zu
einem Drama zu verwenden» da, wie gesagt» die Niederländer
■wegen ihres regen Handels nach Ostasien auch an jeder Staats-
"Veränderung in China äußerst interessiert waren. Allein» es
ist doch merkwürdig, daß ein so unmittelbar zeitgenössisches
JEreignis in der Kunst des führenden Mannes der damaligen
klassizistischen Dichtung, wie Vondel, einen so lebhaften
"Wiederhail fand, und ohne eine starke e?Lotisch- romantische
eigung kaum zu erklären.
Indessen wird man von diesem Vondelschen Dratna nicht
sagen können, daß es eine weitere Wirkung auf Europa aus-
geübt habe. Die Einflüsse Chinas auf das europäische Schrift-
■tum sind vielmehr an die, vor allem durch Du Halde,* ver-
mittelte Kunde von der chinesischen Literatur selbst geknöpft
So hat Voltaire, der beredteste Herold der Chinabegeisterung
in Frankreich,* ein bei Du Halde mitgeteiltes, von P. Bremare
t
' Leipzig tan. — 'Vgl. Hagdorn: Aeyqqan oder der große Mogol.
,, i, Chineisclie u- Indische Stahts-, Khegs- u, Liebesgeschichte. Amsier-
«!am 1670. Happel: Der Asiatische Onogambo, darin der jeizi-regierende
KayEer Xunchius 4l$ ein umbsch weifender Ritter , , , vorgestelJet wird.
Hamburg 1673. — ' Joa$t van dem Vondel; Zungebin oder Onder-
gang der Sineeischen Heerschappye (1Ö66) bei Jonckbloet: Nieder-
ländische Literat urgesch. Deutsch v, Berg, Leipzig t872 IL 271, 272.
— * Wie stsrk das D« HaJdesche Werk auch auf Deutschland gewirkt
hat, zeigt Biedermann: Goetheforschungen, FrankFun a. M. 1879 PT.
]. liSff. IIL J75ff. Der Aufsatz von E. WoJff: Die erste Beriihruiig
des deutschen Geisteslebens mit dem chinesischen, Frankfurter Zeitung
11. Februar 1902, war mir leider nicbt zugänglich. — ^ Vgl. Voltaire
an d'Argenson U755) ^le ne vis plus qu'avec des Chinois*^. d' Argen son;
Memoires 4ed. Jauner^ V, 67. Vgl. a. die Inschrift Abb6 Galianis unter
das Standbild Voltaires. Correspond. II, 85.
154
(Primäre) übersetztes Drama eines chinesischen Dichters aüs
dem vierzehnten Jahrhundert* für das französische The^iter
umgedichtet^ das als „Orphelin de La Chine" 1755 aufgeführt
wurde. ^ Und wenn Voltaire auch erklärt; ^La trag^die daB
Tschao est loule barbare en comparaison des bons ouvrages de ™
HOS jours", und daß man sie hinsichtlich ihrer Regellosigkeit
in der Vernachlässigung der Eintieit der Zeit nur mit den
.farces monstrueuses de Shakespeare et de Lope de Vega, qu'on ^
a nommees tragedies' vergleichen könne, so fügt er doch hinzu: ■
,Qiais aussi c'esi un chef-d'ffiuvre, si on le compare ä nos
piöces du quatorziäme siScJe".^
Auf das gleiche Studium de$ Du Halde geht auch Voltaires ■
berühmtes Kapitel in der Princesse de Babylon (1768) iürück,*
in detn ganz, kurz, aber äu&erst charakteristisch die Muster-
hflftigkeit des chinesischen Reiches und seiner Regierung gc- ■
schildert wird. Die Lektüre dieses Kapitels berührt den Leser
von heute sicherlich viel sympathischer als die der Waise von
Chinaj die trotz des stolzen Voltaireschen Programms: ,J'ai
voulu peindre les mceurs des Tartares et des Chinois. Les
aventures, les plus interessantes, ne sont rien, quand elles ne
peignent pas les moäurs" ^ dagegen ganz konventionell und Farblos fl
wirkt. Denn in der Beschreibung Chinas aus der „Princesse
de Babylon" 6nden sich viel mehr Ansätze zum Stil der bizarren
Chinoiserie im Sinne der Malerei und Architektur des acht-
zehnten Jahrbutiderts, der in der Literatur mit Gozzis Turandot
(1763) die Schiller (17SS) bearbeitete, vielleicht seine höchste
Voltendung erreicht hat. In Gozzis Werk sind in der freien
phantastischen Verbindung der chinesisch sein wollenden Grund-
stimmung mit den typischen Masken der italienischen Komödie
durchaus analoge Dinge geschaFFen, wie auf architektonischem
Gebiete etwa in der Pagodenburg zu Nymphenburg oder in dem
Chinesischen Hause Friedrichs des Großen zu Sanssouci. Das
Rätselwerk im zweiten Akte von Schillers Turandot leitet dann
auch leicht und ungezwungen zu Schillers Sprüchen des Kon-
fuzius (1800)* über.
' Thöätre de Voltaire. Paris 1777, V, 170. — - Über die übrigen
Nacbahmungen und Umdjchtungen der Waise von Tschao vgl. Bieder-
mann [, 116: „Auf dieses Schauspiel gründete Metastasio; L^eroe Cinese
(komp. V. Gluck, Vien 1755. Riemann: Musiklexikon, 5. Aufl. Leipzig
1900, 399), Murphy; The Chinese orphan Ein Student, FriedrichSt in
Göningen ^Der Chinese". Über den EinfluO auf Goethes „Elpenor" vgl.
Biedermann I, I77ff. - » Thöätre V, 172. - -> j v. - "• Thffätre
V, 175, — * Vgl. zur genaueren Datierung Minor in Zs. f. d. A. XXIV, 49, SO.
I
15S
Ein anderer Ausgangspunkt für die chinesischen Einwirkungen
"^Huf die Literatur, vor allem Frankreichs, liegt in den Nach-
ahmungen der Persischen Briefe A^ontesquieus <172l>, in denen
die satirischen AusHille gegen heimische Übelstände mit Vor-
liebe cbinesischen Reisenden in den Mund gelegt werden. An
dem Gruudcbarakter dieser Schriften ist im Vergleich zu
Montesquieu fast nichts geändert, nur die Maske ist modischer,
^»ist chinesisch geworden,
^B Ich weiß nicht, ob etws Montesquieus Vorgänger Dufresny^
auf das erwähnte Fassmannsche Buch, ,der auf Ordre und
Kosren seines Kaisers reisende Chineser" (1721), einen Einfluß
ausgeübt hat. Jedenfalls scheinen mir dort, wo die einzelnen
europäischen Territorien und die einzelnen wichtigeren Ereignisse
der europäischen Politik durch das Temperament des Chinesen,
mit dem allerdings sehr wenig chinesischen Kamen „Herophilus"
gesehen und beschrieben werden, die ersten deutschen Ansätze
für eine derartig maskierte Gesellschaftssatire zu liegen, wenn
auch das Interesse des Reisenden und des Polyhistors durchaus
Kfiberwiegt.
H In engster Anlehnung aber an Montesquieu^ ist die politische
Satire Friedrich des Großen „Relation de Phihihu, g^missaire de
l'empereur de la Chine en Europe*,* entstanden. Sie stammt
aus den für Friedrichs Stellung so außerordentlich kritischen
ScbluGjahren des Siebenjährigen Krieges und ist gegen den Papst,
der sich ganz auf die Seite seiner Gegner gestellt hatte»*
gerichtet. „C^est l'aboiement d'un epagneul pendant un gros
tonnäre, gronde, qui emp6che de Fentendre", schreibt der König
an die Freundin von Sachsen-Gotha, der er dieses Werklein
sendet."
H^ Ob d'Argeas' , Chinesische Briefe", die nach seinen „Lettres
^■juives" (!73S> Im Jahre 1739 erschienen, den König zu dieser
Satire inspiriert haben, vermag ich nicht zu sagen. In der
,Epitre au Marquis d'Argens", wo anläßlich des Phihihu das
JWontesquieusche Vorbild und die „Lettres juives' erwähnt sind,
ist davon weiter nicht die Rede/ D'Argens' chinesische Briefe
schließen sich überdies ebenso wie der „espion chinois" (1766)
4er Goudar zugeschrieben wird und sich neben dem «espion
[
J Hettner241, SoreJ: Montesquieu, dtsch. Ubers. Berlin 1896, 21.
Oeuvres de Fred£ric le Grand XII, 148. ~ ■'' Cologne 1760. —
(Euvres XIX, 147ff. * „Le but e*t <!e donner un coup de patte au pape qui
binit les öpöes de mes ennemis et qui fournit des asiles ä des moines
parricides" CEuvres XIX, 144. - '' 5. M£rz 1760. (Euvres XVIH, 177. -
,» S. 0. CEuvres Xll, 148.
L
frangais" (1779) und dem „espion anglais (1784) in der zeit-
genössischen Literatur findei, ganz an die „Leltres persaones an".
Dieselbb chinesische Maske hat auch Friedrich der Große
gewählt, als er Voltaire Tür die erwähnte Epistel an Kien-Iong
dankte, die der Dichter ihm (4. Dez. 1770) übersandt hatte,
und die schmeichelhaFte Anspielungen auP den König enthält.'
Er antwortete Voltaire iu den „Vers de TEmpereur de la Chine"-
als Kien-lonfi selbst;
Manichou chinoisö mon tapabor en tdre
und schließt mit dem heiteren AusTall gegen den jesuitenfeind-
lichen Dichter:
Aux rives de \a. mer je vole en pa.lanquLni
Les vents et mon vaisseau me retidronf ä P^kin,
Ou candis qu'au couctiant tout ressent le desordre,
Je chasserai chez moi saint Ignace et san ordre."
Ähnlich eröirnet Wieland seinen »Goldenen Spiegel" (1772) mit
einer Vorrede des chinesischen Übersetzers dieser Schrift aus
dem „Schechiflnischen" an seinen Kaiser Ton-tsu.* Und ab-
schließend sei hier noch auf die Stelle aus Merciers Utopie
„L'an 2440" verwiesen, an der sich der Verfasser mit dem
chinesischen Mandarin über das nach europäischen Geschmack
umgewandelte Ghina unterhält. Merciers Phantasie erweist sich
aber dabei als ziemlich dürr. Er kommt, wenn er den Mandarin
sagen läßt: qLe bäton ne r^gne plus ä la Chine ... Le petit
peuple n'est plus lache et Fripon, parce qu'on a tout fait pour
lui eJever l'äme: de honteux. chätiments ne le courbent plus dans
l'avilissement; il a re^u des notions d'honneur. — Notre
empereur conduit toujours la charrue» mais ce n'est point une
vaine ceremonie, ou un act d'ostentation",^ nicht über die ein-
fache ümkehrung der von den Zeitgenossen am meisten gerügten
Mißstände hinaus. Demgegenüber erscheinen die Prophezeiungen
des Ahbfe Galiani, die er mehrfach in die Briefe an Mmc. d'Epjtiay
eingestreut hat,"* viel witziger und phantastischer, ganz abgesehen
davon, daß Galiani bei aller Bizarrerie viel richtiger prophezeit
hat, als Mercier.
Aber während in solchen Beispielen das chinesische Element
an der Hauptsache kankaturenhaft erscheint, die bisher noch
' Voltaire XllI, 278. — ^ CEuvres XIII, 3öff. — = Ebd. 39. -
* Wieland (Hempet) XVlil, 5ff. — ■■ L'an 2440, 368. — " Correspondance
in^dite 1765—1783), Paris ISIS, 27. April 1771, 1, 269, 24. Juli 1773, II, 2W.
157
nicht genannten Äußerungen bei Hamann und Lichtenberg, '-
erreichen darin den Höhepunkt, während in solchen Beispielen
versucht wird, die rokokomäßigen Forderungen nach der bizarreti
und minutiösen Groteske zu befriedigen, wie sie Voltaires Ge-
dicht auf die chinesische Pagode am stärksten betont,^ so tritt
die von Rousseau beeinflußte junge Generation ganz anders
auf, wenn sie chinesisch sein will: sie setzt an Stelle des
I Witzes gatit im Sinne Rous&eaus das Sentiment,
I Es ist merkwürdig, daß Herder bei der Ällseitigkeit seiner
Sammlung kein chinesisches Gedicht in die „Stimmen der
Völker" (1778 und 1779) aufgenommen hat. Indes beruht das
Fehlen chinesischer Gedichte unter jenen Volksliedern wohl
nur auf der damals noch sehr mangelhaften Kunde von der
chinesischen Lyrik in Europa.* Man findet aber schon vordem
Herderschen Buche unter den Dichtungen der im Gotiinger
Musenalmanach vereinten Poeten Gedichte im chinesischen
Gewände, die durchaus die neue Gesinnnung zum Ausdruck
bringen. Hier hat sich vor allem Ludwig August Unzer, der
auch ein Buch über die sinesischen Gärten schrieb' mit seiner
chinesischen Nänie oder Von-ti bei Tstn-pas Grab" einen Namen
gemacht. In demselben Bande finden sich auch chinesische
Sonnelte, die den Gegensatz solcher Dichtungen der Rousseau-
zeit zu den literarischen Chinoiserieen des Rokoko vielleicht
noch anschaulicher machen.
Es erübrigt noch, ehe man sich zu Goethe wendet, der
auch diese chinabegeisterte Strömung in der Literatur des
achtzehnten Jahrhunderts abschließt und krönt, einen Blick auf
den poliiischen Roman Hallers: „Usong, eine morgenländische
Geschichte"" zu werfen. Er hat in mehr denn einer Beziehung
Ähnlichkeit mit den satirisch-utopistischen Romanen Voltaires,
vor allem mit der Princesse de Babylon, Aber was diesen
vor dem Werk seines großen schweizerischen Gegners aus-
zeichnet, fehlt dem Usong, wie auch dem von Haller beeinfluDteo
1 Hamanns Sctirifren, Berl. 1821, IE, „Des Landes, ein Autor von
enzyklischem Witze lial eine cüinesische Kaminpuppe für das Kabinet
■ des gaHicianischeti Geschtnaclies hervorgebracht." 15, s. a. 403, 405,
517, IV, 25, 53, 54, 77, 90, 92, 172, 264, „die allgcmeyne Liberey, welche
Ober des chinesischen Kaisers Bart mit ebenso viel Deutlichkeit raisonnicrt
und rhapsodiert wie der blinde Homer" 459. — Lichtenbergs Ver-
mischte Schriften^ Göttingen 1803, V, 273, — '' Voltaire s. o. — * Vgl,
Biedermann II, 427. — * Lemgo 1773. — * Eraunschweig 1772, —
Gdtting. Musenalm an. 1773, 57—63, bei Biedermann I, 115, wo avch
der Name Unzers fehlt, Fälschlich Thicina statt Tsia-na, — " Bern 1771.
158
Goldenea Spiegel Wielands gacz: die spielende Leichtigkeit
uDd der Witz, der alle in Betracht kommenden Frsgen nur
pointiUistisch notiert, ohne sich um ihre Erledigung im geringsten
zu kümmern. Er wirkte schon gleich bei seinem Erscheinen
nicht nur um seiner reaktionären Gesinnung willen, sondern
auch vor allem wegen der bürgerlichen Schwerfäiligkeit seiner
Helden und Heldinnen altfränkisch. Die von Goethe und
Merck herausgegebenen Frankfurter «Gelehrten Anzeigen" ver-
kündeten sein Erscheinen 1772 folgendermaßen: „Es hat der
Herr Präsident von Haller bei den wichtigsten Geschäften und
unermüdeten Bemühungen für das Reich der Gelehrsamkeit
Muße übrig gefunden, auch Für die unteren Seelenkräfte des
menschlichen Geschlechtes zu sorgen und die jetzige deutsche
Welt mit einem Werke zu bedenken, das man füglich den
persischen Telemach nennen könnte." ^
Aus dem ziemlich konventionellen chinesischen Milieu $ei
nur die Beschreibung eines Gartens hervorgehoben, die für
diese Zeit der Vorliebe für die chinesischen Gärten charak-
teristisch ist, und die in dieser Beziehung Haller ganz in den
Bahnen Rousseaus, des von ihm so hartnäckig bekämpften
»VergiFters der GesellschafE"^ erscheinen laQt: »Des Unter-
königs Palast hatte hinter sich weit ausgedehnte Gärten zu
liegen. Aus einem nahen Hügel quollen häufige Wasser, die,
bald in Teiche gesammelt, seltenen Fischen oder schöngefiederten
Wa&servögeln zum Aufenthalt dieneten, und bald als schlänglichte
Ströme durch die Waldung schlichen, die aus einer Verschieden-
heit von Bäumen, bald einzeln, bald in kleinen Klumpen, bald
auch in Reihen gepflanzt waren. Ein Tal, umringt mit be-
wachsenen Hügeln, wurde von einem reinen Bache durchflössen,
und endigte sich durch einen Felsen, den aber auch die Kunst
aufgeführt hatte, wodurch ein heimlicher Gang gekrümmt nach
einem zweyten Garten führte. Dieser endigte im Gebüsch, das
unzugänglich schien und dennoch einem FuQwege offen war,
der nach einem Tempel auF dem Hügel leitete."'*
Bei Goethe, der, wie Biedermann in seinen GoetheForschungen
nachgewiesen hat,' der chinesischen Literatur manche Anregung
verdankt, spielt die satirische Chinoiserie keine weitere Rolle. Es
findet sich auJSer den erwähnten chinesischen Grotten nur eine
Stelle dieser Art, das Epigramm »Der Chinese in Rom", das der
n
^ Baeclitold: Gescbicbte der deutschen Literatur in der Schweiz.
Frauenfeld 1892, 507. — ' Ebd., 506. — = Usong 19. — * J, 1131
ll,^426ff. lU, 173ff.
k
m
150
klassizistische Goethe gegen den romantischen Jean Paul ge^
gerichtet hat. Die Abneigung des dem klassischen Ideal der
edlen Einfalt und stillen Grij&e zugewandten, gegen das bunte,
bewegte Groteske der Jean Paulschen Muse kommt auf das
stärkste zum Ausdruck, venn er den romantischen Dichter mit
einem Chinesen vergleicht,* der nach Rom kommt und über
die schwere klassische und klassicistische Architektur sein Er-
staunen und Bedauern äußert:
qAch!*^ so seufzte er, „die Armenl leb hoffe, sie sollen begreiTea,
Wie erst Siulchen von Holz tragen des Daches Gezelt,
Oas an Latten und Pappeji, Ceschnit2 und bunter Vergoldung,
Sich des gebildeten Auges feinerer Sinn nur erfrein."^ (1797).
Was aber Goethe an der chinesischen Literatur besonders
anzog," war durchaus nicht das Bizarre, Groteske, wie es in
der Vorstellung des Rokoko vom chinesischen Schrifttum lebte,
sondern im Gegenteil die „klare, reinliche, sittliche" Art ihres
Empfindens. Wie sich das achtzehnte Jahrhundert bei näherer
,iCenntnis immer mehr über den Phantasiemangel in der bildenden
UQSt der Chinesen entrüstete^* so fand es auch, däO es threti
Gedichten an „kühnen Metaphern, erhabenen Gedanken und
rührenden Gemälden" fehle.'' Dies aber hob gerade Goethe
Eckermann gegenüber, der von der chinesischen Literatur ganz
die Vorstellung des Fremdartigen, Phantastischen halte, rühmend
hervor: „Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne
groDe Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch
f ^ Jean Pauls Helden reden mehrFach von ihrer Vorliebe für China,
vgl. besonders „Hesperus". — ' Weimarer Ausg. iL, 132. — * Ruten-
berg gibt (v. Roiteck und Welcker: Staatslexikon XtV, 520 AlTona
1843) folgenden merkwürdigen Crund Für die Vorliehe Goethes für
Chinesen an: ,VorläuHg i^l durch dus Studium der chtnesisehen Sprache
dem Abendländer der Genuß jener reichhaliigeti Literatur bereitet worden,
deren allgemeine Verbreitung auch nicht wenig zur Beruhigung mancher
exaltierten Köpfe beitragen würde, wenn man dieselbe statt der so-
genannten klassischen Literatur zur Einschulung der jungen Generation
benutzte. Von dieser Einsicht waren sChon einzelne erleuchtete Männer
unseres Vaterlandes, lange vor der Zeit durchdrungen, seit welcher durch
den Vorgang Goethes während der sogenannten Freiheitskriege die Auf-
merksamkeit auf die Literatur des himmlischen Reiches in großen
Kreisen gerichtet wurde. Dieser Heros unserer Literatur vermied be-
kanntlich jedes ihn unangenehm Berührende dadurch, dass er sich dem
Heterogensten zuwandte. Und so läßt sich erklären, warum er zur Zeit
jfner Kriege das Studium der chinesischen Literatur und überhaupt
de$ himmlischen Reiches vornahm"; vgl. dagegen BJedermxnn psssim,
— ' Raynal 111, 201. — ^ Schiller, China, 22. Diderot nennt die
«hinesen anation sans embousiasme" IV, 45.
160
viel Ähnlichkeit mit meiaem 'Hermann und Dorothea*, sowie
mit den englischen Romanen des Rich&rdson. Es unterscheidet
sieb aber wieder dadurch^ daß bei ihnen die äußere Natur
neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die GoIdSsche
in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den
Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter uod
sonnig, die Wacht imtner klar."* So ergötite sich Goethe vor
Allem an den lieblichen „Situationen" in den chinesischen
Romanen, wo Mädchen in zierlichen Rohrstühlen sitzen oder
mit ihren kleinen Füßen auf einer Blume balancieren, ohne
sie zu knicken.^ Ja, es ist nachgewiesen, daß gerade die
stärksten Bilder in den ^»chinesisch- deutschen Tageszeiten",
dem Gegenstück des west-östlichen Divan wie dieses:
„Schlanker "Weiden H aarge zweige" ^
unmittelbar auf das chinesische Vorbild zurückgehen. * Hier se!
auch noch auf das Gedicht ,Die Lieblichste*^ (4. Februar 1S20)
hingewiesen, das den Untertitel „Chinesisch" führt.*
Es ist bereits oben darauf aufmerksam gemacht worden,
daß die Metastasiosche Nachahmung der , Waise von China"
Gluck zur Komposition seiner Oper „L'eroe cinese" begeisterte.
Zur Ergänzung sei noch ein chinesisches Singspiel „Le Chinois
poji en France", das Gluck 1756 komponierte," erwähnt.
1
I
Auf die philosophische Literatur, in der die Chinesen
gleichfalls eine sehr bedeutende Rolle gespielt haben, will ich
hier nicht näher eingehen, doch seien einzelne hinweisende
Bemerkungen zur Vervollständigung des Bildes gestattet. Fast
alle namhafteren Philosophen der Zeit haben irgendwie zu der
Philosophie der Chinesen, von denen man sogar sagte, daß bei
ihnen und nicht bei den Griechen der Ursprung aller Welt-
weisheit zu suchen sei, ^ Stellung genommen. Ich finde, daß
Descartes mehrfach die Chinesen zur Exemplißzierung heran-
zieht,* daß Vossius (1618 — 1689) ein so begeisterter Anhänger
Chinas ist, daß Abbd Dubos, als er ein anonymes Buch, in dem
China sehr hoch gepriesen wird, liest, ohne weiteres a
I
1 Eckermann, 31. Januar 1827; vgl, a. die Goetheschen Tagebüche
vom 31. Januar, 2. 3. 5. Februar bei Biedermann II, 428. — ^ Eckcr-
manti s. o. — ' No. VllI, Weimarer Ausgabe IV, 113. — • Bieder-
mann II, 44L — '' \PeEmarer Ausg. Vj, 50 EF. — " Riemann 399, vgl. a.
Hagedorn (Eschenburg V,9n Brief Ä.Bodmer 30. März 1746. — ' Großes
universales Lexikon, Art, sinesischc Philosophie, Sp. 1625. — * Werke
deutsch V. Kircbmann^ Berltp 1870, I, 37, 40 usv-
1
'4
161
Vosstus als Verfasser rät,' daß Vico des örteren Chinesen er-
wähnt,- daß Leibniz sich auf das Angelegeatlichste mit China
beschäftigt," daß endlich Christian August WclEf eine Lobrede
auf die Weisheit des Konfuzius hält/
Als Gegner der chinesischen Philosophie führte Diderot,
der den betreffenden Artikel für die Enzyklopädie geschrlebea
hat, Buddeus, '' Heumann, ^ Gundling'^ und Thomasius^ an."
Die Hauptfrage, die auch von den Missionaren immer
^wieder erörtert wird, ist die, ob die Chinesen Atheisten seien
oder nicht. Die Dominikaner bejahten sie, die Jesuiten ver-
Tieinten sie. Voltaire^ der die Chinesen zuerst daFtir gehalten
hatte,'" rühmte sich später, als erster gegen diesen Irrtum auf-
getreten zu sein/^ Holbach stimmte ihm bei: «On a quelque
fois cru, que la nation chlnoise ^toit ath6e, mais cette erreur
est due aux missionairs chrgtiens." Er Führt aus^ daß das
"Volk im Gegenteil abergläubisch sei und schließt: „Si Tempire
de La Chine est aussi tlorissant, qu'on le dit, il fournlt &u
moias une preuve tr^s forte, que ceux, qui gouvernent, n'ont
pas besoin d'etre süperstituenx pour biert gouverner les peuples
<qui le soot",'"- Helvetius nannte sie Materialisieo.'^" Goethe
f^and, daß ein mit dem Jesuitenmissiocar Ricci streitender
Ohinese Ansichten vertrat, die mit der von ihm so geliebten
Spinozistischen Philosophie in Einklangstanden,** und Katharina II.
3itierte in einem Briefe an den Fürsten von Ligne die Lebens-
Tnaxime eines angeblich chinesischen Weisen: ^te meilleurmoyen
«A'fiviter la tentation etait d'y succoniber."
Am meisten interessierte die Menschen des achtzehnten
Jahrhunderts die ihrem Wesen am nächsten stehende praktische
Philosophie der Chinesen: die Morallehre des Confucius „des
chinesischen Sokrates", von der Diderot sagte, sie sei seiner
Metaphysik durchaus überlegen. Diesem Interesse entsprangen
die populären Anthologien aus den Philosophischen Büchern
» Dubos: R^tlcxions CritiquCs etc. Paris !755. — * Grundzügc einer
neuen Wissenschaft, deutsch von Weber. Leipzig 1822, 52 ff., 90. —
* M^moircs de l'acadfirnie des Bciences \1Q3, 165. Vorrede zu den
novis&iina Sinica ]&&!. KorthoLdt: Epistolae Lelbnitii. Leipz. 1734 pasSim.
— ' Oratio de Sapicnlia Sinarum Confticiana. 1726. — ■'' Historia philo-
sopbica Vi, 37. — ^ Acta pbilosophorum 1, 750 PF. — ' Historia philo-
SOphiJie moralis Halle 1706, cap. V. — " Gedanken über neue Bücher
vom Jabre 1689, 599 ff. — " Diderot XIV, 122. — '" Voltaire XII, 27.—
'1 Ebd. XIII, 279, 287. XV, 89, 277. XLVIII, 20Iff. — '« Systeme de
la nature, P«ris 11, 376, Anm. 92. — " Oeuvres II, 259, — '* Bieder-
m&na 111, 130. - " Sboroik XXVli, 168.
11
162
der Chinesen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr-
hunderts/ oder vergkichenJe Darstellungen über die orien-'
talischen Religioosstifter, wie das Buch von Psstoret: Zoroastre,
CofiFucjus et Mahomet (I7S8). Bezeichnend ist, diiB die chine-
sische Mystik, auf die sich das Hauptinteresse unserer Tage
gerichtet hat, so gut wie gar nicht erwähnt wird.
Diese Betrachtungen über die Chinabegeisterung in der
europäischen Kultur d^$ achtzehnten Jährhunderts dürfen nicht
abgeschlossen werden, ohne daß einen Augenblick Ung noch
bei den Einflüssen Chinas auf das festliche und das alltägliche
Leben der Zeit verweilt würde. ^
»Einen ganzen Winter lang, den Winter von 1767, unterh!el||
sich Paris', so erzählen die Brüder Goncourt,^ „von einem
Feste, jenem berühmten chinesischen Balle, wo man vierund-
zwanzig Tänzer und vierundzwanzig Tänzerinnen im Kostüm
des himmlischen Reiches hatte tanzen sehen . . . die vom Herzog
von Chartres und von der Gräfin Egmont angeführt wurden."
Vielleicht ist es kein Zufall, daß in demselben Jahre zu PreQ-
burg, im Palßschen Garten ein chinesischer Festin gegeben
wurde, auf dem fünfzig Kavaliere und fünfzig Damen des Hofes,
unter ihnen die Erzherzogin Christine in chinesischen Kostümen
aus gelber Seide, die mit blauen Drachen bestickt waren, vor
J^arift Theresia und Joseph II. tanzten, auf dem sogar der
Kaiser von China seihst auftrat unter einem von sechs Chinesen
getragenen Baldachin^ Der Reisende, der dieses Fest beschreibt,
ruft aus: „Ich bildete mir ein, in China zu seyn» so natürlict
war alles angegeben." "
Solche Feste bildeten damals keine vereinzelte Erscheinung:'
tanzte doch hei der „prächtigen BauernwirtschaflFt so für ihro
Zaarische Majestät bey dero Anwesenheit zu Wien am Kayser^|
hofe gehalten wurde (169S) ein chinesisches Paar.* Fand doch
in Lanschitz 176Q ein chinesisches Pferderennen statt,^ be-
wunderte man doch 176S in Trautmannsdorf die groQe chine-
sische Illumination, die sogar im Bilde festgehalten wurde,^
feierte man doch in Kitsee bei Esterhaz 1770 ein chinesisches
Gartenfest.' Auch der Prinz Heinrich von Preußen gab
Rheinsberg solche romantischen Feste. Als die große Lan
%
f
'- Vgl, „chinesische Gedanken". WeEmar 1776, — * Goncouri: La
femme 67. — * Bernoulli X, 197, 198, — * Lünig I, 158: Die Tänzer
waren: Graf Maximilian Breuner und Frau von Hamilron. — ■* Bernoulll
X> 218. — » Ebd. 237, — '• Ebd. IX, 290.
163
r
gräßn von Hessen dort zu Besuch weilte, erschien vor ihr, der
die Rolle der Anne d'Autriche zuerteilt war, eine Siamesische
Gesandtschaft, die altes chinesisches Lackgerät als Geschenk
brachte, um ihr zu huldigen/ Ja, darüber hinaus schuf man
sich für die Tremden Gestalten eine eigene fantastische Bühne:
Die Schattenbiihne, auf der der Lothringer Seraphina in Paris
zu diesem Zwecke gedichtete Stücke aufführte. Anfangs mit
geringem Erfolge, doch bsld vermochte es die Vorliebe der
Königin Marie Antoinette Für China, daß die „ombres chinoises*
eine große Beliebtheit gewannen. Sie wurden während des
Karnevals 1770 dreimal wöchentlich bei Hofe vorgeführt.^ Zu
Anfang der achtziger Jahre kamen sie durch den Prinzen Georg
von Metningen auch an den Weimarer Hof.''
In der Begeisterung für das chinesische Wesen hatte man
sich so sehr gewöhnt, alle Erscheinungen, auch des äußeren
Lebens nach chinesischem Vorbilde zu beurteilen, daß man zu
der merkwürdigen, uns heute schwer begreiflichen Forderung
gekommen war, für das weibliche Schönheitsideal seien die
«petits yeux ä la Chinoise" unerläßlich.'' Man wurde hierin
so naiv, d^ß z. B, ein Reisender von den Chinesinnen sagte:
sie würden auch in Frankreich artig sein, weil sie kleine, aber
sehr lebhafte Augen ,ä la Chinoise" besäßen,* Von der
Beobachtung schritt man zur Nachahmung, es sei hier unter
den modischen Frisuren die „Chinoise" erwähnt.^
Auch die kleinen Füße der Chinesinnen beschäftigte die
Phantasie der Zeit. So äußert sich Casanova: „Obgleich
sie (Giulietta) sorgfältig ihre Füße verbarg, so genügte doch
ein verräterischer PantoPfel, der unter ihrem Rock hervorsah,
um nur zu zeigen, daß sie im entsprechenden Verhältnis zu
der Höhe ihres Wuchses standen: dieses aber ist ein unangenehmes
Verhältnis, das nicht nur Chinesen und Spaniern, sondern über-
haupt allen Männern von verfeinertem Geschmack mißfallt','
' Hamilton II, 40 If. Vgl. auch die chinesischen Feste beim Grafen
Hodiz KU Roswalde in Mätiren. Auswahl kleiner Reisebeschreibungen 1,28,
— In Paris trug ein beliebtes Vergnügungslokal den Namen „Pavillon
chinois". Goncouri: La femme 237. Über ^banquets ä la ctiinoise"
vgt. Le vrai Thßätre de la chevalerie. Paris 1648. — '' Ktöpper: Franz.
Reallex. 1, 846. Vgl. auch das Chineser Spiel, mit 180 in KupTer ge-
stoclienen Abbildungen usw. Fürth 1819. — ^ Biedermann I, 115.
Über chinesische Schatten vgl. a. Jean Paul: Kesperus. — * Goncourt:
ta femme 318, vgl. a. Hamann II, 406. „Sulianin des herrschenden Ge-
achmacks mit chinesischen Augen." — '' Reise des Herrn v. M . . .
Teutscher, Merkur 1775, 1, 143. — " Goncourt: la femme 302. —
^ Casanova I, 134, 135.
164
So führt Herder ic der „Bildhauerkunst für Gefühl" (1769) aus:
.Der größere Fuß des Griechen, die gröQerea Zehen . . . sind
bei ihnen Natur, und daß e$ schönere Natur sei, zeigt diese
Kunst, die Körper als Körper bildet. Man stelle in der Bild-
hauerkunst unseren kleinen Fuß . . . hin. Welche Figur? Und
woher finden vir sie denn im gemeinen Leben schön? Das
machen die Kleider. Ein kleiner Fuß, der sich kaum xeigi,
läßt raten . . . Das sind gotische Begriffe einer romantischen
Verkleidung, an die wir unsere Augen verwöhnt haben. Woher
der kleine FuB? Weil eine chinesisch-gotisch-christliche Zucht
die Kleider bis zur Erde hängen läßt."^ So schreibt Rousseau
an D'Alembert <175S): „une jeune Chinoise avan^ant un bout
de pted couvert et chauss6 fera plus de ravage k P^kiit, que
n'edt fait la p]us belle ßlle du monde dansante toute nue au
bas du Taygete.'- So erwidert ein Franzose dem chinesichen
Reisenden Sieau-tscbeou, der ihm erzahlte, wie man in China
den Frauen, um sie ans Haus zu fesseln, die Füße verkrüppele,
mit Lachen: „wenn Sie die Gemütsart unseres Frauenzimmers
wüßten, so würden Sie garnicht auf die Gedanken fallen,
daß man sie dadurch zu Hause erhalten könnte, wenn man
ihnen kleine Füße macht. Sollte man ihnen auch die Füße
glatt wegschneiden, so würden sie auf den Sturzein laufen.""
Überallhin verfolgt die Erinnerung an Ghina den Menschen
dieser Zeit, Immer wieder mischt sie sich in sein Denken, sein
Fühlen, seine Handlungen, seine Gespräche.
«Nach dem Abendbrot zogen sie (die Damen) sich zurück,
und wir haben stehend, das Nachtlicht in der Hand, noch ein
wenig philosophiert ... Es haudelte sich um die Chinesen, "
heißt es dafür sehr bezeichnend jn den an hübschen Augen-
blicksbildern so reichen BrieFen Diderots an seine Geliebte
Sophie Voland.^
Endlich scheint die Bezeichnung , chinesisch" geradezu ein
Kosewort gewordeii zu sein, Ich kann die Eintragung des
Grafen Stolberg (8. May 1778) in das Brocltenbuch »o, wgre
mein liebes, kleines chinesisches Mädchen bei mir** kaum
anders deuten.
Demgegenüber begreift man den Stoßseufzer des Abb£
Galiani, mit dem hier dieser Abschnitt geschlossen sei: «Blicken
• Herder ^Supha^) VJII, 90, 91. — s Ausgabe von 1795, XI, 347.
— " Des Herrn Marquis d'Argens chinesische Briefe. Berlin 17Ö9, 1, 15.
— • Diderot XVHI, 464. — ^Jahrbücher des Brockens. Magdeburg
1791, 136.
165
^
Sie auf den Fortschritt der Sitten, wir verfallen in die Mono-
tonie. . . — An den beiden Enden des groDen Kontinents
Verden auf der einen Seite die Chinesen, auf der andern die
Europäer wohnen: zwei Nationen, die sich ungefähr gleich sind.
ie werden dieselben charakteristischen Merkmale haben, einen
bsolutismus, wohl temperiert durch die Formen^ durch die
endlose Dauer zäher Rechtshändel, durch die Sanftheit der
Sitten; sie werden viele Soldaten haben und wenig Tapferkeit,
viel Industrie und wenig Genie, viel Volk und wenig glückliche
Menschen. . . ■ In rund hundert Jähren werden wir also Chinesen
sein. Ich vergni3ge mich schon damit, mir die Nsse platt zu
drücken und die Ohren lang zu ziehen, mit vielem Erfolge;
arbeiten Sie auch Ihrerseits daran, Ihre Füüe zu verkleinern.^
■ »Mit Recht konnte jemand", sagt Dr. Dapper (1976), ,,Sina
^einen kurtzen Begriff des Erdbodens, oder ein Edelgesteyn des
Rings, d. i. der Welt nennen; als worin« mehr kostliche Dinge
zu Bnden, als vielleicht so zu sprechen in dem gantzen übrigen
Theil des Erdbodens."- Marperger setzt in seinem „Nutz- und
Lust-reichen Plantagen Traktat" China als Symbol des Reich-
tums der „Arabia deserta <d. i. ein Volck- und Nahrungloses
»Land)'' gegenüber.^ Beleck rühmt in seiner „Reisebeschreibung
um die gantze Welt", daC in China «alle Kostbarkeiten gantz
Orients gleichsam concentriert seien".* Helvetius wendet sich
gegen Rousseau mit der Erklärung, daC China das weiseste,
am besten kultivierteste, am stärksten bebaute Land sei."^
Diese Zeugnisse, denen man muhelos eine große Anzahl
ähnlicher hinzufügen könnte, geben im wesentlichen den Ton
Hui, in dem man im achtzehnten Jahrhundert von China sprach.
Und dieser Ton blieb trotz der kritischen Mahnungen der
d^tracieurs, die immer mehr, Schritt für Schritt und Stück
^Bim Stück, die Glorie des .Himmlischen Reiches" zu zerstören
E ' Correspondance II, 204, — ^ Dapper 9. — " Dresden 1722, 75.
Vgl. a. Löbneys Hof-, Staats- und Regierkunsl. Frankfurt a. M. 1670.
«Denn was bilfFt es den Untertbanen, wenn sie unter eLnem Fücsien
wohnten . . . der sie alle an zeitlichen GiJtern reich machte als die
mSchligsie Leute in China ... und hätten bessere Tage als die in den
Insulis ronunatis wohneten, wüßren aber nicht von Gott" etc. — * Magde-
burg 1755, 70.
U
CEuvres VI, 173,
lee
trachteten, bis noch weit in die zweite Hälfte des achtzetinten Jahr-
hunderts der maßgebliche. Die Chinesen galten nachher wie vor-
her trotz der geriogen JV\einung, die sich über ihre künstlerischen
Fähigkeiten gebildet hatte, die aber gerade in der RousseauzeitJ
durch die Begeisterung für die so „natürliche' chinesische"
Gartenkunst,' nahezu paralysiert wurde; trotz ihres Fremden-
hasses^ über den sich die europaischen Gesandten in ihren
Reiseberichten immer wieder beklagten; trotz der „Friponnerie*
ihrer KauFleule^ auf die das handeltreibende Europa nicht aufhortej
zu schelten, ' als «le peuple le plus poll, le plus juste, le plui
sage".^
Diese Ansicht erhält man auch durchaus noch bei Raynal
wo die dgtracteurs fast frontartig gegen die Panegyriker auf-
marschieren.* Selbst Diderots Aussprüchen über die Chinesen,
die bisweilen sehr heftig klingen, darf man nicht zu großes
Gewicht beilegen; sie tragen Fast immer mehr einen gelegentlich
als grundsätzlich feindlichen Charakter. Rousseau hat sich nur
wenig über die Chinesen geäußert. Die Stellen, an denen er sich
gegen sie wendet, haben ihren Grund in der altgemeinen Kultur-
feindlicbkeit seines Discours von 1750, über den Diderot, an-
läBlich des Kaisers L'Y-Vang-Ti, der alle Bücher, ausgenommen
über Ackerbau, Architektur und Medizin verbrennen ließ, einmal
sehr launig bemerkte: „Hätte Rousseau diesen historischen Zug
gekannt, was hätte er nicht daraus allein zu machen verstanden!
W^ie hätte er die Grundsätze des chinesischen Kaisers heraus-
gestricheal"^ Im übrigen hat Rousseau, soweit ich es sehe,
die politischen Vorzüge des Chinesen ganz im Sinne seiner
< Unzer; Üb^^r die chinesischen Gärten, Lemgo 1773, 7, B. — » .A la^
Cbine passe 1» friponneri« pc»ur une galanterie." Lange^ Journal: 1721,
1722, 233. Salmon: Die heutige Historie und der gegenwärtige Staat
von allen Nationen et«. Alfona 1732, 74. Montesquieu: Bsprit des
Idls. XIX. cp. 10. Teutscher Merkur 1775, I, 254. Drastischer in dem
kleinen Dialog bei Raynal 1, 218 tf. Europeen: „Chinois tu m'as vendu
de mauvaises marchandises." Chinois: „Cela se peut, mais it faut paycr."
E. „Tu as blesse les lois de la iuscice et abusä de ma connance." Ch. ^Cs\»
se peuf, mais iL Taut payer." E. „Mais tu n'es donc qu'un fripon^ un mal-
heureux?" Ch. „Cela se peut, mais il faut payer." E. „Quelle opinion
veux-tu donc que je remporte dans mon pays de ces Chinois, si renommfs
par leur sagesse? Je dirai que vous n'etes que de la canaille." Ch. ^Cela
se peut, mais il Faut payer/ — Darauf zahlt der Europäer, der Chinese
nimmt das Geld und sagt: „Europeen, au lieu de lemp^ier, comme tu
vlens de Faire, ne valoit— 11 pas mieux de se laire et eommencer par
od tu as flni? car qu'y as— tu gagne?" Vgl, a, 0. GoJdsmich: Versuche.
Basel 1780, 163. — '•> Voltaire: Princesse de Babylon SS,— ' Raynal
204ff. - f' Diderot: XVIll. 6. Nov. 1760.
167
Zeit anerTtannt. Jedenfalls blieb China unbestritten das älteste
Land, das nur mit Indien,^ mit dem Reiche der Pharaonen''
um das Vorrecht der Erstgeburt rang, das lange vor den Griechen
eine blühende dramatische Literatur besaD,^ das Romane hatte,
als die alten Deutscheo noch in ihren Wäldern lebten^* es
blieb das bcvölkertste Land, dessen Menschenmenge, wie Du Halde*^
sagte, titibeschtei blieb war, das an Größe und Einwohnerzahl das
gesamte Europa übertraf;" es blieb vor allem das reichste, das
fruchtbarste und in dieser Beziehung das schlechthin vorbildliche
Land.
Um sich vorzustellen, wie stark der Eindruck war, den die
Nachrichten über die ungeheuere Volksmenge Chinas, von der
Faßmann berichtete, die Portugiesen hätten in ihrer Bestürzung
über die Fruchtbarkeit der Chinesen gefragt, ob denn ihre
Frauen zehn oder zwölf Kinder auf einmal zur Welt brächten,"
auf Europa und vor allem auf Frankreich machten, muß man
daran denken, wie sehr sich das politische Interesse des acht-
zehnten Jahrhunderts mit den Theorieen iiber die Bevölkerung
beschäftigte.^
Die BevÖlkerungs lehre des achtjehnten Jahrhunderts ging
vor allem davon aus, zu erweisen, daß seit der Antike eine
starke Herabminderung der Volksmenge in Europa zu kon-
1 Voltaire XVII, S54. — ' Vgl. Montesquieu: Esprit XVllI.
Kap- 6. Voltaire: XIII, 279, XXV, 7, XXVIII, 38, XXXXVII, 329, 527, 529,
XXXXVIII, 221. Huetius: Geschichte der Handlung und Schiffahrt der
Alten^ Frankfurt und LeipzEg 1763 30, 31. De Guignes: Memoire
dxns Icqucl on prOuve que les Chinois sant une colonie ^gyptienne.
Paria 1759. Leroux DeshauteSrayes: Doutes sur la dissertation de M, de
Guignes, qui a pour titre: Memoire danä lequel etc. Paris 1759, De
Guignes: R£ponse aux doules proposes, de M. Deshautresrayes. Paris
175Ö, Monboddo: Von dem Ursprung und Fortgang der Sprache,
Riga nS5, 264, 265, Aieiners; S, o. paSsim. Pauw; „Rechcrches philo-
sophiquBs" etc. s. a. Gothaiscbe gelehrte Zeitung 1778. 258, 269, 519,
Dülaii Zwei vergessene Berner Gelehrte des 18, Jahrhdts- Neujahrs-
blätter d. Li(. GeseJIsch. Bern 1893, 17. — * Voltaire VI, 403, 4Ö5. —
'' Eckermann, s. o. — '' Du Halde> Ausfuhr], Besebreibg. d. chines.
Reiches, II, 18. — " Galiani: Correspondance II, Ö6, Quesnay, 579.
A. Sri Li b 293 ff, Bemerkungen über Indien und China von G.
(Archenholtz: neue Literatur- und Völkerkunde 1787, I, 164, 165],
V, Ereiienbauch 141. 142. Raynal 1, 177, 180, III, 178. — ' Reisender
Chineser I, 32, 33. Unverzagt erzählt in seinem Gesandcschafis-
bcricbte, daJl man in China die N^aren auf den Straßen nicht ötfenc-
lich ausrufen könne, weil man sich „für Gescbrey und für Menge
des Volkes" die Ohren zustopfen miisse (138, 139), und daß der Kaiser im
Sommer vor der Menge der Einwohner seiner Hauptstadt und vor ihrem
üblen Geruch Hieben müsse. — " Pritz Wolters, Studien über Agrar-
zusiändeundAgrarprobleme in Frankreich, 1700 — 1790. Leipzig 1905, 17Slf.
IflS
statieren sei. Man hatte die Ansicht gewonnen, daß sich die
Menschheit langsam durch innere Erschöpfung vermindern
mü&se. Nach Vossius, der diese Frage zuerst erörtert zu haben
scheint, wurde sie in England hauptsachlich durch Wallace, in
Frankreich durch Montesquien und d'Argenson, durch die
Physiokraten» Rousseau, Raynal, Necker und Condorcet ver-
treten-'
Man glaubte ferner, daß diese Entvölkerung mit dem
augenblicklichen TieTstande der Landwirtschaft eng zusammen-
hänge, da man ja einst — es wurde das antikische Beispiel der
kleinen griechischen Republiken angerührt, — auch auf einem
kleinen, aber gut bebauten Gebiete, eine große Bevölkerung
unterhatten hatte.'^
Das historische Beispiel schien durch ein gegenwärtiges in
vollem Umfange bestätigt zu werden: durch China, das selbst
im Verhältnis zur ungeheueren Ausdehnung seiner Provinzen
eine ungeheuere Menschenmenge ernährte.
Man bat die Berichte der Missionare, die ziemlich ein-
gehende Erkundungen über die Zahl der chinesischen Be-
völkerung angestellt haben, zunächst Fast kritiklos hingenommen^
und sich weniger für die Tatsache: für das Vorhandensein
solcher ungeheueren Volksmenge, die von den Engländern in
den neunziger Jahren auf rund 333 Millionen geschätzt wurde,*
als für die Ursachen dieses Faktums interessiert. Erst in den
letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ist man, wie es scheint,
kritischer geworden. Abb6 Grosier, der 1787 die Einwohner-
zahl Chinas nach P. Amiot auf 200 Millionen hezilfert, bemerkt
ausdrücklich, daß man in Europa daran nicht glaubet! wollte.'
Hüttner hat sich in seinem Reiseberichte (17&3) für die
Richtigkeit dieser Angabe ausgesprochen," de Guignes dagegen,
der in den neunziger Jahren sehr umfassende statistische
Untersuchungen vornahm,' verhielt sich allen diesen Be-
' Friti ^C'ollers 179, ISO. - ^ Ebd. 181, 182- - ' Un CBlculateur,
d'ailEeurs exacte, assure que la Chine ne poss^de quc so^sanl« et douzc
milliflns d'habitants; mais, par Je dernier döriqmbrenient, rapporte par le
P. du Halde, on compte ces soixante et douze mülions, sans y comprendre
les vieill^rds, les jeuTics gens au dessous de vingt ans, et le bonze^;
ce qui doit a]!er k plus du dpuble- H faut arouer qiie d'ordinaire nous
peuplons et ddpeuplons la terre un peu au ba^ard; tout le monde se
conduit ainsi, nous ne sotnmes gu^re faits ppur avoir uns notione exacte
des cboses; la peu pr^s est notre guide, et souvent ce guide £gare
beaucoup. Vcfltaire, CEuvres XU, 186, — ' de Guignes 111, 67. —
" Beschreibung von China. Straüburg 17S7, I, 340^ 343. — " Hüiiner,
173, 174. 111, 55 ff.
169
nchtigungen gegenüber sehr skeptisch. Er gelangte» indem er die
Arbeiten der französischen Statistiker d*Expil]y und Messancre
heranzog, die mit ihrem exakten Material die Wallaceschen
Theorieen heftig bekämpften' zu dem Resultat, daß weder die
^ Chinesinnen fruchtbarer seien als die Frauen Fraiikreichs,^ noch
daß die Bevölkerung Chinas die der anderen Länder überträfe.^
Indessen das Faktum interessierte vie gesagt zunächst weniger
als die Ursache. Montesquieu erklärte sie durch die Starke
Zeugungslust der Chinesen, die er einmal aus einem seelischen,
zum anderen aus einem physfschen Grundtriebe ableitete. So sagt
er im 120. Briefe der „Lettres persannes"» die Freude der
Chinesen an einer zahlreichen Nachkommenschaft, entspräche
einer gewissen Art des chinesischen Denkens: „comme les
enfants regardent leurs p^res comme des dieux, quMIs les
honoreal apräs leur mort par des sacrtßces, dans lesquels ils
croient que leurs ämes, an&antis£s dans le Tien^ reprennent
une nouvelle vie, chacun est port^ & sugmenter une famille si
soumise dans cette vie et si n£cessaire dans l'autre".' So
äußert er sich im „Esprit des lois": Die Fische, nach ihm
ein Hauptnahrungsmittel der Chinesen, lieferten in ihren Öligen
Teilen wesentlich den zur Zeugung notwendigen Stoff, oder mit
seinen Worten: „cette mati^re qui sert ä la gfinfiration".'* Voltaire
glaubte, daß die Polygamie, die die Frauen in die Serails ein-
schließt und so den Ehebruch unmöglich macht, dem Wachs-
tum der Bevölkerung günstig sei. Andere sahen in der Einfach-
heit und MäOigkeit der chinesischen Lebensweise, in der Ge-
sundheit des Klimas, in der Seltenheit und Unblutigkeit der
Kriege, in der Verachtung des Zölibates oder selbst im Tee'
genuQ die Ursachen, „die bewirken, daß es keine Gegend der
ganzen Welt gibt, die ebenso wie China bevölkert ist".^ Endlich
gab Abb6 Grosier außer dem von Montesquieu bereits er-
wähnten fünfzehn verschiedene Gründe Für die Fruchtbarkeit
der Chinesen an.'
* FriiK Wolters 180, 181. — » 111,69. — " ebd. 79. — * Vgl. auch
Raynal I, 188. — ^ Esprit XXIII, Kap. 13. — ^ Raynal I, 1S8. III, 176.
— ^ Grosier I, 341. „1. Die Schande, die dem Andenken derer an-
klebt, die ohne Nachkominen sterben. 2. Die allgemeine Sitte, welche
die Verheiratung ihrer Kinder zur wichtigsten Angelegenheit der Väter,
und iWütier macht. 3. Die Ehre, die der Staat den Witwen zuerkennr
die nicht wieder zur zweiten Ehe schreiten. 4. Die häufigen Annehmungen
an Kindes Statt, welche den Familien aufhelfen und ihre Stämme fort-
pflanzen- &. Rückfall der Güler an den Hauptstaram durch Enterbung
der Tochter. 6. Die Eingezogenheit der 'Weiber, welche sie geßilliger
170
Den Umstand, daß China ohne groQe Beschwerde seine
ungeheure Volksmenge zu ernähren schien, erklärte man sich
aus der Gunst seines Klimas* und der Vortrefflichkeit seines
Bodens, der an mehreren Stellen zweimalige Ernte im Jahre
hervorbrachte,^ vor allem aber aus den Tugenden seiner Be-
wohner und der Weisheit seiner Regierung.'
„Teile est l'industrie des laboureurs et ils sont si durs
au travail et si inFaiiguables,** hatte der P. du Halde gesagt, »qu'il
n'y a point de province, qui ne seit träs Fertile et, qu*il n'y
en a pas de guerres, qui ne puisse Faire subsister In multitude
inconcevable de ses habitanls."* Daher sind alle Tage Tage der
Arbeit, nur der erste Tag ist frei für die „devoir de sociätä",
wie der letzte Tag im Jahre ausschließlich der Ahnen Verehrung,
dem ,culle domestique" geweiht ist: ,Le culte public c'est
Tamour de travail,"'^
Indessen hatte Montesquieu ausgeführt, daß der Boden
Chinas, so fruchtbar und gut bebaut er auch sei, kaum genüge,
seine Einwohner zu ernähren. Die Folge davon sei, daß man
die „nützlichen Künste* pflegen, ,die des Vergnügens aber
fliehen müsse". ^ Er rühmte auF der anderen Seite aber die
gegen ihre Männer macht, sie vor einer Menge von Zußllen in ihrer
Schwangerschaft schützt und sie zwingt, sich mit der Sorge für die Er-
ziehung ihrer Kinder zu beschäftigen. 7. Die" Ehen der Soldaten, 8. Die
Un Veränderlichkeit der Abgaben, welche alle auf die Lindereien gelegt
sind und also nie anders aEs miiielbar auf den KaufTnann uad den Hand-
werker wirken. 9. Die geringe Anzahl der Seeleute und ReisendeA. 10. Die
Menge derer, welche nur zu gewissen Zeilen in ihren Häusern sind.
11. Der liefe Friede, der im ganzen weiten Reiche herrscht 12. Die
mäßige und afbeitsame Lebensart, selbst der Großen. 13. Der Mangel des
Vortirtcils in Ansehung der Mesalliancen. 14. Die alte Klugheitslehre der
Politik, nur dem Mann uitd nicht dit; Familie zu erheben, den Adel nur
an gewisse Würden zu ktiüpfen und Talenten zu erteilen, ohne ihn erblich
werden za lassen, 15. Die Reinlichkeit der Sitten unter dem Volk«
und die Unbekanniheit mit dem Laster der Galanterie." — Vgl. auch die
satirische Bemerkung in Tiecks ^lungstem Gericht": „einige Statisiiker
Freuien sich laut über die große Population im Himmel, indem sie die
Ursachen der BevÖikerung bald dem Klima (vgl. Montesquieuy, bald der
Staatsverfassung (vgl. Quesnay) zuschrieben." — ' v, Breitenbaach,
87.— ' Hübner, Reales Siaatslexikon, Leipdg 1717, 396, 397. DuHalde
D£»criplion I, 15, II, 65. v, Breitenbauch 93. Stounton 238, 239. —
* „Oberhaupt bat China, das eines der angebautescen Länder in der
Welt ist, den glücklichen Fortgang seines Ackerbaues, seinen einfältigen
Sinen, sowie seinen Gesetzen zuzuschreiben, die von der Natur und von
der Vernunft gebilligt worden sind.'^ Die Jesuiten in China, 76; vgl.
auch Quesnay, CEuvres, ed. Oncken 625. — * II, 64. — * Raynal
I, 182, ISi — « Esprit VII, Kap. 6.
jheit der chinesischen Gesetzgeber, die die schädlichen Ein-
wirkungen des erschlaffenden und zum Müßiggang reizenden
I asiatischen Klimas dadurch beseitigt halten, daß sie in ihrer
Religion, ihrer Philosophie, ihren Gesetzen, besonderen Nach-
druck auf die praktische Werklätigkeit und Pflichterfüllung ge-
legt hätten. ' Ähnlich , wie sich Quesnay dafür begeisterte,
das in China Politik und Moral „ein und dieselbe Wissenschaft"
seien. -
I Die d^tracteurs hingegen erklärten ohne weiteres den
Fleiß der Chinesen für eine Not, die durch das Mißverhältnis
ihrer Einwohnerzahl und ihrer Produktion erzeugt -werde,
[■aus der man nur künstlich eine Tugend gemacht habe." Sie
erwähnten auch ,die barbarischen Mittel", wie Kinder-
aussetzung und Kindermord, deren sich die Chinesen be-
dienten, um der Übervölkerung ihres Landes zu steuern,* und
betonten die zahlreichen Hungersnöte, deren Folgen bereits
Montesquieu in den schwärzesten Farben geschildert halte.'' Dar-
auf erwiderten die Panegyriker mit dem Hinweis auf das er-
habene Beispiel Spartas/ dessen Gesetze die Kinderaussetzung
atisdrücklich gestatteten» oder indem sie spottend fragten, ob
denn die zwangsweise Einschließung der Madchen itt die Notinea-
ktäster Europas von einer aufgeklärteren und weniger grau-
samen Gesinnung zeuge, als die Aussetzung der Tochter in
China?' Sie suchten die Tatsache der „grausamen Hungers-
nöte'' dadurch zu mildern, daß sie an die Vorsorge der Kaiser
Für Getreidemagazine in Notjahren erinnerten,^ die Kaiser
Kang-hi dem notleidenden Volke geöffnet hatte/ über die der
auch im achtzehnten Jahrhundert vietgelesene Verfasser^" des
neupolierten Geschicbts-, Kunst- und Sittenspiegels sich schon
1670 SO enthusiastisch geäußert hatte.'^ Sie konnten sich
auch nicht genug tun, die Geschicklichkeit der Chinesen in
der Ausnutzung des Bodens und die Intensität ihrer Land-
wirtschaft zu preisen, ,wo kaum ein Fuß breit Landes" un-
bebaut sei,^^ wo man weder Hecken, noch Gräben, ja kaum
^ Esprit XIV, Kap. 5. — * tEuvres 605; vgl. a. d'ArgCnson: Memoircs
cl Journal (td.Jannet) Paris 1 858 V, 310. — *Raynal 1,222. — ^ Raynal
1,223. — " Esprit VIII, Kap. 21. — " Grosicr II, 99. — ^Hclvctius II,
156, — * Lettrcs ßdiflantes III, 709 ff., Raynal I, 156, Pallas-Lange 142,
Salmon 83, Slounton 121. — « v. Breitenbauch 12. — '" Bieder-
mann 180fr. — " „Siehe, so rühmlich wird in Sina die Arm uC versorgtl
Werde rot. Du falsches Christentum! Denn dieses Heydenthum macht
dich zu Schanden und wird künlftig, wenn die Vergeltung geschehen SOU'
Weniger Streiche leiden als du." — '^ Neuhof 265, Dapper H, 122.
172
einen Baum sähe, so sehr fürchteten die Chinesen, auch nur
eiaen Zoll Landes zu verlieren/ ivo selbst die Berg« angebaut
seien, indem man mit vieler Mühe Terrassen auf ihren Ab-
hängen angelegt habe, um das Herabgleitea der Erde zu ver-
hindern. ^
In gleicher Weise rühmten sie die ,culture des eaux" der
Chinesen^ die das ganze Land mit Kanälen durchzogen hatte,
welche in gleicher Weise dem Landbau zur Bewässerung der
Äcker, wie dem Handel zur Erleichterung des Verkehrs dienten.^
Auch gedachten sie ihrer Sorglichkeit in der AufsammluDg
der Abßille zu Düngerzwecken, die so weit ging, daD man die
«Überbleibsel vom Bartputz' dazu aufhob, ja, mit menschlichen
Exkrementen Handel triebt Der Holländer Van Braam, der in
China große Schiffsladungen Tierknocben sah, bemerkt dazu:
,Man verbrennt sie und streut die Asche davon auf die Felder . . .*
Dieses Verfahren soll den Boden sehr fruchtbar machen.* Diese
Weisheit, die uns heute so selbstverständlich erscheint, macht
auch für die damalige Zeit einen etwas rückständigen Ein-
druck, da schon 1550 im „Praedium rusticum" Knochendüngung
erwähnt wird.^
Bis in das Detail hinein gingen die Beobachtungen der
Reisenden und die V ergleich ungen, die sie zwischen den
chinesischen und heimischen Gepflogenheiten anstellten. Die
einzelnen Verfahren im Pflügen und Säen, die Schmal beetkultur
und ähnliche Dinge wurden in Europa kaum mit größerem
Interesse diskutiert, als sie von den Chinareisen den wenigstens
in den neunziger Jahren erörtert wurden/
1 Du HnHe Beschreibg. IJ, 65. — * Rayos.! 1, 179, Slounton 121,
vRn Braüin 1,180. — 'Dapper22, Yssbrants Ides 353. Unverzagt 147.
Du Halde, Beschreibung I, 77. v. Breite nbaucti 80. Quesnay 578,579.
Stounton 228, 239. de Guignes !> 195. — Genaue Beschreib, b.
Grosier I, 309ff., des Kanales Yun bei Äthan. Kircher, China
Illusirata etc. Amsterdam 16S7, 21&. — * Erasin. Franciscus 1403.
Dapper 122. Salmon 49. Stounton 279ff. Anderson 58^ 59.
V. Braam 1, 124. — " ebd, Beschreibung IL 71. — " Fraas, Gesch.
d. Land^aues u. d. Forsiwissens<:h. München 1865^ 55. — ' So sagt
z. B. Siounton: „Die Chinesen pHügen aUemal nach Süden hin»
indem sie mit der rechten Hand den FAug regieren. Auch in Eng-
land hat man die Bemerkung gemacht, daß die südliche Seite der
Felder weit besser bewachsen ist, als die nSrdlicbe. Vielleicbt wird in
England Nordwest die besfe Richtung seyn, sowie Süden in China,
die feinde im Frühling und Herbst fast nie daher wehen" (232),
vsn Braam^ der sich in China mehrfach an seine Heimacprovinz
erinnert fühlte (1,36), vergleicht die Kultur der chinesischen Beete
den Anpflanzungen in den holländischen Gemüsegarten (11,111).
:
ina, weil ^H
1). Odef ^M
l Utrecht ^H
leete mit ^H
173
Ja selbst die landwirtschaftliche Mechanik der Chinesen
'triumphierte über die europäische. ^ Die Engländer, die im Gefolge
Lord Mflcartneys nach Peking kamen> brachten Zeichnungen
von den chinesischeTi Bewässerungsmaschinen nach Europa,^
die um die Jahrhundertwende auch in Deutschland bekannt
vurden.^ De Guignes schickte das Modell einer solchen
Maschine an die Pariser Akademie.^ Van Braam erwarb einen
chinesischen Pflug, den er in Europa heimisch zu machen ge-
dachte/' Indessen hatte man den chinesischen Pflug in
Frankreich schon durch den P. d'Incarville kennen gelernt, und
Abb€ Rozier hatte ihn in seinem Cours complet d'agriculture
^H1783} abgebildet, genau beschrieben und Vorschläge zu seiner
Adflptierüng an den schwereren französischen Boden gemacht."
Schließlich mündete die Begeisterung für das einzelne in
den allgemeinen Hymnus Filangieris aus: ,Est-il, en Europe,
un peuple qui puisse dire, comme l'industrieux Chinois: La
terre que nous habitous est employ6 tout enti^re ä pourvoir ä
Dotre subsistence; nous ne partageons point avec les b€tes
sauvages ses productions pr6cieuses; le nz, qui est notre
Premier aliment couvre toute Ia surface de notre vaste Empire;
Bles eauK des fleuves sont, en quelque sorte, elles mfimes des
surfaces sur lesquelles nous elevons, quand cela nou^ est
possible, nos habitations mobiles; nous avons bäti sur elles
Bnos vtllages flottans, pour ne point d^rober ä la culture eette
portion de terre qu'occuperoient les maisonsj"'' oder van Braams,
der, die ganze europäische Agrarhewegung aus der zweiten Hälfte
Kdes achtzehnten Jahrhunderts ignorierend, emphatisch erklärt, da Q
^die Chinesen in der Ackerbaukunst in nichts den Europaern nach-
stehen, daß sie sogar den Vorteil haben, Jahrhunderte anführen
zu können, seit denen sie diese Kunst auf einen Grad von Voll-
kommenheit brachten, während man bey uns nur seit einigen
Jahren alte Methoden und im Allgemeinen nur mit geringem
Erfolge zu verbessern angefangen hat".'^
Wichtiger aber als diese Eigenschaften der chinesischen
Landbevölkerung mußten den Staats- und GesellschaFtstheoretikern
der Zeit die Maßnahmen der Regierung in China erscheinen,
[durch welche sie ihre Ackerbau treibenden Untertanen immer
i
^ Über die landwirtschaftliche Mechanik in Europa vgl. Fraas, passim.
» Anderson 117. — ^ CrohmanriL Ideen-Magazin. Hefr XVII, Tafel 10.
Heft XVIII, Tafel 6. Heft XX, Tafel 7. — * 1, 264. Nähere Beschreib.
II,251ff. " Ml, 39. De Guignes II, 11. — «ebd. 111,81 ff. — 'Gaelano
Füaneieri: La science de la legislarion. Paris 1786. II, 30 IT. — » 11^ 174.
174
wieder zu den größtmögltchsten Anstrengungen anzuspannen
verstand. Merkantilisten und Physiokraten mußten sich in diesem
Interesse an den chinesischen üegierungsmaximen durchaus
begegnen: die einen vom Standpunkt der „landesFürstlichen
WohJfahrispoLizei"/ die andern von ihrer grundsätzlichen Vor-
liebe für den Ackerbau und von der Quesnayschen Ansicht
ausgehend, daß in der „Bebauung der Erde mit größtmöglichstem
Erfolge** die hauptsächliche Ursache für das Gedeihen einer
Nation beruhe. Noch 1762 äußerte sich daher der merkanti-
listische Staatsrechtslehrer von Justi in Hinsicht auf China
folgendermaßen: „Der Zustand des Ackerbaues und die Menge
der Nahrungsmittel, welche gewonnen werden, kommt garnicbt
hauptsächlich auf die natijrliche Fruchtbarkeit des Bodens an.
Ein träges^ faules und in dem Ackerbau unwissendes Volk kann
dem fruchtbaresten Boden sehr wenig nutzen, dahingegen ein
HeiDiges und geschicktes Volk einen ziemlich unfruchtbaren
Boden allerdings fruchtbar machen kann. Der Ackerbau ist
also nicht eine Sache, welche die Regierung denen ohngefähren
Neigungen des Volkes überlassen kann; sondern ihre Vorsorge
muß den Fleiß und die Geschicklichkeit der Unterthanen hierzu
auf alle An ermuntern."^
Das Interesse an diesen Fragen führte zum Studium der
chinesischen Geschichte. Man betrachtete das Wirken der
einzelnen Kaiser, man las ihre alten Gesetzbucher, die der
P. Hervieu herausgegeben hatte, und gelangte zu der Über-
zeugung, daü in der Tat die Hochschätzung des Ackerbaues
einzig und allein auf die Initiative d&r chinesischen Kaiser
zurückgehe, die nicht allein durch ihr Beispiel vorbildlich wirkten,
sondern die vor allem den Bauernstand mit Ehren überhäuften,
während die Fürsten der anderen Nationen ihn immer mehr zu
Sklaven herahzudrücken suchten-*
Man erfuhr bei diesem Studium der chinesischen Geschiebte,
daß der Ursprung des Ackerbaues in China auf den Kaiser
Ching-Nong (2837 v. Chr.), öden Kornbauerdencker"/' „den himm-
lischen Ackersmann* * zurückgehe, der auch der Erßnder des
Ackergerätes und der erste Lehrer in der Kunst, die Getreide-
arten zu unterscheiden," gewesen sei. Man lernte — leicht und
glücklich bot sich wiederum der Vergleich mit den antikischen
4
4
I
1 Gustflv Schmoller, Grundriß der allgetneLden Votkswirtschifts-^
lehnt, Leipz. 1900, I, 88. — ^ CEuvres, 643. — ^ Justi, 291, 292, —''
' ebd. 30611. - ' Erasiti. Frantiskus 1403. — '' Du Halde: Be-i
Schreibung 1, 273. — ' D 4p per 124.
175
^
g
Vorbildern an — daß Kaiser Yao (2375 v. Chr) sich seinen
Nachfolger Chun vom Pfluge geholt habe, dem wiedemni ein
schlichter Landmann in der Regierung folgte: Yn, der das
Geheimnis erfand^ verschiedene Kanäle zu öffnen und durch
dieselben das überflüssige Wasser, mit dem damals einzelne
Gegenden Chinas noch bedeckt waren, nach dem Meere ab-
zuführen. Man begeisterte sieb Für Kaiser, wie Kan<rang, der
e Äcker verteilt und Grenzsteine gesetzt hatte, für Tscbao-
:ang, der die Klagen der Bauern gehört und unter einem heiligen
ejdenbaume Recht gcsprachcn, für King-rang, der die Länder'
Verteilung und die Ackergesetze erneuert hatte, vor allem aber für
Ven-tt (17B V, Chr.), der eigenhändig seinen Garten umgrub, um
durch dieses erhabene Beispiel sein in langer, verheerender Kriegs-
zeit entmutigtes Volk aufs neue zum Ackerbau aufzumuntern.^
I Die größte Bewunderung, das größte Entzücken aber riefen
Im achtzehnten Jahrhundert die beiden alten symbolischen Acker-
feste der Chinesen hervor: das Frühlingsfest und die Eröffnung
er Erde durch den pflügenden Kaiser. Unzählige Male sind
diese Feste in jener Zeit beschrieben worden; ^ man scheint nicht
müde geworden zu sein, ihre Schilderungen immer wieder zu lesen^
I Ich wähle hier anstatt der bekannteren, am häufigsten
zitierten Beschreibung des Du Halde ^ die knappere aus dem
Langescheu Tagebuche, da& Pallas herausgegeben* hat: ,Alle
Jahre im Frühling begiebt sich der Kaiser nach Sien g-Nong- tan
erbaut durch Yonglo 1406)'^ der Anhöhe der alten Ackersleute,
' Du Halde: Beschreibung 11, 83]r. — - In den Schriften des
siebzehnten Jahrhunderts Fand ich nur zwei Stellen, die diese Feste
erwättnen: Erssm. Franciscus I40& u. Dapper, 124. — ' Hi Be-
schreibung 67ff, vgl. a. Grosier II, 96Ef. — ■• v. Breitenhauch, 86.
* Pallas-Lange, 144, 145. Ober den religiBsen Ursprung vergJ.
Grosierll, 162, 163: Man lieset ausdrücklich im Li— ky, einem der alten
canonischen Bücher: „Es ist zu dem Tsi (dem Opfer für den Himmel),
äAü der Katser selbst in dem südlictien Kiao pHügt, um das Getreide, das
man davon erndtet, im Opfer darzubringen. Auch ist es zu dem Tsi,
daß die Kaiserin und die Prinzessinnen Seidenwurmer in dem tiördl.
Kiao ziehen, um Opferkleider aus der gewonnenen Seide zu machen . . .
Venn der Kaiser und die Prinzen die Erde pflügen; wenn die Kaiserin
und die Prinzessinnen Seide ziehen, so geschieht dies aus Ehrfurcbt, wo-
mit sie sich gegen dert Geist, welcher das Weltall beherrscht, durch-
drungen Fühlen; es geschieht, um diesen Geist nach dem gr&ßen und
]ill«n Religions&ystem zu ehren." Über Analogieen bei anderen Völkern
s. Erasm. FranCisCuS 1416. Montesquieu, Esprit XIV cap. S. Vergl,
la. Costaz: Histoire de l'administraiicin en France Iä34, I, 151, 152 und
'das Walam Olum, das heilige Buch der Delawaren. Brinton: The
Lenäp^ and their legends. whith ihe eomplete text and Symbols of the
,Walam Olum (Library of Aboriginal American Litterature V (1885).
176
das Feld zu bestellen. Auf dieser Anhohe opfert er vorher dem
Himmel. Sowohl der Ort, als die für den Kaiser eingerichteten
Wohnungen sind nicht prächtig; die Ceremonie selbst aber ist
ehrwürdig und verdient bemerkt zu werden. Der Kaiser pflügt
einen kleinen Raum, der mit einer Matte bedeckt ist. Nachdem
er sich eine halbe Stunde damit bescbärtigt bat, begibt er sich
auf ein großes Gerüste^ von wo er die Fürsten und Staats-
bedienten oder Mandarinen in den offenen Feldern pflügen sieht.
Solange der Kaiser pflügt, singen mehrere Bauern alte Lieder
ab, die von der Wichtigkeit des Ackerbaues handeln. Der Kaiser
sowohl als die Fürsten und Großen sind wie Ackersleute ge-
kleidet, die AckergerätschaFten sind sehr zierlich gemacht und
werden in einem besonderen Gebäude aufbewahrt. Das Ge-
treide^ welches nachher auf dem vom Kaiser und den Großen
bestellten Feldern eingeerndtet wird, wird in besondere Vorraths-
häuser gebracht. Man bemerkt dabey sorgfältig, wie das Getreide
geräth, indessen bemüht man sich zu zeigen, daß dasjenige,
welches auf dem vom Kaiser selbst bestellten Felde wächst, eine
viel reichere Erndte gebe, als auf den übrigen. Man bäckt nach-
dem von diesem Getreide Kuchen, die bei verschiedener Ge-
legenheit dem Himmel (Changti) geopfert werden. Der Kaiser
bereitet sich zu dieser Ceremonie durch Fasten, Beten und eine
Art Einsamkeit vor. Übrigens sucht man durch dieselbe das
Andenken an jene Zeiten zu erhalten, da die Kaiser noch selbst
ihr Feld bestellten; und ganz gewiß schreibt sich diese Cere-
monie aus den allerältesten Zeiten her.^
Um sich die Wirkungen dieser chinesischen Feste auf die
Europäer des achtzehnten Jahrhunderts deutlicher zu veranschau-
lichen, mögen hier einige Beispiele folgen: Montesquieu nennt
sie „ies institutions admirables pour encourager l'agriculture*.^
Raynat berichtet, daß europäische Reisende, die dieser Zeremonie
beiwohnten, beklagten, „daB dieses politische Fest, das den Zweck
hat^ zur Arbeit zu ermutigen, nicht in unseren Himmelsstrichen
an Stelle derer gefeiert würde, die durch den Müßiggang zur
Unfruchtbarkeil der Felder erfunden zu sein scheinen;" '^ ähnlich
wie Voltaire, der diese Feste an mehreren Stellen seiner Werke
verherrlicht hat, erklärter , Durch welches Verhängnis ist der
Ackerbau in Wahrheit nur in China geachtet? Jeder Staats-
^ Esprit XIV cap. 8, a. Rpugier de U Bergerie; Recherch«s
sur les principftux abus. Paris t7SS, B. -- " Kayaal I, 1S4.
177
linister in Europa sollte mit Aufmerksamkeit Folgendes Memoire
lesen, obwohl es von einem Jesuiten stammt" (Folgt der Beriebt
über die Zeremonie des pflügenden Kaisers). "^ Es scheint so-
gar, daD das Beispiel der chinesischen Kaiser von den europäi-
schen Monarchen wirklich nachgeahmt wurde, ich finde wenig-
stens, daß Schlözer einen Kupferstich; „Der pflügende Dauphin"
erwähnt,-
Ich ßnde Ferner, daß die Artikel nägriculture" und ,popu-
lation" der Enzyklopädie Beschreibungen dieser Feste nach
du Halde wiedergeben,*^ daß Schiller in den Versen Kalafs, die
^^as Kätsel der Turandot (Akt 11, 4) beantworten:
^H ,Dies Ding von Eisen, Jas nur wen'ge schätzen,
^H Das Chinas Kaiser selbst [n seiner Hand
^P Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahres",
auF diese Zeremonie anspielt; daß der Kotzebuesche „Vielwisser",
der seinen Bruder, einen biederen Landwirt, über das Wesen
des Ackerhaus belehren will, neben antikischen Beispielen auch
den pflügenden Kaiser nennt;* daß endlich der preußische
JVlinister von Hertzberg in seinem Landhause Britz bei Berlin
auf Tapeten aus selbstgewonnener Seide neben den Bildern des
MJCurius Dentatus und Cinctnnatus auch das chinesische Acker-
^fest darstellen lieQ.^
^P Wohl haben die detracteurs auch diese alten chinesischen
Feste zum Gegenstand ihrer Angriffe gemacht und ausgeführt,
daß das PHiigen des chinesischen Kaisers in Wahrheit nichts
anderes sei, als eine traditionelle leere Zeremonie, ohne Leben,
ohne Geltung in der Gegenwart.^ Man kann ihre Spuren noch
verFolgen, wenn man In der Lichtenbergischen Erklärung der
KupFerstiche Hogarihs, bei der Schilderung des einen Gefangenen
im Zuchthause zu Newgate (Weg der Buhlerin, vierte Platte)
liest; „Wirklich stände dieser Mann als Oberpol izei-lnspe clor
in einem honetten Werkhause so da, . . . so würde man , . .
glauben, er betriebe das Hanfklopfen wie der chinesische Kaiser
^das Ptlügen." '
r ' Voltaire XXVI, 132 ff. ~ ' Schlözer; Briefwechsel. Görtmgen
1778, I, 389. — ' I, I83ff., XIII, 96. — ' Peregrinus: Jahrhunderte lang
gingen die Römer vom PHug zu den Siaftts3mtern und von diesen wieder
zu dem Pflug. Ja, selbst der Kaiser von China pflijgi jührlich ein Mal in
Person." Der Vielwisser 27,28. — ^ „Dort sah man den Kaiser mit den
chinesischen Mandarinen, wie sie den PHug führen und die Gemahlinnen
desselben, wie sie M aul beerb I älter pflücken, um die Nation zum Ackcr-
und Seidenbau aufzumuntern." Posselt: Ewald Friedr. Graf v, Hertzberg,
Tübingen 1798, 40. S. a. Nicolai 111, 1047. - " Rsynul 1, 184. —
J 2. Lieferung. Göttingen 1794, 196.
12
Indessen vermochten solche abgünstigen Meinungen der
Defrikteurs kaum die Oberhand zu gewinnen.^ Sie moDten
vielmehr vor den Nachrichten von den großen Unternehmungen
der chinesischen Kaiser, die ähnlich wie die alten Ägypter,'
ähnlich wie die Holländer^ zwei der blühendsten Provinzen dem
Wasser entrissen und so ihrem Ruhme den Erfolg glücklicher
und friedlicher Eroberer hinzugefügt hatten, verstummen. Denn es
hat auf die Zeitgenossen Friedrich Wilhelms I. oder Friedrichs IL
sicherlich den allergröBten Eindruck gemacht, wenn sie solche
Stellen bei Montesquieu oder Raynal lasen. Man spürt den
unmittelbaren Reflex derartiger Nachrichten, wenn Marperger
jn seinem Plantagenfraktat anlaQlich der chitiesischcn Kanäle
schreibt; «Wie denn auch noch kürtzlich in denen Avisen aus
Berlin geschrieben worden, daß Ihre königliche Majestät in
Preußen das, um die Stadt Nauen herumb befindliche Bruch-
Iflod, . . . durch Ziehung unterschiedlicher Kanäle und Gräben
dergestalt hatte säubern und urbar machen lassen, daß jetzund
viel neue Holländereyen oder Meyereyer, {die wie leicht zu
erachten der Cammer ein ziemliches einbringen) daselbst hönten
angeleget werden."^
Es geht daraus deutlich hervor: alle diese Beispiele wollen
nicht als Einzelheiten oder gar als Kuriositäten angesehen werden,
Sie verlangen, um bestehen zu können, immer wieder die Be-
ziehung auf das Ganze, auf die Grundströmung des Jahrhunderts.
Das eine gibt dem andern sein Relief, seine Farhe, seinen Akzent,
kurz, erst die Möglichkeit, sich abzuheben, zu leuchten, zu
tönen im Gefüge des gesamten Lebens. W^enn ein Reisender
berichtet: die Regierung in China verbiete ihren Untertanen,
Ochsen zu schlachten, damit diese nützlichen Tiere dem Acker-
bau nicht entzogen würden,^ so gewinnt diese Nachricht erst
Bedeutung im Zusammenhang der Agrarpolitik der chinesischen
Kaiser; erhöhte Bedeutung aber, wenn man sich daran erinnert,
daß der zeitgenössische Leser hei solcher Lektüre fast instinktiv
das klassische Gegenstück dabei mit las und mit empfand:
t,Wer in Athen einen Pflugochsen tötete^ mußte sterben." In
vergrößertem Maßstabe gilt dies von der sozialen Position der
chinesischen Bauern. Das Grundlegende dabei besteht in der
' Ihre Widerlegung bei Raynal I^ 1S4.. ~ " Montesquieu, Esprit
XVIll, Kap. 6. Raynal I, 180. — " Montesquieu ebenda. — * Mar-
pergeTt 37. — '' Kurtze Beschreibung über des Schiffs Kronprinz
glücklich gehaltene Reise nach und von China. Copenhagen und Leipzii
1770, 32.
3 7fl
K
I
Differenz zwischen ihrer wirtschaftlichen
jenigen der europäischen Bauern.
In China gibt es außer dem Untertanenverhältnis zum
Kaiser Für den Bauern keine Abhängiglteit von Privaten oder
Korporationen;' sie rangieren nicht nur über den Handwerkern,
sondern sogar über den Kaufleuten,' sie erhalten in zahlreichen
unentgeltlichen Schulen die Möglichkeit größerer Bildung, so dal^
ein vom Pfluge weggeholter chinesischer Bauer wie im alten
Rom ohne weiteres ein öffentliches Amt bekleiden kann.' Sie
genießen ungestört die Früchte ihrer Arbeit und werden durch
Prämien und Privilegien zu immer neuen Anstrengungen und
Leistungen angespornt/
Dagegen beHndet sich der europäische Bauer in zahllosen,
|teir
„Un citoyen qui passäde un champ, acquis ou Iransmis, ne se le
voir P&5 dispu»r par les abus ryranniques des lols f^odales.'^ — ».Les
pr^tres memes, si hardis partout ä former des pr^sentations sur les Terres
n'onr jamais osS le tenter ä la Chine." Raynal ], 185. Die Jesuiten in
China, 81 ff: „Die Ctiinesen genießen ruhig ihre eigentümlichen Be^
Sitzungen und die Güter, die, da sie Ihrer Natur nach nicht geteilt werden
kSnnen . . . allen zugehören." Schiffahrt, Fischerei, Jagd usw. sind frei.
Es gibt keine Frondienste, kein Einkaufsgetd, keinen „von jenen hab-
süchtigen Menschen, die nach öffentlichem Unglück schmachten, von
jenen Pächtern, die sich niemals hesser bereichern, als wenn eine schlechte
Ernte die Felder zu Grunde richtet . . . keinen von jenen Menschen, deren
verderbliches Handwerk zur Zelt des Unsinnes der Lehensrechte geboren
worden ist, ... die den Landmann von seinem Pfluge abreißen und ihn
in die den Seelen geRhrliche Abwege der Chicane führen". Vgl. a. Hei-
vetius II, 184. — ^ Du Halde: Beschreibung II, 13. Stounton 109.
Quesnay 601. De Gulgnes II, 452. — ' Grosier II, 98. Quesnay
1-594. — ■* Neuhof, Dapper passim. Brand 313. Jeder Gouverneur
Iner jeden Provinz muß in jedem Jahr dem Kaiser den fleißigsten und
umsichtigsten Landmann namhaft machen, der dann den Rang eines
Mandarinen S.Grades erhält. Du Halde: Beschreibung II, 71, zitiert v.
Montesquieu, Esprit XIV, cap. 8. Vgl. die Tugendprämien bei Voltaire.
In den Lettres Editlantes III, 665 ist eine Memoire des Asang-ton <Sur-
intendant) von Junan und Koeitscheou wiedergegeben, in welchem dem
Kaiser folgende Vorschläge für Prämien gemacht werden (1727): 1. Die
urbar gemachten Ländereien sollen dem gehören, der sie bebaut hat, und
zwar 2. Sechs Ernten hindurch sleucrfrei. 3. Wer 15 Morgen urbar macht,
erhill dafür eine öFFentlicbe Belohnung. 4. Bei einer größeren Anzahl
von Morgen steigt die Belohnung dementsprechend. 5. Den Titel eines
Kien-zeng erhält ein Baccalaureus, der 160 Morgen urbar macht. 6. Ein
zum Tode verurteilter Mandarin 3. Grades Icann begnadigt werden, wenn
er lOOO Morgen urbar macht, ein Mandarin 5. und 6. Grades, wenn er 8CX>,
ein Mandarin 7. Grades, wenn er 600 Morgen urbar macht. Außerdem
bleibt das urbar gemachte Land im Besitz des Mandarinen. Um sich auch
da ein Bild zu machen, wie starli ein solches Memoir etwa in Frankreich
gewirkt haben muH, vergleiche Fritz Wolters Soff.
k
ISO
äußerst komplizierten Abhängi^keifsverhaltnissenj von privaten,
«ie Korporationen, von Adligen und Klöstern,' ,der geringste
Handwerksmann dünkt sich neben dem Bauern ein Wesen
höherer Art zu seyn," '^ für seine Bildung geschieht von
selten der Regierung nur das Allernot dürftigste. Er wird in der
Ausübung seiner Tätigkeit, ebenso in dem Genuß der Früchte
seiner Arbeit beständig durch eine große Zahl von Herrenrechten
gestört, die unerbittlich in Anspruch genommen werden, vor
allem durch das Jagdrecbt, von dem Holbach sagte: „L'agri-
culture est indignertient sacrifiee ä l'flmusement des ricbes."*
Man kann sich keine größeren Gegensätze denken. Hier
ein völlig lichtes, schattenloses Bild, dort eine Zeichnung, in
der Schatten gegen Schatten gesetzt zu sein scheint. Hier eine
Komposition von der äußersten Klarheit und Einfachheit, dort
eine Anhäufung wirr verknäueher Linien. Aber dieser jähe
Kontrast, der in seiner so absolut ausgesprochenen Gegen-
sätzlichkeit Für uns etwas Unverständliches, Fast Komisches hat,
bekommt Feinheiten und höhere Reize, wenn man ihn in seine
richtige Umgebung rückt: in die Sehnsucht, in das Streben des
Jahrhunderts nach wirklichkeitsfernen, utopistischen Idealen.
Alle die einzelnen Nuancen dieser Romantik: die Begeisterung
für die Antike, wie für die beiden Indien, für die Naturvölker,
wie für die phantastischen Einwohner der Glücklichen Eilande
und Schwimmenden Inseln müssen helfen die Kruditat einer
solchen Gegenüberstellung uns verständlicher und reizvoller zu
machen. —
Adam Smith gibt als Motiv des Interesses der chinesischen
Regierung finanzielle Gründe an. Er sagt: da diese Fürsten
den größten Teil ihrer Einnahmen aus einer Grundsteuer von
den einzelnen Gütern bezogen, hätten sie sich demgemäß der
Landwirtschaft angenommen, weil von ihrem Gedeihen und von
ihrem Verfnll die Zunahme oder die Verringerung ihres eigenen
Einkommens abbing.'* Der landwirtschaftliche Grundbesitz in
China war aber wesentlich Kleingrundbesitz, denn der Ehrgeiz
eines jeden Chinesen ging, wie Adam Smith sich ausdrückte,
dahin, ein kleines Stück Land als Eigentum oder in Pacht zu
besitzen.^ Um so mehr mußte also die klare und kluge Be-
wußtheit der kaiserlichen Bauernpolitik auch dJe Bewunderung
' Vgl. das schöne und lehrreiche Kapitel bei Fritz Wolters, Die
Feudalrechre und die Landwirtschaft im 18. Jahrhundert. 244 ff. — ,
*Jusii 306, 30e. — ii Eihocratie. Amsterdam lllG, US; vgl, FritzJ
Wolters 256 ff. — ' II, 195, 197. — * II, 193.
181
9
kühleren Theoretiker erregen, die sich nicht, wie etwa
Voltaire mit einer allgemeinen Lobpreisung der den chinesischen
Kaisern gewissermaßen angeborenen „sagesse" begnügen wollten.
Fügt man noch hinzu, daß der chinesische Kleiogrundbesitz die
Ideale der Agrarschriftsteller zu verwirklichen schien, die im
Kampfe gegen die chinabegeisterten Physiokraten die TheoHeen
des kleinen Grundeigeniums und der gleichen Bodenteitung ver-
traten * — Abb6 Pluquet nannte in dieser Beziehung China das
Land der höchsten Vollkommenheit „d'ficonomie rurale et
domestique"^ — so ist es leicht ersichtlich, daß auch die An-
hänger der verschiedensten nationalökonomischeo Richtungen
dazu gelangten, die Chinesen für alle Fragen des Wirtschafts-
lebens neben der Antike^ als unmittelbar praktisches Vorbild
heranzuziehen.
Die bezeichnendsten Beispiele aber hierfür liefern Quesnay
und seine Schüler. Quesnay, den man den Konfuzius von
Europa nani5te,* und der die berühmte Apologie des „Despotisme
de la Chine' geschrieben hatte, ^ Mercier, der in seinen
Ephemeriden die chinesische Gesellschaft als den vollkommenen
Gesell seh aftstypus darstellte, Turgot, der nicht nur Bücher aus
China kommen Heß, sondern auch mit chinesischen Mandarinen
Gedanken über Politik und Moral austauschte und zwei jungen
Chinesen, die von den Missionaren zu Studienzwecken nach
Frankreich gesandt waren, eine ganze Reihe von Fragenbogen
gab," die sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat ausfüllen
sollten.^
Schon Mendoza hatte erzählt: „Wie wohl das Königreich
so groG und reich ist, so sind doch die Beschwerungen, die
von den Unterthanen dem König gegeben werden, leichter und
träglicher denn in keinem anderen Landt, es seye unter Christen,
Türken oder Hcyden.* ** Die holländischen Reisenden des sieb-
zehnten Jahrhunderts haben im allgemeinen diesßm Berichte
gleichfalls zugestimmt. In den Ansichten der Staatstheoretiker
des achtzehnten Jahrhunderts aber erhielten solche Über-
lieferungen durch die ständige Gewöhnung einer vergleichenden
Betrachtungsweise etwas über das ethnographische Interesse
' Fritz Wolters ISölf. - '^ Trait^ sur le luxe II, 14. Paris 1786.
— ^ vgl. Fritz Wolters 36, 170B.. 189, 190. - * Lum^nEe: les Mirabeaus.
Paria 18S9, 1,213. — * CEuvres ed. Oncken. Paris. — ' Questions sur
la Chine adressies k M. M. Ko et Yang. CEuvres, V, Paris ISOS, J40ff.;
vgl. a. Meiners, s. o. Vorbericht. — ' Dumfiril: Inftuence des J^suices
... sur le mouvemeni des id^es au XVIII i5me siegle. Memoires de
Vaeadämie de Dijon, 1874, 24. — * Mendoza-Ketlner 83.
Hinausgehendes Für Europa Vorbildliches und Allgemeirigiiltiges.
In diesem Sinne muß der Satz d^Argensons angesehen werden,
der die Gleichheit der Steuern in China lobt,^ oder Quesnays
Forderung, die Abgaben wie in China durch königliche Beamte
und nicht wie in Frankreich durch Sleuerpächter einziehen zu
lassen.^ In diesem Sinne muQ man es auch auFfassen, wenn
Rousseau sagt: obwohl China dasjenige Land der Welt sei, daß
die größten finanziellen Anforderungen an seine Untertanen
stelle, so würden die Steuern dort am besten bezahlt und die
Bewohner nicht bedrüclct, weil weder auf dem Brotkorn, noch
auf den übrigen Lebensmitteln Abgaben lägen,^ oder wenn
Grosier erklärt, daß das chinesische Steuersystem, das haupt-
sächlich auF Naturalleistungen beruhe, das Vorbild für Vaubans
„Dime royale* abgegeben haben müsse.*
Die Ähnlichkeit zwischen dem Vaubanschen und dem
chinesischen System, die Abb6 Grosier zu diesem Vergleich
veranlagte, lag vor allem darin, daD es sich in beiden Fällen
um Naturalleistungen handelte, denn die Grundsteuer in China^
die hauptsachlichste Einnahmequelle dieses Reiches, bestand in
Abgaben, die man in natura von den einzelnen Grundstijcken,
je nach der Güte ihrer Produktion, im höchsten Falle zu
einem Zehntel, erhob,'* Da die Beamten und das Militär von
dieser Steuer gleichfalls in Naturalien Cehalt oder Löhnung
erhielten, so sah man diese Art der Besteuerung als die ein-
fachste Lösung der Steuerfrage überhaupt an, weil sie, wie
Grosier erklärte, den Privatmann der iVlühe überhebt, „die
Produkte seines Bodens und seines Fleißes kümmerlich gegen
eine willkürliche Summe Geldes umzusetzen, um einen Teil
davon in den kaiserlichen Schatz abzulieFern. Dieser Umtausch
ist allezeit drückend für den Unterthan, und dies hat die
chinesische Regierung verhindern wollen"."
Die Europäer begeisterten sich nun in gleicher Weise für
die Einfachheit dieses Systems, dessen Durchführung ein genauer
Kataster,' den man in Frankreich immer vergeblich einzuführen
> Consid^rations sur le gouvernement de la France. Paris I7S0, 107.
— ^ CEuvres613. - * Ausg. v. 1795 1,261. - ' 11,66. ^ "^ Grosier II, 67.
,Les Impots . . . dir Mr. Poivre, ne sonc pocT^s sur les lerres m^iliocres
qu'au IrenriSme des produits.*' Helvetius IV, 16S. Raynal 1, Iä6.
Pluquet 11, 16, 17. - MI, 66. - ' Du Halde, Beschreib. 11, 21, Sal-
mon, 83: ,^Es wird alle Jahre ein Verzeichnis von eines jeden Mannes
Familie, Gürern und Vermögen nebst den Gefällen, so er der Krone ent-
richten muß, eingenommen und in die Register eingeiragen: auch eine
Abschrift davon über die Thiire eines jeden Hauses aufgehängl."
18S
*
*
P
versucht hatte/ wesentlich erleichterte, wie für den Umstflnd,
daß niemals außerordentliche SteuerD gefordert wurden, weil
es die Kaiser als eine Ehrenpflicht betrachteten, trotz ihrer
beträchtlichen Ausgaben mit ihren Einnahmen auszukommen, ja»
für Kriegsfälle, Hungersnöte usw. noch etwas zu erübrigen.*
Ebenso bewunderte man die Humanität, mit der die Regierung die
säumigen Steuerzahler tat Leistung ihrer Pflichten heraniog:
An Stelle der Dragonaden, wie in Frankreich, gab man den
lässigen Bürgern die Armen und Kranken als Einquartterung»
die so lange in den Häusern ihrer Quartierwirte blieben,
bis sie das verzehrt hatten, was der Staat an Gebühren zu
Fordern hatte.'' Man muß sich dabei an die Brutalitäten der
französischen Steuereintreiber erinnern, wie sie Voltaire in
seinem Gedichte B^es gabelles" gebrandmarkt hatte.'' Aber
auch von den Zöllen, der anderen Einnahmequelle der chine-
sischen Kaiser, rühmte man, daß sie leichter als die in Europa,^
ja, wobl die leichtesten in der ganzen Welt seien, da sie
lediglich von den KauHeuten und auch von diesen mit der
größten Liberalität gefordert wurden.^ Montesquieu und Rous-
seau, die sonst eben nicht zu den Lobrednem Chinas gehören,
waren durchaus derselben Ansicht."' Im „Geist der Gesetze"
wurde bereitwilligst anerkannt, daß die chinesische Zollverwaltung
die Reisenden, die nicht dem Kaufmannsstande angehörten,
weder durch unnötige Öffnung, noch Durchsuchung des Gepäcks
belästige. — Auch hierzu muß natürlich das europäische Gegen-
bild ergänzt werden.
Es ist nicht meine Absicht, hier noch auf Einzelheiten, die
die Reisebeschreibungen des siebzehnten und achtzehnten Jahr-
hunderts in Fülle darbieten, einzugehen. Die ersten kritisch-
statistischen Untersuchungen auf dem Gebiete der chinesischen
Fioatizgeschichte verdankt man wiederum de Guignes."
Faßt man aber zum Schluß diese Betrachtungen über die
Einwirkung Chinas auf die wirtschaftliche Kultur Europas zu-
sammen, so wird sich im großen und ganzen dasselbe Bild er-
' Grosier II, 67. — * Raynal l, !87, GrOSier 11, 68, Schiller,
CtlEn», 73. — " Rayiml I, 187, 225, 226. ^Au üeu d'installer danS les foycrs
du d^blteur des satellites, qui se jettent sur son )it, sur ses Uäien^ilcS, sur
&e$ meubles, sur ses bestiaux, sur Sa perSonne; au lieu de trainer dans
un« prison ou de le laisser sans pain, etendii &ur In paille de sa chau-
mi^re, depouillöe, il vaut mieux, sanS douCe, le eortdaniiier ä nourrir
I« pauvre.« — ' XIV, 9Z. — '' Montesquieu, Espril XIV, Kap. H. —
• Grosier H, 65. — ' Montesquieu ebd. RousseiU Ausgabe von
1795. I, 1B2, - M, 86, 87, 94, 101.
184
geben, wie bei der Darstellung der chinesischen Einflüsse auf
seine geistige Kultur: es handelt sich hier wie dort um uto-
pisiisch-phantastische "Werte, zu denen aüch das wirklichste,
gegenständlichste Detail umgebildet wurde. Denn, indem man
charakteristische Einzelzüge willkürlich aus dem Rahmen des
Gesamtbildes von China herausnahm und sie zu einem wohl
scheinbar den Tatsachen entsprechendenj in Wahrheit aber
völlig unwirklichen Ganzen zusammenstellte, entfernte man
sich in gleicher Weise vom Boden der Realität, wie wenn man
demgegenüber die heimischen Verhältnisse so düster malte,
daß sie der Wirklichkeit nicht mehr entsprachen.
Über allem aber standen im verklärenden Schimmer der
Feme die Bilder glückseliger Eintracht und inneren Friedens,
aus deren Süßigkeit diese romantische Sehnsucht des Jahr-
hunderts immer wieder ihre besten, schöpferischsten Kräfte sog.
V.
Von der wirtscbaftlichen Tüchtigkeit der Chinesen ward
der Blick des Jahrhunderts auf ihre politischeo Tugenden gelenkt.
Neben hervorstechende Einzelzüge trat das Gesamtbild ihres
politischen Systems, wie neben dem pflügenden Kaiser das
Bildnis dessen trat, der in Peking nicht nur als letzte Summe
und höchstes Symbol der monarchischen Gewalt thront, sondern
der in seiner allesbeherrschenden Macht auch in -Wahrheit
alles umfaßt, alles durchdringt; ohne den nichts geschieht, an
dem alles hängt, auf den aller Augen warten.
«Die Chinesen", sagt d'Argenson, «vergleichen die mon-
archische Autorität mit einem gewaltigen Strom, der zuerst
alle Deiche, die man ihm entgegenstellt, bricht, der alle Hinder-
nisse hinwegräumt; aber wenn er sein Bett gefunden hat, ISfit
er seine Wasser ruhig dahinfließen, erquickt er die Felder, die
er benetzt, und ohne etwas von seiner Majestät zu verlieren,
läßt er aus seiner Fülle Kanäle hervorgehen, die in weitem
Umkreise die Äcker fruchtbar machen," Sie fügen hinzu, daQ
eine gute Regierung auf zwei Säulen ruht, ohne die sie nicht
bestehen könnte: auf der Autorität und auf der Mäßigung.*
Diese beiden Begriffe „autorit6'' und modäration" ent-
halten die Funkte, an denen eine Beurteilung des chinesischen
Verfassungssystems einsetzen mußte, und nach ihnen
I
n
4
d'Argenson 103.
len haben ^H
t85
BiKss
sich dann auch die Meinungen und Anschauungen des achr-
whnten Jahrhunderts in ihrer Sieilungnahme zur Regierung der
in China hauptsächlich orientiert. Goethe sah noch tS27 in
ihucB die Gründe dafür> daß das chinesische Reich sich seit
Jahrtausenden erhalten habe, und daß es auch Fernerhin fort-
bestehen würde/
Das Interesse des achtzehnten Jahrhunderts an der Er-
issung und Ergründung des politischen Systems der Chinesen
war kein eigentlich wissenschaftliches. Die Vergleiche, die
man zwischen ihrer und den Verfassungen der anderen Länder
anstellte, hatten keinen Selbstzweck, sondern dienten vielmehr
dazu, ein Vorbild zu schaffen, nach dem auch praktisch die
heimischen Verfassungs zustände revidiert und umgestaltet werden
sollten. Oder um mich abermals der Worte d'Argensons zu
bedienen: „China stellt ein befriedigendes und tröstliches
Modell der monarchischen Autorität dar, die, mit Mäßigung
ausgeübt, dem Herrscher wie den Untertanen zum gegen-
seitigen Vorteile dient."-
Man war im allgemeinen weit davon entfernt, etwa das
Vorbaftdetisein einer solcheti in Jahrtausenden erstarrten Staats-
form entwicklungshistorisch zu begreifen oder zu erklären,
,jnan begnügte sich vielmehr mit der Tatsache ihres Daseins,
lie Erstaunen und mehr noch Bewunderung erregte. Daher
"erscheint das chinesische Regierungssystem in den Berichten der
Missionare, obwohl seine einzigartige und besondere Stellung
sofort erfaßt wurde^ als etwas^ das über aller Diskussion steht.
,Also wirdt in diesen gegenwärtigen Historien," heißt es in der
Darstellung des Spaniers Mendoza von 15S9 kurzweg, nein solch
vernünftig, wolbedächtig klug und weise Regiment beschrieben
und an den Tag gegeben, deßgleichen in keinen Historien, bei
keinei] Völkern, sie seyen Meden, Fersen, Inden, Griechen,
Römer oder anderer wie die Namen seyo mögen, jemals befunden,
gelesen, gehört oder erkanndt worden." " Der französische Jesuit
P. Le Comte geht vielleicht noch weiter, wenn er in der Re-
gierung Chinas ganz im Sinne Bossuets * gleichsam eine gött-
^licbe und daher von Anbeginn vollkommene Manifestation sieht.^
^M ^ Eckermann s. o. — " d'Argenson 101. — "Mendoza-Kellner
^'Vorrede. - * Vgl. Hettner ö. — '^ „Sina scheinet den gemeinen Gesetzen
der Natur viel weniger untergeben zu seyn (als andere Reiche): und gleich-
saca als wenn Gott selbst sich alldar zum Gesetzgeber aufgeworfen hStte,
ist die Gestalt ihres Regimentes bey ihrem Ursprünge fast nicht weniger
vollkommen gewesen als gegenwircig, nach mehr als 4000 Jahren die es
gewähret." Das heutige Sina. Frankfurt und Leipzig. 1699. 2. 3.
186
Aber selbst Voltaire erklärt noch 1764 im Dicttonnatre philo"
sophique: „Mais ce qui met les Chinois 8U-dessus de tous les
peuples de la terre, c'est que m leurs lois, ni leurs moeurs, nH
la languB que parlent chez eux Ltiä lettres n'ont pas cbBDgi
depuis environ quatre tnille aas." *
Ich ßnde also Dicht, daß sich in dieser Beziehung ein grund*
sStzIicher Unterschied ig der Betrachtungsweise der frühereti
und des achtzehnten Jahrhunderts feststellen lieQe. Ich sehe
im Gegenteil, daß man hier wie dort, im Bilde Chinas nur die
Züge sucht und findet, die den eigenen Zügen oder vielmehr
denen des eigenen Ideals gleichen; daß die Verfechter eines
aufgeklärten Absolutismus wie Voltaire* oder Quesnay^ sich
hartnäckig dagegen wehren, daQ China ein despotisch regierter
Staat sei, während der konstitutionell gesonnene Montesquieu
in seiner Ablehnung der chinesischen Verfassung das despotische
Element mit Vorliebe und Eifer betont.^ ^_
Das Feststehende für die Zeit ist der äußerst konsequeo^H
durchgeführte Gedanke der Zentralisation in der «8Utorit&'.
Das Urteil des Einzelnen differiert nach dem Maße, in dem^
man die .mod^ration" der Herrscher ztigibt oder nicht, ■
In dieser „modfiration" der chinesischen Kaiser, für die
als Musterbeispiele Fürsten wie Tai-tsong ^ oder Kien-tong ■
angeführt wurden, die sich in gleicher Weise durch Mäßigkeit
ihrer Lebensführung, wie durch Mäßigung in ihrer Herrschaft
auszeichneten, sahen die Lobredner Chinas etwa die Summe
aller der Regenten lügenden, welche die Herrscher des auf-
geklärten Absolutismus in Europa schmückten. Wie diese, so
verglichen sie die Kaiser von China mit den verehrten Vor-
bildern aus der Antike, mit Fürsten wie Mark Aurel oder Julianus
Apostala,' h
Sie priesen ihre Aufklärung in religiösen Dingen: daß ihrefl
Regierung als die einzige unter denen des Altertums sich nicht
der Herrschaft der Priester gebeugt habe;^ sie zitierten den
Erlaß des Kaisers Ven-ti, der den Beamten verbot, den Himmel
für das Glück der Kaiser anzuflehen und dabei das Wohl
des Volkes zu vernachlässigen;' sie rühmten das Edikt des
Kaisers Tong, der über 40000 Bonzenklöster auf einmal auf-
' XXX, 195. Vgl. a. d'Argenson 101. — '' XV, 27L - ' OEuvrea
563, 564. — * Esprit passjm- — ' Vgl. Justi: Von der MiLfltgung der
Monarchen in dem Beispiel« des $inesischen Kaiser» Tai-tsong 1. s. o.
- ' Vgl. auch Voltaire XV, 473. v, Breitenbauch 29, 30. — ' Justi,
161, 162, - "^ Voltaire XV, 41, 88, — " Schiller, China, 7a.
187
hob/ eine Tatsache, die den Charakter eines unmittelbaren
praktischen Vorbildes erhielt, wenn man dagegen Voltaires Mit-
teilung stellte» daß Franitreich zu Beginn des achtzehnten Jahr-
liunderts mehr Klöster als selbst Italien hatte. ^
Ebenso feierten sie die Ge rech tigkeitsli ehe der chinesischen
^Kaiser in unzähligen Anekdoten, die beweisen sollten, daß diese
Herrscher ähnlich wie die Fürsten des aufgeklärten Europa oft
persönlich eingriffeti, wenn sie von irgendeiner Verletzung
des Rechtes Kunde erhielten/^ Lange berichtete in seinem
Tagebuch* von einer Institution, die in den alten Zeiten des
Reiches Geltung hatte: Im Pavillon Tschua-kitig befdtid sich
eine Trommel, die jeder, der glaubte, vor Gericht Unrecht er-
halten zu haben, rühren durfte. Die obersten Mandarinen
waren auf dieses Signal hin verpflichtet, sofort die Beschwerde
zu untersuchen und ein neues Urteil zu fällen.
Der Bemühungen der Kaiser um die wirtschaftliche Melio-
ration ihres Landes, die sie an die Seite der preuDischen
Könige des achtzehnten Jahrhunderts rückten,^ ist bereits ge-
dacht worden. Aber über dies alles hinaus erschien die Fried-
fertigkeit der chinesischen Herrscher vorbildlich, die kein Lau-
vois zu Krieg und Blutvergießen aufzumuntern vermochte, die
sich nicht wie Karl XII., „der nordische Alexander", hinreißen
ließen, ihr Land vom Volk zu entblößen utid mit Hunger und
unerschwinglichen Abgaben zu bedrücken."
Indessen mit der Anführung solcher Anekdoten begnügten
Elch die Panegyriker der chinesischen Verfassung nicht: sie
gingen weiter und gaben die Gründe an, »Triebfedern der Re-
• Montesquieu: Esprit VII, Kap. 7. Grosier 11, 44, 45. Wort-
laut des Edikts: . . . Einmahl sollen mehr als 4600 Bonzerieti, die auf
allen Seiten des Reiches verstreut sind, durchaus zerstört werden; in
dem Maaße, daß die Bonzen und Bonzinnen, (es gab uäTnlich Bonzerien
für beide Geschlechter), welcbe diese Bonzerien bewohnten und sich nach
der angestellten Schfitzung auf 26 Uan (oder 260000 Personen) belaufen,
in die Welt zurijckkehren, und das ihre zur Summe der öffentlichen
Abgaben beitragen. Zum anderen soll man auch 4 Uan (oder 40000]
geringere Bonzerien, die auf dem Lande zerstreut sind, zerstören, der-
gestaltt daß die damit verbundenen Einkünfte, die sich auf 1000 Uan
Tsing (eine chinesische Münze, '/'"> einer Unze Silber) belaufen mögen,
unseren Krongutern heimfallen, und daß iS Uan Skiaren, welche die
Bonzen hieEten, zu dem Volke geschlagen werden und auf die Listen
der Magistrate kommen. — * Vgl. Hetiner 120. — ' Vgl. u. a. Quesnay
630. Justi 48, 49, — * Pallas-Lange 139. — "' In einem Buche über
China heißt es direkt, die chinesischen Kaiser hätten es sich immer zur
Ehre angerechnet» »die ersten Arbeiter ihres Reiches zu sein". Die
Jesuiten in China, 76, — " Justiz 132, 143.
188
gieruTig", wie sie Justi nannte,' die im Gegensatze zu den
europäischen Verfassungen^^ die „niQd6ration" der Kaiser voi^
China gewährleisteten, ^M
Die erste dieser „Triebfedern" sah man in dem „fundii-
mentalen Grundgesetz" der chinesischen Regierung, in der
„überall verbreiteten Maxime", daß der Kaiser, der Sohn de^H
höchsten Wesens, des Shang-ti oder Tien^ Vater und Mutter
des Volkes isi^ und zwar bedeutete diese Anschauung nicht
wie in Europa einen leeren Begriff, sondern wurzelte tief in
der Seele des Volkes j* „ils repätent sans cesse" , sagte
d'Argenson, „que tout Pempire chinois n'est qu'une seule
famille, que leur empereur n'a ni esciaves, ni serviteurs, mais
que tous sont esciaves de la loi, dict6e de toute anciennet^
par rstre supr^me, auteur du droit naturel et appliqu6e par
Tempereur qu'on appelle le grand-pöre. ^ Je nachdem nun der
Kaisef durch seine Güte und seine monarchischen Tugenden
Liebe erweclit, je nachdem genieGt er Ehrfurcht und Ansehen
bei seinen Untertanen/ daher ist sein eigenstes Interesse,
auch ein wahrhaft väterliches Regiment zu führen. ,On y a
regardfi plus qu'ailleurs, le bien public pour le premier de-
voir. De lä vient l'attention continuelle de l'empereur et des
tribunau}^ ä r^parer les grands chemins* k joindre les rtviäres,
ä creuser de canaux, ä favoriser la culture des terres et les
manufactures. ' ^H
Andererseits Ist im Bewußtsein der Untertanen das GePüfan^
daß sie die Kinder des Kaisers seien, durch die Tradition fest
eingepflanzt.^ Ihre Unterwerfung ist daher nicht sklavisch,
sondern entspringt dem kindlichen Gehorsam.^ Denn wie die
Väter den Kindern^ so haben auch die Kinder den Vätern gegen-
über alle Pflichten zu erfüllen. Da nun aber jeder Statthalter
als kaiserlicher Vertreter für den Vater seiner Provinz gilt und
jeder Mandarin für den Vater der Stadt^ über die er gesetzt
wurde, so genügt „dieser bloQe Schatten kaiserlicher Autorität)
der sich in den Mandarinen zeiget", um „bey den Gemüthern
der Untertbaaen" alles auszurichten."^ ^M
Die alten Kaiser haben für ihr Verhältnis zu den Unter^^
— " Dil Halde: Beächreihg. II, llfl
Hiire XV, 271. Qu esnay, 614, 585,^
» Ebd., 29. — ' Ebd., 35, 37. —
Letires ädiflantes III, 664, 665. Vali
Justi, 29, 30. — * d'Argeasöo, 104. — * D u Halde ebd., 17. — • Die
Landstraßen in Ctiina wurden von den Reifenden ganz besonders ge-
rühmt; vgl. Mendoza-Ktllner, 24, Dapper, 90, Anderson,
34, usw. — ' Voltaire XV, 271. — * Justi 29.— ■ Quesni)
614. — '" Du Halde II, 29.
ly, CEuvrcdH
1&0
tauen noch ein anderes Bild gebraucht, das aber in gleicher
tt'eise den patriarchalischen Grundcharakter ihrer Regierungs-
weise betont: „Der Regent ist weiter nichts als ein Hirt, der
dafür sorgen muß, daß sich niemand von der Herde verirre"«
beißt es in einem Gesetze aus der Sammlung des P. Hervieu.^
Bis ins Einzelste wurde von den Panegyrikern geschildert,
wie sorglich und wie genau die chinesischen Kaiser ihre Vater-
und HirtenpBichien erfüllien. Es wurde ausgeführt, wie alle
von den Tribunalen ausgearbeiteten und vorgelegten Entwürfe
erst durch die persönliche Zustimmung des Herrschers RechtskniFt
erhalten können, wie alle Amter nur nach seinem Ermessen besetzt
werden, so daU der in Europa, vor allem in Frankreich, so be-
rüchtigte Amterverkauf ausgeschlossen sei, ebenso wie dadurch
verhindert würde, daß die Ämter sich in bestimmten Familien
von Generation zu Generation forterbten.'^
„In den anderen Ländern**, ruft Voltaire aus, ^bestrafen die
Gesetze das Verbrechen, in China tun sie mehr, sie belohnen
die Tugend",^ und an einer anderen Stelle erzählte er: „L'ern-
pereur de la Chine ^tablit le premier des prix pour la vertu",*
ähnlich wie sich Goethe an der politisch-moralischen „Legende"
aus dem chinesischen Roman freute: „von einem jungen Mann,
der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten
Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. '^^
Eine weitere Äußerung der väterlichen Liebe sah man in
dem Verhalten der Kaiser zu ihren Behörden, die ohne weiteres
abgesetzt wurden, wenn in ihren Bezirken sich ein Aufstand,
eine Hungersnot usw. erhob, und zwar wurde diese harte Strafe
damit begründet, daß die betreffenden i^andarinen ihre väter-
lichen Pflichten vernachlässigt hätten. Die Begeisterung für
diese MaiJregcl der chinesischen Kaiser hat auch noch in der
Revolution eine gewisse Rolle gespielt, das beweist eitle Stelle
bei Tainc, die sich der Verfasser der „Origines" nicht ju er-
klären vertnag, obwohl der Kanal, durch den diese Mitteitung
zur Kenntnis der französischen Revolutionäre gelangte, hier
einmal völlig sichtbar ist: Rousseaus Discours sur l'£conomie
politique." Als nämlich die Munizipalität von Marseille 1790
gegen die verfassungsmäßigen Bestimmungen jeden für wahl-
berechtigterklärte, derein Handwerk triebe oder sonst einen Beruf
ausübte, wurde von der Nationalversammlung eine Kommission
* Zitiert bei Schiller, China, 76. - " Grosier 11, OfT. — ' XJV,
273. ~ * Princesse de Babylon § V. — ■■ Eckermann s, o. ~ ' Rousseau,
Paris (Hacbenej 1, 65»., IM, 22&, 285.
1!
abgeschickt, um die Ordnung wieder herzustellen. Darauf ver-
langten die städtischen Beamten daselbst eine Abberufung der
Kommissäre, indem sie erklärten : „ In China wird jeder
Mandarin, gegen den die öffentliche Meinung sich ausspricht,
abgesetzt; man betrachtet ihn als einen Lehrer, der es nicht
versteht, einem Vater die Liebe seiner Kinder zu sichern. "^
Vor allem aber erkannte man die wahrhaft väterliche Ge-
sinnung der chinesischen Kaiser darin, daD sie mehr auf das
Wohl ihres Reiches, ihrer weiteren Familie, als auf das Wohl
ihrer Dynastie und ihrer engeren Familie bedacht waren. Denn
sie schlössen die unwürdigen Erstgeborenen von der Nachfolge
aus und beschränkten mit ebensoviel Klugheit wie Menschlich-
keit die Rechte der jüngeren unter ihren Söhnen,
Es ist bereits oben erwähnt worden, daß die Frühesten
Kaiser, wenn sie keine Söhne hatten, die sie für geeignet
oder wert hielten, den kaiserlichen Thron zu besteigen, ein-
fache Landleute zu ihren Nachfolgern erhoben. Aber wenn
auch später nur Prinzen von Geblüt zur HerrschaFC gelangten,
so wurde von den Kaisero auch da eine sorgfältige Auslese unter
ihren Söhnen gehalten und keineswegs wie in Europa dem ältesten
Sohne die Herrschaft ohne weiteres anvertraut." Der viel-
gepriesene Kien-Iong war z. B. der vierte Sohn seines Vaters Jong-
tsching, der ihm wegen «seiner guten Eigenschaften, seiner all-
gemein bewiesenen Barmherzigkeit, seiner gegen Eltern und Ver-
wandte bezeigten Liebe, die ihn auch seinem Großvater schätz-
bar machte", seinen Brüdern vorzog.^ Von Jong-isching dagegen
erzählte man, daß er im Augenblick des Todes seines Vaters den
eigenen Namen einem anderen in dessen Testamente unter-^
geschoben habe.* ^M
Justi vergleicht die Tatsache, daß die jüngeren Brüder, der
Sicherheit des regierenden Monarchen geopfert und etwa wie
in Persjen geblendet wurden, mit den Gewohnheiten der Bienen,
die auch nur eine Königin am Lehen lassen, die übrigen
„Prinzessinnen" aber toten. Er preist in dieser Beziehung die
chinesischen Herrscher, die ihre Brüder weder einkerkerten
noch umbringen ließen. Ja, er meint sogar, darin den stärksten
Gegenbeweis gegen die Behauptung zu sehen, daß in China_
eine despotische Regierung herrsche.' Andererseits rühmt
im Gegensatz zu Europa, daß die chinesischen Prinzen Fast
als Prälendenten aufgetreten sind."
' Les Origines de la France conlemporaine, Dtsch. Ausg: Leipzig^
1877 ff. II, 2, S. USFf. - » Salmon 69. - * v. Breätenbauch 14.
* Siounton 146. - ' Juati 377 ff., 388. - « Ebd, 3Se.
191
Er bezeichnete auch darin die Chinesen als vorbildlich^ daß
sie den jüngeren Söhnen häußg die Führung der Heere anver-
traut hätten. Dagegen versicherte Du Halde ausdrücklich, daß
man den Prinzen von Geblüt keinerlei Einfluß auF die Regierung
des Landes verstattete,' «ie auch vorher $chon Neuhof betont
hatte, daß die Prinzen zwar einen eigenen Hofstaat und aus-
kömmliche Apanage erhielten, aber die Stadr, in der sie resi-
dierten, nicht verlassen durften.^ Allerdings war man darin
ziemlich einer Meinung, daß, wie es Salmon ausdrückte, auch
nicht einer von den zurückgesetzten Prinzen „nach der Krone ge-
schnappt und sein Recht der Geburt oder sonst was vorgeschützt
habe, obgleich das Reich in den Händen der jüngeren Brüder
gewesen*,^ wenn auch Diderot in einem Briefe an Sophie
Voland mitteilte, der Kaiser L'Y Vang-ti habe die Tyrannei der
Prinzen von Geblüt mit Gewalt brechen müssen/ Beim Tode
des Kaisers Tschang- ti, so erzählt Le Comle, gab es mehr
als 2000 Prinzen von Geblüt in allen Provinzen, «ohne daß der
Fried« und gute Ordnung im geringsten nicht seyn angefochten
worden".'^
„Ein anderer Zügel, wodurch die Gesetze die höchste Gewalt
des Kaisers einschränken, falls es etwa versucht werden sollte,
dieselbe zu mißbrauchen", berichtete Du Halde, „ist in der Freiheit
XU finden, die dem Mandarinen eigen ist, daß sie in demüthigen
und ehrfurchtsvollen Schriften dem K&yser die Fehler vorhalten,
die bey der Verwaltung seyner Regierung mit untergelaufen und
ihm zeigen, daß sie vermögend wären^ die gute Ordnung im
Reiche zu zerrütten."^ Quesnay bemerkte dazu, daß diese Bin-
richtung der «Remontrances ä Tempereur" von Anbeginn durch
das chinesische Gesetz geheiligt wurde, wie auch tüchtige Kaiser
ihren Mandarinen immer wieder die Erfüllung dieser Pflichten
an das Herz legten. Aber auch die Grausamkeit einzelner
Herrscher, die solche unbequemen Mahner ohne weiteres be-
seitigen ließen, schreckte diese „ehrenwerten Beamten" nicht ab,
von ihren Rechten ihren Pßichten Gebrauch zu machen. Daher
wurden die Tyrannen, als sie sahen, dal^ sie nur politische
Märtyrer schufen, deren Popularität ihre Herrschaft gefährdete,
gezwungen, einzulenken und auch weiterhin den Mahnungen
ihrer Räte Gehör zu geben. ^ Der deutsche me rkantif istische
' Du Halde, Beschreibg. II, 16. — ^ Neuhof, 213, vgl. a. Sal-
mon, 82. — " Salmon, ebd. — * Diderot^ XVIII, 131. — '■ Das heutige
Slna» 13. — * Du Halde, Bescbreibg. II, IS. — ^ CEuvres Ö07; vgl. a.
Helvetius [I, 14S; d'Argens 11, 392.
192
Staaislheoretiker Jusfi suchte sogar aus dieser cbinesischen
Institution das Recht der Untertanen aller Staaten abzuleiten,
derartige Beschwerden bei den einzelnen Landesregierungea ein-
zubringen. Er meinte, daD zwar die „Ministers die Collegien
und ansehnliche Corpora" in erster Linie dazu verpflichtet
wären, daß aber auch jeder einzelne Untertan unstreitig das
Recht haben müOte, über die Fehler und Gebrechen der Re-
gierung vorstellig zu werden. Der Vergleich, den er zur
Illustration seiner Behauptung gebrauchte^ ist charakteristisch
genug, um hier angeführt 2u werden; „Was würde man von dem
Director einer Handelsgesellschaft sagen, wenn er behaupten
wollte, dAÜ die Mitglieder der Gesellschaft ihm keine Vo
Stellungen und Erinnerungen zu tbun beFugt wären? Würde
nicht jeder vernünftige Mensch urtheylen müssen, Ü&Ü sich dieser
Director eine unerträgliche Despoierey über die Gesellschaft
anmaaDe?"^ J
Eine weitere, noch moralischere Beschränkung der kä!ser-i
liehen JVlacht sah man in der Zensurbehörde der Kolis, denen
nicht nur die Mandarinen, sondern die Kaiser selbst unter-
worfen waren: „Les censeurs nommes Kolis examinent rout
rigoureusement et sont redoutables jusqu'ä Tempereur et aux
princes du sang." - Diese Zensurbehörde beschreibt Diderot
folgendermaßen: Der Monarch ist einem Rat von Richtern
unterworfen, die ihn streng tadeln, wenn er Unrecht begeht,
und seine Geschichte bei seinen Lebzeiten schreiben. Dieser
Rat wird in China aits zwölf Mandarinen'' gebildet. Sie ver-
sammeln sich alle Tage. In ihrem Versammlungsraum beladet
sich ein Kasten, der oben mit einer Öffnung versehen ist,
durch welche die mit Namen unterzeichneten Denkschriften
hineingeworfen werden, die die Geschichte des Regenten bilden
sollen. Diese Denkschriften bilden schon eine Sammlung von i
drei- bis vierhundert Bänden/ I
Es ist vielleicht nicht so wunderbar, als es auf einen ober-
Häcblichen Blick hin erscheinen möchte, daß die Menschen des
achtzehnten Jahrhunderts auch in dieser merkwürdigen Institution
eine zuverlässige Garantie für die „mod^ration" der Kaiser von
China zu sehen glaubten. Diese Überzeugung entspringt der-
selben Wurzel, aus der etwa Voltaires Begeisterung über die
Tugeadprämien der chinesischen Kaiser hervorging: aus derj
i nj
' Justi 32ff. — ' Quesnay 607. — " Nach Neuhof 216, 217, &u
00 Mandartneci; vgl. a. Dritte Gesandtschafisreise, 34, 35. — ■ DideroiJ
s. o.; vgl. a. Helvetius 111, 225.
ISS
-von aller TatsäcbHchkelt abstrahierenden rationalistischen Denk-
weise ihrer Zeit. Ein Satz Justis mag in diesem Zusammenhange
die Anschauung der Lobredner China$ näher beleuchten: ,Wean
eiti Mondreh versichert ist, daß seine unüberlegten und bd&eo
Handlungen der Nachveit ohne Schmeicheley und Bekleisterung
werden erzahlt werden, so müßte er einen sehr unedlen
und niederträchtigen Geist haben^ wenn er nicht dadurch auf-
gemuntert werden sollte, sich als ein löblicher und guter
Regent zu zeigen." ' Es mag zugegeben werden, daO dieser
Satz des «glatt systematisferendea" ^ Staatsrechtlehrers auch
im Rahmen der Zeit als zu dürr, zu schulmeisterlich wirkt,
■ber immerhin enthält er Elemente, auf denen auch größere
unter den zeitgenössischen Geistern ihre Gedankreihen auf-
gebaut haben.
Dazu kommt noch, dali es auf die damalige Zeit auDer-
ordetillich stark wirken mußte, wenn itian sah, wie in China
ganz im Gegensatz zu der europäischen Hofhistoriographic eine
kritische, von Schmeichelei freie Kaisergeschichte zu entstehen
schien. In diesem Sinne schreibt Sioeu -Tscheou, der eine
von den reisenden Chinesen des Marquis d'Argens, an seinen
Freund Yn-Che-Chan: „Wenn man den meisten Teil der Zu-
eignungs Schriften an die gekrönten Hgupter in Europa seit
zweyhundert Jahren lesen sollte, so würde man beynahe glauben
müssen, daQ alle Nattonea in diesem Teile der Welt zwei
Jahrhunderte lang von lauter Fürsten, wie ehemals August^
Titus, Trajan, Marcus Aürelius u. dergl. waren, beherrscht worden
wären.'" Und Justi fügt hinzu: ,Wir Europäer verderben alle
unsere Fürsten durch unsere niederträchtige Schmeichelei."* —
Diderot nimmt auch hier eine abweichende Stellung ein, er
führt nach seiner umfänglichen Beschreibung des „Geschichts-
Tribunales" das Beispiel eines Kaisers an, das den inneren
Unwert dieser ganzen Institution bezeugt.''
Alle diese einzelnen Meinungen der chinabegeisterten
Philosophen lassen sich in dem emphatischen Satze des Abb6
Grosier zusammenfassen: , Niemahls sah ein Land weniger böse
Regenten, niemahls ward ein Land mit einer größeren Zahl treff-
licher Fürsten beglückt." Es waren dies, wie ausgeführt wurde,
im groDen und ganzen die Ansichten der Verfechter des auf-
geklärten Absolutismus und der wirtschaftspolizeilichen Tätigkeit
der Regierung. Christian Wolf ist, wie Gustav SchmoHer dies
■ Justi 37. — ^ Gustav Schmoller, Grundnil 1,87. —
vgl. a. Justi, 38. — • Justi 37. — '• Diderot s. o.
13
11,393;
194
abschlieDend gesagt hat, der Lehrer dieser Generation, d
bis 1786 regiert hat. „Er preist aus vollster Überzeugung
China mit seiner Vi ei regier ung und seinem Mandannentum als
Musterstaat. Der Regierung wird in schrankenloser Weise die
Sorge Für die allgemeine Glückseligkeit zugewiesen; sie soll
für richtigen Lohn und Beschüftigung aller Menschen, für
mittleren Preis, für die rechte Zahl der Menschen im ganzen
und in jedem Berufszweige, Für die Tugenden und guten Sitten
der Hindernder Hausfrauen, der Bürger und der Beamten sorgen.*'
Die dätracteurs haben den Ausführungen der Panegyriker
die Behauptung entgegengestellt, daß die Auffassung von der
patriarchalischen Regierung in China eine Art von Trauinerei
sei, über die der chinesische Kaiser und seine Mandarinen
lachen würden, wenn sie davon erführen."
Sicherlich haben sie darin den utopistischen Charakter der
Chinabegeisterung erkannt und getroffen.^
JWan erhält indessen bei Raynal, der die Meinung der eiif?
zelnen Lobredner und Widersacher Chinas, ohne auch nur einen
Namen zu nennen, so zusammengestellt hat, als ob sie paradoxe
Gedanken ein und desselben Kopfes wären, kein gutes Bild,
denn es fehlen dort alle die feinen persönlichen Nuancen, die
erst das Reizvolle einer solchen Bewegung ausmachen. Übrigens
wurde diese Art der Darstellung auch schon von den Zeit-
genossen getadelt.*
M
M
' Grundriß I, 88. — ' Rayflft] I, 214, 215. — =■ Es sei vcrslatlet
hier eine Bemerkung Wilhelm ScherCrs {Kleine Schriften hg. v. E. Schmidt.
Berlin 1893 II, 334) zu vecieichrien, die mir erst während des Druckes
bekannt geworden ist : :,Wir werden vielleicht nie genau wissen, auf
welche Weise sich pqelisclie, n^tionalökonomische (der Physiokraien),
po]ltische und ethnographische Gesichtspuniite verketten, durchdringen und
beFruchten: denn auf allen diesen Gebteten macht sich das naive Ideal
gehend- Europa demütigt sich vor asiatischer Kultur und Unkultur, vor
vermeintlich vorweltlicher Vollkommenheit, China erntet die Bewunderung
der französischen Philosophen, auch die Staatslehre hat ihre Chinoiserien,
der Zopf wird das bedeutungsvolle Symbol einer wenig schmeichelhaften
geistigen Verwandtschaft, und doch ist auch der Zopf ein Fortscbriti
zur Natur und Wahrheit gegenüber der Staats perrücke des si^cle de
Louis XIV. (?) Ich bin geneigt, anzunehmen, daH der Anstoß gerade von
der Poesie ausgeht und auf die Wissenschaften wirkt, welche dann natür-
lich auf die Dichtung wirken und ihr neuen Stoff zuführen, Doch wird
sich ein Beweis dafür, wenn überhaupt, eher deduktiv als induktiv her-
stellen lassen. — * Vgl. den Brief Turgots an Morellet: Mfimotres de
TAbbä Morellet. Paris 1821, 1, 215.
*
Unter diesen dStracteurs nimmt Montesquieu die erste
Stelle ein, wenn man ihn auch nicht so ohne weiteres zu den
absoluten Gegnern der Chinabegeisterung rechnen darf, wie
etwa Voltaire zu den schrankenlosen Anhängern dieser Bewegung.
Denn Montesquieu verfahrt jm großen und ganzen vorsichtiger,
man köotile sagen objektiver als Voltaire auf der einen, Diderot
auf der anderen Seite, und man wird auch hierin eine der
Ursachen seines großen Einflusses auf das neunzehnte Jahr-
hundert sehen dürfen,
Bossuet hatte zwischen der absoluten Monarchie, d&ren
Herrscher nach Gesetzen, und der willkürlichen Monarchie
unterschieden, deren Herrscher nach seinen Launen regiert.
Diese willkürliche Monarchie nannte Montesquieu Despotismus^
und als solchen bezeichnete er die Regierungsform des chinesischen
Reiches.
Denn er vermißte in diesem Staatswesen vor allem die
Ehre, die nach seiner Meinung das Prinzip der Motiarchie wie
die Tugend das Prinzip der Demolcratie ist: Nos mtssionnaires
nous parlent du vasce empire de la Chine, comme d'un gou-
vernement admirable qui m^le ensembie dans son principe la
crainte, l'honneur et la vertu. ■ — J'ignore ce que c'est que
cette honneur dont on parle chez des peuples ä qui on ne Tait
riea ä faire qu'ä coups de baton.* Da für ihn ferner die
chinesische »vertu" in den Lobpreisungen der Missionare durch
die Berichte weltlicher Reisenden widerlegt wird,' so bleibt
für ihn als einziges Prinzip der chinesischen Staatsgewalt die
Furcht über, und er wird nicht müde, zu schildern, wie lediglich
die Furcht die Triebfeder für alle Handluogen der chinesischen
Herrscher gewesen ist.* Ähnlich wie es Ancillon 1825 ausdrückte:
Unter dem Despotismus ist keiner sicher, solange der Despot
sicher ist, und seine Unsicherheit ist das beste Mittel der
allgemeinen Sicherheit.'*
Wohl erkannte er, wie bereits erwähnt, die Fürsorge der
Kaiser für die Landwirtschaft an, wohl pries er jene «friedlichen
■ Sore], S5. — ^ Esprit VI», 21- — " Er zitiert Lange s. o. und
Lord Anson; $, d, Herrn Admir^U Loe-d Ansons Reise um die Welt etc.
GSttängen 1763, - * Esprit VU, C«p. 7; VIII, cap. 21. - <■ Über den
Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Ceselzgebung.
Berlin, 47; vgl. Montesquieu: U (der chinesische Kaiser) ne senttra
point comme rtos princes que s'il gouverne mal, il sera moins heureux
dans I'aotre vie, moins puisssnt et moins riebe dans celle-ci: il saura
que si sQn gouvernement n'est pas bon il perdra Tempire et la vie.
Esprit VllI, cap. 21.
13*
I
196
Eroberungen" der alten Herrscher von China,^ ebenso wie er
auch betonte, daß das chinesische Regiment durch einige
„circonstances particuH&res et peut-^ire uniques" noch nicht so
„verdorben" sei, als es eigentUch sein müDie." ^
Aber auf der anderen Seite sehilden er ganz im Gegensat^l
zu Justi die Grausamkeit, mit der ein Kaiser seinen jüngeren
Brüdern den Prozeß habe machen lassen, ähnlich wie man von
Yon-tsching, dem Vater Klen-longs, berichtete, daß er die Prinzen
von Geblüt hartnäckig verfolgt habe.' Oder er führt aus, wi
man in China vergeblich versuchte, der Günstllngswirtscha
der Eunuchen*' zu beseitigen.''
So kommt Montesquieu, soviel er auch die Einzelheiten
gegeneinander abwägt, doch zu seiner Anfangsthese zurück,
die er nur insoweit einschränkt, als er zugibt, daC unter den
alten Kaisern, als China noch nicht seinen heutigen Umfang
hatte,^ die Regierung sich in etwas von diesetp Despotismus
unterschieden habe. „Mais aujourd'hui cela n'est pas."^
IVlan kennt die Erwiderung Voltaires auf diese Montesquieu-«
sehe Darstellung. Nach der Anführung seiner Gewährsmänner^
und der Aufzählung einiger Vorzüge Chinas entgegnet er
Montesquieu: „Der Autor glaubt oder will glauben machen,
daß es in China nichts aU einen Despoten und 150 Millionen
Sklaven gibt, die rnsn vie die Geschöpfe eines Oeflügelhofes
regiert. Er vergißt dabei die große Zahl von Tribunalen, von
denen eins dem anderen untergeordnet ist.^ Er vergißt auch,
daß Kaiser Kam-hi, der den Jesuiten die Erlaubnis erwirken
wollte, in China das Christentum zu lehren, selbst ihr Gesuch
an ein Tribunal überwies." Mit der ganzen Ironie des Rokoko-
menschen wendet er sich gegen die barbarischen Vorbilder
* Esprit XVIII, cap. 6. — ^ Ebd. VIII, cap. 21. „De causes tirfies
]a pluparr du physique du cliraat ont put forcer les causfis mor&les dans
ce pays, et faire des espöces de prodiges." — " v. Roiteck und
Welcker, XIV 553, Altona 1843. (Artikel von RutenbergJ — ' Ober
die chin. Eunuchen vgl. NeuhoF 269; Grosier II, lOl ; Stounion 204;^
de GuignesII, 294. — * Esprif XV^ cap, 19; vg]. Haller, 52. -AbeM
auch in China ist die alle Einfalt der Herrscher durch die Schmeichler^
verdrungen, Usong gestund es. Die Belohnungen werden durch den
Rath unwürdiger Verschnittenen ausgetbeilt, der obersten Mandarinen
Unlerdröckungen übersehen, und das Joch auf das Volk erschweret.*
" « Vgl. dazu Esprit VIII, cap. 17 „Un itat monarchique doit etre d'une
grandeur tnddiöcre." — ' Ebd. cap. 21. — " Über die einzelnen Tribunale,
auf deren Organisation hier nicht eingegangen werden sali, vgl. Neu-
hof 213if.; dritte Gesandtschaft 3217.; Palias-Lange 137, 138; Du
Halde, Beschreib. II, 31 ff,; de Guignes II, 446, 463. Über die Man-
darinen im einzelnen Grosier II, lOff.; de Guignes 11, 452, 455, 464,
197
JWontesquieus: „Si Montesquieu veut nons persuader, que les
monarchies de l'Europe etablies par des Goth$, des G^pides,
des Alains sont fondßes sur I'honneur, pourquoi veut il öter
Thonneur ä \a Chine?"^
An anderen Stellen äußert er in energischer Abwehr des
Ansonschen Zit&ies: die niedere Bevölkerung von Kanton
könne keinen AlaDstab für die Beurteilung des chinesischen
Volkes abgeben,^ und aus der Tatsache, daß in China der
Pöbel mit Bambusschlägen bestraft würde, Folge noch nicht,
diu China mit seiner Tribunalregieruog in unzureichender
Weise regiert werde, ^
Sorgfältiger, aber auch unendlich viel trockener als Voltaire
hat Quesnay iVIontesquieus Ausführungen zu widerlegen gesucht.
Er bringt für jede der einzelnen Behauptungen Montesquieus den
Gegenbeweis. Es würde ermüden, hier die ganze Apologie
Quesnays* zu reproduzieren; nur einige wichtige Punkte seien
genannt. Mit Voltaire, mit Justi bezweifelt er die Zuverlässig-
keit der Kaufleute, Montesquieus Gewährsmänner.* Er be-
zeichnet die Verfolgungen der Prinzen von Geblüt durch den
Kaiser als einen Einzelfall, dem sich nichts ähnliches an die Seite
stellen lasse, und betont, daß es sich in diesem Einzelfalle um
eine wirkliche Verschwörung gehandelt habe, in die auch die
Jesuiten verstrickt waren.* Gegen den Satz Montesquieus, der
den Chinesen alles Ehrgefijhl abspricht, führt er als Tatsache
an, daQ in keinem Lande der Welt so viel zur Erweckung des
Ehrgeizes getan werde als in China. ^ Als Gipfelpunkt seiner
Widerlegung aber kann man die Stelle über die Bevölkerung
ansehen. Er sagt dort, ganz im Sinne seiner Zeit:^ «Une
grande populaiion ne peut s'accumuler que dans les bons gou-
vernements; car les mauvais gouvernements anSantissent, les
richesses et les hommes. Un peu d'attention sur ce peuple
prodigieux suffit pour dissiper tous les nuages qu'on voudrait
rSpandre sur 1e gouvernement chinois. En nous disani que
le besoin d'une si grande multitude en impose dans un
mauvais gouvernement M. de Montesquieu Forme un ralsonne-
ment qui implique contradiction; un peuple prodigieux et un
mauvais gouvernement nc peuveat se trouver ensemble dans
aucun royaume du monde'*/
' Esprit VIII, cap, 21, Anm. v. Voltaire. — ' XV, 272.— " XXXXII,
44S, Anm. A — ^ (Euvres Ö22ff. - » <Euvres 622, 623. — » Ehd, 623;
vgl. a. Helvelius II, 179. — ' <Euvres 622. — " Fritz Wolters ]S2j
1S3. — « (Euvres 623.
b
Aus der Verteidigung des Französischen HegieruDgssystems
durch Justi, die sich zum Teil mit der Voltaires' und Quesnsys'
decbt, sei nur ein Moment herausgehoben. Er zieht die kolle-
giale Tribunalverfflssung Chinas den europäischen Ministerien
vor, indem er ausführt, daß die Kollegien, die sich sowohl am
Hofe, als auch in den einzelnen Provinzen unter ständiger
gegenseitiger Kontrolle und der Kontrolle durch Zensoren be-
finden, verhindern» daß einige Minister die Herrschaft über den
Staat erlangen könnten/
Indessen, das neunzehnte Jahrhundert hat den Angriffen
Montesquieus recht gegeben. An die Seite der dfitracteurs
aus Raynals Buch, die oft mit sehr witzigen Bemerkungen die
von den Panegyrikern gepriesenen Garantieen für die „modfi-
ration" der Kaiser von China verspottet haben,* traten schon
in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Reisende,
■wie Barrow^ und de Guignes, traten Staatstheoretiker, wie der
Sozialist Mably,* die die Berichte der Jesuiten, wie die Aus-
führungen der Physiokraten in Frage stellten. An ihre Seite
^ „'Wenn er (Montesquieu^ ferner behÄUptet, daß der Prügel der
Regimentssub sei, welcher Sina beherrsche; so hat er sich nicht erinnert,
daß alle Mandarinen und Gelehrte mithin, da in Sina kein erblieber Adel
ist, alle Leute van Ansehen und Verstände davon ausgenommen sind,
so daft dieser Regimentsstab allein vor den Pohel übrig bleibt; und «e
ist noch eine große Frage, ob es besser ist denselben durch Geldstrafen
und Sportuln arm und elend zu machen, oder ihn unter dem Stocke zu
halten." jListi52,52; vgl- dagegen Senac-Meilhan: CEuvres Hamb- 1795,
], 92. Des PrinClpes de Montesquieu sur ie gouvernement: „Deo Kaiser
I3ßt dem Minister oder einem Mandarin die Bastonnade geben und der
Minister oder der Mandarin fühlen sich dadurch nicbt erniedrigt," „Ce soni
des 6co]iers, qui se remettent k leurs places, apr^s avoir €ti fustigfs." —
'^ Justi ebd. — ' Interessant ist die Anspielung auf Rußland, wo die Kollegien
erst unter Alexander!, durch Ministerien ersetzt wurden. Vgl Theodor Schie-
mann: — '' Z. B. die Einschränkung durch die Tribunale und Mandarine:
„Si la barri^re qui prot^ge Ie peuple n'esi pas h^riss^e de lances, d'^p^es
de baionneites dirig^es vers la poitrine ou la i^ce sacr£e de l'empereur
pere et despote, nous craindrons, mal'ä-propos peui-ftrc, mais nous crain-
droas, que cette barrt^re ne soit a la Chine qu'une grande totle d'arajgn^e
sur laquelle on auroit peint l'image de la justice et de la liben^, mais
au travers de laquelle rhomme qui a de bons yeux apervoif la iSte hideuse
du despote." Raynsl, 214 oder das „Geschichtstribunal'*: „Oh Theureuse
conlree que Ja ChJneF Oh la contr^e unique oü l'biEtonographe du prince
n''esC ni pusillanime, ni rampant, ni accessible, ä la s^duction, et oti Ie
priitce qui peut faire couper la t6te ou la main k son bistoriagraphe
pälit d'effroi lorsque celui-ci prend la plume." Ebd. 212, 213. — ^ Vor
allem cap. 7. — » CEuvres, Paris Tan III, 7. IX, 13, SOff.
190
trat Herder. Sein veiter völkerverglejchender Blick erkannte
die Bedingtheiten des Landes und der Rasse, welche die Chinesen
wie jedes andere Volk in unverrückbare Grenzen spannte: „Es
ist auf diese Stelle der Erdkugel hingepflanzt; und wie die
Magnetnadel in Sina nicht die europäische Abweichung hat: so
konnten aus diesem Menschenstamme in dieser ßegion äuch
niemals Griechen und Romer werden. Sinesen waren und
blieben sie^ ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen
Nase, platter Stirne, wenig Bart, großen Ohren und einem
dicken Bauche von der Natur begabt: was diese Organisation
hervorbringen konnte, bat sie hervorgebracht, etwas anderes
kann man von ihr nicht fordern." ' Damit spricht Herder im
Vergleich zu den westlichen Kulturen dem chinesischen Geiste
jede Tiefe ab. Aber indem er in sein W^esen eindringt und
ihn bis in seine feinsten Verästelungen analysiert, erhebt er
sich weil über die Paoegyriker und dStracteurs und vermag
China als einen Organismus, einen unter vielen Organismen
des geschichtlichen Lebens zu erfassen und sein Urteil über
ihn bleibend zu gestalten.
In unmittelbarem Zusammenhange mit seinem verehrten
Vorbilde Montesquieu schrieb dann der deutsche Staatsrechts-
lehrer Zachariä 1820 folgende Sätze: „Gleichwohl mögte
die chinesische Verfassung, wenn man sie, wie billig, auf
die gesamten Zwecke des Menschen bezieht, selbst der
ZwingherrschaFt nachstehn. — Der eine Grundfehler der
chinesischen Verfassung f$t der, daß sie die gesamte Denk-
und Handlungsweise des Volkes in einen bestimmten Kreis
bannen, einen jeden einzelnen in einem jeden Verhältnisse
meisternd und bewachend, das geistige Leben in seinem innersten
Keime tödet. Die Chinesen sind und bleiben ewig dieselben,
gealterte Kinder oder unmündige Greise . . . Der zweyte Grund-
fehler dieser Verfassung ist der, daß sie die Gesetze der Sitt-
lichkeit in äußere Gesetze verkehrend, das eigentliche Wesen
der Tugend in Schatten stellt. Die Chinesen sind gesittet ohne
Sittlichkeit; sie sind eitel ohne Seibätachtung und Muth; sie
heucheln Tugend, weil sie nur die Strafe fürchten." ' Oder
Torqueville nannte ihre Regierung „imb^ctle et barbare"."
Welch ein Abstand von dem Ausspruch des Pater Kircher,
dem China mit seiner Gelehrtenregierung das platonische Staats-
' Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit Bd. XIAbscbn. l,
— ■* Zachariä: Vierzig Bücher vom Staate. StuttE. u. TiJbingert II, 178,
17Q. _ ' Lavcrgne: Les fcönomistes fran^ais du XVIlIiime siöcle.
Paris 1870, 107.
200
ideal zu verwirklichen schien (1667); aber auch ein Historiker
wie Hii)rich5, der unter dem Eindruck der Revolution von 1840
eine Verteidigungsschrift der Monarchie in seinem schönen Buche
„Die Könige" niederlegte, hat das chinesische Verfassungssystem
vötlig abgelehnt.' Endlich sei abschließend an Hegels Wort
erinnert: «Dss ausgezeichnete in China ist, daß alles, was zum
Geiste gehört^ Freie Sittlichkeit, JVtoralirät, Gemüth, innere
Religion, WissenschaFt und eigentliche Kunst entfernt ist. Der
Kaiser spricht immer mit Majestät und väterlicher Güte zum
Volke, das jedoch nur das schlechteste Selbstgefühl über sich
selbst hat, und nur geboren zu sein £lKubt> den Wagen der
Macht der kaiserlichen Majestät zu ziehen. Die Last, die es
zu Boden drückt, scheint ihm sein notwendiges Schicksal zu
Min, und es ist ihtn nicht schrecklich, sich als Sklaven zu
verkaufen und das saure Brot der Knechtschaft zu essen I*
Allerdings hat noch Benjamin Constant, ähnlich wie es der
Abb6 Galiant einst scherzend prophezeite, mit Ernst und Nach-
druck erklärt, daß unser Erdteil in politiscfaer, wie sozialer
Beziehung dem chinesischen System entgegengehe.
1 D[e Kfinige, Entwicklungsgesch. d. Konigtbum» von den iliesteu
Zeilen bis auf die Gegenwart Leipz- 1842, 14. — v. Rotteck und
Welcker XIV, 572.
ÜBER DIE THEORETISCHE
BEGRÜNDUNG DES ABSOLUTISMUS
IM SIEBZEHNTEN JAHRHUNDERT.
Von FRITZ '«'OLTERS.
L'aoior e Ib SiiDoria
Die vir heute einzeln stehen, jeder eine einsame Welt,
deren Einheit oder Widersprüche nicht mehr der Mikrokosmos
einer größeren Einheit oder sllumfassender Widersprüche sind,
die unter dem Übermaß der kleinen Freiheit, welche den Schutz
der niedersten Lose mit deren Wichtigkeit vermengte, Fast ganz
verlernt haben, daß Herrschaft und Dienst nicht nur Begriffe
sind, um Verhältnismaße wirtschaftlicher Pakte zu bezeichnen,
sondern lebendiges Handeln lebendiger Menschen, so daß die
einen erhaben sind, die anderen willig oder unwillig sich neigen:
vir fassen schwer das Bild einer Welt, in der sich jedes fest
umschlossene Teilganze zugleich als Glied und Gleichnis einer
höheren und diese zuletzt der unendlichen, alles in sich be-
greifenden Einheit faßte, in der der feste Glaube an diese höheren
und höchsten Ordnungen das Gefühl der sich senkenden Stufen
mitgebar, und während duch die niedrigste noch von der gött-
lichen Kugel umschlossen blieb, dennoch jene steigenden Grade
der Mitielbarkeiten in der verschiedenen Entfernung vom Kerne
das deutliche Maß der innehabenden Würden und Gewalten
setzten: wir fassen schwer das Bild der mittelalterlichen Welt,
weil sie das Wesen ihrer Ordnungen in den irdisch-Iciblichen oder
himmlisch-geistigen Trägern der Würden und Gewalten dieser
Ordnungen selber sah und daher das Verhältnis des allmächtigen
Gottes zu den Menschen mit der gleichen körperlichen Sinnlich-
keit der Beziehung einer lebendigen Person zu lebendigen
Personen anschauen konnte wie das Verhältnis des kleinsten
Herrn zu seinen Untergebenen. Sie erfaßte die Person itnmer
nur unter dem Bilde des einfachen Organismus, und jeder Ver-
202
such, einen zusaniiiiengesetzten Organismus wie den Staat als
einfache Person zu begreifen, scheiiene stets daran, daQ selbst
dann, wenn ein fester Begriff dafür gefunden var, sein Inhalt
immer wieder in die Summen zerlegt wurde, also die Person
des Staates nur als Summe der EinzeLbürger gesehen werden
konnte. Ja, als das große Weltgcbaude des mittelalterlichen
Geistes zerbröckelte, dauerte es noch Jahrhunderte, wie Otto
Gierke zeigte, dem man in diesen Fragen jede Grundlage datikt,
ehe diese Anschauungsform ihre Kraft erschöpfte, und die
neue vom Wesen des Staates zunächst als eines künstlichen,
dann eines lebendigen Organismus dem Geiste sichtbar wurde.^
Die in Gott ruhende Einheit der mittelalterlichen Welt
drückte ihr irdisches Bild in den beiden Ordnungen der Kirche
und des Reiches aus. Bedeutete dieser zwiefache Ausdruck
nichts anderes als das Gleichnis des ungeheuren Zwiespaltes
selber, den das Christentum in die Menschheit legte, indem es
ihr zwei klar geschiedene Leben gab, so mußte in diesem
Lchenskerne der Idee auch der Keim ihres Unterganges Hegen:
die höchste Steigerung des eioeti Teiles konnte sich nur ia der
Unterwerfung des anderen vollenden, und damit zerbrach, gleich-
gültig welcher siegte, das Gefüge des Ganzen. Die Kirche,
weiche zunächst die Siegerin zu sein schien, hatte ihren eben-
hurtigen Gegner nicht anders niederwerFen können, als daß sie
die Widersacher in seinem eigenen Lager aufnährte, aus dem
einen Hydraltopf des Reiches die Kopfe der nationalen Staaten
schlug und so mit der Vervielfältigung des nur einmal möglichen
Gegensatzes die Form der mittelalterlichen Welt zerbrach: was
nun begann, war der Kampf um die Bildung einer neuen Form.
Die Waffe, welche die Kirche gegen das Reich gewendet
hatte, war der Zweifel an seiner Ebenbürtigkeit gewesen; sie
hatte abgestritten, daß es gleich ihr seinen untnittelbarea
Ursprung von Gott habe, und behauptet, daQ der Staat nur
mittelbar durch sie, die alleinige Vikahn Gottes auf Erden,
geschaffen werden dürfe, sollte sein Ursprung nicht vom Bösen
sein. Nach der inneren Zermürbung des Universalreiches hatte
^ Wie nithe schien die Erfassung d«r orgsnischen Gessm (persönlich ■
keit bei Sätzen der römischen Juristen zu liegen, wie: Omnis eorum (der
Herrschenden) numerus quL in locuni unius substituitur, pro singulari
persona habendus (Bornitius, De maiestvte politica et summo imperio,
Up$iäe 1610, 73), indem die Zahl der Herrechenden in der reinen Demo-
kratie im Prinzip alte umfaßt. Aber es scheint, als ob der moderne Geist
er^t die Idee der CleichheLt der Menschenrechte erleben mußte, um
auf diesem nivellierten Grunde wieder die Einheit erfassen zu können.
203
sie diese BehauptuDg gegen die erstarkenden Einzelstaaten zu
verteidigen, welche gerade im Kampfe gegen jede Universalität
und so auch gegen deren kirchliche Begründutig des unmittel-
baren göttlichen Ursprungs aufwuchsen. Sie nahmen ihre
GegenwafTen aus der Zeit^ welche die Gewalt von Staat und
Kirche nicht in dieser ungeheuren Zweiheit kannte, nämlich
der Antike, und suchten jeder durch die Wiederbelebung des
rc^mischen Begriffes vom Staate als einem Exklusivverbande ^
alles innerhalb der äußeren Grenzen liegende Gebiet weltlicher
wie geistlicher Gewalt als ihre eigenste Domäne in Anspruch
zu nehmen. Dieser Wille mußte in seinen Folgerungen die
allgemeine Kirche zerstören: die Reformation machte erst diese
neuen einheitlichen Staatswesen möglicfa; die katholischeti
konnten ihnen bis zu den äußersten Graden der gallikanischen
Kirche folgen.
Aber wahrend des Kampfes der großen Gewalten und an
ihrer Zersplitterung gestärkt, bildete sich langsam eine neue
Gewalt, die in der Reformation mit dumpfer Kraft anrollte»
von den Leitern der Staaten bereitwillig genutzt, um die Mauern
der Kirche einzurennen, sofort wieder niedergetreten, als sie
eigenes Recht beanspruchen wollte, die aber unzerstörbar in
den beiden folgenden Jahrhunderten ihre einmal aufgebrochene
Kraft in die Köpfe der Theoretiker zu werfen schien» ehe e$
ihr gelang, nach den Stadien des Meuchelmordes und der
Schafotte in dem ungeheuren Kampfe der Revolution ein Rechts-
wesen unserer Zeit zu werden: ich meine, neben die Ideen der
Kirche und des Staates tritt die Idee des Volkes. Die
herrschenden Mächte des Mittelalters bildeten immer nur die
Spitzen eines harmonisch gegliederten Baues; als mit seiner
AuFl&sung die mittleren Glieder teils zerßelen, teils zur Selb-
ständigkeit erstarkten, öffnete sich zwischen den Herrschern und
den Beherrschten eine ungeheure, unüberbrückbare Kluft. Die
Gesamtheit der Beherrschten wurde in den Begriff der Volks-
gemeinschaft gespannt, die nun naturgemäß den Herrschera
gegenüber ihr neues Recht suchen mußte. So stellten sich in den
religiösen Wirren des sechzehnten Jahrhutidens drei Mächte ein-
ander gegenüber und erhoben Anspruch am Staate: die Kirche,
welche im allgemeinen ihren Willen und ihr Recht an der
univer«;3len Herrschaft nicht aufgab» forderte im besonderen
wenigstens die geistliche Herrschafe im weltlichen Staate^ der
^ Gierke: Johannes Althustus und die Entwicklung der n^turrecht-
licben Sia&tstbeorieen. Breslau ISSO, 127, 128.
204
Herrscher forderte^ als die Verkörperung des Staates selbst unc
also als der Inbegriff alier staatlichen Rechte angesehen zu
werden^ das Volk Forderte nur dumpf ein gleiches, da es noch
keine Organe besaß und die Überreste der alten Ordnung, die
Stände, wenn sie nicht, wie in den meisten Lioderri, langsam
untergingen, nur selten unter ihren Sondervünschen das Wohl
des Ganzen vertraten. Vor allem aber hatte das Volk dem
göttlichen Ursprung, aus welchem Kirche und Herrscher gleicher-
weise als der höchsten und einzigen Quelle ihre Rechte speisten,
keinen Rechtsgrund seiner Ansprüche entgegenzusetzen^ denn
auch das erneut sich ausbildende Naturrechi, so sehr es seinem
Wesen nach demokratisch war und auch die Nährmutter der
Demokratie wurde, diente zunächst den Zwecken der herr-
schenden Fürsten.
Im Mittelalter hatte das Recht als göttliche Ordnung
Naturrecht, weltliches und geistliches Recht vereint.* Grund
und Maüstab d«r Gesetze war da$ geoffenbarte Gesetz Gottes,
da die verderbte Naiiir des Menschen allein dem Willen keine
klaren Vorschriften zu geben vermochte. Mit der Zerspaltung
der mittelalterlichen Autoritäten, dem Widerstreit der Staaten und
Konfessionen suchte das isolierte Individuum nach einer neuen
Rechtseinheit und fand sie in der ehemals verachteten mensch-
lichen Natur, ^ welcher der Humanismus durch das Bild des
antiken Menschen, die Reformation durch die neue Unmittel-
barkeit der Beziehung zu Gott eine erhöhte Wertung gegeben
hatte. Neben der göttlichen Quelle des Gesetzes öffnet sich
also als zweite Quelle die menschliche Natur, deren Wesen
zu erkennen sowohl durch die Betrachtuttg der menschlichen
Beziehungen und Bildungen, der Erforschungen ihrer natür-
lichen Entstehung und Entwicklung möglich war, wie auch
durch eine rein begriffliche Methode, welche die Axiome und
Elemente entwickelt und durch Analyse und Synthese die
vernünftigen, d. h. natürlichen, Prinzipien des menschlichen
Handelns festzusetzen vermag^ Die eine Weise^ welche sich
mehr auf die in der ganzen Natur erkennbare und von Gott
ihr eingepflanzte GesetzmäUigkeit stützte und ihre Beweise
dem historischen Leben der Menschen, den Tieren und selbst
den Harmonieen des Weltalls entnahm, hatte ihre Hauptvertreter
im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, während die zweite
^ Hlnrichs: Geschichte der Rechts- uAd Staats-Prinzipien. Leipzig
184Ö. I, 1—6. — * Gustav Schmoller: Sludicn, Jahrbuch Für GeseU-
g^bung und Verwaltung. VIH, IS&4, 54.
20S
Weise, welche die menschliche Vernunft allein zum Grund und
Spiegel menschlichen Rechtes machen wollte, und die schon durch
Hemming (1513 — 1600), dana im siebzehnten Jahrhundert durch
Descartes und Spinoza, Althu&ius und Hobbys die unerhörte
Sicherheit ihrer mftthemaihischen Logik gefunden hatte, erst im
achtzehnten Jahrhundert die Selbstverständlichkeit der Allein-
herrschaft gewann und aus den Händen der Könige in die der
Völker gleitend die Reiche der Erde erschütterte. Im siebzehnten
Jahrhundert nun mischen sich alle diese Elemente zu den aus- If
gebildetsten Theorieen, die Herrschaft der Fürsten zu begründen
und bis zum Bilde einer göttlichen Herrschaft zu erhöben.
Die Urheber dieser Theorieen scheiden sich also in den Grund-
richtungen, je nachdem sie Gott oder die Natur oder die Ver-
nunft als den nächsten Grund der menschlichen Ordnung nehmen,^
aber sie benutzen dementsprechend nicht geschieden die Offen-
barung oder die Geschichte oder die begriffliche Wissenschaft
als Quellen, sondern sie lassen die Bibel, die logische Er-
kenntnis und für die Erforschung der menschlichen Natur zum
größten Teile noch Aristoteles als unbedingte oder sich er-
gänzende Autoritäten nebeneinander bestehen. oE)ie langgedauerte
Verwirrung des natürlichen und des übernatürlichen Lichts",
wie es später Thomasius nannte, begann noch kaum sich zu ent-
wirren.
Die theoretischen Begründungen der absoluten iVlonarchie,
die seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entstanden, wurden
äußerlich hervorgerufen durch die AngritTe der Monarchomachen
auf die fürstliche Souveränität. Jeder Umsturz alter Ordnungen
wird mit dem Anrecht unternommen, bessere heraufzu Führen;
aber die tatsächlichen Schätzung der ungeheueren Gewalt, die
nach der Schwächung des Reiches eintrat und in den Theorieen
Maccbiavellis ihre feinste Zuspitzung Fand oder die erträumten
Lebensmöglichkeiten eines Morus oder Campanella, die dem
Mittelalter völlig fremd geblieben waren, weil die Durchdringung
jedes gesetzmäßigen Zustandes mit der essentiellen Gerechtigkeit
Gottes ein vorstellbares Besseres nicht erlaubte und höchstens
eine höhere, aber in sich unerreichbare Ordnung der niederen,
wie der Engelstaat dem irdischen Staate, zum kritischen Ver-
gleiche dienen konnte: keine dieser beiden Abfindungen konnte
die Untertanen der Fürsten darüber trösten, daß auch die
innerste Selbstbestimmung der Seele, welche die Erneuerung
*^ Gierke: AUhusius, 94, 95. Bodin unterscheidet Gott, Natur,
McQScb in i^r Scttilderung der Staatsveränderungen schon deutlich als
ibgestufte Ursachen. Bodin: De la r^publiqu«. Lyon 1579, ä77.
300
des religiösen Lebens versprochen hatte, der politischea Nötigung
oder gar der Laune der im Sturze der Universalkirche noch
mehr erstarkten Fürsten zum Opfer fallen sollte. Um also ihre
religiöse Freiheit, welche freilich nicht mit religiöser Duldung
zu verwechseln ist^ zu wahren, begannen die protestantischen
— oder besser die kalvinistischen — Monarchomachen das schon
vom Mittelalter überkommene und vom Humanismus verstärkte
Prinzip der Souveränität des Volkes und also das Recht der
Völker, über die Könige zu richten, in ihren Schriften zu ver-
künden. Während die meisten Reformatoren und im Anfang
seiner Laufbahn auch Kalvm selbst die Fürsten für die von
Gott gesetzte Obrigkeit, diese für die Schützerin seiner Ge-
rechtigkeit, Dolmetscherin und selbst Rächerin Gottes erklärt
hatten^ kehrte Kalvin später seine Waffe gegen die Könige und
tnachte Genf zum Herd der zahlreichen Schriften des Festlandes
und auch Englands gegen die Herrscher oder, wie es in ihnen
heißt, die Tyrannen der Völker,* Die katholischen Monarcho-
machen zogen ihre fanatischen Beweise aus dem gleichen
Prinzip der Souveränität des Volltes; aber es diente zugleich
ihrem höheren Zwecke, die Überordnung der Kirche über den
Staat zu erweisen. Nicht das Volk sollte der Richter des Fürsten
sein, sondern die Kirche: denn nachdem das Papsttum Längst
darauf verzichtet halte, die Entstehung der Staaten durch seine
Mittlerschaft zu fordern^ bestand sie dennoch auf ihrer Über-
ordnung über jede weltliche Herrschaft aus dem gleichen Grunde
der Einzigkeit ihrer unmittelbaren Einsetzung durch Gott, indem
sie die weltliche Herrschaft durch das Mittel einer ursprüng-
lichen Übertragung durch das Volk entstehen ließ.^ An die
Stelle des »mediante ecciesia" setzten Dominikaner und Jesuiten
das „mediante populo" und suchten nun in dieser Form den Adel
und die Weihe der Könige unter die des Papstes hinabzudrücken.
Volk und Kirche waren also die Gegner der Selbstherrlichkeit
der Könige und beide griffen sie den Ursprung der Herrschaft
an. Die Verteidiger der absoluten Fürstlichen Gewalt muQten
' Gaartz: Puritan. Glaubens- und Regiments Spiegel usw., Leipzig,
nennt diese Schriften das „Genevische Gift* und führt eine gonze Reibe
van ihnen auf. c. 210—245. Vergl. a. Janet; Histolre de la science
polilique. Paris 1887, II, 26, 27, Gierke: Alth. 57, 58, Baudrillarl: 7.
Bodin et sün Cemps, Paris I&53, 33ff. — ' Omnts potestüs est a Deg
principaliter, vel immediate ut in potesiate ecclesiae, vel mediante repubJica.
ut tndvili. Suarez:Tractatüs de legibus. Antwerpen 1613,236. Bellarmin:
Disptilationcs. Köln 1620, II, 5]8, 519. Vergl. E. v. Meier: Französische
EinHüssc auf die preußisch-deutsche Staats- u. Hechtsgesch, 1, 1, cap, I, vor
alJem G. v. Bczold: Die L-^hre von der VolkssouveränJtätjHisI. ZtB. XXXVl.
207
also zunächst die Entstehung der Herrschaft begründen. Ich
sehe darum freilich in diesen begründenden Theorieen nicht den
besonderen Grund der absoluten Känigsherrschsft selbst: Sie
sind Spiegelungen der sich streitenden Gewalten; doch nach
seiner Klarheit oder Kraft vermag der zurückgeworfene Srrahl
selber wieder das Lebendige zu bedingen, die Richtung seiner
Entwicklung zu bestärken oder zu verändern.'
Im sechzehnten Jahrhundert und dem ersten Teile des
siebzehnten überwog in den Theorleen über die Entstehung des
Staates die Meinung des Aristoceles von der organischen Ent-
wicklung der menschlichen Gesellschaft.^ Nachdem die Idee
der Natur in der Renaissance eine ungeheuere Steigerung er-
fahren hatte, und die Gottheit hinter den ewig wallenden
natürlichen Gesetzen zurückgetreten war, leitete man auch die
menschlichen Ordnungen aus den Bedingungen des menschlichen
Organismus selber her und machte den Trieb der Geselluog (Sozia-
bilität) zur Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft.^ Die
Familie {familia oder societas paterna) war daher die ursprüng-
lichste und stärkste Gemeinschaft: durch Vermehrung ent-
wickelten sich aus ihr die Hausstände (famitia oder societas
herilis), die Dorfgenossenschaft (vicus), der Gauverband (pagus
oder provincia) und durch den Zusammenschluß dieser grÖBeren
Teile der Staat. Die Herrschaft in diesen Gemeinschaften
beruhte ebenfalls in den natürlichen Bedingtheiten ihrer Glieder.
Wie selbst bei Tieren, wie den Kranichen, Ameisen und Bienen,
das PriDdp der Gesellschaft auf Über- und Unterordnung
begründet ist, so ist auch Herrschaft und Gehorsam ursprünglich
im Wesen jeder menschlichen Gesellschaft enthalten:* die wohl-
^ Vergl. Die Begleitung der praktEschen Politik durch die Theorieen
bet Koser: Die Epochen der äbäoluien MonArchie in der neueren Ge-
schichte. Histor. Zeitschf. LXI, 246ff. — - Der Einfluß des AristoteEes
zeigt sich auch noch bei den Reetiis gel ehrten und Staatslhearetikern des
]6. und 17. Jahrhunderts (bis gegen 1650} so stark, dafl z. B. Cellarius
in seiner Poliiica succineta ex Ariälü4ele eruu, Jena 1711, im Index
Verborum s. ArLStoteles sagt: Qui cum ubique tere et omnibus
pagellis citätus legätur, omnia bic änAOtare loca noluimus. —
* Hemming bei Hinrichs; Staats- und Reehisprinzipien 1, 3i. S. a.
Kaltenborn; Die Vorläufer des Hugo Grotius. Leipzig 1848, 237f.
— ■* Barclay: De regno, Paris I60O, SOff- Geniilis (1605) bei Hin-
richs, I, S4EF. Bornirius: TraCtatuS duö. Leipzig 1610, 27if. Sclioen-
horner: Politicorum Libri VIL Lübeck 1627, 202. Felwinger: Disser-
tationes politicae. Altdorf 1676, 817—^818. Beemanus: Meditationes
Polilicae. Frankfurt a. O. 1679, 3. — Selbst bei den Engeln isc praefeciura
und siibj'ectiö, warum Sollte sie bei den Menschen nicht schon im Stande
der Unschuld gewesen sein? — Bellarmin: Disput 520j 621.
20S
geordnete Familie ist schon das Bild des Gemeinwesens, die
häusliche Gewalt gleicht der souveränen, und die Form der
hauslichen Regierung ist das wahre Vorbild der staatlichen
Regierung.^ Die tatsächliche Ursache der HerrschaFt aber ist
die Gewalt:^ wie der Vater als der Stärkere der natürliche
Herrscher der Frauen, Kinder und Sklaven ist, so ordnen sieb
mit der Entstehung größerer Gemeinwesen die Schwächeren
den Stärkeren unter oder werden zur Unterordnung gezwungen.
Durch diese Unterordnung überirigt der Einzelne Freiwillig oder
unfreiwillig, schweigend oder ausdrücklich einen Teil seiner
ursprünglichen Freiheit und Rechte dem Herrschenden, und
durch diese Übertragung wird die Souveränität oder Majestät
oder absolute Gewalt geboren, welche den Staat erst zum voll-
kommensten Gebilde menschlicher Gemeinschaften macht." Die
Übertragung der Herrschaft ist eine unwiderrufliche Veräußerung.
Die höchste Gewalt selbst ist absolut, d. h. nicht begrenzt und
nicht teilbar,' Die drei möglichen Staaisformen, in denen sie
sich darstellt, sind die Demokratie, wo sie im ganzen Volke,
die Aristokratie, wo sie in einem Teile des Volkes, die Monarchie,
wo sie in einem einzigen Menschen ruht. Die beste StaatsForm
ist die Monarchie. Die Theoretiker dieser Richtung, welche in
Bodin ihren Gipfel hatte, beriefen alle monarchischen Bilder
der sinnlichen und übersinnlichen Welt, vom Staate der Bienen
bis zum Staate der Engel, um den in der Natur begründeten
Vorrang der Monarchie aufzuzeigen." Ja, Jean Bodin ordnete
in dem letzten Kapitel seines ^('erkes über die Republik bei
seiner Polemik gegen Piatons tiefstes Werk, den Timäus, die
höchste Form des Königtums ° dem harmonischen Aufbau der
Welt in einer Weise ein, welche die seltsame Vereinigung
. mathematischer und religiöser Erkenntnis, in der das innerste
Wesen des Geistes seiner Zeit begriifen lag, mit einer nicht zu
überbietenden Bildkraft offenbarte. Indem er den antiken Be-
gdfFen der distributiven oder geonüeidschen und der kommu-
taiiven oder arithmetischen Gerechtigkeit, velche der aristo-
' BodiD: De la Republique. Lyon 1579, 7-8. — ^ Ebd. 47, 43.
350fF. — * Die Zurück rührung aller Möglichkeiten zur Erlangung der
höchsren Gewall (Erbfolge; gerechter oder ungerechter Krieg usw.) auf
die Übertragung durch das Volk: Suarez 140, BelUrmin II, 518—519.
— * Bodin 147, Bornitius49. — '' S.o. S. 207, die Stellen der Note 4,
dazu Bodin 653, Bellarmin 1, 516ff., Defensio regia pro Carola I, etc.
1649, 103 H*. — * Denn auch die Monarchie zerlegte er noch in drei Arten
nach der Form itirer Regierung: die Monarcliie royaie ou !£gitiine; seigneu-
riale; tyrannlque. Bodin tSSff., so später a. Felwinger 24if. u. a. m.
I
20fi
kr&tischen und der demokratischen RegierungsForm entsprachen,
die harmonische Gerechtigkeit, welche die beiden in sich be-
schließe, als das Prinzip der besten Monarchie entgegenstellte,
reigte er diese als die schönste und vollkommenste Staatsform.
Denn harmonisch und ganz ihr ähnlich ist auch die Seele in
ihren Kräften aufgebaut. Die Welt ist nach dem harmonischen
Maße erschaffen und regiert; zwischen allen ihren Teilen, den
organischen und unorganischen, knüpft sich ohne Unterbrechung
das harmonische Band: „Und ganz so wie die Einheit über den
drei ersten Zahlen, die Vernunft über den drei Kräften der
Seele, der unteilbare Punkt ijber der Linie, der Oberfläche und
dem Körper, so, kann man sagen, eint der große, ewige, einzige,
reine, einfache, unteilbare König, über die Welten der Elemente,
des Himmels und der Vernunft erhoben, diese drei in sich,
indem er den Glanz seiner Majestät und die Süße der göttlichen
Harmonie in dieser ganzen Welt wiederleuchten EaOt, nach deren
Bild der weise König sich gestalten und sein Königreich
regieren soll."^
Diese Begründung in der Natur und diese Erhöhung der
Könige genügte dennoch nicht: die Idee des absoluten König-
tums fühlte sich gleichsam in der Reinheit ihres Ursprungs
getrübt, in der Wurzel ihrer Macht gefährdet. Die Erlangung
der höchsten Macht durch eine Übertragung der Rechte des
Einzelnen an den Souverän war im Grunde das gleiche Prinzip,
aus dem die Monarchomachen die Souveränität des Volkes und
die Berechtigung des Königsmordes abgeleitet hatten. Die
Vertragstheorie, nach welcher der Fürst um des Volkes willen
geschaffen war und dem Volke verantwortlich blieb, hatten sie
iwar nur so weit ausgebildet, als sie dem Fanatismus ihrer
Propaganda diente; doch war ihr um die Wende des Jahrhunderts
in Althusius ein schöpferischer Geist entstanden, der mit einer
außerordentlichen Kraft begrifflicher Scheidung ausgerüstet das
ganze Gefüge der menschlichen Gemeinschaftsbildung in eine
größere historische Tiefe rückte, indem er vor die Bildung des
Staates und der Herrschaft die Bildung der souveränen Volks-
gemeinschaft oder Gesellschaft setzte, welche durch den freien
Willensakt der mit gleichen Rechten ausgestatteten Individuen des
Naturzustandes geschaffen, selbst die unveräußerliche Souveränität
besitzt und ihrerseits den Staat als eine besondere Regierungs-
form, den oder die Herrscher als Vera titw örtliche Beamte einsetzt
Wenn auch nicht diese demokratische Anschauung der Herrschaft,
Bodin 706-738.
14
210
so nahm doch fast die ganze monarchisch gesonnene Naturrechts-
lehre seit Grotius den Begriff des ursprünglichen G eselisch aFts-
vertrages an, d. h. man legte den Ursprung der Staaten und
die Quelle der höchsten Gewalt in das natürliche Recht der
Individuen oder, um die spätere Ausbildung des BegrifFes vor-
wegzunehmen, in die Menschenrechte.^
Aus diesem Unterbau ergaben sich als notwendige Folgerungeti
auch hei den monarchischen Theoretikern eine Reihe von mög-
lichen Beschränkungen der Souveränität, welche vor allem i
den Bildern der beschränkten und unvollkommenen Monarchieen
ihren Ausdruck fanden und die reine Form der absoluten
Monarchie hinter die historisch gewordenen Bedingtheiten
zurückzudrängen drohten.'
Aber hier zeigte sich die Lebenskraft der Idee, welche auf
auf einem doppelten Grunde aufbauend die Gewalt der Könige
jeder Möglichkeit politischer Beschränkung entrückte. Die eine
Begründung ruhte auf dem stärksten begrifllichen System des
Natur- und Staatsrechts der Zeit und blieb innerhalb der Grenzen
des menschlichen Geistes; das wesentliche Merkmal der anderen
war die Durchbrechung der menschlichen Ordnung durch eine
unmittelbare Willenshandlung Gottes. Beide Theorieen — ic
nenne die erste die philosophische, die zweite die religiöse
Theorie des Absolutismus — suchten vor aUem jeden Ursprung
der souveränen Gewalt in dem Individuum zu tilgen.
Die katholische Naturrechtslehre um die Wende des sech-
zehnten und siebzehnten Jahrhunderts hatte dieser Theorie zwar
insofern schon den Weg bereitet, als sie die souveräne Gewalt
nicht in den einzelnen Menschen noch in der untergeordneten
staatlichen Menge enthalten sein, sondern erst durch Gott über
die Natur mit dem politischen Leben in der vollkommensten
Gemeinschaft entstehen^ und also von dieser erst auf den
Fürsten übertragen ließ; aber sie setzte damit nicht nur — wir
wissen aus welchem Grunde — eine doppelte Mittl erschaff, die
Natur und die vollkommene Gemeinschaft, zwischen Gott und
den Fürsten, sondern bestritt auch ausdrücklich jede unmittel-
bare Beziehung des fürstlichen Ursprungs zu Gott und stellte
die nicht abzuleugnenden biblischen Fälle als Ausnahmen ua
e
' Gicrke: Althusius, 98f. — ' Grotius: De jure belli ac pacis.
Paris I6Z5, 76 fr. — * Dico hancpatestatetn dari aOeo per modum proprietatis
consequentis natura, eo modo, quo dando formani, dat consequemia ad
formam . . . assero, hanc potcstatem non result^re in humann natura donec
homines in unam communiJatem perfectam congregentur etc. SuaresJ
138, 130, a. Bcllarmip U, 517.
211
einen iibernstürlichen Modus dar, während im allgemeinen die
Menschen in den bürgerlicheii Dingen nicht durch Offenbarungen»
sondern durch die natürliche Vernunft regiert ^vürdea.' Jedoch
gerade dieser übernatürliche Modus wurde der Angelpunkt der
religiösen Theorie, welche aus dem mystischen Gedanken der
Stuarts erwachsend und schon in den Schriften Jakobs I. und
Karls I.- in ihren wesentlichen Teilen ausgestaltet, in England
durch Filmer ihre historische, in Deutschland durch Hörn ihre
letzte systematische Ausbildung erlangte, während in Frankreich
Bossuet beide Formen in sich vereinigte.
Die historische Richtung suchte aus der Bibel und den
Kjrchenvatero den Nachweis zu führen, daß die Behauptungen
„aller Alonarchomachen bis zu Kalvin und Bellarmin" Auf einer
irrtümlichen Auslegung der heiligen Schriften beruhe. Die
höchste politische Gewalt entsteht nicht erst mit der Errichtung
einer vollkommenen Gemeinschaft, sondern Goti selbst hat als
ersten Herrscher den Vater über die Kinder gesetzt, und diese
ursprüngliche väterliche Gewalt ist die Quelle aller königlichen
Autorität. Daher ist alte staatliche Souveränität unmittelbare
göttliche Institution, deren Träger sein Recht auf den ersten
väterlichen Ursprung der Könige zurückführen kann. Denn
Adam als der erste Vater und Herrscher hat die Herrschaft
über die ganze Welt erhalten, und aus ihm leiteten die
Patriarchen als seine direkten Nachkommen ihre Gewalt über
die größeren Familienverbände, die ihnen t^nterstanden, her.'
So pflanzten sich auch nach der Sprachverwirrung die Herrscher
über die Völker stets aus den ältesten Zweigen des Menschen-
geschlechtes fort, und wo die menschliche Schwäche den ältesten
Sproß nicht deutlich zu erkennen vermag, ruht die Nachfolge
auf den ältesten Familien oder Fürstengescblechtern eines
Landes als auf Gottes Eingesetzten; aber auch diese bilden
nicht eine neue königliche Souveränität — daß das Volk es
durch Übertragung oder stillschweigende Duldung könnte,
wird als lächerlich abgewiesen — sondern sie setzen nur den
• Suarez 140, 150. — * Vgl. Jacob 1.: Opera. Lond. 1319. Basilicön
Dorort 127 ff. Jus liberae Monarchiae 177 ff. Coniuratiö Sulptiurei 209ff.
Pro jure regio adversus Cardinalem Pcrronium 403ff. Karl I.: Elxt^v
ßaQtliK^, Ferner Defcnsio regia, die ibrc Begründungen aus den Werkea
Jakob \. und Karl 1. entnimmt; vgl. a. d. Urteil Rankes über die
lElcrarischen Werke Jakob I. Sämll. Werke Leipz. 1870, XV, 105ff.
Über Cowells „Iqterpreter," 1607 eine der frühesten absolutistischen
Theorieen Englands s. K:oser275PF. — ' Fümcr: Patriarcha, Deutsch von
Vllmanns, Halle I90&2(r. — Über die Potestas Regia bei den Patriarchen S.
«ucb V are inunddeErenb erg k: Verisimilia Tt]eolPgica,Frankfurt 1606, 12.
TTT
W
212
von Gott durch eine besondere Vorsehung schon erwählten
König ein.-'
Diese naive patriarchalische Anschauung von der Entstehung
des Königtums genügte Freilich dem logisch außerordentlich ge-
schulten und klar begriiflich ordnenden Geiste des siebzehnten
Jahrhunderts nicht. Seitdem die Kraft der Theologie sich in den
Streitigketten des sechzehnten Jahrhunderts erschöpft hatte, seit
Bodin das Wesen des Staates und die Lehrer des Natur- und Völker-
rechts die Beziehungen der Staaten zueinander untersuchten,
begann die Politik sich als eine Wissenschaft auszubilden, welche
den ersten Rang unter allen WissenschaFten beanspruchte und nicht
nur durch „die Sicherheit ihrer Anlage, die Erhabenheit ihres
Vorwurfes und den Nutzen ihrer Beschäftigung** die anderen
überragte,'- sondern durch eine Art Geheimwissenj welches vor
allem um den fast mystischen Begriff der Ratio Status aus-
gebildet wurde, ^ die verborgensten Fäden der menschlichen
Geschicke in ihrer Lehre vereinigte. In dieser Verbindung von
Begrüfswissenschaft und Mystik suchte die religiöse Theorie
des Absolutismus ein unverrückbares Fundament für die höchsten
Träger des politischen Lebens zu schaffet!. Als das Prinzip
des Ursprungs der Gesellschaft nahm sie ebenfalls den
rifr aristotelischen Gesellungstrieb, der sich durch das Zusammen-
wohnen der Blutsverwandten steigerte, und ließ den Staat aus
der natürlichen Vergrößerung der einfachen Gesellschaften, Ehe,
Familie, Hausstand, entstehen, wie es der von Gott gewollten
Vermehrung des Menschengeschlechtes entsprach. Das Wesen
der Ehe vor dem Staate beruhte in der Gewalt des Mannes über
Leben und Tod seiner Frau, das Wesen der Familie in dem
gleichen Recht des Vaters über die Kinder, das Weseti des Haus-
standes in dem gleichen Rechte des Herrn über die Untergebenen
und Sklaven, Aber diese Gewalten kamen nicht, wie die eigent-
lichen Theoretiker der natürlichen Entwicklung behauptet hatten,
aus der Natur und etwa dem Rechte des Stärkeren: denn die An-
lage des Körpers oder der Seele besagt ein Geeignetsein zur Aus-
übung der Gewalt, aber nicht die Ursache der Gewalt, und wenn
der Mensch aus einer natürlichen Neigung die Gesellschaft sucht»
so liegt darin ebensowenig eine Fähigkeit die Herrschergewalt
zu erzeugen, wie die Tiere eine solche haben.* Keine Herr-
1 Filmer; passim- — * Hörn: De cisitste, Utrecht 1864, SIT., 44>
45. — * Becmanus 30«". Felwinger 23, 24. Ziegler; De juribua
maie&tatisiractaiusetc. Wittenberg 16SI,89. Im I8.j8lirhundert ausführlicher
bei Strykius: Supplem. Dissertationum et operuni, FrankF, u. Leipz.
1702,205. Pelizhoffer; Are anorum Status iibridecem, FrankF. 1710, 45 ff.
— ^ Hörn, 68, 69. Becmanus, 79: Nur die natura rationalis ist der
213
4Ch»ft, weder eine öfFeoUIcbe noch eine private, vermag der
Mensch über den Menschen zu erlangen außer durch die aus-
drückliche Einsetzung und wirkende GegenwIrtigkeJt Gottes.'
So hat Gott dem Mann über die Frau, dem Vater über die
Kinder die Herrschaft mit ausdrücklichen Worten gegeben; so
herrscht der Herr über die Sklaven, weil Gott ihm den Sieg
gibt, nicht weil es eine natürliche Knechtschaft und eine
natürliche Freiheit gäbe.^ Der gleiche Grund für die Unmög-
lichkeit der Erzeugung der Herrschaft durch die einfachen
Gesell Schäften galt auch für die zusammengesetzten der Staaten.^
Das Zusammentreten der Menschen zu einem Gemeinwesen
bedeutet noch nicht die Begründung des Imperium majestaticum,
welches erst den Staat hervorbringt, das aber selbst zu schaffen
kein Trieb und keine natürliche Neigung vermag.*
An der Möglichkeit der drei überlieferten Staatsformen
hielt man meistens fest^; doch beschränkte die äuGersie Zu-
spitzung der Theorie sie auf die Monarchie und die freie
Republik, indem sie jedoch diese letztere nur noch als eine Nach-
ahmung der Monarchie gelten ließ. Daß diese die beste Staats-
form seif war selbstverständlich geworden. In ihren Definitionen
tritt immer mehr die schroffe Scheidung zwischen dem Herrscher
und den Beherrschten als einer unter gleichem Recht lebenden
Volksmasse hervor. Die Kluft ober wurde ins Ungeheure er-
weitert durch die letzte Steigerung des Begriffnes der Majestät,
und zwar in-der religiösen Theorie der persönlichen Maiestät.
Denn lautete die engere Definition der Monarchie: Res publica^
in qua Rex imperat subditis, so die des Herrschers: Rex est
qui habet Majestatem/ Die Majestät aber ist „jenes erhabene
Wort, welches den Herrscher und die ganze königliche Republik
erfüllt und formt", dessen Lob und Hoheit die Römer sagten,
das die Quelle aller Würden ist wie die Sonne die Quelle alles
Lichts, und wie diese die leuchtendste ist, da sie allen anderen
Herrschaft fähig, daher die Tiere nicht, weil sie die Dinge „rite genere
et in flnes suos dErigere nesciunt^. — ' Hörn, 70, 71. — ^ Ebd. 72, 95.
— ' GraswinckeJ: De Jure majesiatis. Haag 1542, I4fF. — ^ Harn,
100. — ^ Barclay IIOfF. Bornitius 11, 12. Arnlsaeus: Opera potitica.
Straßburg 1648. I, 102 fF. Felwinger S25. Filmer 27, 2S. Bech«r:
Politischer Diskurs. Frankfurt 168S, 12fF. — ** Hörn 115, 118. Bec-
m&nus 7S. Felwinger 826. - Die Herabdrückung des Volkes charakte-
risieren stark: Richelieu: Test. pol. Amsterdam 16SS;9Sr. „Tou3 les
Politiques sont d'accord que si les Peuples etoient trop ä leur aise, il
aeroic impossible de les conienJr dans les Regles de leur devoir ... 11
les faul comparer aux Muhes qui £tanl accoüluniez k la Charge, se gäient
par un long repos."
214
das Licht schenkt, so ist jener höniglicbe Name <Jer würdigste,
weil dus ibm alle anderen Würden strömen. Gott hat sie als
ein Zeichen und BiJd seiner Majestät über die Menschen gesetzt»
damit sie durch den Gehcrsam und die höchste Ehrung aller
erhoben würde: die Majestät ist der Inbegriff der staatlichen
Macht, ilire einzige Ursache ist Gott, und ihr Ursprung
liegt im allmächtigen Schöpfer.'
Denn die höchste Würde, so argumentierte man, kann nur
die höchste Ursache geben, und man stützte diesen Beweis noch
als einen communis populorum consensus durch alle Autoritäten
der jüdischen, christlichen und aniibeo Literatur. Daß die
Majesias nicht aus der Natur kommen konnte, lag in dem er-
wähnten Argument begründet, daß sie der einzelne Mensch in
keiner Form besitzt: es war daher noch weniger möglich, daß
eine Gesamtheit der Einzelnen als Volk sie durrh eine Über-
tragung verleihen konnte, da eine Gesamtheit kein natür-
licher Körper ist und ihr daher auch nichts natürlich eiti-
wohnen kann. In dieser Auffassung eines Gesamtkörpers als
eines reinen Begriffes im Gegensatz zum natürlichen Körper
lag die stärkste Zurückweisung aller individualistisch-demo-
kratischen Theorieen der Souveränität des Volkes.* Aus dieser
Abweisung jeder anderen Herkunft der Majestät ergab sich
dann mit Notwendigkeit, daß Gott nicht nur ihre bewirkende,
sondern auch ihre begründende Ursache sein mußte, d. h. daß
er sie unmittelbar übertrage und also das Volk auch nicht
als ein Mittler zwischen Gott und dem Fürsten Geltung habe."
Nicht das Volk steht am Anfang, sondern die Majestät ist älter
als das Volk^* und alle Handlungen der Übertragung sind nur
scheinbar: Denn bei der Wahl etwa ist nicht diese die Ursache
der Herrschaft, sondern sie ist nur der modus acquirendi oder
die causa acquisitionis, was mit der causa imperii nichts gemein
hat, und selbst bei der Verwandlung eines Reiches von einer
' Barclay 525. Jacob I. 137ff. Irvinus: Te iure regni. Lütticb
1627, 31 ff. Arnisaeus; De iure majesutis passim. Hörn 515 ff«
Becmanus 598. Ziegler 6 ff . — '^ Barclay 111 ff. Jacob I, ISOfT.
Grotius fi7 ff. Irvinus 29 if. Graswinukel 10 ff. Arnisaeus 76 ff.
Öefensio regia 251. Hörn 134, 512fF. Becmanus 556, S5S. Ziegler
30 ff, Gaartz: Vorrede. Felwinger läßt eine Übercrdnung des Volkes
in den Fällen zu, in denen es sich nicht um die Miijestas absoluta
handelt. — " Gentilis 17. Barclay 114. Bornitius 17ff. Irvinus 30ff.
Graswinckel Iff. Harn 135 ff. Defensio regia €0 ff. Becmanus 168.
Ziegler 5ä, 59. Felwinger 828, S23. Bossuet: l'oltEique tiree de
l'Ecriture sainte. Brüssel 1721 (1709'). L. II und III passim. — * Gras-
winckel 10.
215
Demokratie in eine Monarchie ist das Volk nur die Ursache
der Übertragung, nicht die Ursache der Herrschaft. Denn „das
Volk", sagt Hörn in einer Abweisung so monarchisch gesonnener
Theoretiker wie Barclay, Grotius und Saumaise, «kann so viel
auF den Fürsten übertragen wie der TeuFel auf Christus, dem
er die Reiche der Welt so freigebig versprach, da er doch nicht
einmal über ein zahmes Schwein die Herrschaft hatte*.' Auf die
gleiche Weise wurden alle Anschauungen von der Entstehung der
Herrschaft durch Gewalttat oder Zwang, Natur oder Völkerrecht,
Notwendigkeit oder Bedürfnis aus den wesentlichen Attributen der
höchsten einigen und beständigen Majestät als Irrtümer abgewiesen.
Wean aber die Inhaber dieser Majestas, die Könige,
von der Gewalt des Einen Gottes kommen, um mit TertuUian
zu reden, durch ihn die zweiten und nach ihm die ersten,
vor allen und über allen Göttern und Menschen sind,* so gibt
es niemand im Staate, der über den Herrscher richten könnte,
als Gott seLbst. Er ist also von allen Gesetzen der bürger-
lichen Gesellschaft frei und gelöst. Der Satz des Ulpian
„Princeps legibus solutus" wurde in unaufhörlichen Varianten
wiederholt und durch das Gewicht des römischen Rechtes ver-
stärkt.' Gebunden hielt man die Majestät nur an die Gesetze
Gottes und der Natur, und wenn einige Theoretiker sie auch
auf die Fundamentalgesetze des Staates oder auF die völker-
rechtlichen Verträge verpflichten wollten,* so lösten andere sie
dagegen in gewissen Fällen selbst von den Gesetzen der Natur;"
auch die Bindung an die göttlichen und natürlichen Gesetze bezog
sich nach der allgemeinsten Übereinstimmung nur auf die
richtende (vis directiva), nie auf die zwingende Kraft (vis
coactiva) des Gesetzes.^ Die Betonung dieser Scheidung
richtete sich ebenso gegen „die schändlichen Axiomata der
Puritaner* wie gegen die .»scholastischen Spitzfindigkeiten der
Jesuiten",' um die unbedingte Gehorsamspflicht der Untertanen
zu begründen, denen nur bei Befehlen wider Gott ein passiver
Widerstand zustände, und so jedes Recht des bewaffneten Wider-
standes zu vernichten," Denn während man am Anfange des
1 Hörn 155 !T, — * Ziegler 7, — * S. schon Gentilis 9 (1605):
.Princeps legibus solutus est aii Lex et eadera: quod lejf est, quodcunqu«
pUcet principi. Et liaec lex non barbara sed Romans est: id est praestan-
tlssirtia in legibus hominum,'* — ■■ Bornitius 51 ff. Felwinger 59,
109PP., 841ff. — " Graswinckc] 34ff. — '^ Bornitius 70ff. Becmanus
132 PP. Ziegler !Sff. - ' Gaartz läSff. Filmer 4, — " Barclay 132—168,
2nff. W. de Erenberglc 1 1 ff . Schönborner 34*. Irvinus 215ff.
Graswinckel I06ff. DefenKio regia 2Öff. Hörn 2l&fr.
216
Jahrhunderts noch einen Unterschied zwischen dem Tyrannus
absque tiiulo, d. h. dem Usurpator eines Reiches, und dem
Tyrannus absque exercitio, d. h. dem gewalttätig regierenden
legitimen Könige mit absoluter Souveränität,' machte und gegen
den ersteren, wenn nicht den Mord, so doch aktive Gewalt Für
erlaubt hielt, so schloß die religiöse Theorie in dem Bestreben,
den Untergebenen jedes Urteil über die Herrschenden zu ent-
ziehen, auch den Widerstand gegen alle Formen der Tyrannen
aus und empfahl als Hilfe nur das Vertrauen auf Gott, die
Beharrlichkeit und die gerechte Übung der eigeneti KräFte,*
Die Unterscheidung selbst jedoch von König und Tyrann,
an deren Gegensätzlichkeit im achtzehnten Jahrhundert das
Bild der Tugenden des aufgeklärten Fürsten sich vollendete,
wird in der alten Form beibehalten und beruht im wesent-
lichen darauf, daß der König seine höchste Gewalt stets auf das
öfTentltche Wesen bezieht, der Tyrann sie stets für seinen
privaten Gebrauch benutzt» daß dieser alles für erlaubt hält,
jener seine Handlungen an der Gerechtigkeit und der Ehre
miQt."
Denn sollte der König auch jeder irdischen Macht entrückt
sein, so war seine steile Stellung durch die einzige Verpflichtung
gegen Gott eine über alles Menschenscbicksal schwierige und
sorgenvolle und erforderte von ihm die höchste Auswirkung
aller geistigen Kräfte/ Die MajesJas war die formende Ge-
walt, welche der Materie Staat Gestalt und Leben geben sollte,
nicht das Haupt allein, mehr noch die Seele des Körpers, iij
der die Vollendung des Zweckes lag. In der Ansicht vom
Zweck des Staates aber bekannte sich die religiöse Theorie
des Absolutismus zur höchsten Forderung. Während vor ihr
die aristotelische Formel vom guten und schönen Leben, die
nach ihr die Grundlage zur eudämonistischen Ausdeutung des
Wohlfahrtsstaates werden sollte,'^ meistens im Heil der Gemein-
schaft, im Schutz gegen Feinde, im Trost gegen Einsamkeit, in
der Erhaltung der natürlichen Gesetze und höchstens bei Bodin
^ Zu den absolut souveränen Fürsten rechnet Bodin (207 ff.) die
von Fpanfcreich, England, Spanien, Schottland, Äthiopien, Tijrke], Persien
und Moskau. Jeder Angriff auf sie auf dem Wege des Rechtes oder durch
die Tat, ja selbst der Gedanke daran macht des Todes schuldig. S. a.
Schönborner 242 fF. — ' Jacot) I. ]4"7 ff,, t83 £f. Defensio regia 53 ff .
Felwinger 122, S4fiff. HornS33ff. — ^ BObiiviscitursuorum commodoram
neque quicquam privat! habet . . . hoc palladium illud est^ haec delapsa coelo
ancilia" etc. Fei winger 850. — ■'S.Graswinckel: „Conspectus virtutura
regiamm" 99ff. - '• Marchet: Studien über die Entwicklung der Vet-
waltungslehre. München 18&5, 232ff.
217
auch in der schönen Harmonie gefunden wurde,' verstand sie
unter dem Zwecke des Staates entweder überhaupt nicht das
Glück der Privaten noch der Menge oder stellte es nur als
einen untergeordneten Zweck dem höchsten nach, der auf einem
rein formalen Grunde aufgebaut nach dem Bilde Gottes die Ord-
DUOg und Verwaltung der Welldinge forderte: dereinige mystische
Körper des Staates sollte nach der ihm innewohnenden Gesetz-
mäßigkeit vor allem sain Heil darin suchen, sich mit der höch-
sten Herrschaft, die in der Majestät beschlossen lag, zu beseelen,
damit er, wie der menschliche Körper durch die Seele sei und
Bewegung habe, durch die lebendige Herrschaft der Majestät
lebe und stark sei, und nicht wie der menschliche Körper ohne
die Seele zu sein aufhöre, durch den Verlust der Majestät als
Staat zugrunde gehe und zur Anarchie, dem gesetzlosen Haufen
der Menschen oder einem anderen verdorbenen und Formlosen
Chaos entarte.^ Weder Attalische Schätze, noch bis zum
Himmel aufgehäuFies Gold und Silber, Reichtum der Siädte,
noch die Menge der Provinzen konnten diesen aus dem Wesen
der MajesiSf erschlossenen Zweck zu erreichen dienen, da nur,
was die Form gab, nicht die Menge (quantitas) ihn förderte: also
vermochte nur die tiefste Einheit von Herrscher und Staat das
Ziel der menschlichen Gesellschaft zu erlangen oder besser in
sich zu bilden: Nam Deus imperatori leges subjecit et Imperator
est lex animata in terris.
Es leuchtet ein, in welche Tiefen die Rechte der Unter-
tanen um der Erreichung eines solchen Zweckes willen hlnab-
gestoßeo werden durften, und in der Tat machte das äußerste
Herrscherrecht, das diese Zeit ausbildete, nicht mehr vor dem
halt, was den Menschen von jeher fast heiliger gegolten hat
als ihr Leben, nämlich vor dem privaten Eigentum. Die letzte
Erhöhung der irdischen Majestät und die tiefste Begründung
ihrer Macht lag im Dominium Eminens. In den milderen Phasen
der theoretischen Ausgestaltung des Absolutismus war der Begriff
am Anfang des Jahrhunderts aufgetaucht und sein wesentlicher
Inhalt dahin festgelegt, daß der Inhaber der Staatsgewalt die
privaten Güter nicht nur im Falle äußerster Notwendigkeit,
sondern auch um des öffentlichen T^ulzens willen benutzen,
ja verderben und veräuDem könae, wenn dafür die Haftung der
/
' Schönborncr 2, 7, 116. Seckcndorf s, Harchet 22. Becmanus
^, IM. Becher 42. Klockius: Tractatusd e contributjonibus 1734, 10,
IJ. Bodin 3. — ^ Suarcz 160. Bornitius 22ff. Irvinu* 41, Fei-
winger &31 usw,
zis
Eatschädigung AUS öffentlichen Mitteln anerkannt und sie im Falle
des augenblicklichen Unvermögens als schlummernde Schuld
betrachtet werde,* Aber indem die religiöse Theorie das
Dominium Eminens nicht als ein besonderes Recht, sondern als
einen alle Rechte der Majestät gleichmäßig durchdringenden
Modus, der ihr zu allen Zeiten und überall (semper atque
ubique) eigen sei, erwies und es als ein Gleichnis des Dominium
Excellenciae, das Gott «n allen Dingen, auch ati den privaieti
Gütern, hätte, betrachtete, mußte sie alle Beschränkungen
jener frühen Formulierung fallen lassen, und wie sie zu-
nächst die EntschädigungspHicht als dem Wesen der höchsten
Gewalt widersprechend verneinte und die Ersetzung der
Verluste höchstens als besonderes Geschenk zuließ, so er-
klärte sie auch die Beschränkung der Anwendung des Domi-
nium Eminens auf die besonderen Falle des öffentlichen Wohles
oder der dringenden Not, welche schon von ungeheurer Tragweite
geworden waren,'* für hinfällig und gestattete dem Herrscher, ohne
irgendeinen Grund zu seiner Lust die Bürger zu berauben und ihre
Glücksgüter an sich zu reißen. Daß die Majestät dieses Recht
nicht immer ausübt, besagt nichts über da$ Wesen und die
stets wirksame Gewalt dieses Rechtes; denn wie der Fürst
das Recht über Leben und Tod zu seiner Lust und ohne vorher-
gegangenes Verbrechen hat und dennoch nicht immer die Köpfe
seiner unschuldigen Bürger herunterschlägt, wie er das Recht
der Waffen hat und dennoch nicht immer die Waffen führt und
nicht sein Volk in beständigem Kriege erschöpft, wie der Mensch
die Macht zu reden und zu lachen hat und dennoch nicht immer
redet oder lacht, um nicht die Schande einer Torheit zu zeigen,
so besitzt die Majestät immer das Dominium Eminens, aber
übt es aus den in seinem Wesen beschlossenen Gründen nicht
immer aus.^ Diese ungeheuere Steigerung der irdischen Majestät,
welche hinter ihren Ahnen im archaischen Despotismus, hinter
ihren älteren Brüdern im römischen Imperialismus nur durch
die letzte christliche Schranke, welche sie hinderte, sich selbst
zum Gott zu erklären/ zurückbleiben muQte, obwohl sie in
> Grotiu565,3l6,734, 735. — Mcb erinnere daran, daß die Fürsten
des 17. Jahrhunderts das Rechi des Casus durae necessitatis, das durch
den Reichtstagsbeschluß von 1654 Gesetzes kr» fr erlange hatte, tenutzten,
um auch die ständischen Rechte und Privilegien zu vernichien und alle
staatliche Gewall in ihrer Hand zu vereinigen. ~ ' Hgrn 2G9S. Bec-
inanus 29&fF., 70517. Die Ansichi über di« Emschädlgungspflicht setzte
sich jedoch bald wieder durch. S. Ziegler93PF. — * Vgl. Kurtßreysig:
Der Stufenbau und die Gesetze der Wehgeschichte. Berlin 1905, 49. —
Kulturgeschichte der Neuzeil II, 1; 366ir. 444, 445.
w
TTW
T^
^
219
gleichüismäDigem SiTine oft genug &I$ die Gottheit auf Erden
migesprocheo wurde, suchte die zweite als die philosophische
bezeichnete Theorie des Absolutismus, welche fast ganz aus
dem einen Haupte des Thomas Hobbes erwuchs, auf rein
rationalem Wege^ indem sie aus den sichtbaren Wirkungen die
Ursachen erschloß und verkettete, mit einer gleichen Stärke
durch eine unentrinnbare Geschlossenheit der Gedanken zu
erreichen.
Ausgehend von der Erforschung des Körpers als dem einzig
erkennbaren Objekt der Philosophie wurden Lust und Schmerz
zur einzigen Grundlage der Scheidung von Gut und Böse gemacht
und aus der Gleichheit des höchsten Gutes, der Erhaltung des
Lebens, und des größten Übels, des Todes, für alle Menschen
die ursprüngEiche Gleichheit der Rechte der Einzelnen und aus
deren unmöglicher Versöhnlichkeit im Gegensatz zu dem aristo-
telischen Gesell ungstriebe der Krieg aller gegen alle gefolgert.
Ich kann die behannten Schlüsse kurz fassen: Das Recht
aller auf alles gefährdete in dem Zustande des allgemeinen
Krieges die Erhaltung jedes Einzelnen, und deshalb trieb
die natürliche Einsicht die Einzelnen dazu , eine bessere
Form der Erhaltung in der Einigung zu erlangen, d. h. den
Frieden zu suchen, auf das absolute Recht auf alles zu
verzichten und die Grundlagen der Einigung für unverlettlJch
zu erklären. Diese Prinzipien der Vernunft oder des natürlichen
Gesetzes werden aber erst verpflichtend durch eine unwider-
stehliche Macht, welche ihre Ausführung sichert: diese Macht
ist der Staat. Der Staat entsteht entweder durch die Gewalt eines
Siegers oder durch die freiwillige Unterwerfung unter die absolute
Macht eines oder mehrerer Menschen: die innere Ursache ist in
beiden Fällen die Einstimmung in die Herrschaft aus Furcht
vor Tod und Gefahr. Es besteht also vor dem Staate kein Volk
und keine Gesellschaft, die irgend einen GewaltlJtel in sich trüge
und übertragen könnte; es bestehen nur die Einzelnen, die auf ihr
natürliches Recht durch äul3ere Gewalt oder durch innere
Nötigung, deren Grundursache aber die gleiche ist, verzichten und
durch diese Negierung ein neues Gemeinschaftswesen, eiiie künst-
liche Person, den Staat, notwendig erzeugen müssen, in dem von
nun an der absolute Wille mit absoluter Gewalt über alle
herrschend ist und ihren absoluten Gehorsam fordern kann.
Die drei bekannten Arien des Staates, Demokratie, Aristokratie
und Monarchie, sind die einzig möglichen und bleiben es in
ihren höchsten Zuspitzungen, für welche nur die mißbilligenden
Meinungen der Menschen andere Kamen, wie Anarchie, Oligarchie
230
und Tyrannis, erfunden habend Die beste Staatsform ist immer
die gerade bestehende^ doch ist in der MoiiBrchi& die Einheit
des staatlichen Willens und Handelns am besten gewahrt- aber
in jeder ist die höchste Gevftlt die unveränderlich gleiche,
unbegrenzte und unteilbare, welche die Gesetze gibt und auf-
hebt, das Recht über Leben und Tod und auch das Eigentum
der Bürger^ selbst die Bestimmung des Gewissens und des
religiösen Glaubens allein, unbeschränkt und ohne Verantwortung
ausübt.^
Mit dieser Aufrichtung der staatlichen Souveränität war
jedes souveräne, ja überhaupt jedes Recht des Volkes und
des Einzelnen vernichtet. Aber wenn die hinreiDende Kraft
dieser Theorie in der zwingenden Logik ibter negativen Axiome
und DeRnitionen lag, so barg sich gerade darin auch ein Sprung,
der das empfindsame monarchische Gefühl jener Zeit miUtraujsch
machte: Denn wenn die Souveränität durch den Verzicht der
Einzelnen auf ihr natürliches Recht und ihre Unterwerfung
unter den Gemeinschaftskörper entstehen sollte, so konnte
die schärfste Logik nicht verwischen, daD zum wenigsten der
Anfang der Souveränität mit einer Willenshandlung der In-
dividuen unlöslich verknüpft war und ihr Verzicht gab, was
nach der religiösen Theorie der allmächtige Gott gab." Dieses
monarchische /Vlißtrauen war in der Tat von tiefer Berechtigung.
Abgesehen davon, daß man aus den gleichen Prämissen
der philosophischen Theorie auch die Demokratie als den Urtyp
des Staates herleiten konnte,' stellte die rein naturrechtliclie
Begründung und die Möglichkeit der rein rationellen Erfassung
der Souveränität schon an sich eine mindernde Kritik der
Majestät dar, und indem man diese ihres göittichen Ursprungs
ganz entkleidete, zerriß man alle Schleier, mit denen eine
übernatürliche Weihe sie umgeben hatte, und gab die ent-
blößte Erhabenheit den forschenden Blicken aller Menschen
preis. Alle Begründung einer Ordnung der Dinge fiel ins
Menschliche zurück. Die Herrscher selber gingen bald in
das kluge Garn jener Lehre. Sie wurden aufgeklart: im auf-
geklärten Despotismus aber trat hinter der begründenden Ver-
nunft jede Wirkung Gottes oder der Natur zurück. Die
' Hobbes; Levialhan, cap, 19. — * Ebd. cap. 18. — » S. Korn: Die
Theorie des Hobbes erscheint zunächst annehmbar doch bei näherer Be<
tracblung verderblich, sie gibt dem Volk diescbCimmste Watfe in die Hand,
dft es dessen freien Willen zur Grundlage macht usw. (I66ff.) — Hobbes
flel bekanntlich nach dem Erscheinen seines Buches ^De cive" beim
engtischen Königstiause in Ungnade. — *■ Spinoza: Tractatus politicus
u. Tractatus theoEogico-politicus passJm.
221
feinste Spitze der philosophischen Theorie, die Vernichtung
jedes Einzelrechtes, brach zunächst ab, und Für die Ent-
stehung der staatlichen Herrschaft Verden die individua-
listischen Deutungen der Vertragstheorie wieder geltend oder
verschmelzen mit jener zu einer in der Wirkung absolut
monarchischen, in ihrem Ursprung aber demolcrstischen Staats-
begründung.' Was Gewalt blieb und KräFt gewann, war das
neue künstliche Tier, der Leviathan des Thomas Hobbes, der
Staat, vor dem sich die legitimen Herrscher des kommenden
Jahrhunderts neigten und sich seine Diener nannten. Wenn zwar
das Volk noch nicht, sondern zunächst der Begrilf des Staates
die Person des absoluten Fürsten überwunden hatte^ obwohl
dieser Begriff selbst erst durch das Bild der absoluten persön-
lichen Majestät seine neue Einheit gewonnen hatte, so zeigte
doch der veränderte Zweck des aufgeklärten Staates, der weit unter
den Formalen, im Weltganzen ruhenden Zweck der absoluten
Monarchie herabsank, nämlich die Wohlfahrt der Einzelnen, durch
deren Anerkennung der aufgeklärte Monarch sich selbst be-
schränkttf, mit voller Deutlichkeit, daü die Wurzeln dieses Begriffes
im Volke lagen. So bedeutet der AuFgeklärte Despotismus nicht
die letzte Erhöhung des absoluten Königtums, sondern den
Übergang zu den demokratischeren Staatsformen unserer Zeit.
Daß die Idee der absoluten Monarchie so schnell zugrunde ging,
lag in der doppelten Gegnerschaft von Volk und Kirche. Sie
vermochte weder das Maß von Herrschaftsanspruch, das mit
der Zerstörung der mittelalterlichen Welt in das Volk als in
eine Summe von ununterschiedenen, mit gleichen Rechten aus-
gestatteten Einzelnen gesunken war, wieder an sich zu ziehen
und es auf religiöser oder rationaler Grundlage in einem ein-
heitlichen Weltbilde der unumschränkten EtnzelherrschaFt duF-
zulösea, noch die Macht der Kirche, deren Unterordnung unter
die weltliche Gewalt alle Theodeen aus dem Wesen der voll-
kommenen Souveränität folgerten, in den katholischen Ländern in
der alten Form der römischen Kirche rein auf das geistliche Gebiet
zu beschränken, noch weniger sie durch die innerlich geforderte
Ausbildung einer staatlich- nationalen Kirche völlig aus den
politischen Grenzen zu drängen oder sie in den protestantischen
Ländern, wo die Möglichkeit einer einheitlichen Form, wie es ein-
gangs erwähnt wurde, gegeben war, den Händen und Herzen des
Volkes oder der Einzelnen ganz zu entreil^eu und zu einem
' Vor iUcm PufendörT, Böhmer und Leäbniz sind die Vertreter
dieser aeuen Formulierung der Theorieen, s. Gierke: Altbusius I83(f.
Hemst & ZleniMO, G. m. b. H.. VItteDbeix.
□ 16.2 .Q78 I90S C.1
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STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004
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