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Full text of "Grundrisse und Bausteine zur Staats- und zur Geschichtslehre: Zusammengetragen zu den Ehren ..."

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Giftof 
PETER PARET 



STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES 



5-/ 



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VERZEICHNIS DES INHALTS 



GeschtChts lehre von Kurt Breysig 

Hiflleiiung: Philosophie der Eirtzelwissenschaften 1 — Not- 
wendigkeit einer Ceschichtslehre, d. 'h, einer empirisch aus der 
werkfiligcn Gcschichlsforschung aurgleig«n(l«n Mechanik, Be- 
vegunfslehre des geschichtlichen Geschehens, ini Unterschied 
zu den Geschichlsphilosophieen 2 — Cesamlstreben der heutigen 
Wissenschaft nach Bauten von unten her 3 — Seitenstück der 
allgemeinen Erdkunde 4 — Ähnlichkeiten der Porschuagg weise, 
der Forschungsziele 5 — Abgrenzung des BegriPs Geschichts- 
lehre, int Unterschied au erzihlcndcr, sei es beschreibender, sei 
es entwickelnder Geschichtsforschung 7 — Die Ge seh ichts lehre 
als Krönung eines Gebäudes def vergleichenden Entwicklungs- 
geschichte 8 — Aurbau in Schichten 9. 

I. Besonderer, beschreibender Teil einer Geschichts- 
lehrc (die Entwicklungsverläufe): Stufenbilder, Beispiel der Urzcit- 
vSlker roter Rasse, Einzelaufgaben 10 — Entvicklungsstammbäume 
der BauFornicn von Staat, Familie, Sprache II — Andere Frage- 
Stellungen 12 — Die Entwicklungsbilder der höheren Stufen, inner- 
halb ihrer der Rassen und Volkergruppen 13 — Beispiel eines 
Entwicklungsstammbaumes höherer Stufe: Hofe, Parlamente, 
höchste Behörden in MitteUlter oder Neuzeit der germanisch- 
romanischen Völker 14 — Entwicklungsreiben der Sach- und der 
PcrsSnlichkeitsgeschichte^ gegen den Kollektivismus 16 — Ge- 
sainigeschLchten von Völkern, Völkergruppen, Rassen 17 — Volks- 
tum und Gebärde, Volkstum und Volksseele 18 — Übersicht 
aber das Ganze der \Feltgeschichte 19. 

IL All gemeine r» beobachtender Teil einer Geschieh ts- 
lehre (Entwicklungslehre): 1) Beobachtung des Werdens, zu- 
erst in den Stufen, etwa in der Urzeit 20 — Beispiel: Beob- 
achtung der Entwicklungsrichlung in der Abfolge der Bauforraen 
der Geschlechterverfassung (Australien, Schottland) 21 — 2) Be- 
obachtung der gegenseitigen BeeinRussungen, Kreuzungen^ 
Störungen der einzelnen Entwicklungsreihen; Beispiel: Die Grund- 



IV 



frage des geschichtlichen Materialismus 23 — Feinere Problemt: 

Einwirkung des Macbttriebes, Einlud des Landes auf die Ge- 
schichte seines Volkes 24 — Das Verhältnis der Sach- und Per- 
sönlich keitsgeschichtc, Mann und M*sse 25 — 3) Beobachtung 
des Entwicklungsganges der Völker- und Rassengeschichlen 26 ^ , 
4) Beobachtung des Stufenganges der Menschheit 26 — Mögtich- 
Iceit allgemeiner Formelgehung: Wechsel von Persönlichkeits- und 
Gemeinschaftstrieb 28 — Drei-Stufen-Ähnlichkeiien 29 — Andere 
FormelmÖglichkeiien : Wechsel enger und weiter Geistesverfassung 
in der Geistes- und Gesellschaftsgeschii^hte der Stufen 30 — Zn- 
sammenfassung der Einzelmerkmale als dritte Möglichkeit 32 — 
5} Zusammenfassung der Entwicklungslehre zu Gesetzen: Vor- 
gangs- und Verlaufsgesetze, irrtümliche Gruppierung nach 
Natur- und GeisteswEssenschaften 33 — Stufenleiter der Regel- 
hafiigkeiien und Gesetzmäßigkeiten 34 — Gesetze höherer Ord- 
nung 36 ~ Martgel aller Gesetiesforttiungen, Ergänauttg durch 
Entwicklungsbilder 37 — Weltgeschichtliche und Sonderforschung 
müssen sich ergänzen 38 — Das Geheimnis des Werdens als 
Gegenstand aller GeschichtsforicbuDg 39. 



Stile 



Der Engelstaat von Benhold Vallentin 41—120 

^ 1 Einleitung 4) — 'S 2 Die Engclsordnungen als Gegen- 
stand gesellschaftswissenschaftlicher Anschauung 43 — Fest- 
stellung ihres Bestandes 44 — § 3 Der gesellschafls mäßige 
Gehalt des Begriffs Engelshierarchie 49 ~ ^ 4 Innere Struktur 
des Hierarchiebegriffs 55 — S 5 Das Untcrtlnigkeits Verhältnis 56 

— $ 6 Der freie Wille als gesellschaftliches Moment 60 — 
Repressalien dagegen. Staatsgewalt 61 — § 7 Der Engelsverband 
im Bilde einer Staatsordnung 62 — § S Der Engelstaat als Vorbild 
irdischen Regimentes 64 ~ $ 9 Qarstelluog irdischen Regimentes 
(Staat und Kirche) nach dem Bilde des Engelslaates 67 ^— 
S 10 Wellliche Staatsordnung. Erste Klasse Amanlissimi Regls 

— Seraphim Ö9 — S 11 Zweite Klasse Räte— Cherubim 72 ~ 
S ]2 Drifte Klasse Richter — Throni 74 — § 13 Vierte Klasse 
Magnaten — Dominationcs 7S ~ $ 14 Fünfte Klasse Praesides 
Provinciae ^Principatus 80 — § 15 Sechste Klasse Militärische 
Befehlshaber — Potestates 87 — § lö Siebente Klasse Voll- 
streckungsbeamte ~ Vinutes 90 — 'S 17 Achte und neunte Klasse 
Vorbemerkungen 93 — $ 13 Achte Klasse Gesandte — Arcb- 
angelL97 — § lö Neunte Klasse Kuriere — Angeli 99 — $20 Zu- 
sammenfassende Betrachtung «ter weltlichen Staatsordnung 
Wilhelms 101 — Das Vernunftprinzip 104 — Der klassische 
Einfluß 105 — §21 Einfluß der weltlichen Staatsordnung Wilhelms 
auf die spätere Literatur 107 — Ägidius von Kom, De ecclesiastica 
poiestate 108 — S 22 Geistliche Hierarchie 1)5, 



China und das achtzehnte Jahrhundert ron Friedrich 

Andrere ,..,,,.. 

I. Kunde von China: Marco Polo, Alandeville 121 — Ge- 
&itidtschAitsbetic'hie 122 — Missionsbericbte 124 — Ihr Charikter 
126 — Kaufmannsberichte 127 — Differenz zwischen den ein- 
zelnen Berichten und ihre Rückwirkung auf Europa 12S — 
Rokoko und Rousseaurealismus in Ihrem Verhallen zu Ghiai. 
Ende der Chinabegeisterung 129. 

II. Einflüsse der chinesischen Ein Fuhr nach Euro pi: 
Analyse des Rokoko 130 — Seine Empfänglich keU für chine- 
sische Einflüsse 133 — Wirkungen der chinesischen Einfuhr- 
artikel auf seine Kultur: Seide 133 ~ Paplertapeien 135- Tee 
136 — Lack 138 — Porzellan 141. 

III. Umbildung der chinesischen Künste und Moden 
In Europa: Baukunst 147— Blldnerei: Der romantische Fak- 
tor ]4S — Chinesische Häuser 149 — Meierei 150 — Ganen- 
und Zierkunst 151 — Literatur 153 — Musik, Philosophie löl 

— Feste 162 — Schönheitsideal und Mode 163. 

IV. China und die europäische Volkswirtschaft: Vor- 
steliung vom Reichtum und der wirtschaftlichen Vortreffiich- 
keit Chinas 165 — Von der Bevölkerung 167 ~ Von der Volks- 
eraihrung 170 — Wirtschaftliche Tugenden der Chinesen 171 

— Alter und Höhe der landwirtschaftlichen Kultur in China 
172 — Intensität der Landwirtschaft in China 173 — Pflege 
des Landhaues durch die chinesischen Kaiser 174 — Der 
pflügende Kaiser 175 — Meiiorationen 176 — Bauempolilik 178 

— FinaDzwinschaft 18Ü. 

V. China und die europaischen Verfassungsfragen 
und Probleme: Vorbildlicher Charakter Chinas 184 — Die 
chinesischen Kaiser und die Tugenden des aufgeklärten Ab- 
solutismus ISe — Garaniieen für die „Moderation" der Chine- 
sischen Kaiser ISS — Patriarcbaliscber Despotismus 18Ö — 
Einspruchsrecht der Mandarinen 192 — Geschieh tstribunal 193 

— Einwendungen der d^tracteurs 194 — Verteidigung der 
Paoegyriker 196 — Ausblick in das neunzehnte Jahrhundert 198. 



Seilt 



121-200 



Über die theoretische Begründung des Absolutismus 

im siebzehnten Jahrhundert von Fritz 'Wolters 201—222 

Herrschaft und Dienst; BegrilF und Person im Mittelalter 201 
— Kirche und Reich als Gegner 202 — Ihr Streit um den 
unmittelbaren göttlichen Ursprung 202 — Ihre Zersplitterung 
und Bildung der Nationalstaaten 203 — Gegensätze im Staate: 
Kirche, Herrscher, Volk 203 — Das Naiurrecht als neue 




GESCHICHTSLEHRE 



von KURT BREYSIG 



Bs hat seit langem die Neigung bestanden und sie regt sich 
heute von neuem sehr stark, neben die eigentlich fachliche und 
naturgemäß erfahrungswissenschaftlich verfahrende BehAndlungS- 
weise der einzelnen Gattungen der Forschung eine andere zu 
stellen, die man am öftesten philosophisch genannt hat, und der 
man das Recht beimaGi sich etwa nur mit den Ergebnissen 
der beschreibenden und erfahrungs mäßigen Arbeit ihres Bezirkes 
zu begnügen, aus ihnen aber einen eigenen kühneren Gedanken- 
bau aufzurichten. So ist neben der Rechtswissenschaft eine 
Rechtsphilosophie, neben den Naturwissenschaften eine Natur- 
philosophie geschaffen worden, so ist noch in unseren Tagen 
neben der Volkswirtschaftslehre eine Wirtschaftsphilosophie und 
neben der freilich erst in den unreifsten Anfängen begriffenen 
Gesellschaftslehre eine Sozialphilosophie auf den Plan getreten. 
Das Verhalten, das die alten Besitzer dieser Wissenschaftsreiche 
den neuen Eindringlingen gezeigt haben, ist ein verschiedenes 
gewesen. Allein man wird sagen dürfen, je stärker die alten 
Mächte waren, desto heftiger haben sie sich dieser Eingriffe 
erwehrt. Die naturphilosophische Unternehmung Schellings ist 
eine Episode geblieben, die heutige Gesellschaftslebre, die als 
Erf ah rungs Wissenschaft weder über hinreichende geschichtliche 
noch statistische Fjilfsmittel verfügt, hat sich von der ganz 
philosophisch verfahrenden Soziologie fast völlig und willig über' 
wältigen lassen. 

Die Geschichtsforschung ist sicher am häußgsten als Unter- 
lege zu solcher halb fremder, halb verwandter Umbildung be- 
nutzt worden. ^Aber sie hat sich ebenso gewiß auch am 
sprödesten wider sie verhalten. Daß zwei so eindringliche 
Geschichtspbilosophien wie die von Fichte und Krause, daß eine 
so gewallige wie die Hegels die deutsche Geschichtsforschung 
des neunzehnten Jahrhunderts so gut wie gar nicht haben beein- 

Brcysig, Geschieh» lehre J 



Aussen können, ist bezeichnend. Noch auFfilliger vielleicht, 
daß iq unseren Tagen, da selbst Name und BegrlCT der längs 
totgegUubteo Naturphilosophie wieder auftauet) eti, tiicb 
ein einziger Versuch neuer Geschichtsphilosophie Ansehen 
gewonnen hat. 

Aber vielleicht ist dies Versagen auswärtiger Einwirkung 
in der Gegenwart nicht nur ein Verlust, sondern ebensosehr 
ein Ansporn zu eigener Bemühung, und also ein Gewinst 
Zwischen der rückhaltlosen Unterwerfung^ die die Geschichts- 
philosophen, sei es laut, sei es unausgesprochen, von den 
Geschichtsforschern forderten, und der völligen Ablehnung, die 
diese tatsächlich den geschichtsphilosophischen Lehren zuteil 
werden ließen, ist nämlich noch eine dritte iVlöglichkeit gegeben, 
die gesunder erscheint, als jene beiden, und deren Verwirklichung 
in Wahrheit zu Fordern ist: es ist die Errichtung eines begriff- 
lichen Oberbaus auf der Grundlage beschreibender und erfahrungs- 
TTiaDiger Geschichtsforschung, nicht durch die zu Hilfe zu rufenden 
Philosophen, sondern durch uns Geschichtsforscher selbst. 

Den Bestrebungen der Philosophen liegt eine Absicht zu- 
grunde, die 2war in Wahrheit von jeher auch den Geschichts- 
forschern als Ziel hätte vorschweben sollen, die aber von der 
höheren Ebene begrifflicher Wissenschaft eher zu erliennen war, 
als in den Schächten und Steinbrüchen der werktätigen 
Geschichtschreibung. Es ist die vielleicht schon oft triebmäßig 
empfundene, aber erst heut ktar werdende Anschauung, daß die 
Geschichte eine Wissenschaft ist, die zwar das Nacheinander 
menschlicher Bigebenheiten zum Gegenstand hat, die aber nicht 
slleiu die Aufgabe bat, alle die Verlaufsfolgen dieser Begeben- 
heiten schildernd oder auch erklärend und also entwickelnd 
7u begleiten, sondern auch das Wesen dieses Nacheinanders 
selbst, das Geheimnis des Werdens menschlicher Dinge zu 
ergründen. Diese AuFgftbe führt mit sich, daO die Geschichts- 
forschung dieser Gattung sich löst von den Fesseln eben der 
Zeitfolge und der Raumzusammenhänge, an die die beschreibende, 
ja noch die entwickelnde Geschichtsforschung unabänderlich 
gebunden ist. 

Es kann nicht zugegeben werden, daß eine der große 
deutschen Geschichtsphitosophien eine so sicher gezogene Grenze 
zwischen werktätiger und begrifflicher Geschichtsforschung 
gefunden hat. Kegels Vorlesungen über die Philosophie der 
Geschichte stellen ihrem H&uptkörper nach weit eher eine 
ordnende und begritfliche Begleitung der Geschichte durch eine 
Anzahl ihrer zeitlichen und räumlichen Bezirke dar, die tiur ia 



^ 





der symmetrisch wiederkehrenden, stark stilisierten Anordnung 
der Zeitalter nach drei Graden einer weniger geschichtlichen als 
dialektischen Art den Kern einer über den Zeiten stehenden 
gesetzmäßigen Mechanik der Geschichte enthält. Vico bewußt, 
Herder ahnend, Comte mit allem Nachdruck, sind alle in diesem 
Betracht weiter gegangen. Aber selbst Comtes Lehre von den 
Kräften der Gesellschaft, die in Wahrheit eine geschichtliche 
Dynamik ist, wird heut nicht erneuert werden dürfen, wenn 
auch gewiß notwendig sein wird, die Ergebnisse einer nicht von 
Philosophie oder Soziologie, sondern von der eigenen geschicht- 
lichen Erfahrung herlcommenden Entwicklungslehre mit den 
Anschauungen Comtes zu vergleichen, um von ihnen vielleicht 
noch vielfachen Gewina zu ziehen. 

Eben das Bedürfnis der Geschichtsforschung nicht unter 
Leitung der Philosophie, sondern auf eigenem Wege zu einer 
Bewegungslehre, einer Physik des menschlichen Geschehens zu 
gelangen, das heute wieder heraufsteigt, wird auch gedanken- 
geschichtlich nicht mit dem Wiedererwachen Comtes oder irgend- 
welcher Früheren verkettet werden dürfen. Dies ist sicher weit 
eher die Folgeerscheinung einer eigenen inneren Umwandlung 
der Geschichtsforschung. Dadurch, daß die entwickelnde 
Geschichtsauffassung sich ihrer selbst ganz bewußt wurde, war 
der Antrieb gegeben, auch die Frage nach dem inneren Gesetz 
aller dieser Ursachenverkettungen aufzuwerfen, und dadurch, daß 
die vergleichende Geschichtschreibung ihre Kreise immer 
weiter zog und schließlich nur mit dem Ganzen der Geschichte 
zufrieden gestellt sein wollte, war eine Allgemeinheit der 
Geschichtsanschauung wenigstens in der Forderung erreicht, die 
wiederum ihrem innersten Wesen nach auf eine Geschichtslehre 
vorbereitet, wenn nicht auf sie hindrängt. Und so soll wahrlich 
keinem Forscher verwehrt werden, von irgendwelchen höheren 
Warten Geschichte zu sehen und unseren Induktionen kühnere 
Deduktionen entgegenzusetzen — noch heul sollte jedem jungen 
Geschichtsforscher die ernsthafte Aufnahme, der großen Gedanken 
Hegels über Geschichte zur Pflicht gemacht werden, denn sie sind 
ein Denkmal nicht nicht nur der Stärke, sondern auch der 
Schönheit seines Geistes — aber eine Geschichtsforschung, die 
ihre besten Ehren und ihre schwersten Pflichten nicht in fremde 
Hände fallen lassen will, wird nicht darauf verzichten wollen 
noch dürfen, durch ein Bauen von unten her an einem Werke 
zu arbeiten, daß jene von oben her schneller, aber auch vielleicht 
vergänglicher zu vollenden trachten. 

Und auch darauf wird sie sich bei solchem Unternehmen 

l* 



berufen kSnnen, daß innerhalb der Philosophie selbst in unseren 
Tagen das Bauen von unten her recht eigentlich die Losung 
geworden ist. Niemand wird wünschen dürfen, d&Q die Großen, 
Kühnent die Baumeister weiter Gedankenpaläste und hoher 
Ideendome nicht wieder unter uns aufstehen^ aber der vor- 
herrschende Zug der Forschung hat auch hier das langsame 
AuFschichten und EmporstuFen eines auf breiten Erfahrungs- 
vesten ruhenden Bauwerkes zum Zieh* Es ist nicht undenkbar, 
daß einmal noch ein ganzes System von Überbauten sich auf- 
türmt, daß die Geisteswissenschaften der Vergangenheit zu einer 
Geschichtslehre, die der wirkenden Lebens- zu einer Gesell- 
schafts-, einer Geisteslehre, alle aber zu einer allgemeinen 
Geisteswissenschaft zusammenfaßt, daß die organischen Natur- 
wissenschaften einer Biologie, die anorganischen einer Physik, 
beide einer höheren Bewegungslehre unterordnet und schließlich 
jene oberste Geistes-, diese oberste Naturwissenschaft zu einer 
letzten Lehre vom Leben vereinigt.- 

Es gibt eine unter den Wissenschaft en^ nicht zwar unter 
den Geist es Wissenschaf ten» bei der die Geschichtsforschung für 
solche Absichten Bestärkung ßnden kann, und deren werktätige 
Erfahrung vielleicht in diesem Betracht wichtiger als irgendeine 
aprioristische Hilfe werden kann. Die Erdkunde war ursprüng- 
lich und ist es zu ihrem gri>ßteit Teil noch heut Länderkunde, 
d. h. eine dem einzelnen Bezirk zugewandte beschreibende 
Erforschung der ErdoberflSche, Die Vorläufer, die vom sieb- 
zehnten Jahrhundert ab auf dieser Grundlage zu allgemeinerer 
Erkenntnis vordringen wollten, so vornehmlich Varenius mit 
seiner Geographia genpratis von 1650,^ kommen trotz der 
weissagerischen Kraft ihrer Wünsche nicht allzusehr in Betracht. 
In den letzten Jahrzehnten aber haben Richtbofen und Penck 
die Ausbildung einer allgemeinen Erdkunde, die überhaupt sich 
in dieser Zeit anbahnte,* so glücklich gefördert, daß hier eine 



^ Man verglfiicbe die programtnälischen Auäfübmngen von Stumpf 
(Die Wiedergeburt der Philosophie, Berliner Festrede [19071 22F., 251.). 
— * Man liehl hier vielleicht meinen Beitrag zu der Umfrage über die 
Zukunft der Sotiologie (Dokumente des Fortscbritts I [1908] 230!.) in 
Betracht. — " Über seine Bedeutung: Herrn. Wagner, Lehrbuch der 
Gcogrkphie I ('1903), löf. — ' Mit Richthofens Führer für FarschungS- 
reiscnde von 1886 müssen etwa die Abschnitte über FbyBiographie, Petro- 
graphic und GeOtektonik, über dynamische und bistOriscbe Geologie in 
dem damals ersten Handbuch {Hann, Hocfastetter und Pokorny, 
Allgemeine Erdkunde [M88ß] 253ff., 272fF., 324fF., 4S9ff.) im Hinblick 
auf die Forscbungsweise verglichen werden, was dem Fernstehenden iwar 
gewiü nicht im einzelnen, wohl aber für die Grundrichtung mSglicb ist. 



4 




■ 



Wissenschafr höherer Ebene, wie sie in der Geschichtsforschung 
beut nur erst gefordert werden kann, im ganzen organisiert 

und in wesentlichen Teilen schon vollendet erscheint. 

Die Ähnlichkeit des wissenschartsgeschichtUchen Vorgangs 
ist um so schlagender, als es sich auch hier durchaus nicht 
um die Verdrängung, sondern um die Ergänzung der älteren 
Forschungsweise durch die neue handelt. Ganz in demselben 
Sinne wie bisher in der erzählenden Geschichte die einzelnen 
Zeitalter abgeschildert worden sind, so früher in der Erdkunde die 
einzelnen Länder. Darüber hinaus aber hat sich eine allgemeine 
Erdkunde erhoben, die, sich von dem einzelnen Land und seiner 
Beschreibung völlig lösend, eine Formenlehre der Gebilde der 
ErdoberHäche aufstellt, die für ihr Ganzes aJlgemeiogültig ist. 
Sie hat Gesamtbeobachtungen »ufgestellt über die Massen- 
bewegungen der Landoberfläche, seien sie durch Wind, Flüsse 
oder Gletscher hervorgebracht, andere über die Formen der 
"Landoberfläche, über Entstehung, Alter, Arten, Querschnitt der 
Täler, der Tallandschaften^ d. h. der Tafel- und Gebirgsländer, 
sie hat Schichtstufen-, zerbrochene, Schollen- und Faltungs- 
gebirge voneinander gesondert^ sie hat die Bewegungen der 
Meere, die Formen ihrer Küsten, ihrer Gründe, ihrer Inseln in 
Gruppen geteilt, und sie hat endlich den Gesamtaufbau der 
Festländer und der sie trennenden MeerCäler im allgemeinsten 
gezeichnet.' 

Fast sollte man meinen, hier wäre eine Gelegenheit zum 
Eingreifen gewesen für diejenigen Philosophen, die, ihre Stellung 
über Natur- und Geisteswissenschaften betonend, eine methodo- 
logische Führer- und Vermittlerrolle in Anspruch nehmen und 
auch mit allem Recht ausüben. Hier hätten sie auf die Gleich- 
läufigkeit geschichtlicher und erdkundlicher Forschungsbedürf- 
nisse hinweisen und den Geschichtsforschern das Vorbild der 
Erdkunde vorhalten sollen. Denn in der Tat, es treffen hier 
Voraussetzungen und Ziele zweier Wissenschaftsbewegungen, 
einer schon im Gang befindlichen und einer zukünftigen, beut 
erst zu fordernden, in mehr als einem Stück zusammen. Erstlich 
ist es die Zusammenfassung und Ableitung von allgemeinen 
Beobachtungen aus einer in tausend Einzelbeschaffenheiten zer- 
spaltenen Wirklichkeit: nur daß das eine Mal die Verschieden- 
heiten des Raumes, das andere Mal die der Zeit überwunden 
werden müssen. Zum zweiten handelt es sich in beiden Fällen 



<■ Penck, Morphologie der Erdoberfläche I (18M) 219ff., 244ir., 
II (1S&4) SSff., 142ff., 321«., 40211.; der allgemeiiie Teil: 1 &5ff. 



um die Notwendigkeit, unzähüg viele Formenreich&, farbenschöne 
Einzelheiten fahren zu lassen und aus ihnen die freilich viel 
blasseren und weiteren Umrißünien eines allgemeinen Verhaltens 
abzuleiten. Wäre die Erdkunde den anderen Zwei£en der Natur- 
wissenschaften minder nahe, stünde sie nicht nur an den Grenzen 
der Geisteswissenschaften, und hätte sie ein ähnliches, nach 
Jahrtausenden zählendes Alter und eine ähnliche, nach Tausenden 
von Werken zählende Breite der Überlieferung wie die Ge- 
schichte, so hätte diese neue allgemeine Erdkunde wohl unter 
viel härteren Geburtswehen das Licht des Tages erblicken 
müssen. Entsteht doch unter den Geschichtsforschern schon 
ein lautes Klagen, wenn nur die allgemeinen Fragen der 
Forschungsweisen erörtert werden sollen: alle schöne Buntheit 
fliehe und ein ödes Grau der BegrifFlichkeit drohe^ sich an ihrer 
Statt auszubreiten. 

Zum dritten ist die geistige Form, die die allgemeine Erd- 
kunde angenommen hat, ganz ähnlich der, die der heut zu 
fordernden allgemeinen Geschichtskunde zu wünschen ist, Ihr 
wesentlichstes Werkzeug sind scharf geprägte und umgrenzte 
Begriffe; sie zu schaffen, war nicht der geringste Teil der zu 
leistenden Arbeit. Man ist so weit gegangen, das grundlegende 
Werfet eine Formenlehre der Erdoberfläche, als systematische 
Klassißkation und Terminologie zu kennzeichnen.-'' Alle die 
Zusammenfassungen aber, die man vermittelst dieser Werkzeuge 
hergestellt bat, streben ihrem innersten Wesen nach zur Formel, 
zur Regel, zum Gesetz. Und vielleicht gelingt der heut nur 
als Hoffnung aufgestellte Plan, der eine geschichtliche Erdkunde 
zu schaffen verheiüt, nicht in dem alten Ritterscheti Sinn einer 
Verbindung von Erdkunde und Geschichte, sondern in dem 
anderen tieferen, naturgeschichtüchen einer Geschichte der 
Erdoberfläche. Schon ist m dieser Richtung eine Sicht darauf 
ereignet, daß auch diese neue Form der Naturgeschichte sich 
den Entwicklungsgesetzen des biologischen Artenstammbaums 
werde unterordnen lassen. iVIan hat Altersstufen der Täler 
— wie zuvor schon der Flüsse — unterschieden und zwischen 
ihnen und den Entwicklungsaltern einer Tierform, der Equiden, 
eine auftälltge GleichläuBgkeit gefunden." Gelangt diese Wissen- 
schaftsbewegUDg an ihr Ziel, dann wird die Erdkunde der 



' So über Pencks Morphologie H, Vagner, Geognpbie ^1 241; 

vergl.335. — ^ Peuck, Die Geomorphologie als geoetische Wisaenschaft: 
eine Einleitung zur Diskussion über geomorpbologiscbe Nomenklatur 
(Report on the VI. Internat Geograph. Cangress IIS96] 73Sff.}, 



Geschichte tioch näher gerückt, und es sind nicht allein mehr 
Räume, sondern Zeiten selbst, die den Zeitabschnitten der Ge- 
schichte als durch eine Formenlehre zu überbauende Unterlage 
entsprechen. 

Zuletzt können weder philosophische Belehrungen, noch 
geographische Ähnlichkeiten der Geschichtsforschung die Pflicht 
abnehmeti, auf ihre Weise einen solchen allgemeinen Oberbau 
zu schaffen. Und wenn auf den folgenden Blättern versucht 
Verden soll, für ihn einen Plan zu zeichnen, so können Freilich 
für die Geschichtslehre, wie hier eine solche allgemeine Ge- 
schichtskunde genannt werden soll — der Name Geschichts- 
philosophie* ist zu anspruchsvoll und weist zugleich in einem 
gar nicht wüiischedswerien Sinn über die Grenzen der Ge- 
scbichtsForschung hinaus — für heut nur die blassesten und 
weitesten Umrißlinien entworfen werden, Sie werden sicher 
alle Mängel eines ersten Versuches an sich tragen, aber mag 
man sie in späteren En tw ick lungs altern beibehalten, ändern oder 
verwerfen, vielleicht nützen sie in jedem dieser drei Fälle. — 

Unter Geschichtslehre sei hier verstanden die Wissenschaft 
von dem Wesen und den Regeln des Werdegangs und der Ver- 
laufsabfolgen der Geschichte der Menschheit. 

In dieser Begriffsabgrenzung sind mit Absicht Regeln und 
Wesen der geschichllichen Verläufe geschieden. Denn wenn 
auch die Absicht vorliegt, zuerst und zuletzt die Gemeinsam- 
keiten der nach Rasse, Volkstum, Wohnsitz so vielfach unter- 
schiedenen Einzelentwicklungen herauszustellen, so wird mit der 
gleichen Aufmerksamkeit uod ohne alle Voreingenommenheit 
jede Besonderheit dieser Einzeientwicklungen verfolgt werden 
müssen. Am wenigsten wird verabsäumt werden dürfen, die sehr 
mannigfaltigen Beeinflussungen, Störungen, Durchkreuzungen, ja 
Endigungen zu verfolgen, die eine nicht geringe Anzahl von 
Entwicktungen einzelner Gesittungs- und Bluteinheiten — Völker- 
schaften, Stämme, Völker — durch andere solche Einheiten 
erlitten haben. 

Der ergänzende Gegensatzbegriff einer solchen Geschichts- 
lehre ist die Schwesterwissenschaft der erzählenden Geschichts- 
forschung. Ihr Amt ist es, sei es beschreibend, die Einzel- 
erscheinungen, die Einzeitatsachen in ihrem zeitlichen Verlaufe 
abzuschildern, sei es entwickelnd, ganze Erscheinungsreihen als 




' Der mir freilich ebenso ungeeignet für den Gegenstand der Ge- 
schichtsforscbungslebre (fVletbodoIogle der Geschichte) erscheint, für den 
man ihn jüngst bat bestehen lassen wollen, 



8 



Gliederketten, also als Teile wie als Ganzes, zu 'begreifen uj 
in ihrem Ursachenzusammenhang vorzuführen. 

Es soll nicht versäumt werden, auch an diesein Ort auf den 
grundlegenden Unterschied der beiden möglichcD Formen er- 
zählender Geschichtsrorschuiig hinzuweisen, da er so häutig ver- 
kannt und nicht selten geleugnet wird. Beschreibend verfährt 
noch jede GeschichtsForscbung, die zwar die einzelnen Tatsachen 
durch Ursachenverknüpfungen leise aneinander bindet, im wesent- 
lichen aber nicht mehr beabsichtigt, als den Bestand der ein- 
zelnen Tatsache von den Schlacken mangelhafter Überlieferung 
zu reinigen und sie in ihrer Besonderheit möglichst getreu 
wiederzugeben. Solche beschreibende Geschichtsforschung, wie 
sie jahrtausendelang die einzige war, wird auch in Zukunft un- 
entbehrlich bleiben Für die Herstellung der festen Grundlagen 
jeder anderen Form der Geschichtswissenschaft: ohne sie ist 
alles höhere Bauwerk auf den Sand gebaut. Nur muß Freilich 
gewünscht, ja gefordert werden, daß die beschreibende Geschichts- 
forschung ihre Arbeit den Aufgaben, den Fragen anpabt, die ihr 
die entwickelnde Geschichtsforschung und die Geschichtslehre 
stellen. Dafür wird ihr Rechte jeden, auch den mindesten Tat- 
sflchenirrtum, den jene begehen, zu rügen^ nicht im kleinsten 
bestritten werden dürfen. 

Die entwickelnde Geschichtsforschung erhält ihr Gepräge 
dadurch, daß sie nicht von der Einzeltatsache, sondern von der 
Tatsachenreihe ausgeht. Entwickelnd wird eine geschichtliche 
Untersuchung oder Darstellung erst dann, wenn sie den StoFf 
begrifflich ordnet, wenn sie absichtlich und unermüdlich durch 
Vergleiche die Abweichungen der späteren Tatsachenmassen von 
den Früheren feststellt, wenn sie ebenso unermüdlich immer 
wieder die gleichen Fragen an den Stoff stellt, wenn sie diese 
FrageQ nicht allein für die jüngeren Zeitalter von den älteren, 
sondern ebenso für die älteren von den jüngeren Zeiten her- 
leitet, wenn sie nicht Handlungen, sondern Handlungsweisen, 
wenn sie nicht Persönlichkeiten, sondern Persönlichkeitsformen 
letztlich herausstellen will, wenn sie die Ursachenverkettungen 
so tief und so weit wie möglich verfolgt. Solchergestalt wird 
sie eine flieDende Zustandsgeschichte gewinnen, die allein das 
Verhältnis von Einzellatsache zu Tatsachenmasse, von Tatsachen- 
glied zur Reihenkette recht abspiegelt. 

Soll die Gesamtheit der Geschichte in diesem entwickelnden 
Sinne behandelt werden, so wird diese Forschungs weise ihrer 
begnIFItchen Neigung nach nirgends eher haltmachen dürfen, 
als bis sie bei den Grenzen der Menschheit selbst angelangt 




isit sie vird sich nicht mit europäiscH-vorderorientalischer Ge- 
schichte begnügen dürfen, sondern alle Völker des Erdballs in 
ihren Bereich ziehen müissen. Sie wird sich nicht bei der Ge- 
schichte des Staates oder gar nur der Staats- und der Kriegs- 
kunst beruhigen» sondern alle Formen des handelnden und des 
geistigen Lebens zum Kreise schließen müssen. Ja, ihr wird 
erlaubt sein, die Geschichte der Völker nicht nach der Schein- 
ordoung der Zeit darzustellen» sondern sie nach Entwicklungs-» 
nach Lebensaltern der Menschheit zu ordnen. 

Trotzdem, und hier setzt die Untersuchung der Aufgaben 
der Geschichislehre ein, die sich diese Blatter zu geben vor- 
gesetzt haben» kann selbst eine so weit getriebene Entwicklungs- 
geschichte, und hätte sie auch so viel Vollkommenheiten, als 
ihren tatsächlichen Ausführungen in der Regel Irrtümer tind 
Mängel anhaften werden, nicht die Stelle einer Wissenschaft 
vom Werden der Geschichte einnehmen. Einer solchen gegen- 
über wird ihr immer noch der Stempel erzählender, ja ver- 
gleichsweise beschreibender Wissenschaft anhaften. Denn mag 
sie sich auch von der unumschränkten Herrschaft der Zeitfolge 
schon losgemacht haben, mag sie an Stelle der Jahrestafeln 
einen Stufenbau von Entwicklungsaltern setzen, immer bleibt 
ihr Zweck nicht das Wie» sondern das Was der Menschheits- 
geschichte zu überliefern. 

Kein Zweifel, keine Geschicblslehre jenes Sinnes ist zti 
denken, ohne das vollendete Werk einer entwickelnden Dar- 
stellung der Geschichte der Menschheit. Denn nur an ihm 
wird sie ihre Beobachtungen sammeln können. Aber sie muQ 
von vornherein einen grundsätzlich anderen Arbeitsplan -veT" 
folgen. Was ihr not tut, läßt sich unter einen Satz fassen: sie 
hat an die Stelte der zeitlichen Gebundenheit die begriffliche 
zu setzen, sie soll nicht Ursachen zusammenhänge darbieten, 
sondern das Triebwerk dieser Ursachenzusammenhänge auffinden. 
Allein, es wären sehr viele Bahnen zu denken, die in dieser 
Richtung eingeschlagen werden könnten. Es ist unerläßlich, 
einen — nicht den einzigen — möglichen Weg zu beschreiben, 
soll hier mehr als die allgemeine Losung ausgegeben werden. 

Der Sinn einer Geschichtslehre ist, von aller Fülle, »Her 
Breite des Erfahrungsstoffes auszugehen und zu Immer höheren, 
immer umfassenderen Gesamthcobachtungen aufzusteigen. Damit 
ist ihrem Aufbau schon ein herrschender Gedanke vorgeschrieben, 
dem sie sich nicht wird entziehen dürfen, wenn anders ihr daran 
liegt, ihr Wesen als das einer zwar bauenden, aber von unten 



her bauenden, einer Er fahrungs Wissenschaft, einer induzierenden, 




nicht deduzierenden, auFrecluzuerhalien. Sie wird ihr Werfc in' 
mehreren Geschossen aufrichten müssen, von denen die unteren | 
der erzählenden Geschichtsforschung mögHchst nahe bleiben,! 
die oberen aber sich entschiedener über sie fortheben. — , 

Die Geschichtslehre wird beginnen müssen mit einem be- 
sonderen, vergleichsweise beschreibenden Teil, der dem Verlauf' 
der Entwicklung gewidmet ist, und der nichts anderes bedeuten 
soll, als eine Zusammendrängung der Ergebnisse, die eine ent- 
wickelnd verfahrende Geschichte der Menschheit zu liefern 
haben wird. In ihm wird der Verlauf der Entwicklung Fest- 
zulegen sein, geordnet nach Stufen. Doch wird rätlich sein,; 
nicht sogleich das GesAititbild einer ganzen Stufe, etwa der! 
Urzeit, aufzurollen, sondern zunächst nach Rassen uod Volker-' 
grüppeti geschiedene Sonderbilder zu entwerfen. 

Ein solches Sonderhild — es schwebt etwa das der Uraeit- 
völker roter Rasse vor — müßte folge ndergestalt angelegt 
sein. Es wird im selben Sinne in eine Reihe einzelner Sichten, 
nach den Bezirken des Lebens geordnet, zu teilen sein. Nach-| 
einander werden in einer Einleitung Land und Leute, in einer 
ersten Hälfte alle Formen des handelnden Lebens, in einer 
zweiten Hälfte alle Arten des geistigen Schaffens vorzuführen sein. I 
Nirgends werden hierbei die Ergebnisse einer vorliegenden ent-' 
wicklungsgeschichtlichen Darstellung der Urzeitvolker dieser 
Gesamtgruppe ungewandelt hingenommen werden können. Denn 
diese Darstellung zerstückte im Fall der roten Rasse, wie es 
notwendig war, um sie vor blasser Allgemeinheit ?u behüten, 
den Stoff nach fünf Stämmefamilien und Völkergruppen in 
ebensoviele Teile. Hier aber wird nötig sein, von den einzelnen 
Bereichen des handelnden wie des geistigen Lebens ein alle 
auf Urzeitstufe verbliebenen Glieder der Rasse umfassendes 
Bild zu entwerfen. Die Aufgabe wird dabei eine dreifache 
sein: die bei allen fünf Gruppen zutreffenden Gemeinsamkeiten 
beiseite zu bringen, so die den einzelnen Gruppen allein zu- 
gehörigen Besonderheilen zu gewinnen und endlich eine 
Rangordnung von Unterstufen der Urzeitgeschichte herzustellen, 
einen idealen Entwicklungsstammbaum zu ermitteln, auf dessen 
Stammteile und Zweige die einzelnen tatsächlich nachgewiesei 
Zustände als Entwicklungsabschnitte abzutragen wären. 

Die beiden ersten Aufgaben verstehen sich von selbst; 
dritte bedarf einiger Erläuterungen. Jede geschichtliche Auf- 
fassung der Urzeit, die auf Formung eines einheitlichen Bildes' 
drängt, wird für ihre Pflicht halten, durch fortgesetzte Ver- 
gleiche die Einzel zustände, welche die heutige Völkerkunde 



snAttl 
; dl? 




k 



kennen läßt, sei es als gleiche oder ähnlich gerichtete Ent- 
wicklungsstrecken zusatTtmeüzuordneti, sei es als Mutter- oder 
Tochterbildungen, oder als noch entferntere Gebilde auf- oder 
absteigender Verwandtschaft zu erkennen, sei es endlich als 
gänzlich voneinander getrennte Wachstümer, als verschiedene, 
wenn auch schlieDHch von einem Stamme oder einem Ast ent- 
sprossene Zweige eines anzunehmenden vielfach verästelten 
Baumes zu deuten. Die Bluteinheit der hier als Beispiel be- 
nutzten roten Rasse im besonderen kann so wenig in Frage 
gezogen werden, die Verzweigung kleinerer Teilgruppen in ihr 
— ein einleuchtendes Seitenstück geringeren Maßstabes — läßt 
sich aus Sprach- und Verfassutigsgeschichte so unwiderleglich 
nachweisen, daD man für sie am wenigsten an der Notwendigkeit 
dieses Verfahrens wird zweifeln dürfen. Nur so kann man mit 
einiger Sicherheit zu einer Entwicklung innerhalb der Urzeit 
gelangen, Und was sonst nicht ein Unglück nur für die Be- 
troffenen, sondern ebenso für die Forschung ist, die gewaltsame 
Durchschneidung der einzelnen Gruppenentwicklungen durch 
die Zufälligkeiten der europäischen Eroberung, wird so noch 
ein Anlaß zu fruchtbarer Bereicherung unserer Erkenntnis- 
möglichkeit: die Parzenschere der Übermacht der Weißen hat 
diese Fäden an den verschiedensten Stellen durchschnitten^ und 
so läßt sich bei ailer Brüchigkeit und Beschränktheit der vor- 
handenen Beschreibungen gar nicht selten eine Folge von Zu- 
standen herstellen» die zwar verschiedenen Stammesentwicklungen 
entnommen, doch als eine schlüssige Reihe von Abschnitten 
des gleichen Werdegangs gedeutet werden können und müssen. 
So ist gar nicht daran zu zweifeln, daß es möglich sein 
wird, etwa innerhalb der roten Rasse einen Stammbaum der 
Bauformen von Staat und Familie zu entwerfen; der der 
Glauhensformen wird größere Schwierigkeiten bereiten, von 
vielen anderen zu geschweigen, an die heut noch gar nicht zu 
denken ist. Einer dieser Stammbäume müßte, falls man nur 
den Stoff schon durcharbeitet hätte, auf die sichersten und 
klarsten Umrisse gebracht werden können: die der Sprache. 
Denn da sie in ganzem Umfang vorliegen, und da eine ge- 
schichtliche Auflösung dieser freilich kristallhart gegebenen 
Zustandsbilder einer eindringlichen Anstrengung keinen Wider- 
stand wird leisten können, so wird hier einstmals das muster- 
hafteste Bild eines Entwicklungsstammbaumes entworfen werden 
können. Für heut ist daran freilich nicht zu denken, die 
Philologie^ die fort und fort bemüht ist, Für die Forschungsweise 
der Queltenprüfung die köstlichsten und feinsten Werkzeuge 




fF 



anzufertigen, hat für die Sprachgeschichte der UrzeJtvölker nur 
erst wenig Zeit und wenig Arbeiter übrig gehabt. Und doch 
lockt hier ein Forschungsfeld, das die reichsten Ernten tn Aus- | 
Sicht stellt Sind die Hunderte amerikanischer Spracheti und 
Mundarten, die bestehen, einmal einer Stammtafel eingeordnet« | 
so wird dies nicht allein der weitest verflochtene^ nein auch 
der sicherst gefügte der Stammbäume sein. Und eben die 
Philologie, die zu Jacob Grimms Zeiten die besten Lorbeeren 
solcher Kulturgenealogie gepflückt hat, wird dann noch einmal 
schöne Siege feiern. Es ist ein Gedanke, fast betrübend für 
den Geschichtsforscher von Staat und Gesellschaft, daß die 
Sprachwissenschaft, die schon die sichersten Forschungsweisen 
für Prüfung und Zerlegung der Nachrichten, also für die be- 
schreibende Geschichtsforschung, ausgebildet hat, einstmals auch 
noch dem Entwicklungsgedanken die vollkommensten Dienste i 
leisten wird. Aber eine Reihe von Jahrzehnten erst wird zu 
diesem Ziele führen, heul ist der Zustand der, daß erst eine 
begrenzte Anzahl von Sprachen auch nur notdürftig aufgenomraeti 
ist, ganz wenige aber wirklich beraeistert sind. 

Ein Stammbaum der Bauformen von Familie und Staat ist 
schon um deswillen weit leichter aufzurichten» weil hier die 
Formenfülle sicherlich weit geringer ist, als im Reich der 
Sprache. Sehr oft wird es gar nicht nötig sein, dieser Stamm- 
tafel so viel Zweige und Aste zu gehen, wie die Rasse selbst 
sie hat. Denn da nur der ideale Stammbaum der Bauformen 
erforderlich ist, werden oft sehr verschiedene Stämmefamilien 
und Stammesgruppen in eine Entwicklungslinie zusammen- 
zufassen sein. So ist z. B. die unzusammengesetzte, unpaarige 
Siedlerschaft, d. h. die Keimform eines Staatsgebildes, das zwar 
schon in Sonderfamilien, aber nicht in weitere Blutsverbände 
zerfallen ist, über den größten Teil von Südamerika verbreitet, 
aber in gleichsinniger Bildung auch im äußersten Norden von 
Nordamerika zu finden. Andrerseits weist die viel reichere 
Entwicklung des gedoppelten, aus der Vereinigung zweier Horden 
entsprossenen Geschlechterstaates, die in Nordwest- und Nord- 
ostameriba so zahlreiche und wohlgegliederte Beispiele aufzu- 
weisen hat, weit eher eine geradlinige Folge von auseinander 
abzuleitenden Stufenzuständen auf, als ein vielverasteltes 
Zweignetz. So ist lu vermuten, daß auch ein endgültiges Bild 
dieses Stammbaumes der roten Rasse im wesentlichen nur zwei 
Starke Zweige der Familieü- und Staatsverfassung aufweisen 
wird, entsprießend aus dem vorauszusetzenden Stamm der Horde. 



Die gleichen Fragestellungen wie für Familie und St 




Glauben und Sprache, sind für äie anderen Sonderbezirke des 
Lebens der Urzeitvolker der roten Rasse für Wirtschaft und 
Geselligkeit, Familie und Klasse, Für Recht, Staats- uitd Kriegs- 
kunst im Bereich der gesellschaFiüchen Ordnung, für Kunst 
üijd Sprache, Tanz-, Ton- und Dichtkunst, für Wissen, Werkzeug 
und Heilkunde im Bezirk des geistigen SchaPFens, für die Form 
der Persönlichkeit in beiden Gebieten notwendig. Eine Zu- 
sammenfassung der Antworten wird ein neues Gesamtbild dieser 
Familie von Urzeitvölkern ermöglichen, wird zur Herstellung 
von letzten Charakteristiken der einzelnen Teilgruppen, der 
Kolumbianer, der Nordostaitierikaner usf. führen, wird Einheit 
und Entwicklungsgang der rcten Rasse überhaupt erkennen 
lehren, wird die auswärtigen Beeinflussungen durch Fremde 
Rassen leichter ausscheiden lassen. 

Erst wenn allen Rassen und Völkergruppen der Urzeitstufe 
die gleiche Behandlung zuteil wird, ist der Boden geschaffen 
für eine zweite, höhere Schicht der Zusammenfassung, für eine 
Vergleichting dieser Menschheitsteile zuerst In Hinsicht auF die 
einzelnen Entwicklungsreihen der VerFasstjng, der Famtlie, 
des Glaubens, der Kunst usf., wobei dann wieder die Ge- 
meinsamkeiten, die Besonderheiten und die Unterstufen der 
Entwicklung zu betrachten sind. Zum zweiten muß eine Ver- 
gleichung der Rassen und VÖlkergruppen als einer Reihe von 
Einheiten siatiFlnden. Sie wird zugleich die Grundlegung einer 
geschichtlichen und also wahrhaft unparteiischen Rassenlehre 
bilden. Sie wird zeigen, wie ungerecht viele Rassen angriffe 
sind, insofern sie im Grunde nicht Rassen-, sondern Stufen- 
verschiedenheiten treffen. Sie wird die von den einzelnen Rassen 
nod VÖlkergruppen innerhalb der Urzeit zurückgelegten Ent- 
wicklungsbahnen vergleichen und als Begleichungen gegeneinander 
abschätzen, sie wird Kraft oder Schwäche, Blässe oder Farbigkeit 
der einzelnen geistigen oder gesellschaftlichen Hervorbringungen 
der Rassen und der VÖlkergruppen gegeneinander abstufen, sie 
wird endlich erweisen, daß zwar die Richtung der einzelnen 
Urzeitentwicklungen die gleiche, ihre Geschwindigkeit aber, 
ihr Zeitverbrauch ein verschiedener ist. 

Wird das gleiche Verfahren für die höheren Entwicklungs- 
stufen befolgt. Für Altertum, IVlittelalter, neuere und neueste Zeit, 
die alle sich in nach oben abnehmender Völkerzahl an der Pyra- 
mide der Menschheitsgeschichte wahrnehmen lassen, so tritt zum 
mindesten in dem neueuropäischen Weltalter, bei der germanisch- 
romanischen Völkergruppe,' vielfach aber auch sonst der weit 
günstigere Fall ein, d&D die immer weiter fortgehende Ver- 



flstelung und Verzweigung des Stammbaumes der Entwicklung 
nicht mehr durch mühsame Aneinanderfügung von Stücken gans. 
verschiedener Entwicklungsbahnen und durch begriffliche Er- 
gänzung von fehlenden Zwischengliedern, von missing links za 
erschließen ist, sondern an den olfensichtlich vollzogenen, nach 
Jahreszahlen geordneten Verläufen unmittelbar abzulesen ist. 
Auf eine der Entwicklungsverzweigungen höherer und 
höchster Stufen, die sich in durchaus stammbaumhafter Form dem,. 
Blick darstellen» sei im Vorübergehen hingewiesen. Vor allem 
um einem der Einwände zu begegnen, die gegen eine derartig 
biologische Geschichtsauffassung am Öftesten gemacht werden. 
Man erklärt immer wieder, es sei völlig ungerechtfertigt, ein so, 
pflanzenhafles Wachstum menschlicher Einrichtungs- oder Vor- 
sEellungsmassen antunehmeti, wie es hier etwa für Verfassungs- 
und für Glauhensgebilde lebender Urzeitvölker geschehen ist.! 
Der Mensch handle bewußt, und nach dem Dogma der Willens- 
freiheit dürfe ihm durchaus nicht zugemutet werden, als Träger 
derartig über ihn hinauswachsender Entwicklungen zu gelten. 
Allenfalls könne derartiges für die frühen dumpferen Alter der 
Menschheit zugegeben werden, nicht aber für die höheren, 
dtiferenzierteren. Solchen Beweisführungen 
nützlich, darauf zu verweisen, daß sich im 
gut überlieferter Geschichte Entwicklungen 
die in jedem Sinne sich wie Wachstum und 



gegenüber ist es, 
hellen Tageslicht 
vollzogen haben, 
Verzweigung dar- 



stellen: so die der mittelalterlichen und neuzeitlichen Stände- 
vertretungen und Verwaltungsbehörden. 

Diese Beispiele sind für den genannten Zweck um so dien- 
licher, als es sich um Körperschaften von geringer Kopfzahl und 
von bedeutender Stellung, von persönlicher Befähigung ihrer Mit- 
glieder handelt. Denn auch in neuester Zeit, und gerade in 
ihr, liegen geschichtliche Erscheinungen vor, an deren pflanzen- 
hafter Entwicklungsfähigkeit nicht wohl zu zweifeln ist: so die 
großen wirtschafts- und klassengeschichtlichen Umbildungen der 
Arbeiterschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Hier aber, so pflegt 
man einzuwenden, lägen Massenerscheinungen vor, die von' 
gleicher Dumpfheit wie jene Urzeitverläufe, auch gleich wenig 
bewiesen für Vorgänge in der höheren Schicht, in der die 
Persönlichkeit weit mehr zur Geltung komme. Allerdings begehl 
man dabei einen Fehlschluß, dem schon grundsätzlich entgegen- 
getreten werden muß; man hält nämlich die Macht der Per- 
sönlichkeit für gleichbedeutend mit einer Ausnahmestellung, 
mit einer Art von Außergesetzlichkeit ihres Handelns. Ini 
Wahrheit aber ist eben die stärkste Persönlichkeit nicht 




i$ 

willkürliche Ablenkung, sondern in der Regel eine Beschleunigung 
der in den Händen der Massen oder der Mittelmäßigen oft nur 
sLlzu trägen Entwicklungsverläufe. Die Kraft des Einzel- 
menschen aber hat nichts £u schaffen mit der Bedingtheit und 
Verursachtheit seiner Handlungen, wie denn ein so eifriger 
Verehrer und Förderer der Persönlichkeit, wie Nietzsche, der 
iiberzeugteste Deterrninist war. Jeder Forscher bat Anlaß 
genug, Selbstbeobachtung zu üben, die Selbstbeobachtung, die 
dem geschichtswissenschaftlichen Denken ohnehin nötig ist, 
und er möclite leicht gewahr werden, wie die allermeisten seiner 
angeblich eigensten Meinungen und Gedanken durchaus zeit- 
gemäßej will sagen massenmäßige oder doch überlieferte, auf 
ilin eingeflossene sind. 

Aber eben weil man dies heute noch so häufig verkennt, 
mag es nützen, an eine Entwicklung zu erinnern, die von 
wenigen Häuptern getragen, den Niederungen der Geschichte 
enthoben und doch durchaus den Eindruck eines tierischen 
oder pflanzlichen Artenstammbaumes macht; es ist die unendlich 
vielverzweigte Stammtafel von Staatseinrichtungen, von Ver- 
fassungs- und Verwal tu ngskörpersc haften, an deren Spitze als 
Abnengebilde die curia regis des frühen Mittelalters steht. Aus 
ihr sind einmal alle Parlamente, Ständeversammiungen, Reichs- 
und Landtage hervorgegangen^ zum zweiten alle auFeinander- 
Folgenden Formen der obersten Gerichte, Verwaltungs- und 
Finanzbehörden: Hof des Königs, Hofgericht, Parlament, Ex- 
chequer, chambre des comptes, Rat des Königs, Geheimer Rat, 
Hofkammer, Kammergericht ^ Generaldirektorium , Staatsrat, 
Kabinett, Ministerium, mit allen ihren Hunderten von Ab- und 
Spielarten. Hier ist ein Muttergebilde von quallenhaFter Un- 
bestimmtheit und Unfestheit, und hier sind tausend Filiationen, 
in denen sich immer neue Tochterformen abgegliedert und ab- 
gespalten haben. Frankreich^ Deutschland, England, aber auch 
alle germanisch-romanischen Staaten der zweiten Reihe sind 
an diesem Stammbaum beteiligt, der bis in die Karlin gerzeiten 
zurückreicht und noch in unseren Tagen nicht aufhört, immer 
neue Sprossen und Äste zu treiben.' 

' Man Tergleiche vor allem Schmotters Einleitung über Behörden- 
organisaiton, Amtsvesen und Beamlentum (Acta borassica I). Ich darf 
ferner ftuT den Versuch hinweisen, den ich gemacbt habe, diesen Stamm'- 
bftum in seiner Siteren Schicht (bis gegen 1550) zu verfolgen. (Schmollers 
Jahrlsuch f. GesetTgebung XXI [1897] 57ff., I227ff,) Die umfassendste und 
gefiaueste Übersiebt über die neuere und neueale Zeit gab, wenigstens für 
die BauforTnen der obersten Siaatsbebörden der groß angelegte Vortrag 
Hintzcfi auf dem Kongreß deutscher Historiker zu Dresden 1907. 




16 



Es wird kaum in einem Bezirk der Gesellschafts- wie d 
Geislesgeschichte unmöglich sein, Stemmbäume der Formen d 
menschlichen St:haifens aufzustellen, die dem hier angedeuteted 
wahlverwandt sind. In gewissen Zweigen geschichtlicher Wissen- 
schaft ist seit Jahrzehnten, in anderen seit anderthalb Jahr 
hunderten die Arbeit nach diese tn Grundsatz geordnet: dif 
Geschichte der Baultunst, die des Rechts, die der Sprache leuch^ 
ten in diesem Betracht hervor. Aber auch dort, wo dk Betrach-« 
tung des einzelnen, sei es der Einzeltat, sei es des elnzelned 
Schaffenden, dieser Bewegung Widerstand geleistet hat, wird 
deren Sieg nicht ausbleiben. So wird in der Geschichte de< 
Schrifttums ein sicherer Boden für die Würdigung des einzelnei] 
Diebfers, die heut noch ebensosehr überwiegt» wie die LebensJ 
beschreibung, doch erst dann gewonnen werden, wenn die langet 
Reihen der Entwicklung der einzelnen Dich tun gs formen her 
gestellt sind. Noch das geistige Vermögen der Größten kant 
erst dann recht abgeschätzt werden, wenn man ihr Erbgut inven-i 
tarisiert hat; selbst Goethes Wahlverwandtschaften können einen 
dauerhaften Maßstab ihres Wertes erst durch eine vollsländiga 
Entwicklungsgeschichte des europäischen Romanes im achtzehnied 
Jahrhundert erhalten. Und wo heut die Erkenntnis so vielel 
Ettizelglieder in diesen Verkettungen, so vieler Einzeleinfiüssej 
EinzeUbhängigkeiten mit Glück eingeleitet worden ist, da wirjj 
schließlich erst die Eröffnung ganz weiter Sichten die volld 
Befriedigung dieses wissenschaftlichen Bedüri^nisses herbeiführen] 

Man schelte auch nicht auf die Zertrennung der Reihen alfl 
willkürlich und allzu anatomisch, dem einen und vollen Lebeij 
-gegenüber. Denn es ist notwendig, die Teilentwicklungen zu 
übersehen, ehe der Versuch gemacht wird, den Werdegang ded 
Ganzen anzuschauen. Und es ist eine Entwicklung da, dereif 
innerstes Wesen schon eine Vereinigung und Verknüpfung alte| 
anderen bedeutet: die Entwicklung der Persönlichkeit. j 

Daß nämlich über dem Streben nach Erkenntnis der Sach^ 
zusammenhänge nicht der Einzelmensch, der starke Einzelmenscb 
vergessen werde, dafür wird eine Geschichte der Persönlichkeit 
Sorge tragen müssen. Denn nicht dies ist die iWeinung, den 
Entwicklungsgedanken als eine Gattung des geschichtlichen Kol- 
lektivismus aufzufassen : so verwandt beide Formen geschichtlicheij 
Auffassung sein mögen, ein und dasselbe sind sie nichtJ 
Tausendmal mögen die Forscher, die der Entwicklung nach-J 
spürten, auf Massen Vorgänge gestoßen sein, tausendmal mdgeif 
sie die JVlacht der Zustände, d. h, der Massenvorgänge, dort zurj 
Geltung gebracht haben, wo man zuvor irrig die Taten Einzelne. 



17 



diein wirksam sah. Aber das sei ferne, d&Ü nun etwa die 
große Tat, der große Mensch miQkflnnt werde üjid an Stelle der 
alten, in ihrer biographischen Einseitigkeit gewiß nicht haltbaren 
Losung: Männer machen die Geschichte, die neue schlimmere: 
Massen machen die Geschichte, gesetzt werde. Denn so häufig 
die Anwälte der Bevöllierungsschichten von ungeheurer Kopfzahl 
und ihrer Massenbewegungen das Feldgeschrei ausgegeben haben, 
das wäre keine frohe, sondern eine schlimme Botschaft. Wir 
würden durch sie um das kostbarste Gut der Geschichte, um die 
Verehrung der groCen Menschen betrogen. Und begrifflich liegt 
hier, bei den sozialistisch-radikalen, wie bei den bürgerlich- 
gemäDigten Vertretern des Kollektivismus, unzweiFelhaft em 
Fehlschluß vor. Die Folgerichtigkeit des Eniwtcklungsgedankens 
kann nie dadurch in Frage gestellt werden, daß sich oft, in 
bestimmten Bezirken der Geschichte — in Kunst und Dichtung 
etwa — sehr oft, als Glieder der Ursachenketten nicht sogenannte 
Zustände, richtiger Massenveränderungen, Massenvorgänge, son- 
dern die Gestalten großer Einzelner herausstellen. Tausend Schuh- 
machermeister können allenfalls leisten, was ein Schnhfabrikleiter 
leistet, aber noch nie ist glücklicherweise jemand auf den miß- 
ratenen Gedanken gekommen, die Bücher von tausend Gold' 
schnitt-Dichterlingen könnten das Werk Goethes ersetzen. Niemand 
wird das Dasein und die Schubkraft der höchsten oder stärksten 
Wellen des Meeres darum ableugnen dürfen, weil er annimmt, 
daO fiÄT ihre Entstehung die gleichen Bewegungsgesetze gelten, 
wie für die der niedersten und schwächsten. So gewiß aber 
diese Forderung dem Massengedanken, dem Kollektivismus ent- 
gegentritt, 50 gewiß soll sie auch nicht etwa ein Aufgeben des 
Entwicklungsgedankens bedeuten oder eine Rückkehr zur reinen 
Beschreibung, in diesem Fall der Lebensbeschreibung. Nicht 
darauf kommt es an, die Bildnisse einzelner Führender zu- 
einander zu häufen, sondern auch hier die Wandlung in langer 
Linie zu verfolgen, nicht Geschichte der Personen, sondern 

»Geschichte der Persönlichkeit zu geben. — 
l Neben die Einzelentwicklungen der verschiedenen Sach- 
und Persönlichkeitsgeschichten stellen sich aber Geschichtskörper 
anderer An, die, an räumliche oder an Blutsschranken gebunden, 
inaich Vereinigungen aller jener Reihen darstellen: dieGeschichten 
der Völker, Völkergruppen, Rassen, die im Grunde Sache 
der erzählenden Geschichtsforschung in verkürzten Maßen und 
zusammengedrängten Übersichten dennoch auch hier nicht fehlen 
dürfen. Auch diese Gesamtentwicklungen haben ihr eignes 
Säfteströmen und Aufwärisschießen und müssen es otfenbaren. 




I 



Es ist notwendig, sie über alle Grenzen der StuFenalter der 

Menschheit Fort zu verfolgen, sie im Längsschnitt als Einheiten ^ 
zu begreifen. I 

Aber diese Ihre Eigentümlichkeit wird nicht durch eine 
rohe Aneinanderfugung ihrer Einzelenlwicklungen, ja auch noch ' 
nicht völlig durch eine Beobachtung der Bewegungsgem einsam- ■ 
keiten dieser Einielentwicklungen aufzufinden sein, Volkstümer 
— und in etwas minderem Grade auch die ZeiiaUer, für die 
rückgreifend diese Darlegung ebenfalls gelten mag — haben ■ 
einen Hauch von Eigenheit, der sich dem Sehenden wenigstens 
viel sichtbarer und deutlicher in gewissen Zügen ihres äußeren, 
ihres inneren Wesens darbietet, als in allen Sachgeschichten. 
Zunächst im äußeren: in der Gebärde. 

Es gibt ein halb seelisches, halb sinnliches Sichgeben der 
Einzelnen wie der Gemeinschaften, das sich in einer bildhaften 
Stärke und unmißverständlichen Deutlichkeit ausprägt in der 
leibhaften Gebärde, in der Haltung, im Schrittmaß des Ganges^ 
des Tanzes und aller ihrer Spiegelbilder und Nachhalle, in Kunst 
und Dichtung, Sprache und Rede, im Schauspiel und Tonbild. 
E$ spricht eine stumme und unendlich schwer zu erlernende, 
aber zuletzt doch aufzuschlieCende Sprache; am deutlichsten 
vielleicht dort, wo die bewußten, die begrifflich zu formenden 
Gedanken sich am wenigsten einzuschleichen vermögen, so in 
Gang, Gebärde und Tanz der wirklichen, wie der von Malerei 
und Bildnerei widergespiegelten Menschen, oder in den Linien 
der Bau- und der Zierkunst, oder in den Ausdrucksmitteln, den 
Zärtlichkeiten und den SeelentÖnea befreundeter, sich liebender 
Einzelmenschen. Aber derlei Gebärde und Schrittmaß beherrscht 
auch die scheinbar entferntesten Bezirke des handelnden wie 
de$ geistigen Schaffens: es gibt noch ein Gebärde der Staais- 
kunst, es gibt noch eine Gebärde de« Philosophierens. Bismarck 
Wandelte in anderem Schrittmaß über die Bühne des europäischen 
Mflchtspiels, als Napoleon; Kants Werke haben eine so köstliche 
Bizarrerie des Vortrags, der Abschnittsteilung und noch der 
Dispositionsfehler, daß sie einer gotischen Kathedrale oder einem 
scholastischen Lehrgebäude weit verwandter sind, als etwa 
Spinozas lichter Gedankengeometrie oder der weich schwellenden, 
üppig reichen Phantasiefiille des höchsten Platon. Und wer 
will sagen, ob die im unmittelbaren oder im abgeleiteten Wort- 
verstand sinnlichen Werte der so entstehenden Gebärdenbilder 
der Völker und der Zeiten für eine zukünftige Erkenntnis der 
Geschichte nicht mehr noch bedeuten werden als die festeren 
Gefüge der Stammbäume von Staats-, Denk- und Kunstformen. 



I 



ä 



19 



Und noch ein zweites so zartes Gesamtbild wird für die 
Vollistümer — wie ebenfalls für die Stufenalter — zu scbaffen 
vonnoten sein, ein dem inneren Leben Hngehöriges: eines von 
der Seele der Völker, der Zeilen, Man hat so viel von der 
Volksseele» von der Massenspyche in der Geschichte gesprochen, 
iber ich weiß nicht, ob dabei eigentlich vorgeschwebt hat, an 
was ich denke. Es gibt Klänge der Volkslieder, so gut wie der 
höchsten Tonkunst, aus denen herauslönt, was das Zarteste, 
Eigentümlictiste eines Volkes ist. Es klingt aus der Wort- und 
Satzbetonung vielleicht ungebrochener hervor, als aus den 
Formen oder gar der Satzlehre einer Sprache. Es sieht vielleicht 
nicht im Wortlaut^ wohl aber in den Randnoten der Erlasse der 
Könige. Es ist eher auFzußnden im Satzbau oder in den Schluß- 
formeln, als im eigentlichen Inhalt der Aktenstücke. Es zeigt 
sich in kleinen Eigentiimlichkeiren der Farben und Linien, aber 
auch der StoPfwahl der Gemälde vielleicht unzweideutiger als 
in denjenigen Grundzügen von Form und Inhalt der Bilder, 
die man der Beurteilung ihres Stiles zugrunde zu legen pflegt. 
Es ist in der Anekdote der großen Menschen öfter zu ßnden, 
als in den bedeutenden Handlungen ihrer Lebensgeschichte. Die 
Gebärde selbst wird in ihrem Gesamtumfang als Zeugnis Für 
die Geschichte der Seele auszunutzen sein; di^ Haltung der 
Seele ist die innere Gebärde der Einzelnen und der Völker, so 
wie die Gebärde Nachhall und Auswirkung der Seele ist. Die 
Gebärde ist der plastische, die Seele der flüssige musikalische 
Ausdruck der gleichen GrundkraFt. Wenn man von einem Fluidum 
der Zeiten spricht, hat man dies Schwankende recht bezeichnet; 
das Wort Humor triPft die Flüssigkeil aller Seelenzusiände noch 
sicherer. Und es wird erlaubt sein, von einem Humor der 
Völker, der Zeiten zu reden, nur daß es in dem tiefsten, wuch- 
tigsten Sinne dieses proteisch wandelbaren Wortes geschehe. 

Der Vorgang der Weltgeschichte selbst, den es endlich ins 
Auge zu fassen gilt, ist zustande gekommen, freilich zuerst durch 
das Nebeneinander einer großen Zahl von ungefähr gleich ge- 
richteten, wenn auch sehr ungleich weit gediehenen Entwick- 
lungen, sodann aber dadurch, daß diese Entwicklungen sich 
tausendfach berührt, durchkreuzt, beeinflußt, gestört und selbst 
zerstört haben. Zu einem größtenteils gefesteten Geschichts- 
körper ist diese breiteste aller Gesamtentwicklungen erst seit 
wenigen Jahrzehnten geworden, eine vollkommene Geschlossen- 
heit wird sie erst in Zukunft aufweisen. Bis dahin hatten noch 
viele Gliedergruppen dieses weitesten Gesellschaftsverbandes so 
wenig Berührungen miteinander, daß man immer bis zu den 

2* 




20 




I 



Wurzeln der Anfänge der Geschichte zurückgehen müßte, um 
der Einheit dieses Gebildes innezuwerden, &n der an sicti 
trotz aller dieser Einschränkungen picbi gezweifelt werden ksnn. ■ 

Dieses so tausendfach zerspaltene, dieses unsäglich ver- 
worrene Geflecht mit einem Blick übersehbar zu machen, 
müßte möglich sein. Die Stimme aber aus jenem Nebeneinander ■ 
und diesem Durcheinander der Völkereniwicklungen würde die 
Gesamtheit der Menschheitsgeschichte ausmachen, die an sich 
allerdings, im Gegensatz zu den Entwicklungen aller Teile einen 
Verlauf von höchster und wahrhaft vollkommener Einzigkeit 
darstellt. — 

So schlüssig und überzeugend aber auch diese und viele 
andere Geflechte von Fortnen der gesellschaftlichen Ordnung 
oder des geistigen Schaffens zuletzt werden hergestellt werden 
mögen, so übersichtlich das Gesamtbild der Verläufe der Völker- 
entwicklungen und der Menschheitsgeschichte gestaltet werden 
mag, ^ wenn nicht heute, so doch nach jahrzehntelanger 
Arbeit — alle solche Verknüpfungen werden doch dem Wunsche 
bauender Wissenschaft nur wie Stoff und Grundlage ihrer eigent- 
lichen Aufstellungen erscheinen. Denn ebendies Fordert ihre 
Sendung, daß sie nirgends sich an der Aufßndung von einzelnen, 
bestimmten Vorgangsverkettungen genügen läßt, sondern daß sie 
den Erscheinungen das Gesetz ablauscht, daß sie nicht die Ver- 
läufe selbst nur, sondern die Regel dieser Verläufe aufzudecken 
trachte. 

Ein zweiter allgemeiner, ein beobachtender Teil wird sich 
diesem Amt zu umerziehen haben. Doch auch er wird auf die 
Pyramidenschichien des ersten besonderen Teils nicht ohne 
weiteres allgemeine Gesetze des geschichtlichen Werdens auf- ■ 
bauen dürfen. Er wird vorsichtiger vielmehr die einzelnen 
Gruppen der Verlaufserscheinungen prüfen und aus ihrem Was 
das Wie der Entwicklung zu gewinnen trachten. Er wird da- 
mit beginnen müssen, die Zustandsketien innerhalb der ein- 
zelnen StuFenalter miteinander zu vergleichen, und versuchen 
müssen, etwa innerhalb eines einzelnen Sachbezirks, z. B. der 
Verfassungsgeschichte, Abfolgeregeln, Verkettungsgesetze zu 
finden. Dies Verfahren aber wird durchaus nicht auf die ein- 
zelnen Reihen der Sachgeschtchte beschränkt bleiben dürfen, 
sondern auch der Persöntichkeitsgeschichte zuzuwenden sein. Ge- 
lingt es noch einmal, Reihen, Kurven der PersönlichkeitsForm 
in den Zeiten herzustellen, so ist damit schon die Aufgabe ge- 
stellt, auch der Regel dieser Reihen- und Kurvenbildung nach- 
zuspüren. 




2t 



Ein Beispiel mag auch hier das Ziel verdeutlichen. Die 
halb Staats-, halb familiengescbicbtliche Entwicklung der Ge- 
schlechterverfassung in der Urzeit, ohne Zweifel die wJchiigsie 
Erscheinung in aller GesellschaPtsgeschichte dieses Entwicklungs- 
alters läßt sich in einer Anzahl von Rassen und Familien der 
lebenden Lirzeitvölker in Staniiribaunifolge ordnen, so in Amerika, 
so noch klarer und sicherer auf dem australischen Fesilande. 
Afrikanische, mongolische^ semitische, insonderheit arabische, 
kellische, römisch-griechische, germanische Formen werden sich 
einordnen und angliedern lassen. Die Forschung wird sich 
nicht immer nur auf entwicklungsgeschichtlich zu erschließende 
Reiben zu verlassen brauchen, sie wird oFt auch überlieferte 
Zustandsfolgen herbeiziehen können, und so wird möglich sein, 
eine Anzahl von Entwicklungen des Geschlechterbaus neben- 
einander zu stellen. Vielleicht wird man eine Anzahl Grund- 
einrichtungen zu einer einzigen idealen Entwicktungslinie ver- 
binden können; sicher aber wird möglich sein, in den Ver- 
zweigungen eines Stammbaums die sehr häußg ähnlichen, oft 
sogar gleichlänßgen Entwicklungsstrecken zu vereinigen. Einem 
solchen Emwicklungsbilde aber, das zu umreißen Aufgabe des 
besonderen, beschreibenden Teils der Geschichtslehre sein 
würde, müssen sich Beobachtungen ablocken lassen über die 
Richtung und das Wie und vielleicht schon über das Warum 
der Abfolge, wenn nur überall mit der höchsten Vorsicht das 
Allgemeingültige von den Besonderheiten der Einzelfalle abge- 
schieden wird, und wenn nirgends stufenungleiche Entwicklungs- 
strecken zu Unrecht zusammengestellt werden. Immer wird 
es vor allem andern auf die Übergänge, die Umschläge, die 
Biegungen der Entwicklungslinien ankommen. Und es wird 
ledesmat von neuem nötig sein zu ermitteln, ob diese Biegungen 
aus der Entwicklungsreihe selbst oder aus irgendwelchen An- 
stÖDen oder Einflüssen von außen, von anderen Reihen her ab- 
zuleiten sind. Aber unzweifelhaft wird die Zusammenstellung 
so vieler verschiedener Einzelentwicklungen Prüfungs werk zeuge 
und UnterscheiduQgsmittel an die Hand geben ^ die Einzel- 
beobachtungen niemals zur Verfügung haben würden. 

Würde manj dies eine Beispiel wenigstens sei zu Hilfe 
gerufen, für die Entwicklungsrichtungen des beherrschenden 
Gebildes aller Staats- und Familienordnung der Urzeit, der Ge- 
schlechterverfassung eine Regel aufsuchen wollen, so würde 
man allerdings aus jener wohlgeschlossenen Kette aneinander 
passender Zustände der Amerikaner, von der schon die Rede 
war, mehr als einen Schluß allgemeiner Gültigkeit ziehen dürfen. 





Aber schon wo diese Gültigkeit beginnt, wo sie endet, würde 
sich erst aus der Verglejchüng mit allen anderen Eniwicklungs- 
reihen ergeben. Und oft kommen die räumlich am weitesten 
getrentiten einander zu Hilfe. Auf die schottische Geschlechter- 
Verfassung den Blick zu lenken, gibt uns schon der Käme Clan 
Anlaß, den man mit Recht und mit Unrecht auF ganz entlegene 
Gebilde von Blutsverbänden angewandt hat, obwohl ihr selbst 
Morgan nur eine ganz nüchtige Aufmerksamkeit geschenkt hat.* 
Aber gerade an ihr fallen zwei Eigenschaften ins Auge, die allen 
Beobachtungen widersprechen, die etwa an den Geschlechter- 
staalen der amerikanischen Urzeitvölker zu machen wären. 
Die schottischen Clane weisen zuletzt nicht die mindeste Sptir 
des Inzuchtverbotes auf, ^ das im Grunde als eines der ent- 
scheidenden Merkmale aller Geschlechterbildung zu gelten hat, 
und sie sind ferner zu örtlichen Gemetnschafien geworden, 
deren Sitze zusammenhängende und wohlumgrenzte Bezirke 
darstellen;^ auch dies im schroffsten Gegensatze zu den ameri- 
kanischen Geschlechterstaaten, deren Blutsverbände in weit 
zerstreuter Gemengelage über die örtlichen Bezirke, ja auch über 
die einzelnen Siedterschaften hin versprengt zu sein pflegen.* 
Wie wichtig ist es da nun, zu erfahren, daU es im südc>stliclien 
Australien Völkerschaften gibt, die diese beiden Eigentümlich- 
keiten, die so weit von der Grundform des Geschlechterbaus ab- 



' Br Elfit es erfitaunlicherwelse bei einer Benutzung Scottsefaer 
Romane sein Bewenden haben; eine Quelle, die um so bedenhljcher ist, 
als selbst Scotts geachicb (liehe Anschauung von den schottischen Groß- 
gescblecbtern in die Irre ging; er war noch von der allen Meinung be- 
herrscbr, die in ihnen Ausflösse des Lehnswesens sahy und die Clan- 
bäuptlinge als Lehnsherren, die ClanTnitglieiÜer aber als abhängige Hinrer- 
sassen auFFaßte. Noch verwunderlicher ist vielleicbt, daß Morgan die 
CebJetBverteilung nach Geschlechtern, die so veit von den Einrichtungen 
Beioer Irokesen abweicht, gar nicbt Aia Verschiedenheit bemerkt ba^ 
(Morgan^ Ancient Society {1877} 357f., Urgesellschaft ^1891] 301 f.) — 
^ C n rad y, Geschicbte der Clansveifassung in den ächattischen 
Hochlanden (1898) 27, vgl. dazu Andrew Lang, A Hisioryt of Scntland I 
(1900} 4, Skene, Celtic Scotland 11! (1880) 2IOff., 28iff., und für die 
entsprecbenden Verhlltnisse in Walea: Seeböhm, The tribal &y&Um in 
Wales (1895) 54ff. und Skene, Cell, ScotL HS 197 ff., für die in Irland: 
SalUvans Introduction (in O'Carry, Of the Manners and Cuslonis of 
tke Ancient Irish 1 (1873] S, CLXlIff.) und wiederum Skene, Ceti. 
Scotl. II! 135ff., I9lff. " » Adam, The elanx, septs and regiments of 
the Scottish Highiands (1908) 2-iff., dazu die Karte des Ciaubesttics. 
— * Howitts The Native Trtbes of Soatk East Australia (1904) S29f., 
257ff.: Forschungen von einer Genauigkeir und Eindringlichkeit, durch die 
die alleren Darstellungen {z. B. Brough Smyth, Tke Aboriginei of Vic- 
toria 1 ([187SJ 7Sff.) völlig beiaelte geacboben worden sind. 



23 



"weichen, ebenfalls aufweisen. Da sind» alle an der Küste des 
heutigen Staates Victoria, die Yerkla, Narrinyeri und andere, bei 
denen die Geschlechter zu örtlich geschlossenen, beieinander 
siedelnden Genossenschaften geworden sind, und ferner die 
Narrang-Ga, bei denen nicht allein diese Verörtlichung des 
Blutsverbandes zu beobachten ist, sondern ebenso auch der 
gänzliche Mangel jedes Inzuchtverbotes innerhalb der Geschlechter, 
und denen es ebensowenig an Seitenstücken fehlt. 

K Handelte es sich hier um Absonderlichkeiten, um Zufällig- 
leiten im Sinne der Entwicklungsgeschichte, so wäre es offen- 
barer Aberwitz, sich auf dieses Zusammentreffen zu berufen. 
Die Gefahr ist gar nicht gering, Formähnlichkeiten 2u benutzen, 
die, weil stufenungleich, nicht eigentlich auf gleichem Geripp 
des Baus beruhen und in Wahrheit nur der Oberfläche ange- 
hören. Hier aber steht es mit nichten so. Die Völkerschaften, 
■die diese Formeigenschaften aufzeigen, stehen vielmehr am 
Endpunkt einer langen Entwicklungsbahn, für deren zahlreiche 
Teilabschnitte eine Fülle von Beispielen aus dem sehr mannig- 
faltigen Formenschatz australischer Geschlechierordnungen bei- 
zubringen ist. Auch ist kein Zweifel an der Richtigkeit dieser 
Umordnung eines räumlichen Nebe nein anders in ein zeitliches 
Nacheinander. Gesetzt den Fall also, es lie&e sich noch sehr 
viel mehr Beobachtungs&toPT zusammenbringen und die Be- 
hauptung erweisen, daO die Entwicklungsrichtung der Ge- 
■schlechter auf Aufhebung des lozuchtverbotes uod, was sehr 
fiel minder gewiQ ist, auf örtlichen Zusammenschluß ihrer 
Glieder abziele, so wären hier schon zwei sehr wesentliche 
Stützen gewonnen. — 

H Die Beobachtung der gegenseitigen Beeinflussungen der 
Entwicklungsreihen untereinander wird zum zweiten ermöglichen, 
das Wie dieses Auf- und Ineinanderwirkens zu erkennen, wird 
lehren, wie sich diese Fäden der faniilien-^ der Staats-, der 
wirfschafisgeschichdichen Entwicklungsreihen zu dem Gewebe 
der Gesellschaftsgeschichte eines ganzen Stufenalters zu- 
sammenschlingen. Denn erst wenn der Stoff so weit zu- 
sammengebracht und von Schlacken geläutert ist, wird es möglich 
sein, an die alte Frage des geschichtlichen /Waterialisraus, an 

Bdie Behauptung der Vorherrschaft der wirtschaftlichen Ent- 
wicklung über alle anderen, wirklich gerüstet heranzutreten, 
während man sie bisher immer nur mit willkürlich gewählten 
und oft auch willkürlich genug ausgelegten Einzelbeispielen zu 
lösen versucht hat. Die eine grundsätzlichste Antwort auf dies 
Gewirr von Fragen wird freilich heute schon mit Fug geweissagt 




24 



werden dürfen: daü hier niemals die Einseitigkeit und Ein- 
tönigkeit der Ursachenverknüpfungen als Endergebnis sich heraus- 
stellen wird, die der gescbichtliche Materialismus so oft im all- 
gemeinen behauptet und nie im einzelnen bewiesen hat. Da 
überall sonst doch ein unendlich feines GeFlecht zahllos hin- 
und wieder wirkenden Fäden sich als EinscTilag und Kette ge- 
schichtlicher Ursachen und Wirkungen hersusstellf, ist in dem 
einen Fall nicht die plumpe Grohfädigkeit zu erwarten, die jene 
Geschichtsanschauung als Grundsatz fordert, mit soviel Recht 
sie auch in hundert einzelnen Verkettungen die Macht wirt- 
schaftlicher Einflüsse auF die übrigen Bezirke des Lebens der 
Völker geltend gemacht hat. 

Und so dringend die Losung dieser Fragengruppe sein mag, 
feinere Instinkte des GeschichtsTorschers werden doch ihre 
Befriedigung hei Losung anderer, in Wahrheit tieferer Rätsel 
ßnden» von denen man nur noch nicht so unendlich viel Geredes 
und Gepränges gemacht hat. Verfolgt man von einem Stand- 
punkt erfahrungswissenschaftlicher Kenntnis aus, wie er allein 
durch wahrhaft weltgeschichtliche Zusamment ragung und Be- 
wältigung des Stoffes erreicht werden katin, die Auswirkuttgen 
des Machttriebes mit dem gleichen Eifer, wie ihn die Anwälte 
des geschichtlichen Materialismus dem Erwerbstrieb zugewandt 
haben, so wird man auf ein nicht minder mannigfach gesponnenes 
Netz von Wirkungen und Gegenwirkungen stoßen, und es würde 
sich eine Formenlehre von Einflüssen der in Staatsgewalt ge- 
bundenen Macht auf Recht und Wirtschaft, auf Klasse und 
Familie, aber auch auf Glauben und Kunst und Forschung auf- 
stellen lassen, die an kasuistischem Reichtum dem des ma- 
terialistischen Geschichtsglaubens kaum nachstehen würde. 
Ingleichen müßte endlich die Gegenrechnung aufgestellt werden 
und eine Lehre von den Einwirktjngen der Formen des geistigen 
Schaffens, des Ahnens, Bildens, Forschens auf das handelnde 
Leben geschaffen werden. Es müDte etwa dem unermeülichett 
EinfluH nachgespürt werden, den der Glauben nicht auf die 
äußere Gestalt der gesellschaftlichen Ordnungen nur, nein, noch 
mehr auf ihren inneren Kern, auf die seelischen Gewalten aus- 
geübt hat^ die sich in jenen nur auswirken. Und dies alles 
nicht in dem Sinne der leichten, gelegentlichen Bemerkungen, 
die zwar allen diesen Zusammenhängen schon hier und da 
gegönnt worden sind, sondern mit einem Rüstzeug von Ant- 
worten, die einen ungeheuren ErFahrungsstofF immer mit den 
gleichen, unerbittlichgleichen Fragstellungeaabgelockt worden sind. 

Dann wird auch wieder die Erörterung einer älteren Frage 



25 



aufgenommen werden, die der nach dermsterialistischen, richtiger 
Ökonomistischen, Ausdeutung der Geschichte wahlverwandt, 
aber viel älteren Ursprungs ist: der nach den Grenzen des 
Einflusses von Boden und Himmel auf die Geschicke der 
Völker. Wohl ist dieses Grenzgebiet zwischen Erd- und Ge- 
schichtskunde von bedeutenden Geographen durchzogen und 
durchforscht worden, am wirksamsten von Ritter einst und von 
Ratzel heute, jedoch im Grunde ist dies eine Aufgabe^ die zum 
größeren Teil den Geschichtsforschern gestellt ist Denn sie 
allein sind, belehrt von den Erdkundigen über die wirkenden 
Bestandteile der BeschaFFenheit von Boden und Himmel eines 
Landes, imstande, deren Einflüssen auf das Schicksal seiner 
Bewohner nachzugehen. Und so wenig sich heute auch nur 
mit halber Sicherhett über diese Dinge wird sagen lassen, für 
Hdie Forschungsweise ist doch schon eine Regel zu erkennen: 
daß hier nur durch Zusammentragung und Vergleichung sehr 
vieler und möglichst weit verstreuter Fälle ein Ergebnis zu 
erreichen ist. Denn wie in den großen Vorgängen der heutigen 
Völkerentwicklung, denen die Statistik nahekommt, muß auch 
hier das Gesetz der grollen Zahl die im Einzelfall kaum zu- 
tage tretenden Schattierungen des Geschehens durch seine 
Vergrößerung erkennbar machen. Es ist zuletzt der gleiche 
Grundsatz, dem schon der Begründer dieser Grenzwissenschaft 
gefolgt ist: Ritter hatte sich wenigstens dies schon als Ziel 
gesetzt, die Besonderheit jedes Landes und seiner Einwirkung 
auf den Menschen durch die Vergleichung des Schicksals aller 
in ihm angesiedelten Völker in der Folge der Zeiten zu erkennen.' 
Alle diese Verknüpfungen betreffen Paarungen von zwei 
oder Verbindungen von wenigen Reihen. Eine Gegenüberstellung 
aber gilt allen zusammen: die von Sach- und Persönlichkeits- 
geschichie, wobei unter Sachgeschichte die Entwicklungsreihen 
aller einzelnen Formen menschlichen Dichtens und Trachtens, 
im Bereich des handelnden wie des geistigen Lebens, verstanden 
werden sollen. Hier findet also in dem Bauplan der Geschichts- 
lehre eine der brennendsten und zugleich rätselvollsten Streit- 
fragen aller Geschichtsanschauung überhaupt ihre Stätte: die 
Frage nach dem Verhältnis zwischen Mann und Zeit. Denn 
auch mit jener Vorentscheidung, daß dem starken Etnzelmenschen 
sein Platz in der Geschichte gewahrt werden müsse, ist nur eine 
der Vorfragen für die Aufklärung dieses Verhältnisses gelost: 

^V ^ Man vergl. die begriPnicb scharfe Abgrenzung von Ritters Anteil 
^Kbei Herrn. V^tgnert Lehrbuch die Geographie I (^ \9Q3) 22. 



die nämlich, ob nur die Zeiten, die Zustände, die Massen- 
vorgänge Glieder der Kelte der Entwicklung seien, und zwar 
im verneinenden Sinn: zugunsten der Persönlichkeit. An die 
Hauptfrage aber, die sich nun erst mit neuer Wucht erhebt, ist 
□och nicht gerührt: an die Frage nämlich nach der Abgrenzung 
der Eintlußbezirke des starken Einzelmenschen hier, der großen 
Menge dort. 

Um für ihre Beantworlung, wenn anders eine Antwort 
hier überhaupt wird gefunden werden, die Forschung recht 
geschickt zu machen, tut vor allem diese Erkenntnis not: däü 
Ergebnisse in dieser Richtung nie plumpe und in der Mehrzahl 
der Fälle auch nie ganz entschiedene sein können. Denn da 
das Leben hundert grobe und tausend Feine Fäden um die 
größte wie um die kleinste Handlung spinnt, so kann auch die 
Erkenntnis des Lebens nur zu ganz zusammengesetzten, sicher 
immer noch viel zu wenig zusammengesetzten Bildern fähren. 
So werden namentlich zwischen dem Begri^ des großen Führer- 
menschen und dem der Menge viele Zwischenstufen unterschieden 
werden müssen. Sie werden vermutlich im Bezirk der Gesell- 
schaftsgeschichte sehr zahlreich ausfallen, während von Goethe 
bis zum kleinen Dichtersmann vielleicht überraschend wenige 
Grade, wenn auch in um so weiter gemessenen Sprüngen, 
abwärtsführen. Um hier rasch zu schlüssigen Erkenntnissen zu 
kommen, wird es vorläufig vermutlich am dienlichsten sein, einen 
sachlich, zeitlich und räumlich ganz begrenzten Bezirk bis ins 
letzte hinein zu untersuchen, während andere Teile dieses 
unendlich gliederreichen Fragen Zusammenhanges freilich nur 
durch weite Übersichten zu lösen sein werden. — 

Neben die Einzelentwicklungen der verschiedenen Sach- 
geschichten und der Persönlichkeitsgeschichte treten auch hier 
wiederum die Geschichten der Völker, VÖlkergruppen, Rassen. 
Das Ineinandergreifen dieser viel zusammengesetzteren Gesamt- 
entwicklungsreihen muß der Gegenstand eines dritten Unter- 
teils der allgemeinen Entwicklungslehre sein. Für die mannig- 
fachen Formen der Berührung und Kreuzung, der feindlichen 
wie der freundlichen, der Beeinflussung^ der Angliederung und 
der Einverleibung, der Störung und der Zerstörung der einen 
Gesamtentwicklungen durch die anderen müssen sich Regeln 
und Grundsätze aufspüren lassen. Allerdings wird es hier Vor- 
gänge geben, die in vielen ihrer Teile in aller Geschichte ein 
hohes Maß von Einzigkeit behaupten: so wie der für die ger- 
manischen Völker so folgenreiche und schicksalsschwere einer 
unablässigen geistigen Beeinflussung durch di^ Gesittung zweier 



27 



toten Völker, der Griechen und der Römer. Immerhin fehlt es 
auch hier nicht an teilweise ähnlichen Seitenstücken: die Wirkung, 
die die babylonische Wissenschaft auf alle späteren auch im Tode 
noch ausgeübt hat, gehöre in die gleiche Gruppe, wie ungleich 
sie auch an Wucht und Allseiligkeit der Beeinflussung jener 
anderen Verkettung sein mag. Die minder aufKUige und doch 
so folgenreiche Beeinflussung der Romer durch den Geist der 
Griechen findet in der der Assyrer durch die Babylonier, in der 
der Japaner durch die Chinesen Ähnlichkeiten. Es wird hier 
am dringlichsten sein, die Grenze zwischen Einzigkeil und Regel- 
hafeigkeit in jedem einzelnen Falle auf das sorgfältigste zu 
scheiden. Immer von neuem aber gilt der Satz, daQ der Be- 
sonderheit der zusammengesetztesten, also feinsten, also einzig- 
artigsten Vorgänge durch eine Feststellung des Kerns von Regel- 
haftigkeit in ihnen nicht nur kein Eintrag geschieht, sondern 
daß sie dann erst mit GewiSheil und Gewähr der Dauer aus- 
gesprochen werden kann. Und vielleicht ist es möglich, zuletzt 
seihst dem Gesamtvorgang der Menschheitsgeschichte, dessen 
Einzigkeit ganz unbezweifelt ist^ und dem deshalb durch Seiten- 
stücke nichts abgewonnen werden kann, Regeln seines Ver- 
laufes abzulocken. Denn einmal wäre möglich, daß er mit dem 
Werdegang gewisser seiner Glieder, etwa dem sehr zusammen- 
gesetzter Völkergruppen, Ähnlichkeiten hatte, sodann könnten 
sich innerhalb seiner eigenen Geschichte Teilstrecken finden, 
deren Entwicklungen miteinander Gleichläufigkeiten aufwiesen. — 
Aber noch ist die Anzahl der Möglichkeiten nicht erschöpft, 
die sich der teilenden, reihenden Regelsetzung in der Geschichte 
eröffnen. Denn zum vierten ist notwendig, allen den Längs- 
schnitten, die die Einzelentwicklungen der Sachgeschichten und 
die Gesamtentwicklungen der VÖlkergeschichten, ja die noch die 
Menschheitsgeschichte selbst darstellt, Querschichten an die Seite 
zu stellen, die alle jene Längsreihen durchschneiden. Es sind 
jene Entwicklungsstrecken, nach deren Ordnung der hesondere, 
.beschreibende Teil der Geschichtslehre hier umrissen worden 
tlst: die Stufen, die Lebensalter der Völker^ der Menschheit. Sie 
weichen vielleicht voneinander ab in höherem MaO, in tieferem 
Sinn als die Rassen und Volkstümer. Und da es sich hier um 
die zusammengesetztesten Gebilde handelt, von denen die Ge- 
schichte überhaupt weiß, so macht sich hier stärker als irgendwo 
das Bedürfnis nach formelhafter Zusammendrängung ihrer Wesens- 
eigentiimlichkeiten geltend. Denn, man überblicke nur, jedes 
dieser Lebensalter der Menschheit umfaßt eine Anzahl von 
Volks-, wenn nicht von Völkergruppenentwicklungen, von denen 



h. 



28 



jede wiederum ein Bündel von Sachgescbichten und Persön- 
lichkeitsentwicklungen darstellt. Nun werden sich allerdings 
bestimmte von diesen Ein^clreitien $o weit aus dem Gesamt- 
bilde herausheben, daß sie die kennzeichnenden Merkmale für 
das Ganze darbieten. So wird man heut schwerlich für alle 
IVlittelalter, die europäischen wie die außereuropäischen» ein 
hervorstechenderes Kennzeichen finden, als die Adelsherrschaft 
ihrer Staats- und Klassenverfassung und die Mystik ihres 
Glaubens. Aber einmal ist nicht sicher, ob unsere Wahl dieser 
schärfsten Profile eine endgültige ist; es ist eher wahrscheinlich^ 
daü sie eine sehr zeitgemäße und deshalb allzu zeitgemäße ist. 
Und sodann tut gerade hier eine Kennzeichnung des Ganzen 
nach einem oder zwei Teilen unserem Bedürfnis nach voll- 
kommener Bemeisterung der noch so zerstreuten Stoffe nicht 
ein volles Genügen. 

Einen Versuch, hier Ersatz zu schaffen, bedeutet der von 
dem Schreiber dieser Zeiten seit Jahren verfocbtene und be- 
gründete Vorschlag, für das handelnde, wie das geistige Leben der 
Völker gemeinsame "Wurzel Vorgänge des gesellschaftsseelischen 
Gebarens der StuFenalter aufzuspüren^ aus denen letzte und 
ursprünglichste Bewegungs- und Entwicklungserscheinungen in 
allen Bezirken dieses doppelten Seins der iUenschhett sich 
erklären lassen: so insonderheit den, daü auf den einen Ent- 
wicklungsstrecken der Einzelne sich als das handelnde Ich 
der Gemeinschaft, als das schauende Ich der Umwelt ein- und 
unterzuordnen trachtet^ auf den anderen aber sich ihnen zu ent- 
ziehen oder sie zu beherrschen trachtet. Für die europäische Ge- 
schichte läßt sich mit einiger Sicherheit wahrscheinlich machen, 
daß die Urzeit eine Stufe übervt'iegenden Gemeinschaftsdranges 
ist, das Altertum aber — das Zeitalter der kretisch -mykeni sc heu 
Gesittung in Griechenland, das vor Gründung des Freistaats in 
Rom, das der Merowinger und Karlinger bei den Germapen — 
mit seiner starken Königsherrschaft eine der gewaltigsten Aus- 
wirkungen des Persönlichkeitstriehes hervorgebracht hat. Jede 
Ausdehnung vergleichender Forschung auf die außereuropäischen 
Völker bringt neue Beweisstücke dafür auf, daü die lebenden 
Urzeitvölker hundert Formen des Gemeinschaftsgedankens, sei 
es in der Volksherrschaft des Staates, sei es in der Gemein- 
wirlschaft von Jagd, Fischfang und Ackerbau, sei es in den 
Familienzusammenhängen der Geschlechter, Großgeschlechter 
und Bruderschaften, ausgebildet haben, daß ihre Kunst im selben 
Sinn ein Aufgehen des Ichs in der von ihm mit möglichster 
Treue nachgeahmten Natur bedeutet, daß die Anfänge ihres 



26 



fr 



Forschers die gleichen Wege gehen, und daß noch ihr phantasie- 
siärkstes Schaffen, das im Glauben und in der heiligen Sage 
dem Willen und Ziele nach nie etwas anderes erstrebte, als 
Verständnis und Ausdeutung der Wirklichkeit. Ingleichen mehren 
die Bilder auCereuropäischer Altertums- und Miitelaliervölker 
cur die Überzeugung, daß die Stufe des Altertums voll ist 
-von Zeugnissen überstarker Ichbetätigung in Staat, Kunst und 
Gisuben, und daß das Mittelalter vornehmlich bedingt und 
bestimmt i$t von einer Haltung des Einzelnen, auch des starken 
Einzelnen, die in Staat und Stand in der Körperschaft aufgeht, 
im Glauben gar das mächtigste Gebilde des geistigen Persön- 
lichkeitsdranges ^ den höchsten und einzigen Gott auflöst in All 
und Allbeseelung. Wenigstens in der griechischen und in der 
germanisch-romanischen Entwicklung stellen dann neuere und 
neueste Zeit, wenn man nur die gröbsten Umrisse der 
Bilder in Rechnung zieht, Hebungen des PersÖnlichkeits- 
dranges — die erste — und des Gemeinschaftstriebes — die 
zweite — dar. 

Gesetzt den Fall, diese Aufstellung könnte auch in den 
Nebenlinien als überwiegend gültig nachgewiesen werden, so 
würde sich hier eine Kurve von bedeutungsvoller Regelmäßig- 
keit ergeben. Vor allem ist auffällig, wie bestimmte Formen 
des gesellschaftlichen Verhalteos wiederkehren. Das Mittelalter 
ist der Urzeit im selben Sinne verwandt, wie die neuere Zeit 
dem Altertum. In den staatlichen und ständischen Einrichtungen 
rinnern die Körperschaften des Mittelalters oft so auffallend 
an die der Urzeit und heben sich gemeinsam so deutlich gegen 
die dazwischenliegenden Schöpfungen der Altertumsstufe mit 
ihrem Königs- und Beamtengepräge ab, daß sie sich nicht selten 
wie Zeichen einer Wiedergeburt der Urzeit ausnehmen. In* 
gleichen hat die Mystik des Mittelalters unendlich viel nähere 
Verwandtschaft zu dem Geister- und Allseelenglauben der Ur- 
zeit, als zu den scharf umrissenen Göttergestaltea des Alter- 
tums, das auch in den Reichen der Himmlischen die Königs- 
herrschaft beraufführte. Die Verwandtschaft zwischen dem starken 
Königtum der Altertumsstufe mit der unumschränkten Eimel- 
berrschaft der neueren Zeit ist ebenso offensichtlich. Und noch 
die neueste Zeit nimmt teil an diesen Gleichklängen: ihre 
Völksherrschaft ordnet sich oft genug der der Urzeit zu, ihr 
Sozialismus erscheint fast wie eine Erneuerung der Gemein- 
wirtschaft der Urzeit, ihr Genossenschaftsgeist gibt sich oft be- 
wußt, öfters noch unbewußt wie eine Wiederbelebung des 
Mittelalters. Die starke Unterströmung des Casarismus und 




30 



Imperialismus aber schließt sich der Reihe der starlten Konigs- 
herrschaften des Altertums und der neueren Zeit völlig an. 

Oft reichen diese Ähnlichkeiten bis in die Einzelheiten des 
äußeren Gepräges, und aus den Bezirken des Rechts und der 
Wirtschaft, der Kunst und Dichtung lassen sich zahlreiche 
Seitenstüclie anfügen. 

Gelingt dieser Versuch einer gesamtgeschichtlichen Formel- 
gebung, was sich endgültig erst nach einer umfassenden Auf- 
arbeitung des weltgeschichtlichen Stoffes würde sagen lassen, 
so -wäre damit eine Sicht über die Geschichte erÖPFnet vom 
Standpunkt des gesellschafiUchen Lebens: das geistige Schaffen 
ist hier wie das hEndelnde unter dem Gesichtswinkel des Ver- 
haltens des Ichs zur Außenwelt gesehen« die Fragestellung ist 
letzten Endes dem gesellschaftlichen Sein des Einzelmenschen 
entnommen^ Es ließe sich denken« eine ähnlich umfassende 
Anschauung aufzusuchen vom geistigen Wesen des Ichs her. 
£s könnte zunächst für Glauben, Bilden und Forschen einer 
Stufe eine letzte Formel aufgesucht werden, es könnte geprüft 
werden, ob sie nicht auch für die Hervorhringungen in Staat 
und Klasse, Recht und Wirtschaft Gellung hätte. Es dürften 
auch hier nur die allgemeinsten Eigenschaften ins Auge gefaßt 
werden. So ist man versucht, das geistige Gepräge der Urzeit 
In der Enge und Begrenztheit des Sehens, it) der Beschränkt- 
heit auf nächste Ziele zu erblicken. Die Kunst und das noch 
nicht in Glauben und Forschung geschiedene Erkennen trägt 
diesen Stempel nächster Enge. Das Reich der Toten ist jenseits 
des nächsten Flusses, die JUenschheit und die eigene Völker- 
schaft ist eines, und so einbezogen auch ist die geistige Leistung 
bei Abschluß der staatlichen, der Blutsverbände. So weist in 
schroffstem Gegensatz dazu und in unzweideutiger Klarheit das 
nächste Stufenalter der Menschheil, das der Altert ums Völker, 
den Grundzug zu weitem Sehen und riesenhaftem Planen auf. 
Der Umfang der Reiche, die Macht der Könige, die Größe der 
WirtschaFtsbet riebe, die Gestalten der Götter, die Maße der 
Tempel, der Blick der Forscher in Weltall und Himmelsraum, 
sie alle wachsen ins Riesenhafte: Geist und Gesellschaft er- 
scheinen in Hinsicht auf die Weite des Wurfs der planenden 
Gedanken ganz von gleicher Art. Die Mittelalter, die europaischen 
wie die außereuropäischen, sind auch in diesem Betracht be- 
stimmt durch eine Rückbiegung zur Urzeit: jetzt zieht sich 
das Ausmaß der Entwürfe wieder ins Enge. Wohl strömt die 
Mystik aller Mittelalter ins AH, aber sie sucht Welt und Gott 
in das Ich zurückzuziehen und ihre Glaubensgemeinschaften, 



31 






die Klösier der buddhistischen und der romanisch-germanischen 
I Mönchsorden ebensosehr wie die Mysteriengesellschaften der 
^■Griechen dieser Stufe rücken ganz nahe zusammen zu esoterisch 
^^ausschiießticher oder traulich freundschaftlicher Enge. Die 
gotische Kathedrale ist Sinnbild und Gleichnis dieser Bemessung 
der Glaubens Vorstellung: dem Himmel, dem Gotte zu reckt sie 
sich wohl ins Unendliche und behält^ ja steigert die Maße des 
voraufgehenden Alters, aber unten im Grunde rückt sie die 
Mauern zusammen, gleich als könne sie die Gemeinschaft der 
Gläubigen nicht eng genug vereinen. Die alten Königreiche 
aber zerfallen an hundert Stellen: der Staatsgedanke fliegt nur 
mehr bis zu den Grenzen des eigenen Gaues, der Kleinstaat ist 
das Ergebnis, sei es, daß er sich ganz durchsetzt, sei es, daD er die 
GroDstaateti der Altertümsstufe von innen her teilt und spaltet. 
^m Und wieder schwingt das Pendel der anderen Seite zu: 
"die neuere Zeit ist in dem alt- wie in dem neueuropaischen 
Weltalter eine Entwicklungsstufe weiter Würfe, großer Plane. 
kopas und Michelangelo, Aischylos und Shakespeare sind 
riesenhaft mehr noch in ihrer Leidenschaft^ wie in ihren 
Maßen. Die großen Daseins forscher beider Neuzeiten haben 
Gedankendome der höchsten Abmessungen erbaut. Das Tat 
gewordene Staatsdenken ist vollends von demselben Drang zu 
Weite und GröÜe beherrscht: der Staatsgedanke erfuhr in beiden 
Wellaltern nach aul^en wie nach innen die stärkste Steigerung. 
Die eigentümliche Zwiegespaltenbeit der neuesten Zeit macht 
sich auch in dieser Richtung und in beiden Weltaltern geltetid, 
wenn auch in hundertfach gestuften Abschattungen, Aristoteles 
und Kant sind Cüsaren des Denkens, ihre Forschungsgebäude 
von nie erhörter Ausdehnung; die beschreibende und erfahrende 
Wissenschaft des Hellenismus wie des 19. Jahrhunderts aber 
sucht alles Erforschbare sich in nächste Nähe zu bringen und 
zieht den Kreis jedes Arbeiters so eng wie möglich. So auch 
trägt die Kunst der Klassizismen beider Weltalter — auch die 
Aphrodite von Melos ist eine Erneuerung alter Klassik — ■ weite 
nd große Züge, während die Naturalismen beider ihr Glück in 
der Versenkung ins Einzelne und Enge suchen. Im Staatlich- 
wirtschafilichen aber vertreten Cäsarismus, Imperialismus, Groli- 
betrieb hier, Demokratie und Sozialisrnus, auch das spätrömische 
Genossen Schafts-, das heutige Zunftweseti dort, die gleiche Zwie- 
gespaltenheit eines einmal ins Größte schweifenden Plauens 
uad Denkens und dann wieder der Versenkung in die Enge, der 
die Genossen nahe aneinanderrückenden Einung, einer den 
Nächsten liebend umfassenden Gesellschaftsgesinnung. 




32 



Allerdings, und dies sei sogleich zugestanden, alle diese an 
sich geistigen Formen des Planens und Deniiens, sei es auf das 
Schauen^ sei es auf das Handeln gerichtet, möcbten in ihrer 
letzten Wurzel als Auswirkungen jener tieferen gesellschafts- 
seelischen Grunderscheinungen anzusehen sein. Denn eben in 
allen den Stufe^i altera, die gehoben und getragen sind von dem 
Umsichgreifen der großen Persönlichkeit, ■weiten sich die Würfe, 
höhen sich die Plane, in allen denen aber, die beherrscht sind von 
dem Gemeinschaftstrieb des anlehnungs-, hingäbe-, zusammen- 
schlußbe dürft igen Einzelnen, ziehen sie sich ins Enge, Be- 
grenzte, Trauliche ein. Aber einmal ist dadurch der Wert 
dieser Formelgebuag rein geistigen Gesichtswinkels nicht in 
Frage gestellt, und sodann wird möglich sein, diesen iVla&stab 
noch von ganz anderen Blickpunkten her anzulegen. 

Und sicher wird es gelingen, diesen Formelfolgen, die 
die Gesamtheit ganzer Entwicklungsalter zu erfassen trachten, 
noch andere an die Seite zu stellen. Denn solche UmriQ- 
zeichnungen können immer nur einseitig sein, da sie ja von 
einem bestimmten Standpunkt her aufgenommen sind. Sie 
bedürfen daher um so mehr der Ergänzung durch andere ihres- 
gleichen, die dann ebenso einseitig ausfallen müssen, die aber 
in ihrer Gesamtheit und mit jenen im Verein zuletzt ein Ganzes 
ergeben müssen, das dem Zweck der Vereinfachung und Zu- 
sammendrängung des Anblickes der Geschichte nützt, ohne ihr 
mehr Vergewalfigung, als billig, anzutun. Denn ohne einen 
gewissen Grad von Vergewaltigung wird freilich keine Forme! 
aufgestellt werden können; sie liegt im Wesen jeder Verein- 
fachung. Und CS ist das Recht der Formel, d. h. der letzten 
Verkürzung eines Wissensstoffes, abweichende Nebenzüge über 
den Grundlinien zu vernachlässigen, ein Recht, von dem die 
Geschichtslehre um so freier wird Gebrauch machen dürfen, je 
gewissenhafter sie im Gegensatz zu ihren obersten begrifflichsten 
Ausgipfelungen in der Aufstufung ihrer Ergebnisse die unteren 
erfahrungsmäßigeren Schichten mit aller erdenklichen Fülle der 
Eiozelformen ausstattet. 

So ist nicht ausgeschlossen, vielmehr wahrscheinlich, daß 
es gelingt, vom Standpunkt der Seele und von dem der Gebärde 
her, wie für die Volkstümer und Völkergruppen, so für die 
Stufenaller der Gesamtgeschichte, allgemeine Anblicke zu ge- 
winnen, die sieb vielleicht sogar zu Formeln zuspitzen lassen. 
Doch sei dies Für jetzt dahingestellt. Ein ursprünglichstes Mittel 
der Kennzeichnung dieser großen und weitverzweigten Ent- 
wicklungsabschnitte wird auch bei Wahrnehmung aller dieser 



33 



PormelmögllchkeLten nicht vemach lässig! werden dÜTfen: die Zu- 
sammenfassung aller Grenzmerkmale der Einzelentwicklungen.^ 
Denn immer nur aus einem Zusammenwirken von Einseitigkeit 
und Vielseitigkeit, von helle Lichter setzender und gleichmäßig 
Hell und Dunkel verteilender Farbetigebung wird dem Kern der 
Dinge beizulcommen sein. — 

Jeder begrifflichen, Jeder bauenden Wissenschaft ist ihrem 
Wesen nach der Wunsch eingeboren, nicht allein ihre letzten, 
nein, alle ihre Ergebnisse zu formelhafter Vereinfachung und 
Verkürzung zuzuspitzen. Deshalb wird eine letzte Aufgabe der 
Geschichtslehre sein müssen, in einem Mikrokosmus von Regeln 
noch einmal alle die Beobachtungen wiederholten Geschehens 
zusammenzufassen, die zu machen ihr überhaupt verstattet ist. 

■Sie wird zu geschichtlichen Gesetzen vordringen müssen, 
t Die Frage, ob es erlaubt sei, die Wiederholtheiten des 
geschichtlichen Geschehens dann Gesetz zu nennen, wenn ihre 
Ausnah mslosigkeit erwiesen oder mit einem gewissen Maß von 
■Berechtigung vermutet werden kann, soll hier nicht von neuem 
"erörtert werden. Sie soll, da ein großer Forscher, wie Schmoller, 
der zwei weite Wissensgebiete übersieht und beherrscht und 
dazu, ursprünglich ganz Empiriker, jahrzehntelang gegen die 
Gesetzesauffassung der älteren Volkswirtschaftslehre gefochten 
hat, sich Für die Gesetzmäßigkeit ausspricht,- und da einige der 
Ersten unter den Denkern unserer Tage, wie Dilthey und Wundt, 
sich teils in analogen, teils in gleichen Fällen für den Gesetzes- 
rang dieser Entwicklungsregeln ausgesprochen haben, als ent- 
schieden^ im bejahenden Sinne entschieden angenommen werden. 
Der strittige Punkt betrifft ohnehin eher den Namen, als das 
Wesen der Sache, wenn auch ganz gewiß die herkömmliche 
Meinung irrt, die zwischen Geistes- und Naturwissenschaften 

»die für das Gesetz eatscheideode Grenze ziehen will. 
Es ist eine Auffassung möglich, die ganz einfache Vorgänge, 
womöglich nur die aus einer oder wenigen Ursachen und einer 
oder wenigen Wirkungen bestehenden Vorgänge unter das Gesetz 
ziehen will: Vorgänge, wie die, mit denen die Physik und die 
HChemie zu schaffen haben. Sie lehnt aber ab, so zusammen- 
^gesetzte Vorgänge, wie die Eniwicklungsverläufe, die etwa 
Biologie, Physiologie, Geologie, Sternkunde und Geschichte 



i 



Ein vorläuflger Versuch dieser Art steht in dem Buche: Die 
Völker ewiger Urzeit I (1907)76— 78. — ^ SchmoIIer, Jahrbucb f. Geseiz- 
lebung XXIX (1906) 739ff., dazu Scbmoller, Allgemeine VolkswirtscbiFlB- 
khre 11 (»-« 1904) ll24ff. 



L 



34 



behandeln, auch dann dieser Ehrenbezeichnung für wert zu halten, 
wenn die Regelhaftigkeit erwiesen ist. Hierzu ist zu bemerken, 
daQ man an der Zusammenstellung einiger Zweige der Natur- 
wissenschaft mit der Geschichte nicht AnstoO nehmen darf, 
denn da sie atle EnlwickEungs Vorgänge beobachten, im Grunde 
also geschichtlicher Art sind, so stehen sie insofern der Geschichte 
näher, als der Physik und Chemie und einer exaktesten Seelen- 
kunde, die immer nur mit scharf umgrenzten Einzel Vorgängen 
sich zu schaffen machen. Die andere Auffassung aber setzt 
VerEaufäbeobachtungen an Wert den Einzelbeobachtungen gleich 
und sieht in der Zusammengesetztheit und Undurchdringlichkeit 
dieser Verläufe kein Hindernis, ihre Gesetzmäßigkeit dann zu 
behaupten, wenn sie sie regelmäßig wiederholt flndet. Und sie 
wird zwischen der Entwicklungsgeschichte eines Sonnensystems 
und der eines Siaatensystems vielleicht nicht einmal allzugroDe 
Unterschiede in Hinsicht auf die Vielfachheit der sie zusammen- 
setzenden wirkenden Teile mutmaßen, über die im übrigen 
Bestimmtes, ZahlenmäDiges auszusagen in beiden Fällen gleich 
mißlich ist. 

So mag die Grenzlinie, die hier zu legen ist, weit eher durch 
die Reiche der Natur- und der Geisteswissenschaften hindurch, 
als zwischen ihnen hergehen. Entscheidend bleibt für die 
Frage, ob Gesetz oder nicht, nur der Begriff des Gesetzes selbst 
Und in ihm ist durchaus nicht die Forderung der Unzusammen- 
gesetztheit, der Unteilbarkeit der unter das Gesetz gestellten 
Vorgänge enthalten. Er fordert immer nur die Notwendigkeit 
des Geschehens, genauer gesagt, die AusnahmsLosigkeit des 
Bishergeschehenseins. 

Sucht man aber im allgemeinen festzustellen, welche Gruppen 
geschichtlicher Vorgange denn unter das Gesetz fallen sollen, 
so ergibt sich sogleich, wie notwendig es ist, der nahen Ver^ 
wandtschaft von RegeihafEigkeit und Gesetzmäßigkeit eingedenk 
zu sein. Alle die auffälligsten Besonderheiten und Hnzigkejten, 
die eine vergleichende Geschichte und eine auf ihr ruhende 
Geschichtslehre nicht nur nicht verwischen, sondern vielmehr 
erst recht deutlich hervorheben werden, weit deutlicher, weit 
sicherer als jede beschreibende und betont individualistische 
Geschichtsauffassung, die Besonderheiten der Volkstümer, Rassen, 
Zeiten, die Einzigkeiten gewisser größter Handlungen, gewisser 
größter Menschen, sie scheiden schnell aus dem Bereich der 
Gesetzmäßigkeit. Nicht als ob nicht tausend gleichsam durch 
sie hindurchleitende Entwicklungsströme vorhanden wären, an 
deren Gesetzmäßigkeit nicht zu zweifeln ist, nicht, als ob nicht 



35 



C fiir 



noch Michelangelo, Shakespeare und Goethe in sehr wichtigen 
Teilen ihres Schaffens, ihres Wesens unter die manaigrachsten 
Gesetze der Entwicklung fielen, aber es bleibt ein Gewaltiges 
als ihr Rest, der in nichts anderem aufgeht. Kein Zweifel, 
auch dieser Rest steht nicht außerhalb des Gesetzes: aber die 
Erkenntnis der in diesem höchsten Kreise gültigen Regeln ist 
deshalb so schwer und vielleicht für immer unzugänglich, weil 
,die Zahl der Fälle, die unter sie gehören, so gering, so oFt nur 
»ins ist: keine Regel aber laßt sich auf einen Fall aufbauen. 
Und schon bei den Männern der zweiten Reihe wird jener Rest 
, kleiner und immer kleiner^ ihre Besonderheiten werden immer 
inwichtiger. Denn freilich einzig im malhematischen Sinn ist 
noch der geringste Tagelöhner, und eben hier liegt der folgen- 
schwerste Trugschluß einer Geschichtsauffassung, die so 
individualistisch in ihrer Beschreibung vorgeht, daß sie sich noch 
gegen die allgemeinste Zusammenfassung sträubt und jede 
kleinste Stadt-, jede ZunFtgeschichle für einzigartig erklärt. Es 
gibt nämlich tausend und aber tausend Formen der Einzigkeit, 
auf die gar nichts oder so gut wie nichts ankommt, sie sind so 
subaltern und gleichgültig, daß sie z:u übersehen nicht ein Schaden, 
sondern ein Vorteil, ja, eine Notwendigkeit ist. Sehr viel Grade 
leiten von dieser untersten bis zu jener obersten Staffel der 
Leiter aufwärts, und was von der Persönlichkeitsgeschichte gilt, 

^fcst von der Sachgeschichte aller Gattungen, wenngleich in ganz 

^■Verschiedener Bemessung, auszusagen. 

B Immer wieder stößt man, wie es der hundertfach abge- 
schalteten Wirklichkeit gegenüber nicht wundernehmen kann, 
auf ein langsames Ineinanderfließen, ein vielgradig abgestuftes 
Aufsteigen von Besonderheit zu Gesetzmäßigkeit. Daraus läßt 
steh eine Grundregel für jede Formung von Geschichtsgesetzen 
ableiten, der etwa entsprechend, die sich schon für das Ver- 
hältnis von Mann und Masse, Genius und Zeit in Geltung 
fand: es darf nicht eine Gegenüberstellung von Besonderheit 

Pund Unregelmäßigkeit hier und Gesetz dort stattßnden, sondern 
ts muß ein Weg aufgesucht werden, der langsam von dem 
einen zum andern Lager hinüberführt, der auch allen Zwischen- 
^_stufen zwischen den Endpunkten der Leiter gerecht wird. 
^B Es müßte von den ganzen und halben Einzigkeiten der 
Geschichte der Ausgang genommen werden. Es müßten dann 
die Ähnlichkeiten, Gleichläufigkeiten, Gleichheiten aufgesucht 
werden, die vielleicht nur zwei, dann die mehreren, endlich die 
vielen Entwicklungen gemeinsam wären. Dann erst» am Schluß 
^Ener längeren Bahn, würde das Ziel der wirklichen, ausnahmslos 

3* 




I 



statthabenden Gesetzmäßigkeit erreicht sein. Und dem Forscher, 
der bis hierher gelangte, würde nicht erlaubt nur, nein geboten 
sein, riickwärtsblickend den Maßstab dieser wirklichen Gesetze 
und ihrer Strenge an jene anderen Kegeln mit begrenztem 
Geltungsbereich zu legen. 

Heute soll der vor eitiigeti Jahren gemachte Versuch, eine 
Anzahl von Entwicklungsgesetzen aufzustellen, nicht erneuert fl 
werden. Er war auch damals nicht in dem Gedanken unter- ^ 
nommen worden, einer endgültigen Formung vorzugreifen, was 
gänzlich unstatthaft gewesen wäre, sondern mit der Absicht^ 
durch Vorwegnahme einiger halbwegs sicherer Ergebnisse einer ' 
späteren vergleichenden Forschung an wenigen Beispielen nurH 
Art und Möglichkeit solcher Gesetze aufzuzeigen.^ Nur dies 
sei erklärt, daß eine Abstufung, die sich auch noch innerhalb 
der Gesetze wird vornehmen lassen, ganz im selben Sinne wie 
jene der Regeln wird angelegt werden müssen. 

Die Gesetze ersten Grades werden Fl:glich nur die AuF- 
einaoderFolge zweier bestimmter Zustände, richtiger Ereignis^- 
gruppen betrcFTen — etwa, daß auf die Horde stets die in 
Sonderfamilien zerfallende Siedlerschaft Folgen muß, oder daß 
aus der Vereinigung zweier Horden stets das Doppelgeschlechl 
und die zweigeteilte Ordnung eines Geschlechtsbaus hervor- 
gehen muß — zweier Ereignisgruppen also, die an eine bestimmte 
StuFe, ja, an eine bestimmte Entwicklungsstrecke gebunden sind. 
Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß gewisse Aufeinanderfolgen 
sich in mehreren Stufen wiederholen. Aus dieser Wiederholung 
müßte ein Schluß gezogen werden auf ein Gesetz etwas höherer 
Ordnung. Ebenso müßte möglich sein, aus ganzen Gruppen 
von dem Gesetze ersteti Grades allgemeinere Regeln abzulesen: 
so etwa die immer sich wiederholende Aufeinanderfolge von 
Zeitaltern vorwiegend wirklichkeitsnaher und vorwiegend wirfclich- 
kettsFemer Kunst- und Forschungsweisea, vorwiegend genossen- 
schaftlicher und vorwiegend individualistischer Staats- und 
Wirtschaftsordnung, und — wenn man die tieferen gesell- 
schaftsseelischen, geistigen und rein seelischen Wurzeln in Be- 
tracht zieht, aus denen alle diese Wandlungen Saft und Nahrung 
ziehen — den entsprechenden Wechsel von Altern, vorwiegenden 
Gemeinschafts- und vorwiegenden Persönlichkeitsdranges, und 
von Zeilen engen und weiten Geistes, weicher und harter 
SeelenbeschafTenheit. 




I 



' Sa bervorgehoben in der SchriFt: Der SluFenbau und die Gesetie 
der Weligeschichie (1905) 107, 123. 




37 






^ 



iVlan erhebe hier nicht den Einwand, das sich derlei Hoff- 
QungeD allzu weit von den Gegebenheiten odef -«wenigstens dem 
augenblicklicK vorhandenen Bedürfnis erfahrungswissenschaft- 
licher Wissenschaft entfernen. In Wahrheit sind schon hundert- 
mal Gesetzlichkeiten dieser Atigemeinheit und dieses Ranges 
behauptet worden: Buckles Gesetze z. B,» die Droysen mit so viel 
im besonderen berechtigtem^ im allgemeinen so unbegründetem 
Hohn angriff, gehören etwa hierher. Und wahrlich ist der Zweck 
dieser Zeilen nicht, solchen leichthin gefundenen und oft noch 
sorgloser geformten Gesetzen das Wort zu reden, sondern im 
Gegenteil aufzuzeigen, wie weit und mühevoll der Weg bis zu 
m Punkt ist, auf dem mau mit einigem Recht diese letzten 
Formeigebungen der Geschicbtslehre wird vornehmen dürfen. 
Ja selbst eine Geschichlsauf Fassung, die dem letzten Ziel 

CS Gesetzes mit der drängendsten Sehnsucht zustrebt, wird 
sich einen Mangel nicht verbergen dürfen, der jeder, auch der 
vorsichtigsten und spätesten, GeseEzesformung anhaftet. Das 
Gesetz muß seinem Wesen nach die Vorgänge oder Verläufe, 
die es umspannt, vereinfachen, d. h. es ist gezwungen, auf einige 
Fäden aus dem Geflecht allein das Augenmerk zu richten, die 
anderen aber ganz oder fast ganz zu vernachlässigen. Gelingt 
es also nicht, einem Vorgang, einem Verlauf von sehr viel ver- 
schiedenen Seiten beizukommen und jedem Hauptsatz eines Ge- 
setzes noch eine Anzahl von Hilfs- und Uaterformeln beizugeben 
— und es ist anzunehmen, daß dies immer erst sehr spät, wenn 
überhaupt geschieht — so ist durchaus notwendig, neben die 
alUu eiaseitigen, allzu bruchstückhaften letzten Formeigebungen 
eine Geschichtslehre zu stellen, die das Wesen der Entwick- 
lungen nach allen Seiten hin und in seiner Bedingtheit, Ver- 
flochtenheit und Zusammengesetztheit erkennen läßt. Niemals 
wird eine noch so ausgebildete und noch so gegliederte Schlacht- 
ordnung von Gesetzen der Geschichte die Entwicklungslehre als 
Ganzes verdrängen dürfen, so wenig wie eine Entwicklungslehre 
als Ersatz für eine erzählende Darstellung der Weltgeschichte 
gelten dürfte. Nur durch ein Nebeneinander der verschiedenen 
Erkenntnis formen wird das Ziel der geschichtlichen Wissenschaft 

u erreichen sein. 

In einem ähnlichen Sinn wird endlich das Gesamtverfahren 
der Geschichtslehre vor einseitiger Übertreibung eines ihrer all- 
gemeinsten Fofschungsgrundsätze zu behüten sein. Die Voraus- 
tzung aller bisherigen Darlegungen war, daß die geschichtliche 
Entwicklungslehre sich aufbauen müsse auf der Gesamtheit einer 
erzahlenden Weltgeschichte. Und es gibt sehr viele und sehr 




38 

gute Gründe, die diese Forderung stützen; nur aus einer 
Beobachtung, die alle Falle umFaßt, laßt sich eine Formenlehre, h 
ein Gesetz des Geschehens ableiten, nur eine allgemeine Er-I 
Tahrung berechtigt zu allgemeinen Sätzen, nur die Sicherheit, alle 
Arten der Entwicklung zu kennen, läßt ein Urteil über Wichtigkeit 
und Verbreitung, Ausoahmlosigfcejc oder Begrenztheit gewisser 
Formen des Geschehens zu. Allein einer Ergänzung ist auch 
diese Richtung auf das Allgemeine, dieser Aufbau der Geschichts- 
lehre auf eine die Gesamtheit der Wellgeschichte umfassende 
Grundlage bedürftig. Es ist durchaus vonnöten, daß auch ganz 
begrenzte Einzelgebiele der Forschung im selben Sinne, wie dort^ 
das Ganze, auf die Mechanik des Geschehens, auf die Verlaufs- fl 
und VerursachungsFormen untersucht werden. Die leleskopische 
Sehweise der vergleichenden weltgeschichtlichen Arbeit muß 
durch die mikroskopische der Einzelforschung unterstützt werden. 
Es wäre Torheit und Frevel zugleich, zu verkennen, daß 
die entwicklungsgeschichtlicbe Auffassung bereits zu Winckel- 
manns, zu jACOb GHmms und wieder zu Jacob Burckhardts 
Tagen ihre besten Siege noch viel öfter auf Einzelgebieten der 
Weltgeschichte davongetragen hat, als in ihrem Gesamtbereich 
oder selbst in großen Teilbezirken. Und doch ist, was hier vor-Ä 
schwebt, noch etwas anderes und sicher erst der Zukunft vor- 
behalten: eine Einzelforschung nämlich^ die sich in jedem Be- 
tracht im größten, wie im kleinsten in den Dienst der alf-fl 
gemeinsten weltgeschichtlichen Arbeit, ja der Geschichislehre 
selbst stellt, und die dann die Vorzüge beider Arbeitsweisen 
vereinigen würde. Es wird eine Deutung^weise noch für diefl 
letzte geringfiigigsie Einzeltatsache gefunden werden, die alle" 
Weite der Sichten in die fernsten Zusammenhänge mit aller 
Wucht der zu tiefst bohrenden Sonderforschung verbindet. Ihre 
Voraussetzung würde sein, die begrenzte Entwickhing, die sie 
bearbeitet — das Jahrhundert einer Volks- oder nur einer | 
Sachgeschichte — immer nur als Teilstrecke einer weiteren 
Reihe zu sehen, einer weiteren Reihe also, die vor- wie rück- 
wärts über sich hinaus wiese, jedes Stück in ihr als Glied einer 
Kette zu erkennen, ihr eigentümlichstes Amt aber müßte sein: 
die Art der Verkettung dieser Glieder in dem eigenen Bezirk 
aufs genaueste und einzelnste zu untersuchen: nicht allein um 
ihrer selbst willen, sondern weit mehr um der artvertretenden, 
der typischen, Bedeutung willen für alle Geschichte überhaupt. 
Mit anderen Worten: es müßte mit dem weitverzweigten Frage- 
bogen, den allein vergleichende Weltgeschichte und Geschichts- 
lehre aufzustellen vermögen^ auch noch dem entlegensten 



3& 



^ 

P 
* 



I 



EinzelzusammenhaTig jede Antwort abgelockt werden^ die man 
aus ihm zu pressen vermag. Insbesondere wie die Strömung 
sich in die Gegenströmung umsetzt, wie eine Verfassung, eine 
Glaubens-, eine Denk-, eine Kunsiform in iiir Gegenteil um- 
schlagen, kurz, wie sich das Neue in heftigem Stoß oder in 
langsamem, unmerklichem Wachsen an die Stelle dos Alten 
setzt, das ist im beschränkten Bezirk vielleicht gar sicherer 
zu erkennen^ als in allen Weiten der Weltgeschichte. 

Und hier ist es, wo zum andernmal unverkennbar deutlich 
wird, daß die fernsten wie die nächsten Ziele unserer Wissen- 
schaft nur durch die innigste Verbindung zwischen atigemeiner, 
-vergleichender, zuletzt gesetzmäßiger Forschung hier und 
bohrerischster Einzelarbeit dort erreicht werden können. Die 
wenigen, die heute gegen die laute oder stille Mißbilligung eines 
ganzen Gelehrtengeschlechtes allgemeine Forschungen zu unter- 
nehmen wagen, bedürfen dieser Mahnung nicht: keiner von 
ihnen denkt heut daran, Hegels oder auch nur Buckles Wege 
einzuschlagen, jeder ist davon überzeugt, daß neun Zehntel aller 
gelehrten Arbeit der Einzelforschung gelten müssen; jeder weiß» 
daß auch das letzte Zehntel, eben ihre allgemeine Forschung, 
nur durch Ausnützung, durch dankbare und getreue Ausnützung 
der von den Einzelforschern geschaffenen Grundlagen entstehen 
kann, und daß es ohne sie eitel Hirnspiel und Literatengerede 
sein würde. Aber die IVlänner der Einzelforschung mit wenigen 
schönen Ausnahmen sehen nicht oder wollen nicht sehen, daß 
auch ihre Arbeit niemals Störung, sondern nur Anregung, Be- 
fruchtung, Bereicherung erfahren kann von allgemeiner Ge- 
schichtsforschung und Geschichtslehre, ja, daß sie dieser Hilfe 
notwendig bedarf^ um das eigenste Werk recht zu tun. Man 
hat einmal mit allem Recht gesagt, es gibt gar keine Be- 
schreibungen, die ohne Vergleichung recht angestellt werden. 
Eben die Zahl der Wege in die Tiefe der Besonderheit, der 
Einzelheit, der Gründlichkeit ist so groß, daß hier auch der 
unterrich leiste SonderForscher der wegweisenden Hand dessen 
bedarf, der ihm freilich nur Fragen vorlegen kann — Fragen 
aber, die an anderen, jenem unbekannten Stoffen gewannen, durch 
die besondere Übung vergleichender Arbeitsweise geformt und 
aufgehellt, zugleich ebensoviel Streiflichter ins Dunkel bedeuten. 

Vielleicht ist die Zeit nicht tnehr allzu fern, da die be- 
beschrei beide Erforschung der Einzel tatsachen nie mehr als 
Zweck nur noch als Mittel geschichtlicher Wissenschaft an- 
gesehen wird. Dann werden beschreibende und entwickelnde, 
allgemeine und Sonderforschung nicht in Zwietracht, sondern 




40 



vereint sich auf das eine ihnen allen gemeinsame Ziel richten, 
auf das letzte und tiefste Rätsel unserer Wissenschaft: 
auF dss Geheimnis des Werdens, des Werdens der neutd 
Vorstellungea und der netieo Handlungen der Menschen, der 
Völker, der Zeiten. Dann ■wird Amt und Sendung der Geschichts- 
lehre sein, diesen Schatz letzter Erkenntnis nicht ohne, sondern 
Für jene zu verwalten. Nicht Fürchten, vielmehr erwarten, fast 
hoffen sollen wir, daß diesem innersten Heiligtume nicht unserer 
'Wissenschaft nur, nein der Menschheit selbst die zagen Schritte, 
die scheuen Blicke der vorwärts Dringenden sich wohl nahen, 
aber daß sie es nie betreten, seinen Schleier nie ganz lüften 
werden. Denn nie wird, nie soll auf der Fahrt nach der Wahr- 
heit sich unser hungerndes Suchen in sattes Finden wandeln. 



DER ENGELSTAAT. 

ZUR MITTELALTERLICHEN ANSCHAUUNG 
VOM STAATE. 

(BIS AUF THOMAS VON AQUINO.) 
VOfl BERTHOLD VALLENTIN. 



S 1 
EINLEITUNG, 

Behandlung geseHschaftswissenschaftlicher Probleme 
im Mittelalter. Gesellschaftswissenschaftliche Vorstellungen 
als Teil und im Gewände theologischer Lehren. 

Den mittelalterlichen Menschen schließt enger al$ der ver- 
meintliche Mangel zureichender Erkenntnis- und Ausdrucks- 
raittel der unbeirrbare Ring seiner Ordnungen ein. So tief 
herab durch alle Schichtungen der Gesellschaft hangt dieser 
Geist) daß er noch das Leben des einzelnen anrührt und seine 
Gesetze und Gliederungen in dasselbe hineinträgt. Der Geist, 
der die Zweibeic der Gewalten In einer Hand versammelt, ihre 
Ausübung aber verteilt, das eine Schwert dem weltlichen Arm 
leiht,^ derselbe Geist übt seine Herrschaft am Einzelleben: 
ordnet den Korper unter die Botmäßigkeit der Seele und laßt 
ihn seine Rechte nur zu Lehn der Seele genießen.^ Dieser 
Geist, dem jedes Gebild zugleich einheitlich, zugleich gegliedert 
erscheint, zugleich Ejgenwesen, zugleich Teü eines Fremden,* 
greift so auch den Menschen als Ganzes an und hält ihn 
in seinen sich schneidenden Ordnungen fest, die immer wieder 
einem höheren Kreise eingebettet, zuletzt „dem in Gott selbst 
gegebenen Menschheitsverband" einruhen, von dem sie selber 



' Glerke, Geno^g^nscb- R. lEI, S. 517—33. — ' Aegidius 
Romanus, de eccIeEJasticH pQt«state, Prooem. 7. cup- cjt btt Kmus, 
Aeg. V. Rom, in Österr. Viertel jabrscbr. f. kath. Tb. 1, 12, 4»ia Scholz, 
Publizistik zur Zeit Philipps des äcbönen u. Bonifaz Vllh i. Klrchenrecbtl. 
AhbdlEP. Heft 6/8, 48, 59, 161. — ' Gierke a. b. O. 514, 



42 



I 



nur ein getreues Abbild sind.* Dieser Geist, wie viel mehr 

er als der späterer Epochen (t, B- der AuFklÄrurtgszeü) den 
einzelnen in seinem eigenen Bestände anerkennt,- hat ihn doch 
fester und sicherer als alle früheren und späteren Zeiten von 
einer Auswirkung seiner Persönlichkeit zu eigenen Zwecken 
Ferngehalten, die Sicht auf Möglichkeiten der Entfaltung und 
Gestaltung seines Lebens abgeschnitten. Immer traf, wie 
persönlich in ihrem Gehalt, Tat oder Blick in den Kreis einer 
Ordnung. Daraus und nicht aus dem Mangel an Erkenntnis- 
oder Ausdrucksmitteln, wie v. Mohl meint,^ ist es zu erklären, 
wenn das Mittelalter ihm keine Schrii't aufzuweisen scheint, 
die über den Bestand des jeweiligen politischen Wesens hinaus 
den Blick zu möglichen Gestaltungen des Gemeinschaftslebens 
lenkt, den Versuch einer Utopie, wie sie die Renaissance und 
auch das Altertum kannte, w&gt, ■ 

Was überhaupt an zusammenhängenden Erörterungen des 
Staatswesens zu verzeichnen ist, außerhalb des Rahmens rein 
accidenteller Streitschriften, das tritt als akademische, jeden 
Bezug zu irgendwelcher Tatsächlich keit vermeidende Aus- 
spinnung von, meist antiken, Theoremen auf und ist durchaus 
frei von eigentlich politischen Gesichtspunkten;^ oder aber ■ 
— und damit öEfnet sich der Rahmen jener StreitschriFten- 
Literatur ^ es orientiert sich an den gerade hervortretenden 
Bedürfnissen des Kreises gesellschaftlicher Ordnungen, dem 
es entspringt: wie alle fene den Streit der zwei Schwerter 
betreffenden Publikationen. 

Darüber hinaus gibt es dann allerdings noch — öfter gelegent- 
lich als gerade mit besonderer Betonung des Gegenstandes — 
Ausführungen gesellschaftswissenschaftlichen Charakters, die 
ohne besonders zeitpoHtisch bedingt zu sein, den allgemeinen 
politischen Zustand derart betreffen, daß in ihnen doch ein 
näherer Bezug zur Wirklichkeit aufscheint. Ausführungen dieser 
Art pflegen sich auch dem Kreise der gegebenen Ordnungen 
eng einzugliedern und treten an seinen verschiedenen Stellen, 
und gerade an solchen, die nicht das Staatswesen betrefTen, als 
Zeugnisse des einheitlichen Geistes auf, der das ganze mittel- 
alterliche Weltgebäude durchdringt und Sitte und Recht und 
Religion und Staat vom selben Quelle speist/ Sie stellen sich 



I 



' Gierke a. a. Q., 512. ~ ' Vgl. u. a. Girild. Csmbr, Symbol, 
Elect. ed. Warner, London 1891. Bd. S. LVIII. — ^ Gesch. u. Litt, der 
Staatswiasengcli. I, 178. — * Rlczlcr, lllerar. Widersacher d«r PSpste, 
S- 131, vgl, a. Gierke a. a. Q., 512. — ^ Poole, [llustratioos ot th« 
blstory of medleraL thougt. London 1SS4, 23df. — " cf. Gierke tbid. 



I 




* 



n 

dann teils als Analogien oder Exemplinkationen, mit welchen 
irgendeine Lehre irgendeiner Disziplin gestützt wird,' dar, teils 
«uch als merkwürdige unmittelbfire Einbeziehungen in irgendeine 
ihnen Fremde Ordnung — unter scholflstischer Überspringung 
logischer Kategorieenscheidung. 

In dieser Weise sind dem großen theologischen Lehr- 
gebäude, das das Mittelalter auf den Fundamenten der Patristik 
mit Bausteinen aus der antiken und jüdisch -arabischen 
Philosophie auFgerichlet hat, größere und kleinere Partieen 
gesellschaftswissenschartlichen Charakters eingefügt. Dieser 
Charakter liegt nicht immer offen zutage; wo analoge Verhält- 
nisse irdischen Lebens denen des himmlischen an die Seite 
gestellt sind, fehlt oft der besondere Hinweis darauf; oft auch 
fehlt selbst das Bewußtsein der Analogie, und nur die allgemeine, 
geistige und körperliche Bezirke gleicbmä[3ig durchdringende 
Gliederung läßt in theologischen Ordnungen zugleich staatliche 
aufschtinen. Immerhin umschließt die mittelalterliche Theologie 
auf diese Weise die Darstellung staatenahnlichen Lebens. 



S 2 

Die Engelsordnungen als Gegenstand gesellschaftswissen- 
schaFliicher Anschauung. Feststellung ihres Bestandes. 

Abgesehen von dem groDen Bau der sichtbaren Kirche, 
der, auf Grund der gegebenen Verhältnisse dargestellt, nur an 
einzelnen Stellen (Zwei-Schwerter-Lehre) den Boden staats- 
■wissenschaftlicher Theorien berührt, entwirft die Theologie ganz 
freie, an keine irdische Bedingung geknüpfte Pläne zu Staats- 
gebitden, die eine ferne Verwandtschaft mit den „Utopien" 
späterer Zeit wohl erkennen lassen, deutlich aber durch Ur- 
sprung und Ziel von diesen eudämonistischen Versuchen ab- 
getrennt sind. 

Der Ursprung dieser Plane nämlich ist rein theologischer 
Natur. Sie werden entworfen zum Zweck der Darstellung 
himmlischer Ordnungen, und ihr Ziel ist, wenn auch nicht aus- 
schließlich, so doch in der Hauptsache, gleichfalls theologischen 
Charakters: eben jene Einhelligkeit des gesamten Wellgebäudes, 
„den in Goii selbst gegebenen einheitlichen Menschheitsverband" 



^ Über gesellscbariswissenscbaftlicbe Ausdeutungen de& Tierreichs 
v£l. Ysengrimu«, berau&geg, von Ernst Volgr, Hille 1884, Einleitung 
LXXVIII, XCl, XCll. 



44 

darzustellen. Dieses Ziel aber bringt es mit sich, daß die 
Darstellung himmlischer Ordaungen fast immer ^ sei es 
bewußt, sei es unbewußt — ein Abbild irdischer Beziehungen 
in sich trägt, ganz besonders da, wo weder Schrift noch Über- 
lieferung den Verfassern hinlänglich Material zur Ausführung 
und AusFüllung ihres Bauwerks gaben, und der Blick in irdischen 
Verhältnissen notwendig die Ergänzung suchte. 

Dies ist in ganz besonderer Weise bei der Darstellung 
jener himmlischen Ordnung der Fall, die von Anfang an — auf 
Grund der heiligen Schriften — eine staatenähnliche Gliederung, 
Reihenfolge und Rangordnung, zu erfordern schien: bei der 
Darstellung des Engelsverbandes. Hier haben schoti die frühen 
Exegeten gegenüber der großen und in den Schriften selbst 
unter verschiedenen Bezeichnungen auftretenden Anzahl der 
Einzelwesen den Beruf gefühlt, in Schichten tu. teilen, indem 
sie dabei sich teils von anscheinend in der Bibel selbst ent- 
haltenen, teils von rein spekulativen Argumenten leiten ließen. 
Bis in das spätere Mittelalter aber blieb diese Darstellung fast 
immer oberflächliche Einteilung; erst nach und nach wurde den 
einzelnen Stufen ein bestimmterer Charakter, spät erst er- 
Fülleades Leben zugeteilt. Erst von dem Standpunkte her, den 
die Behandlung des Engels verbau des durch Wilhelm von Auvergne 
in seinem Werke De Universo (1231— J236)* behauptet, läßt 
sich mit einigem Rechte dieser Verband als ein Staat in dem 
Sinne ansprechen, daß er in einem — allgemein gesehenen — 
irdischen Staatswesen sein Abbild und dieses — sei es auch 
nur rein theologisch gesehen — in ihm sein Vorbild finde. 

Den Engelsverband, den wir danach vorwegnehmend als 
Engelsstaat bezeichnen zu dürfen glauben, ohne damit einen 
Irrtum zu erwecken, ließen die Väter, anschliefSend an die 
heiligen Schriften,'' von einer Unzahl von Einzelwesen erfüllt 
sein. Eine bestimmte Zahl, sei sie auch noch so ungeheuer, 
anzugeben, widerstand ihnen. Nur einige unter ihnen glaubten 
die Anzahl der Engel zu der der Menschen in ein bestimmtes Ver- 
hältnis setzen zu sollen. Die allegorische Ausdeutung von 
Matth. IS, 12, Luc. 15, 4 führte dazu, unter den 99 nicht ver- 
irrten Schafen die Engel, unter dem einen verirrten aber den 
Menschen zu verstehen, der berufen sei, durch die Fürsorge 
des Hirten Christus, jene 9Q am Jüngsten Tage zur vollen 



' Schindele, Beltr. z. MelhapbyB. d. V^ v. A. Müncb. Dias, 
1900, 5 fr. ~ ' Deut. 33, 2, Dan. 7, 10, Hiob 25, 3, Hebr. 12, 22, 
Apoc. 5^ II. 



4S 



I 



HuDdertzahl zu ergänzen.^ Daraus leitete man dann her, daß 
[die Engel die 99fache Anzahl der Menschen ausmachten. 

Dafür, daß die unermeßlichen Engelscharen einer teilenden 
Ordnung unterständen, schien dem mittelalterlichen Geiste schon 
der biblische Text sichere Grundlagen anzubieten. Wenn auch 
einige Väter die verschiedenen Namen, unter denen die Engel 
in den heiligen Büchern erscheinen, 4U verschiedene Bexeich- 
nungen derselben Kategorie ansahen,- so lenkten den mittel- 
alterlichen Geäst, der die Welt seinem neuen Begriffsvermögen 
Untertan zu machen, d. h. zunächst in seine Kategorieen einzu- 
ordnen trachtete, die wechselnden Namen^ mit denen die Bibel 
die Engel aufführt, in der Hauptsache dahin, in diesen Namen 
den Ausdruck innerer Unterscheidung zu sehen. 

Ad quid enim coelestium noraina innotuerint, si ne 

opinari quidem salva 6de aliquid licet de rebus, quarum 

nomina sunt?^ 
Die Bezeichnungen Seraphim, Cherubim, Sedes (Throni) etc. 
<Col. 1. 16, Eph. 1, 21) erfüllten sich von ihrer wörtlichen Be- 
deutung her auf dem V/ege theologisch- mystischer Erklärung, 
auf die unten noch eingegangen werden soll, derart mit Leben, 
daß sie eine einigermaßen sichere Grundlage für die Einteilung 

Ider Engelscharen zu bieten schienen. 
Ordo angelorum dicitur multitudo coelestium spiritualium, 
qui intra se prae aliis in aliquo dono assimilantur: ut Sera- 
phim, qui prae altis ardent charitate. 
^ Hugo a St. Victor, Sent. 11. 5. Migne, Patrol. S. L. 176, 
p. S5 auf der Grundlage des Gregorius M., den er zitiert: 
In illa summa civitate quisque ordo eius rei nomine 
censetur, quam in munere plenius accipit. 
Man mußte sich nur darüber einig werden, wieviel derart 
unterschiedener Bezeichnungen man in der Bibel zu sehen 
glaubte. Denn teils bestanden Zweifel darüber, ob einem Aus- 
druck überhaupt der Wert einer Artbezeichnung oder nur der 
eines schmückenden Beiworts zukomme, teils darüber, ob nicht der 
eine oder andere miteinander synonym sei.* Der heilige Augustin 



I 



• Hilar., Comm. in Maitb. 18 n.5. Migne, Piirol., S. L. 9, p. 1020/1. 
AmbrOs., Comm. in Luc. 15,4. Lib. VII. Migne, Pitrül., S. L. 15 p. 1756, 
cfr. Bonav. 2 disl. 9. a 1 q. 5, Tund. concl. et ad t— 4. — " S, Ttirmel 
in Rcvuo d'hist. et litt. r£l. IV., p. 217. — ^ Beritb. CUriv. de cons. 
V. 4, Migne, Patrol., S. L. 182, 792F,, folgt genau Gregor M., hom. 
34, iOf. Migne, Pilrol.» S. L, 76, 1251. Gull. Alv-., De Uiliw. II. 2, 
cäp. 114 (p. 965), Ibnlicb Maimonidcsjnd Chasaka I, Kap. II, der die 
ipltere Scbola^tilc sehr beeinflußt hat. — * Turmel ibid. 




verhält sich in dieser Hinsicht ziemlich skeptisch, indem er 
ausdrücklich ablehnt:, darüber Entscheidung zu treffen, ob unter 
die Angeli auch die Archangeli zu begreifen, ob diese letzteren 
wieder mit den Virtutes gleichzusetzen seien und was endlich 
die vier wetteren Namen Sedes, Dominationes, Principatus, 
Potestales ^Coloss. 1, l&.) bedeuteten.^ Auf diese Weise ließ 
sich eine sichere Anzahl von Ordnungen natürlich nicht kon- 
stituieren. Der heilige Augustin selbst scheint an jener Stelle die 
vier letztgenannten Klassen als die gesamten Engel umfassend. 
Also dem Ausdruck Angeli untergeordnet anzusehen, womit er 
wohl die Meinung des Apostels trifft, der hier mtl einer jüdischen, 
im Talmud enthaltenen, Lehre übereinstimmt.' Andere -wieder 
lasen aus den heiligen Schriften sieben oder acht oder gar neun 
bis zehn Klassen heraus oder nahmen eine unbestimmte Zahl von 
Klassen an.* Zu den letzteren gehört auch der heilige Hier- 
onymus/ der vermutet, Paulus habe in Eph. 1» 21^ einer alten 
jüdischen Geheimlehre folgend oder in tieferer Erkenntnis der 
heiligen Schriften das, was in den Büchern Numeri und Regum 
an irdischenGewalten (reges, principes, duces, tribuni,centuriones) 
aufgezeichnet sei, als ein Abbild himmlischer Herrlichkeit er- 
kannt. Hier wäre also schon ganz früh der Begriff des Engels- 
verbandes als einer Staaten ähnlichen Ordnung, wenn auch noch 
nicht Ausgeführt, so doch schon vollkommen bewußt atigedeutet. 
In dieser Beziehung wird noch weiter unten auf diese Hier- 
onymus-Stelle einzugehen sein. 

Wenn so die Engelsnamen der Bibel zwar den näheren Anlaß 
und die Grundlage der Klasseneinteilung, nicht aber auch das 
iVlaterial zu ihrer Durchführung boten, so ergab sich das Material 
hierzu, d. h. zur Feststellung der einzelnen Klassen einmal wieder 
aus allegorischer und symbolischer SchriFterklärung, andererseits 
aber aus dem Einstrom neuplatonischer Lehren, der gegen das 
Ende der patristischen Periode das Schrifttum zu beeinflussen 
begann.'^ Wie die Kirchenväter die Anzahl der Enget aus dem 
Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Schafe ab- 



* Encheirid., cap. 5S. Migne, Pairol., S. L. 40, S59. — ^ Ciiiert 
bei Gfrörer, Geschichtö des Urcbrisieaiums I, 359. — ' Turmel 
B. 8. O. 217. ~ Const. Apost. I. 8 c. 12. Cbrys. bom. 4-. de incompr. 
Amtiros., Comm. ia Luc. 15^ 4. Lib. VII. ~ ^ Comm. in Epb. 1, ^1, 
Migne, Patrol., S. L. 26, 4ei;2. — ^ Pregerj Gesch. d. dtsch. Mystik 
i. M. A. Leipzig 1S74 I^ 14S. Kocb, Pseudodionysius Areopagiia i. 8. 
BezLebgn. z. Neupl&toniEm. u. Mysterienwesen. ForBchgn. z, cbristl. Lit. 
ü. Dogm.-Geach, B. 1. H. 2'3, S. Iff.j 255ff,; vgl, Langen^ Dionys. vom 
Areopag u. d. Scbotaetiker in Revue internat. de tb^ologie 8, 207 f. 
Oberwcg-Helnie, Grundrifi der Gesch. d. Philosophie II, 139lf. 




47 






6' 



üij 



zuJesen versuchten, so glaubte Gregor der Große die sichere 
Anzahl der Engelsklassen aus dem Gleichnis vom verlorenen 

□d viedergeruadenen Groschen, das jenem anderen angereiht 
ist (Luc. 15, 8 — 10) entnehmen zu können. Wie dort unter den 
Ö9 nicht verirrten Schafen die Engelsheere, werden hier unter 

«n Ö nicht verlorenen Münzen die Klassen der Engel ver- 
standen, und wieder wie dort ist das verlorene eine Stück der 
erlöste Mensch, der dereinst berufen ist, die volle Zahl aus- 
zufüllen. Freilich scheint auf diese Art der Auslegung nicht 
ohne Einfluß gewesen zu sein, daß Gregor der Große in der 
Bibel die Namen neun verschiedener Engelarien zu erkennen 
glaubte/ 

Die Meinung Gregors blieb bis in das hohe Mittelalter für 

&s Abendland maßgebend. Sie findet sich bei Isidor von 
Sevilla^ und noch ganz spät bei Bernhard.^ 

Wie weit bei dieser Schrifterklärung etwa schon die Be- 
kanntschaft mit Schriften jener andern Gattung, die auf philo- 
sophischen Grundlagen zur Feststellung von Engelkategorieen 
gelangten, mitwirkte, kann hier nicht näher untersucht werden. 
Jedenfalls steht fest, daß die HauptschriFt dieser Galtung, auf 
die sogleich näher einzugehen sein wird, des Dionysius Areo- 
pagita fl^Qi Tijy 'le^a^x^ag ovgariov dem Gregor bekannt ge- 
wesen ist.^ 

1 Von hier aus, von dieser Schrift des Areopagiten, erst stellt 
sich die Neunzahl der Klassen als eine innerlich begründete 
fest und erlangt so für die Schriften der großen Scholastiker, 
die ganz auf Dionys fuiSen, Autorität.'* Diese Begründung 
entbehrt nun freilich völlig der gesellschaftswissenschaftlichen 
Färbung, was aber nicht verhindert, daß die auf sie gestützte 
Feststellung in diesem Sinne ausgedeutet, ausgestaltet wird. 
Diese Begründung fließt vielmehr» wie oben berührt, aus 
rein philosophischen Ideen," die hier nur in Kürze wieder- 
gegeben werden sollen. Dionys lehrt, ganz der neuplatonischen 
Emanaiionslehre hingegeben,'' daß das Göttliche nicht unmittel- 

r, sondern nur durch Vermittelung der Engel zu uns Hieße. 
Aber auch diese werden des Göttlichen nur teilhaft nach 
der dreigeteilten göttlichen Ordnung: xQ^ai^itjitcci — v.ctO-(xiQtiv, 



1 ^ Greg. M., Hom. 34, 6,7. Migne, Pilrol., S. L. 76, 1249. — 

f SejUent 1, X, 15. Migne, Patr., S. L., 85, 555. — =• Consid. V. 4, 5. 

Migne, Patr., S. L., 182,792. — ' Ucberweg-Heinie a. i. O., Bd. 11, 145. 

— '■ Langen a.a. O., 207. — •Koch, Pseudodiönys usw. in Forschungen 

2. Christi. 1,11, u, DogmengeBchichte 1,2, 199. — ' Ebeada 255ff. Preger, 

«. Ä. O., 148. l5Üff. THrmel a.a.O., 218. 




fpojzt^iai^ai — (fiuziuiy. TeXsldd-ai — iiXfoiQvqyth: Diese drei Stufen 
aber sind wieder nach dem Modus gestuft/ daQ in ihnen Erste, 
Mittlere und Letzte sind, und die Oberen immer Mysten und 
Handfiihrer der Unteren im Aufstieg zum Göttlichen, so daß auf 
diese Weise drei obere Ordnungen, die er Hierarchieen nennt, und 
in jeder dieser iffieder drei Ordines entstehen. Auf diese Weise 
genügt der Areopagit der in der neuplatonischen Schule 
und in aller Mystik sanktionierten dreifachen Dreiheit.' Diese 
Lehre hat sich in Gestalt der aus der höchsten Intelligenz 
emanierten neun unteren Intelligenzen^ die wechseEweise Ur- 
sache und Auswirkung voneinander sind, in der arabischen 
Philosophie erhalten.* Durch das Zusammentreffen uad Ein- 
anderdurchdringen pseudodionysischer und arabischer Fort- 
wirkungen und Einflüsse hat sich dann in der späteren Schola- 
stik — vom zwölften Jahrhundert an — diese Neunzaht für 
die Engelsordnungen auch intierlicb befestigt utid ihr geistiger 
Gehalt festgestellt,* so daß in der Blütezeit dieser Epoche 
bei Wilhelm von Auvergne diese Zahl als eine grundlegende 
derart feststeht» daß er sie nicht nur, wie schon der Areopagit 
in der kirchlichen, sondern auch in der weltlichen Hier- 
archie von vornherein ausgedrückt ßndet^ und die Himmels- 
hierarchie ihm nur noch als das notwendige Analogon dieser 
selbstverständlichen irdischen Ordnungen erscheint. 

Damals sind dann auch die Namen der neun Klassen wie 
folgt: Seraphim, Cherubim, Throni, Dominationes, Principatus, 
Potestates» Virtuies, Archangeli, Angeli recipiert worden, 
nicht ohne daO bezüglich ihrer Reihenfolge noch lange Schul- 
streite bestanden, die erst durch Thomas von Aquino völlig 
geschlichtet wurden/'' 

Erst in dieser Zeit des verstärkten Eindringens neu- 
platonischer Lehren durch den Zustrom arabischer Einflüsse^ 
hat sich dann auch jene obere Einteilung des Dionys in 
die drei Hierarchieen durchgesetzt. Während noch Bernhard^ 
0091 — 1153) nur die neun Engelsklassen kennt, bahnt sich be- 



• De Coelesti Hiefarchia c. 3S3,4, §3i. f., cfr. Koch a.a.O., 177,234. 

— ' Koch a. a. 0-, 178 o 1,, cfr. Turmel a. a. O., 220. — * Muolt, 
MfiUngea de philos. juive ei arabe. Paris 1859,331,2. — * Turmel a. (i.O., 
S. 223 u. 3, 4. Im Orienr uiiier dem stärkeren Einfluß pseudodianysiscber 
und srabiacber Philosopbetne, war diese Entvicklung bereits im &chteti 
Jahrhundert abgeschlossen, — '" Guil. Alv,, De Universo II, 2, c. 112, 
p. 963, col. 2 B. Gtosse des Pachymeres zü Pseudodionys. Migne, 
Palrol., S. Gr. 3, S. 204. Türme! a. a. 0., 223/4. — ^ Uebcrweg- 
Hcinze a. a. O. Muiik a. a. O., S. 3307. Schindele a. a. Q., &4 n. 2. 

— ' De Consid. V, 4, 5. 



49 

relts unter dem ihm gleichzeitigen Hugo von San« Victor 
(1096 — 1141) die Zusammenfassung der neun Klassen in drei 
Hierarchieen an; freilich noch nicht mit ausdrücklicher Be- 
zeichnung der drei oberen Ordnungen; aber doch tatsächlich 
durchgeführt, indem sich ihm die Dreiteilung der neun Engels- 
klassen als ein willkommenes Abbild der in der ganzen Welt 
vorherrschenden Trinität darstellt. 
^ Et inveniuntur in istis ordinibus tria terna esse, et in 

■ unoquoque tres ordines, ut Trinitatis similitudo in eis 
prs aliis creaturis Impressa videatur. Sent. II. 5. i. i. Migne, 
Patrol. S, L. 170, 85. 
B $0 findet sich diese Teilung auch noch in dem zusammen- 
lassenden Sentenzenwerke des Petrus Lombardus {-J- 1164) wieder, 
der seinerseits das Vorwalten der Trinttät auch als die innere 
Grundlage der dionysischen Einteilung bezeichnet.^ 

Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts ist dann auch die 
obere Einteilung in drei Hierarchien völlig durchgedrungen, und 
im dreizehnten Jahrhundert werden ihr bereits gründliche Studien 
gewidmet. - 



S 3 

Der gesellschaftsmäßige Gehalt des Begriffs 
Engelshierarchie. 

Wenn die von Pseudodionys unternommene Einteilung in 
Hierarchieen, wie sie dem kirchlichen Leben entnommen^ und 
von ihm selbst auch auf die kirchliche Ordnung angewandt wurde, 
auf den ersten Blick einen tbeokratischen, verfassungsmäßigen 
Ctiarakter zu haben scheint, so kann dies doch nur von dem 
äußeren Schema der Einteilung gelten. Die innere Motivation der 
Teilung bleibt, wie oben angedeutet wurde, gesellschaftstnäßigür 
Ausführung Fern und ruht auf theologisch -philosophischem 
Grunde. So enthält auch die Konstruktion des Begriffs Hie- 
rarchie, soweit äußere Ordnungsprinzipien in Betracht kommen, 
wohl Ausdrücke tbeokratischen Einschlags, der innere Kern 
aber ist ganz von coatemplativ- mystischem Geiste genährt. 



' Sent. II. dfBt 9, 1. Migne, Patrol. S. L. 192, 669. Daher irrt Langen 
I. E. O. 204, veno er die dionysische Dreiteilung erst durch Thomt« 
ron ActulDO der Scholastik vermittelt werden IBßr. — * Albertus M., 
Sent. II., 9. Thomas von Aquino, Summa Ibeol. 1, Q. 108. cf. Turmel 
a. a. O. 222. — * DiOD. Areop,, De C. H. 1, J 3. i. i. Mtgne, Palrol. 



G. 3, 122. 




50 

äi^kot, ihova tijg d-aaQX'^^^^ ojQüinTtjTog iv tä^iat yal tjciazi^-^tatg 
ItQaQX'^^^Si ■^'^ '^'jb" oixeiag iXldfiipecog lEQov^yol-aav jivoti^qiü, xal 

Dion. Areop., De Cael. Hier. cap. 3 § 2 ß.; vgl. auch 

Cap. 751 BfF., S 2 A. Migne, Patrol. S. G. 3, 166, 208. 

In der dem dreizehnten Jahrhundert angehörigen Glosse 

freilich kommt das äußere, das staatliche Ordnungsprinzip stärker 

zum Ausdruck: Pachymeres zu cap. 1. Migne, Patr, S. G. 3, 

127, 133/5. 

Diese Durchdringung geistiger Gehalte mit oft mehr sehe' 
matischen al$ systematischen Aiiordnungselementen ist für die 
beginnende Scholastik, die ja ganz auf dem Areopflgilert fußt, 
bezeichnend und darf nicht dazu verfilhren, in der gewillkürtea 
Paarung innere Zusammenhänge aufzusuchen. Neben einer 
ferndeutenden Mystik, die der Verknüpfung so heterogener Ele- 
tnente, wie philosophischer Spekulationen mit gewachsenen staat- 
lichen Rangteilungen leicht entspringt, dürfen dabei noch allen- 
falls bizarre ästhetische Reize^ nicht aber irgendwelche Ergeb- 
nisse, seien es auch nur ordnende, wissenschaftlicher Natur 
erwartet werden. 

Freilich dazu trug die Übertragung des Begriffes Hierarchia, 
der bei Dionys ebensowohl die Gesamtheit als eine der drei 
Hauptabteilungen bezeichnet und im folgenden immer in ersterem 
Sinne gebraucht werden wird, auf den Verband der Engel doch 
bei, daQ in den mittelalterlichen Geistern sich die Vorstellung 
von diesem Verbände als einem gesellschaftsmäBigen, einem 
irgendwie politisch geordneten befestigte. In dem Begriffe 
Hierarchie gewann das Bild einer stadtstaatmäßig geordneten 
GemeinschaFt der Engel, wie es die Schriften des Urchristentums 
und der Kirchenväter ganz allgetneio andeuteten, eine bestimm- 
tere, wenn auch etwas andere Färbung, insofern das Prinzip der 
Ordnung innerhalb der Gemeinschaftj das eigentlich gemein- 
schahbildende stärker betont wurde. 

'l-t'/yeloi BiiovQävioi, jEuhriiöfafOL iv 'irjQovaaKiifi ifi avcä 
tfj h ovQayois Hippolytus II, Phil. VI. 34, p, 192 tf. 

Quomodo autem se habeat laetissima illa et superna 

societas, quae ibi sin* differentiae praepositurarum 

(in einzelnen Mss.: personarura.) 

Universam ipsam coelestem societatem 

Augustin, Encheirid. SS. Migne, Patrol. S. L. 40, 25Ö. 
In illa sancta civitate. 

Greg. Magn.i hora. 34. S. Migne, Pairol. S. L. 76, 1250. 



Sl 



coelestium civium 
ibid. p. 1255. 
aber bei Bernhard schon: 

Iet primo quidem cives esse spiritus Illlc potentes 
glorioses beatos, dlsiinctos in personas, dispositos in digni- 
tates, ab initio stantes in ordine suo 
De consid. V. 4. i. i. Migne, Patrol. S. L. 182, 791. 
Wilhelm von Auvergne bat dann den Hierarchiebegriff als 
solchen herausgestellt, in ihm unter Zuhilfenahme irdischer 
sacraler aber auch profaner Ordnungen den gesellschaftlichen 
Gehalt stark herausgetrieben. Dieser stellt sich nun aber an 
sich weniger als ein staatenähnlicher — wie man nach den 
früheren Bezeichnungen vermuten sollte — denn als ein standes- 
mäßiger dar. Nicht die gesamte „Civitas" lebt in ihm, sondern 
nur ein „Ordo". Es muß freilich hier sogleich bemerkt werden, 
daß in dem Hierarchiebegriff die gesellschaFtsmäßige Anschauung 
Wilhelms vom Engetsstaate nicht ihren endgültigen Ausdruck 
erfahren hat. War er durch die dionysische Tradition zunächst 
darauf geführt, diesen Begriff, als den die Engelsscharen inner- 
lich ordnenden, lu urgieren, so hat er sich bei der Betrachtung 
der nach ihm gegliederten Ordnungen selbst nur zu bald wieder von 
ihm entfernt. Hier — bei der Darstellung der Ordnungen im 
einzelnen — hat er nicht nur sie selbst, sondern auch ihr 
Gesamtbild in der Vorstellung eines völh'gen Staatswesens, 
nicht nur eines Ordo, begritFen und durchgeführt. Darauf wird 
weiter unten einzugehen sein. Es sei nur erlaubt, schon 
an dieser Stelle zu bemerken, daß noch eine weitere gesell- 
schaflsmäßige Vorstellung mit dem Engelsverbande verknüpft 
wird: die eines weltlichen Hofstaats. Und es sei auch erlaubt, 
darauf hinzuweisen, wie keine dieser verschiedenen Vorstellungen 
voa der andern reinlich geschieden bleibt, vielmehr bald mit 
dieser, bald mit jener verquickt wird, wie ja auch im Staats- 
lebeo des Mittelalters selbst Staat, Stand, Königshof sich ohne 
ganz sichere Grenzen durcheinanderschoben. ^ 
hp Zunächst aber miissen dem Hierarchiebegriff, weil er das prin- 
'"fepielle Ordnungselement des Engelsverbandes für Wilhelm dar- 
stellt^ noch einige Erörterungen gewidmet werden. Die Hierarchie 
wird von ihm — im Anschluß an Dionys — als „Ordo* be- 
zeichnet. Welchen besonderen gesellschaftlichen Begriff er mit 
dieser Bezeichnung verbindet, wird nicht völlig klar. Nur 



' Sander, Feudilslaat und bürgcrl. Vertasaung. 
b^drs. 12/13. 




Berlin 1906. II f. 



4* 




52 



so viel erhellt» daß er darunter eine irgendwie geordnete 
Genossenschaft begreift, und zwar im besonderen eine kirch- 
liche. Welche engere Umgrenzung aber dieser zu geben ist, 
daFür bietet er wenig Anhalt. Er müht sich zwar, diese näher 
zu bestimmen, indem er den Gehalt des Begriffes ,Ordo' 
klarzustellen versucht. Aber dies wird ihm dadurch erschwert, 
daß der „Ordo", wie er die Hierarchie als Ganzes bezeichnet, 
auch ihre einzelnen Glieder ausdrückt. Diese Schwierigkeit 
ist keine zufällige, das Bemühen, sie zu lösen, kein bloß 
terminologisches. Es handelt sich hier vielmehr um die geistige 
Bewältigung: Erfassung und Einordnung der Erscheinungs- 
und Vorstellungswelt überhaupt. Zwar hat das Mittelalter 
mit seinem auf ein Ziel hin systematisierenden Geiste^ den 
wir eingangs berührten, Ordnungen über Ordnungen gehäuft. 
Aber noch ist ihr Verhältnis zueinander nicht festgestellt. Eine 
Ordnung steht gegenüber und in der anderen als ein lediglich 
und gleichmäßig Abschließendes; jedes Anderssein ist ein gleich- 
wertig Scheidendes, T^och sind die Differenzen, die StuFungen 
in den Ordoungsprinzipien nicht aufgedeckt, Stand und 
Standesklasse sind noch nicht im sicheren Verhältnisse voti 
Ober- und Unterglied. Der Stand der Milites steht noch so 
neben dem der Clerici, wie innerhalb der Milites: Duces, 
Marchiones, Coraites, innerhalb der Clerici: Saeculares und 
Claustrales. Keine schnelle Vorstellung» kein sicherer Ter- 
minus bedient Co- und Subordination. Daher bedarf es der 
langen Erörterung über den „Ordo" als Bezeichnung des 
ganzen Verbandes gegenüber den neun ihm nachgeordneten 
Ordines. Aber trotz dieser Erörterung entsteht kein sicheres 
Bild vom „Ordo^ials zusammenfassendem Oberbegritf. Eine 
feste Stelle in gesellschaftlicher Schichtung ergibt sich nicht, 
wenn auch irdische Ordnungen zum Vergleich herangezogen 
werden. Denn bald wird er den Milites und Clerici parallel 
geordnet, bald wieder unterhalb der Clerici den Monachi, Cano- 
nicij Templarii. Wo dem mittelalterlichen Menschen überhaupt 
irgendwelche Ober- und Unterordnungen sich wiederholen, setzt 
er sie gleich» ob nun auch die eine Oberordnung sich als Unter- 
ordnung der andern Oberordnung erweist Er ringt mit der Ver- 
begrifFlichung des Einzelnen. Nach und nach erst spannt er 
das gesamte Weltgebäude in seinen Plan. So kann er das eine 
Mal den Engelsordo dem der Clerici an die Seite setzen, wo dann 
die Engelsklassen Welt- und Klostergeistlichen entsprechen würden, 
und wieder auch dem der Klostergeistlichen, -Templer, Kanoniker 
selbst, wö dann die Engelsklassen mit den Amtsstufen innerhalb 



53 

dieser Verbände gleich zusetzen wären. AlsWertvolles und Sicheres 
bleibt ihm nur die Vergegenätändlichung eines Sturenverhähnisses 
innerhalb einer Gemeinschaft, von der er sich ein undeutlicties 
Bild in der Richtung einer kirchlichen Genosseaschart macht.^ 
Daß ihm zunächst ganz allgejjiein eine solche vorschweben 
mußte, ist aus vielen Gründen erklärlich. Neben dem Umstände, 
daO Wilhelm von Auvergne selbst Bischof, daQ die geistliche 
Hierarchie die glänzendst geordnete war, der Engelsverband zu 
ihr die nächste innere Beziehung hatte» wies darauf der Begriff 
Hierarchie und die schon früh der kirchlichen Hierarchie zu- 
geschriebene Nachbildung nach himmlischen] Vorbilde hin.^ 

Pseudodionys halte überhaupt für beide einen einheitlichen 
HierarchiebegrifF gesetzt» den er noch auf die Gottheit selbst 
susgedehnt und dann dreigeteilt hatte: als hierarchia divina, 
engelica, ecciesiastica. In dieser mystisch durchstrahlten Syste- 
matisierung hatte er die Hierarchia angelica dahin definiert: 

I'Efni fiiv ^pa^;;/a — TCt^ig tcpo Kai iTiiatiifirj Kai iveQyBia 
■HQug TÖ &^oUähg t^g ttpixvnv dtpofiOwuf.Uvrj — 
Coel. Hier., cap. 3 § 1 i. i. Migne, a. a. O., 164. 
Diese Deßnitiou kehrt dann allgemda bei den Meistern der 
hohen Scholastik wieder. Bei Wilhelm von Auvergne findet sie 
sich ^ und bei Bonaventura auch. Wilhelm aber gibt der Dreiteilung 
tä^ig xßi fjciatTJfttj y.ai. Ivi^yiia eine systematisierende Auslegung, 
die deutlich das Analogen der kirchlichen Hierarchie verrät. 
Aus dem ^divinitus aggregata et ordinata societas et scientia 
et actio*^ macht er eine scientialiter et oFficialiter geordnete 
societas, erhebt scientia und oFficiuni zu Abstufungsgründen 
innerhalb der EngeEshierarchie, damit den Gedanken an die 
Abstufung der kirchlichen Hierarchie nach ordo und jurisdictio 
wachrufend. 

Bonaventura aber sagt — gelegentlich der Darlegung der 

pseudodionysischen Definition der kirchlichen Hierarchie, die er 

dahin wiedergibt; nHierarchia est rerum sacrarum et rationabilium 

ordinata potestas, dehitum in subditos obtinens principatum." — : 

„Haec autem deßnitio potest etiam convenire angeljcae 

^h hierarchiae." * 



^ De Univerao II. 2. c. 141. p. 991 col 1 A-D. Abgelehnt die Vor- 
siellung des Engelsverbandes als Schule ibid. cap 111 p. 96^ cal. IB. — 
^ Die kirchliche ist überhaupt nur Symbol zum Zweck der Hinatif- 
f&hrung zur bimmljscben HJerarcbie. Paraphrase des Pacbymeres zu 
Peeudodionys. Migne, PairoU S. G. 3, 133/5^ cf. Kocb, Pseudodionys. 
a. a, O. 199 et passim. — '' L. c. cap. 143 p, 992 col. 2 G. — ■* Centiloq. 
p. 3 seci. 16. 




54 



Damit ist die allgemein vorwaltende Vorstellung von dei 
Engelshierarchie als ein&m der kirchlichen verwandten Verbände 
deutlicli zum Ausdruck gebracht. Sie hat auch bei der Dar- 
stellung der inneren Gliederung im Einzelnen vorgeschwebufl 
Freilich hat hier neben ihr auch die profane weltliche Ordnung 
ihren Einfluß geübt; bei Wilhelm von Auvergne ist eine Gliede- 
rung der Engelshierarchie nach Analogie beider Gewalten ver- 
sucht, ja die ausführlichere ist sogar die auf weltlicher^ 
Grundlage. fl 

Aber auch der Gesamtcharakter der Engelshierarchie ßndet 
sich bei ihm unter dem Bilde eines weltlichen Ordo dargestellt. 
Er nennt cap. 112 (p. 963 coL 2 C) die Hierarchie einen sacer 
principatus, indem er das Kecht dazu teils aus der den anderen 
Creaturen übergeordneten fürstengleichen Stellung der Engel 
teils aus ihrer vollkommenen und unabänderlichen Unter- 
tanenschaft gegenüber dem primo principi atque principio' 
herleitet. 

Mit dem spirituellen Leben verknüpft sich im Mittelaltei 
nahe ein an den reichen äußeren Anschein des Lebens hin- 
gegebenes Empfinden. Diesem genügt weder eine rein geistige 
Einteilung und Unterordnung, noch die Vergegenständlichung im 
Bilde beruflicher Stände. Sehnsucht nach Pracht, Prunk, äuße- 
rem Apparatus erfüllen es. Die Herrlichkeit der Himmel er- 
scheint ihm nur würdig wiedergegeben unter dem Abbild höfi- 
schen Haushalts. Auch eine solche Vorstellung der Engels- 
hierarchie ßndet sich bei 'Wilhelm : Ornatus aulae praeclarissimae;' 
diese wird an einer andern Stelle durch Aufzählung zahlreicher 
weltlicher Hcfämter unter Betonung ihrer Amtsabzeichen weitecH 
durchgeführt,'' V 

Im Allgemeinen aber begegnen wir, soweit der Begriff 
„Engelshierarchie" als solcher in Frage steht — ausdrücklich 
sei nochmals betont, daß bei der Darstellung des Verbeindes im 
Einzelnen durch Wilhelm ein ganz anderes, staatenähnlichcs 
Bild vorwaltet — dem Bilde einer kirchlichen (sei es Standes-, 
sei es Ordens-) Genossenschaft.* 



r- 

I 




^ Dieses Anschießen van anklingen (Jen, besonders sprschlicb ver- 
wandten Begriffen an Vorstellungen (principi stque principio) ist in der 
Scholasiik überaus biußg und bewirkt, Khnlich wie der unmittelbire Über- 
gang aus Allegorie und Symbol in die zugrunde liegende Wirklicbketl, 
den seltsamen Eindruck einer zwischen sinnlicher und geistiger Apper- 
ception unruhig bewegten Welt. " ^ ibid, csp. 138 p. 987. col. 1 D. — 
» ibid, cap. 136. i. f, p. 9S5 col. 2 D, 993 col- IE. — * Cfr. Koch 
B. a. O-, 199. 



i 



55 



Innere Struktur des HierarchiebegrifFs. 
Allgemeine Organisaljonsprinzipien, 



igriff 



die 



;rarcniebegritt" lassen die mittelalterlichen Lehrer 

von einem bestimmten inneren Ordnungsprinzip durchwaltet sein, 

das einer verFaäsungsmäGigen Tendenz nicht völlig entbehrt. 

Bonaventura lehrt: 

^b Kecesse est, quod ex quadam convenienti diversitate 

^B in quadam proportionabili gradalione consurgat quaedam con- 

H venientia ordinata 

^P Et in eodem ördine ponenda est quaedam gradatio et 

^m quidam ordo, licet non sit tantus excessus, quantus reperitur 
H in an^elis diversorum Ordlnum. 2. Dist. Q. a. un« 9. 8. 

H £5 wird damit deutlich eine gewisse StuFung der Klassen und 
Hd^rEinzelnen in ihnen nach dem Verhältnis ihrer Gaben ausgedrückt. 
B Freilich ergibt sich der geistige Gehalt dieses Ordnungs- 

prinzips wie der des HierarchiebegrifFs selbst als eine Aus- 
wirkung jener von uns schon oben berührten mystisch-theo- 
logischen Theoreme, die in Pseudodionys aus dem Zusammen- 
wirken neuplatonischer und christlicher Ideen und Vorstellungen 
erwuchsen. Ka&aigi f}'iir.--Aa3-aiQft.i% (fi\}ziCi.a!}i.u-ff'(.iJiil^e,iv, zt7.(,iaO-ai- 
tt).EffiovQyEir sind die stufenmäßig bestimmten Gaben bzw. Auf- 
gaben der dionysischen Hierarchie. Alle drei Gaben hat die erste 
Trias unmittelbar von Gott. Sit strahlt sie der zweiten weiter, 
die aber nur das tp(UTiCea-.9ai und /.aS-aiQ^ad ai in demselben JVlaDe 
wie die erste erhält, das reXeiaftai nicht vollständig; diese wieder 
tpiüTitsi und y.üäaiQ£i die unterste Trias, die das (poirlttad-ai 
wieder pur ög ItpiKtöv, das v.aS-atQeaO-ai aber vollständig er- 
hält und damit dann die kirchliche Hierarchie bereinigt.^ Dieses 
rein spirituelle Prinzip, weniger auf die Engel als auf die in sie 
aufgegangenen intelligiblen Substanzen neuplatonischer Theorie- 
zu beziehen, hat erst spät — nicht vor den Zeiten der 
hohen Scholastik ^ eine mehr das Organisatorische in ihm be- 



' WiT folgen hier den klaren und kurzen Darlegungen K ü c b s a. a. Q., 
177, — «Tufmeta.a,0.,218fF. Koch a.fl: O., 176ff, Cf, Munk a.a.O.,33l f. 
In äbnlicter Weise wurden auch die Ideen (als Modelle der sinnlichen 
Erich einungen) in der philonischen Philojophte mit den Engeln identi- 
flilert. Dähne, Gesch. d.jfid.-aleicandrin. Philosophie. Halle 1834,259,38]. 
Neumark, Gesch. der jüdischen Philosophie des M. A. Berlin 1907. 
1, 2Qf. (hier der Zusammcahang mit Plato deutlich aufgezeigt). 



5Ö 

tonende und ijainit gesellschaftliche Zustände abbildende Aus- 
prägung erhalten utid so die innere Verbindung zwischen den 
schon früh gesellschafilich auFgefaßteB Vorstellongen der Engels- 
hierdrchie im ganzen und Ihrer einzelnen Klassen herstellen 
können. Das Organisatorische in jenem Prinzip ist eine nach 
abnehmendeHj von einer der andern Klasse vermittelten Aus- 
zeichnungen, doppelt nach scientia und ofßcium (s. oben S. 53) 
gestufte Ordnung. Sie findet ihren irdisch-gesellschaftlichen 
Ausdruck in einem Körper von Rangordnungen, deren obere 
immer die untere ausstattet und zugleich unter ihrer Bot- 
mäQigkeit hat. Beide Beziehungen entFaltet sehr deutlich und 
noch in ihrem Zusammenhange mit den spirituellen Grund- 
lagen Bonaventura: 

In angelis enim ordo, qui ordini praefertur, excedit in 
natur&libus et gratuitis, etiam quodammodo influit purgando 
illuminando et perficieado et etiam ministeria complenda 
idiungit. Bonftv. 2. dist. 0. a. un. q. &. 

Das Abhängfgkeits- und Untertänigkeitsverhältnis ist dann 
sehr stark von ihm in |ener oben viedergegebenen Deßnition 
der kirchlichen Hierarchie, die er auch für die englische an- 
gewandt wissen will, ausgedrückt: 

rerum sacrarum et rationabilium ordlnata potestas, debi- 
tum in suhditos obtinens principatum. 
Ähnlich spricht sich auch Albertus Magnus aus, nur bat er 
für principatum domiaatum.^ 

Dem Unterordnungs Verhältnis gibt Wilhelm von Auvergne 
die Farbe besonderer gesellschaftlicher AbstuFungsgrilnde. 

ordinem enim habent dignitatis, alia enim aliis digniora 
sunt, habent etiam ordinem subiectionis sive obedientiae et 
praelationis sive imperii et multos alios. 

De Univ. 11. 2. cap. 143. p. 992 col. 2F. 



55 

Das Untertänigkeitsverhältnis. 

Dieses Unterianigkeitsverhaltnis mußte den Meistern die 
erheblichsten Bedenken erregen. Die Bedingtheit der irdischen 
Beziehungen,^ die in den himmlischen ja gerade ein Vorbild 



> Sem. 11 dlst. g. A. Art. I. — ^ Der Staat als ron Goit zugelassen 
oder sündllcb erpreOr, bei Gregor VII, an verscfaiedenen Stellen; s. Poole 
a. 8. O. 22Gt., ebenso bei Bonaventura, s. Scholz a. a. O. 119 n. 19Ö. 



57 

und Regulativ Snden sollen ^ — wird doch immer die Unbe- 
dingtheit, die Absolutheit der oberen betont' — möchte man, 
so sehr die Vorstellung des himmlischen Reiches der Anlehnung 
an irdische Abbilder bedarf, aus ihr entfernt wissen. Man 
hält sich die Aussprüche def Schrift und der Heiligen vor, die 
jede Herrschaft zm verwerfen scheinen, «nd müht sich, dem mit 
Vorstellungen aus einer ständischen Ordnung gefügten Bau das 
im Mittelalter nur bei den Sektierern" anzutreffende Postulat 
absoluter Herrsch aftslostgkeit, einer seligen Anarchie einzu- 
verleiben. 

^ Quod dicit „debitum dominatum retinens in subditis", 
videtur esse contra praeceptum Summi Hierarchae Christi 
qui dicit suis hierarchis; Reges gentium dominantur 
eorum ei qui potestatem etc. (Luc. 32, 25). Item I. Petr, 5. v. 3 
Neque ut dominantis in cleris. Item Bernardus ad Eu- 
genium: Noü quaerere dominari, ne tibi dominelur omnis 
iniquilas. 
Alb. Magn., Sent. IL dist. 9. A. Art. 1. ed. Borgnet 27, ISO. 
iftan legt den Aussprüchen der Schrift einen einschränkenden 
Sinn unter und urgiert auf der anderen Seite in dem Herr- 
scfaafts- bzw. Untertänigkeits Verhältnis den substantiellen Gehalt, 
den reinen Supremat, einen natürlichen Vorrang und Führer- 
schaft der Besseren.^ Man sagt: 

quod illum dominatum non interdi\it Christus, sed 
potius dominatum ambitionis: iste enim dominatus (ut dicit 
Diony^sius) dicit superpositionem sive excessum prtmorum 
et possessionem pulcbrorum bonorum et firmitatem cadere 
Don valentem. Alb. Magn. 1. c. Art. 2. p. 193. 



' Guil. Alv,, I. c. c«p. 113 i. f., p. 965 col. 2 B. — ^ Bonav. 2 
diet. 9. a. un. q- 9. Gull. Alv., 1. t. cip. 143, p. 992 col. 2 G. — * So 
bei den Brüdern des tttien Geistes. CFr. Pissauer Anonymus 
Positionen 113, 43, 92 et pSssim. Citiert bei Prcger x. a. O. I, 212. — 
* ctr. die Oben Citierten Stellen des Bonaventura und Albertus M. 
— ' Dem PseudodiOityS, mehr transcDudcnCen als politiscbcn Idealen 
eingegeben und ftls MfStagOgua mehr ein Freund schweigenden Gehorsams 
»Iv irdischer Befreitingen, hätte eine derartige Verwahrung sicher Fern- 
gelegen. Sein Glossator Pachymeres lißt sich damit gcaügco, von der 
Hierarchie der Engel tu ä^j^sii' Tvpawixöv und das to iz^j^ie^ai ßiaiav 
auszuscb ließen. Mlgnc, Patrol. S. G- 3, 127/8. — Übrigens ßndct sich 
jgelagcntlich auch Im hoben Mittelalter, veranlaßt durch den Eifer voll- 
kommener Analogisierung irdischer Verhältnisse, noch die bedingungslose 
AuFruFung eines Untertanen- ja, eines nackten Gehorsam sverhältniss es 
auch für den EngelsslaaC. 

bibenl etiani ordincm subiectionis sive obedicnliac et praelalioni« 

Sive imperü. GuÜ. Alv. I- c. cap. 143, p. 992 C9l. Z K 



SS 

Sacros enim principatus sive hierarchias oranes ordincs 
nominat non tarn propler potestativa officia^ quae habent in 
subditos, sed quia inter subslanlias creatas priacipatum nobili- 
tatis obtinent. 

Guil. Alv., De Universo II, 2 c. 136, p, 984 col. 2 H. 
Man konnte damit freilich nicht fortleugnen, daß auch der 
himmlischen wie jeder anderen Rangordnung eine Über- und Unter- 
ordnung einwohnen müsse, aber man wußte dieser himmlischen 
Über- und Unterordnung den Scliein einer absolut gerechten 
Weltordnung dadurch zu sichern, daß man die irdische als 
mangelhaft preisgab: Hier seien die Würden durchaus nicht 
nach Verdienst verteilt, nicht jeder, der einem anderen über- 
geordnet sei, übertreFTe diesen auch an innerem Werl. Darin 
aber sei die Engelsordnung vollkommen und vorbildlich, daß 
jeder durch seine innere Vortrefflichkeit auf seinen Platz berufen 
sei.' Bei dieser Deduktion kam dem mittelalterlichen Menschen 
die Lehre von den natürlichen und den durch götlHche Gnade 
verliehenen Kräften zu Hilfe, die bei den Engeln immer, nicht 
so bei den Menschen zusammenträfen, die bei den Engeln 
immer gleichmäßig, bei den Metischen wechselnd seien. Nur 
für die Kirche wird insofern eine Sonderstellung in Anspruch 
genommen, als in ihr, die dem Vorbild himmlischer Ordnung 
am nächsten, wenigstens eine durch Autorität, Amt, Weihe, inner- 
lich begründete Abstufung vorhanden sei.* Im Schluß kommt man 
dann zum Ergebnis; 

Dicendum est igitur, quod proprie et perfecte in solis 
angelis ponenda est distinctio ordinum; in hominibus vero, 
etsi aliquo modo (eben in der kirchlichen Hierarchie) re- 
periatur in presenti, reperitur imperfecte et incerte. 

Bonaventura, 2 dist. 9. a. un. q. 9. 

' Man vergleiche damit, was Rousseau über den Unterschiedl zwischen 
naiürlicher und moralischer oder politischer Ungleichheit sagt. {Discours 
sur l'oriiine et les fondemetiiä de l'Iii€gallt€ parmi les hommes.) Der Zu- 
stand der natürlichen Ungleichheit ist ihm der Zusiand der Natur an stcb, 
der der poHttscben ein Zustand der Mißverhältniaae, wo der Starke, anstatt 
in berrscben, dient, das Volk, anstait ein wirkliches Glück, eine ein- 
gebildete Rübe genieHt. Man wird linden, daß die Gegenüberstellung der 
bimmliscben und der irdi&cben Hierarctiie durch den miitelallerlicben 
Meister diesen GegensaU hinlänglich efschöpft und wird bemerken, daß 
da$ dreizebnie Jahrhundert im Gewände iheologischer Vorstellungen seine 
Erkenntnis gesellschartlicher Zustände bis in Tiefen irieti, die gründlich 
aufzuiucben, erst dem Zeitalter der AuFklirung gegeben war. Dber diesen 
selisamen, aber nicbtv&llig unerklätlicben Paralleltsm der beiden Epocben 
wird noch unien an seinem One ausführlicher zu handeln sein. — 
= Bonav., 2 disi. 9. a. un. q. 9. 



59 



I 



I 



I 



oder im leidenschaftlicheren Tone des Wilhelm von Auvergne: 
Ordinata etiam ofRcia convcnientissima impositione 
ac pulcherrima dispositione eoruni} non iuxta difTorinitareni, 
quae apud nos, pro dolor, saepissime invenitur. PraeclarJora 
namque ac subiimiora ofßcia ilüs imponuniur, qui et minime 
sciunt lila exequi et exercere et maxime executLonem ipsorum 
oderunt et pulchritudinem eorum perversitate sua deturpant 
intolerabiliter ac deformant: ibi vero Onlnia ad congruum, 
ad decentiflm et decorem omnia composita sunt et con- 
stituta: omnia quippe offtcia idoneis imposira sunt et apiis 
apiissime coaptata. 

Guil. Alv-, De Univ. IL 2. cap. 143. p. 692 coL 2 G.»-» 
Auf diese Weise wußte man zwar der himmlischen Rang- 
ordnung den Makel unbilliger Herrscbafts- und Abhängigkeitsver- 
hältnisse zu nehmen; aber es blieb bestehen die doch durch die 
Rangordnung selbst geforderte, mit den evangelischen Prinzipien an 
sich schlecht zusammenstimmende innere Ungleichheit/ die nun 
geradezu, da die himmlische Hierarchie ja als vorbildlich für die 
irdische galt^ die Sanktion einer ewigen Einrichtung erhielt. Damit 
blieben die scholastischen Lehrer, wenn sie schon einen großen 
Teil weltlicher Privilegien preisgaben, doch am äußersten Rande 
noch innerhalb des kirchlich oder staatlich gefärbten Christen- 
tums, während gleichzeitig unabhängig wirkende Geister — be- 
sonders in den Sekten — diesen Boden langst verlassen und 
das erst spät zum Staatsprogramm erhobene Postulat absoluter 
Gleichheit und Brüderlichkeit schon damals ihren flammenden 
Streitschriften vorangesetzt hatten.* Dabei ist freilich für diese 
wie für die innerhalb der Schranken staatlich-kirchlicher Ord- 
nung verbliebenen Scholastiker darauf hinzuweisen, daß die 
Theoreme beider nicht gesellschaftlichen Strebungen, sondern 
theologischen Spekulationen ihren Ursprung verdankten. Wie 
in den Sektierern der Pantheismus oder egocentrische Theis- 
mus, unbeirrbar vorwärtsgetrieben: Gleichheit aller Wesen in 



' Für die Klagen Wilhelms i3ber die tingcrecbte Verteilung der 
Ämter in der WeU bietet sein Leben selbst latsächliche Unterlagen. Mehr- 
fich hatte er Als pSpstlicber Beauftragter gcist[iche Vürdeniräger wegen 
ihrer Verfehlungen zu leklifizieren, ober die Würdigkeit von Prälaten 
Bein Urteil var dem Papst abiugeben, cf. Valois a. a. O., 84ff. — 
' Doch wird auch die irdische Rangordnung, freilieb in idealisierter 
Gestalt^ von Wilhelm an anderer Stelle in Schutt genommen als 
getreues Abbild der Engelsbierarcltie, deren Schdnbeit und Ordnung nur 
uincomparabilker major atque praestamior" aei. cap. 113 i. f., p. 965. 
col. 2 B, — ^ Koch a. a. 0., 231—233. — * cfr. Preger s. a. O.» I., 




60 ^^ 

Gott forderte, so verlangte die auch paatheistisch dirigierte 
Emänationslehre der Scholastiker Stufen der ascensio in Deutn. 
Diese in gesellschaftlicher Umdeutung — freilich ohne eigent- 
lich inneren Zusammenhang beider Bezirke — ergeben die 
Abfolge gesellschaftsmäßiger Stufen, welche dem evangelischen, 
im Pantheismus notwendig wiederkehrenden, Gleichheitsprinzip 
widerstreitet. 



S 8 

Der freie Wille als gesellschaftliches Moment. Repressalien 
dagegen. Staatsgewalt. 

Mit diesem Prinzip innerer Ungleichheit,^ steht, sobald ihm 
übertiaupt eine gesellschaftliche Beziehung untergelegt wird, 
die Theorie von der Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein 
Tun und Handeln la Verbindung. Es ist begreiflich, daß kirch- 
liche Lehrer gn dem in dieser Theorie enthaltenen Grundsatz 
der freien Willejisbestimmutig nicht vorübergegangen sind, wo 
ihnen Gelegenheit gegeben war, ihn auszusprechen. Obwohl 
es scheinen konnte, daß die im Engelsreiche vorwaltende, auf 
dem Zusammentreffen von Natur und Gnade basierende Ewig- 
keit der Ordnung dem ein Hindernis wäre, lassen die Scholastiker 
doch auch in den Engeln einen Willen zu° und setzen diesen 
sogar ihren natürlichen Gaben voran. Die theologische Be- 
gründung hierfür, die aus dem Sehnsuchtstriebe, in Gott ein- 
zugehen, abzuleiten ist, gehört nicht hierher. Sie erkennen 
jedenfalls den freien Willen für die Engel an und be- 
tonen geradezu seine Bedeutung als wesentlichen Faktor der 
ihnen subintelUgierten Gesellschaftsordnung, ja, der Gemein- 
schaftsbild ung überhaupt, indem sie ihn als das Ferment der 
dereinst — nach dem jüngsten Tage — aus den Engeln und 
den erlösten Menschen zu bildenden Gemeinschaft, als das 
innere Vehikel der Angliederung dieser als einer zehnten 
vollendenden zu den neun eigentlichen Engelsklassen be> 
trachten. Ja, sie urgieren den freien Willen als verbindendes 



* Bei Pacudodionys scheint m nur für die einzelnen Ordnungen, 
Hiebt auch für deren Glieder gegolten zu haben, a^rg. c. cOnlr. C. H. 4- S 3, 
wo eine Abstufung jtptüiai, fcsonc^ rtXtvraim nur für die Hicrarcbien 
selbst, nicbl wieder für die einzelnen Qrdincs gesetzt ist. Im Mittelalter 
aber ist es auch für die Glieder der eiuzelnea Ordines durcbgefübrt 
worden. Vgl. Hugo a. St. Victor, senMI- 5. Mägne.S. 176,86,7. Bonav.2 
dist e. a. nn. q. 8. — ^ Stabiliendo libn arbiiri Tcrtibüilatem. Bonar., 
brevil., IL ad. c. 8. 9. 



S1 



Clement der beiden miteinander zu einenden Kreise derart, daO 
sie ihm die Macht zuschreiben, die von Natur verschiedene 
Art beider Kategorien zu i^berwinden^ und über sie hinweg 
die Gemeinschaft des derein$tigen himmUschen Reiches her- 
zustellen. Diese Macht Fassen sie schon ganz deutlich fils eine 
unmittelbar politisch organisierende, nicht etwa lediglich als eine 
mittelbar wirkende, innere Macht auF. In diesem Sinne sagt 
Bonaventura: 

Icum maior sit unitas voluntatum quam facierum et plus 
facit ad uniiatem pacis et societatis et ordinis conservandam. 
2 dist. 0. a. I. 9. 5. fund. concl. et ad 1—4. 
Wie die Wirkungen der Ungleichheit und Freien Willens- 
tätigung nach einer äußeren Ordnung und Herrschaft ver- 
langen, ein Grundsatz, den der Verlauf der irdischen Dinge 
unausgesetzt herausstellt, erweist sich auch in einem besonderen 
Falle innerhalb der Engelsgcmeinschaft. Gegenüber den ab- 
trünnigen Engeln, die mit freiem Willen sich gegen Gott erhoben 
haben, wird die Gewalt Gottes geradezu als eine Art Staatshoheit 
geltend gemacht. Ihr Abfall wird als eine Art Felonie, ihre 
Absicht als eine thronräuberische gebrandmarkt. 

ICum princeps ille malignorum spirituum ab initio contra 
creatorem se erexerit et partem regni eiusdem ei detraxerit 
et ad se traxerit. 
Guil. AIv., 1. c. cap. 139. p. 989 col. 1 C. 
Gott tritt ihnen gegenüber als der in einen Aufruhr ver- 
strickte König auF, der seine Truppenmacht zur Unterdrückung 
der geiährlicheD Erhebung aufbietet' Weit ab wird der Gedanke 
gewiesen, als hätte solch Kampf Gott nicht angestanden, über- 
gangen die Frage, warum der vorauswissetide Schöpfer diesem 
Abfall nicht begegnet, wie seine Güte Tat und Strafe nicht gehindert 
habe. Gott wird durchaus als Inhaber einer staatlichen Exekutive 
vorgestellt, die er anwendet, um die iniquissimos ac nequissimos 
hostes in ihre Schranken zurückzuwerfen. Dazu bedient er 
sich derjenigen Engelsklasse, der — nach Wilhelms Auffassung — 
das besondere Amt der politischen Exekutive zugefallen ist 
{s. unten S. 87), der Poiestates, Diese Repression wird derart 
unter dem Gesichtspunkt eines staatlichen Machtmittels gegen 
unbotmäßige Untertanen aufgefaßt, daß geradezu von Gott 



I ' Das Bereich des Willens von dem der natürlicbeD Triebe deutlich 
Kcscbieden bei Vilhelm von Auvergne (1. c. cap. 138, S. 987. coU 1 D> 
indenü lediglich für jenes, als in aubsiantiis intelligibllibue, die dreigeteilie 
Verwaltung Gottes (durch Gott, Engel, Menschen) In Anspruch ge- 
DAimnen wird. — ' Guil. Alv. Ibid. 



h. 



1 



Ö2 

gesagt -wird, es würde ihn, falls er es nicht nngewendet hatte, 
der Makel eines sich selbst aufgebenden — quia vel vinci 
vult — oder Feigen — vel in fugam se vertere — Herrschers 
treffen. So starker Folgerungen ist die Vorstellung von der 
in Gott als Hierarchen der Engel Festgehaltenen Staatsgewalt 
fähig. 



§7 

Der Engelsverband im Bilde einer Staatsordnung. 

Allgemeines. 

Es ist im vorhergehenden wiederholt — so auch zu- 
letzt, am Ende des vorigen Paragraphen — berührt worden, 
wie sich die gesellschaPtliche Ordnung des Engelsverbandes für 
die mittelalterlichen Meister nicht in dem von Dionys über- 
kommenen HierarchiebegrilT erschöpft. Es ist daraufhingewiesen 
worden, daß neben der gesellschaftlichen Ausdeutung dieses 
obersten und einheitlichen BegriüFs der dionysischen Lehre das 
lebendige Bild der neung€glied€rten Ordnung selbst ihre Ge- 
danken noch in einer anderen Richtung mit gesellschaftlichen 
Anschauungen erfüllt hat. Durch ihre Bezeichnungen mußten 
einzelne Ordnungen schon ganz natürlich die Vorstellung 
staatlicher Machtfaktoren erwecken; ihre in regelmäßiger Ab- 
folge gestufte Organisation schuf die Gesamtheit der Glieder 
leicht in ein politisches System um. Noch bevor die Neunzahl der 
Ordnungen sich festgestellt, die Lehre des Pseudodionys sieh 
entfaltet hatte, war der heilige Hieronymus dazu fortgeschrittenj 
die Engelsgemeinsehaft unter dem Bilde staatlichen Lebens vor^ 
zustellen. In seinem Kommentar zu Eph. 1,21 sagt er:^ 

Si autem sunt principatus et potestates et virlutes et 
dominattones, necesse est, ut et subiectos habeant et timentes 
se et servientes sibi et eos qui sua fortitudine rcborentur. 
Quae di$tributiones oFficiorum non solum in praesentiarum, 
sed etiam in futtiro saectilo eruat, ut per singulos proFectus, 
et honores et ascensiones, etiam et descensiones vel crcscat 
aliquis, vel decrescat, et sub alia atque alia potestate, virtute, 
principatu, et dominatione Rat. Nos homitnculi rito in cinerem 
et pulverem dissolvendi si consensu homtnum levamur in 
reges, tantas habemus ministrorum diversitaies et multitu- 
dines, quantas facilius possumus sentire quam dicere: verbi 



Migtie, Patr. S. L. 26, 491,2. 



I causa, quod praefectus in parte civili iudices provioicias et 
ordinem SEium habeat: rursum niilitia in tot comites, duces, 
tribunos et muttiplicetn scindalurexercitum. et putamusdeum, 
DomiDum dominonim et Regem regaantium, simplici tantum 
ministerio contentura? 
Hier ist in einer Sprache, die Freilich die tatsächlichen 
o]gerui]gen des Prinzips stark heraustreibt, die innere Or- 
ganisation des Engelsverbandes als eine staatenmäßig in Be- 
^Ksmtenkategorieen gegliederte deutlich getiug vorgestellt und 
^»bezeichnet. Abgesehen von der Andeutung weiterer Stufen- 
kategorieen in den subiecti, timentes, servientes und denjenigen, 
qui fortitudine (ihrer Oberen) roborentur — womit eine doppelte 
Beziehung der Beherrschung und Ausstattung der Unteren 
durcb die Oberen (s. oben S. 56) ausgedrückt wird — -, ist 
sogar auf eine Art von Aufrücken in der Beamtenhierarchie 
angespielt mit den Worten: per singulos profecius etc.: wenn 
natürlich auch der eigentlich zu Grunde liegende Sinn immer 
theologisch gefärbt bleibt. 

Schliesslich aber greift Hieronymus ganz geradezu auf die 
weltliche StaaisherrschaFt hinüber und vindiziert von ihr aus, 
nämlich daher, daß da$ Schnell vorüberrauschende Königtum 
eines Sterblichen mit einer so weitschichtig geordneten Schar 
von Beamten ausgestattet sei, für den König der Könige ein 
gleiches in vollkommener Ausgestaltung. 

Wie Hieronymus diese weitschichtige Herrschaft beschreibt: 
tantas habemus ministrorum diversitates etc., das legt im Zu- 
sammenhange mit den vorhergehenden Ausführungen über die 
subiectos timentes servientes und diejenigen, qui fortitudine (ihrer 
Oberen) roborenturj die Vermutung nahe, seine Vorstellung 
des himmlischen Reiches habe sich auf das Bild eines tatsäch- 
I liehen Erdenregiments gestützt, habe den großen Apparatus eines 

weltlichen Staates unmittelbar vorm Auge gehabt. 
^H Dies erscheint titir zu wahrscheinlich, wenn man erwägt, 
^PdaQ Hieronymus die Aufzählung der Engelsordnungen durch 
^den Apostel auf dessen tiefere Einsicht in das Wesen der im 
Alten Testament überlieferlen irdischen Herrschaften zurückFühft, 
iiü er dem Apostel zuschreibt, er habe in den in den Büchern 
Numeri und Regum überlieferten Reges principes duces tribuni 
und centuriones das Abbild der oberen Herrschaften erkannt. 
Daraus ergab sich für den Heiligen mit einer gewissen Notwendig- 
keit die Konstruktion der himmlischen Hierarchieorganisation 
nach einem bestimmten weltlichen Vorbilde. Ob nun dieses 
Ldas der alten jüdischen Reiche, wie sie die heiligen Schriften 




64 

schildern, oder das sonstiger vorderasiatischer Herrschaften oder 
das des alten Rom ist, das läßt sich nach den unscharfen Ausdrücken 
des Heiligen nicht mit Sicherheit sagen: vielleicht haben auch 
alle zusammen eingewirkt. Auf jeden Fall aber hat die nahe 
Verbindung, in die der Heilige die himmlische Organisation mit 
concreten irdischen Herrschaften gesetzt hat, auf späte Nach- 
folger noch ihren Einfluß geübt. Nicht nur ßnden sich z. B. bei 
Wilhelm von Auvergne ganz auffällige äußerliche Anklänge an 
des Hieronymus Ausführungen: die fCategorieen der principes 
duces tribuni cenlurioaes kehren genau so bei ihm wieder, 
nicht nur Gndet sich bei ihm gelegentlich die Vorstellung des 
himmlischen Reiches unter dem Bilde eines so weitschichtig 
gegliederten irdischen Hofhalts mit purpurati togati anulati fibulati 
und mitrati, daß man dabei an vorderastatische oder byzan- 
tische Staatsordnungen denken muß — ■ nein, noch ganz spät 
bei den Publizisten des Naturrechts begegnen wir — nun freilich 
im Wege und zum Zwecke historischer Ableitung — der Zu- 
sammenstellung des Engelstaates mit einem irdischen Regiment. 
Man wird den Kommentatoren der Migne-Ausgabe nicht unrecht 
geben können, wenn sie in der späten Aufstellung des Grotius, 
die Schilderung des Engelstaates durch Paulus sei auf das 
Urbild des persischen Hofstaates zurückzuführen,' den Einfluß 
des heiligen Einsiedlers wirksam glauben,^ der dem Paulus zu- 
geschrieben hatte, er habe die Engelshierarchie aus den Herr- 
schaften des alten Bundes abgelesen. 



S 8 

Der Engelstaat als Vorbild irdischen Regiments. 

Wilhelm von Auvergne. 

D^r Grundgedanke des Hieronymus, daß die Engels hie rare hie 
in dem weltlichen Regiment des Alten Bundes ein irdisches 

^ Daß taCsl4:blich im Engelstaal, wie ibti die heiligen SchriFren über- 
lieferten, mancherlei Anklänge an die persische Hafäalrung zu verzeichnen 
sind, scheinen die Kommentatoren mit Kecbc anzumerlten. S. Xenopbon, 
Cyropadie VIII, 1,b, h, *o; 2,7-»; 3,,x. Vgl. CurtiuSi Griecb. Gescb. 
6. AuH., 1, 601, Duncker, Gesch. des Altertums, 4. Aufl. 4, 524if, 
V. PräBcfc, Gesch. der iWedcr und Perser. Gotha 1906. I^ 203, 238». 
— * Es sei auch darauf hingewiesen, daß bereits im dreizehnten Jahr- 
bunderi, in der weiter uncen (S. 108} mirgeiellten Stelle aus des Ägidiua 
Romanus Traktat De eccieaiastica potestaie die Engelsklasse der Prlnci- 
patus einer Rangstufe des persischen Horbalrs gleichgesetzt wird, die 
dort als Principes bezeicbnet wird. 



65 

Abbild gefunilen habe, hat aber noch weitere Frucht getragen. 
Bei Hieronymus selbst ergibt sich daraus nur eine Stütze für 
die auftiohende Vorstellung der HimmelsherrschaFt. Spätere 
haben betontere Folgerungen aus dem Grundsatz des im welt- 
lichen Regiment abgebildeten Himmelsreiches gezogen. Wilhelm 
von Auvergne lehrt am Schlüsse seiner Stufenfolge imaginärer 
Staatsklassen: 

necesse est in illo regno pulchritudinem et decentiam, 
numerum et Ordinationen! non solum similes esse istis, quas 
de regno terrento posui, sed etiam exemplares istarum. - — 
Quia igitur omnis rex bonus exemplum est et similitudo 
primi a.c summi regis, qui est Creator benedictus, erit 
necessario et omne regnum bene dispositum exemplum et 
similitudo regni tUius, et ordinatio huius ordinalionis et 
ordtnes huius ordinum illius. 

Guil. Alv., 1. c. cap. 112 p. 964 coL 2G., ähnlich cap. 
113 i. f. p. ges cöl. 2B. 
Hier mündet jene Aufhöhung irdischen Wesens zum göttlich 
Übergeordneten schon in die vorausnehmende Anerkennung des 
Exemplarischen im Himmelreiche. Davon ist bei dem kräftigen 
Vorstellen des Frühen Eremiten noch die Rede nicht. Die 
ganzen geistigen Einströme von den im göttlichen Nus vorbildlich 
dargestellten Ideen,* übertragen in die halb mystisch, halb 
tnoralische Welt christlicher Dogmen, haben diese Anerkennung 
des himmlischen Anordnungsprinzips als eines für das weltliche 
Regiment vorbildlichen aDgebahnf. Diese Pronqnziatlon ist erst 
spät, und wohl mehr von dem scholastischen Hange, die 
allgemeine Geltung des göttlichen Gesetzes zu erweisen, 
als von einer politisch-ideologischen Absicht herausgetrieben 
worden. 

Man wird aber über der Betonung dieser rein geistigen 
Auswirkung des zugrunde liegenden Prinzips nicht übersehen 
dürfen, wie diese im Resultate ein höchst lebendiges Problem 
der mittelalterlichen Staatsauf Fassung zu beeinflussen geeignet 
war. Von Gregor VII.- bis zu Thomas von Aquino läuft eine 
fortgesetzte Reibe von Aussprüchen, welche den irdischen Staat 
als in der Sünde von Gott erpreßt, als eine strafweise Zulassung 



r ^ Dberweg-Heinze I. S. 382, II, S. 21217., 283. Baumgartncr 
a. a. 0., S. TlEf. Schindele n. a. O., S. 33r v. Herlüng, Albertus 
Magnus, Köln 1880, S. 8S. — ' Ep. Vlll, 21- Jaffa, Bibl. Rer. 
Germ. 2, 457, vgl. Scbolz a. a. 0„ S. 119 n. igs, — ■ Scbolz, 

icbeada. 

5 




86 

Gottes ansehen. Erst mit Thomas läQt man im allgemeinen eine 
staatsfreundlichere, von Aristoteles beeinflußte Meinung Platz 
greifen. Da muß es nun auffallen, nie hier — ein Menschen- 
aller vor Thomas — der Staat nicht nur nicht als eine unvoll- 
kommene, Gott miQlallige Institution, sondern geradezu als die 
genaue und getreue Nachbildung der himmlischen Herrschaft 
angesprochen, der König, insoweit er gut ist, als ein 
Abhild Gottes gerühmt wird. Auch wenn man erwägt, 
daß die wilhelmische Staatsordnung, von der Wirklichlteit weit 
entfernt, ein Gebilde der Phantasie ist, bleibt immer doch be- 
stehen, daß unter ihr ein weltlicher, von der kirchlichen Gewalt 
gesonderter Staat verstanden wird. Und man wird sich am 
Ende diese Hinneigung zum weltlichen Staate nicht allein damit 
erklären können, daß sie sich im Wege allegorischer Aus- 
deutung aus rein theologisch - dogmatischen Substraten er- 
gehen habe: auch in diesem Gewände muO sie, in diesem 
Zeitalter von einem hervorragenden Kleriker geäußert, auffällig 
erscheinen.* 

Es bleiben vielmehr nur zwei Erklärungsgründe Für diese 
auffallende Antizipation erst später zu allgemeinerer Anerkennung 
gelangter Grundsätze: einmal die gerade von NCilbelm aus 
arabischen Quellen und auch sonst früh gewonnene Kenntnis 
aristotelischer Schriften^ und dann seine Stellung als Fran- 
zösischer Bischof in unmittelbarer Nähe des Hofes. War 
an sieb schon die Haltung der fränzösichen Bischöfe gegenüber 
dem Römischen Stubl eine ausnehmend Freie, mehr dem Staate 
zugeneigte, als etwa die der deutschen Bischöfe," so mußte 
die nahe persönliche Verbindung, in der Wilhelm dauernd 
zum französischen Throne stand, die Ausprägung seiner Ge- 
sinnungen in slaatsfreundlichem Sinne noch erheblich be- 
fördern: wie er sich denn auch in seinem politischen 
Wirken nie als einen unbedingten Eiferer für den Ko- 
mischen Stuhl, oft als einen Vertreter königlicher Interessen 
bezeigte.^ 



> SoTJel vir sehen, findet sich Bine abnlicbe Äußerung nur noch 
bei einem Kleriker dieser Epoche: bei dem in der zweiten HiUte des 
12. Jahrhunderts blühenden Jdbannes von Salesbury In seinem Policraticus 
IV, t, wo auch der Fürst als Abbild Goties und seine Macht als aus Göti 
Aleaend dargestellt wird, Auch auf ihn, der seine Bildung in Frankreich 
erhielt, werden 9bnlicheErkl9rung8sründe wie auf Vilhelm anzuwenden sein. 
Vgl. aber Poole a. a. O-, 235. ~ "* Jourdain, Pbilosophie de Sc. Tbomas. 
Paris, 1858, I, 50. — " Poole a. a. O., 247. Scholz a. a. O., 20S. — 
* Valoia a.a.O., 68, 74f., 144r. 




67 



I 



«9 

arstellung des irdischen Regimentes (Staat und Kirche) 
nach dem Bilde des Ezngelsiaaces. 

Allgemeines. 



Die Vorstellung, daß dem Etigelstaat exemplarische Be- 
deutung für das irdische Regiment zukommt, hat Wilhelm dazu 
veranlaßt, ihn in seiner ganzen Gliederung in die beiden irdischen 
Gewalten — weltliche und geistliche — zu projizieren. Er 
entwirft für beide eine vollkommen der Folge der Engelsklassen 
entsprechende neungegliederte Ordnung, die aber jeweils nicht 
das Ziel hat, weltlichem oder geistlichem Hegiment als Vor- 
bild zu dienen, sondern umgekehrt durch ihre Existenz das Be- 
stehen des vorbildlichen Engelsreiches dartun und veran- 
,schaulicheii soll. 

1 Diese Existenz ist nun freilich naturgeniäll eine rein ima- 
ginäre — nach Wilhelms Meinung allerdings der aprioristisch er- 
faßte ideale Gehalt jedes Weltregimenis. Sie ist in Wahrheit erst 
durch das Vorbild des Engelsstaates, den sie gerade erweisen 
sollj in die in Wirklichkeit ganz anders geordneten irdischen 
Hierarchieen hineingetragen worden und stellt so keine tatsäch- 
liche, sondern nur eine ad hoc iingierte Weltordnung dar; welche 
Für die kirchliche Hierarchie, die durch ihr dogmatisch sanctio- 
nierles Gefüge vor einer eindringenden Neuordnung gesichert 
war, nur in geringen Umstellungen und Ausdeutungen zum Aus- 
druck kommt, für die weilliche aber zu einer einheitlichen voll- 
kommen neuen Staatsordnung führt. Denn hier hinderte nicht 
nur nicht eine geheiligte Stufenfolge von Klassen den Entwurf 
einer neuen Gewaltenordnung, sondern das indecis vielgestaltige 
Durcheinanderlaufen staatlicher, ständischer, höfischer Ordnungen, 
das noch dazu in keinem der westeuropäischen Regimente einen 
allgemein verbindlichen Ausdruck gefunden halte, forderte ge- 
radezu, sollte eine dem Engelsstaat gegenüberzustellende ein- 
heitliche Ordnung gegeben werden, zu einer vollkommenen 
Neuschöpfung heraus. Hier wirkte sich naturgemäß, da der 
Rückhalt irdischer Institutionen nur sehr dilFus war, das Vorbild 
des Engelsverbandes völlig aus. Aus den Namen der Engels- 
klassen und den mit diesen, sei es theologisch -dogmatisch, sei 
es spekulativ unter platonischem oder aristotelischem Einflüsse 
verknüpften Vorstellungen sog die von Wilhelm aufgestellte 
Reihenfolge welllicher Klassen ihre wesentlichen Inhalte und 
formte sich zu einem geschlossenen neuen Staatsordnungsge bilde. 

5* 




68 

Nur innerhalb dieses Rahmens an einzelnen Stellen ver-" 
mochte sich noch das Gewicht tatsächlicher politischer Zustände 
Geltung zu verschaffen, das der mitceialterliche, auf ein All- 
gemeines, den in Gott gegebenen Weltverband, gerichtete Geist 
überhaupt nur ungern bereit war, in seinen Systemen zu berück- 
sichtigen/ So erhielt das Bild irdischer Staatsordnung, das 
Wilhelm als Abbild des Engelsstaates entwarf, im wesentlichen, 
ohne daß diese Tendenz vorgewaltet halte, doch den Charakter 
einer politischen Ideologie und ist als solches im Mittelalter, 
so viel wir sehen, ejn einzig dastehendes Gebilde,^ von dem man 
wird sagen können, daß es in scholastischer Umgrenzung die mit 
dem Erlöschen antiken Geistes unterbrochene Reihe politischer 
Utopieen wiederaufnimmt^ und auf die Renaissance weiterleitet- 

Wilhelm beginnt seine Darstellung der die Engelsklassen 
widerspiegelnden irdischen Gewalten mit der weltlichen Staats- 
ordnung, ohne hiefür einen besonderen Grund anzugeben. 
Ebenso ist sie es auch, die er im weiteren Verlaufe fast aus- 
schließlich berücksichtigt. Man wird dafür zunächst in dem 
oben angegebenen Umstände, daß sie als ein im wesentlichen 
ideologisches Gebilde der Entfaltung allgemeiner und vorbildlicher 
Normen, insbesondere auch in der Richtung der Verwertung 
klassischen Materials, den breitesten Raum bot, eine Erklärung 
suchen. Aber diese Erklärung wird nicht völlig befriedigen. 

Sie vermag die ohne jeden Versuch der Rechtfertigung er- 
folgte Zurücksetzung der kirchlichen Hierarchie, die doch auch 
aus sachlichen Erwägungen den Vorrang hätte haben müssen, 
nicht ganz zu begründen. Es werden daneben Momente persön- 
licher und zeitgeschichtlicher Natur zu berücksichtigen sein. Man 
weiß} wie Ludwig IX., dessen vertrauter Ratgeber Wilhelm war,^ 
trotz seiner hingegeben christlichen Gesinnung dem Römischen 
Stuhle gegenüber die königlichen Rechte wahrzunehmen ver- 
stand. ° Man wird vielleicht aus der offenbaren Bevorzugung 
der weltlichen Macht bei der Abspiegelung des Engeistaals in 
den irdischen Gewalten einen Schluß in der Richtung ziehen 



^ Poolea. a, O,, 233, Riezlera. a. O., 131. — ' Der Policrarlcus des 
Johannes von Snlesbury kann bier als alizueebr in Allcgorieen verstrickt, 
als alUufern jeder polLtiscben Systemaiik gamicbi in Betrachi kommen. — 
* cf, Oncken, Slaaislebre des Arisioteles. Leipzig 1870, 1,67 FT. Schneid, 
Aristoteles in der Scbolasiik. Bichstäct I37&, 148. ^ * Valois, Cuillaume 
d'Auvcrgne 1, IMff. — ■' Ranke, Veltgescbichie VJEI, 438 f. Franzdsischti 
Ge&chichie I, 31. Valois, I. c. 66, 151. Lucbaire, Manuel des Institutions 
ffaneaises. Piiris 1892, 463. Bouiaric, St. Louis er Alpbonse de Poitiers. 
Paris 1870, 2IG f. 



69 



dürfen, wie Schon in den Zeiten Ludwigs IX. sich selbst in den 
kirchlichen Häuptern Frankreichs das Bewußtsein von den 
Rechten des weltlichen Regimentes aflzubflhnen begann. Be- 
merkenswert ist in dieser Hinsicht auch wie stark dje ver- 
gleichsweise Anrufung der weEtlichen Macht einsetzt: Scito quod 
tempore adolescentiae meae cum cogitarem de sacris istis 
principatibus et ordinibus, incidit mihi cogitatiis de regno terrae 
bene ordinaio etc. gegenüber der blassen Einführung der kirch- 
h'chen Hierarchie: Addam tibi et aliam simililudinem regni scilicet 

spiritualis — ^ {Hierzu wäre die bereits oben verwertete 

Stelle über das Königsregiment als Abbild des göttlichen an- 
zumerken. S. S. 66.) 

Bei der Beziehung der einzelnen himmlischen Stufen auf 
die entsprechenden irdischen lo&titutiooen sieht Wilhelm von der 
von Pseudodionys vorgenommenen starken Dreiteilung ab. Den 
drei Hierarchieen schuF er keine irdischen Gegenstufen. Ihn 
beherrscht'hier ganz — wie den frühen Eremiten- — der starke 
sinnfällige Klang der neunmal gestuften himmlischen Rangord- 
nung. Ihr fand er in irdischem Bilde Abglanz und Widerschein. 



S 10 
Weltliche Staatsordnung. 

Erste Klasse 
Amantissimi Regis — Serafim. 



Wilhelm beginnt nach dem kurzen, oben wiedergegebenen 
Auftakt: wie ihm als Jüngling im Gedanken an die Himmels- 
hierarchie sich aprioristisch das Bild vom wohl bestellten 
Efdenstaate dargesielh habe, sogleich mit dessen Aufrollung, 
indem er die Beziehungen der einzelnen Rangstufen zu den 
Engelsklassen am Schlüsse darlegt, vermittelt durch die oben 
mehrfach berührte Auseinandersetzung, daß die irdische Muster- 
ordnung, da der Glanz aller irdischen Herrschaft nur ein Ab- 
bild der himmlischen sei, notwendig in der Engelsgemein schaff 
vorbildlich verkörpert sein müsse. 

Er eröffnet die Reihe weltlicher Gewaltordnungen mit den 
Proximi ac laterales Regis. Diese scheiden sich nach ihm not- 
wendig in drei Ordnungen, „quos necesse est indesineater et 
tateraliter assistere ipsi Regi".^ Daß diese Dreiteilung und die 




' t>e Univ. cap. 112, 113 p. 964 col I G. p. 965 coi. IC.— * Oben 



^S. 62 ff. 



Cap. 112 p. 964 col. 1 G. 



70 



ganze VorsceÜung völlig von der pseudodionysischen Schilderung 
der ersten Engelshierarchie beherrscht wird, ist offenbar. Man 
vergleiche De Caei. Hier. VI $ 2. 

Kai iT^wjffV (sc. T^ia&i/iTiii) (Av eivaC ^r^oi tijv 7u^l ßeöv ovaav 
aei xai 7rpoffexii*t' ßtif;) xat Tt^o twi' aXXmv af^idaivi^ rjvitia9ai 

v/Teffy.Eifi(vr^ii iyyürijTa jtsqI Öcö^ afteOLog lÖQVEad-ai. 
Damit ist ein Licht auf die Inanspruchnahme der Wilhel' 
mischen Herrschafistheorie als einer aprioristisch erfaßten ge- 
worfen. Man bemerkt, wie sie sich zunächst an der theologischen 
Ideensysieraatisierung des Dionys orientiert, um dann sich freilich 
in freierer, speltulativer Entfaltung hinaufzuranken. 

Dem „indesinenter et lateraliier assistere Regi* vindtciert 
Wilhelm einen besonderen Sinn nicht. Es wird damit eben nur 
die PHicht dieser obersten Beamtenklassen (des persönlichen 
Gefolges, der Räte und der Richter) zu unmittelbarer Umgebung 
des königlichen Throns» und die Bedeutung» die für den königlichen 
Thron in ihrer nahen EereUschaFr liegt, zum Ausdruck gebracht- 
Er gehl alsbald zur Auseinandersetzung der ersten Gangordnuni^ 
über, die er als die 

Amantissimorum hoc est maxime Regem amantlum et 

amore ipsius super omnes ferventium^ 
beschreibt^ Die Beeinflussung durch die Bezeichnung der ent- 
sprechenden Engelsklasse ist deutlich. Wilhelm selbst weist 
bei der Vergleichung derselben unabsichtlich darauf hin, indem 
er vorgibt, die innere Ähnlichkeit beider zeige sich schon in 
dem Namen Seraphim an „quae est totus ardens sive incendium 
eorum."^ In Wahrheit hat «ich seine weltliche Ordnung auf 
dem Grunde der dogmatischen Ausdeutung des Engelsnamens 
constituiert. Diese ergibt zwar nach neuerer Auffassung einen 
ganz anderen Sinn, bedeutet; Edle, Magnaten;" die ältere und 
auch die heute herrschende katholische Lehre aber leitet den 
Engelsnamen von f^'w ab, das eigentlich „verbrennen* heiDt,^ 
von den Auslegern dieser Richtung aber von jeher im Sinne 
von f,m Liebesglut verzehren" aufgefaßt wurde.* 



' p. 964 col. IG. — * p. 964 col. 2 G. — ^ Geseniua, Htnd- 
wfirterbuch. — * Wobei man aber aucb an eine in Mos. 4, 21, 8; 5, 8, 15 
vorkommende Schlangenart des gleichen Vortstammes wird denken 
müaeen. Dadurch e^^ält dann dies« Ableitung, wenn man sie mit der 
dcB Namens Cberubin zusamniejibiilr, doch elae gewisse Wxbrscbein- 
llcbkeit. S. unten S. IZ Q. 1. — '> Scbeeben, Haadb, der kilh. Dog- 
matik II, 90. 



71 



Die auf dieser Grundlage konstituierte Ordnung erhält eine 
.leicht gesellschaftswissenschaftliche Färbung« indem Wilhelm 
Ifortfdhrt : 

haec est consuetudo Regum omnium, sciHcet ut et 
velint habere et habeaot juxta se et proximos sibi, quos 
sibi credunt amicissimos.^ 
Hier spiegelt sich weniger eine bestimmt umgrenzte 
Staatsauffassung als die allgemeine Anschauung des mittelalter- 
lichen Menschen von Wert und Vermögen der Königsherrschaft 
wieder. Trotz der in den Zeiten Wilhelms schon fortgeschrittenen 
Konsolidierung der Monarchie in Frankreich' erscheint ihm noch 
immer das königliche Regiment als ein wesentlich auf Persönlich- 
keit gegründetes, des persönlichen Anhangs bedürftiges. Die 
Schatten der im Umkreis — besonders in den deutschen Haus- 
virren Friedcichs II. mit seinem Sohne Heinrich, wo die Ent- 
scheidung fast ausdrücklich in die Zuverlässigkeit persönlicher 
Anhängerschaft gestellt war" — wanicenden Kronen fallen herein.' 
Doch JäÜt die kühle, von der begeisterten Begründung der 
späteren Klassen scharf abstechende Ausführung über die Bei- 
ordnung der Amantissimi als eine consuetudo Regum, ut 

velint habere et habeant — quos credant amicissimos 

die Zweifel Wilhelms an der Rechtmäßigkeit wie auch an der 
Wirksamkeit solcher Thronstützen deutlich durchblicken. Ob 
es aber in seiner Absicht lag, diesen Bedenken hier gerade 
Ausdruck zu geben, kann man billig bezweifeln. Ihn mußte 
davon abhalten, daQ die Parallele zur Königsherrschaft auf den 
göttlichen Thron selbst führt, dessen Bestand und Grundlagen 
gegenüber derartige Zweifel zur Gotteslästerung werden mußten. 
Es wird in seinem Sinne wesentlich gelegen haben, ein rein 
innerliches Verhältnis, ein Gemälde biblischer Patriarchen- und 
Königsumgebung abzubilden. Was aber ^ wohl wider seinen 
Willen — hindurchklang, war der Widerhall der Zeit, ihrer 
Wirrungen und Strebungen in der Seele eines selbst zur nächsten 
Wahrung der Königswürde berufenen, aber mehr der zweiten 
Ordnung: Sapientes als der ersten: Amantissimi zuzuschreibenden 
Mannes.* 



I 



^ GuU. Alv., Ibid. — " Boutaric a. 8. O., 11 r. Viollet, Histolre 
des InstitutioDS polit. et admin. de la France. Paris 1898, IL, 193, 
Lucbalre, Manuel, 463, ^1. — 'Kanke, Weltgeschichte VllI, 354. — 
' De Unlverao ist verraHt zwischen 1231 und 1236. S, Schindele 
I. I. O., S. B. — ^ Ober Wilhelms Stellung am Hof« Ludwigs IX., 
vgl. Valols a. a. 0., 144fr. 



k. 



72 



S II 

Zveite Kla«&e 
Räte — Cherubim. 

Die zweite Ordnung, der himmlischen der Cherubim assi- 
milieri, und mit dieser auf dieselbe Weise, wie die Amantissimi 
mit den Seraphim, durch die Namensausdeutung verknüpft — 
3113 bedeutet an sich Greif (zusammengesetzt aus Mensch, Stier» 
Löwe, Adler, den Symbolen der Macht und Stärke),^ wird 
aber ähnlich wie Seraphim, von der katholischen Theologie 
auch nach heute'^ auf Grund der Autorität des Philo^ mit „Wissen- 
schaft und Einsicht", „Plenitudo sapienti&e vel fusio scieotiae"* 
übersetzt — die Sapientes leitet Wilhelm mit der Lobpreisung ein: 
quo ordine nihil regi convenlentius nihil decentius.** 

Diese Meinung entspricht ganz der Sinnesart eines Mannes, 
welcher dem Throne selbst als einer der ersten Ratgeber zur Seite 
stand. Sie enthält darüber hinaus die theoretische, wohl von 
Aristoteles* beeinflußte Meinung eines mittelalterlichen Staats- 
manns vom Amt des Königs überhaupt. Nicht mit eigener 
Machtvollkommenheit und nibht auf eigene Versrand es mittel 
allein vertrauend, versehe der König sein Amt. Er nehme 
vielmehr die Unterstützung der Weisesten des Landes in An- 
spruch. 

Tu quoque scis, quam necessarii sunt sapientes guber- 
nationibus regnorum.' 

Es ist nicht völlig von der Hand zu weisen, daß zu diesem 
Ausspruch auch zeitgenössische Bewegungen mitgewirkt haben. 
Es mag sein, daü Wilhelm, je mehr die Gesetzgebungsgewalt 
des Französischen Königs sich von der einst erforderlichen Zu- 
stimmung der Barone zu befreien wußte,* um so mehr einen 
Schutz gegen ihre willkürliche Handhabung in einem Ratskolleg 
für geboten erachtete, wie ein solches seit dem Komitat der 



^ Gesenius, HandwSrterbucb. Wie wenig die in Tiergesuli auf- 
tretende Urform der Engel als eEne Symbolisierung von Naturktäfien 
lufjufassen, wie vielmebr sie als reines Fabelwesen anzusehen ist, dem 
später die Syinboleigciungen bineingedeutet wurden, darüber stehe 
Breysig, Die Entstehung des Gattesgedankens und der Heilbringer. 
Berlin I90S, S. ÖTFT., eine Anschauung, der vielleicbi nicbt nur die Gestalt 
des Cberub, sondern nach dem oben S. 70 n. 4 von uns Gesagten cucb 
die de& Seraph als Unterlage dienen kSnnter — - Scheeben a. a. O., 90. 

— 3 über die Engellehre des Pbilo s. oben S. 55 n. 2. — * p. 964 col. 2G. 

— " p. 964 col. IG.— '* Scholz a. a. O^ 111. Aristo. Rhet. I, 4, 1359b, 
18fF., Eth. Nicom. UI, 5, 1112b, 21 ff. — " p. 964 col. IG. — " Viollet, 
I. a. O., 11, S. 191ff. Luchiiire, Manuel, a. a. O,, 500. 



73 



'inger nie ganz erloschen/ mit dem dreizehnten Jahr- 
hundert in immer gesteigertere Wirksamkeit trat^ (Curia regis). 
Es mag auch sein, daß auF ihn die englischen Geschicke, 
tnit denen er in enger Fühlung stand — - er vermittelte 
1234—1235 im Auftrage des Papstes Friedensverhandlungen 
zwischen Heinrich 111. und Ludwig IX.'' — nicht ganz ohne Ein- 
fluß geblieben sind. Hier begegnen wir seit 123ß neben dem 
König einer Versammlung von zwölf Räten, „die dem König den 
Eid leisteten, ihn treu zu beraten".'' Anfänglich wohl reines 
Verwaltungsorgan und mit dem König ergebenen Elementen be- 
setzt,^ wurde sie bald ein Werkzeug, durch das die Stände ihre 
das Königtum beschränkenden Forderungen, insbesondere Auf- 
rechterhalcung und Ausgestaltung der Magna Charta, durchsetzten. " 

So weit gehende Absichten werden bei der verschiedenen 
Richtung, in der die englischen und die französischen Geschicke 
sich bewegten," dem Postulat Wilhelms nicht zuzuschreiben sein. 
Alan wird bei ihm immer nur an ein den König beratendes, 
nie an ein ihn aus eigener Macht beschränkendes Organ denken 
können^ womit die tatsächliche Stellung des Ratskollegs im 
Frankreich des 13. und 14. Jahrhunderts bezeichnet ist.* Nur so 
weit reicht auch die Tragweite der von "Wilhelm gewählten Worte 
selbst; sie drücken eben doch mehr einen politisch-ethischen Grund- 
satz, als eine aktuell-praktische Forderung aus. Sie reklamieren 
— im Fluß antiker Theoreme, wie sie auch sonst im Mittelalter 
hervortraten * — die königliche Würde als ein dem Volkswohl die- 
nendes Amt, aber sie stellen sie nicht zur Diskretion des Volkes. 

Darauf läuft auch die gleich folgende, an die Sprüche Salo- 



i 



onis '" angelehnte AusFührung hinaus: 



'- VloUet a.. &. O.^ III., I77f?. LuchacTe ibid. Idem, HisLdes inslitu- 
tions monirch. de la France. Paris 1891, 1, 196ff. — "^ Viollel a, a. O., 
III., 38 fF. Luchaire a. a. O , EOl. — "" Valois a. a. O., 113. — * PI eh n, 
Hit politische Cbarakier des Macheus Parj^iensis m Staats- und sozialwissen- 
scbafUichen Fofschüftgea XIV. 3., 74. — ^ Dieses Zwölfrätekollegium, durch 
Tilheln von Valence eingefübn, geht selbsi auf das Vorbild Frankrekba 
lurficfc. Plehfl ibid. — « Pleho a. a. O., 75- — ^ Ranlte, Weltgeschichte 
Vni., 333. — " Viollet a.a.O., S. 388. Glasson, Hisl. du droit eUl es 
iosiif. ae la France 5, 377 ff., bsdrs.387. Luchaire, Manuel 501. — » Isidor. 
Hispal. Senr. IIl. cap. 49 i. f. Paris 1601. M. 685 col. 2B. Job. Saresb. 
PoEicraiicus IV, 1, 2. Maitigold von Laulerbacb, eil. bei Poole a. a. O., 
232. vgl. Jflurdaifl, F^cursions hisioriques et pbllosophiques h travers 
te M.-A. Paris 1888. 517EF. ^ '° Die loansprucbnabme Salomos selbst 
ila des Vorbildes königlicher Weisheit ist eine im MitrelPilrer weitverbreitete 
Übung. Bildliche Darstellungen eines gerechten Regiments wählen mit 
Vorliebe zum Symbol das Urieil Salomonts. Vgl. z. B. die etwas spätere 
Darstellung an der Fassade des Dogenpalasces zu Venedig. 




74 

per sapientjam conduntur leges et sfsfüTä säTüTäiTr 
hominibusque pemtilia eduntur. 
Damit stimmt es aufs beste überein, wenn Wilhelm an' 
späterer Stelle ausdrücklich den Fürsten als »minister, quasi 
pater, subdiiorum",' seine „dtgnicates et ofßcia"^ aber als 
„gravissiniB onera" '^ bezeichnet. Es ist dieselbe Anschauungj' 
und aus denselben antiken, neu eröffneten Quellen geschöpft, 
welche fünf Jahrhunderle später den absoluten Fürsten als ersten 
Diener seines Staats proklamiert, ihm in seinen Räten die Mittel 
zu rechter Handhabung seiner ungeheuren Macbtfülie präsen-, 
tiefend.* 



S 12 

Dritte Klasse 
Richter — Throni. 



Die dritte Klasse sind die ludices. Sie ist der Engels- 
hlftsse der Throni oder Sedes an die Seite gestellt, deren Namen 
Wilhelm dahin erläutert: 

In illis tanquam in regno regalis excellentiae suae sedet 
rex ille et Dominus saeculorum et inde sive per illos iudicia 
sua exercet. P. 964 co!, 2 G. 

Wieder hat der dogmatische Gehalt des Engelnamens die 
Basis abgegeben, auf der Wilhelm sich das Wesen des irdischen Ab- 
bildes konstruiert. Wenn man sich die Throni bildhaft als 
Sedes göttlicher Herrlichkeit vorstellt, so ergibt sich die ideelle 
Substanz dieser Sedes von selbst aus der Anschauung, welche 
als die sicherste Grundlage jeder Regierung die Gerechtigkeit 
ansieht.* Der Thron Gottes ist danach die Gerechtigkeit, die 
einzelnen Glieder der Ordnung die Gerechtigkeit Übenden: die 
Kichter. Diese Einschätzung des Richterstsndes ist im JVlittel- 
alter alt und allgemein. Dem mitteUlterUchen Menschen er- 
schien als das vornehmste Amt des Königs das Richteramt.' 
Dieses zu verwalten ist besonders der König von Frankreich 



> p. 964 col. 2 H., p. 9S7 col. 2 C. - ' ibid. - => Darüber s. niher« 
untenS.SSfT.—^Teaa wir auch den oft cltiertenWahlEprucb Kaiser Fraai I. 
,iu&titia fundamentum regnorum' dem Wortlaut nach für eine frühere 
Zeit nicht belegen können, der Gedanke Hadei sich schon in der jusii- 

nianeischen KodifikalloQ 1. 2 $ 4 Dig. de orlgr lur. 1. 3 (per quoa , 

clvUas fundarefur legibus). — '• Viollet a. a. O., 209. Fustel de Cou> 
larges, L'organisatioa iudCcIalre au Mofen^Age. In: Rerue des Deux 
Mondes. 1. Oct. 1871. — 




75 



von Gott eingesetzt.^ Die Gerechtigkeit rieF ein französischer 
König noch sterbend als dss seiner Krone einwohnende 
Mysterium an.^ Ludwig IX. hielt das Königsgericht unter den 
alten Eichen von Vincenaes persönlich ab," und von seinem 
Eifer für eine strenge Pflege des Rechts ging eine lebhafte 
Wirkung auf seine gesamte Hc^fballudg aus,^ So unmittel- 
baren Einflüssen, so tief gewurzelten, das gaoze Leben durch- 
dringenden Überzeugungen gegenüber vermochte die gekühlte 
und geschmückte Abstraktion antiker Staatstheorerae sich nicht 
zu behaupten. Die für Wilhelms Zeit und Werk auch sonst 
schon wankende' Autorität Piatos, die das Gericht als ein den 
untersten Ständen notiges Übel nur widerwillig duldete,* fand in 
dem lebendigen Bewußtsein Wilhelms vom Wesen und Wirken 
seiner Zeit keinen Eingang. Seinem Bewußtsein fügte sich die 
dogmatische Vorstellung von der Gott zum Throne dienenden 
Gerechtigkeit als eine beglückende Bestätigung ein. 

Bei solcher Vorstellung muß es aber merkwürdig er- 
scheinen, daß der die Gerechtigkeit vertretende Stand erst 
die dritte Stelle behauptet. Er hat zuvor auch häußg die 
Führung unter den Engeln gehabt. Pseudodtonys läßt die 
dytoizazovg O^bvovg die englische Hierarchie einleiten. '^ Sein 
Glossator Pachymcres berichtet von den im AnscbltiB hieran ent- 
standenen Streitigkeiten über den Rang dieser Klasse.^ Aber die 
herrschende Ansicht des JVIittelalters hat sie endgültig auf die 
dritte Stelle gerückt.' Wilhelm rechtfertigt diese Rangstellung 
ausführlich. Seine Gründe sind mehr ethisch als dogmatisch und 
mehr der irdischen, als der himmlischen Welt angemessen. Er 
meint, die richterliche Gewalt hätte nicht anders als den „Creatoris 
amatoribus sapienlibus Deique consilia atque iudicia scientibus" 
anvertraut werden können; denn «Rege — insipiente et Dei 
inimico nihil Reipublicae perniciosius";^" damit hat es den An- 
schein, als ob Wilhelm diese Gaben, die Voraussetzungen der 
potestas iudiciaris, mit dieser cumuliert erst in der dritten Klasse, 



I ' So ein Chanson de gesie Guesclins de SassoignSj abgedruckt bei 

fiucourdray, Origines du Parlemenl de Paris et la justEce au ireizieme 
et quatorzieme siäcles. Paris 1902, p. 39 f. — ^ Vlollei a. s. O., 210. 
— ■ Viollet a. a. O., 212. Jourdain a. a. O., S3&. — » Ducourdray 
a. ft. O., 40/1. Ranke, Franz&s. Gescb. 1, 30. — '■ Verner, Wilhelm 
v. Auvergties Verhältnis z. d, Plaionikern des zwölften Jahrhunderts in 
d. Siiiungsberlchlen der PbLIos.-Histor. Klasse der Kais. Akad. d. Wiss. 
zu \Plen. 74> 172. — * Vgl. Pierson, Vergleichende Charakleristifc der 
plaroD. u. aristotel. Analcbt vom Staate. In: Rhein. Mus. 13, 36 f. — 
' De Cael. Hier. VF, 2. - « Migne, Patrol. S. G. 3, p. 204. — " Greg. 
Hom, 34. Bonav., Brevil. II, c, 8. — " p. 972 col. 1 H. 




76 



in den vorhergehenden aber nicht fände. Hier hat däe politische 
Ausgestaltting seines Systems, die eine durchgehende Sonderung 
der Aufgaben verlangte, in Wilhelm das Bewußtsein des dog- 
matischen Substrats zurückgedrängt, daß nämlich die Fülle gött' 
iicher Gaben je höher, je vollkommener vorhanden ist und nur 
nach unten einzeln und unvollkommen weitergestrahlt wird. Aus 
der rechten dogmatischen AuTfassung hätte also auch gegen das 
Richteramt der ersten beiden Klassen nicht erinnert werden 
können, daU die richterliche Gewalt „noa est danda nisi crea- 
toris amatoribus sapientibus Deique consilia atque iudicia haben- 
tibus". Denn die erste Klasse ist aller dieser Gaben voll- 
kommen, die iweile aber gerade der Sapientia und Potestas 
iudiciaria und aller späteren vollkommen, und nur des amor Dei 
<üg Ifpmiüv teilhaftig.^ 

Die richtige Begründung für die Nachordnung der ThrOüi 
nach Seraphim und Cherubim bzw. der ludices nach Amancis- 
simi und Sapientes mtiß so lauten, wie Wilhelm sie später gibt: 
Potentiam locum habere non dehere nisi post chari- 
tatem et sapientiam, quarum alieram habet ut imperatorem 
suum, alleram autem ut consiliarium. P. 973 col. 2 A. 
Damit ist die oben urgierte Auffassung, welche, festgehalten, 
dazuhalte führen müssen, den späteren Klassen eine zunehmende 
GabenFülle zuzuweisen, verlassen, und zutreffend sind die aus 
der Machtfülle nach unten derivierten einzelnen Herrschaftsauf- 
gaben^ nach einem ethischen Prinzip gestuft, wo denn freilich 
entsprechend deti evangelischen Grundsätzen Übung der Charitas 
und Sapientia derjenigen der Potestas iudiciaria voraufgeben 
müssen. Damit ist auch ein mit dem Charakter Wilhelms über- 
einstimmendes Bild gewonnen: ihn hinderte sein zu friedlicher 
Ausgleichung neigendes Gemüt an der Ausübung der ihm zu- 
stehenden Gerichtshoheit in streitigen Sachen, seine tiefe Ein- 
sicht in die menschlichen Verhältnisse aber wußte die Streit- 
fälle oft in friedliche Übereinkünfte auszugleichen^ und darüber- 
hinaus den Hader der Kronen und den Streit der beiden 



^ De Cae!. Hier, cap, 3. cap. 7. ™ " Obwohl Wilhelm in cap. 120, 
p. 970.1 gegen das Amt als Absiufungsgrund, eine Meinung Früherer 
Theologen, polemi&ien, nimmt er unbemerkt hier die gleiche Anschauung 
auf. Eine eingehende Betrachtung der äißersi tottiplizierien., sctaols- 
stiscben Digression ist hier nicbi angängig. — Ägidjua von Rom unter- 
nimmt in der unten <S. 108) mi iget eil leti Sielle seines Traktats De ec- 
clesiAstica potestate affenbar unter dem EinftiiÜ Wilhelins den Versuefa 
einer logischen Begründung, der aber im Letzten doch auf einen mysll- 
fichen Grund, die Liebe Gottes als den Quell aller Gaben, zurückführt. 
— ^ Valois, L c. 22. 



77 



■ewalten — der~we!tHchen und der geistlichen — zu ver- 
söhnen.^ 

H Auch an dritter Stelle stehend, behauptet der Ordo der 
Hudices einen hinlänglich hohen Rang, Er i$t den Großen des 
Reiches, ja, den tributären und den vasalliiischen Königen 
vorangesetzt, und die Statthalter und Heerführer folgen ihm in 
weitem Abstände nach. Damit ist die ideologische Anschauung, 
die ohne irdische Hinderungen ihren Staatsbau aufFührt, dem Ziele 
absoluter Überordnung des Richterstandes nahegekommen, das 
seit des Montesquieu Schrift De TEsprit des lois in einem noch 
entschiedeneren Sinne das eifernde Bestreben von Theorie und 
Vraxis auf sicii gezogen hat. 

Den drei ersten Klassen schreibt Wilhelm noch eine 
besondere Qualität zu.' Er läßt sie, die Gott ständig lateraliter 
umgeben, von ihm a laCere mit außergewöhnlichen Botschaften, 
die er den besonderen — den beiden letzten — Botenklassen 
nicht anvertraut, beauftragt werdet); wie auch ein irdischer 
König einen Fürsten seiner unmittelbaren Umgehung mit be- 
sonderen Missionen betraue. Er erinnert an die Gebräuche 
der italienischen Stadtrepubliken, die außer den gewöhnlichen, 
durch ihre Kleidung bezeichneten Ambassatores zuweilen ihre 
angesehensten Bürger entsenden. Die irdische Parallele zu den 
a latere entsandten Engeln Gottes fuhrt aber unmittelbar zu den 
a latere entsandten Kardinälen, deren seit dem Ende des zwölften 
Jahrhunderts sich die Päpste in ständiger Übung zu ihren 
größeren Aufträgen bedienten.^ Man wird, auch ohne daß 
Wilhelm diese Übung ausdrücklich erwähnt, annehmen dürfen, 
daß sie ihn zu der Zuteilung des Botschafteramts an die drei 
oberen Klassen mit veranlaßt hat. Ein anderer Beweggrund ist 
dogmatischer Natur: der nämlich, daß man von alters her die 
Engel der großen Heilsbotschaften, insbesondere Gabriel, ungern 
in die allgemeine Botenklasse der Archangeli verwies (darüber 
siehe unten S. 97 f.). 

Wilhelm macht bei Gelegenheit der Zuweisung des Bot- 
schafteramts an die drei ersten Klassen Ausführungen darüber, 
daß den Vornehmen nur Missionen von politischer Tragweite 
anständen; für die geläufigen Aufträge solle man sich der 
Lictoren,* denen er auch sonst die beiden unteren Engelsklassen 



■ ' Valois, 1. c. 113, 65fr. et passim. — > p. 967 col. 1 A. B. C. — 
^ Sagmitller, Die TSiigkeit und Siellung der KardlnSle bis Papst 
BoDifaz Vlll. Freiburg i. B. 1896. S. GOt., lOSf. — '■ D«r Rückgriff auf 
klassische Beamienbezeicbnungen la poJitisctien Theorj^en ist Im Mittel- 
alter auch sonst lu bcobacbten, s. z. B. Job. Saresb. Policraticus. lib. VI prol. 




78 

assimiliert-, bedienen. Eigene ErFahrungen mögen Wilhelm zu 
solchen Erwägungen veranlaßt haben. Ihn, der sein ganzes 
Lebet! zwischen Kirchen pflichteo, gelehrten Arbeiten und poli- 
tischen Missionen zu teilen hatte,' mag gewiß oft die geringe 
Bedeutung der von ihm zu betreuenden Angelegenheiten seine 
Entfernung von geistigeren Arbeiten unwillig haben empfinden 
lassen. Daher dann das Bestreben, Fähigkeiten und Dienst- 
leistungen in den Staatsämtern ins rechte Verhältnis zu setzen, 
ein Unternehmen, das im platonischen Idealslaat seine vorzüg- 
liche Ausbildung erfahren hatte. ^ 



5 13 
Viert« Klasse 

Magnaten — Dominationes. 

Die vierte Stelle nimmt der Stand der Magnaten ein. Er 
entspricht der Engelsklasse der Dominationes und wurde aus 
den Elementen dieses Begriffs konstituiert. In den Dominatioties 
erscheint Wilhelm die erhabene Herrschaft Gottes entstrahlt: 
die königliche Gewalt aber hat ihren Widerschein in Macht 
und Ansehen der Magnaten. Unter ihnen haben die Barone 
geradezu von der Stärke und Tapferkeit den Namen erhalten.^-' 

Diese etwas blasse Kategorie wird von Wilhelm durch 
Exempliflkationen belebt. Er zählt als Glieder derselben her: 
die Reges subditi und Reges tributarii, sowie die sogenannten 
Proceres regni und die Barone. DaD die unterworfenen und 
tributpflichtigen Herrscher hier schon schlechtweg der könig- 
lichen Staatsordnung und nicht einmal &n erster Stelle ein- 
geordnet werden, gibt einen Begriff davon, wie stark besonders 
französische Geister im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts die 
Gesamtstaatsgewalt fühlten. Die Konsolidierung der Monarchie 
aus Feudalen und eroberten Gebietsteilen, die Zusammenfassung 
der verteilten Einzelgewallen in einer starken Königshand zeigt 
sich an." Man wird dabei allerdings nicht übersehen dürfen, 
daß der der antiken Welt entlehnte BegriFT der Reges tributarii 



• Valols, I. c. 1—156 p*sslm. — " Pierson a. a. O., ST — 
■ P. 964, COl. 2 H. — * Id WAbrbäit bezeichnet bArO ursprüngUcb ill- 
getnein Mann, homö. 'Vaitz, Deutsche VcrfissungsgesChichte. &d. 4, 2S1 
n. 5. Doch hat die romanisCbe Bezeicbnung Baro eine ander« sprachliche 
Wurzel, Schröder, Dtsch. R. G., 5. AuB„ 52, n. 29. — * Rank«, Welt- 
gesch. Vlil, S. 329^ Französ. Gescbichte 1, 24. VioUct a. t. O., 14Sff., 
ei3ff. Luchaire, Manuel 463. 



79 

und subditi wohl mehr einer abstrakten als einer concreten Zu- 
standen dienenden Theorie entspricht. Der innere Antrieb dieser 
Anschauung aber kann bei einem Manne 'wie Wilhelm nicht 
Twohl ohne einen näheren Bezug zur umgebenden Wirklichkeit 

gestanden haben. 

B Unter den Proceres regni sind die obersten königlichen 
Lehnsträger zu verstehen/ sie und die Barones etwa den 
Fürsten und freien Herrn unseres Rechts '^gleich zu setzen. Damit 
ergibt sich nach den reges subdlti et tnbul&rii ein einigermaßen 
rundes Bild Für diese Stufe, die so in einem — freilich nur 
für die mittelalterliche Vorstellung kenntlichen — System'' den 
Klassen der persönlichen Geleitspersonen des Königs und der 
höchsteti Magistrate (Räte und Richter) als die der höchsten 
ständischen Gewalten angereiht erscheint. 

Den Dominatione& wei$t Wilhelm an einer späteren Stelle 
seines Werkes als die sie auszeichnende Kraft die virtus con- 
traria indebitae servituti sive servibilitaii et crecta praecellenter 
contra omnem vilitatem et deiectionem subiectionis* zu, wodurch 
die Auffassung einer ständischen Ordnung, wie wir sie oben 
umschrieben, bestätigt wird. Wenn die Virtus der Klasse als 
contraria indebitae servituti sive servibilitati und als erecta 
contra omnem vilitatem et deiectionem subiectionis gekenn- 
zeichnet wird, so scheint damit zunächst ein bestimmtes Dienst- 
und Untertänigkeitsverhältnis vorausgesetzt, dieses aber in der 
Richtung auf vollkommene Dienstbarkeit und Untertänigkeit hin 
begrenzt: indem ein gewisses JVlaC von Diensten, ein gewisses 
MaQ von BotmäQigkeit als das angemessene statuiert wird, dem- 
gegenüber ein eigen herrenmäQiger Sinn seinen Platz behauptet: 
damit ist auFs beste ein System lehnsständischer Verhältnisse 
ausgedrückt^ das auch die sich soeben in Frankreich konsoli- 

-diereade Monarchie nicht so schnell beseitigen sollte.^ 

H Und zugleich enthält jene Aussage das Bekenntnis eines 
den ständischen Interessen zugewandten Geistes^ dem un- 
beschadet der Ehrfurcht vor der Krone daran gelegen zu haben 



' VlfllUt », «. O-, II, S. lÖI, ScbrÖdor a. a. O., S. 227, cfr. Waiu 
«. 11.0., «o vielen Stellen- — * Schröder a- a. 0., S. 445, 504, - « VgK 
die oben S. 52 gemitcbten Aus(ü}iruagen über die sich erst anbahoende 
Subsumierung der Kategorieen, Irgendwie Abgeteillca slelllc steh Jcicht 
in Reihen nebeneinander, ohne daß auf die innere Subsumplion oder Koor- 
dination Vert gelegt wuide, sowie die Landkarten der Zeit oft Stidte, 
Provinzen und Linder statt unter- nebeneinander verieichnon. — • P, 97& 
col. 1 A. — <" Viollet a. a. O., 11, 191 (f., 237fr. Lucbalre, Minuel 
.183, 472, Ducourdny «. i. O., 30. 



L 



so 

scheint, die Mannhaftigkeit und Herrentugend der der Krone 
unterworfenen ehemalig Unmiitelbaren aufzurufen. Davon liegt 
viel in der Heraustreibung der ,Virius erecta contra omnem 
vilitatem et deiectionem subiectionis". Es ist das Aufstehen 
des Herrentrotzes gegen die unangemessenen AcsprUcbe der 
neuen Herrschaft, das hier dem Stande als seine wesentliche 
Eignung, mehr als eine Anforderung an ihn, vorausgerufen wird. 
Ein Anklang daran auch in der Ableitung des Namens Domi- 
nationes selbst ex eminentia insubücibiliiatis et inserviltbilitatis 
ad omne aliud a Creatore,^ -wenngleich hier wohl zunächst das 
Bild himmlischer Sphären dem Autor vorgeschwebt hat. Wilhelm 
von Auvergne, dem es gegeben war, so viele in seinen Tagen 
herausgetriebene Widersprüche der Gewalten friedlich aufzulösen, 
mag geglaubt haben, es lasse sich eine beamtenmäßig organi- 
sierte Königsherrschaft mit einem Körper lehnsiändischer Gliede- 
rungen dauernd in eins verschmelzen. Ein solcher Glaube und 
ein dahin zielendes Bestreben, in den noch unentschiedeaen 
politischen Zuständen seiner Zeit nicht ohne Halt,^ wären be- 
sonders versländlich bei einem Manne, der durch Abkunft und 
verwandtschaftliche Beziehung auf alte herrenmäßige Tradition 
hingewiesen war. Aber kaum wird map auf dies Argumetit hin 
in dem Streite, der Wilhelm bald dem alten Stamme der Astorg, 
bald dem der Barone d'Aurillac zuschreibt, bald ihn auch 
als ein Bettelkind aus unterster Stufe emporwachsen läßt,^ die 
Entscheidung im Sinne jener ersten Meinungen treffen mögen. 



S 14 

FGnFte Klasse 
Praesides Provinciae — ■ Principatus. 

Den Magnaten folgen als Fünfte Ordnung die Praesides Pro- 
vinciae. In ihnen sind die „Principatus" der himmlischen 
Hierarchie abgebildet. 

Den Principatus ist im wesentlichen die göttliche Macht- 
entfaltung gegenüber den Menschen, das überweltliche Regiment 
der Menschen zugeteilt.* Indem ihnen so gleichsam eine Provinz 
des göttlichen Weltreiches zur Verwaltung gegeben ist, können 
als ihr irdisches Abbild die Provinzial-Staithalter angesehen 
werden. Der Name Praesides Provinciae weist auf die römische 



' p. 978 col. I H. — ^ Luchairc, Maüücl, 483, 472, 52a — 
* ValPis, 1. c p, 3-5. — * p- 971 cpI. 1 A. 



m 



eamteiihierarchie hin, deren sich, wie schon erwähnt, die 

mittelalterlichen Staat sschriften gern bedienten.^ Er hat hier 
aber doch eine nähere Beziehutig z\xt Wirklichkeit. Die zeit- 
genössische Gesetzgebung hat die auf die Praestdes Provinciae 
des römischen Kaiserreichs bezüglichen Vorschriften- auf ihre 
baillis und sen^chaux bezogen, die im großen ganzen — wie 
fene — als die Vertreter der Zeniralgewalt in den Provinzen 
anzusehen sind." 

Die Machtentfaltung der Principatus wird von Wilhelm aber 
lediglich als eine verwaltende vorgestellt; er sieht bei dieser 
Klasse ganz ab von den stärkeren Mitteln, durch die sich eine 
herrschende Macht darstellt. Diese weist er den folgenden, die 
in ihrem Wesen ein Etwas wie vollstreckende Gewalt verkörpern, 
Und er kommt bei dieser genauen Teilung fast zur Fest- 

letzung einer Herrschaft lediglich durch gerechte und milde, un- 
bestechliche und unbeirrbare Lenkung und Hinleitung Cinspiration) 

er Untergebenen zu diesen Tugenden selbst.''- Er stellt damit, 
die von Plato ausgeruFene pädagogische Tendenz des Staates er- 
neuend, ein Bild utopistischer Herrschaft auf, das er Freilich 
zunächst nur auf die Herrschaft der Engel über die Menschen 
anwendet. Aber indem Ja die Herrschaft der Engel sich gerade 
io der Hinleitung der Menschen — der Untergebenen — zu 
den Tugenden, mit denen sie selbst die Herrschaft führen, voll- 
zieht, wird diese Art der Herrschaft selbst als Ideal auch für die 
Menschen in Anspruch genommen und werden für sie aus- 
drücklich die gleichen Tugenden zur Leitung und Aufrecht- 
erhaliung der Gemeinschaft gefordert. 

t Damit wird Für das irdische Regiment ein Ideal aufgestellt, 
das die antiken — platonischen und aristotelischen — Traditionen 
vom besten Fürsten aufnimmt und zum geschlossenen Bilde 
vereint. Frühere hatten auch wohl theoretische Erörterungen 
über Pflicht und Tugend des Fürsten angestellt, aber ihre Aus- 
einandersetzungen waren allzusehr palristischer Führung hia- 
gegebcn, als daß sie sich hinlänglich hätten mit antikem Geist 
erfüllen, dies zum Vernunftgrunde hinstrebende Element völlig 
in ihre Pläne aulnehmen können. Nicht Isidor voo Sevilla," 



^ Er äadet sich auch in dem Poltcrxiiciis des Johinn vor Salisbury, 
tder die Slflatsordnutig als einen menschliclicn Organismus aqsdeutetf in 
dem jeoe Obren, Aogen und Zunge sind). Polier. V, II. — "^ L, 1- Cocf. 
Lt omnesiudices 1,49. - » Vloltet a. a. 0^ 3, S. 254fF., besonders S. 265. 
Vgl. Giraldus Cambrensi», De Prlncipi» lüstructionc Bist. | cap. 20, 
ed. Tarner. London, 1891. Bd. 8. S. 117. — * p. 971 coi. 1 A, p. 97S 
col. 1 H, 979 col. 1 A. — '^ Etbymol, 9, 3. Sent, 3, 48, ed, Paris 1601, 
pp. 122 0*. 6S4fr. 

6 



82 

noch Smaragdus Abbas, '^ noch Hincmar von Rhelms, noch Petrus 
Lombardus^ waren nach dieser Richtung dirigiert; Johann 
von Salesbury führte schon mehr antike Ideen, mehr den 
natürlichen Stand der Dinge berücksichtigende Anschauungen 
in seine seltsame Staatslehre ein." Aber auf den Boden eines 
von den Philosophen des Altertums gewiesenen natürlichen 
Erkennens und Begründens staatlicher Verhältnisse hat er sich 
ebensowenig entschlossen gestellt* wie sein jüngerer Zeit- 
genosse Giraldus Cambreas>i$. Heute wird für Ägidius von 
Rom als Für den ersten dies Verdienst in Anspruch ge- 
Dommen.^ Aber wir werden im NachFolgenden in unserem 
Meister einen Geist erkennen, der ihm kräftig voranschritt und 
seine eingewurzelte Kenntnis des Plato und die Frisch er- 
worbene des Aristoteles — ein Menschen alter vor ihm — an 
einem aus den Elementen der Vernunft aufgestellten Fürstenideal 
bewährte. Freilich dieses wird dabei doch nicht völlig zu übersehen 
noch in Abrede zu stellen sein, daß ein nicht ganz unbeträchtlicher 
Teil der das Fürstenideal betreffenden Deduktionen sich im Wege 
einer ununterbrochenen, hauptsächlich durch Isidor von Sevilla 
vermittelten klassischen Tradition überall verstreut bei den 
oben citierteti und noch manchen anderen mittelalterlichen 
Autoren erhalten bat.'' Einzelne Postulate, so die cardiaalen 
Fürsten tugen den, sind aus dem Schatze antiker Wehbildung 
detn menschlichen Geiste niemals verloren gegangen."^ Aber 
alles dies erscheint als zufälliges» nicht in seinem Grunde er- 
faStes und rücksichtslos dem mittelalterlich-kirchlichen Denken 
eingefügtes Gut. Bei Wilhelm, als der Ersten einem, ist der 
Schatz dieser Überlieferungen an seinem Grunde aufgesucht, 
in der Tiefe seiner grundsätzlichen Bedeutung erfaßt und in 
dem Rahmen eines ihm adäquaten vernunftgemäßen Ergründens 
und Auseinandersetzens nach allen Seiten entfaltet.^ 



'Via Regia passim, lV1ieae,PatnS,U102,S.931lf.— "Kraus, ÄgidiuB 
von Rom in Österr. Vi^rteljahrschrift 1, 28 n. 2, — " Poole «. a, O., 233fr. 
— * PoDle Ibid. Kraus ibid.— ^ Scholz a, a, O., 109 IT. — < Ebert, Gescb. 
der Literatur des Mitte]«lt«rg 1, S. 560. Jourdaio, Exe. 517ir, — ' S. uoten 
S.S5n.2. — "Es sei hier darauf bin gewiesen, daß die scbeinbar ganz abstrakie, 
ganz theoretische Auseinandersetzung Wilbeims^ wie so oft^ auch hier nlcbc 
ohne eine sebr lebendige Verbindung mit den näcbstumgebenden politiEchen 
Zuständen besteht. Wenn J ourdain, Excursiona 529f. es ablehnt, diese 
Zustände, die sieb in dem vollkommenen Fürstentum« Ludwigs IX. dar- 
stellen, als auf die zeiigenöasiscben poiitiscben Theorien wirksam an' 
zuerkennen, mag er, wie aucb aus seinen sonstigen Ausfübrungen ber- 
Torgehi, mehr an den Engel der Schule, an Tbomaa selbst, als an die 
geringeren Glieder derselben gedacht haben. Sicherlich ist ihm jeden- 



83 

An die Spitze seines HerrschaFtsideals stellt er den 
Grundsatz : 

I Longe differt principatus a tyrannide a rapina et op- 

pressione subditorum.^ 
Omnes tyranni, quantacunque potentia praediti esse 
videantur, vere impotenles sunt, quoniam vere servi nequitia- 
rum suarum ^ 
und proklamiert es als des Fürsten Pflicht im Verhältnis zu 

I Beinen Untergebenen: 
decHiiftre tyrannides et itiiquas oppressiones atque rapa- 
citates necnon et insidias et capliositates.^ 
Ausdrücklich wird die Herrschaft als eine Befriedigung 
persönlicher Willkür abgelehnt^ als ein Mittel zur Beförderung 
der Volkswohlfahrt angesprochen: 
^ft De vero principe verissitnum est, quia prodesse intendit 

^^ subditis suis et hoc solum amat in principatu suo, non praeesse* 
und vom Fürsten gegenüber seinen Untertanen gefordert: 

isummam intentionis et afhcii sul deducere, ut quietam 
et tranquillam vitam habeant rectamque pariter scilicet absque 
declinatione sive distorsione in devia vitiorum, ut ipsa 
vita Sit eis via ad finem ultimum foelicitatis.^ 
In allen diesen Ausführungen lebt als innerer Kern der 
Schatz Von Ideen, mit dem Plato wie Aristoteles die tyrannische 
Zwingburg angreifen und ihr eigenes Gebäude des besteingerich- 
teten Staates aufführen.'* iWan wird in ihnen aber auch unschwer 
eine vorausweisende Linie erkennen. Mit der Aufnahme 
platonischer und aristotelischer Ideen leben sie vom selben 
Geiste, der das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert nährte. In 
den angeführten Prinzipien ist fast schon ein Programm des 
Wohlfahrtsstaates niedergelegt; es Fehlt nicht' die »quieta et 
tranquilla vita**, die Behütung vor der ^decllnatio sive distorsio 
in devia vitiorum", und am Ende scheint als das Staatsideal selbst 



rhlls des Wilhelm von Auvergne Betrachtung über das Pürsleoideal 
ebenso fremd gewesen» wie den ütirtgen Gelehrten des vorigen Jahr« 
hunderis. SonEt hätte bei der unausgesetzt nahen Berührung^ die Ludwig IX. 
und Wilbelm enge aneinander hielt, seine Ablehnung vohl einer vor- 
Bichilgen Einschränkung tiedurft. Er selbst zeigt einen ähnlichen Zu- 
sammenhang politischer Doktrin mit sia&tlicben Erscheinungen Für das 
Zeitalter Ludvigs IV. in Bossuet auf. ~ ' Pag. 964 col. 2H. — '' Pag, 
Ö73 cot. 2 BG. — * Pag. 971 col. I B. ~ * Pag. 965 col. 1 A. — = Pag. 971 
col. JB. — * Pierson a.a.O., 214ff. Aristoteles, Polfl. 1278b, 32ff., 
I3l0b,31ff. Vgl, Cicero, De offlc. 1^ 25. Seneca, De dementia, cap. 12 
SS et paasim. Oncken, Staatslehre des Aristoteles. Leipiig 1870. 11, 153, 
286 ff., 30bS. 




S4 

„der Suis ultimus foeflcitatis* und das Staatsleben als Weg 
dabin au F. 

Dem Princeps wird demeatsprechend mit einem Ausdruck, 
der, der Antike entlehnt, ebenso dem achtzehnten wie dem drei- 
zehnten Jahrhundert angehört,^ die Stellung des ersten Staats- 
dieners Zugewiesen: 

Verl tiamqiie nominis princeps mitiistt-um — -^ se gerit 
et exhibet subditorum.'^ 
Und es fehlt hier wie im achtzehnten Jahrhundert nicht der 
sehnsüchtig der Staatsordnung des alten Rom nach trachtende 
Blick. In der Lücke des obigen Citates beißt es: 

quasi patrem, 
ein Ausdruck, der als auszeichnende Bezeichnung Für den sein 
Vaterland väterlich Versorgenden" aber schon bei Aristoteles 
und gewiQ nicht zuerst bei ihm eine Stütze hat.*^ Daran wird 
dann zur näheren lllusirierung des Verhältnisses des Princeps 
zu seinen Untertanen, ganz wie im achtzehnten Jahrhundert, eine 
Anecdöte aus der römischen Geschichte herbeigezogen: 

Uode quidam Princeps Romaiiorum subditos nobiles 
potentes commilitones suos vocabat.'^ 
Damit wird der Fürst, als innerhalb der Volksgemeinschaft 
stehend, in ihrem Rahmen sein aufgetragenes Amt vollziehend 
dargestellt/ 

Von dem Fürsten in diesem Stande werden nun bestimmte 
Tugenden erwartet, die ihn teils dazu befähigen soElen, sein Amt 
wohl zu versehen, teils ihn daran hindern sollen, über sein Amt 
hinaus in eine Tyrannis hineinzuwachsen, und die durch ihre 
weite Umfassung und ihre das Bestreben nach dem vernudft- 
gemäQ besten Staat abbildende Ausgestaltung wieder den Blick 
auf die antike Welt — insbesondere auf des Aristoteles Lehre 
von den drei Herrsebertugenden' — zurücklenken, und die 
weiterhin wieder die Parallele der Staatsschriftstelter des sieb- 



^ Der Ausdruck findet «ich auch itn zwölften Jahrhundert schon 
gelegen tlicb, 3- Job- Saresb. Policraticus IV, 2, Über die PRrsUele zwischen 
dem dreizehnten und achtfebnlen Jahrhundert s. des nXberen unten 
S. 85iT. — » P»g. 964 col. Z H- — * Den Ehrentitel Puter Putriae trug i. B. 
Augustus davon. Aurel, Viel, De CtiesarlbuK Cap.l. cf. SenecH, De Clem- 
cKp. 14. - *E|h. Nie. VIU, 12. - ^ Gull. AU. ibid. - « Dies ist eine auf 
aniikem Grunde lubende, dHB Mittelalter durcbziebende prinzipielle Ao- 
scbauuDg, der sieb besonders die Pilp^te In ibrem Streit mit der welilicben 
Gewall bedienten: dxß d«s königliche Amt, lur Disposition des souveränen 
Volkes siebend, von diesem dem K&nig ilbertragen werde. Manigold voa 
Lauterbacb eitlen bei Poole a. b. O., 232. Vlolletli, 49fr — i Arlst., 
Polit. 1309«. aZIT. 



85 

zehnten and achtzehnten Jahrhunderts, am gteicben Quelle 

■genährt, aufrufen. 
Am Eingang stehen die drei Haupttugenden Rectitudo, 
dementia, Pietas, ' die noch deutlich die in römische Form 
gegossene Tugeodiehre griechischer Weltweisen erkennen lassen,* 
Ihnen folgen bestimmtere, eingehendere Ansprüche an die Re- 
genten. Es wird von ihnen erfordert, 

ut sint incorruptihiles acceptione personarum vel mu- 

Inerum, in&dulabiles hoc est blandimentis adulatorum in- 
seducibiles, vel quod convenientius dicitur» indementabiles 
falsis consilijs et suggestionibus infallibiles.^ 
Es ist dieselbe ängstliche Sorge, die, im Mittelalter früh 
aufgetreten^ und nie ganz geschwunden, in der Puhlizistik 
und in mancherlei für&iUchen Aussprüchen des siebzehnten und 
achtzehnten Jahrhunderts'^ wieder zutage tritt, daß der mit so 
großen Machtmitteln ausgestattete Regent, da er der Gesamtheit 
des Volkes zu dienen bestimmt ist, nicht den Anschlägen 
einzelner geschickter Beutemacher zum Opfer falle. Sie 
zieht um das Amt des Fürsten einen Zaun von stoischen 
Tugenden, die, indem sie es gegen volksschädliche Aus- 
beutung sicherstellen sollen, oft gerade seine stärkste Aus- 
^Wirkung hindern. 

H Man wird das Erstaunen darüber, daß zwischen zwei so 

getrennten Welten, wie der ständischen des dreizehnten und der 
^absolut regierten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, 
^Kin einer Stelle so enge Berührung herrscht, bald durch einen 
einleuchtenden Grund beschwichtigt finden. Das Ideal des 
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist aus naturrecht- 
lichen Anschauungen erwachsen, die von der Gestaltung der 
vorliegenden Verhältnisse Fort aus dem Grunde der Vernunft 



* Gull. Air., pflg.971,col. IB.— " Wenigstens die beiden letitcn. Die 
RectiEiido isE eine spatere Form für die klassische Aequitas. DerClementiaals 
Fürstlicher TugeT:d hat Seneca eine eigene SchriTr gewidmet, die auf das Mittel- 
alter von nacbbalitgem EinRuß gewesen ist. Pietas fundamentunt amnium 
virtutum bei Cicero Pro Plane. 29. Valer. Max 5,4 ext.3. Vgl. insgeBamt 
Cicero, de ofT. I, 4 (T. Wir finden diese Tugenden in den tbeoretiscben 
Schrifien des Mittelalters seit Isidor (Sent. III, 48rr.), der auf Seneca und 
Von da weiter auf die älteren Römer und die Griechen zurückweisr. 
Vgl. Jöurdain, Exe. 5IB. Eben, Gescb. der Lil. d. Mitielftiters, I, 560. 
— 3 cujt. 8, 5, n, 6. Tacit- bist. 1, 14. Plin. Paneg. 75. Im Minelalter 
cl»nn ausfühflich über diese Punkte Isid. Hisp. I. c. cap. 53, 54. Smi' 
ragdus Abbas, via Regia, cap. 25, Migne, Patr. S. L. 102, 956. — * Smi- 
ragdus Abbss, ibid. — ^ Vgl. Richelieu, Testament politique. Amster- 
dam 1691. F£n£loD, Aveniures de T^L£maque Livre II, III, V et passlm. 
Idcio, Exanaen de Conscience sur les devoirs de la royaulg. ArticLe I. 




se 



ein Staatsgebilde zu formen trachteten. Nkht fem von diesen 
Ideen, nur zu oft geheim in ihrem neuen Ausdruck verborgen, 
lagen die Prinzipien antiicer Welterkenntnis und -aaschauung, 
die so noch spät in dem fast ganz entch ristlichten Zeitalter 
einen Triumph feierten. 

Es ist nicht zu verkennen, wie weit von dem gegebenen 
Zustand mittelalterlicher StaatsbiEdung fort die Theorien des 
scholastischen Meisters Führen. Auch sie sind auf einen vor- 
weggenommenen Zustand bedingungsloser Vollkommenheit ge- 
gründet. Aber hier ist dieser Zustand nicht eigentlich und 
nicht in derselben Weise wie im siebzehnten und achtzehnten 
Jahrhundert vorweggenommen. Er ist hier nicht anders vor- 
weggenomnien wie die gesamte Weltanschauung selbst. Er ist 
in Wahrheit den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich die 
scholastische Welt dachte, mit eingewurzelt. Er ist die letzt 
übergeordnete, aber doch — wie oben dargelegt — in den 
ganzen Welt ordnungs bau mit einbezogene Schicht, die alle 
Gliederungen umfaDt und von oben her mit ihrem vollkom- 
menen Licht teilbar durchstrahlt. Die Idee ist hier in dem 
tatsächlich zur irdischen Weltordnung gehörenden göttlichen 
Wesen verkörpert und nimmt als real vorgestelltes Glied an 
deren Bestand realen Teil. 

Freilich der innere Gehalt dieser Idee ist hier, ebenso wie 
in den späteren Zeitaltern, mit auf die Vernunft gegründeten 
Elementen erfüllt, die» ebenso wie die der naturrechtlichen 
Anschauung, wesentlich in antiker Welterkenntnis festgewachsen 
sind. Sie sind zu einem Itleineren Teil von Anfang an dem 
christlichen Gedankenbau verschmolzen gewesen, zum größeren 
haben sie erst in der hohen Scholastik mit der verbreiteten 
Kenntnis des Plato und der neugewonnenen des Aristoteles 
ihren vollkommenen Ausdruck erlangt. Aber auch sie ver- 
mögen, wie sehr sie von der ganz patristisch dirigierten An- 
schauung der Frühen Scholastik abstechen und ein dem geklärten 
Geiste klassischer Bildung entsprechendes Staatsidedl ans Licht 
stellen, nicht das dogmatisch standhafte Weltbild zu zertrümoiem, 
das alle den mittelalterlichen Geist erreichbaren Erscheinungen 
umspannt, sondern nur in seinen bestehenden Rahmen dieses 
Gebilde gelösten geistigen Dranges einzufügen. 

So verbunden und so auch geschieden, hält das dreizehnte 
am siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine Kette fest, 
deren innerst gemeinsamer Kern: starke Herbei zwingung eines 
Geistigen zum Bau des gegenständlichen Lebens ist (der ebenso 
wie im innergesellscbaftlichen Leben der Völker, auch im 



87 



)]oHtischen Verhalten derselben und den anderen Zweigen 
menschHcher Kultur seinen Ausdruck gefunden hal).^ 
B DaC die Ausführungen über den Fürsten von Wilhelm 
^'gelegentlich des Ordo: Praesides Provinciae gegeben werden, 
erklärt sich leicht daraus^ daß der König als das Abbild Gottes 
selbst in seinen Ordnungen nicht erscheint, und daß die Prae- 
sides Provinciae diejenige Ordnung darstellen, in der die Staats» 
Verwaltung, wenn auch abgeleitet und auf einen räumlichen Teil 
beschränkt, so doch mit vollkommen königsgleicher Befehls- 



gewalt sich vollzieht. 



S 15 

Sechste Klasse 

Militärische Befehlshaber — Potestates. 



Den Praesides Provinciae folgen als sechste Klasse die 
militärischen Befehlshaber: Duces legionum« bellorum instruc- 
tiones, capiianei acierum. 

■ Sie entsprechen der himmlischen Ordnung der Potestates, 

aus deren Namen ersichtlich der Stoff zu ihrer Bildung her- 
genommen vurde. Dieser Name wird aus der übermächtigen 
Gewalt erklart, die ihnen verliehen ist, um jede gegen Gott 

■aufstehende Widersetzlichkeit unwiderstehlich zu vernichten.' 
Sie sind es, die, wie oben ausgeführt, Gott ins Feld schickt, 
um die Unbotmäßigkeit der abtrünnig gewordenen Engel nieder- 
zuwerfen.^ Indem nun dieser Name nicht Lediglich als Vocabel 
nach der ihm zugeschriebenen Bedeutung verwertetj sondern als 
Bezeichnung einer himmlischen Institution urgiert wird, gelangt 
Wilhelm zur Aufstellung seiner irdischen» den Potestates assi- 
milierten Klasse. Die Machtvollkommenheiten, die sich aus jener 
Erklärung des Engelsnamens für ihn als eine Amtsbezeichnung 




■ Eine ähnliche Uberelnsiimmuag, wie sie hier. fQr die Theorien 
vom Fürsten aufgestellt wurde, bjit für ihre PersSnIicbkeltcn aelbat Bcu- 
taric aufzeigen zu können geglaubt, indem er Philipp den Schönen als 
den Fürslen absoluter Gewalt in eine Linie mit dem vierzehnten Ludwig 
letzt und für Ludwig IX. wenigstens die ErrungeUSChAften einer diejenige 
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vorwegnehmenden Cen- 
tratiaation in Anspruch nimmt. Saint Louis et Alpbonsc de Poiticrs- 
Paris 1870, 2, Sf- Dagegen, aber vras die Centralisation angeht, wohl zu 
Unrecht; GUs^on, Hiatoire du Droit et des Instit. de 1a France 5, 289, 
290; vgl. Ducourdr&y, *. a, O- 28(f„ Luchaire, Manuel, 463, 520/1. — 
•» P. 985 coU 2C. — 8 P. 989 col. IC 



h. 



88 



ergeben, werden voll ins Irdisch-Militärische entfaltet. Dabei 
greift Wilhelm als auf einen Beleg seiner Consiruktion auf die 
anklingende, in der zeitgenössischen Verfassung vorkommende 
Beamten k^iegorie der Potestates zurück: homioes, qui potestates 
äpud DOS dicuntur, ad hoc uttque constituti sunt, ut inimicos 
reipublicae vel comprimant vel exterminent," worunter die Po- 
desta der italischen Siadtrepubliken, der provencalfschen Con- 
sularstädte, die sie eben erst — in den Zeiten Wilhelms — 
von jenen übernahmen,* zu verstehen sind. 

Aber mehr durch den Gleichklang, als durch innere Über- 
einstimmung veranlaßt, erweist sich diese Zusammenstellung als 
wenig glücklich, Obwohl matt von dem oft betonten Grundsatz 
wird ausgehen müssen, daß eine strenge Verteilung der Amts- 
aufgaben uüter die mittelalterlichen Beamtenkategorien nur 
ganz vereinzelt durchgeführt ist, wird man doch nicht ver- 
kennen können, daß bei einer so grundsätzlichen, dem gegebenen 
Zustand fernen Gewaltanordnung, wie Wilhelm sie anstrebt, 
gerade die Podesta weit weniger als Glieder der sechsten, denn 
als solche der fünften Klasse seines Systems hätten auftreten 
müssen. Denn sie sind vielmehr die allgemeinen Leiter der 
Staatsgeschäfte, die anordnende Verwaltung, wie sie Wilhelm in 
der fünften Ordnung in ausdrücklichen Gegensatz zur sechsten 
und siebenten, den Exekutiven, stellt, als die militärischen 
Vollstrecker des Staatswillens:^ für die ihnen vielmehr schon 
damals die Condottieri (in der Provence: vicarii, lieutenants)* 
zur Verfügung zu stehen begannen. 

Der militärische Charakter aber ist es, von dem Wilhelm 
als dem constimtiven Element der sechsten Klasse ausgeht. 
Per eos in potestatem Regis reducuntur et rediguntur^ quj a 
potestate recesaerant vel eidem rebellant.' Ganz richtig — und 
schon systematisch im Sinn der neueren Staatslehre"^ — ist 
der Begriff der Heeresverwaltung als politische Exekutive ge- 
faßt, die, wie oben ausgeführt, zutreffend der Verwaltung 
(Praesides Provinciae) entgegengesetzt, und der im weiteren die 
bürgerliche Exekutive in der siebenten Ordnung, den Centuriones 
oder ministri, eng angereiht wird.' Diese Scheidung in poli- 



' P. 985 col. 2D. - ' Lucfaaire, Manuel, 442ff. — -^ Insofern er- 
scheint die oben zitierte Interpretation Wühelms einseilig und gewAlisam. 
— * Lucbaire, ibid. — ^ P. 665 col. 1 A. — " Ansätze zu dieser -^ und 
fn viel weiterer, wenn auch theoretisch gegründeterer — Umspannung 
linden sich im Mittelalter sonst erst später: soviel wir sehen, erst bei 
Marsilius von Padua, Defensor pacis I, 15, wo der Gegensarz von Legislative 
und Executive lucide auseinandergesetzt wtrd. — ■ Cf. p. 971 col. I C 



^ 



'tische und bürgerliche ETcekuttve hat wieder ihren Halt in der 
Bestimmung der himmlischen Ordnungen, indem der sechsteo, 
den Potestates, aufgetragen ist; der Kdtnpf gegen die äuDeren 
Widersacher der Erlösung, die contrarias Poiestaies, die Dä- 
monen;' der siebenten, den Virtutes^ aber: die im Menschen 
selbst wohnenden Laster zu bekämpfen und auszurotten.^ 

Die Eignungen, die den militärischen Befehlshabern zuge- 
schrieben werden, sind sehr allgemein. Ihre Bezeichnungen 
'selbst: Duces legionum, bellorum instructores, acierum capitanei 
sind teils Anklänge an die antike Welt, teils an die gleichzeitige 
Heerordnung, so daß sich eine bestimmte RangstuFung nicht 
aufstellen laQt, wie sie wohl such vom Meister selbst nicht 
beabsichtigt wurde. An einer anderen Stelle^ werden in aus- 
führlicherer, aber ebenso antike und zeitgenössische Elemente 
vermischender Aufzahlung als militärische Rangstufen verzeichnet: 
centuriones, decuriones, quaterniones, Duces, Marchiones, 
Comites, Contestabiliones. Interessant ist hier, wie der Ver- 
mengung klassischer und mittelalterlicher Heeres bezeich nun gen 
die Zusammenstellung beamtenmäßiger und lehnständischer 
Institutionen parallel läuft Diese ist nur ein Ausdruck 
der zeitgenössischen Verhältnisse, die neben die alten Heer- 
Imter lehnsständischer Ordnung^ (den Seneschal und seinen 
Nachfolger, den Connetabel, die Duces, Comites^ Barones) die 
Beamtenofßziere führten, die den seit Philipp August in Auf- 
nahme gekommenen berufsmäßigen Soldaten^ entsprachen." 

An inneren Gaben wird den Heerfijhrern lediglich zuge- 
^flchrieben, was ihrem himmlischen Gegenstück als selbstver- 
ständliche Auszeichnung infolge des in ihm entstrahlten Teiles 
der gottlichen Macht zukommt. Da dieser Teil sich als 
^_ omaipotentia, contra quam nee resistentia ulla nee 

^P rebellio stare potest nisi quae minus clare ostenditur,^ 
darstellt, so wird den Potestates und somit auch ihrem irdischen 
Abbilde, den militärischen Befehlshabern, als Auszeichnung die 
EmtneDtifl Invincibilitatis^ beigemessen: womit aber nichts Be- 
sonderes über die innere Qualität, welche den Heerführer aus- 
zeichnen muß, ausgesagt ist. 
^V Zu bemerken ist allenfalls noch, daO in dem oben ange- 
H^hrten „nisi quae minus clare ostenditur" wieder die Begreo- 

H[ ' P. 971 col. 1 B. — * K 965 col. 1 A. — » P. 991 col. 26 D. — 

^R Boutaric, Instituttons militaires de la France, Paris 1863, 267IF. — 

^ JShns, Handbuch einer Geschictite des Kriegswesens von der Urzeit 

bis zur Renaissance. Leipzig I8S0. S24. — " Boutaric a. a. O, 272. — 

' P. 97Ö col. I B. - * P. 978 col. 1 H. 



b! 



90 

zung der Exekutive auf äuQere Widerstände ausgedrückt ist: efT 
wird angedeutet, daO gegen die sieb im Dunkel haltende 
Kebellion das Schwert vergebens gezückt wird, daß die be- 
waffnete Hand sich nur gegen den offenen Feind bewährt. 



S 16 

Siebente Klasse 

Vollstreckungsbeamte — Virtutes. 

Was nun die Centuriones, die ministri, die siebente Klasse, 
der, wie schon oben erwähnt, die bürgerliche Exekutive zusteht, 
angeht, so ist bereits angedeutet, daß auch sie im engsten An- 
schluü an die himmlische Hierarchie constituiert wurde. Der 
siebenten Ordnung, den Virtutes, ist zugewiesen, dermaßen gegen 
jede Art von Laster im Menschen entbrannt zu sein, daü sie es 
mit seinen Werken und Urhebern austilgen. Den Nartien 
Virtutes tragen sie dann davon, daß sie so gänzlich den Lastern 
entgegengesetzt sind, daß nur der volle Name „Virtus" ganz 
diese Gegnerschaft auszudrücken vermag. Als der zeitlich zu 
ahndenden Verfehlungen gleich entbrannte Widersacher werden 
die bürgerlichen Vollstrecker irdischer Gewalt den himmlischen 
Strafgewalten an die Seite gestellt: die Centuriones oder 
Ministri. Der Name Centurio ist die in der fränkischen Ge- 
richtsverfassung übliche Amtsbezeichnung des zur Vollstreckung 
der Obergerichtsurteile berufenen niederen Richters.' Minister 
kommt als vollziehender Hilfsbeamter des Richters schon in 
der römischen Gerichtsbarkeit vor;^ im späteren Mittelalter wird 
der Ausdruck Bezeichnung des dem ländlichen Centurio ent- 
sprechenden städtischen, die niedere Gerichtsbarkeit und zu- 
gleich die Vollstreckung der höheren ausübenden Beamten.^ 

In den Zeiten Wilhelms — im Frankreich der beginnenden 
Centralisation — wurden diese Befugnisse vom bailli wahr- 
genommen,'*' dem Nachfolger der alten ministertales oder offi- 
ciales;'' es ist daher bemerkenswert, wenn Wilhelm an ihrer 
Statt die Centuriones der Volksrechte aufruft. Es beweist dies, 



^ SehrSder, Deutsche Rechtsgeschichte, ö!9. — " Der Gehilfe des 
römischen Prätors ward minister genannt. L. 1 § 2 D. Si ventris nomine 
25, S. — ' Schröder a.a.O., 644-646. — ^ Luchaire, Manu«! 547. 
— ^ Glasson, Hist. du Droit et des institmions de la France. Paris 
1S93, 5, 474. Er wird ausdrücklich als „ministre de la justice" bezeichne!. 
Le Xain de Tillemonl, Vie de Soint-Louis, V, 47. 



Ql 



I 



I 



irfo die sonst schwache historische Tradition des Mittelalters, 
auf dem Gehiete der Verwaltung eine sichere Kontinuität be- 
wahrt. 

Als das Amt der Centuriones und Minisiri wird angegeben: 
vindictas exercere et justitias sive iudicla exequi.' 

Alle drei Ausdrücke sind synonym für die von einem Ge- 
richtshofe durch Urteil verhängten Strafen.^ Deutlich sind also 
Centuriones «ad Winistd als die vollstreckende Strafgewalt ge- 
kennzeichnet. Es kann nicht verwundern, daß Wilhelm ledigUch 
die Diener der Strafgerichtsbarkeit aufführt. Obwohl er vorgibt, 
die hesteingerichtete Erden Staatsordnung aufzeichnen zu wollen, 
gibt er doch nur einen h&chst sprunghaften Abriß von einer 
solchen. Indem ihn von vornherein das Vergleich sbild der 
himmlischen Ordnungen gefesselt hält, vergißt er der irdischen 
Erfordernisse und gibt so nicht mehr vom Rahmen des welt- 
lichen Staates wieder, als eben durch jenes Vergleichsbild ver- 
anlaßt ist. Da aber den seligen Ordnungen als geistigen Wesen 
allein das ewige Heil der Menschen am Herzen liegt, kann 
ihnen ein unmittelbarer Eingriff in deren materielle Streitig- 
keiten nicht zustehen,^ Durch Strafweise Verfolgung der Sünden 
alleit) üben sie ein Richter- bzw. VoHstreckeraml, ordnen sie die 
geistigen Fehden; Klagen um Mein und Dein meldet Ihr Ent- 
scheid. Daher finden sich denn auch in der den himmlischen 
Urteilsvollstreckern parallelen Klasse nur die Vollzieher der 
Strafgerichtsbarkeit, während das Amt der bürgerlichen Rechts- 
bewirkung unberührt bleibt. 

Das ofßcium der viriutes ist, vitia et vitiorum opera 
totis studiis ac viribus exterminare — — — 

Für ihr irdisches Abbild, die Centuriones, wird der etwas 
allgemeine Ausspruch „totis studiis ac viribus" in bestimmte 
irdische Verhältnisse projiziert: es wird für die irdischen Voll- 
strecker die strenge Handhabung aller, auch der weltlichen, 
JVldchtmittel gefordert: ut armis etiam militiae saecularis strenui 
sint. *- 



' ' P. 965 col. la. — " Du Gange, Glossar, suh his voc. — ^ Es 

finden sich gelegentlich allerdings bei ^Cilheltn auch Züge einer Teilnahme 
der Engel an den materialen Schicksalen der Menschen: so wenn er der 
sechsten Ordnung, den Kriegsengeln, zuweist, daß sie in den Kriegen 
der Menschen untereinander die eine oder andere Partei durch die Rat- 
schläge und Enthüllungen Gottes zu unterstützen haben p. 971 coU IC. 
Vgl. dazu die bei Glrörer, Gesch. des UrchrisientuTns H, 372 wieder- 
gegebene jüdische Tradition, daß die Engel, sobald die ihrem besondem 
Schutz vertrauten Nationen miteinander in Krieg geraten, selbst unter- 
ciaander den Kampf aufnehmen. — '' P. 06ä co). 1 A. i. f. 




02 



Mit dieser seltsamen, weil doch Tür eine Klasse weltlicher 
Beamten selbstverständlichen Anforderung wird tn Wahrheit 
ihr ganzer Charakter umgedeutet. Indem nämlich ihre Tätigkeit 
— die irdische Rechtsbewirkung — gleichsam nur als eine Aus- 
führung und Foftwirkung der rein geistigen Korrekturen der 
Engelsmächte angesehen wird, wird mit diesem betonten Aufruf 
zur strengen Handhabung auch der *eltlichen Machtmittel ihr 
ganzes Vollstrcckeramt in die Sphäre geistlicber Gewalten 
gerückt. Es erscheint die weltliche Machtentfaltung lediglich 
unter dem Gesichtspunkt des die geistliche Gewalt bedienenden 
welllichen Schwertes. Und es wird nicht unterlassen, wenigstens 
im Vorübergehen darauf hinzudeuten, daD diese Dienstbarkeit durch 
den Charakter des weltlichen Sehwertes als eines dem geistlichen 
Arme zur Verfügung stehenden Machlmiiiels gerechtfertigt ist. 
armis militiae saecularis — — armis videlicet omnino 
spiritualibus.'' 

Damit stimmt trefflich überein, wenn am Schluß des Satzes 
neben der Anwendung der übrigen weltlichen Machtmittel noch 
besonders die der ^arma justiliae" eingeschärft wird. Für eine 
besondere Namhaftmachung dieser hätte vom Standpunkt einer 
welllichen Gerlchtsbarkett aus kein Grund vorgelegen; sehr wohl 
aber rechtfertigt sie sich vom Standpunlct geistlichen Gerichts, 
wenn man darunter die eigentlich jurisdictionellen Strafmittel 
im Gegensatz zu den kirchlichen Censuren versteht. 

So wird hier ganz in Parenthesi das große mittelalterliche 
Postulat der Zuteilung des weltlichen Schwertes an das geistige, 
das gegen das Ende des Jahrhunderts auch die französische U'elt 
noch in Flammen und ihre Geister in streitende Bewegung 
setzen sollte," mit einem kurzen, scheinbar unwidersprochenen 
Worte erhoben. 

In diesem Sinne der Nutzbarmachung der weltlichen Gewalt 
für kirchliche Censuren verstanden, steht diese Stelle bei Wilhelm 
nicht vereinzelt da. Bei einer im wesentlichen wohlmeinend 
milden Beurteilung der zeitlichen Verhältnisse ist ihm — ganz 
ähnlich wie seinem königlichen Gönner — ein nicht geringes 
MaO kirchlicher Strenge eigen, die oft über den Rahmen ihrer 
sonstigen IHachtanwendung Opfer heischt.' 



' Ibid. — ^ Cfr. Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipp des 
Schönen und Eonifaz' VIII. Kirchenrechll. Abhdign. Heft 6,'8. passim. 
— " Cfr. Guil. Alv. De Legibus cap, ] i. f. op. omnia 11, p. 28 co[2 GH. 
De Univerao II, 2. cap. 50, p. 801 col. 2 A. üL fetiecine de Bourbon, 
Anecdotes hisiortques ed. Lecoy de la Marche, Paris 1877. 3S3j3S7f. Eta- 
blissemeois de St. Louis Livre E, cap. 90. Viollct, Iniroduction dazu 2S2/3. 



ii 



n 



4 
4 




93 



Die Anfeüerung, welche so die Vollstrecker der irdischen 
ierichtsbarkeit aus ihrer unmittelbaren Ableitung von der himni- 
lischen erfahren: ut . . , strenui sint, wird verstärkt durch die 
für die himmlischen Strafmächte prätendierten Idealeignungen 
der Infatigibilitas und IndeFeciibilitasJ Ähnlich wie bei der 
politischen Exekutive der sechsten Ordnung aber fehlt innerhalb 
dieser Ausdrücke einer aUgemein vollkommenen Vorbildlichkeit 
eine nähere Hinweisung auf die Art, in der eine so vollkommene 
Ausbitdung sich irdisch vorbereitet. 
^K Den himmlischen Mächten der siebenten Ordnung wird — 
^Bber abgesehen von der Aufgabe der Sündenftustilgung — ähnlich 
^Hcr sechsten Klasse — noch die Anspornung der Menschen zu 
den einer besonderen virtus bedürftigen Taten und darüber hinaus 
ein eigenes, die absolute virtus verwirklichendes Tun zugeteilt. 
Ihre vollkommene virtuosltas schafft die Wunder: quBe sunt 
super omnem virtutem naturae,- in denen „magis apparere vide- 
tur omnipotentia virtutis ipsius (Creatoris).^ Zu diesen beiden 
Eignungen finden sich irdische Parallelen nicht. Ein volks- 
pädagogisches Amt lag, wie nahe ihn auch der platonische Staat 
hätte darauf führen müssen» nicht im Rahmen der doch insoweit 
gegenständlichen Staatsanschauung Vt^ilhelms. Das Wunder- 
bewirken aber als außerhalb der Grenzen der begreiflichen 
Natur gestellt, konnte im irdischen Regiment ein Abbild über- 
haupt nicht haben. 



Achte und neunte Klasse 

Vorbemerkungen. 



Die achte und neunte Stufe der Staatsordnung nehmen die 
Königsboten ein. Sie sind den entsprechenden Klassen der 
Engelshierarchie, den Archangeli und Angeli» genau an die Seite 
gesetzt, nach ihrem Vorbilde constituiert, wenn auch Wilhelm 
bei dem Nebeneinanderstellen beider Ordnungen wieder schein- 
bar erstaunt als Ergebnis der Vergleichung verkündet: eviden- 
tissimam habent proportionem atque similitudinem.* Es scheint 
im übrigen Wilhelm an dieser Stelle doch ein Bedenken über 
den reinen a priori- Ursprung seiner irdischen Ordnungen gekommen 
u sein, da er durch die genaue Befolgung der Engelsrangordnung 




' p. 978 coi. l H., p. 979 col. 2 B. — * p. 971 Cöl. 1 C, — ^ p. 905 
1. IBj p. ffiß col. 2D. — • p. 965 col. IB. 




sieb von der Centuriones unmittelbar auf die Königsboten 

geleitet und eine groEle Anzahl wichtiger Beamtenklassen 
achtlos übergehen sah. Zur Beseitigung dieses Bedenkens 
unternimmt er den Versuch einer sachlichen Rechtfertigung seines 
Verhaltens, der aber als geglückt nicht anerkannt werden kann. 
Es vird auf diese Ausführung in Hinsicht ihres, sachlichen 
Gehalts nccb weiter unten näher einzugehen sein. 

Die KoQigsboten &ls besondere irdische Gemein^chaftsordnuDg 
spiegeln zunächst den eigentlichen Beruf der gesamten himtn- 
lischen Ordnungen wider. Als das eigentliche, für das Volk das 
fast ausschlieUliche Amt der Engel muß die Übermittelung der 
göttlichen Aufträge gelten. Aber diesem Amte entsprach eS|fl 
unter den Engeln eine besondere, ausschließlich diesem Diensf 
vorbehaltene Schicht zu bilden. Ihm entsprach es auch, nach 
der erheblicheren oder geringeren Bedeutung der von ihnen zufl 
übermittelnden Botschaften diese Schicht wieder in zwei Klassen 
zu teilen und, unabhängig von diesen besonderen Ordnungen» noch 
für die Erötfnung der allerheiligsten Kündungen die gesamlen, 
insbesondere die oberen, Rangordnungen der Engel bereitzustellen.' 
Dies ist das eigentliche, das nähere Substrat der achten und 
neunten Klasse Wilhelms, der Königsboten. Aber als irdische 
Gemeinschaftsordnung sind die Königsboten auch nicht ohne Halt 
in der tatsächlichen Gestaltung des mittelalterlichen Erdenregi- 
ments. Im karolingischen Frankenreiche waren die zuvor nur 
in außergewöhnlichen Fällen entsandten Königsboten, missi, zu 
einer ständigen Institution geworden, während neben ihnen 
immer noch die Entsendung außerordentlicher Königsboten vor- 
kam.^ Ihr Amt — wie die meisten dieser frühen Zeit • — ent- 
behrte einer allgemeinen Festen Umgrenzung. Man sieht sie 
mit den verschiedensten Aufträgen das Reich durcheilen.^ Zu- 
sammenfassend wird man sagen können, daO es ihres Amtes war, 
die Rechte der Centralgewalt in den Territorien wahrzunehmen 
(ad justitias factendas).^ Ihre Erscheinung verblaßt mit der 
abnehmenden Bedeutung der Centralgewalt.'^ Aber ganz erloschen^— 
sind sie eigentlich nie." Wir besitzen Urkunden aus der Zel^f 
Ludwigs VII, die ihr Vorkommen noch in dieser späten Zell 
beweisen.^ Und im römischen Reiche begegnen wir ihnen noch 
im dreizehnten Jahrhundert als einer ständigen Institution, frei- 



■ Gull. Alv. 1. c. p964 col. 1 H 2E; 965 col, 1 B. — -^ SchröderJ| 
Deutsche Rechtsgeschichte S. 138. — ^ Violletj Histoire des Instit l, 
304. — * Schröder a. a. O,, S. 138. — " Viollei a. a. O., 306.— » A- M. 
Glasson a. a. O., 5, 402. — ' Luchaire, hisioire des insttt. 
I. France. Paris 1S91, I, 201, d. 3. 



. monarch. d^H 



lieb nuD ausschlieOlJch auf die HacdhabuDg der Gerichtsbarkeit 
zurückgeführt.* 

Es ist bemerkenswert, daß sie in dem Plane Willielais 
wieder erscheiaen. Hat ihr Amt hier auch eine charakteristische 
Wendung erfahren, so rufen doch die unterscheidenden Klassen- 
aamen Legati und Nuncü die Erinnerung an die alte Institution 
wach.^ Daß die Bezeichnung Legati von der Übung seiner Zeit 
her eine andere — jener Wendung entsprechende — Färbung an- 
genommen, vermag den Zusammenhang mit der alten Institution 
nicht zu verwischen. Man wird mit dieser Neubelebung durch 
Wilhelm zusammen halten müssen, wie ein Jahrzehnt nach der 
Abfassung von Wilhelms Schrift der Monarch, dessen ständiger 
Berater er war, die verblaßte, aber nicht völlig unterbrochene 
Tradition der Missi wieder aufnahm, Die £nqu€leurs, die 
Ludwig IX, vor seinem Kreuzzug zur Kontrolle der gesamten 
Verwaltung hinaussandie,^ und die nach demselben eine ständige 
Einrichtung der erstarkten Centralgevalt wurden, dazu bestimint, 
ihre Befehlshoheii über die Territorialheamten aufrechtzuer- 
halten, sind nichts als die unmittelbaren Nachfolger der alten 
Missi.* 

Wenn wir nun in Wilhelms System diese alte Institution, 
wenigstens in ihren Bezeichnungen und dem Grundzuge ihres 
Wesens, der Vertretung der Königsgewalt durch besondere Ent- 
sandte, lebendig wiederfinden, werden wir an dem die Enquäteurs 
anordnenden Beschlüsse Ludwigs IX. vom Jahre 1247 nicht 
vorübergehen können, ohne jener Belebung der alteti Institution 
durch Wilhelm zu gedenken, um so weniger, da wir unsern 
Meister gerade an den dem Kreuzzug vorangehenden Beratungen 
und Entschließungen Ludwigs den lebhaftesten Anteil nehmen 
sehen.'* 

Es fflulk aber bei alledem, der unleugbaren Aufnahme der 
alten Königsbotentradition durch Wilhelm, doch festgehalten 
werden, daG, wie wir schon andeuteten, diese Institution in 
seinem System eine im Einzelnen ganz abweichende Bedeutung 
erhalten bat. Wir bemerken in ihr, zu einem Teil wieder durch 
voraufeilende zeitgenössische Strömungen beeinflubt, zu einem 
anderen durch eine glückiiche Spekulation befördert, die Vorweg- 
nahme von staatlichen Institutionen, die als allgemeine erst der 
neueren Zeit vertraut geworden sind: nämlich eines politischen 
Gesandtenamts und eines ständigen Kurierwesens. 

= Schröder a. a. O., 512. - ^ Schröder a. a. O-, 138. VioUei 
a. a. 0., 1, 304. — ^ Le Main de Tillemont» Vie de Sl, Louis, Ed. GauUe, 
Paris 1849. V, 441. — ^ Luc baire, Manuel 553. ~ ' Valois a. a. O., 150 ff. 



96 

Wilhelm, der an der Entwicklung dieser Institutionen 
im Laufe der Welt wohl selbst keineti ganz geringen Anteil 
hatte, da er in fast allen Händeln seiner Zeit bald vom 
Papst, bald vom Könige als Vermittler und Unterhändler aus- 
gesaadt wurde, ^ erscheint ganz besonders dazu geschaffen, 
dieser Entwicklung in einem vorbildlichen Staatsordnungs- 
plan einen sie auch theoretisch begründenden Ausdruck zu 
geben. 

Wilhelm teilt die Königsboten — entsprechend den himm- 
lischen Ordnungen — in zwei Stufen: die Nuncii magni, qui 
legati usualiter nominantur, und die Nuncii minores. Ihr inneres 
Wesen setzt er mit begriH'lichen Scheidungen gegeneinander ab, 
die nicht ohne SchärFe die AbstuTung zwischen der sechsten 
und siebenten Klasse, den Feldherren als politischen und den 
Gericbisbeamten als niederen Vollstreckern, wiederholen. Jenen 
kann man ein stattliches persönliches Bewirken in weitem 
Kreise zuschreiben, diesen vollzieht sich ihr Amt im notwendig 
abgesteckten, eng umschriebenen Cirkel, in genauer Ausführung 
fremder Weisung. Ahnlich wird den Großboten^ den BotschaFtern» 
□eben der Übermittelung wichtiger höchstpersönlicher Aufträge 
auch eigentlich staatliche GeschäFtsbesorgung aufgetragen^ wäh- 
rend die untere Klasse nicht anders denn als die Übermittler 
des ausgedrückten königlichen Willens erscheinen. Es ist in 
dieser Teilung ein römisch-rechtliches Prinzip genau zum Aus- 
druck und zu politischer Erscheinung gebracht: nach ihm werden 
die eigentlichen Willensvertreter von den bloßen Willensträgem 
unterschieden.^ Es kann zweifelhaft sein, ob Wilhelm, dessen 
Bildungsgang im Dunkeln liegt,^ der aber als Bischof an der 
kirchlichen Rechtsprechung teilgenommen hat^* eine nähere 
Kenntnib römisch-rechtlicher Definitionen innewohnte. War 
dies nicht der Fall, so ist seine Einteilung als ein Beweis 
seiner durch die scholastischen Kategorieen weniger als 
hei anderen gehinderten geistigen Durchdringung der Lebens- 
verhältnisse ^ anzusehen : In dem anscheinend komplizierten 
Gewebe staatlicher Funktionäre weiQ er schon das per- 
sönliche Elemetit von dem nur mechanischen Behelfe zu 
sondern. 



» Valöis» I. c. 84 ff. — ^ 1. 15 Dig. de pec. const. 13, 5. I. 37 Dig. 
ad S. C. Treb. 36, 1, — ' Valois, !. c. 1 ff. Schindele, Beiträge 
zur Metaphysik des Wilhelm v. A. Mütichener Dissertation 1900, S. I. 
" * Valois a. a, O., 20 ff, — ^ Huit, Platonisme au IreiziSme siöcle 
iti AntiDles de pbltosüphie cbr^tienne N. S. 21, 46tf. Baumgartiter 
*. a. O., 2, 9ff. 



97 



S 18 

Achte Klasse 

Gesandte — Archangeli, 

Die Magni Nuncii oder Legati — es wird auf den letzten Aus- 
druck als den der Zejtübung entsprechenden ausdrücklich hin- 
gewiesen, und wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß 
die Bedeutung, welche in einem politisch Fortgeschrittenen Teile 
der damaligen Welr, der Curie und den italischen Stadtrepubliken, 
diesem Ausdruck beigelegt wurde, für Wilhelm der nähere An- 
laQ zur Neubelebung des allen Legaten-, des Königsboteninstituts 
gewesen ist — sind diejenigen 

tqui magna nunciant et alüs nunciis non revelanda et 
de magnis rebus atque negociis deTerunt ad quos Rex iusserit.^ 
In den groCen und anderen Boten nicht zu vertrauenden 
Dtschaften erkennt man noch das Abbild der Verkündigung 
und anderer Heilsoffenbarungen,* die Gott den Erzengeln als 
bevorzugten Himmelsboten aufgetragen hat. In dieser Engels- 
klasse haben denn die großen himmlischen Verkünder ihren 
Rang, insbesondere Gabriel; doch ist auch diese ihre Stellung 
nicht unbestritten und wegen der Außerordentlichkeit ihrer 
Sendung ihre Zuordnung zu den obersten Rängen verfochten 
worden,* wogegen mehr ihre ausdrückliche Bezeichnung als 
Erzengel denn ihre Mission, die als so auDerordentlich wohl 
die ausnahmsweise Beauftragung der höchsten Klassen gerecht- 
fertigt hätte, zu sprechen schien.' 

Die Zuweisung eines besonderen Standes nn diejenigen, 
die die großen und die geheimen königlichen Botschaften aus- 
richten und die wichtigen Staatsgeschäfte vermitteln, entspricht, 
wie oben schon angedeutet^ nicht der allgemeinen zeitgenössischen 
Staatsordnung, sondern nimmt die Entwicklung voraus. Daß 
dazu Keime in der alten Institution der Königsboten lagen, ist 
oben bereits erwähnt. Darüber hinaus bot die auch sonst voran- 
schreitende päpstliche Verwaltung mit ihren frühen legati nati 
und den späteren iegati a latere ein Moment der Anknüpfung. ° 

Allen voran aber haben die Vorläuferinnen jeder politischen 
Entwicklung, die italischen Stadtrepubliken, schon in der Zeit 
^(^ilhelms einen besonderen Slaatsboten stand — die Ambassa- 



i^ 



1 P. 964 col. I H. — « P. 966 coh 1 E. — » Es wurde bereits oben 
el den ersten drei Klassen auf ihre Funktion als außerordentliche Boc- 
scbafier tiinge wiesen. ^ * Turmel i. a. O., p. 225^6. — ^ Säg mutier, 
;itigkeit und Stellung der Kardinäle. 53 tF. 




98 

toren — ausgebildet, neben denen In außergewöhnlichen Fillen 
noch angesehene Bürger als legati verwandt wurden. Wie stark 
hier das Bewußtsein des besonderen Standes ausgeprägt w&r» geht 
daraus hervor, daß jene Ambsssatoren Amtsabzeichen am Rock 
und Hut trugen.' Die Nutzbarmachung jener atten heiniat-_ 
liehen und der neuen fremdländischen Form Für das allgemein-V 
zeitliche Bedürfnis ist aber ganz das Werk unseres Meisters. 
Es ist nicht wunderbar, daß gerade Wilhelm dies Bedürfnis be*_ 
griFf und ihm in seiner Organisation Ausdruck gab. Ibm, derfl 
bald h[er bald da in den verschlungenen Wirren seines Jahr- 
hunderts bald den päpstlichen, bald den königlichen Unterhändler 
abgeben und darüber die von ihm so geliebte gelehrte Muße 
aufgeben muQte, ^ mag die Notwendigkeit dieses neuen Standes 
um so mehr eingeleuchtet haben^ als seine auch die Verhältnisse 
ferner Gemeinwesen überschauende staatsmännische Erfahrung 
in den italischen Stadtrepubliken den Vorteil eines besonderen 
Gesandtenstandes bereits aufs glücklichste wahrgenommen sah. 

Bemerkenswert ist bei der Constituierung dieser Klasse die 
sichere Zusammenstellung der ihr zugeteilten Obliegenheiten. 
Sie spiegeln deutlich im großen die denkbaren Falte der eigent- 
lichen Ge sandten tat igkeit wieder: 1. die besonders wichtigen, 
2. die geheimen Botschaften, 3< die Vermittelung der Staats-^ 
geschäfte. V 

Als eine besondere Tugend der gleichlaufenden himm- 
lischen Ordnung — allerdings auch der folgenden — und so als 
vorbildliche Eignung auch auf die beiden irdischen BotenkCassen 
zu übertragen — bezeichnet Wilhelm die provtdentissimam 
curam et per omnem modum ineffabilem et enarrabilem ac 
pure bonam in ea, quae regere et administrare atque ordinäre 
dignatur (SC. Creator).^ Neben allgemein Doctrinärem ist hierin 
doch viel von den wesentlichsten Anforderungen enthalten, die 
der Legätus zu bewahren hat: vor allem die unablässig acht- 
same, aber gegebenenfalls auch voraussorgende Aufmerksamkeit 
bezüglich der Directiven des Oberen.* Über allgemeine, intuitiv 
erfaßte Prinzipien hinaus beginnt sich ein in besonderer Berufs- 
erfahrung erworbenes Wissen um die besonderen Berufstugenden 
auszubilden und festzustellen: der Schritt, mit dem der Geist der 
Scholastik entschlüpft, um unters Tor der Renaissance zu ireten. ^ 



1 P. 9S7 col. IC.— '' Valols a. a. 0., 6r. — ' P. Ö87 col. 2 B. 
— *' Über die gleichfaUs in Italien zur volEen Entfaltung gebrachte, 
besondere Kunst der Gegandtentätigkeit vgl. Burckhardt, Kultur der 
Renaissaace in Italien, ä. Aufl. 1, lOOf. — " Burckbardt a. a. O,, ]41., 



B8 



S 19 

Neunte Klasse 

Kuriere — Angeli. 

Die Nuncii minores nehmen die den Angeli als den all- 
gemeinen himmlischen Boten zukommende Stellung auf Erden 
ein. Wie diese die weniger wichtigen göttlichen Aufträge den 
Menschen zu übermitteln haben,^ ist ihiieu — den Nuncii 
minores — der allgemeine königliche Botendienst vertraut. ' 
Während aber die beiden himmlischen Botenklassen Archangeli 
und Angeli in der Tat nur nach dem Gehalt der ihnen über- 
tragenen Botschaften zu scheiden sind, ist in die Abfolge der 
beiden irdischen Klassen, wie oben gezeigt, ein inneres Unter- 
scheidungsmoment eingeführt: sind den als persönlich Handeln- 
den, als geistige Mittler in Betracht kommenden Großboten, 
den Legaten, die Nuncii minores als die tatsächlichen Boten, 
die reinen Nachrichtentrsger, die bloßen Übermittler des könig- ■ 
liehen Willens entgegengesetzt. Ihnen ist nicht aufgetragen, 
^magna et aliis nunciis non revelanda nunciare" und „de magnis 
rebus ac negociis deferre", sondern schlechtweg „iussa 
regis et mandata deferre*. In ihnen ist — in einem schon 
fast den Zusammenhang mit der Gesandtenklasse verlierenden 
Sprunge — eine Klasse reiner Läufer und Kuriere constituiert, 
deren Organisation mehr auf einen geordneten Nachrichten- 
dienst als auf die Ausbildung irgendwelcher selbständiger 
Fähigkeiten abzuzielen scheint. Sie werden als „per totum 
regnum discurrentes sive equites sive pedites ju&sa regis et 
maad&lfl deferentes" geschildert: wobei man den Eiadruck eines 
das ganze Reich vom königlichen Stuhl her umspannenden 
Botennetzes und eine lebhafte Erinnerung an den Etappendienst 
der persischen Großkönige erhält. Dieser unter Darius Hystaspes 
eingerichtet,' in der griechischen Welt ohne Folge* und in der 
römischen als Cursus publicus erst zu spätem Leben erweckt,^ 
von wo ihn dann Chlodwig* gerne herübernahm, Karl der Große^ 
als er in Verfall geraten, wiedererweckt haben soll,'' mußte 

1 P. 966 col. IC. — " ibtd. et p. 964 col. 2 E. — " cf, Herodot VllI, 
9&. Xenopbon, Cyrop. VIII, 6, 17, — ^ Hartmann, Entvlcklungsgesch, 
d. Posten. Leipzig 1868, 21 EF. IlwolF, Postwesen i. s. Entwicklung. 
Graz 1880, 7f. — ^ llwolF a. a- O., IL Hartmann a. a, O., 40ff. 
Flegler^Vieban, Zur Gesch. des Poscwesens in d. Histor.-Polit Blättern 
42, 695. — « llwolf a. a. 0., 20. Hartmann a. a. O., I29ff. — ^ Doch 
ist dies sehr streitig. Vgl. Harcm&nn a. a. O., 135^151. llwolf 
a. a. O., 2L Flegler-Viebsn a. a, O., 702f. 

7* 



[00 



mit fortschreitendem Mittelalter sich bald jeder eigentlich staat- 
lichen Erscheinungsform beraubt sehen. Wir werden den Grund 
hierfür nicht nur in äußeren Umständen, sondern mindestens 
ebensosehr in den dem miltelaUerlicheti Geiste eigenen gesell- 
schaftlichen Bildungen zu suchen haben,' Diese, auf Erstarkung 
der einzelnen innerstaatlichen Ordnungen hinarbeitend, duldeten 
schwerlich ein diese Scheidewände durchdringendes, lediglich 
durch den Staatsrahmen gehaltenes Netz von Verbindungen: 
daher denn auch die einzelnen Genossenschaften jede Für sich 
nicht ganz eines Nachrichtendienstes entbehrten.' Man findet 
Universiiäjsboten, Klosterhoten, Siädteboien und Metzgerposten 
verzeichnet." Da ist es denn kein ganz geringes Zeichen setner 
Einsicht in die Bedingungen des neuen ceniralisierten National- 
staats, der in Frankreich seine Anfänge nahm, wenn unser 
Meister Für das königliche Regiment diesen weitreichenden wohl- 
geordneten Botendienst in Anspruch nahm. Trotz des Wort- 
anklanges, den die „Missi discurrentes" des amulfingischen 
Hausmeiertumes an unsere Stelle von den „Nuncii discurrentes" 
aufweisen, wird hierin kaum eine nähere Veranlassung der 
Vi'ilhelmtschen Aurstellting zu erblicken sein, da den Miss! eine 
eigene, den Hausnieier darstellende Gewalt und ein hoher Amt$- 
charakter innewohnte/ der den lediglich der Communikation des 
königlichen Willens dienenden Läufern Wilhelms fehlt. Dagegen 
kann man wohl annehmen, daß eine jener zuvor erwähnten 
zeitgenössischen korporativen Einrichtungen ihren Einfluß auf 
die Wilhelmischen Gedankengänge geäuOert hat. Gerade in 
seiner unmittelbaren Nähe unterhielt die parisiscbe Universität, 
an Bedeutung und Werbekraft gleichmäßig zunehmend, für die 
Zwecke ihrer Studierenden eine grolle Anzahl von Boten, die 
fast über ganz Europa zu bestimmten Zeiten ihre Kurse machten, 
und die bei der immer steigenden Inanspruchnahme auch durch 
nicht der UniversitAS litterarum angehörige Kreise einen voll- 
kommen technisch entwickelten Organismus ausbildeten/ Das 



i 

i 
1 



i 



' Vgl. IlwoEf a. a. O., 20. Hartmann a. a. O., 153, 157, 163. 
Flegler-Vieban a. a. O., "JOSf. — ^ Harimann a. a. 0., 167. Uwolf 
a. a. O, 22. FJegler-Vieban a. a. O., 7Ö4F. — ^ Hartmann a. a. O., 
170—213. llwotf a. a. 0., 22—32. Flegler-Vieban a, a. O., 7(Hff. 
KliJber, P&stwesen in Deutschland. Erlangen ISlI^ 9fF. — ■• Schröder 
a. a. O., 138. — * Die Einieilung dieser Organisation in Großholen und Boten 
(arcbinuncn, nuncii majores und viatores parvi, nuncJi volantes) soll bei dem 
seltsamen Gleichktang mit den V'ilhelmischen Katcgorieen hier nicht un- 
erwähnt bleiben, wenn aucti eine innere Beziehung zu diesen nicht wohl 
anzunehmen ist: da denn die Groliboten Jhr&n Namen wohl nur als eine 



I .^^ 



J 



101 



^C^esentliche ist aber doch, daQ Wilhelm den Wert solcher 
Institute für das gemeine Staatswohl und das dieses main- 
tenierendt KönigsregimeDt begriff und ihnen beiden in Gestalt 
einer eigenen Stafttsklasse zuschrieb. Stärker konnte die uni- 
versale Bedeutung der Königsmacht kaum zur Anschauung 
gebracht werden, ats daß man ihr eine ganze Schicht ihrer 
Untergebenen zu dem einzigen Zwecke zur Verfügung stellte, 
ihre Wirksamkeit bis an die äußersten Grenzen des Reiches 
aufrechtzuerhalten. 

■ Daß hier nicht lediglich das Vorbild der Himmelsbierarchie, 

sondern sichere irdisch-politische Tendenzen die Feder Wilhelms 
beeinflußten^ ist nach dem Vorgetragenen augenscheinlich und 
wird noch weiterhin dadurch bestätigt, daß Wilhelm die lebendigen 
Zwecke der Organisation, ihre Glieder nach equites und pedites 
unterscheidend, urgiert. Ihm kam es hier in der Tat darauf 
an, in der Anpassung an die HimmeEsordnung zugleich das 
bochstvollkomrtiene Bild eines irdischen Kerrscbaftsmittels zu 

t 



S 20 



Zusammenfassende Betrachtung der weltlichen Staatsordnung 
Wilhelms. Das VernunFtprinzip. Der klassische Einfluß. 

Es ergibt sich danach als die Staatsordnung Wilhelms, wenn 

Vf'ir ihr die Ausdrücke einer entwickelten Verfassungslehre leihen, 

;die Abfolge nachstehender Staatsschicbten, für die zutreffend 

weder der Terminus Klasse noch der Terminus Stand zur Ver- 

tfügung steht: 
1. Persönliche Umgebung des Königs. 
, II. Räte. 

' lU. Richter. 

Erinnerung an ihre ursprüngliche Bestimmung trugen, in Wahrheit aber 
als in Paris angesessene, angesehene Bürger lediglich die Leitung des 
Dienstes und überdem die finanzielle und sonstige bürgerlEche Versorgung 
der Studierenden zu versehen hatten. Ausgeschlossen ist allerdings nicht, 
daß die bloße Bezeichnung und Einteilung auf Wilhelm einen unmittel- 
baren BinnuQ wenigstens bei der Benennung seiner Kategorieen geäußert 
tat. Doch muß auch dies ungewiß bleiben, da jene Bezeichnungen, wenti 
sucb wahrscbeinlich viel älteren Ursprungs, kaum für eine frühere Zeit 
als das fünfzebnle Jahrhundert urkundlich zu belegen sein werden. 
Harimann a. a. O., 205fT., besonders 20Sf, Flegler, Zur Gescbichte 
der Posten, Nürnberg IßSS, 17/lS. Flegler-Vieban a. a. O.j 706ff-, 
besonders 709f. - ^ P. 964 col. 2 B. 



L 



102 

IV. Lehnständische Gewalten: Könige zu Tribut und 
Lehn, Fürsten und Freie Herren. 

V. Provinxialstatth alter (anordnende Verwaltung). 

VI. Politische Exekutive: Heerführer. 
VII. Bürgerliche Exekutive: Vollstreckungsbeamte. 
Vin. Gesandte. 

IX. Kuriere. 
Man wird nicht übersehen, wie willkürlich und sprunghaft, 
vom Standpunkt eines sachlich geordneten Staatswesens aus be- 
trachtet, diese Ordnung fortschreitet. Man muß ini Auge be- 
halten, daD es die himmlische Ständefolge ist, die sie als Rück- 
grat stützt; ein inneres Moment bestimmt sie selbst nicht. Daher 
mußten viele Elemente» die ein wohlgeordnetes Staatswesen nur 
schwer entbehrt, und die unser Meister, da er ein solches dar- 
lustellen sich vorgesetzt, hätte verzeichnen müssen, hier aus- 
fallen. Man wird der seltenen mittelalterlichen Staatsschriften, 
die ein Gesamtbild des Staates versuchen, gedenken müssen, 
um zu ermessen, wie schwer es dem mittelalterlichen Geiste 
war, sich von der Bindung durch Analogieen und Allegorieen weg 
zu einer unbehinderten Betrachtung der politischen Dinge hin- 
zufinden. Man wird in dem Policraticus des Johann von SalJs- 
bury, dem einzigen Versuch eines grölieren Slaatsbildes vor 
Wilhelm, eine noch engere Abhängigkeit von dem dort als Vorbild 
dienenden menschlichen Organismus bettierken. Erst gegen das 
Ende des Wilhelmischen Jahrhunderts scheint der Geist, von 
solchen Fesseln befreit, einem sachlichen Ergründen des gesamten 
Slaatslebens hingegeben. Insofern allerdings — das ganze Gebiet 
staatlicher Organisation auf Aristoteles' Spur verstandesmäüig 
durchdringend — wird Ägidius von Rom' — trotz Wilhelms 
im Einzelnen ihm vorauslaufender Verdienste* — die Palme 
des Ruhms für sich beanspruchen dürfen. 

Es ist bereits oben darauf hingedeutet worden, wie dem 
Meister selbst an einer Stelle der Ausfall einer Anzahl von Beamten- 
kategorieen bemerkbar wurde, und er sich Mühe gab, ihn durch 
eine prinzipielle Erwägung zu verdecken. Es wird hier der 
Ort sein, auf diese Erwägung näher einzugehen. 

Wilhelm versucht die Kluft, die zwischen den Gesandten 
der achten Ordnung und den einfachen Botenlaufem der neunten 
Ordnung klafft, und in der eine ganze Schar von Functionären 
des Staatsdienstes, für die dies der letzte Platz einer Erwihnung 
gewesen wäre, verschwindet, mit der Ausführung zu rechtfertigen: 



' Scholz a.a.O., S. 109 ff. — ^ S.O. S. 82. 



103 



Non numero coquos in ista ramilla regia, quia nee regni 
necessitas nee eiusdem decor aut gloria aed magis noxia 
deliciositas eorum minfsteria exqulsivit. Sic dico de pincernis, 
et de cubiculariis et thesaurarüs, hoc est thesaurorum custo- 
dibus; quia curiositas et voluptas et avaritia causam dederunt 
superfluitatj eorutr, cum longe minori apparatu et solliciiudJne 
posset Regibus ministran et regna etiam gübernari. 

Cap. 112 p. 964 col. 2E 
Diese Ausführung scheint auf den ersten Blick nur die 
^Beamten des königlichen Haushalts anzugehen und nur auf 
eine Beschränkung der persönlichen Bedürfnisse des Königs 
abzuzielen. Aber abgesehen davon, daß der mittelalterliche 
Staate dessen Gefüge alle diese Ordnungen entnommen sind, 
den persönlichen Dienst des Königs ununterschieden mit dem 
am Staate verknüpft, die großen Kronämter jener vorerwähnten 
Dienste ganz an Lehen bindet, die ihrerseits den wesentlichsten 
Bestand des Staates bilden,' läuft zum mindesten in einem der 
von Wilhelm erwähnten Ämter, dem des Thesaurars, auch nach 
der Natur der Sache, königliches und staatliches Interesse so 
nahe zusammen, daß man nicht wohl das eine angreifen kann, 
ohne auch das andere mitzutreffen. Und am Ende verrät der 
Schiuli des obigen Citats, daß es Wilhelm tatsächlich, wenn er 
den königlichen Haushalt angreift, in Wahrheit auf eine Ver- 
einfachung der Staatsverwaltung im ganzen ankommt. Damit 
Wäre allerdings die Übergehung zahlreicher Beamtenklassen in 
seinem System gerechtfertigt: wenn nur seine Meinung: longe 
minor! apparatu et sollicitudine posset Regibus ministrari et 
regna etiain guhernari durch hinreichende Gründe von ihm 
belegt wäre. Der von ihm angeführte, der lediglich auf die 
deliciositas, curiositas, voluptas, avaritia als die Ursachen vieler 
Ämter hinweist und ihre Rechtfertigung durch die necessitas^ 
gloria oder den decor regni bestreitet, kann nur für den Kreis 
reiner Hofämter Geltung haben, verfängt schon nicht mehr 
beim Tbesaurat, das wichtige Interessen des Staats mit denen 
des Königs vereint, und versagt völlig bei einer großen Anzahl 
ausgesprochener Staatsstellen, die das System Wilhelms ganz 
unberücksichtigt läQt, obwohl sie im Sinne einer wohlverstandenen 
Staatsökonomie für die Verwaltung des Staates unerläßlich sind. 
Viele wird man zur Not in den Häuptern ihrer Gattung, in der 
fünften und sechsten Ordnung, den Statthaltern und Heerführern, 
mit ausgedrückt Bnden können: die ganze Schar der Verwaltungs- 




' Luchaire, Manuel Siaff. 



)04 



und MilitäroFßzianten. Für einige, und gerade die wichtigsten, 
Ordnvtigen versagt aber ^uch dieser Behelf, tn dem System 
Wilhelms ist für die groüen centralen Verwaltungsämter, ins-fl 
besondere den Kanzler mit den ihm nachgeordneten Behörden,*" 
ebensowenig Raum, wie für die communalen Organisationen.^ 
Und man wird am wenigsten diese Ordnungen als für den wohl- 
bestellten Staat entbehrlich ansehen können. Man wird sich ^ 
mit der Erkenntnis begnügen müssen, daß Wilhelni, obwohl er^ 
vorgibt, im Wege der Intuition sein Musterstaatsge bilde gefunden 
zu haben, und obwohl mancherlei spekulative Züge ihm ein- 
gewoben sind, auch die rein geistige Bildung der platonischen 
und aristoteliächen Staatsform ihm nicht ferngeblieben ist, doch 
in der Hauptsache, so vor allem in der Aufstellung und Anordnung 
seiner Klassen, der Einwirkung der himmlischen Hierarchie 
derart unterlegen ist, daß gegen sie eine rein vernunftgemäße 
Erfassung und Entwicklung des Staatsordnungsproblems sich — 
nicht durchzusetzen vermochte. ■ 

Allerdings dies wird man ihm doch zugestehen müsseo, und 
gerade die soeben besprochene Stelle beweist es zur Evidenz, daß 
unter der ängstlich treuen Nachfolge der himmlischen Gewalten- 
ordnung sich ihm immer wieder das Verlangen nach ihrer ver- 
nunftgemäßen Begründung und Ausbildung aufdrängt. Anders 
ist das Räsonnement, mit dem er die Aufnahme der Küchen-fl 
meister, Mundschenken, Kämmerer und Schatzmeister in sein 
System ablehnt, wenn man es auf seinen sachlichen Gehalt hin 
betrachtet, nicht zu erklären. An sich bot die Vorstellung, welche 
diemittelalterlichenGeisterinit dem himmlischen Reiche verbanden, 
wie wir schon oben sahen, nur allzuviel Anlaß zu einem Bilde ver- 
schwenderisch ausgestatteten Hofhalts. Und wir haben auch oben 
bereits erwähnt, wie unser Meister auf der Spur des Hieronymus 
gelegentlich dieser Vorstellung nachgab. Die späte Mutmaßung, 



' Man wird nicht einwendeFi dürfen, daß XTilhelm hier dem öruck 
der zeitgenössischen Verhähnisse nachgegeben habe. Mochten immerhin 
die Träger der Französischen Krone gegen die Inhaber der großen Kron-^ 
ämter den Argwohn hegen, daß sie ihre Gewalt auf Kosten der Kronefl 
zu vergrößern strebten; in einem Systeme vorbildUcher Sraatsordnung, 
dessen Glieder aucb als von menschlichen Schwächen Frei zu denken 
wären, hätten diese centra[en Verwaliungsämier um so mehr der Er- 
wähnung bedurft, als die Übung der französischen Könige, sie interi-^ 
raistisch zu besetzen, deutlich genug ihre Notwendigkeit gerade für einfl 
erstarkendes Köaigsium beweist. Cf. Luchaire» Alanuel 522ff. — * Wie™ 
diese sich gerade in jenem Zeitalter mächtig zu entfalten begannen, legt 
an dem Beispiele Strasburgs dar: SchmolEer, Straßburgs Blüte im 
Quellen u. Forschgn. z. Sprach- u, Culturgesch. Vi. bsdrs. 26 ff , 





105 

daß die Engelklassen der Bibel eine Nachbildung persischer 
Horstaatsordnung waren, ist auE derariige Vorstellungen zurück- 
zuführen. Hier hätte also das Vorbild himmlischen Reiches 
gerade zum Gegenteil der von Wilhelm vertretenen Anschauung 
führen müssen. 'Wenn man nun sieht, wie gleichwohl Wilhelm 
— und nicht ohne starke grundsätzliche Betonung — eben diese 
Anschauung vertritt, so wird man zu dem Schluß kommen, daß 
ihn dabei ein an Gewicht nicht ganz geringes Moment beein- 
flußt haben muß. Und man wird dies Moment nicht etwa, wie 
man versucht sein könnte, in den Verhältnissen seiner näheren 
politischen Umgebung suchen dürfen. Wie lauteren und bis 
zu franciskanischer Strenge mäüigen Lebens Ludwig IX. für 
seine Person war,^ den groGen Prunk altfranzösischen Hof- 
gesindes hielt er aufrecht wie ein JWerowijiger, Gerade die von 
"Wilhelm besonders verworfenen Ämter der coqui und pincemae 
standen an seinem Hofe, und nicht nur durch eine Rangstufe 
vertreten, in höchster Blüte.^ Der umgebenden Welt Einfluß 
also kann es nicht gewesen sein, der in Wilhelms Vorstellung 
das Bild himmlischen Herrschaftsglanzes verdunkelt hat. Es 
muß ein inneres Moment gewesen sein. Und war es. Wenn 
"Wilhelm die Einrichtung des königlichen Kijchenmeister-j Mund- 
schenken-, Kämmerer- und Schatzmeisteramtes als weder für 
das Staatswohl nötig noch auch nur für dasselbe forderlich ver- 
ivirft, sie lediglich auf die menschliche curiositas, voluplas, 
avaritia zurückführend, und ihnen so eine Stelle in seinem 
Staatsordnungsplane verweigert, so war das ihn dabei bewegende 
JVloment hier eben die, unter antiker — und wie sich sogleich 
erweisen wird, im besonderen platot^^sche^ — Einwirkutig aus der 
Vernunft geschöpfte Vorstellung von einem bestregierten Staate, 
die wir schon oben hei der Entfaltung des Fürstenideals wirk- 
sam sahen. Daß dies der Fall ist, geht alsbald daraus hervor, 
daß er selbst seinen Lehrmeister Plato zum Worte aufruft: 

Tunc bene erat rebus humanis cum a deliciis et super- 
fluis divitiis vanisque honoribus se Reges abstrahebant, et 
sicut dicit Philosophus quidam, cum Philosophi regnabant 
et reges philosophabantur. P. 964 col. 2E. 

Das große platonische Ideal von dem unter den philo- 
sophischen Regenten in seine drei Klassen geteilten vollkommenen 
Staate scheint auf.^ Es erglänzt das Platonische: 



' Ducourdray a. a. O.^ 4. Jourdain, Exoursions 528 ff. — ' Du- 
courdray ibid., Luchaire, Manuel 552. — ^ Nohle, Staatslehre Piatos. 
Jena 1830, passim. besonders lUS 



106 

'Eav fti] — ij Ol (fiX6(TO(poi /iaailEvatDaiv Iv taig iroX^^iv r^ 
ol ßaaikelg t£ vvv kfyö{iSvoi xßi ävvaarai q)iXoao(p^a<jjat 
yvrjalws Tc v.al ly.avMe xä). zovto dg zavtbv ^viijzeaf] ävva^itc; te 
7ioXiztv.i] xßi iptkoaofpla — ovk iazi Jtaxwv TcavXa raig hoXeoi, 
öoyjft df ovÖ€ T((j äv&fftiniirrii yhet. Rep. V., p. 473. 

Wenn man nun auch annehmen will, daß Wilhelm^ den 
Vorstellungen einer über alle irdischen Einrichtungen hinaus voll- 
kommenen himmlischen Staatsordnung hingegeben, nicht den 
vollen Gehalt der platonischen Staatslehre mit ihren im Sinne 
einer Verwirklichung sehr ernsthaft gemeinten Einzelheiten der 
ganz göisiig orientierten Verfassung^ erschöpft hat, daß ihm 
vielmehr ihr ganzes System nur als das schöne Bild einer das 
tilmmUsche Vorbild erfüllenden entschwundenen Wirklichkeit 
erschien, worauf die zeitliche Beziehung, in die er das platonische 
Dictum setzt, deutet, so -wird man doch den lebendigen Einfluß 
des platonischen Staatsplanes als eines geistigen Ganzen auf 
Wilhelm nicht in Abrede stellen können. Allzu klangvoll, allzu 
ge-wichtig tä\lt die Berufung auf die Zeit, cum Philosoph] 
regnabant et Reges philosophabantur, als auf eine Zeit erwünschten 
Erdenregimentes ein. Diese das Prinzip waltender Vernunft 
zur Grundlage des Staatswesens erhebende, das ganze platonische 
Staatsgebäude tragende Vorstellung wenigstens hat ihn tief ge- 
troffen. Und aus ihr heraus und aus ihr genährt, versucht er 
das ihm aus Dogmen und Traditionen übergelegte Staatsordnungs- 
gefiige himmlischen Vorbildes zu durchdringen, zu durchbilden. 
Und für dies Bestreben, dies Verlangen, in die vorgezeichnete 
Reihe der Ordnungen den Geist gestaltender Vernunft hinein- 
zutreiben, ist die obige Stelle ein lebhaftes Zeugnis. Und wie aus 
ihr wird man aus vielen anderen, so namentlich der weiter oben 
besprochenen über das Ideal des Fürsten den Schluß ziehen 
können: daß, wenn ihm unter der Gewalt allegorischer Bindungen 
und der Zwänge einer zum Dogma strebenden Analogie dieser 
Geist erstickte, ohne daß er aus sich heraus und über fene Hem- 
mungen hinaus ein selbständiges Staatsordnungsgebilde schaffen 
konnte, eben darin doch sich seine lebhafte und vorwärtsstrebende 
Macht bewährte, daß er von innen heraus den ihm übergelegten 
Staatsbau mit dem Licht seiner Begründungen, dem Feuer seiner 
Bildungen zu durchstrahlen trachtete: womit das in diesen Zeiten 
immer häufiger wiederkehrende Bild eines seiner scholastischen 
Hülle sich entringenden Geistes unmittelbarer neuzeitlicher 
Lebenserfassuttg, Lebensdurchdringung bezeichnet wird. 



Noble a. a. O., 34 IT., 113 IT., leSf. 



lO? 



» 



S 21 

EinHuÜ der weltlichen Staatsordnung Wilhelms auf die spätere 
Literatur — Ägidius von Rom, De ecclesiasiica potesiate. 



Bei allen neueren Schriftstellern, die sich mit der theo- 
retischen Behandlung der SlaatsproWeme im Miitelfllter beschäf- 
tigt haben» begegnen wir — wie schon wiederholt erwähnt — 
der Auffassung, daß vor den Zeiten des Thomas der Versuch 
eines ausgebildeten Staatsordnungssystems nicht gemacht worden 
sei.' Allenfalls wird auf die merkwürdige Schrift des Johann 
von Salisbury, die unter dem Bilde des menschlichen Körpers 
eine völlige Staatsorganisation darzustellen unternimmt, ver' 
"wiesen: und diese ist es auch, die über das Mittelalter hinaus 
bis in die Zeiten der Aufklärung hinein die lebhaft benutzte 
Quelle aller derer wurde, die sich ein Bild von der vor- 
thomistischen Auffassung eines vollkommenen Staatswesens 
machen wollten. Zu Unfecht. Denn von ihr 4us, die entsprechend 
Ihrer frühen Entstehungszeit (1159 — 60) gegenüber der alle- 
gorischen Anlehnung und Ausdeutung nur allzusehr den EinflJuQ 
selbständig suchenden Geistes vermissen laßt, führt keine un- 
mittelbare Brücke zu den philosophisch orientierten Systemen 
der hohen Schule. Zu Unrecht ist der Name Wilhelms, der 
auf anderen Gebieten, z. B. auf dem der Psychologie,^ ein immer 
unvermindertes Ansehen genießt, auf den Tafeln der Staatswissen- 
schaFt ausgelöscht. Er stellt — als der Ersten einer, der dem 
platonischen den aristotelischen Geist einte und mit diesem neu- 
geformten geistigen Machtmittel das ganze Gebiet ihm erreich- 
liaren Wissens durchdrang — eine nähere, eine fast unmittelbar« 
^Verbindung zum Gipfel der Schule, zu Themas, dar. Ja, über 
diesen hinaus, und wo man dessen EinfluQ als den selbstver- 
ständlich überlegenen vermutet, halt Wilhelm noch eine uu- 
mittelbare innere Verbindung aufrecht. Gerade seine Abbildung 
des Engelsregiments in einem weltlichen Staate, für die wir 
jm Bezirke mittelalterlichen Schrifttums kein ihm adäquates 
Analogon zu entdecken vermögen, bezeugt dies. Zwar hat 
Thomas' bei Gelegenheit der Darstellung des von Pseudodionys 
vnd Gregor für die Engel aufgestellten Stufensystems diesem 



K 



^ qf. Scholz 0. a. O., 117 et passim, Poole a. a. O., 216[f., 226 ff. 
ourdatn, Excursions 530 ff . — ^ Baumgartner a. a.. O., 9{. Huit 
a. a. O., 459[f. Schindele a. a. O., 9. Valois a. a. 0., 279ff. A. M. 
de Wulf, Augustinisme et Aris totalis me au 13 siäcJe in Revue N€o- 
«colastique ä acin^e p. 153. — ' Thomas Aquinas, Summa theol. P. I. 
<^. 108. Art. 6. Concl. 




108 



eine aus menschlkhea Ordnung^verhältcissen herrührende innere 
Begründung gegeben. Aber diese ist im groüen ganzen weniger 
besonders gesellschaftlich, als allgemein geistig organisierend. 
Nur an eituteln^n Stellen leckte der gesellschaftlich-staatliche 
Ausdruck der Kräfteverteilung so sehr, da& Thotaas ihm nicht 
'Widerstand und des Erdensfaats Parallele herbeizog. So belfl 
den ersten drei Klassen und dem Principatus. Aber die Auf- 
richtung eines Fortschreitenden Staatsplanes Für die Gemein- 
schaFt der Engel fehlt. Hier behauptet trotz ihm, der im 
einzelnen der systematischer Ergründende war, Wilhelm die 
höchste Stelle der Entwicklung. Und sein Einfluß — über den 
des Thomas hinaus — ist es, den wir noch an einer Stelle 
wirksam'- glauben, die diese Einwirkung sowohl wegen der 
Person als wegen der besonderen Umstände, auf die sie geübt 
wurde, höchst bedeutsam erscheinen läßt. In seinem Traktate 
De ecclesiastica potestate, der Grundlage der Bulle Unam 
Sanctam' setzt Agidius von Rom, wie wir oben sahen, des Thomas 
von Aquin bevorzugter Schüler," in dem Kapitel „Quare sunt duo 
terreni gladii in Ecclesia et quomodo hi duo gladii sunt sumendi", 
dem dreizehnten des zweiten Teils, das Schema einer vollkommenen 
Staatsordnung auseinander, das sehr wesentlich von dem» das er 
in seiner früheren Schrift De regimine principum auf aristo- 
telisch-thomistischer Grundlage entworfen hat," abweicht. Dem, 
der die weltliche, das Engelsregiment abbildende Staatsordnung 
Wilhelms kennt, wird es kaum zweifelhaft sein, wo er die Quelle 
dieses scheinbar originären Staatsordnungs planes, den Scholz 
für dem Ägidius eigentümlich zu halten scheint,* zu suchen hat. 
Wir lassen zunächst hier die Stelle nach dem Wortlaut des 
noch ungedruckten iVlanuscriptes der Pariser Nationalbibliothek 
Ms. lat. 4229 (olim Colbert 2402) fol. 33, 34^ folgen; 

Advertendum it&que, quod angeli sibi invicem presunt 
propter regimen universi, ut Universum sie regatur 
gubemetur, quod electi salvi fiant. Si enim quis rex vellet' 
regere aliquod regnum, primo essent illi, qui semper essent 
circa regem et tales tripartiti essent, quia vel essent dilectlfl 
et amici regis vel essent sapientes et assisterent regi vel 
tercio essent, qui promulgarent aliis et publiearent ludicia et 



CK 



1 Scholz a. a. 0-, 124ff. Jourdain, Excursions I88ff. Fast wortHct^ 
damit übereinstLmmend Krauß a- a. O., 20 ff . — - Scholz a. a. O., 33. 
Jourdain a. a. 0., 176, — ^Scholz a. a. O., 111. — ■> a. a. O., 111 n. 182 a. 
— * Wir verdanken di« Mitteilung dieser Stelle der Liebenswürdigkeit 
unseres gelehrten Freundes Dr- Mario Kratnmer, dem dafür unser« 
verbindlichen Dank zu sagen uns an dieser Stelle vergönnt sei. 



109 

beneplacita regis, post illos essent illi, qui se inlromiiterent 
de questionibus tocius regni, tercio essent illi, qui non de 
loto regnOt sed de partibus regni se intromitterent. Eodem 
eciam modo^ si rex vellet facere aliquod edifieium, primo 
essent illi, qui semper assisterent regi, qui ut diximus, essent 
tripartiti^ quia vel essent electi et amici regis vel [ersnt 
amici] ^ regts sapienles vel essent regis iudicia et beneplacita 
promulgantes; per hos ergo sciretur, quäle liedifLcium rex 
vellet ßeri. Secundo essent illi, qui se intromitterent de tolo 
hedificio, qui edam essent iriparlüi, quia vel boc facerent 
precipiendo, quaiiter hedißcium ßat sJcut faciunt archJtectores 
vel hoc agerent amminicula exhibendo^ ut hedificium pro- 
moveatur vel impedimeata retnovendo, ne hedißcluin de- 
trinientum paciatur. Tercio essent illi, qui non se intro- 
mitterent de toto edificio, sed de partibus edlßcü, qui se 
haberent sicut inferiores operarii et hü essent tripartlii, qui 
aliqui facerent principaliores partes, ut illi qui conponerent 
parietem vel tectum et aliqui operarentur particulares partes^ 
ut bii, qui dolarent lapides et ligtia et illi essent triparttti, 
quia aliqui dolarent lapides maiores et ligna excelEenciora, 
aliqui lapides minores et ligna minus excellencia. 

Sic et in proposito in gubernacione mundi et in regimine 
uoiversi aliqui sunt angeli quasi coniuncti Deo et in vestibulis 
Dei scientes voluntatem eius, quaiiter vuU, quod Universum 
regatur et illa est ierarchia prima, que continuit tres ordines: 
Dilectos, sapientes et iudicia proFerentes. Dilecti sunt 
Seraphim, sapientes Cherubim, iudicia proferentes Throni. 
Inter angelos quidem plus est esse dilectum quam sapientem, 
quia in dilectione est causa sciencie. Nam ex eo quod quis 
est dilectus a Deo, ex hoc seit secreta Dei et plus est esse 
sapientem quam iudicantem quia sciencia est causa iudicii, 
ut unusquisque bene iudicat de hiis, que novit. Seraphim 
itaque sunt supra Cherubim et Cherubim supra Thronos. 
Seraphim ergo tanquam dilecti Dei et primo cognoscentes 
secreta Dei, quaiiter Universum regi debeat» ut salventur 
electi, de ilHs secretis illuminant Cherubim^ ut et ipsi dicantur 
sapientes et scientes secreta Dei. Nam et Cherub sciens . . .'^ 
plenitudo sciencie interpretatur. Cherubim vero tarn illu- 
minati per Seraphim et iam scientes secreta et iudicia Dei 
illuminant Tbronos, ut ipsi iUa iudicia et illa secreta de 
regimine universi annuncient aliis et illuminant alios. In 



^ i; ] erant amici getilgt durch Striche. Offenbar ist auch das fol- 
gende .regis' zu tilgen. — ^ z. T, getilel: iut ill* ^= unde ille? 



L 



110 



Thronis ergo dicitur sedere Deus et in eis sua iudicla 
proferre} quia iudicia Dei de regimine universi annuncrnnt 
Tbroni inferioribus ierarchüs. Hoc est itaque ierarchia 
prima hos tres ordines continens. ^M 

SecuQds quidtm ierarchia e$l s« intromittsti» de ipsoV 
generali regimine universi et hec continet tres ordines, quia 
Uli qui presunt toti operi vel presunt precfpiendo, quatiter 
omtiia fiant et iste sunt dominaciones a dominando dicte,^ 
quia dominantur et precipiunt, qualiter in hoc regimine omnii^P 
fienda sunt, vel sie presunt toti operi adminicula exhibendo 
et huius sunt virtutes, quibus tribuitur miracula facere in^ 
adminiculum gubernacionis mundi et salutls electormn. V( 
sie presunt impedimenta removendo et iste sunt potestates" 
cohercentes demones et potestates tenebrarum, ne impediatur 
regimen uaiversi et ne temptent electos et universaliter 
omnes homines ultra id quod possunt. Prima ergo ierarchia^ 
quantum ad regimen universi, sunt sicunt secrelarii et sicut 
illi qui prius sciunt secreta Dei et eins iudicia. Secunda 
vero Sunt quasi architectores, qui principalius se intermittunt 
de regimine universi, Tercia quidem sunt quasi inferiores 
operarii, quia sunt illi qui deputantur ad custodiendum partes 
universi, sed huius partes vel est aliqua tota multitudo ut 
aliqua tota provincia et isti sunt principatus, de quorum 
numero erat princeps Persarum, qui preerat Persis, ut 
habetur 1. Dan.'- vel princeps alius, qui preest alii genli. 
Vel huius partes universi usu sunt multitudo vel provincia, 
sed singulares partes, circa quas vel exercent que sunt 
maiora, quod faciunt archangeli qui sunt principaliores nuncii 
arcbos enim princeps, angelus vero nuncius interpretatur, 
unde arcti angelus quasi princeps nuncius vel priucipalis 
nuncius esse dicitur. Vel exercent que sunt minora et hoc 
faciunt angell, qui sunt quasi simplices nuncü. Apparet ergo 
ex dictis, quod omnes tres ierarchie celesüum spirituum ut 
ierarchie sunt et ut sacri principatus sunt et omnes ordines 
ibi existentes ordinati sunt et sibi invicem presunt ut requirit 
regimen universi et salus electorum. 
Schon der Eingang der Stelle, in dem die wechselweise 
Überordnung der Engelsklassen aus dem allgemeinen Welt- 
herrschaFtspriuzip, das durch sie als Vorbild für das 
irdische Regiment dargestellt und vermittelt werden soll, ge* 
rechtfertigt wird, erinnert an den von Wilhelm an die Spitze 




* Entstellt. Die Stelle, welche in Betracht kommt, ist Dan. 




11! 

seines ganzen Sy^sCems gestellten Leits&tz, wonach die An- 
ordnung des himmlischen Regimentes notwendig Für das wohl- 
geordnete irdische exemplarisch sein müsse.' Was über Wilhelm 
hinausgeht, ist vielleicht nur die von Agidius — wenn ich ihn 
recht verstehe — der Engelsordnung subintelligierte Zweck- 
bestimmung» als ein solches Vorbild für das Erdenregiment zu 
dienen (während von Wilhelm diese Qualität nur als eine tat- 
sächliche Eigtiung ihr zugeschrieben wird). Aber mit zwingender 
Notwendigketr ergibt sich auch diese Abweichung nicht aus dem 
Texte des Ägidius- 

Der Gedanke des Eingangs wird dann noch einmal am 
Schluß des Abschnitts aufgenommen. In starker Zusammen- 
fassung wird die staatsmäßige Ordnung der Engel: als Hier- 
archieen» als sacri principatus ausgerufen, ihre ganze Gliederung 
als ein vorbildliches Genüge altwelllicher Regimentsbedürfnisse 
angesprochen. Darin lebt von Wilhelmischem Geiste die aus- 
drückliche, in so bandhaftem Ergreifen von niemandem sonst auf- 
genommene und durchgeführte Beziehung von Himmels^ und Erden- 
Staat.' Lassen sich einzelne Ausdrücke, so die sacri principatus, 
durch eine Zurückführung auf die erste Quelle, des Pseudo- 
dionysius Coelestis Hierarchia, erklären, das ganze ausgewirkte 
Bild der Engelsstaatsordnungen hat nur ein völlig entsprechendes 
Vorbild: des Wilhelm von Auvergne Gemälde von den die 
Engelsklassen abbildenden irdischen Staatsgewalten. Nirgend 
sonst ist in allen ihren Gliedern die himmlische Stufenfolge in 
die Ordnung irdischer Gewalten übertragen, nirgend sonst jene 
im ausgebreiteten Entwürfe staatlicher Gliederungen geschildert 
worden. In solchem Unternehmen steht Wilhelm als Erster. 
Der das gleiche nach ihm unternimmt, muD als sein Folger 
gelten^ wo nicht sonderliche Meinung oder Darstellung seine 
Eigentümlichkeit erweisen. Solches gilt nicht für Ägidius. Triebt 
nur das Gesamtbild, auch die einzelne Ausführung und deutende 
Meinung wiederholt das Wilhelmische Lehrbild. Wir lassen 
unsern Blick auf den drei einleitenden Klassen ruhen und finden 
sie bis auf den Wortlaut denen des Wilhelm ähnlich. Und hier 
kann nicht etwa das gemeinsame Dionysische Vorbild die Über- 
einstimmung erklären. Dieser hat die weltliche Ausdeutung in 
die dreigeteilte königliche Umgebung, in Amici bzw. Delecti, in 
Sapientes und ludlces nicht. Ebensowenig darf der Aquinat hier 
als Quelle gelten, fa nicht -einmal als Vermittler Wilhelmischer 

= Siehe oben S. 65 ff. — ' Selbst der Lombarde, der am eingehendslen 
vor \FUhelm den sachlichen Gehalt des Engelsreiches auseinandergesetzt 
hat, hat sie nicitt. Sentent. IIb. II dist. 9B. Über Thomas s. oben S. 107/8. 



112 



Lehre. Sind seine drei ersten Klassen auch dem Erdenstaat 
angenähert, so entbehren sie doch des knapfien, politisch-präcisen 
Ausdrucks, der Tür das WÜhelmische System so bezeichnend 
ist und, beim Ägidius wiederkehrend, sogleich die Erinnerung 
an jenes wachruft. (Im einzelnen mögen natürlich bler auch 
Einflüsse des Thomas obgewaltet haben, obwohl nicht einmal 
die Reihenfolge der drei ersten Klassen mit der des Ägidius 
übereinstimmt.) Was einzig beim Ägidius über Wilhelm hinaus- 
geht, ist die Auffassung der dritten Stufe, die bei Wilhelm als 
ein Stand freier Richter — denen aber auch das Amt der Gesetz- 
gebung obliegt^ — erscheint, die beim Ägidius aber nur als — 
Organ zur Verkündung der königlichen Sentenzen und Gesetzes- fl 
erlasse auftritt. Man wird darin vielleicht die Wirkung der in- 
zwischen verlaufenen geschichtlichen Entwicklung erblicken 
dürfen, die mehr und mehr alle Zweige staatlicher Verwaltung 
dem einen Stamme königlicher Macht aufpfropfte.' 

Man wird vielleicht darin aber auch nichts weiter zu sehen 
haben, als eine Umbiegung des Wilhelmischen Gedankens zur 
Annäherung an die seltsame Allegorie, die Ägidius nun aller- 
dings als ein Gebilde eigentümlicher Findung mitten unter die 
Gebilde des Wilhelmiscbeo Staatsplanes stürzt. Diese Findung, 
die seltsame Sicht des Stäatsgebäudes als eines wirklich von 



I 




*p. 973C&I. 2. C. — ^ S. Ducaurdray H. a.O., BIfF. Auf die inzwischen 
fast scliOEi vollzogene Entwicktung des feudalen Gemeinwesens zum Beamten- 
Staate neuzeitlicher Observanz weistauch die Bezeichnung hin, mlCderÄgtdius 
die erste Hierarchie als sicut secretarii anspricht; ganz besonders, indem 
er dieser Bezeichnung als Begründung ihr Amt der Cesamtstaatsverwaliung 
beiFijgL Man wird sich erinnern müssen, wie noch nicht zwei Jahrzehnte 
später die unmitlelbacen königlichen Notare diesen Titel, der ohne gesetz- 
liehe Festlegung im ganzen Mittelalter vorkommt, offiziell annahmen, sie,. J 
die des Königs nächste GehilFen bei der Gesamlstaats Verwaltung, von ' 
Anfang an, dadurch, daß sie an seinen Beratungen teilnahmen^ in der 
Entwicklung zu den eigentlichen Leitern dieser Verwaltung standen. Diese 
Entwicklung hat noch im ersten, Fast noch im vorbereitenden Stadium 
Ägidius erkannt und begrifflich festgelegt. Man wird annehmen können, 
daß er, so nahe dem französischen Throninhaber, selbst nicht ohne 
Einfluß auf sie gewesen ist, ein seltener Fall In dieser frühen Zeit, daß 
StaaCscheorie und Verwaltung in enger Fühlung miteinander standen. 
Vgl. Luchaire, Historie des Instif. etc. 1, 196f., [dem, Manuel, 534, 
Viollet a. a, O. II, HOf. — Es muß hier noch angemerkt werden, daß 
zur Einfügung des Begriffs „secretarii' vielleicht noch ein näherer, 
ein eigentlich scholastischer Grund mitgewirkt hat. Thomas schon weist 
der iweiten Klasse der Engel das „divina secreta cognoscere" zu; vön 
da her lag für den römischen Publizisten eine Beziehung suf des 
Königs vertraute Geheimschreiher nicht fem. Bei Thomas selbst ist 
ausdrücklich nicht ausgesprochen. 




113 




einem König auf^uFührenden Baues — als solche nicht entfernt 
von derjenigen, die den Staat als einen selbständigen Körper 
erscheinen laßt (Johannes v, Salesbury, Poticraticus) — verlangt 
zu ihrer vollkommenen Aüsgesraliung die Ableitung und Üher- 
führung des königlichen Bauwillens, der in der ersten Hierarchie 
festgestellt wird, durch eine Stufe von Verkündern dieses Willens 
zu den eigentlichen Ausführern und Handwerkern der zweiten 
bzw. dritten Hierarchie. Darin also und überall sonst, wo den 
Ägidius die Vorstellung dieser seinen ganzen Staatsplan durch- 
setzenden Allegorie beherrscht, weicht er von Wilhelm ab. Er 
bleibt ihm aber trotzdem nah genug und verrät immer auFs neue 
den Einfluß, dem er unterlag. So bewahrt er bei der Betrachtung 
der Rangfolge der ersten drei Ordnungen deutlich, wie schon oben 
S. 76 n. 2. angedeutet, den Wilhelmischen Versuch einerinneren 
Begründung dieser Folge. Es ist bereits dort betont worden, 
wie er sich müht, diesen vollkommen in einer Ableitung des 
tudicium aus der sapientia und der sapientia aus dem Dilectum 
esse a Deo zu logtsieren, dabei aber doch den Boden einer 
ftl lesbegründenden Mystik, die aus der Gottesminne die Er- 
kenntnis entstehen läßt, nicht verlassen kann. Auch hier ist 
der nähere Einfluß des Thomas gewiß nicht zu übersehen. 
Aber die Art der Digression ist, sowohl was ihre Einfügung in 
die Gesamtstelle, als auch besonders was ihre, an Thomas ge- 
messen, mehr handgreifliche als spirituelle Beweisführung 
angeht, dem Pariser Meister verwandter als dem Engel der 
Schule. Dieser Versuch, eine eigentlich dogmatisch gemeinte 
Ordnung bei ihrer Übersetzung ins Politische auf den Grund 
einer für dieses zulänglichen Sachbegründung zu stellen, ist 
ein charakteristisches Glied weiter in der Kette, die den inneren 
Zusammenhang der Engel sstaatsbll der des Wilhelm und des 
Ägidius bezeichnet. 

Der fernere Gehalt dieses Bildes, die zweite und dritte 
Hierarchie, erscheint beim Ägidius wieder den Bildungen des 
Wilhelmischen Planes ferner. Hier hat Ägidius in einem kühnen 
Wurf, die allzu nahe Abhängigkeit von den Engelsnamen ver- 
meidend, eine nur noch ihre Gliederung wiedergebende innere 
Systematisierung gewagt. Man wird nicht fehlgehen, diesen 
Versuch auf den unmittelbaren EinfluG des Thomas zurück- 
zuführen, der an Stelle einer der Engelshierarchie nahe 
folgenden staatlichen Organisation vielmehr ein jene um- 
spannendes, allgemein geistig orientiertes System aufgestellt hat. 
Die Systematisierung des Ägidius nun, dieses ins Politische 
Übersetzend, geht dahin, der zweiten Hierarchie die Sorge für 

8 



114 



dB5 Regiment des gesamten Staatswesens der dritten die Für 
einzelne Teile desselben zuzuweisen. Obwohl das Einander- 
durchdringen theologischer, politischer und nun auch noch 
allegorischer Motive (vom Bilde des Bauwerks her) beim Ägidius 
die deutliche Ausbildung und Durchsicht seines Planes behindert, 
scheint es doch, als ob er mit dieser Teilung ein Etwas wie 
centrale und provinziale Verwaltung habe in Gegensatz stellen 
wollen: nur zu begreiflich bei einem Manne, der nicht nur als 
Erzieher, nein auch durch Freundschaft Philipp dem Schönen 
nahe verbunden war,^ Man wird also auch hier die Abweichung 
des Ägidius von Wilhelm auf jn der Zwischenzeit hervor- 
getretene — und zwar hier zwiefache — Einwirkungen zurück- 
führen können. 

Die einzelnen Glieder der zweiten und dritten Hierarchie 
lassen nicht so völlig, wie ihr Gesamtbild, den Zusammenhang 
mit Wilhelm vermissen. Wir bemerken zwar eine Umstellung 
der Klassen, insoiern die Virlutes mit den Principatus die Stufe 
vertauscht haben (eine alte Meinung, die hier, in der Gefolg- 
schaft des Thomas, wohl nur aus Gründen des Systems wieder 
aufgenommen wurde), auch eine Abwendung von dem Wilhelmi- 
scben Vorbilde in der die zweite und dritte Hierarchie zum 
Schaden des eigentlichen Staatsplanes fast vollkommen be- 
herrschenden Allegorie vom Bauwerk, im Einzelnen aber doch 
auch wieder Anklänge bei der Ausdeutung der Klassen, die 
freilich nicht durchgehends ausschließlich die Erinnerung an 
Wilhelm, sondern auch zuweilen die an den frühen athenischen 
Meister wachrufen, die aber doch wenigstens bei den Principatus 
die Verwandtschaft mit des Wilhelm Praesides Provinciae (über 
die andeutende Vorstellung derselben bei Thomas hinaus) und 
bei den Archangeli und Angeli mit des Wilhelm Nuncii maiores 
und minores nicht übersehen lassen. 

Aber es soll auf diese fernen und abgeschwächten Überein- 
stimmungen hier kein Wert gelegt, nur das auffallende und in 
seiner Wucht überzeugende Zusammentreffen der beiden Schriften 
in ihrer grundlegenden Anschauung, in ihrer ausdrücklichen 
und vollständigen Übertragung der Gesamtorganisatioo der Engel 
ins Irdische und ihrer Darstellung der drei ersten Klassen 
urgiert werden. Dieses Zusammentreffen Bndet, wie im Einzelnen 
dargelegt, in der Zurückfuhrung auf die Beiden gemeinsame 
Quelle, die Coelestis Hierarchia des Pseudodionys, ebensowenig 
eine ausreichende Erklärung, wie etwa in der Annahme einer 



■ Scholz a.a.O. 38, 



MS 



Vermittlung durch Thomas von Aquin. weist vielmehr auf eine 
unmittelbare Abhängigkeit und Beeinflussung des Agidius von 
unserem Meister bin. 

Eine solche Beeinflussung ist auch nach den äußeren Um- 
ständen nur zu natürlich. Wilhelm von Auvergne, um die Mitte 
des Jahrhunderts der gefeierte Lehrer der Pariser Universilät, 
BisctioF von Paris und Berater so der französischen Krone wie 
des römischen Stuhls, mußte für den kaum ein Menschenalter 
nach-ihm lebenden, in Franlcreich erzogenen' und wie er ebenso 
der Kurie "wie dem Thron von Frankreich nahestehenden Erz- 
bischof von Bourges eine nur zu vertraute und willkommene 
Quelle für seine publizistischen Aufstellungen sein. Und es 
ist überhaupt nur aus dem Umstände, daß Wilhelms Name so 
völlig aus dem Gedächtnis der Staatsgeschichtschreiber getilgt 
worden ist, zu erklären, daß auf diese sicheren Zusammen- 
hange nicht früher hingewiesen, nicht häufiger zurückgegriffen 



Orden ist.- 




S 32 

Geistliche Hierarchie. 



Es Ist oben erörtert worden, einen um wieviel breiteren 
Raum, ein um wieviel stärkeres Gewicht die Abbildung des 
himmlischen Regimentes in der weltlichen Ordnung gegenüber 
derjenigen in der kirchlichen bei unserem Meister in Anspruch 
nimmt. Auch die Gründe dafür wurden oben auseinandergelegt. 
Sie führen auf den Gegensatz der einen irdisch-vollkommenen 
Kirche und der Vielheit weltlicher Regimente, die die Setzung 
eines einheitlichen Paradigms erfordert. Indem dieses den 
staatstheoreiisierenden Tendenzen des Meisters Raum gibt, hält 
der Rahmen der kirchlichen Ordnung das Abbild der himm- 
lischen in seinen positiven Grenzen fest und läßt slaatstheoretische 
Divagationen über diese hinaus nur in sehr beschränktem Um- 
fange zu. 

Es wird dem Papste, indem er als das irdische Abbild des 
himmlischen Königs angesehen wird, in dessen Stellvertretung 

^P » Dupuy, histoire du diffärend d'enlre le pape Boniface VIII et 
Philippe le Bei, roy de France. Paris E655, I. 2. 76. — - Dies bleibt 
eine Bemerkung, der die Staatsgeschichtschreibung iri Hinsicht der von 
ihr völlig unberücksichtigt gelassenen theoretischen Literaiur vor Thomas 



nz allgemeia unterliegt. 




8* 



ihm kirchliches wie weltliches Regiment gleichmäßig zusteht,^ 
als das Abbild der drei obersten Himmelsordnungen Seraphim, 
Cherubim, Throni der Cardinalat der römischen Kirche t>sacer 
coetus Cardinalmm" nachgeordnet, ohne daO indes die himm- 
lische Dreiteilung der obersten Hierarchie in der irdischen hier 
anders als durch eine Schilderung der dem einzelnen Ordo nach 
seinen) himmlischen Vorbilde zukommenden besonderen Tugend 
durchgeführt würde.'' 

Es werden dem ersten Cardinalsordo als dem den Seraphim 
entsprechenden die amore Creatoris ferventissimi et totaliter 
ardenies, dem zweiten^ den Cherubim entsprechenden, die 
Sapientissimi et in rebus dtvinalibus eruditissimi, dem dritten, 
den Throni oder sedes entsprechenden^ diefenlgen als Glieder 
zugeschrieben^ qui et jura spiritualia et teges Ecclesiasticas sivc 
Clericales ad perfectum noverint et iura reddant petentibus. 
Man wird in diesen — nur beim zweiten und dritten Stande 
deutlicheren — Umschreibungen kaum die Gliederung, die dem 
cardinalicischen Ordo im dreizehnten Jahrhundert zukommt, 
wiedererkennen. Vielleicht lag eine solche Beziehung der himm- 
lischen auf die einzelnen Cardinalsklassen auch gar nicht in der 
Absicht des Meisters. Nur in einer entfernten Angleichung ■wird 
man vom dritten, dem Stande der das geistliche Recht Ver- 
waltenden, her einen Versuch machen können, die einzelnen 
Ordnungen zu bestimmen, indem man diesen notdürftig auf die 
CardinalbischÖFe, insofern sie die geistlichen Richter ihrer Sub- 
urbikardiözese waren, wird deuten, in den Sapientissimi et 
in rebus divinalibus Eruditissimi aber die Cardinal diahonen 
und endlich in den Gottminnenden die Cardinalpresbyter 
wird erblicken dürfen." Es muß aber betont werden, daü 
in hezug auf die Verwaltung der Gesamtkirche in diesen Zeiten 
das CardinalscoHeg noch durchaus als eine Einheit, nicht als 
ein in coordinierte Ämter geschiedener BehÖrdencrganismus 
handelt.* 

Das Cardinalscotleg wird als das Organ bezeichnet, dessen 
der geistliche Staat — als solcher wird die Kirche geradezu 



' Dmnit scheint der sonst den staatlichen Interessen weit geneigtere 
Meister noch über das hinauszugehen, iva& in dem erbinerten Streite 
beider Gewahen später Ägidtus als das Recbt der Kirche vindiziert. Vgl. 
Scholz a. a, O-, 48, 50ff,, ßO, 96fr. — " P, 965 col. ICD. — » Säg- 
müller, Tätigkeit und Stellung der Kardinäle bis Papst Bonifaztus VIII. 
Freiburg 1896. 177ff. Vg], Werminghoff, Geschichte der Kirchen- 
verfassung Deutschlands im Mittelalter, Hannover 1905. I> 129ff. — * Säg- 
müller a. a. O., 46ff., 90ff., 100, 101. 



117 

angesprochen^ — und seine Verwaltung dringend bedarf, 
ist dies die einzige Stelle, an der die kirchliche Organi- 

'sation als solche in die Erörterung gezogen, ihr Rahmen nicht 
als ein traditionell feststehender hingenommen, sondern noch 
ausdrücklich begründet wird. Die Ursache ist, daO von allen 
kirchlichen Magistraturen einzig noch der Cardinalat, als die 
jüngste von ihnen, im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts nicht 
seine endgültige AbschlieOung erfahren, sondern, was seine 
Stellung als kirchlicher Ordo überhaupt wie seine Machtbefug- 
nisse anginge sich noch durchaus im Fluß der Entwicklung be- 
fand.'' Noch traten Strebungen hervor, die dem Cardinalate 
sogar vor dem Heiligen Stuhle selbst Geltung zu schaffen ver- 
suchten,^ und auf der anderen Seite fehlte es nicht an Stimmen, 
die dem Cardinal scolleg jede Einwirkung auf die Verwaltung der 
kirche absprechen mochten.* An dieser Stelle allein innerhalb 
]er kirchlichen Hierarchie vermag der Geist, den Wilhelm aus 
dett himmlischen Ordnungen liest, seinen EinßuD zu üben. Er 
hilft dazu, die letzten, noch nicht gutti. festen Steine dem sonst 
unantastbar festgestellten Kirchenbau tiefer einztiFügen, indem 
er ihre Notwendigkeit aus dem himmlischen Vorbild erweist. 
Und da einmal zur Begründung geschritten ist, fehlt es bald 
auch nicht an Kritik: das kirchenpolitische Problem des Cardi- 
nalats i>tfnet sich nach allen Seiten, und dem an der Himmels- 
hierarchie orientierten theologischen Geiste gesellt sich ein 
politisch theoretisierender, der seine rechte Auswirkung in der zeit- 
genössischen Publizistik erfahren hat.'^ Es wird die Gefährdung, 

ja die völlige Zerstörung der Kirche vorhergesagt, wenn sich 
Stelle jenes Collegs von Gottminnenden, Weisen, Rechts- 

^"kundigen und Gerechten ein solches aus GottesFeindeD, Narren 
uud unwissenden Rechtsverdrehern setzen sollte. Ein solches 
Colleg wird als die „Antihierarchia Ecctesiastica mallgnantium' 
und die „Synagoga Satanae** ausgerufen. IWan wird nicht fehl- 
gehen, wenn man damit die Überheblichkeiten eines sich der Herr- 
schaft des Papstes entziehenden, seine Unbotmäßigkeir, ja seine 
PrSpotenz vor dem Papst verfolgenden Collegs getrotfen meint, 
wie es an solchen seit den Tagen Gregors VII. von Zeit zu Zeit 
Dicht gefehlt hat, und wie sie gerade die Feindschaft Friedrichs II. 
egen die Curie lebhaft ermunterte.^ 



' P. 965 col. 1 D- et Scho]2 a.a.O., 60,— " Sägmüller a. s. 0., 
ZtOetpassim. — Md. a. a, O., SlStf-, besonder? 233^ 235fF, — Md. a.a.O., 
ailff. - ^ SaRmuller a. a. 0., 242, — -^ P. 965 col. 1 D col. 2 A. — 
Scholz a. a. C, S, 190. Sägmüller «. a. O-, 234[F. 



118 

An die Cardinalshierarchle 'werden als vierter, den Domt- 
nationes entsprechender Ordo die Patriarchen oder Primaten 
angeschlossen; ihnen folgen auf einer Stufe mit den Principatus 
als fünfte Klasse die Er^bischÖfe: beide ohne nähere Aus- 
führung. Den sechsten, mit den Potestates gleichlaufenden Ordo 
bilden die Bischöfe, deren Gleichstellung mit jener Ordnung der 
kriegerischen Engel, noch besonders gerechtfertigt wird durch 
die ihnen zugewiesene Aufgabe. 

exercitus spiritualis regere legiones, ducere spirituales 

acies, ordinäre atque instruere militiara spiritualem seu 

docere, ^ 
-wozu dann noch außer der eigentlichen Fuhrung und Anleitung 
der geistlichen Heerschar die Lehre und schriftliche Verbreitung 
der geistlichen Kriegskunst, die Aufzeigung der gegnerischen 
Streitkräfte und Machenschaften, sowie die Zurüstung und Ver- 
teilung der geistlichen Waffen gehört, als deren hauptsäch- 
lichste, die eigentliche Webre des Christen, das vom Bischof 
zu spendende Conßrmationssakrament durch das Dogma be- 
zeichnet wird. 

Es ist hier die Vorstellung von der christlichen Ge- 
meinschaft als dem streitbaren Heere Christi in ihrem historisch 
ehrwiirdigsteoj dogmatisch centralen Gliede durchgeführt. In 
dieser Annäherung und Hineindeutung in die himmlisch paraUele 
Ordnung ist zwar der mystische und kultische Kern seines 
Amtes untergegangen j aber im Geiste Wilhelms und seiner Zeit- 
genossen, unter den unaufhörlich heranflutenden häretischen 
Seelen, mußte die Gemeinschaft der Kirche bald als nicht viel 
mehr denn als Streitgenossenschaft für den Glauben, der Bischof 
— wie oft mochte Wilhelm, der Bischof von Paris, es empfunden 
haben! — als ihr Heerführer und die Heiligtümer der Kirche, 
besonders die Sakramente, als ihre beste Wehr und Waffe er- 
scheinen. 

Den Bischöfen folgen als siebenter, den Virtutes ent- 
sprechender, Ordo die Archidiakonen. Während im weltlichen 
Regiment die den Virtutes als Strafengeln einwohnende Eignung 
in den Centuriones als bürgerliche Voltstreckungsgewalt wider- 
schien, nimmt hier der Charakter der siebenten Klasse als 
irdischen Ausdruck: die Richtergewalt selbst an, die den Archi- 
diakonen zustand.^ Man sieht, wie weit und tndecis im Grunde 
der in die Engelsordnung hineingetragene staatsrechtliche Begriff 



' P. 965 col. 2 B. — 
Schröder a, a, 0„ 59S. 



P.965ccil,2A. WerminghQff a. a. O., 79. 



war, daß er in zwei so getrennten irdischen Bea raten gruppen 
sein Paradigm ßnden konnte. Man sieht aber auch, wie wenig 
Wilhelm gegenüber der positiven kirchlichen Ämterfolge der 
himmlischen Ordnung Raum gibt, während er die wellliche, 

' wenn nicht au$»chIieDlicb, so doch hauptsächlich, nach ihren 

I Einflüssen bewegte. 

fArchangeit und Angeli, die achte und neunte Ordnung, er- 
scheinen in den Archipreshytern und Presbytern widergespiegelt. 
Die innere Beziehung der beiden Systeme ist in diesen Ordnungen 
deutlich: Auch die Priester sind, wie die Engeisboten, Künder 
des göttlichen Worts an die Gemeinde.-'- Die Auszeichnung der 
Erzpriester vor den Priestern aber besteht nicht so sehr wie 
^^ hei den himmlischen Ordines in der besonderen Weihe der 
^■dhnen anvertrauten Heilsbotschaften - — alle, Archipresbyter und 
Presbyter haben unuiitcr$chieden das eine und einheitliche 
göttliche Wort zu verkünden — , als vielmehr in der eigentlich 
hierarchischen Überordnung, die ihnen eine Aufsjchts&teüung 
über die Presbyter gab. = Man sieht abermals vor dem unan- 
lastbareo Gefüge der irdischen Kirche das Erfordern der himm- 
lischen Ordnung weichen. Die innere, geistige Höhung eines 
Ordo über den andern zum Ausdruck zu bringen, hätte hier 
die Nachfolge der himmlischen Hierarchie antreiben müssen; 
> der scholastische Geist genügte sich damit, aus Reihenfolge und 
Anklang eine äußerlich scheinbare Übereinstimmung der Ordines 
U zu schaffen. 

^B Immerhin war in der kirchlichen Hierarchie eine durch 

^'vlie Aufgabe der Vermittlung der göttlichen Gnaden bestimmte 
innere Gliederung vorhanden, welche, indem sie einer späten 
Beeinflussung durch die himmlische Ordnung widerstand, von 
vornhei'ein so viel von ihrem Geist enthielt, daO sich in einer 
größeren Anzahl ihrer Klassen ohne Zwang das Abbild der 
himmlischen Ordnung auffinden ließ. 



I 



'Nicht den geringsten Teil der Ausführungen des IVleisters 
nimmt die an die irdisch-weltliche Klassenfolge geknüpfte Unter- 
suchung über die Amter der einzelnen Klassen und deren Ver- 
"valtung als ein Abbild der den Engeln übertragenen Ämter und 
ihrer Verwaltung in Anspruch. Einige der wesentlicheren Ge- 
sichtspunkte dieser Untersuchung, die 2um Verständnis der 



^ P. 965 col. 2A. — » WerminghofF a.a.O., 78. 



120 

Klassengliederung erforderlich waren, sind schon ohen ange- 
deutet worden. Gleichwohl verlohnte es sich, eine erschöpfende 
Behandlung des Problems der weltlichen Verwaltung, wie es 
Wilhelm in Anlehnung an die sozial ausgedeutete Himmels- 
hierarchie, gleichmäßig beeinflußt von moralisch-dogmatischen 
und den Theoremen platonischer und aristotelischer Observanz, 
auffaßte, zu versuchen. Hier aber verbietet ebensosehr die 
innere Bestimmung als die äußere Begrenzung der Schrift ein 
solches Unternehmen. 



CHINA UND DAS 
ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT.' 

Von FRIEDRICH ANDREAE. 



I. 

Seit den Tagen, da das Buch des venezianischen Edlen 
Marco Polo mit der Beschreibung seiner an Wundern so 
reichen Reise durch das östliche Asien ( 1 271 — 1205) die 
Gemüter des gesamten kultivierten Europa in das äuQerste 
Erstaunen, in die äußerste Erregung versetzte, hat der Strom, 

[der immer neue, immer deutlichere Kunde von den Küsten des 
Stillen Meeres zu den Völkern im fernen Westen herühertrug, 
der, immer wachsend, immer mächtiger anschwellend, das euro- 
päische Leben überflutete mit den begeisterten Schilderungen 
entzückter Reisender, mit den Fdbelhaften Nachrichten von dem 
uralten Staatswesen der großen Könige voti Sina, das inmitten 

[seiner ererbten Bräuche, seiner sorg^ltig festgelegten, peinlich 
genau beobachteten Lebens- und Sittengesetze greis und starr 
geworden war, bis auf unsere Zeit nicht mehr gestockt.^ 

I Marco Polos Werk von den Wundern der Welt, deHen 
Lektüre den Umschau haltenden Leser ohne weiteres zu den 
Schriften eines grÖQeren Vorgängers, zu den mit den Namen 
der neun Musen geschmückten Geschichten des Herodot, führen 
wird, hat auch darin des Halikarnassiers Geachick geteilt, daß 
niemand ihm glauben wollte, ja, daß man es rund hundert Jahre 
später über der Mandevilleschen FäUchung,'^ die bereits im fUnf- 



■de: 



'■ Diese Arbeit gebt in mehr denn einer ße/lehunK Mit Ant tnunntn 
rück, die icb von meinem Pr^u^dc frit^ Wolter» tm^Mfifr riini, iriwj« 
den Herren Hugo Bieber, Kurt Oroba, VrUt Kamm'-iri, i ml i-rtn^icn 
und Richard Koebner, die mich bei der Sammliin); licn /yiaierinlFi nnlsf 
stützten, sagt ich bier meineo Dank. ~ ■ V|] Cordler: fllhllolhBCt 
Stdica. Dictionnsire blblic^aplilque des nitvraieii chlnnh. 2 vnli. av, 
SUppl^m Paris 1879—1805. - > BnvcniChen: Johann vi/n Mind«v|||f 
nach den Quellen seiner Rcj«ch«!>c:)irclhiififf. /«Itachr d^ QtWttKh, fDr 
Erdkunde zu Berlia IS8S, XXIII, .10.% JHI. 




122 

zehnten Jahrhundert in acht europäischen Sprachen verbreitet 
war, fast vergessen hatte. ^ 

Indessen fanden die Portugiesen^ die seit der Entdeckung 
des Seeweges nach Ostindien (I49S) zur Gründung ihrer Kolonien 
in Ostasien gelangt waren, viele von den Angaben des Venezianers 
bestätigt, und Albuquerque, der zweite der glorreichen Vize- 
Jtönige des neugegriindeten Kolonialreiches, bezog sich in seinen 
Berichten an den portugiesischen Hof mehrfach auf Marco Polos 
Buch.* Infolgedessen ward auf König Enianuels (14fl5 — lS2t) 
Befehl ein portugiesisches Geschwader nach China entsandt, 
das 1517 Malakka verlieO und einen für den Hof von Peking 
bestimmten Gesandten an Bord führte.* 

Diese Gesandtschaft des Galeotto Pereira^ eroITnet die 
lange Reihe von chinesischen Gesandtschaftsreisen und Gesandt- 
schaftsberichten der Europäer in der neueren Zeit,^ die nament- 
lich seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts immer 
bäuliger werden und neben den katholischen Missionsberichten 
die wesentlichsten Quellen für die Kenntnisse von China im 
achtzehnten Jahrhundert bilden." 



■ Ebd. 1&4, Anm. I. — Cordier Bibt. Sin. 11^ 943ff. — "■ Raynat; 
Hisfoire philosophique et policique des Etablissements et du commerce des 
Europ6ens dans les deux Indes. Paris 1781, 1, I4l. — '^ Schäfer, Ge- 
schichte von Portugal lll, Hamburg 1S50, 296ff. - '' Cordier Eibl. Sin. 
II, 971» bei Schäfer III, 299 wird er Thom6 Pires, bei de Guignes: 
Voyages ä Peking, Manilla er Tile de France (HS*— ISOO)) Paris 1807, 
I]I, 154, Thomas Pereira genannt. — * Über die Kunde von China 
im Altertum urd vor Marco Polo vgl. Cordier Bibl. Sin. II, 676ff.; 
hier kommen vor allem arabische Reiseberichte in Befrachte denen 
wir wie für Osteuropa ^vg]. Theodor Schiemann; Rußland, Polen und 
Livland bis ins siebzehnte Jahrhundert, Berlin 1S86, I, 33ff.. 3S3ffO 
so auch Fijr China die frühesten ausführlichen Nachrichten verdanken. Sie 
wurden 1718 von Abbe Renaudot in Paris herausgegeben. — "■ Bei 
de Guignes, einem der ersten Begründer der mit zureichenderen 
Mitteln arbeitenden neuen Wissenschaft von der Erforschung Chinas 
(vgl. Cordier: Fragments d'une histoire des etudes chinoises au 
XVIlIi&me siäcle im Cent6nairede l'Scole des Jangues orientalcs Vivantes, 
Paris [895, 224), landet sich eine allerdings nicht zuverlässige und un- 
vollständige Zusammenstellung der Gesandtschaftsreisen (Voyages 111, 
151 ff.) s. a. ähnlich: John Barrows Reisen durch China (1793—1794), 
deutsch V. Hiittner, in der Bibliothek der neuesten und interessantesten 
Reisebeschreibungen XXlll, XXIV, Wien 1805, XXIII, 5ff.; zur Ergänzung 
vgl. Cordier Bibl. Sin. passim. Die wichtigsten der Gesandtschafts- 
reisen im 17, Jahrhundert sind die drei holIämJischenr 1. Die Gesandt- 
schaft der ostindischen Gesellschaft in den vereinigten Niederländern 
an den lanarischen Chan und nunmehr auch sinischen Kaiser, ver- 
richtet durch die Herren Peier de Goiern und Jacob Kaisern usw. 
<1655— 1657> beschrieben durch Herrn Jakgb Neuhof. Amsterdam 



123 



Als Nebenbuhler der Portugiesen, die sich {seit 1557) in 
M^cao festgesetzt hatten/ traten bald darauF die Holländer auf: 
in Indien schon seit dem letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahr- 
hunderts,' in China vor allem, nachdem sie 1662 Formosa, den 
wichtigsten Stützpunkt ihres Handels mit Japan, den sie fast 
fünfzig Jahre in Besitz gehabt, endgültig verloren hatten." Mit 
ihnen oder bald nach ihnen erschienen spanische^ französische, 
britische, schwedische, dänische und endlich auch preul3ische 
Schiffe von der Emdener Kompagnie in den asiatischen Gewässern. 

Es kann keineswegs die Absicht sein, an dieser Stelle auf 
die Geschichte de$ überseeischen Handels der Europäer mit 
China einzugehen,^ ebenso wie der Handel mit Rußland, dessen 



1966, 1660^. 2. Gedenkwürdige Verrichtung d<r niederländischen Ge- 
sellschaft in das Kaiserreich Taising oder Sina durch i]ire zweite Ge- 
sandtschaft ausgeführt durch Johan v»n Kampen und KQnstantin Nobel 
<ie62— 1663), Amsterdam 1676, 3. Die dritte Gesandtschaft an den 
Kaiser von Sina oder Tatsing vorrichtet auf Befehl (ies hohen indischen 
Eaths von Batavia (1666—1668) durch den edlen Herrn Peter van Hoorn 
ebd. Im 18, Jahrhundert; 1. vgn Holländern; Van Braara Houkgeest: 
"Voyage de l'ambassadeur de la Compagnie des Indes orientales vers 
l'empereHF de la Chine <1794— 1VÖ5} pubJie par L. Moreau et de St. Möry, 
2 vols., Philadelphia (1797—1798), deutsche Übersetzung, Leipzig 1798, 
2 Bde. 2. Von Ei^gländern: Anderson: Reise der britischen Gesandlschaft 
nach China (1792—1794), aus dem Englischen v. Sprenget. Halle I7Q6. 
Siountoüi Reise der britiscben Gesandtschaft unter Lord Macartney in 
Sprengel; Auswahl der besten ausländischen geographischen staiistischeR 
Nachrichten usw. Halle 1789 XI. Hüttner: Nachricht von der britiscben 
Gesandtschaftsreise, Berlin 1797 und Barrow: s.o. 3. Von Russen: 
Adam Brands neuverniehrte Beschreibung seiner großen chinesischen 
Reise 1692, Lübeck 1734' (mit C. Issbrants Edes zum Teil identisch). 
Dreiiährige Reise nach China von Moskau ab zu Lande usw., gechan 
durch den moskowitischen Abgesandten. Herrn C. Issbrants Ides, aus 
dem Holländischen. Frankfurts. M. 1707. Unverzagt: Die Gesandtschaft 
Ihrer kaiserlichen Majestät von Groß-Ruliland an den chinesischen Kaiser 
(1719). Lübeck 1727, Vgl. a. Beschreibung des solennen Einzugs und 
Audienz des m&skowitischen Gesandten bey dem Könige von China 1693. 
Lünig: Theairum cereinoniale potiticum. Leipzig 1710, 1,769. Journal de 
fa r^sidence du Sieur Lange, agent de Sa maiest^ imperiale de la Grande 
Russie fi la cour de la Chine (1721—1732), Leyden 1726. Pallas: 
Tagebuch zwoer Reisen, welche in den Jahren 1727, 1728 und 1736 . .. 
nach Pecking gethan wurden, von Lorenz Lange, ehemaligem russisch 
kaiserlichen Kanzleyrath. Leipzig 1781. Bell: Voyages depuisS:. Petersbourg 
en Russte dans diverses contrees de l'Asie (nach Peking 1796, Bd. I und 11). 
— ' KiJian; Nachrichten von Sina, in Fabris Geograph. Magazin. Halle 1786, 
II, 4S2. — ■^ Wesselburger; Geschichte der Niederlande, Gotha 1886, II, 
793fF. — ^van Kampen: Geschichte der Niederlande. Hamburg 1833, 11, 
167, 168. — * Es sei auf die ziemlich eingehende Behandlung bei Raynal, 
Bd. I und Bd. 111 verwiesen, für England im speziellen auf die kleine 




124 

Waren vom Norden her auf dem Landwege über Kjachta direkt 
nach Peking geführt wurden, nur erwähnungsweise gestreift 
werden kann»^ zumal da auch die Schilderungen der Kaufleute, 
die selten üher Kanton hinauszukommen vermochten, im Ver- 
gleich zu den Missionsberichten nur geringes Interesse haben. 

Mit deu Portugiesen war auch das Christentum wieder von 
neuem in China einbezogen. Dominikaner und Franziskaner, 
vom Eifer der gegenreformato fischen Strömung beseelt, hatten^ die 
Spanier nach Amerika, die Portugiesen nach Indien begleitet. Auf 
ihren Berichten Fußt zum großen Teil die Geschichte Chinas^ aus 
der Feder des spanischen Augustiners Mendoza, der um 1580 als 
Gesandter Philipps II. in China weilte und um 1620 in hohem 
Ansehen als Bischof von Popayan im spanischen Amerika verstarb.* 

Wie an Pereiras Gesandtschaft sich die lange Reihe der welt- 
lichen Gesandtschaftsberichte anschloß, so an Mendozas Buch die 
noch stattlichere der Missiansberichte über China. Bald nach seinem 
Erscheinen in Fast allen europäischen Sprachen gedruckt, bildete 
es für viele der späteren Beschreibungen und Relationen von 
China den Ausgangspunkt. 

Allein die wesentlichsten Berichte über China, denen 
auch das achtzehnte Jahrhundert das meiste für seine Kenntnis 
verdankt," wurden erst von den Anhängern des Ignatius 
von Loyola, die unmittelbar nach der Gründung des neuen 
Ordens von der Gesellschaft Jesu zu umfassender Missions- 
tätigkeit in die Gebiete beider Indien entsandt wurden, geliefert. 
Franz Xavier (1506 — 1562), einer der nächsten Freunde des 
Ignatius, der Apostel Indiens und Japans," vermochte China nicht 



Studie bei Sprengel s. o. III. Schnelles Steigen des chinesischen 
Handels der englisch-o&tindischen Compagnie s. dem Jahr 1TS4, für 
Frankreich die Konsuiarberichte der Zeil bei CordEer: La France en 
Chine au ISidme siecle. Paris 1885. — ' S. außer Raynal ül, 1291?., 
Lange s. o. passim, Büsching: Magazin, Hamburg 1760, III, 313, 37QffL, 
Gatterer: Abhandlung von dem Handel&rang der Russen, Mannheim 
1789. — ' Kalkar; Geschichte der römisch-katholischen Mission, 
deutsche Ausgabe. Erlangen 186*7, 21, 24. — ' Historia . . . del gran 
reyno de la China. En Roma 158&. Ausführlicher Titel bei Cordier 
Bibl. Sin.t ') 3; dtsche. Übersctzg. von Kellner. Frankfurt a. M. 1589. 
titel ebd. u. ff. — ' Biographie universelle XXVll, 624 ff. — '' „Selbst 
Voltaire, der wenig Achtung für die Geistlichen hatte, gesteht gernj 
daß man ihre Erzählungen für Nachrichten der verständigsten 
Reisenden, welche je das Gebiet der Wissenschaften und der Welt- 
weisheit erweitert und verschönt haben, ansehen müsse," Barrow 
XXllI, 29, 30; s. fl. Hüttner 158, Anm, Rousseau; „La Chine paroit avoir 
^t€ bien observ6e par les J^sultes" in den Noten zum Discours sur l'origine 
de l'inegaiiie etc. Ausg. von 1795. Basel 1, 173. — ^ Kaikar 62, 22, 



125 

mehr zu erreichen. Er srarb „im Angesichte des Landes» nach 
welchem er so sehnsüchtig ausgeschaut*.^ Erst Matthäus Ricci 
(1522 — 1610)^ einem italienischen Jesuiten aus der Mark Ancona, 
glüclite esj den chinesischen Boden zu betreten. 

An ihn im besonderen, der trotz mancher Verfolgung« trotz 
mancher Fährnis eine gesicherte Gemeinde zu gründen vermochte, 
gliedert sich die groQe Zahl der Verfasser der Lettres ^dißantes, 

»der Berichte über die jesuitische Missionstätigkeit, an,^ eine Elite 
Wissenschaftlich und zum Teil auch künstlerisch hochgebildeter 
Männer, die nicht müde geworden sind, immer aufs neue China, 
ihr zweites Vaterland — denn nur in wetiigen Fällen haben sie 
den heimischen Boden wieder betreten — in ihren begeisterten 
Schilderungen zu verherrlichen. Unter ihnen findet man den 
Namen des P. Le Comie," eines nächst dem P. Du Halde wohl 

Bim meisten unter den Chi na- Au toritäten zitierten Schriftstellers, 
unter ihnen aber auch eine ganze Reihe anderer, wesentlicherer, 
wenn auch weniger bekannter Namen.* 

■ Allen diesen jesuitischen Berichten aber ist auljer der 
groDen Liebe für ihren Stoff eine bis in das zahlenmäQig- 
statistische Einzelmaterial gehende Kenntnis eigen, die sich die 
späteren Reisebeschreiber fast immer zunutze gemacht und mehr 



' • Kalkar 23. — » Über die Lettres ^diflantes vgl. Cordier Bibl. 
Sin. 1, 414. Der erste Herausgeber der L. £. war der P. Legobien. Ihm Folgte 
als Redakteur der Recueils No. IX— XXV! der P. Du Halde (1674-1743). 
Die Frucht dieser redKktionellen Tätigkeit bildet das große Werk: Dä- 
scription gi;Dgraphique, historlque, chronaloglque, politique et physique de 
Tempire de La Chine. Paris 1735. Voltaire äußert sich in den dem 
SiScle de Louis XJV. angefügceti Bemerkungen über die „^crivalEis" dieses 
Zeitalters (e. u. Halde) folgendermaßen^ ,J£suite, quoiqu'il ne soii point 
EU le Chitiois, a donnä sur les m^moires de ses confr&res la plus ample 
et la meilleure däscription de l'empire de la Chine qu'on ait dans le 
monde." Es sei hier auch nocb die folgende interessante Mitteilung 
Voltaires angeführt: „L'insatiable curLositS que nous dvons de connattre 
ä Fond, la religion, les lois^ les msurs des Cbinois n'est point encore 
saiisfaite: un bourgtnesrre de Middelbourg nomm6 Hudde, homme träs 
riebe, gaiH par sa seule curiosite, aLla ä la Chine vers l'aa 1700. 
11 eraplDj'a une grande partie de son bien ä s'insrruire de tout. 11 apprit 
si parfaiiement la langue, qu'on !e prenait pour un Cbinois. Heureusemenl 
pöur lui la forme de son visage ne le trahissait pas. Enfin it sut par- 
venir au grade de Mandarin; 11 parcourut loutes les provinces en cette 
qualitS et revint ensutte en Europe avec un recueil de trente annfes 
observations ; elles ont ei6 perdues dans un naufrage, c'cst peut-Stre la 

Klus grande perte qu^ait faite la röpublique des lettres, — * Louis 
,e Comte ^f 1729), Nouveaux Memoires sur l'Efat present de ta Chine. 
Paris 1696. Vgl. Cordier Bibl. Sin. I, 24ff. — * Cordier Fragments 




186 



oder weniger gera^je nach dieser Richtung hin die Missions- 
berichie der Väter ausgeschrieben haben.' 

Und in der Tat waren diese jesuitischen Missionare — die 
übrigen Orden traten hinter ihnen zunächst völlig zurüclc, 
wurden auch von den Jesuiten wohl geflissentlich beiseite ge- 
drängt — die einzigen, die sich wirklich genaue Kunde und 
zuverlässige Nachricht von China verschaffen konnten. Ich ent- 
nehme einer dafür sehr bezeichnenden Notiz aus dem „Neu- 
polierten Geschichts-, Kunst- und Sittenspiegel" des Erasmus 
Franciscus,' daß die Chinesen nur drei Arten von Fremden in 
ihrem Reich <d, h, außerhalb der für die Fremden geöffneten 
Häfen)" duldeten: 1. die Gesandten der tributären Nachbar- 
länder; Z. die Gesandten derjenigen Staaten, die ausdrücklich 
dem chinesischen Kaiser Verehrung bezeugen wollem;'* 3. Per- 
sonen, die durch die Gerüchte von der Vortrefflichkeit Chinas 
und den Tugenden der Chinesen verlockt, sich zu dauernder 
Niederlassung innerhaEb der chinesischen Grenzen bereit erklärt 
haben. Zu dieser letzten Kategorie 'muQ man nun die Jesuiten 
rechnen, die sich sofort mit der ganzen Geschmeidigkeit^ die 
ihrem Orden eignet, den in China heimischen Verhältnissen 
anzupassen wußten. IVlathäus Ricci war, bald als Bonze, bald 
als gelehrler Mandarin verkleidet, durch das Land gezogen, um 
bis zur Hauptstadt selbst vordringen 2u können.'' Mit un- 
glaublicher Schnelligkeit hatten einzelne der Väter die Landes- 
sprache erlernt,^ so daß sie vielfach am Pekinger Hof als Dol- 
metscher und Unterhändler bei den Gesandtschaftsempfängen Ver- 
wendung fanden und daher die Gelegenheit erhielten, unmittelbar 
auf die auswärtige Politik Chinas einen nicht geringen Einfluß 
auszuüben.^ Mathematisch und astronomisch gebildete Ordens- 



^ Die Richtigkeit ihrer Angaben, die Bevölkerung betreffend, beton! 
noch 1797 Hflltner^derals Hofmeister des jungen Baronet Stoutiton mit Lord 
Macartney 1793— 17M in Cbina war. S, u. At>si:tin, HL — ^ Nürnberg 1670^ 
230 vgl. auch Gedenkwürdige Verrichtung 1, — ^ Vgl. Raynal III, 170ff. 
— * Alle Gesandtschaften der Europäer, die zum Abschluß von Handels' 
vertragen nach China gingen, konnten nur unter Vorgabe dieses Ver- 
langens an den kaiserlichen Hof kommen. Vgl. die einzelnen Gesandt- 
schaftsherichte. — '" Kaikar 25, s. a. 27r ^Dominikaner, Franziskaner, 
Augustiner und andere Ordensbrüder verleugnen auch im Äußeren 
nicht ihren Ordenscharakter, dagegen werden die Jeauilen in den Heiden- 
lÄndern auf eine höchst kluge Art Gelehrte und Weise gleich den 
Eingeborenen. In Indien waren sie Braminen, in China Bonzen oder 
Mandarinen, in Afrika Marahut-* — 'So der P. Gerbillon hei Cordier; 
Fragments, 225. — '•' Vgl, die einzelnen Gesandischaftsberichte, s. a.Jusii: 
Vergleichung der europäischen mit den asiatischen und andern, 
vermeintlich barbarischen Regierungen. Leipzig 1762, Vorrede. 



127 

leuie hatte man mit Vorliebe für den Missionsdienst in China 
ausgewählr, weil die Chinesen, wie man mit groflem Scharfsinn 
sogleich erkannt hatte, eben für diese Wissenschaften besonderes 
Enteresse zeigten. Gerade die großen Kenntnisse der Jesuiten 
auf diesen naturwissenschafilichen Gebieten waren es, die ihnen 
zur Gewinnung der Seelen aus den höheren wie niedereii 
Schichten verhalfen; denn die Souveränität, mit der die Väter 
die chinesischen Sterndeuter und Wahrsager durch ihre exakten 
Berechnungen beschämten, imponierten dem Volke wie den 
Gebildelen in gleicher Weise S verschafften ihnen sogar die 
Gunst der Kaiser. ^ Da sie ferner die tief im Wesen der 
Chinesen beruhende fast göttliche Verehrung der Ahnen" 
und die durch alten Brauch geheiligten Opfer an die Manen 
des Konfucius mit der weitgehendsten Toleranz in den Ge- 
meinden bestehen lieöen/ gelangten sie in immer nähere und 
intimere Beziehungen zu den Neubekehrten und damit zu einer 
immer gründlicheren und tieferen Kenntnis von China, während 
aus dem Munde der übrigen Europäer und vor allen der Ge- 
sandtschaftsreisenden immer wieder die Klage ertönt, daß „es 
schier nicht auszusprechen, mit was großem Argwohn und 
Mißtrauen" die Gesandten in Verwahrung gehalten werden.* 
Ein noch weiterer Gegensatz klafft zwischen den Berichten der 
europäischen Kaufleute und denen der europäischen Missionare. 
„Es ist Wahr," sagt der deutsche Staatsrechtslehrer Johann 
Heinrich Gottlob von Justi, „es fehlt sehr viel, daß die euro- 
päischen, nach Sina handelnden Kaufleute eine ebenso schöne 



^ Kfttkar 33, 33, — >* ebd. 42PP, — ^ Coucheron-Aamonr: Die 
Chinesen und die christliche Religion, Leipzig 1904, 3SW. schildert, wie 
auch heute noch der von den Missionaren „bis aufs Messer geführte Krieg 
gegen diese liebste, älteste und heiligste Institution des Ahnenkuttus" die 
Haupturssche der Verachtung des Chrislentums in China sei, — 
■* Kaikar 27. Hieran knüpften sich vor allen Dingen die Beschwerden 
der Dominikaner und anderer Orden über die Jesuiten heim Papste in 
Rom und die katholischen MissiotisstreiCigkeiten, die ganz ähnlich 
wie in Amerika (J^^uitenstaat Paraguay) erst mit der Auflösung des 
Jesuitenordens (1773) endeten. Vgl. K al ka r 27 (f. Reflexiones supra 
modernam causae Sinensis constitutioneni. 1709 ^Sinensia 1709—25.) 
3^6 und des Dominikaners Mlnorelli Schrift: Observationes in Hb. XIX 
T. II P. V historiae socieiaiis Jesu a P. Josepho Juvenico editae 1714. Vgl. 
Großes Universales Lexikon XXVII. Leipzig, Halle 1743, Sp. 16226, 
— " Gedenkwürdige Verrichtung s. o., vgl. auch die anderen Gesandl- 
EchafisberichTe, 2. B. Anderson 62; «Hier wie überall äußerte sich die 
argwöhnische Politik der chinesischen Regierung, indem jedermann auf 
das genaueste bewacht und keinem erlaubt wurde, sich außer dem Bezirk 
des Schlosses sehen zu lassen." 




128 



Abschilderung von dem Regieruagszustande dieses Reiches ge- 
macht halten als Du Halde und andere Jesuiten. Unsere Kauf- 
mannsleute sind denen sinesiscben Mandannen gar nicht vor- 
teilhaftig."' Er führt diese Differenz wohl mit Recht einmal 
auf das anmaßende und brutale Auftreten der europäischen 
Kaufleute in Kanton^ und dann auf ihr mangelhaftes Wissen 
von diesem Reiche, das sie in ihrer Beschränkung auf die 
wenigen den Europäern zugestandenen Plätze nicht verbessern 
konnten/ zurück. Die chinesische Regierung hatte die fremden 
Kaufleute^ ebenso wie die Hannisten, d. h. die mit Huropa 
handelnden chinesischen Untertanen* mit der äußersten Ver- 
achtungt ja Strenge behandelt/^ daraus erklärt Justi ihre ab- 
sprechenden Urteile über China. Dazu kam, daß die pro- 
testantischen Holländer» die seit etwa 1650 als die Herren des 
ostasiatischen Handels angesehen werden müssen, glaubten» die 
Jesuiten hätten am Hofe des Kaisers gegen sie intriguiert und 
wären allein schuld daran, «daO ihnen ihr wiederholtes Gesuch 
eines freien und uneingeschränkten Handels in Sina abgeschlagen 
wurde." " 

Indessen übte diese Verschiedenheit der Berichte eine 
starke Rückwirkung auf die Beurteilung Chinas in Europa aus, 
Denn während man zuerst den Schilderungen der Väter ohne 
weiteres geglaubt hatte, äuDerten sich besonders seit etwa 175D 
immer mehr, immer neue skeptische Bedenken gegen das ge- 
priesene chinesische Staatswesen, immer häußger traten neben 
die .Panegyriker" Chinas seine „dötracteurs".^ So Hnden wir, 
um ein Beispiel anzuführen, ganz gegensätzliche Schilderungen 



' Ju&ti s. o. Vorrede. — " S. a. Rayna! 111, 170. — ' KQttners 
Herausgeber wendet sich (15S, Anm.) gegen Socinerai (Voyages aux Indes 
Orientales et ä la Chine [1774—1781]. Paris 1782.) Vgl. Cordier Bibl, Sin. 
II, 938ff. „Dieser Mann kam nie weiter als nach Kanton; und doch wagt 
er es, le Comte und andere Missionare, die den größten Teil ihres Lebens 
in China angebracht hahen, bitter zu tadeln. Gesetzlj er hätte ebenso 
rechte als er unrecht bat, so würde dies doch nichts gegen die Nachrlcbten 
der MissLenare beweisen. Wer nach China geht, wcrd sie gewifl im ganzen 
treu und wahr finden. — Wie käein ist der Mensch, der anerkanntes Ver- 
dienst tadelt, weil es einige Flecken hat." — * de Guignes II, 144. — 
'■ Vgl. a. Lange: Tagebuch <in Beils Reisen II, 25S, 276, 293), zitiert 
bei A. Smith: Natur und Ursachen des Volkswohlstandes (1775) deuistb 
V. LÖwentlial. Berlin 1879 U^ 193a, 194. Wackerbarth: Der Briten 
erste Heerfahrt nach China. Leipzig I8ä0, 9ff. — * Justi ebd. In der 
Faßmannschen Kompilation; Der auf Order und Kosten seines Kaisers 
reisende Chineser. Leipzig 1721, 449 heißt es dagegen von einem Je- 
suiten ausdrücklich : ^tiaü er den Holländern vor seine Person deo 
freien Handel nach China herzlicb gern gönnte." ~ ' Raynal I, 227,228. 



129 



K 



des zeitgeaösshclien Kaisers Kien-Iong (1735 — 1799),^ an den 
Voltaire 1771 die schmeichelhafte Epistel: Au Roi de la Chine, 
sur son recueil des vers qu'il a fsit imprimer gerichtet hatte.' 
Und wenn die Männer des siebzehnten und der ersten 
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts glaubten, die Chinesen 
nur mit den höchsten der idealen Vorbilder» mit denen aus der 
Antike vergleichen zu können, wenn Konfuzius neben Sokrales 
und Plato einen Ehrenplatz Fand,^ so sprach man nach 1750 
immer vorsichtiger, kühler und zaghafter von dem Lande, das 
so verschiedenartig beurteilt wurde/ dessen Staatsverfassung 
bald zu sehr gepriesen, bald zu tief herabgesetzt sei. ^ 

Dieser Umschwung in der Betrachtung Chiofls durch die 
"Europäer fällt mit der großen geistigen Umwälzung in Frankreich 
zusammen, die ad den Namen Rousseau geknüpft ist. Folgt man 
der Terminologie Kurt Breysigs, die nach 1750 ein Zeitalter des 
Rousseaurealismus Festlegt/ so gliedert sich von selbst das Auf- 
liören der Chinomanie, jener Begeisterung des stilisierenden 
Sokoko für das im hohen Maiie stilisierte chinesische Leben, 
«Is eine notwendige Begleiterscheinung dieser großen Umwälzung 
auf allen Gebieten wirtschaftlichen, politischen und geistigen 
Lebens an. 

Volnays schmähende Ausfälle gegen China (17S1): .Das 
£aaze Asien liegt in dicker Finsternis begraben. Die Chinesen, 
dtirch übermütigen Despotismus regiert, durch ein unveränder- 



^ Vgl. Reise des Herrn von M" nach China <Teutscher Merkur, 
1775) I, 255 und v. Breitentauch; Lebensgeschichte des verstorbenen 
Kaisers Kien-long usw. Leipzig 1788, s, a. Politisches Journal 17S7, I. 
— ^ Voltaire: (Euvres par Beuchot Paris 1H40, XIII, 377ff. zitien bei 
Alercier: L'an 2440. Paris 1772, 367 „L'empereur-poete auquel Voltaire 
adressa une iolie epllre," — ^ Vgl. das Titelblatt von James Harring- 
ton: Oceana and other Works London 1747. Dideroi nennt Gonfucius den 
chinesischen Sokrates. CEuvpes Paris 1875fr. XHl, 450, s. a. Thomasius; 
Oedanken über . . . neue Bücher 16S9, 600; Mercier 3ßS oder Voltaire 
an Helvetius ((Euvres 1, 263 Ausgabe 17S4 Brief Nr. 32: Je vous salue 
eo Piaton en Confucius etc. oder Helveiius: Pourquoi le nom de 
Oonfucius est plus connu, plus respect^ en Europe que eelui d'aucun 
des etnpereurs de la Chine et pourquoi l'on che tes noms d'Korace 
et de Vlrgile ä cötä de celui d'Auguste. £bd. II, 147, 14S „Les Xenophons, 
les Scipions, les Confucius, les C^sars, les Hannibals, les Lycncgus*^ 
ebenda 111, ^38. Dagegen Dideroi in der ünterbaltung über die Chi. 
nesen im Haag: „Homer ist ein Tropf, Plinius ein Erznarr, die Chinesen 
die ehrenwertesten Leute." XIX, tll. — ' Raynai 1, 176, — ^Sprengel 
in der Vorrede zu Anderson, 1. — " s. Die letzte Wiedergeburt der 
./Antike, Neue deuEsche Itundscbau (1902) 5Ödff, — In der Terminologie 
der bildenden Kunst ist diese Periode ungenauer^ durch den Übergang 
V-om Louis XV. zum Louis XVL bzw. ZopFstii ausgedrückte 



130 

liches Gesetzbuch von Gestikulationen, durch den Grundfehler 
einer schlecht eingerichteten Sprache in Fesseln gelegt, bieten 
in ihrer verunglückten Verfeinerung nur ein maschinenmäßiges 
Volk dar," ' zeigen deurlicb das Ende dieser chio abegeisterten 
Bewegung in Europa an, die ähnlich, wie man in der historischen 
Vergangenheit die antiken Staaten als Vorbilder vollkommener 
und glucklicher Verfassüngs zustände angesehen hatte,- in der 
Gegenwart das chinesische Reich als eine Erfüllung utoplsiischer 
Träume begrüßen zu können meinte. 

Das Interesse an China bekommt von nun an unter 
de Guignes Ägide einen anderen^ objektiveren und wissenschaft- 
licheren Charakter. Gleichzeitig wendet man sich im Zeichen 
des wieder aufblühenden Klassizismus, und dafür sind „die 
Ruinen** Volnays ebenfalls charakteristisch,^ einem neuen Traum- 
lande der Ferne zu: Ägypten.* Wenige Jahre darauf empfängt der 
junge Bonaparte unter den Pyramiden die nachdrücklichsten 
Anregungen zur Ausbildung eines ihm gemäßen kaiserlichen 
Stiles, und noch auf Jahrzehnte hinaus (bis ca. 1848) beherrscht 
Ägypten^ wenigstens in der weiteren Ausdehnung auf Nord- 
afrika — es seien hier nur die Namen de Lacroix und Lamartine 
genannt — die Sehnsucht der französischen Romantik. 



Man pflegt eine ganze Reihe wichtiger Neuerungen in der 
zweiten Hälfte des Mittelalters auf den Einfluß der Kreuzzüge 
zurückzuführen. Besondere stilistische Eigentümlichkeiten der 
Gotik, namentlich in der Zierkunst, hat man durch diesen 
Einfluß des Morgenlandes zu erklären gesucht. Und ähnlich 
hat man diesen Einfluß auch auf den übrigen Gebieten von 
Kunst und Lehen wiederzubnden gemeint. Sicherlich mit Recht. 



' Die Ruinen. Aus dem Französischen des Herrn v. Voloay, Berlin 
1792, 102. — * Egger: L'Helienisme en France, Paris 1869 II, 275(T'. — 
^ Voluay, passim vgl. vor allem das in den Anmerkungen verwendete 
JV^aterisl. — * »Ini dritten Viertel des verflossenen Jahrhunderts war in unserer 
Gartenkunst der chinesische Geschmack der herrscbendsle und belebteste. 
Er muilte die Oewalt der Mode anerkennen und dem englischen Geschmack 
Platz machen. JetJt ist in England der ägyptische geschätzt, und ist es 
nicht vorausfusehen, daß durch di« Gesandtschaft, welche der weise 
Alexander \etiX nach Chira geschickt hat, und welche voti braven Ge- 
lehnen und Künstlern tiegleitet ist, der Gescbmftck der Chinesen im 
Norden der herrschende werden dürfte." Grohmann: Ideenmagßzin für 
Liebhaber von Gänen, englischen Anlagen usw, Leipzig 1799—1802. 
Heft 40. Tflfel 4. 



Vi 



131 

Mit gleichem Rechte sber hat man analog dazu, von den Tat- 
sachen der großen überseeischen Entdeckungen ausgehend, äie 
weitesien Einwirkungen der neu gefundenen Länder auf Europa 
und die Europäer konstatiert. 

Unter ihnen nimrtit, daran ist nicht zu zweifeln, China eine 
Ihervo Fragende^ vielleicht die hervorragendste Stelle ein. Es muH 
daher als wesentlich und wichtig die Frage aufgeworfen werden, 
wodurch und wie weit der eur^ipäische Boden für den EinftuB 
ieses von seinen heimischen Begriffen so sehr abweichenden 
Landes, dem äicb die ersten Geister des achtzehnten Jahrhunderts 
so schrankenlos hingegeben haben, bereitet war. Die Geschicht- 
Bchreiber der bildenden Kunst im achtzehnten Jahrhundert haben 
gewöhnlich als das Für die Wandlung vom Barock zum Rokoko 
wesentliche Ereignis den Tod Ludwigs XlV. angesehen.^ Sie haben 
ausgeführt, wie das Scheiden jenes Gewaltigen von seiner trotz 
der allmählich sich regenden Opposition absoluten Führerschaft 
über Frankreich dieses Land aus der unerträglichen Spannung, 
in der er es eigentlich bis zu seinem letzten Atemzuge gehalten 
hatte, löste. Sie haben in den Zügel losigkeiten des Regent- 
schaftszeit alters die Losung dieser Spannung erblicken wollen. 

Indessen handelt es sich nicht so sehr um dieses einzelne, 
'bedeutsame, die Entwicklung sicherlich beschleunigende Ereignis, 
als vielmehr um einen Generationsunterschied, ein Weichen- 
müssen des alt und siech Gewordenen vor den überall und 
■nicht nur in Frankreich auftauchenden Forderungen einer jungen, 
mit ganz neuen, ganz anders gearteten Idealen gesättigten Zeit.' 

■ In diesem Sinne mag dem Historiker der Tod Ludwigs XIV. 

«her ein Symbol als ein Ereignis bedeuten. Sein Stil, trotz der 
pathetischen Abwandlung des Barock, auch darin ein letzter Aus- 
läufer der hohen Renaissance, war ganz auf das Repräsentative 
gestimmt. Seine feierliche Haltung und pomphafte GröOe, die 
der Intimität und Delikatesse nicht den geringsten Spielraum 
lielj, offenbarte sich auch an seiner Person, wenn er sich selbst 
noch von den wenigen Erwählten schied, die er seines näheren 
Umgangs würdigte. Die Sehnstjcht der jungen, um den Gealterten 

I' Vgl. die nicht eben atlzu tiefe Anatys« des Rokokostiles von 
Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. Bonn 1SS6, II, 215 ff. 
— '' Ich finde eine Bestätigung in dem Rank eschen Satze: „Es ist nicht 
tetsSchlicher Widersiandj was den Staat Ludwigs XtV. bedroht, sondern 
die Gedanken iler Menschen reil^en sich von ihm los; in jedem Zweige 
der Armee^ der Kirche, der Administration, dem Handel, Überali stSHi 
die Autorität des Fürsten auf die beginnende Regung freier Elemente." 

kSXmti. Werke. Leipzig IStiQ, Xl^ 35. 
t 9* 



■ 




132 

aufwachsenden Generation mußte dazu drängen, aus den kalten 
Gemessenheiten der Zirkel von Göttern und Heroinen in Kreise 
wärmerer, menschlicherer Annäherungen zu gelangen. Das 
Momentane, Improvisierte muDte gegenüber dem durch die Zeit 
sanktionierten, durch die Bräuche fest und starr Gewordenen 
an Reit gewinnen. 

Dies Bedürfnis macht uns die schnelle Steigerung des 
Watteauschen Frauenideals zum modischen Frauentypus' sofort 
verständlich. Aber vielleicht sinnen^lliger kommt dieser Wille 
der neuen Zeit in der Anlage der Wohnräume zum Ausdruck, 
die den Hauptakzent auf intime Reize und wohnliche Aus- 
gestaltung der Innenräume legte. 

Dieses Bedürfnis nach dem Intimen, Zärtlichen, klein Zier- 
lichen, wenn man will, zeigt sich auch in allen anderen Zweigen 
des Lebens. In der Wirtschaft verläQt nian immer mehr das 
große Finanzsystem Colberts, um sich kleinen, im Moment ge- 
borenen, im Moment reizvoll und aussichtsreich erscheinenden 
finanziellen Machenschaften zu überlassen."- Die Politik gerat 
iti die Hände galanter Abb£s, für die der Kardinal Berois viel- 
leicht das bezeichnendste Beispiel ist, die Armee erhält Führer, 
liebenswürdig und unbedeutend, wie den Prinzen Soubise. 

Hettner weist sehr glücklich darauf hin, wie der satirische 
Roman und die Märchendicbtungen Perraulls aus den Spätjahren 
Ludwigs XIV. durchaus in der beiden gemeinsamen Oppositions- 
lust gegen das klassische Epigonentum wurzeln,*^ denn in diesen 
Dichtungen verkündet sich der gleiche Wille zu menschlich 
näherer Wirkung, in dem einen Falle nach der Seile gesellig 
befriedender Traulichkeit, in dem anderen nach der Seite ge- 
sellig aufreizender, Abwehr und Erwiderung heischender Reg- 
samkeit. Das Märchen der Romantik, in dem sich, wie bei 
E. T. A, HoffmaniJ und Clemens Brentano, diese beiden Elemente 
mischen, ist eigentlich nichts anderes als ihre letzte Konsequenz:. 
Demselben Wunsch nach menschlich näherer geselliger Wirkung 
entspricht das Wiederaufleben der französischen Gesell seh afts- 
poesie.'^ Die Bezeichnungen solcher Dichtungen als ^po^sies 



' Hannover, Anloine Watteau. Berlin '1SS9, 53, 63. — = Vgl. das 
Lawscbe Bankunternehnien und di? vqh Casanova (Erinnerungen, deutscb 
von Conrad, V, 3S ff, München 1907) sehr anschaulich geschildertea 
Lotieriever&ucbe der französischen Regierung unter Ludwig XV. — 
' Hetiner, Geschichte der französischen Literatur im IS, Jahrhundert. 
Braunachweig 1894", 54 tf. — ■■ Ausfeld, Die deutsche anakreoniiscbe 
Dichtung des 18. Jahrhunäerts. Ihre Beziehungen zur franiosiscben und 
antiken Lyrik. StraOburg 1^7. I, 2. 



fogitives", ihrer Dichter als HpoStes legers*, unter denen wiederum 
der Kardinal Bemis als führende Persönlichkeit auFtritt« sind 
ebenralls dafür charakteristisch. 

In der Malerei verkündet sich ganz im Gegensatz zum 

»Barock die neue Intimität, die neue Delikatesse in dem Streben 
zur Nuance. So tritt hier an Stelle des leeren Rot Rigaudschen 
Purpurs, de» eisigen Blau auf Lebrunschen Bildern das silbrige 
Grün, das sterbende Blau,' das zarte Flei^chrosa Watteaus, das 

I stufenreiche WeiD Tiepolos. Und endlich findet diis Zeitalter 
die zeitgemäße Technik in der Erfindung des Pastells. 
Halte das Barock seine exotischen Gelüste aus den Früchten 
der Entdeckung des Seeweges nach Ostindien und der Erforschung 
Amerikas bestritten, hatte es diese Reize intensiv gekostet und 
mit der Geste des Conquistadors ausgebeutet und völlig aus- 
geschöpft, so ward das Rokoko, das den Hacg zum Fremdartigen 
nicht minder in sich nährte als die Liebe zum Neuen und 
iVlodiscbeo, auf die pbaotasii schere a, bizarreren Schatze Chinas 
hingewiesen^ die noch dazu seinem Willen zur Intimität und 

t Delikatesse glücklich begegneten. 
Denn China gab ihm mit seinen seidenen und papierenen 
Tapeten: Stoffe zur Bekleidung der Winde, Stoffe, um seine 
Räume, ohne sie durch die schweren Gobelins des Barock zu 
verdnnkeln, wohnlich und reizvoll zu machen. Es gab ihm den 
Tee^ ein seiner Geselligkeit durchaus entsprechendes Getränk. 
Es gab ihm in der Fülle seiner Lackmöbel eine Menge neuer 
Anregungen zur Nach&chafFung immer zierhafteren Hausgerätes. 
Es gab ihm «-or alleu Dingen das Porzellan, du eigeutlicbe 

»Material für die Ausprägung icinc» CcistcB, 
Es sei verstattet, die obigen AusfQtirtiagcn durch einige 
Beispiele noch ttiber m beleuLhien. Zunichst die Stoffe. Die 
Seide, nach der tMm^tuhen Tradition die Erfladung einer ihrer 
frübesten Katserioaen,* war wohl zuerst den Griechen auf dem 
AlesancfeaacB nach Indien bekannt geworden. In der Kaiserzeii 
galt sie alt eia l>egebreer Luxusartikel, der raii ungeheueren 
Preisen bezahlt wurde. Seit dem dritten Jabrfaunden n. Chr. 
ffitat nun in Italien be^odueii, »m Rohseide Gewebe zu ver- 
B e f ti gen . Unter Juctioiafl hafK man in ByLÄOZ Seidtnraupeo 
Hfezücbiet und so die Sei4tnUhrik»tU>n von Grvnd sut zu be- 



l' 



> Das , Sm t rWW iM «e F«#fer 4cr 4e«iacftM «cMUMsac*. VfL 
b. T. Ze»es: A^faftacte mM*muM4 lA». ZcriKz^ VerHcfc {■ 
cctea »d SckUercfidicMea, UipKif 1)4«, — * KarnBl, 
Ol, UBK. 




134 

treiben gelernt.' Von dort var diese Kunst hauptsHchtich durch 

Vermittlung der sizilischen Normannen nach Italienj Spanien, 
Frankreich verpflanzt worden. 

Aber obwohl man in Huropa sehr schnell zu einer großen 
technischen Vollkommenheit auf diesem Gebiete gelangt war, 
vermochte man die aus China importierte Seide nicht iu ent- 
behren; hauptsächlich wohl darum, weil es den Europäern nicht 
glüciien wollte, die blendende Weiße (blancheur) der chinesischen 
Seide zu erreichen.'' In diesem Zusammenhange gewinnt auch die 
Bemerkung des Helvetius: nChina und Indien sind in der Fabri- 
kation von Stoffen ebenso geschickt wie Europa" ^ an Interesse. 

So kam es, daß im achtzehnten Jahrhundert, obwohl man 
doch zu dieser Zeit gerade in Fast allen europäischen Ländern 
einheimische Seide zu fabrizieren suchte,'' sich mit dem zu' 
nehmenden Luxus der Seidenexport aus China nach Europa 
noch bedeutend steigerte. Im Jahre 1766 wurden in Frankreich 
80000, in England 104000 Stck. Seide eingeführt.^ 

Man verwaodte die Chinaseide wegen ihrer schitnmernden 
Reinheit gern zu weißen Geweben, wie Blonden, Schleiertüchern, 
Strümpfen," und so finden wir auch unter den Toilettenrech- 
nungen der Pompadour und der Dubarry mehrfach Posten Für 
weiße chinesische SeidenstoEfe auFgeFührt.' 

In anderen Fällen ßnden wir chinesische Seide zu Schlaf- 
röcken, wie sie Katharina II. an den im Feldlager weilenden 
Potemkin schickt,^ zu Amazonen von ßohbrauner Farbe, der 
LieblingsFarbe Marie Antoinettes, die die Pariser Damen bei 
ihren Spazierritten im Bois trugen," zu Morgenhäubchen und 



^ Yoshida, Entwicklung des Seidenhandels und der Seidenindustrie 
vom Altertum bis zum Ausgang des Mittelalters. Heidelberg 1895. Vgl. a. 
Schrader, Linguisfiscli-historische Forschungen zur Handelsgeschichte 
und \Farenkunde- Jena 1886. 220ff. — = Raynal, III, 199. — Ober die Her- 
kunft und Fabrikation der Seide in China vgl. v. Breitenbauch, SSff-, 
Schiller] Neueste Nachrichten über China und dessen innere Verfassung, 
1799, S2ff. Schedcl, Warenlexikon. OPFenbach 1797, 11,50511'. — ^ Hel- 
vetius, V, 245. — * Vgl. u. a. Schmoller und Htntze, Die prculiische 
Seidenindustrie im achtzehnten Jahrhundert und ihre Begründung durch 
Friedrich den Großen. Berlin 1892. Bujattl, Geschiebte der Seiden- 
industrie Österreichs. Wien 1893. — '■' Raynal, III, 199. S. a. den Artikel 
Seidenwaren Großes universales Lexikon XXXVI (Leipzig und Halle 1743, 
Sp. 1432ff.). — * Raynal, ebd. — ' E. et J. de Goncourt, Madame 
de Pompadour. Paris 1903. Appendicc. — La Dubarry, ebd. — * Sbornlk, 
Imperatorskawo, Russkawo, Istoritscheskawo, ObschlscEiegtwa XXVll. 
St. Petersburg 18SI, 477. — ^ Tschudi: Marie Antoinettes Jugend, 
deutsch von Lenk. Leipzig 1894, 91. E. et J. de Goncourt, La Fe mm« 
du XVIll. sifecle. Paris 1903. 



135 



Sonnenschirmen ' und vor allem zw ■WafldbespanDUUE verwendet. 
In Trautmannsdorf in dem Schlosse des Fürsten Batthyany gab 
es ein gelbes chinesisches Zimmer, ein weißes chinesisches 
Zimmer und ein Zimmer mit braungelber chinesicher Tapete, 
das Maria Theresia ganz besonders lieble;'^ in Sctiönbrunn 
Zimmer, die mit gelbem Peliingatlas oder mit weißem rot- 
gebliimten Pekingatlas ausgeschlagen waren." Und wenn der 
Dichter den Freund in die Freiheit der Natur locken will, so 

■ mahnt er iho^ die Pracht chinesischer Wände zu verlassen.' 
Einen Ersatz für diese kostbaren Stoffe boten die billigeren, 
oft Originelleren Papiertapeien der Chinesen.^ Casanova schildert 
in seinen „Erinnerungen" das Kabinelt einer Dame, das mtt 

»solchen Tapeten, auf denen sich Darstellungen erotischer Szenen 
befanden, geziert war." Eine genauere Vorstellung dieser 
chinesischen Tapeten erhält man anläßlich einer Beschreibung 
des kaiserlichen Lustschlosses Göding: Auf dem schwarzen 
Grund der Tapete waren rote und blaue chinesiche Figuren 
und Landschaften gemalt.^ 

Diese chinesischen Papiertapeten, deren Fabrikation man 
bei Raynal kennen lernt/ bildeten gleichfalls für China einen 
sehr bedeutenden Exportartikel. Allerdings lieQ der Handel 
damit, nachdem man in Frankreich und England diese Tapeten 
Kizu imitie:retii gelernt hatte, beträchtlich nach." In England ver- 
stand man sogar Papiertapeten herzustellen, die wie chinesische 
Seidenstoffe wirkten.^* 

Der Tee, den schon Marco Polo erwähnte/* war im Anfange 
des siebzehnten Jahrhunderts von der ostindischen Gesellschaft 
in Holland eingeführt. 1633 hatte ihn Olearius in Persien als 
Getränk vorgefunden,^^ 1674 war er in Moskau bereits überall 



I 



^P ' GoncDurl, Pompadour 435. — ^ B«rnoulli, Sammlung kurzer 

"^ Reisebeschreibungen. Berlin 1781. X,238ff. — 'Bernoulii, XIV,3a,46; 

s, auch Laxenburg ebenda 73. Esterhaz (Escerhazisches Schloß) IX, 256. 

Ausierlitz (Kaunifzisches Schlod) XII, 260 oder Trianon XI, 209. — 

* Oeat, Bremische Gedichte, Hamburg, 1751, 115 (an Herrn Nonne), — 

^*Schedel,■«^a^e^lexilton 11,667. - "Casanova, VII (1908), 414, 420, 421. 
— ' BernouKi, Xlll, 266. Vgl. auch Feldsberg (Liechtensteinisches 
Schloftt XII, 245. Sehloßhof (Kaiserl. Lustschloß) XIII, 3. Niederweid 
ebd. 7. Laxenburg XIV, 73. Preßburg und Iwanska (Schlösser des 
Grafen GraschalRowitz) X, 190, 225. Außerdem Fürstenberg i. M., Rheins- 
^ berg, für München und seine Schlösser: Münsterberg: Bayern und Asien 
H'lm secbzehnten» siebzehnten uniJ achtzehnten Jahrhundert. Leipzig IS95, 
■21, 22. - " 111, 207,208. - "" Raynal, 111,211. - " BernouUi, I, 133. 
^B — '^ Lecky: Geschichte des Ursprunges der Aufklärung. Deutsche Über- 
^* Setzung II, 286^ daselbst auch ausführliche Literiiurangaben. — '* Vermehrte 
moskovidsche und persianische Reisebeschreibung. Schleswig 1656, 599, 600. 



130 

in Gebrauch/ 1636 war er zum ersten Male nach Paris»^ 1666 
zum ersten Male nach London gekommen,^ Holländer und 
Engländer blieben von da ab wenigstens in Westeuropa $uine 
stärksten Konsumenten, Ein deutscher Reisender aus der 
zweiten Hälfte des achtzehüteii Jahrhunderts äußert sein Er- 
staunen darüber, daß die Holländer gar kein Maß im Tee- 
trinken kennten/ und wenn man an den von immermann 
so köstlich geschilderten Holländer seines „Münchbausen", den 
Mynheer van StreeF, denkt, der selbst das Wasser der musischen 
Quelle auF dem Helikon zur Teebereitung verwendet, so wird 
man gern diesem Berichte Glauben schenken. Lichtenberg 
spricht sogar vom BTeewasserblut" der Holländer.^ 

Der Teeimpoft nach Engtand betrug 1726 bereits 700000 Pfd., 
1793 23000000 Pfd,,« 1800 war er auf 23 723000 Pfd. ge- 
stiegeo/ Raycal gibt als ZifFer der europäischen Einkäufe 
in China für das Jahr 1766 die Summe von 25754994 Livres 
an; *j^ dieser Summe entfielen lediglich auF den Einkauf von 
Tee.^ „Man kann den Tribut," ruft ein deutscher Reisender 
I77'5 aus, „den Europa jährlich den Chinesen für die Wut, 
laues Wasser zu trinken, bezahlt, auf 25000000 rechnen."* 



' Piercr- Universallexikon XXXIV (IS45) V, 130, — ^ Lecky 11,267. 

— * V. Breitenbauch 92. — Ober die Herkunft der einzelnen Tee- 
sorten Vgl. Raynal III, 172 ff. - " BernauUi 1,117. — ^ Grisebach: 
Lichtenbergs Briefe an Dieterich, Leipzig 1898, 36. — » Hüttner 156, 

— ' Klöpper: Engl. Reallexikon II, Leipzig IS9S, 2202. Nach Pierer 
XXXI, 130FF. betrug die EinFuht von Tee nach England 1711:114995, 
1741; 1031540, 1771; 5566793, 1801: 20237753 Pfd. Nach Schedel; 
Ephemeriden (1784), 923, wo man auch die Tecprcise für das Jahr 1784 
notiert findet (1026ff.) wurden nach Ostende 1784: 1 297553 Pfd. Tee Boh*, 
812830 Pfd. Congo, 25848 Pfd. Pekao, 44492 Pfd. Soutschaon, 99B94 Pfd. 
Haysan, 138695 Pfd. Haysan Skin, 224Ö45 Pfd- Songlo, 244047 Pfd. Tonkay 
gebracht. Über die einzelnen Teesorten vgt Schede]; WarenJexikon ll,f}81 ff. 
I^aynaf ^, o. Über Teeeinfuhr in Preußen zu Anfang des achtzehnten Jahr- 
hunderts vgl. G und] in gl Nachricht von Commercien undiVtanufacturenetc. 
0712) herausgegeben von Hoche, Halle J795: „Der Tee wird in großer 
Menge konsumiert, beynabe soviel als Wein. Diese Ware liostet dem 
Lande iährlicb an 100 000 Rtbl. Eine sehr grosse und schwere Accise 
wäre wohl das einzige Mittel, diese Consumtion zu vermindern. Die 
Holländer baben zwar in einer ganz anderen Absicht, um nämlich 
andern Nationen mehr zuführen zu können, dies Mittel wirksam gefunden. 
Die Deutschen haben angenehme Kräuter im Überfluß, die die Stelle des 
Tees ersetzen könnten." Über Teeeinfuhr und Teepreise in Stettin 
5. Schmidt: Geschichte des Handels u. der Schiffahrt Stettins. Baltiacbe 
Studien XX, Hefr I, 250, — ' Raynal 111,221. - ' Reise des Herrn v.**. 
Teutscher Merkur 1775, I^ 2&3, daselbst auch genauere Angaben über 
den europäischen Teehandel 251 f. 



137 



I 



Die Meinung von den günstigen GesundheitsvertÜftnissen 
Chinas, die man zum großen Teil als eine Wirkung des Tee- 
genusses ansab,' verschaffte dem neuen Getränk seine schnelle 
Verbreitung. Neben dem Kaifee, neben dem Tabak erscheint 
er seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts immer 
häufiger in der populären wie wissenschaftlichen medizinischen 
Literatur. ^ 

Mit der zunehmenden Verbreitung des Tees in Europa 
bildeten sich nicht nur verschiedene Arten des Genusses/ 
sondern auch bestimmte Bräuche und Maniereo, den Tee zu 
trinken, aus.* Bald gruppierte man um den „Teetrank' eine 
Reihe leichter und zarter Speisen* in kleinen Mengen und 
erhob so allmählich den Teegenuß zu einer täglich an be- 
stimmten Stunden sich wiederholenden Zwischenmahlzeit," die 
schließlich, man braucht sich nur an die etwas massiven Tees 
der Directoirezeit ^ und später an die von E. T. A. Hoifmann 
und HauJf so lustig parodierten ästhetischen Tees der Romantik 
zu erinnern, zu einer gesellschaftlichen Institution wurde, welche 
auch auf das geistige Leben ihren EinflulJ ausgeübt hat. 

Vielfach zog maD den Tee dem Kaffee vor. Jedenfalls 
galt der Tee als modischer, als galanter. So tadelt in Zachariäs 
.Renommist' Pandur, der Schutzgott der rauhen, am alten 
Brauche hängenden jenischen Studentenschaft, dem Kaffeegotte 
gegenüber das galante Leipzig, das doch gewiß wegen seines 



rj ^ „Als der Tee in Europa etnigermaßen bekannt war, und dabey 

seine ihm «ugesctiriebenen Kräfte, die er an den Chinesern verrichtete, 
ttund Turded, so bekamen die an allerhand Neuigkeiten Lust habenden 
europäischen Nationen gar ungemeine Begierde, sich solcher Getrinke auch 
?ubedieoeo.* Großes Univers. Lex, XXXXII, l74SjSp.52l, s.a. Raynal 
1 II, 179. — * Tulpius: Observationee medicae. AntGterdam 1661. BontC' 
koc:TraktatvanhetexceIlenslckruydrhee. Haag 1672. Albinus: tJeTahaco, 
de Thea et de Cantttaridibus. 1684. Pechlin: Theophilus Bibaculus sive 
de potu herbae Theae. Kiel 1684, Paris I68S. Blegna: Le bon usage du 
ih6, du c4f6 et du chocolat. Lyon IS87, *aldschmidli Dispuiatio de 
usu et abuäu pocus Thee. Kiel I6Ö2. Disputatio an potus herbae Thee 
cxsiccandi et emaciandi virtuie polleat. Ktel 1702. Blanltaart (Blan. 
cardus): De usu et abusu herbae Theae. 1686^ e. a. Hausrus PolychresH 
oder zuverlissige Gedanken vom Thfe, CoffÄe, Chokolafe und Toback- 1705. 
Vgl. Lecky II, 267. - ' So soll Mme de la Sabliere die Erfinderin der 
Mischung des Tees mit Milch sein. Lecky U, 267. Klöpper: Fran?, 
Reallex. Leipzig 1902, 1,567. — * Gr. Univers. Lex. s. o. Sp. 535. 
— ^ Ebd. — ' Grimod de la ReyniCre: Almanach des Gcurmands. 
Paris 1804. 53, 54. Grisebach, 2. — ' Grimod de la Reyniftrc, 53. 
S. a. E. et J. de Goncourt: Hietöire de la sociftf fran^aise pendant 
le DirertoiT«, Paris 1903, ISSff. 




138 

„massenhaften Kftffee trinke 05 " ' berüchtigt war, weil es 
modischer Neuerungssucht dem Tee vor dem Kaffee 
Vorrang gebe: 

Die Stutzer dieser Stadt sind meist von dir getrennt, 
Indem ihr Wankelmut den Tee als Golt erkenntj 
Und bat d\s Mode nicht die Neuerung ersonnen, 
Und die Galanterie den Tee nicht liebgewonnen? 
Nein, Jena^ glaube mir, in allem groß und frei 
Verschmätir den weibschen Tee und bleibt nur dir getreu,' 

Feiner entscheidet Gleim den Streit zwischen Kaffee und 
Tee, denn er entscheidet zugleich den Schönheitsstreit der 
Brünetten und der Blondinen: 

Den braunen Trank der Türken 
Trink ich des Nachmittags 
Zur Ehre der Brünetten, 
Den weisen Trank der Serer, 
Den Tee, trink ich des Morgens 
Zur Ehre der Blondinen-' 



Schon die Portugiesen hatten von Japan und China Lack- 
waren nach Europa gebracht.* Mit der veränderten Kon- 
stellation im ostasiatischen Handel übernahtnen dann im sieb- 
zehnten Jahrhundert die HoHänder, die vor den übrigen 
Europäern eine Art Handelsmonopol Für Japan besaßen," fast 
den alleinigen Vertrieb chinesischen und japanischen Lackes. 
Sie waren auch die ersten, die es seit 1640 unternahmen die 
fremden Lacke in der Heimat herzustellen. 

Das, wie es scheint, von den Chinesen sorglich gehütete Ge- 
heimnis der Lackfabrikatjon soll zuerst durch Eustachius^ einen 
Augustinermönch, nach Rom gebracht worden sein," Genauere 
Nachrichten erhielt man durch die Jesuiten Du Halde und 
D'incarville (f 1757).' 

Die ersten wertvollen Resuätate in der Imitation ostasiatischen 
Lackes wurden in Frankreich erzielt, wo man sich seit der 



1 



' Freytag: Bilder aus der dts<;h. Vergangenheit''. Leipzig ISSO, 
rv, 289. — ' Zachariä: Poetische Schriften. Karlsruhe 1778, 1,53, 54. 

— s Gleim; Sämtl. Schriften. Leipzig 1708, 11,54, — ' Ober die Ge- 
winnung und Bereitung des Lackes vgl. Du Haider Discriptioti II, 173 A. 
Raynal III, 202fF. Bucher; Gesch. d. techn. Künste (OberRäcbi. u. im 
einzelnen ungenau) I. Leipzig 1S75, 175. Eingehender Krünitz in der 
Enzyklopädie {17SS) An. Lackieren, Lackierkunst. Schede!: Warenlexikon 
I,673ff. - "■ Raynal I, 295 ff. - " Krünitz 523. — ' Du Halde s. a. 

— D'lncarville: M^moires sur le Vernis de la Chine. Paris 1760. 
Auch gedruckt im Allgemeinen Magazin der Natur, Kunst und "Wissen- 
schaften. XII (1767), 109 ff. 



n 







zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gleichfalls eifrig 
mit dieser Industrie beschäftigt hatte.' Um 1730 stand die 
französische Lackmalerei dem fremden Vorbilde nur noch 
wenig nach.'^ 

An die Namen der vier Brüder MartlD, von denen der 
eine, Robert, auch für Friedrich deii Großen tätig wat,'^ knüpfen 
sich vor allem die Erfolge der französischen Lac kfabri Ration. 
er schwarze und der rote Lack der Martins, der „Vernis de 
!a Chine"/ wurde vorbildlich für ganz Europa. Sogar der china- 
hegeisterte Voltaire machte sich zum Herold ihres Ruhmes und 
pries siBj daß sie selbst China übertroffen hätten, in den Versen: 

^^L Et ces cabineis oü Martin 

^H A surpass6 l'art de la Chine/ 

^F \Fas die Martins Für Frankreich bedeuteten wurde Stob- 
^asser (1740—1829) für Deutschland, der seit 1757 mit Erfolg 
chinesische Lackwaren imitierte. Allerdings waren in Deutsch- 
land auch vor 1757 schon Rezepte für die Lackfabrikation ver- 
lireitet,^ und Städte wie Ansbach^ und Dresden^ waren durch 
^Erzeugung einiger Lackartikel berühmt. Jedenfalls gelang es 
aber zuerst Stobwasser <5eit 1763 in ßraunschweig, seit 1772 
auch in Berlin)," die ausländische, namentlich englische, Kon- 
kurrenz"* aus dem Felde zuschlagen. Seine lackierten Tabaks- 
dosen waren besonders beliebt und weitverbreitet. 

Diese Unternehmungen der Martins, Stobwassers, seines 
Schwagers Gufirir „Vernisseur ä Brunswick" oder der Breslauer 



' Turgot: Mdmaires stir )a Gumme ^lasdque. Oeuvres Paris 1810, 
XX, 405ff. — ' Scherer: Job. Heinrich Stobwasser und seine Lack- 
Fabrik m Braunschweig. Braunschweiger Magazin IWO, No, 7, 50. — 
^ Graul: Ostasiatische Kunst imd ihr EinRuG auf Europa. Leipzig 
190Ö, 25. Vergi. das Blumenkabinett in Sansouci «nd das Gelbe und 
Silberne Schreibzimmer im neuen Palais zn Potsdam- Nicolai: Be- 
schreibung der Residenzstädte von Berlin und Potsdam- Berlin 1786, III, 
1216. 1273. — Vgt, a, das Lackkabinett im Lustschtosse Portici bei Neapel: 
„Der sogenannte Lack de Martin bleibt aber doch der schönste," Volli- 

^—rnann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien.^ Leipzig 1777, IIIj 294. 

B~ • Springer II, 236. - * Voltaire XIII, SO. Vgl. a. XII, 48. 

^^L Sous äts lämbri^ df>r6s 

^^K Et vernis par Martin. 

' — *> Vgl. Neuentdeckte Lacquierkunsi. Dresden 1754. — ' Ansbach lieferte 

I z. B. die lackierten Korporal st öeke für die Armee Friedrich Wilhelms 1. 

^^SchereräO. — *Krüniti523. — "Scherer 51; Nicolai 11,346. 

^■^ '" Vgl, Hepplenwhites Lackmöbel bei Mulhesius: Die Anfänge der 
modernen Innenkunst. Neue deutsche Rundschau 1905, 1039, — Ober 
die Lackindusirie von Birmingham vgl. Sinapius: Schleslscher raerkanti- 
listiätber Anzeiger, Breslau 1800 (No. 7), 50. 



140 

Lackfabrik' verdankten Ihren Erfolg hauptsächlich dem IntereSSST 
das die zeitgenössischen Fürsten, die ihre Schlösser, ihre Kunst- 
kammern mit Lackgeräten füllten,^ an diesen Erzeugnissen 
japanischer und chinesicher Kultur hatten. Sie brachten die 
Lackwaren überall in Mode. Die zeitgenössischen Memoiren, 
Reiseberichte und vor allem Rechnungen geben genug Betspiele 
dafür her. So heben z. B. die Memoiren von Bergholz, anläßlich 
eines Besuches, den Katharina L, Peters des Großen Getnahlin, 
der au5 China mitgebrachten Karitätensammlung des General* 
kapitäns Ismailow abstattete, ausdrücklich hervor, wie sehr die 
Kaiserin von den chinesischen Lackwaren entzückt war,^ Oder ein 
deutscher Reisender berichtet (1 762), daß Wilhelmine von Bayreuth 
in Kollendorf ein Lackmeublement besessen habe, das zum Teil 
aus China stammte, zum Teil von der MarkgräRn auf das ge- 
schickteste nachgeahmt war.^ Oder ein anderer Reisender erzählt 
bei der Beschreibung des Schlosses von St. Veit von einem 
Komraodenkasten aus weißem und lilafarbenen Lack, der mit 
chinesischen Figuren eingelegt war und 2000 Gulden gekostet 
hatte." Oder endlich sei abschließend die Lackgerätesammlung 
Marie Antoinettes erwähnt, die man heute im Louvre Findet/ 
Das Beispiel der Fürsten suchten nun die Untertanen, 
wenn auch in bescheidenerem Maße, nachzuahmen. Denn sie 
konnten natürlich nicht Summen, wie sie die Pompadour für 
Lackwaren ausgab," bezahlen. Sie begnügten sich daher gern* 
mit den billigeren heimischen Imitationen. Übrigens gelangten 
die Martins und Stobwasser ganz ähnlich wie die Künstler des 
Porzellans bald nach ihrer Erfindung dazu, sich von den chine- 
sischen Vorbildern zu emanzipieren. 



Will man sich einen Begriff von dem ungeheuren Ein- 
druck machen, den die Einführung des Porzellans in Europa auf 
alle dabei in Frage kommenden Kreise, auf die Kaufleute, die es 
von China nach Europa brachten, auf die Fürsten, auf die Ge- 



' Sinapius 49 ff. — '^ Vgl. den Ratschin zu Prag im „Den 
würdigen und Nützlichen des Elbstroms". Frankfurt a. M. 1741; 
243 ff. Vgl. Eraunschweig, vgl. Kassel. Bernoulli IX, 154, 161^ 

— Über Lackgerät in Wiener Privathäusern s. Lady Montagu: Letfers^ 
herausgegeben von Lambecb- Berlin 1878, 37. — " Büsctaing; Magazin. 
Halle 1789, 408 ff . — ■* Vgl. Schedel: Waren-Lexilion, H^ 275 ff. — 
" Bernoulli IX, 117. - ^ Bernoulli XIV, 82. — ' Graul 25. Vgl. auch 
die bayerisclien Lacksammlungen. Miinsterberg; Bayern und Asien, 22ff. 

— ^ Goncourt: Pompadour, Append. 434. Vgl. als Gegenstück 2u der 
Kommode von St. Veit unterm 22. November 1750, ^Une comtnode de 
lacque ä pagodes etc," 24(K> L. 








ptr 



schlechter der Seestädte, die seine ersten Sammler wurden,^ 
ausgeübt hat, muß man sich einmal g&nz von den Gedanken 
befreien, die uns infolge langer Gewöhnung an sein Vor- 
Iiandensein, an den Nutzen, den es uns tagtäglich gewährt, 
unwillkürlich anhaften. Man muß sich vorstellen, wie dieses 
durchsichtige, im Glanz zartester Glasuren schimmernde Pro- 
dukt der Fremden TöpFerkunst etwa neben den doch sehr 
lioch entwickelten europäischen Fayencen der Renaissance 
"^virkte, wie der Reiz des exotischen und die Vorstellung der weiten 
Seereise, die unmittelbar mit diesem zerbrechlichen Gerät ver- 
linüpft war, in gleicher Weise wie der Zauber des Unbekannten, 
OeheimnisvoIIen seiner Herkunft, dem neuen Gut einen ideellen 
vind materiellen Wert verlieh, der weit über den der übrigen 
eingeführten Schätze hinausging. Der Wunsch, auch diese 
begehrteste Gabe des Fernen Orients in der Heimat selbst zu 
erzeugen, mußte sehr schnell rege werden, mußte sehr schnell 
zu Nftchahmungsversuchen, wie -wir sie seit dem Ende des 
fünfzehnten Jahrhunderts in Venedig finden," Führen. 

Die Geschichte dieser Versuche ist sehr ausgedehnt und 
reich an Ereignissen. Jede ihrer einzelnen Stationen ist inter- 
essant und lehrreich. Wie man in Florenz unter Francesco 
Alaria das Medici- Porzeil an erfand,^ von dem wir heute ungefähr 
Dur noch dreißig Stücke besitzen,* wie sich die Delfter Fayence- 
Fabriken unter chinesischem Einflüsse modelten,'^ wie man in 
Rouen und St-C3oud zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts 
'Weich Porzellan herzustellen wußte, '^ wie endlich BöttgCr in 
r>resden 170fl das Hartporzellan entdeckte und dadurch über 
die einzelnen vor ihm liegenden und nur stationär bleibenden 
Versuche hinaus die Forzellanindustrie in Europa heimisch 
machte. 

Alchimisten und Arkanisten waren es, die sich hauptsächlich 
der neuen Kunst bemächtigt hatten. Aus ihren Kreisen war 
auch Böttger (1685^1719)'' hervorgegangen und hatte auf einem 
Nebenwege seiner auf die Ergründung der Goldtinktur gerichteten 
Arbeiten das Porzellan erfunden. Seine ersten Erzeugnisse 
waren einfarbig oder farblos und unterschieden sich wesentlich 
von den chinesischen Vorbildern. Goldschmiede lieferten die 
Formen für die neuen Gefäße, die zunächst ganz nach den 



' Davillief: Les origines de ia portelaine ta Europe. Paria, 
London 1862, 9 ff, — ' Davillier 29, — ' Graul 6. — * Lehnert: Das 
Porzellan. Bielefeld u. Leipzig 1902, 28. — " Rheinischer Antiquarius 
1739, 680. Gtaul 11. — " Lebnert28.— ' Vgl. Wolff-Beckh: Johinn 
Friedr. Bötiget. Berlin 1903. 



142 



Forderungen des herrschenden BarocVgeschmackes gebildet 
wurden. Erst in der zweiten Periode der 1710 nach Meißen 
verlegten Porzellanmanufaktur (1719 — 1735),' die man im Gegen- 
satz zu der Böttgerschen Zeit die farbige zu nennen pftegi,* 
zeigt sich mit dem ausgesprochenen Nachahmungswillen der 
ostasiati sehen PorzelJanstücke, die man damals noch ziemlich 
unterschiedslos als „indianisch« bezeichnete/ ein ungefähr ent- 
sprechendes Können. Als Vorlagen dienten dem leitenden 
Manne, einem iUaler namens Herold, die Illustrationen detfl 
von Dr. Dapper redigierten zweiten und dritten Niederländischen 
Gesandtschfiftsreise,* die an sich schon als phantastische, sehr 
wenig der Wirklichkeit entsprechende Wiedergaben angesehen 
werden müssen. Die Folge davon war, daß Herold zur ganz 
freien und selbständigen Darstellung chinesischer Motive gelangte.^ 

Diese Tatsache ist nicht nur für die Entwicklung des 
Porzellans in Europa, sondern auch für die Entwicklung der 
chinesischen Einflüsse auf die europäische Kultur des acht- 
zehnten Jahrhunderts überhaupt von größter Bedeutung. Denn 
niemals handelte es sich um eine bloß naturalistische Nachahmung, 
sondern um eine durchaus pbaTiiastische Umbildung: eine 
romantische Neuschöpfung, die dem utopistischen Charakter 
Chinas in der Auffassung der Staats- und Gesellschafts-^ 
theoretiker des achtzehnten Jahrhunderts völlig entspricht. ^| 

Will man sich etwa ein Bild davon machen, inwieweit die He- 

roldschen Chinoiserieen wirklichen chinesischen Malereien nahe 

kamen, so vergleiche man sie etwa mit den kleinen Versen, die 

Katharinas 11. einmal dem Fürsten de Ligne als chinesisch mitteiltrij 

„Le ro] de ta Cbij i, i, i, i, i, i, t. nc 

quand il a bien bu, u» u, u, u, u, u, u 

faii une plaLsanie rai, i, i, i, i, i, ne."' 

^ Es kann hier nicht die Absicht sein, auf die einzelnen Porzellan- 
manufaktur-Gründungen nach Meißner Muster einzugehen. Man findet 
chronologische Über&Lcbten bei Jacqucman und Le Bianr; Hisioire, 
artistique industrielle et commerciale de la porcelaine. Paris IS62, 4E 
46 u. in der populären Monographie v. Lehnert5&iT. Paris 1906. Vgl. 
Brüning: Europäisches Porzellan d. XVIll.Jfthrh. Beri, 1904. Chavagnat 
etCrollieriHistoire des porcelaines fran^aisesetc. Paris ISÜti. LeBretanr^ 
CÄramique espagnole. Paris 1879 s. w.— "Berliog: Das Meißner Porzellan. 
Leipzig 1900, 32 fP. — " Brüning X. Anmerk., vgl. a. Lehnen, Minct- 
witz: Gesch. v. Pillnitz. Dresden 1895, 17 Anm. Über die spätere 
Unterscheidung d. einzelnen Porzellane u. ihre Benennung vgl. Ray-^ 
nai HI. — ■" Disch. Übers. Amsterdam 1076 s. o. — Brüning XIII. —^ 

— ^ Brüning XII. — Es sei hier auch an das sogen. Zwiebelmusier 
erinnert, das als eine mtllverstandene Nachahmung eines chinesischen 
CranalapFels- oder Pflesichmusters angesehen werden muß. Graul 15,i 

— " Sbornik XLIL St. Petersburg 1885 349, 350. 



ie 

1 

et 
ire 

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r 




Denn in beiden findet man als wesetnUches Moment das betonte 
Herausgreifen bestimmter, den Europäern fremder Züge, cl9$ 
betonte Herausgreifen einer kleinzierlichen, ich möchte sagen, 
trippelnden Gemessenheit und Steifheit, wie sie sich etwa auch 
in der Auffassung des chinesischen Kaisers äußert, von dem 
Katharina an einer anderen Stelle desselben Briefwechsels sagt: 

IqLa gazette de P^quin djsoit que mon voisin chinois aux 
petits yeux, suit avec une exaclitude vraiment exemplaire 
les inombrables rtte^ auquels il est soumis." * 
Diese betont herausgegriffenen Züge werden allein unter- 
strichen, werden allein mit den auf heimischem Boden ge- 
vachseneti Stilmitteln des Rokoko ausgebildet und mit einem 
ziemlich Freien chinesischen Dekor, das nicht viel über die 
Teetasse, den Sonnenschirm hinausgeht, umkleide!. Dasselbe 
dürfte, trotz der Naturstudien, die Watteau nach einem Chinesen 
gemacht hat,- auch von den Chinoiserieen der französischen 
Maler gelten. 

Mit der dritten, der sogenannten plastischen Periode 
^1735—175(3)^ verläßt das Meißner Porzellan immer mehr die 
Bahn des chinesischen Einflusses. Denn es stellt sich unter 
Kändlers Initiative in der Darstellung figürlicher Plastiken andere 
Aufgaben, als die von China eingeführten Porzellane im wesen- 
tlichen gelöst hatten. Die Chinesen haben im Vergleich zu den 
Japanern die Porzellanplastik verhältnismäßig wenig ausgebildet, 
und man wird sagen dürfen, daß mit Ausnahme der Pagoden, 
die allerdings wohl darum, weil sie mit ihren bizarren Formen* 
die Forderungen nach der kleinzierlichen Groteske am meisten 
erfüllten, sehr zahlreich im achtzehnten Jahrhundert verbreitet 
waren, ^ die chinesische Porzellanplastik auf Europa damals keinen 



' Ebd, 125^ — ■■■ Atigeb, bei Rosenberg: Antoine Watteau. Biele- 
feld u. Leipzig IS96. Nr. 7. — ' ßerlitig 56ff. — * Voltaire i M. de 
FarcalquJer au nom de Mme. la Marquise du Chätelet ä ijui il avail 
cnvoyf upe pagodo chinoi&e XII, 511: 

Ce grös Chinois en tout diff^re 
Du Frangais qui me l'a donnä; 
Son ventre en tonne et fagonnä 
Et votre taille bien legäre. 

11 a l'air de s'ewasier 

En admirant noire hdmisphÄre 

. . . Le CDU pecicb^ clignant les yeuv 

11 ril aux artges d'iin soi rire, etc. 

'• Vgl. die Pagodenburg bei Nymphenburg. „Pa gölten bürg, oder das 
indianische Gebäude genannt, ein Churbayrisches Lustschloß ... mit 
allerliBiid Chinesischen Figuren und Pagoden," Grqßes universales 




(44 



bedeutenden Einfluß ausgeübt bat. Die europäische Porzellan- 
plastik des Rckoko muD ebenso wie der plastische Schmuck an 
an den chinesischen I-usthäusero der fürstlichen Residenzen im 
Grunde als etwas selbständig Gewordenes angesehen werden. 

Gleichzeitig tritt aber auch in der Kolorisiik ein Wandel 
ein. Die lebhafteren Farben der chinesischen Porzellane aus 
der sogenannten Familie Rose (1644 — 1723) unter der Regierung 
des Kaisers Kang~hi (1662 — 1722) und ihrer Ausläufer unter 
Yong-tsching (1722—1735) und Kien-long (1736— 1796) mußten 
vor den zarteren Farbentönen des Rokoko weichen.' In den 
siebziger Jahren tadelt sogar ein Reisender den Geschmack der 
Holländer, weil sie aus Handelsrücksichten dem „buntscheckigen" 
Chinaporzellan den Vorzug gaben. ^ Und selbst Voltaire, der 
die begeisterten Verse auf das chinesische Porzellan gedichtet 

hatte: 

„La porcelaine et la Fr^le beaut^ 

De cet 6mail ä la Chine empäli^ 

Par mjlle niains ful pour vous pr£par£e, 

CuLle, recuite et pejnte et djapri^e" 

muß eingestehen, daß auch auf dem Gebiete der Porzellaakun&t 
China von den Europäern geschlagen sei.^ 

Derartige abgiinstige Meinungen über das chinesiche Porzellan 
Jn der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entsprangen 
einmal der vor allem durch Pauw verbreiteten Nachrichten über 
die Unzulänglichkeit der bildenden Künste in China überhaupt,'^ 
dann aber dem Umstände, daß das chinesische Porzellan tat- 



Lexikon XXVI, 1740 Sp. 239, 240. — Bei der Hochzeit des Ertprinzen 
August Wilhelm iU Braunschweig-Lüneburg-"l!polfenbijtle! mit der ver- 
winibten Erbprlnt^essin zu Holstein-Ploen (1710) hatte man als Tafel- 
schmuck „kleine, nach der thinesischen Art gemachte Figuren in ge- 
wissen \Ceiten aus einander gesetzt". Lünig: Theatrum ceremonial« 
politicum. Leipzig 1719. Im Fasching 1734 im Nymphenburger Garten 
erschienen bei einer maskierten Hirschtagd auch chinesische Pagoden. 
Heigei: Nymphenburg. Bamberg IS9I, 44. Aullerdem in Traunnannsdorf 
<Fürstl. Bathianisches Schloß): 7 Pagoden Bernoulli X 231. tn der 
Parzellansammlung daselbst 4 Pagoden u. eine besonders große, ebd. 237^ 
In Laaschitz bewegl. japanische Pagoden, ebd, 214. In Iwanska mehrere 
Pagoden, ebd. 225, In Estherhaz 24 Pagoden, ebd. IX, 26ä, s. a. Lady 
Montagu 49. 

'■ Scherer: Die Porzeliansammlung des Schlosses Vilhelmsthal 
bei Kassel. Kassel 1892, 11. — "^ Bernoulli VIII, 99. Vgl, a. das 
PorzeUanlager in Amsterdam. Sie brachten 2. B. in einem der ersten 
Jahre des achtzehnten Jabrhunderts 45 000 Stücke chinesischen und 
japanischen Porzellans nach Holland. Hannover 16^ 17. — " Voltaire 
XIV, 136. — ■> Voltaire XLVtl, 519. - '' Kechercbes: phJlosopbiques 
sur les Egyptiens et les Chinois. 



145 






sichlich immer schlechter wurde. Diese Verscblechterung 
hatte ihren Girund nicht nur in der Massenfabrikation für den 
europäischen Export,' sondern auch darin, daß die Chinesen, 
mit der ihrer Nation eieentümlichen Geringschätzung alles 
fremden Wesens, selbst ihre barbarischsten Erzeugnisse als völlig 
ausreichend für die Befriedigung des europäischen Kauf- 
bedürfnisses ansahen. - 

Demgegenüber halfen sich die europäischen Kaufleute 
dadurch, daß sie die rohesten Produkte chinesischer Töpferkunst 
in der Heimat überdekorieren ließen. Unter den Rechnungen 
für die Du Barry Ündet man eine Für ein chinesisches Service 
nd dabei die Bemerkung, daO es von demselben Maler dekoriert 
Set, wie ein vorher erwähntes Dejeuner chinois.^ Diese Über- 
dekoration ging so weit, daQ man unter dem Directoire dem 
modischen Geschmack entsprechend Japanporzellan mit etrus- 
kischen Malereien versah.^ 

Indessen verloren natürlich die guten alten Stücke des 
BUnc de Chiue, des Craquel^, der blauen Periode, der Familie 
Verte etc., wie man sie in Dresden sieht,* nichts an ihrer 
Schätzung. Sie bildeten nach wie vor die seltensten, geliebtesten 
Inventars tu cke der außerordentlich reichen Porzeil ansamm tun gen 
in den fürstlichen Schlössern.* 

Es wäre müßig, hier noch weitere Beispiele anzuführen, 
um zu zeigen^ wie weit auch die Begeisterung des Einzelnen 
für das Porzellan ging. Nur eine dafür sehr bezeichnende 
Anekdote sei zum Schluß erwähnt: Als August der Starke, der 
sicherlich die wertvollste Porzellansammlung seiner Zeit besafi, 
und der in den Jahren 1725 — 1733 aus seiner Meißener Manu- 
faktur für li5253S Mark Porzellan entnahm,' daran ging, sich 
in Pillniiz eine neue SchloGanlage zu schaffen, riet ihm Graf 

iVackerbarth, das neue „orientalische* Lusthaus aus Porzellan 
l ^ Metners: Abhandlungen sinesischer Jesuiten, Leipzig IT^S. I3ff. 
U » Grau] 9, 10. — " Goncourt; 344 u. 7. Juli und 31. August 1773. 
[- * Goncourt: Histoire de la sociftß fran^aise, 189. — '' VgL den 
Führer durch die Dresdener Porzellan- und Geflßsammlung, Ent- 
stein: Die Königliche Porzellan- und Gefäßsammlung. Dresden ISSQ. 
^^- •* Vgl. die Porzellansammlung von Preßburg, Bernoulli X, 201 ff. 
^■.anschitz ebd. 215, Esterbaz ebd. 256 tr, 266^ 267. Scbönbrunn ebd. 
^jCIV, 24 ff., für Uresden: Keyßler: Fortsetzung Neuester Reisen durch 
Teutschland. Hannover, 1741j 1084, 1085. Amsterdam: Sicbtermannisches 
fslaiä, Bernoulli» XI II, 20. Leisching: Das Porzellanzimmer tm 
bubskischen Palais zu Brunn 1902, Der Porzellanschatz im Rokokos chloQ 
Ansbach 1S94. Scherers, o. Münsrerberg, 24 tf., s.a. Lady Montagu, 
^7, 44, 124) 171. Antiquarius des Eibstroms, 140. — * Letinert 36, 

10 




146 



er'bauen zu lassen, denn das vürde etwas so Besonderes sein, 
wie man es weder in deutschen, noch welschen Landen, noch^ 
anderswo finden könne. ^ f 

Fügt man zu den obengenannten Chinawaren noch die 
mehr spielerischen Sammlungen von Nippes und Bibelois:^^ 
Hausgeräte aus Speckstein,^ Miniaturkopieen des Kaisers chlosse^H 
von Peking,* künstliche Uhrwerke,^ Gemälde/ Medaillen mit 
Darstellungen aus der chinesischen Mythologie^ oder endlich 
chinesisches Feuerwerk, an dem Peter der Große ein beson- 
deres Interesse hatte/ oder die Farbenprunkenden Tiere Chinas: 
die Goldfasanen, die Gold- und Silberfische," die jedenFalls 
nicht vor dem Anfange des siebzehnten Jahrhunderts nach 
Europa gekommen waren, hinzu, so erhält man auch noch im 
Einzelnsten die Farbtöne für das bunte und prächtige Bild des 
China begeisterten Europa. ^M 

Und indem sich das Rokoko mit solchen kleinen Kunst- 
werken umgab, indem es sie wie keines der früheren Jahr- 
hunderte mit seiner ganzen Liebe umfing, wie keines der früheren 
Jahrhunderte, immer zarter und zärtlicher auszubilden verstand, 
scheint es die Forderung des Weisen unserer Tage im voraus 
erfüllt zu haben: fl 

„Stellt kleine, gute, vollkommene Dinge um euch, ihr höheren 
Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommenes 
lehrt hoffen." 



IJl. 



i 




Wenn In den obigen Ausführungen die Einwirkung Chinas 
auf Europa mehr nach der materiellen Seite hin, an der Hand 
der einzelnen von Ostasien eingeführten Handelsgüter fest- 
gestellt und in ihren Weiterbildungen verfolgt wurde, so erscheint 
es als Notwendigkeit, hier auP die feineret^ Äul^eruitgcn der 
europäischen Chinabegeisterung in Leben und Kunst des acht- 
zehnten Jahrhunderts einzugehen und seine freieren, eigentlich 
von Anfang an selbständigeren Schöpfungen auf den Gebieten^ 
der bildenden und redenden Künste näher zu betrachten. ^M 

> Minckwitz 18. — * Graul 25. — " Vgl. Kassel» Bernoulli 
IX, IM, — • Im Haag, ebd. 207. — ^ In Berlin ein künstliches Uhrwerk 
„so untterscta idtliche Figuren repräsentieret undi von denen Chinesen 
soll gemacht worden sein". Hagelstange: Archiv für Kuliurgeschichie, 
III, Heft 2, 208. — " Im Judenpalasf zu Amsterdam. Rhein. Antl- 
quarius, 71. — ' Münzkabinett zu Halle, Bernoulli X, 107. — ^Büscblng 
XX. s. o. — * Bernoulli VllJ, 125» XIV, 53, X, 218. 




147 



P 



Man muß dabei die bereits oben anläßlich der Chinoiserieen 
in der Kunst des Porzellans a.ngestellte Erwägung im Auge behalten 
und sie an den einzelnen Äußerungen der Chinabegeisterung in 
Architektur und Bildnerei, Malerei und Poesie nachprüfen; man 
wird durchaus entsprechende Ergänzungen finden. 

Dean in den Versuchen, chinesische Architektur nach- 
zuahmen bemerkt man, ganz ähnlich wie in der Geschichte des 
Porzellans, daß bei dem ausgesprochenen W^illen chinesisch, 
oder doch zum mindesten „orientalisch"/ „indianisch" zu 
sein, immer nur bestimmte, besonders hervorstechende, bizarre 
Motive aus der chinesischen Architektur herübergenommen und 
in die europäische einbezogen werden. So ist, um ein Frühes 
Beispiel anzuführen, die AuQenarchitektur der Nymphenburger 
Pagodenburg (1716) durchaus im konventionellen Stile der Zeit 
gehalten und nur das Innere im chinesischen Geschmacke 
dekoriert. Oder in Pillniiz (1720—1721) zeigt sich der 
chinesische oder orientalische Einfluß lediglich in den aller- 
dings äußerst charakteristischen Dächern, die, chinesischen 
Kopfbedeckungen ähnlich, ohne eigentlich innere, organische 
Verbindung auf den völlig barocken Unterbau aufgesetzt sind.' 
Wie wenig man einen klaren BegriPF von chinesischer Architektur 
besaß, geht auch daraus hervor, daß Mendoza die „gemeinen 
Häuser* der Chinesen „auf römische Art gebaut" nennt 
und von den chinesischen Triumphbögen meint, man könne sie 
mit den römischen Antiquitäten vergleichen.^ Auch Gottsched 
behauptet noch 1701, daß die chinesischen Gebäude mit den 
griechischen und römischen Ähnlickkeit hätten.* Ebenso weist 
in Dresden die Bezeichnung «Holländisches Palsis" neben dem 
eigeatlicheo Namen japanisches Palais" <I713 — 1715)'^ darauf 
hin, wie weit man von einer unbedingten Nachahmung des 
asiatischen Vorbildes entfernt war. Und ähnlich Sndet man 
im Innern der Pagodenburg das chinesische Dekor in freier 
und phantastischer Weise mit Delfter Kacheln auf das ge- 
schickteste verbunden. 

Späterhin suchte man allerdings den chinesischen Vorbildern 
immer näherzukommen. Aber auch das dafür vielleicht be- 
zeichnendste Beispiel, das Japanische oder Chinesische Haus bei 



* Miackwitz, IS. Anm. Vgl. a, Anliquarius des Elbstroms. 243Ef, 
— • Die Abbildungen bei Minckwitz. — ' Mendoza (Kellner) 23, 
22, 26. — ' Neuestes aus der anmutbigen Gelehrsamkeit XI, 487. — 
'' Aniiquarius des ElbStroms, 313. Herder (Suphan VI!I, 10) ver- 
gleicht auch die holländischen Gtrten mit den chlnesichen und tadelt 
beide wegen ihrer Uonatur. 

10» 




US 



Sanssouci, das 1755 von HeymüUer und Benkert erbaut wurde,' 
stellt sich doch im ganzen^ trotz seiner vielen chinesisch sein 
sollenden Naturalismen^ als eine ganz freie, von Chinesenturn 
wie von reiner Rokokoarchitektur gleich weit entfernte Schöpfung 
dar. Der plastische Schmuck, der nach den Zeichnungen des- 
selben holländischen Bildhauers, von dem die chinesischen 
Figuren im Konzertsaal des Potsdamer Stadt Schlosses stammen, 
gefertigt wurde,' zeigt ebenso deutlich die weite Kluff, die 
sie von chinesischer Plastik trennt. Sie sind wie das liebliche, 
die Violine spielende Mädchen auf der Ostseite des kleinen 
Lusthauses, Kinder einer freien, von den galanten und zärt- 
lichen Empßndungen des Rokoko genährten Laune. 

Dem entspricht denn durchaus, wenn Goethe im ^Triumph 
der Empfindsamkeit* die künstlichen Grotten' in den englischen 
Gärten der damaligen Zeit als „chinesisch-gotisch" bezeichnet,'' 
ein Ausdruck, den später ein deutscher Reisender auf die Kioske 
des Parkes von Katharinenhof angewendet hatj' wenn Justus 
Moser in einem satirischen Briefe über derartige Parkzieraten 
schildert, wie in einem modischen Garten der Zeit neben einem 
chinesischen Kanapee mit Sonnenschirm aus vergoldetem Blech 
und neben einer chinesischen Brücke ein kleiner gotischer 
Dom steht,' wenn der Holländer van Braam die Brücken in 
China fast durchweg als gotisch bezeichnet.* Man sieht: die 
Grenzlinien der einzelnen Stile verwischen sich und nur das 
Romantische bleibt als wesentlich für den Eindruck bestehen. 



1 Nicolai 111, 1228. — ' Ich denke hier vor allen an die als 
Palmenbäume gestalteten Säulen mit ihren unstilisierten Blätterkapitälen. 
— * Nicolai in, ]]45, 1273, — ^ Über die künstl. Grotten d. Chinesen 
vgl. Neuhof 84, 179; Dapper 24; Faßmano VI, 263; Anderson 45; 
Stounton lOl; de Guignes II, 19L — " Goethe: Werke, Weimarer 
Ausg. XVJI, 3S; vgl. a. Herder (Suphan) VIlI, 91. -- " Meyer; Dar- 
stellungen aus Rußlands K»iserstadt usy^. Hamb. 1829, 220, 221. — 
^ Patriotische Phantasien ^1773), Berlin 1S42 II, 330ff. Vgl, a. 
d. Anm. über die gotischen Häuser in meinem Aufsätze: Bemerkungen 
2U den Briefen der Kaiserin Kath. II. an Ch.PrincedeLigne in 
der Festschrift zu Theodor Schiemanns 60. Geburtstage. Berlin 1907, 112, 
Vgl. dazu als Ergänzung: Im Parke des Gra.fen Tschernin zu Schönhofen 
in Böhmen ein gotischer Tempel, abgebildet bei Grohmann, Heft 34, 
Tafel 8. Zu Machern bei Leipzig, Ritterburg des preußischen Obers(3ll- 
meis*ers Grafen Lindenau, ebd. Heft 39, Tafel 7, s.a. Sporschil; Wan- 
derungen durch die Sactisische Schweiz. Leipz. 1840, 65. Ijn Parke zu 
Hohenheim eine gotische Kapelle, Grohmann, Heft 40, Tafel 8, Bei 
Dessau gotisches Jagdhaus, ebd. Heft 29, Tafel 10, In Roswalde gotische 
Gebäude. Auswahl kleiner Reisebeschreibungen, Lips. 1785,1,35, Für 
Dresden (KrubsaCius) vgl Schumann: Barock und Rokoko, Leipsig 18S5. 
88; für Magdeburg vgl. J. A. Breysig II, 167b,— » van Braam 1, 121,11,40, 



t49 



R 



I 



Wie weil aber die Freude an derartigen architektonischen 
Cbinoiserieen ging, möge folgende, rein statistische Zusammen- 
srelluDg zeigen. Ich ßnde, daß die Königin Ulrike von Scliweden, 
auch in dieser Neigung ^ ihren Brüdern Friedrich und Heinrich 
und der bayreuthischen Schwester durchaus gleich gesonnen, 
sich bei ihrem Lustschloß Drottningholm eine ganze chinesische 
Anlage geschaffen hat." In Rheinsberg waren nicht nur ein- 
zelne Zimmer chinesisch geziert," sondern neben dem chine- 
sischen Lusthaus im Parke gab es dort eine chinesische Fischcr- 
hüite, einen chinesischen Gefliigelhof und am See chinesische 
Leuchtfeuer. In Sanssouci finde ich, außer dem chinesischen 
Hause, eine heute nicht mehr vorhandene, dazu gehörige 
chinesische Küche mit chinesischen Geraten ° erwähnt und einen 
Turm, auf chinesische Art verziert und mit Drachen geschmückt.^ 
In Berlin je ein chinesisches und japanisches Haus.^ In Mon- 
plaisir bei Schwedt einen chinesischen Pavillon.^ Ich Rnde 
ferner bei Amboise in Frankreich die Pagode von Chanteloup, 

das einzige, welches von dem prächtigen Besitztum übrig ge- 
blieben ist".' In Luneville ein chinesisches Lusthaus,^" im 
Garten des Grafen Palaviccini bei Genua ein chinesisches Tee- 

äuschen, in Amsterdam Garten und Architekturen im chinesi- 
schen Geschmack,'^ in Kew in England chinesische Garten- 
gehäude^'^ in Learaington in einem chinesischen Garten einen 
chinesischen Tempel.-^^ Ferner in Düsseldorf ein chinesisches 
Lusihaus," in Wilhelmstal zwei chinesische Häuser;" in Äthers- 
berg, ^"^ in Leipzig '^'^ je ein japanisches Haus, in Oranienbaum bei 
Dessau ein chinesisches Haus und einen chinesischen Turm,^^ im 
Parke zu Ballenstedt ein chinesisches Sonnenhauschen, nach dem 
Entwürfe von Johann Adam Breysig,*" in Neu-Gattersleben einen 

arte mit chinesischem Parasol.**^ In der Schweiz wurde ein 



^ Vgl. meinen Aufsatz; Das Rokoko und die Tiere. Montagsblatt d. 
Magdeb. Zeitung 1907, Nr.9ff. — " ßernoulli X, 91 ff. - ^ Hamilton: 
Rheinsberg. London ISSO 1, 49. — * Ebd. II, 104, 105. — <■ Nicolai 
in, 1228. - * Ebd. 1227. — ' Ebd. II, 934, 931. - " Eernoulli II, 273. 
— " Semilassos vorletzter Weltgang. Stuttgart 1835 II, 202, — "> Ber- 
noullt XV, 182. - " Ebd. X, 170. - '■= Muihesius 1030 — " Briefe 
eines Verstorbenen. Siuiig. 1836, 111, 219. — '" BernoulJi XV, 329. — 
iA (Wagner) Reise durch den Harz u. d. bess. Lande. Braunschweig 
1797, 214. — '■" Der reisende Dorfprediger 1800. — " Eernoulli 
XII, 309ff. — "^ Büttner: Pränner zu Tai; Anhaltische Bau- und Kunst- 
denkmäier, 380 (mit Abbildung). — '" J. A. Breysig: Gedanken, Skizzen, 
Entwürfe usw. Magdeburg 1799— ISOl, 251. — "<• ßernoulli IX s. Plan 
Nr. 53, — Die Vorliebe für derartige chin. Parasols reicht noch bis 
in die erste Jahrzehnte des neunzehnten Jahrh. hinein. (Graul 34.) 




150 

junger, aus Frankreich zurückgekehrter Mann wegen modischer 
Neuerungssucht streng getadelt, weil er sich in seinem englischen 
Garten chinesische Lusthäuser anlegen ließ.' Im englischen Garten 
zu München befindet sich noch heute ein chinesischer Turm, 
den Karl Theodor einmal „bis zum Gipfel" bestieg.^ im Garten 
des Grafen Clam zu Frag gab es zwei chinesische Vogelhäuser 
mit darauf sitzenden Schirme haltenden Chinesen," in VÖslau, 
einem Gute des Grafen Fries, eine chinesische Kolonnade;* in 
Laxenburg^ in Schönhof* chinesische Pavillons, in Roswalde tn 
Mähren Pagode ntempel,^ in Felsburg, in Entzersdorf, in Traut- 
raannsdorf, in Heimburg, in Esterhaz je ein oder mehrere 
chinesische Lusthäuser, z. T, »sehr gustos geziert".' In dem 
MarktHecken ManersdorF gab es ein Bad mit chinesischen 
Pavillons* und in dem PalRschen Garten zu Preßburg neben 
einem chinesischen Lusthause eine Nachbildung des Porzellan- 
turmes von Nanking/ 

Ganze chinesische Dörfer sah man bei Drottningholm, in 
Moulong^" und WeiOenstein bei Kassel; ^^ chinesische Brücken 
in Potz-Neusiedel an der Leitha^~ oder in Erlau beim Fürsten 
StRhremberg."* Einen Saal im chinesischen Geschmacke fand 
man zu Tiefurt bei Weimar, auch zu Niederweit,'* auch zu 
Iwanska in Ungarn."* In Hellbrunn bei Salzburg, in Traut- 
mannsdorf hatte man chinesisch dekorierte Bäder;'* in Esterhaz 
einen chinesischen Tanzsaal, in dem die Musikanten^ chinesisch 
kostümiert, zum Tanze aufspielten; Ferner Bndet man chinesische 
Theaierdekorationen häuHg erwähnt.'^ 

Will man sich aber einen Begriff von derartigen chine- 
sischen Saaldekorationen machen, so muß man in Nymphenburg 
die vom Maler Gumpp 1717 — 1718 ausgeführte .indianische 
Schilderei' im Speisesaal der Pagodetiburg'^ betrachten, oder 



So befand sicli in Magdeburg im HerrenJtrug, einem großen Volks- 
ganen, ein chmesisetier oder japAnisctier Schirm, der 1818 errichtet 
wurde u. bis 1856 dort stand. Vgl. Tolliii: August Wilh. Francke, 
Ceschichtsbliltter f. Stadt u. Land, Magdeburg XX, 27. Dieser Schirm 
erregte noch 1840 d&s gr&ßte Entzücken der Einwohner. Magdeb. Zeitung 
1840 Stck. 110. — ■ (Ambschel:) Die Briefrascbe aus den Alpen. 
Zürich 1780, IV, 111. — " Heigel 78. — " Bernoulli XII, 922. — 
* Ebd. XVI, 231. — f' Abgebi3det bei Grob mann, Heft 8, Tafel 6; Heft 38, 
Tifel 9. — " Auswahl kleirtCf ReisebeschreEbungen I, 29. — ' Ebd. 245, 
XIV, 72, X, 230, 243Ef. — » Ebd. 254. — » Ebd. X, 197, 198. — ^" Weber: 
Deutschland. Stuttg. 1834, 2. Aufl. IV, 340. — " (Wagner) Reise durch 
d. Harz 194. — " Bernoulli X, 231. — " Ebd. XIV, 86. — " Ebd. 
XIII, 7. — '^ Ebd. X, 226. ^ 1" Ebd. 249. — " Vgl. Goethe: Triumph 
der Empfindsamkeit Akt II. — J. A. Breyslg, Gedanken usw. 11, Nr. I€7b. 
— " Heigel 32. 




151 

man muß zu den Meistern der Cbinoiserieen in Frankreich 
gehen: zu Gillot, der seine Motive dem cbiaesischen Porzellan 
entlieh/ zu Watteau, der sein Schüler ward und das Schloß 
La Muette mit Chinesischen Figuren schmückte,^ zu Huet, dem 
Maler der Chinesen und der Affen in Cbantilly* oder endlich 
zu Boticher, von dem man heute zahlreiche Cbinoiserieen im 
Museum zu Besangon sehen kann.^ 

Wichtiger aber, als in diesen, im letzten Grunde betrachtet, 
dach nur spielerischen Nachahmungen chinesischer Architektur 
und Malerei zeigt sich der Einfluß Chinas in der Zier- und 
Gartenkunst der Zeit. 

Ich will von den chinesischen Gärten und ihrer Einwirkung 
auf den englischen Gartenstil hier nichts weiter erwähnen, da 
ich mich darüber demnächst an anderem Orte ausführlicher 
zu äußern gedenke. Von der Zierkunst jedoch gilt, daß in ihr 
der Einfluß Chinas kaum zu hoch veranschlagt werden kann. 
Wohl finden sich auch hier Dinge, die keinen höheren Wert 
als den der Spielerei, der Kuriosität beanspruchen dürfen; und 
betrachtet man etwa Einrichtungsvorlagen tn chinesischen 
Kabinetten, wie sie in dem Kupferstichwerke des Daniel Marot'' 
geboten werden, so wird man sich sogar eines sehr unangenehmen 

rEindruckes nicht erwehren können. 

f Solche Vorlagebücher wie das JHarotsche gab es aber eine 
große Anzahl; vor allem In England, wo außer dem bahn- 

.brechenden Buche von Chambers" eine ganze Reihe derartiger 

■Publikationen'' auf Chippendale, (geb. zwischen 1710 und 1720) 
den ersten der damaligen Möbel künstlet, gewirkt haben. 

Aber wenn auch, wie man wobl mit Recht behauptet,^ solche 
chinesischen Nacbahmungen von Chambers nur als ein Diver- 
tissement innerhalb der immer strenger, immer klassicistischer 
werdenden englischen Kuost der sechziger Jahre angesehen und 
geduldet wurden, so hat doch einer der ersten Vertreter des 
englischen Klassizismus, Adam, es nicht verschmäht, im Claydon- 



K 



d 



'■ Hannover 16. — " E ei Ide. Goncourt: Van au ISiime siäice. 
aris 1902, 1, 88. Abbild, b. Rosenberg 6fT., D'Arg«nty: Antoine 
Watteau. Paris 1891, 118. — « Oraul: Das 18. Jahrh. Dekoration u. 
Mobiliar. Berlin 1905, 18, wobei zu bemerken ist, daB Affen scbon in 
der iVlalerei des 17. Jahrb., wie bei Teniers d. J., eine große Rolle 
pielen. - ' Nr. 35029 - Nr. 35037. Goncourt: farl. I, 295, 296. - 
S. d. Abbild, b. Grau! 21. — " Chambers: Oe&sins des äditices etc. 
des Chinois. Londres 1757. — ■ Vergl. d. Buch v. Edwards u. Darley, 
ca. 1750, zitEert bei Muttiesius 1027. Halfpenny: New designs Tor 
Chinese Tetnples, Triumphales Arcbes, Gardenseats etc., 1750 ebd. 1030. 
Für Deutschland vgl, Grohmana. — ^ Graul 31. 




152 

House Räume im chinesischen Geschmack, mit chinesisclien 

Möbeln und chinesischen Türumrahmungen, — wie es scheint, 
von Chippendale - — einrichten zu lassen/ Späterhin hat noch 
Sheraton (1751 — 1806) einen Entwurf zu einem chinesischen 
Zimmer für den Prinzen von Wales geliefert.^ Und noch heute 
wird von Kennern das Stabwerk der Chippendale-Stiihle, dl^M 
nicht nur für die moderne englische, sondern für die moderne 
Möbelkunst überhaupt vorbildlich geworden sind, als bleibende 
Frucht dieser chinesischen Nachahmung angesehen. M 

Andererseits lassen sich die kühnsten und oFt auch die 
feinsten Freiheiten der Französischen Rokoko-Ornamentik, etwa 
der Cuvilli^s' zu Nymphenburg oder der deutscher KünstleiS 
zu Würzburg und Bruchsal, gaf nicht ohne den chinesischen 
Einfluß erklären.' 

Es liegt nahe, diese Betrachtung über den Einfluß Chinas 
auf die bildende Kunst des achtzehnten Jahrhunderts nicht zu 
schließen, ohne noch einen vergleichenden Blick auf die künst- 
lerische Einwirkung Ostasiens im neunitehnten Jahrhundert zisfl 
werfen, Gewiß unterscheiden sich beide Jahrhunderte in der™ 
Annahme der fremden Einflüsse wesentlich. Das Rokoko war 
historisch viel zu naiv, aber andererseits viel zu souverän, 
als daß es sich in dem Maße hatte beeinflussen lassen, wie 
es das neunzehnte Jahrhundert getan hat. Man kann viel- 
leicht sagen, daß das neunzehnte Jahrhundert die fremden Ein- 
Hüsse innerlicher verarbeitetete als das Rokoko, wo sie am 
Ende doch nur auf der Oberfläche liegen blieben. Wichtiger 
aber scheint mir zu sein, daß dieses der Wirklichkeit so ab- 
gewandte Jahrhundert sich gattz selbstsicher und launenhaft 
lieber verlieren wollte an die Reize esotischer und historischer 
Romantik — hierfür sei Chippendales Kunst, in der sich so 
seltsam die Liebe zu China und die Liebe zur Gotik mischen^* 
noch einmal Zeuge — als daß es, wie die wirblichkeitstreuere 
Schwester, technische oder Nützlichkeitslehren von den fremden 
Künsten zu gewinnen trachtete. 



Ein Blick auf die von China beeinflußte Literatur wird 
die gleiche Ansicht gewähren. Zunächst kann man von dieser 



'Graul3l.— ^Mulhesi US 1030, 103t. — "Graul 27, — 'MuIhesiuB 
1030, 1031. vgl. a. das von den Engländern stark beeinflußte Grab- 
mannsche Ideenmagazin, wo mehrfach auf ein und demselben Blatte 
etwa Vortagen für chinesische und gotische Brunnenverzierungen (Heft 2, 
Tafel 3) oder ehinesische und gotische Brücken gegeben werden {Heft m 
Tafel S.) 



I 




153 



r 



Betrachtung die polyhistorischen Schriftsteller, deren Gelehr- 
samkeit noch über die Antike und das Alte Testament hinaus 
immer erst bei China aufhört, wie es Kotzebue in seinem 
^jVielwisser" * so ergötzlich verspottet hat, ohne weiteres aus- 
schliefen. Und ebenso soll hier von den exotischen Romanen, 
die im siebzehnten Jahrhundert eine so große Rolle spielen, 
die aber allerdings nicht allzu hauHg bis nach China gelangt 
ind,- keine Rede sein. 

Wichtiger scheint mir die deutliche Spnr, welche die große 
EtaatsumwäUutie in Ostasien: der Sturz der chinesischen 
Katserherrschflft durch die Tataren (1644) In der Literatur des 
siebzehnten Jahrhunderts zurückgelassen hat. ^ Es ist natürlich 
nicht wunderbar, da& gerade ein Holländer dazukam, dieses be- 
deutsame politische Ereignis im fernen Orient als Stoff zu 
einem Drama zu verwenden» da, wie gesagt» die Niederländer 
■wegen ihres regen Handels nach Ostasien auch an jeder Staats- 
"Veränderung in China äußerst interessiert waren. Allein» es 
ist doch merkwürdig, daß ein so unmittelbar zeitgenössisches 
JEreignis in der Kunst des führenden Mannes der damaligen 
klassizistischen Dichtung, wie Vondel, einen so lebhaften 
"Wiederhail fand, und ohne eine starke e?Lotisch- romantische 
eigung kaum zu erklären. 

Indessen wird man von diesem Vondelschen Dratna nicht 
sagen können, daß es eine weitere Wirkung auf Europa aus- 
geübt habe. Die Einflüsse Chinas auf das europäische Schrift- 
■tum sind vielmehr an die, vor allem durch Du Halde,* ver- 
mittelte Kunde von der chinesischen Literatur selbst geknöpft 

So hat Voltaire, der beredteste Herold der Chinabegeisterung 
in Frankreich,* ein bei Du Halde mitgeteiltes, von P. Bremare 



t 



' Leipzig tan. — 'Vgl. Hagdorn: Aeyqqan oder der große Mogol. 

,, i, Chineisclie u- Indische Stahts-, Khegs- u, Liebesgeschichte. Amsier- 
«!am 1670. Happel: Der Asiatische Onogambo, darin der jeizi-regierende 
KayEer Xunchius 4l$ ein umbsch weifender Ritter , , , vorgestelJet wird. 
Hamburg 1673. — ' Joa$t van dem Vondel; Zungebin oder Onder- 
gang der Sineeischen Heerschappye (1Ö66) bei Jonckbloet: Nieder- 
ländische Literat urgesch. Deutsch v, Berg, Leipzig t872 IL 271, 272. 
— * Wie stsrk das D« HaJdesche Werk auch auf Deutschland gewirkt 
hat, zeigt Biedermann: Goetheforschungen, FrankFun a. M. 1879 PT. 
]. liSff. IIL J75ff. Der Aufsatz von E. WoJff: Die erste Beriihruiig 
des deutschen Geisteslebens mit dem chinesischen, Frankfurter Zeitung 

11. Februar 1902, war mir leider nicbt zugänglich. — ^ Vgl. Voltaire 
an d'Argenson U755) ^le ne vis plus qu'avec des Chinois*^. d' Argen son; 
Memoires 4ed. Jauner^ V, 67. Vgl. a. die Inschrift Abb6 Galianis unter 
das Standbild Voltaires. Correspond. II, 85. 




154 



(Primäre) übersetztes Drama eines chinesischen Dichters aüs 
dem vierzehnten Jahrhundert* für das französische The^iter 
umgedichtet^ das als „Orphelin de La Chine" 1755 aufgeführt 
wurde. ^ Und wenn Voltaire auch erklärt; ^La trag^die daB 
Tschao est loule barbare en comparaison des bons ouvrages de ™ 
HOS jours", und daß man sie hinsichtlich ihrer Regellosigkeit 
in der Vernachlässigung der Eintieit der Zeit nur mit den 
.farces monstrueuses de Shakespeare et de Lope de Vega, qu'on ^ 
a nommees tragedies' vergleichen könne, so fügt er doch hinzu: ■ 
,Qiais aussi c'esi un chef-d'ffiuvre, si on le compare ä nos 
piöces du quatorziäme siScJe".^ 

Auf das gleiche Studium de$ Du Halde geht auch Voltaires ■ 
berühmtes Kapitel in der Princesse de Babylon (1768) iürück,* 
in detn ganz, kurz, aber äu&erst charakteristisch die Muster- 
hflftigkeit des chinesischen Reiches und seiner Regierung gc- ■ 
schildert wird. Die Lektüre dieses Kapitels berührt den Leser 
von heute sicherlich viel sympathischer als die der Waise von 
Chinaj die trotz des stolzen Voltaireschen Programms: ,J'ai 
voulu peindre les mceurs des Tartares et des Chinois. Les 
aventures, les plus interessantes, ne sont rien, quand elles ne 
peignent pas les moäurs" ^ dagegen ganz konventionell und Farblos fl 
wirkt. Denn in der Beschreibung Chinas aus der „Princesse 
de Babylon" 6nden sich viel mehr Ansätze zum Stil der bizarren 
Chinoiserie im Sinne der Malerei und Architektur des acht- 
zehnten Jahrbutiderts, der in der Literatur mit Gozzis Turandot 
(1763) die Schiller (17SS) bearbeitete, vielleicht seine höchste 
Voltendung erreicht hat. In Gozzis Werk sind in der freien 
phantastischen Verbindung der chinesisch sein wollenden Grund- 
stimmung mit den typischen Masken der italienischen Komödie 
durchaus analoge Dinge geschaFFen, wie auf architektonischem 
Gebiete etwa in der Pagodenburg zu Nymphenburg oder in dem 
Chinesischen Hause Friedrichs des Großen zu Sanssouci. Das 
Rätselwerk im zweiten Akte von Schillers Turandot leitet dann 
auch leicht und ungezwungen zu Schillers Sprüchen des Kon- 
fuzius (1800)* über. 



' Thöätre de Voltaire. Paris 1777, V, 170. — - Über die übrigen 
Nacbahmungen und Umdjchtungen der Waise von Tschao vgl. Bieder- 
mann [, 116: „Auf dieses Schauspiel gründete Metastasio; L^eroe Cinese 
(komp. V. Gluck, Vien 1755. Riemann: Musiklexikon, 5. Aufl. Leipzig 
1900, 399), Murphy; The Chinese orphan Ein Student, FriedrichSt in 
Göningen ^Der Chinese". Über den EinfluO auf Goethes „Elpenor" vgl. 
Biedermann I, I77ff. - » Thöätre V, 172. - -> j v. - "• Thffätre 
V, 175, — * Vgl. zur genaueren Datierung Minor in Zs. f. d. A. XXIV, 49, SO. 



I 




15S 



Ein anderer Ausgangspunkt für die chinesischen Einwirkungen 
"^Huf die Literatur, vor allem Frankreichs, liegt in den Nach- 
ahmungen der Persischen Briefe A^ontesquieus <172l>, in denen 
die satirischen AusHille gegen heimische Übelstände mit Vor- 
liebe cbinesischen Reisenden in den Mund gelegt werden. An 
dem Gruudcbarakter dieser Schriften ist im Vergleich zu 
Montesquieu fast nichts geändert, nur die Maske ist modischer, 

^»ist chinesisch geworden, 

^B Ich weiß nicht, ob etws Montesquieus Vorgänger Dufresny^ 
auf das erwähnte Fassmannsche Buch, ,der auf Ordre und 
Kosren seines Kaisers reisende Chineser" (1721), einen Einfluß 
ausgeübt hat. Jedenfalls scheinen mir dort, wo die einzelnen 
europäischen Territorien und die einzelnen wichtigeren Ereignisse 
der europäischen Politik durch das Temperament des Chinesen, 
mit dem allerdings sehr wenig chinesischen Kamen „Herophilus" 
gesehen und beschrieben werden, die ersten deutschen Ansätze 
für eine derartig maskierte Gesellschaftssatire zu liegen, wenn 
auch das Interesse des Reisenden und des Polyhistors durchaus 

Kfiberwiegt. 

H In engster Anlehnung aber an Montesquieu^ ist die politische 
Satire Friedrich des Großen „Relation de Phihihu, g^missaire de 
l'empereur de la Chine en Europe*,* entstanden. Sie stammt 
aus den für Friedrichs Stellung so außerordentlich kritischen 
ScbluGjahren des Siebenjährigen Krieges und ist gegen den Papst, 
der sich ganz auf die Seite seiner Gegner gestellt hatte»* 
gerichtet. „C^est l'aboiement d'un epagneul pendant un gros 
tonnäre, gronde, qui emp6che de Fentendre", schreibt der König 
an die Freundin von Sachsen-Gotha, der er dieses Werklein 
sendet." 

H^ Ob d'Argeas' , Chinesische Briefe", die nach seinen „Lettres 

^■juives" (!73S> Im Jahre 1739 erschienen, den König zu dieser 
Satire inspiriert haben, vermag ich nicht zu sagen. In der 
,Epitre au Marquis d'Argens", wo anläßlich des Phihihu das 
JWontesquieusche Vorbild und die „Lettres juives' erwähnt sind, 
ist davon weiter nicht die Rede/ D'Argens' chinesische Briefe 
schließen sich überdies ebenso wie der „espion chinois" (1766) 
4er Goudar zugeschrieben wird und sich neben dem «espion 



[ 



J Hettner241, SoreJ: Montesquieu, dtsch. Ubers. Berlin 1896, 21. 

Oeuvres de Fred£ric le Grand XII, 148. ~ ■'' Cologne 1760. — 
(Euvres XIX, 147ff. * „Le but e*t <!e donner un coup de patte au pape qui 
binit les öpöes de mes ennemis et qui fournit des asiles ä des moines 
parricides" CEuvres XIX, 144. - '' 5. M£rz 1760. (Euvres XVIH, 177. - 
,» S. 0. CEuvres Xll, 148. 



L 



frangais" (1779) und dem „espion anglais (1784) in der zeit- 
genössischen Literatur findei, ganz an die „Leltres persaones an". 
Dieselbb chinesische Maske hat auch Friedrich der Große 
gewählt, als er Voltaire Tür die erwähnte Epistel an Kien-Iong 
dankte, die der Dichter ihm (4. Dez. 1770) übersandt hatte, 
und die schmeichelhaFte Anspielungen auP den König enthält.' 
Er antwortete Voltaire iu den „Vers de TEmpereur de la Chine"- 
als Kien-lonfi selbst; 

Manichou chinoisö mon tapabor en tdre 

und schließt mit dem heiteren AusTall gegen den jesuitenfeind- 
lichen Dichter: 

Aux rives de \a. mer je vole en pa.lanquLni 
Les vents et mon vaisseau me retidronf ä P^kin, 
Ou candis qu'au couctiant tout ressent le desordre, 
Je chasserai chez moi saint Ignace et san ordre." 



Ähnlich eröirnet Wieland seinen »Goldenen Spiegel" (1772) mit 
einer Vorrede des chinesischen Übersetzers dieser Schrift aus 
dem „Schechiflnischen" an seinen Kaiser Ton-tsu.* Und ab- 
schließend sei hier noch auf die Stelle aus Merciers Utopie 
„L'an 2440" verwiesen, an der sich der Verfasser mit dem 
chinesischen Mandarin über das nach europäischen Geschmack 
umgewandelte Ghina unterhält. Merciers Phantasie erweist sich 
aber dabei als ziemlich dürr. Er kommt, wenn er den Mandarin 
sagen läßt: qLe bäton ne r^gne plus ä la Chine ... Le petit 
peuple n'est plus lache et Fripon, parce qu'on a tout fait pour 
lui eJever l'äme: de honteux. chätiments ne le courbent plus dans 
l'avilissement; il a re^u des notions d'honneur. — Notre 
empereur conduit toujours la charrue» mais ce n'est point une 
vaine ceremonie, ou un act d'ostentation",^ nicht über die ein- 
fache ümkehrung der von den Zeitgenossen am meisten gerügten 
Mißstände hinaus. Demgegenüber erscheinen die Prophezeiungen 
des Ahbfe Galiani, die er mehrfach in die Briefe an Mmc. d'Epjtiay 
eingestreut hat,"* viel witziger und phantastischer, ganz abgesehen 
davon, daß Galiani bei aller Bizarrerie viel richtiger prophezeit 
hat, als Mercier. 

Aber während in solchen Beispielen das chinesische Element 
an der Hauptsache kankaturenhaft erscheint, die bisher noch 



' Voltaire XllI, 278. — ^ CEuvres XIII, 3öff. — = Ebd. 39. - 
* Wieland (Hempet) XVlil, 5ff. — ■■ L'an 2440, 368. — " Correspondance 
in^dite 1765—1783), Paris ISIS, 27. April 1771, 1, 269, 24. Juli 1773, II, 2W. 



157 

nicht genannten Äußerungen bei Hamann und Lichtenberg, '- 
erreichen darin den Höhepunkt, während in solchen Beispielen 
versucht wird, die rokokomäßigen Forderungen nach der bizarreti 
und minutiösen Groteske zu befriedigen, wie sie Voltaires Ge- 
dicht auf die chinesische Pagode am stärksten betont,^ so tritt 
die von Rousseau beeinflußte junge Generation ganz anders 
auf, wenn sie chinesisch sein will: sie setzt an Stelle des 
I Witzes gatit im Sinne Rous&eaus das Sentiment, 
I Es ist merkwürdig, daß Herder bei der Ällseitigkeit seiner 

Sammlung kein chinesisches Gedicht in die „Stimmen der 
Völker" (1778 und 1779) aufgenommen hat. Indes beruht das 
Fehlen chinesischer Gedichte unter jenen Volksliedern wohl 
nur auf der damals noch sehr mangelhaften Kunde von der 
chinesischen Lyrik in Europa.* Man findet aber schon vordem 
Herderschen Buche unter den Dichtungen der im Gotiinger 
Musenalmanach vereinten Poeten Gedichte im chinesischen 
Gewände, die durchaus die neue Gesinnnung zum Ausdruck 
bringen. Hier hat sich vor allem Ludwig August Unzer, der 
auch ein Buch über die sinesischen Gärten schrieb' mit seiner 
chinesischen Nänie oder Von-ti bei Tstn-pas Grab" einen Namen 
gemacht. In demselben Bande finden sich auch chinesische 
Sonnelte, die den Gegensatz solcher Dichtungen der Rousseau- 
zeit zu den literarischen Chinoiserieen des Rokoko vielleicht 
noch anschaulicher machen. 

Es erübrigt noch, ehe man sich zu Goethe wendet, der 
auch diese chinabegeisterte Strömung in der Literatur des 
achtzehnten Jahrhunderts abschließt und krönt, einen Blick auf 
den poliiischen Roman Hallers: „Usong, eine morgenländische 
Geschichte"" zu werfen. Er hat in mehr denn einer Beziehung 
Ähnlichkeit mit den satirisch-utopistischen Romanen Voltaires, 
vor allem mit der Princesse de Babylon, Aber was diesen 
vor dem Werk seines großen schweizerischen Gegners aus- 
zeichnet, fehlt dem Usong, wie auch dem von Haller beeinfluDteo 



1 Hamanns Sctirifren, Berl. 1821, IE, „Des Landes, ein Autor von 
enzyklischem Witze lial eine cüinesische Kaminpuppe für das Kabinet 

■ des gaHicianischeti Geschtnaclies hervorgebracht." 15, s. a. 403, 405, 
517, IV, 25, 53, 54, 77, 90, 92, 172, 264, „die allgcmeyne Liberey, welche 
Ober des chinesischen Kaisers Bart mit ebenso viel Deutlichkeit raisonnicrt 
und rhapsodiert wie der blinde Homer" 459. — Lichtenbergs Ver- 
mischte Schriften^ Göttingen 1803, V, 273, — '' Voltaire s. o. — * Vgl, 
Biedermann II, 427. — * Lemgo 1773. — * Eraunschweig 1772, — 
Gdtting. Musenalm an. 1773, 57—63, bei Biedermann I, 115, wo avch 
der Name Unzers fehlt, Fälschlich Thicina statt Tsia-na, — " Bern 1771. 




158 



Goldenea Spiegel Wielands gacz: die spielende Leichtigkeit 
uDd der Witz, der alle in Betracht kommenden Frsgen nur 
pointiUistisch notiert, ohne sich um ihre Erledigung im geringsten 
zu kümmern. Er wirkte schon gleich bei seinem Erscheinen 
nicht nur um seiner reaktionären Gesinnung willen, sondern 
auch vor allem wegen der bürgerlichen Schwerfäiligkeit seiner 
Helden und Heldinnen altfränkisch. Die von Goethe und 
Merck herausgegebenen Frankfurter «Gelehrten Anzeigen" ver- 
kündeten sein Erscheinen 1772 folgendermaßen: „Es hat der 
Herr Präsident von Haller bei den wichtigsten Geschäften und 
unermüdeten Bemühungen für das Reich der Gelehrsamkeit 
Muße übrig gefunden, auch Für die unteren Seelenkräfte des 
menschlichen Geschlechtes zu sorgen und die jetzige deutsche 
Welt mit einem Werke zu bedenken, das man füglich den 
persischen Telemach nennen könnte." ^ 

Aus dem ziemlich konventionellen chinesischen Milieu $ei 
nur die Beschreibung eines Gartens hervorgehoben, die für 
diese Zeit der Vorliebe für die chinesischen Gärten charak- 
teristisch ist, und die in dieser Beziehung Haller ganz in den 
Bahnen Rousseaus, des von ihm so hartnäckig bekämpften 
»VergiFters der GesellschafE"^ erscheinen laQt: »Des Unter- 
königs Palast hatte hinter sich weit ausgedehnte Gärten zu 
liegen. Aus einem nahen Hügel quollen häufige Wasser, die, 
bald in Teiche gesammelt, seltenen Fischen oder schöngefiederten 
Wa&servögeln zum Aufenthalt dieneten, und bald als schlänglichte 
Ströme durch die Waldung schlichen, die aus einer Verschieden- 
heit von Bäumen, bald einzeln, bald in kleinen Klumpen, bald 
auch in Reihen gepflanzt waren. Ein Tal, umringt mit be- 
wachsenen Hügeln, wurde von einem reinen Bache durchflössen, 
und endigte sich durch einen Felsen, den aber auch die Kunst 
aufgeführt hatte, wodurch ein heimlicher Gang gekrümmt nach 
einem zweyten Garten führte. Dieser endigte im Gebüsch, das 
unzugänglich schien und dennoch einem FuQwege offen war, 
der nach einem Tempel auF dem Hügel leitete."'* 

Bei Goethe, der, wie Biedermann in seinen GoetheForschungen 
nachgewiesen hat,' der chinesischen Literatur manche Anregung 
verdankt, spielt die satirische Chinoiserie keine weitere Rolle. Es 
findet sich auJSer den erwähnten chinesischen Grotten nur eine 
Stelle dieser Art, das Epigramm »Der Chinese in Rom", das der 



n 



^ Baeclitold: Gescbicbte der deutschen Literatur in der Schweiz. 
Frauenfeld 1892, 507. — ' Ebd., 506. — = Usong 19. — * J, 1131 
ll,^426ff. lU, 173ff. 



k 



m 



150 

klassizistische Goethe gegen den romantischen Jean Paul ge^ 
gerichtet hat. Die Abneigung des dem klassischen Ideal der 
edlen Einfalt und stillen Grij&e zugewandten, gegen das bunte, 
bewegte Groteske der Jean Paulschen Muse kommt auf das 
stärkste zum Ausdruck, venn er den romantischen Dichter mit 
einem Chinesen vergleicht,* der nach Rom kommt und über 
die schwere klassische und klassicistische Architektur sein Er- 
staunen und Bedauern äußert: 

qAch!*^ so seufzte er, „die Armenl leb hoffe, sie sollen begreiTea, 
Wie erst Siulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, 
Oas an Latten und Pappeji, Ceschnit2 und bunter Vergoldung, 
Sich des gebildeten Auges feinerer Sinn nur erfrein."^ (1797). 

Was aber Goethe an der chinesischen Literatur besonders 
anzog," war durchaus nicht das Bizarre, Groteske, wie es in 
der Vorstellung des Rokoko vom chinesischen Schrifttum lebte, 
sondern im Gegenteil die „klare, reinliche, sittliche" Art ihres 
Empfindens. Wie sich das achtzehnte Jahrhundert bei näherer 
,iCenntnis immer mehr über den Phantasiemangel in der bildenden 
UQSt der Chinesen entrüstete^* so fand es auch, däO es threti 
Gedichten an „kühnen Metaphern, erhabenen Gedanken und 
rührenden Gemälden" fehle.'' Dies aber hob gerade Goethe 
Eckermann gegenüber, der von der chinesischen Literatur ganz 
die Vorstellung des Fremdartigen, Phantastischen halte, rühmend 
hervor: „Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne 
groDe Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch 



f ^ Jean Pauls Helden reden mehrFach von ihrer Vorliebe für China, 
vgl. besonders „Hesperus". — ' Weimarer Ausg. iL, 132. — * Ruten- 
berg gibt (v. Roiteck und Welcker: Staatslexikon XtV, 520 AlTona 
1843) folgenden merkwürdigen Crund Für die Vorliehe Goethes für 
Chinesen an: ,VorläuHg i^l durch dus Studium der chtnesisehen Sprache 
dem Abendländer der Genuß jener reichhaliigeti Literatur bereitet worden, 
deren allgemeine Verbreitung auch nicht wenig zur Beruhigung mancher 
exaltierten Köpfe beitragen würde, wenn man dieselbe statt der so- 
genannten klassischen Literatur zur Einschulung der jungen Generation 
benutzte. Von dieser Einsicht waren sChon einzelne erleuchtete Männer 
unseres Vaterlandes, lange vor der Zeit durchdrungen, seit welcher durch 
den Vorgang Goethes während der sogenannten Freiheitskriege die Auf- 
merksamkeit auf die Literatur des himmlischen Reiches in großen 
Kreisen gerichtet wurde. Dieser Heros unserer Literatur vermied be- 
kanntlich jedes ihn unangenehm Berührende dadurch, dass er sich dem 
Heterogensten zuwandte. Und so läßt sich erklären, warum er zur Zeit 
jfner Kriege das Studium der chinesischen Literatur und überhaupt 
de$ himmlischen Reiches vornahm"; vgl. dagegen BJedermxnn psssim, 
— ' Raynal 111, 201. — ^ Schiller, China, 22. Diderot nennt die 
«hinesen anation sans embousiasme" IV, 45. 




160 



viel Ähnlichkeit mit meiaem 'Hermann und Dorothea*, sowie 
mit den englischen Romanen des Rich&rdson. Es unterscheidet 
sieb aber wieder dadurch^ daß bei ihnen die äußere Natur 
neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die GoIdSsche 
in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den 
Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter uod 
sonnig, die Wacht imtner klar."* So ergötite sich Goethe vor 
Allem an den lieblichen „Situationen" in den chinesischen 
Romanen, wo Mädchen in zierlichen Rohrstühlen sitzen oder 
mit ihren kleinen Füßen auf einer Blume balancieren, ohne 
sie zu knicken.^ Ja, es ist nachgewiesen, daß gerade die 
stärksten Bilder in den ^»chinesisch- deutschen Tageszeiten", 
dem Gegenstück des west-östlichen Divan wie dieses: 
„Schlanker "Weiden H aarge zweige" ^ 

unmittelbar auf das chinesische Vorbild zurückgehen. * Hier se! 
auch noch auf das Gedicht ,Die Lieblichste*^ (4. Februar 1S20) 
hingewiesen, das den Untertitel „Chinesisch" führt.* 

Es ist bereits oben darauf aufmerksam gemacht worden, 
daß die Metastasiosche Nachahmung der , Waise von China" 
Gluck zur Komposition seiner Oper „L'eroe cinese" begeisterte. 
Zur Ergänzung sei noch ein chinesisches Singspiel „Le Chinois 
poji en France", das Gluck 1756 komponierte," erwähnt. 



1 

I 



Auf die philosophische Literatur, in der die Chinesen 
gleichfalls eine sehr bedeutende Rolle gespielt haben, will ich 
hier nicht näher eingehen, doch seien einzelne hinweisende 
Bemerkungen zur Vervollständigung des Bildes gestattet. Fast 
alle namhafteren Philosophen der Zeit haben irgendwie zu der 
Philosophie der Chinesen, von denen man sogar sagte, daß bei 
ihnen und nicht bei den Griechen der Ursprung aller Welt- 
weisheit zu suchen sei, ^ Stellung genommen. Ich finde, daß 
Descartes mehrfach die Chinesen zur Exemplißzierung heran- 
zieht,* daß Vossius (1618 — 1689) ein so begeisterter Anhänger 
Chinas ist, daß Abbd Dubos, als er ein anonymes Buch, in dem 
China sehr hoch gepriesen wird, liest, ohne weiteres a 



I 



1 Eckermann, 31. Januar 1827; vgl, a. die Goetheschen Tagebüche 
vom 31. Januar, 2. 3. 5. Februar bei Biedermann II, 428. — ^ Eckcr- 
manti s. o. — ' No. VllI, Weimarer Ausgabe IV, 113. — • Bieder- 
mann II, 44L — '' \PeEmarer Ausg. Vj, 50 EF. — " Riemann 399, vgl. a. 
Hagedorn (Eschenburg V,9n Brief Ä.Bodmer 30. März 1746. — ' Großes 
universales Lexikon, Art, sinesischc Philosophie, Sp. 1625. — * Werke 
deutsch V. Kircbmann^ Berltp 1870, I, 37, 40 usv- 



1 

'4 




161 



Vosstus als Verfasser rät,' daß Vico des örteren Chinesen er- 
wähnt,- daß Leibniz sich auf das Angelegeatlichste mit China 
beschäftigt," daß endlich Christian August WclEf eine Lobrede 
auf die Weisheit des Konfuzius hält/ 

Als Gegner der chinesischen Philosophie führte Diderot, 
der den betreffenden Artikel für die Enzyklopädie geschrlebea 
hat, Buddeus, '' Heumann, ^ Gundling'^ und Thomasius^ an." 

Die Hauptfrage, die auch von den Missionaren immer 
^wieder erörtert wird, ist die, ob die Chinesen Atheisten seien 
oder nicht. Die Dominikaner bejahten sie, die Jesuiten ver- 
Tieinten sie. Voltaire^ der die Chinesen zuerst daFtir gehalten 
hatte,'" rühmte sich später, als erster gegen diesen Irrtum auf- 
getreten zu sein/^ Holbach stimmte ihm bei: «On a quelque 
fois cru, que la nation chlnoise ^toit ath6e, mais cette erreur 
est due aux missionairs chrgtiens." Er Führt aus^ daß das 
"Volk im Gegenteil abergläubisch sei und schließt: „Si Tempire 
de La Chine est aussi tlorissant, qu'on le dit, il fournlt &u 
moias une preuve tr^s forte, que ceux, qui gouvernent, n'ont 
pas besoin d'etre süperstituenx pour biert gouverner les peuples 
<qui le soot",'"- Helvetius nannte sie Materialisieo.'^" Goethe 
f^and, daß ein mit dem Jesuitenmissiocar Ricci streitender 
Ohinese Ansichten vertrat, die mit der von ihm so geliebten 
Spinozistischen Philosophie in Einklangstanden,** und Katharina II. 
3itierte in einem Briefe an den Fürsten von Ligne die Lebens- 
Tnaxime eines angeblich chinesischen Weisen: ^te meilleurmoyen 
«A'fiviter la tentation etait d'y succoniber." 

Am meisten interessierte die Menschen des achtzehnten 
Jahrhunderts die ihrem Wesen am nächsten stehende praktische 
Philosophie der Chinesen: die Morallehre des Confucius „des 
chinesischen Sokrates", von der Diderot sagte, sie sei seiner 
Metaphysik durchaus überlegen. Diesem Interesse entsprangen 
die populären Anthologien aus den Philosophischen Büchern 



» Dubos: R^tlcxions CritiquCs etc. Paris !755. — * Grundzügc einer 
neuen Wissenschaft, deutsch von Weber. Leipzig 1822, 52 ff., 90. — 
* M^moircs de l'acadfirnie des Bciences \1Q3, 165. Vorrede zu den 
novis&iina Sinica ]&&!. KorthoLdt: Epistolae Lelbnitii. Leipz. 1734 pasSim. 
— ' Oratio de Sapicnlia Sinarum Confticiana. 1726. — ■'' Historia philo- 
sopbica Vi, 37. — ^ Acta pbilosophorum 1, 750 PF. — ' Historia philo- 
SOphiJie moralis Halle 1706, cap. V. — " Gedanken über neue Bücher 
vom Jabre 1689, 599 ff. — " Diderot XIV, 122. — '" Voltaire XII, 27.— 
'1 Ebd. XIII, 279, 287. XV, 89, 277. XLVIII, 20Iff. — '« Systeme de 
la nature, P«ris 11, 376, Anm. 92. — " Oeuvres II, 259, — '* Bieder- 
m&na 111, 130. - " Sboroik XXVli, 168. 

11 



162 

der Chinesen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr- 
hunderts/ oder vergkichenJe Darstellungen über die orien-' 
talischen Religioosstifter, wie das Buch von Psstoret: Zoroastre, 
CofiFucjus et Mahomet (I7S8). Bezeichnend ist, diiB die chine- 
sische Mystik, auf die sich das Hauptinteresse unserer Tage 
gerichtet hat, so gut wie gar nicht erwähnt wird. 



Diese Betrachtungen über die Chinabegeisterung in der 
europäischen Kultur d^$ achtzehnten Jährhunderts dürfen nicht 
abgeschlossen werden, ohne daß einen Augenblick Ung noch 
bei den Einflüssen Chinas auf das festliche und das alltägliche 
Leben der Zeit verweilt würde. ^ 

»Einen ganzen Winter lang, den Winter von 1767, unterh!el|| 
sich Paris', so erzählen die Brüder Goncourt,^ „von einem 
Feste, jenem berühmten chinesischen Balle, wo man vierund- 
zwanzig Tänzer und vierundzwanzig Tänzerinnen im Kostüm 
des himmlischen Reiches hatte tanzen sehen . . . die vom Herzog 
von Chartres und von der Gräfin Egmont angeführt wurden." 
Vielleicht ist es kein Zufall, daß in demselben Jahre zu PreQ- 
burg, im Palßschen Garten ein chinesischer Festin gegeben 
wurde, auf dem fünfzig Kavaliere und fünfzig Damen des Hofes, 
unter ihnen die Erzherzogin Christine in chinesischen Kostümen 
aus gelber Seide, die mit blauen Drachen bestickt waren, vor 
J^arift Theresia und Joseph II. tanzten, auf dem sogar der 
Kaiser von China seihst auftrat unter einem von sechs Chinesen 
getragenen Baldachin^ Der Reisende, der dieses Fest beschreibt, 
ruft aus: „Ich bildete mir ein, in China zu seyn» so natürlict 
war alles angegeben." " 

Solche Feste bildeten damals keine vereinzelte Erscheinung:' 
tanzte doch hei der „prächtigen BauernwirtschaflFt so für ihro 
Zaarische Majestät bey dero Anwesenheit zu Wien am Kayser^| 
hofe gehalten wurde (169S) ein chinesisches Paar.* Fand doch 
in Lanschitz 176Q ein chinesisches Pferderennen statt,^ be- 
wunderte man doch 176S in Trautmannsdorf die groQe chine- 
sische Illumination, die sogar im Bilde festgehalten wurde,^ 
feierte man doch in Kitsee bei Esterhaz 1770 ein chinesisches 
Gartenfest.' Auch der Prinz Heinrich von Preußen gab 
Rheinsberg solche romantischen Feste. Als die große Lan 



% 



f 



'- Vgl, „chinesische Gedanken". WeEmar 1776, — * Goncouri: La 
femme 67. — * Bernoulli X, 197, 198, — * Lünig I, 158: Die Tänzer 
waren: Graf Maximilian Breuner und Frau von Hamilron. — ■* Bernoulll 
X> 218. — » Ebd. 237, — '• Ebd. IX, 290. 




163 



r 



gräßn von Hessen dort zu Besuch weilte, erschien vor ihr, der 
die Rolle der Anne d'Autriche zuerteilt war, eine Siamesische 
Gesandtschaft, die altes chinesisches Lackgerät als Geschenk 
brachte, um ihr zu huldigen/ Ja, darüber hinaus schuf man 
sich für die Tremden Gestalten eine eigene fantastische Bühne: 
Die Schattenbiihne, auf der der Lothringer Seraphina in Paris 
zu diesem Zwecke gedichtete Stücke aufführte. Anfangs mit 
geringem Erfolge, doch bsld vermochte es die Vorliebe der 
Königin Marie Antoinette Für China, daß die „ombres chinoises* 
eine große Beliebtheit gewannen. Sie wurden während des 
Karnevals 1770 dreimal wöchentlich bei Hofe vorgeführt.^ Zu 
Anfang der achtziger Jahre kamen sie durch den Prinzen Georg 
von Metningen auch an den Weimarer Hof.'' 

In der Begeisterung für das chinesische Wesen hatte man 
sich so sehr gewöhnt, alle Erscheinungen, auch des äußeren 
Lebens nach chinesischem Vorbilde zu beurteilen, daß man zu 
der merkwürdigen, uns heute schwer begreiflichen Forderung 
gekommen war, für das weibliche Schönheitsideal seien die 
«petits yeux ä la Chinoise" unerläßlich.'' Man wurde hierin 
so naiv, d^ß z. B, ein Reisender von den Chinesinnen sagte: 
sie würden auch in Frankreich artig sein, weil sie kleine, aber 
sehr lebhafte Augen ,ä la Chinoise" besäßen,* Von der 
Beobachtung schritt man zur Nachahmung, es sei hier unter 
den modischen Frisuren die „Chinoise" erwähnt.^ 

Auch die kleinen Füße der Chinesinnen beschäftigte die 
Phantasie der Zeit. So äußert sich Casanova: „Obgleich 
sie (Giulietta) sorgfältig ihre Füße verbarg, so genügte doch 
ein verräterischer PantoPfel, der unter ihrem Rock hervorsah, 
um nur zu zeigen, daß sie im entsprechenden Verhältnis zu 
der Höhe ihres Wuchses standen: dieses aber ist ein unangenehmes 
Verhältnis, das nicht nur Chinesen und Spaniern, sondern über- 
haupt allen Männern von verfeinertem Geschmack mißfallt',' 



' Hamilton II, 40 If. Vgl. auch die chinesischen Feste beim Grafen 
Hodiz KU Roswalde in Mätiren. Auswahl kleiner Reisebeschreibungen 1,28, 
— In Paris trug ein beliebtes Vergnügungslokal den Namen „Pavillon 
chinois". Goncouri: La femme 237. Über ^banquets ä la ctiinoise" 
vgt. Le vrai Thßätre de la chevalerie. Paris 1648. — '' Ktöpper: Franz. 
Reallex. 1, 846. Vgl. auch das Chineser Spiel, mit 180 in KupTer ge- 
stoclienen Abbildungen usw. Fürth 1819. — ^ Biedermann I, 115. 
Über chinesische Schatten vgl. a. Jean Paul: Kesperus. — * Goncourt: 
ta femme 318, vgl. a. Hamann II, 406. „Sulianin des herrschenden Ge- 
achmacks mit chinesischen Augen." — '' Reise des Herrn v. M . . . 
Teutscher, Merkur 1775, 1, 143. — " Goncourt: la femme 302. — 
^ Casanova I, 134, 135. 




164 

So führt Herder ic der „Bildhauerkunst für Gefühl" (1769) aus: 
.Der größere Fuß des Griechen, die gröQerea Zehen . . . sind 
bei ihnen Natur, und daß e$ schönere Natur sei, zeigt diese 
Kunst, die Körper als Körper bildet. Man stelle in der Bild- 
hauerkunst unseren kleinen Fuß . . . hin. Welche Figur? Und 
woher finden vir sie denn im gemeinen Leben schön? Das 
machen die Kleider. Ein kleiner Fuß, der sich kaum xeigi, 
läßt raten . . . Das sind gotische Begriffe einer romantischen 
Verkleidung, an die wir unsere Augen verwöhnt haben. Woher 
der kleine FuB? Weil eine chinesisch-gotisch-christliche Zucht 
die Kleider bis zur Erde hängen läßt."^ So schreibt Rousseau 
an D'Alembert <175S): „une jeune Chinoise avan^ant un bout 
de pted couvert et chauss6 fera plus de ravage k P^kiit, que 
n'edt fait la p]us belle ßlle du monde dansante toute nue au 
bas du Taygete.'- So erwidert ein Franzose dem chinesichen 
Reisenden Sieau-tscbeou, der ihm erzahlte, wie man in China 
den Frauen, um sie ans Haus zu fesseln, die Füße verkrüppele, 
mit Lachen: „wenn Sie die Gemütsart unseres Frauenzimmers 
wüßten, so würden Sie garnicht auf die Gedanken fallen, 
daß man sie dadurch zu Hause erhalten könnte, wenn man 
ihnen kleine Füße macht. Sollte man ihnen auch die Füße 
glatt wegschneiden, so würden sie auf den Sturzein laufen."" 

Überallhin verfolgt die Erinnerung an Ghina den Menschen 
dieser Zeit, Immer wieder mischt sie sich in sein Denken, sein 
Fühlen, seine Handlungen, seine Gespräche. 

«Nach dem Abendbrot zogen sie (die Damen) sich zurück, 
und wir haben stehend, das Nachtlicht in der Hand, noch ein 
wenig philosophiert ... Es haudelte sich um die Chinesen, " 
heißt es dafür sehr bezeichnend jn den an hübschen Augen- 
blicksbildern so reichen BrieFen Diderots an seine Geliebte 
Sophie Voland.^ 

Endlich scheint die Bezeichnung , chinesisch" geradezu ein 
Kosewort gewordeii zu sein, Ich kann die Eintragung des 
Grafen Stolberg (8. May 1778) in das Brocltenbuch »o, wgre 
mein liebes, kleines chinesisches Mädchen bei mir** kaum 
anders deuten. 

Demgegenüber begreift man den Stoßseufzer des Abb£ 
Galiani, mit dem hier dieser Abschnitt geschlossen sei: «Blicken 



• Herder ^Supha^) VJII, 90, 91. — s Ausgabe von 1795, XI, 347. 

— " Des Herrn Marquis d'Argens chinesische Briefe. Berlin 17Ö9, 1, 15. 

— • Diderot XVHI, 464. — ^Jahrbücher des Brockens. Magdeburg 
1791, 136. 



165 



^ 



Sie auf den Fortschritt der Sitten, wir verfallen in die Mono- 
tonie. . . — An den beiden Enden des groDen Kontinents 
Verden auf der einen Seite die Chinesen, auf der andern die 
Europäer wohnen: zwei Nationen, die sich ungefähr gleich sind. 
ie werden dieselben charakteristischen Merkmale haben, einen 
bsolutismus, wohl temperiert durch die Formen^ durch die 
endlose Dauer zäher Rechtshändel, durch die Sanftheit der 
Sitten; sie werden viele Soldaten haben und wenig Tapferkeit, 
viel Industrie und wenig Genie, viel Volk und wenig glückliche 
Menschen. . . ■ In rund hundert Jähren werden wir also Chinesen 
sein. Ich vergni3ge mich schon damit, mir die Nsse platt zu 
drücken und die Ohren lang zu ziehen, mit vielem Erfolge; 
arbeiten Sie auch Ihrerseits daran, Ihre Füüe zu verkleinern.^ 

■ »Mit Recht konnte jemand", sagt Dr. Dapper (1976), ,,Sina 

^einen kurtzen Begriff des Erdbodens, oder ein Edelgesteyn des 
Rings, d. i. der Welt nennen; als worin« mehr kostliche Dinge 
zu Bnden, als vielleicht so zu sprechen in dem gantzen übrigen 
Theil des Erdbodens."- Marperger setzt in seinem „Nutz- und 
Lust-reichen Plantagen Traktat" China als Symbol des Reich- 
tums der „Arabia deserta <d. i. ein Volck- und Nahrungloses 
»Land)'' gegenüber.^ Beleck rühmt in seiner „Reisebeschreibung 
um die gantze Welt", daC in China «alle Kostbarkeiten gantz 
Orients gleichsam concentriert seien".* Helvetius wendet sich 
gegen Rousseau mit der Erklärung, daC China das weiseste, 
am besten kultivierteste, am stärksten bebaute Land sei."^ 

Diese Zeugnisse, denen man muhelos eine große Anzahl 
ähnlicher hinzufügen könnte, geben im wesentlichen den Ton 

Hui, in dem man im achtzehnten Jahrhundert von China sprach. 
Und dieser Ton blieb trotz der kritischen Mahnungen der 
d^tracieurs, die immer mehr, Schritt für Schritt und Stück 

^Bim Stück, die Glorie des .Himmlischen Reiches" zu zerstören 

E ' Correspondance II, 204, — ^ Dapper 9. — " Dresden 1722, 75. 

Vgl. a. Löbneys Hof-, Staats- und Regierkunsl. Frankfurt a. M. 1670. 
«Denn was bilfFt es den Untertbanen, wenn sie unter eLnem Fücsien 
wohnten . . . der sie alle an zeitlichen GiJtern reich machte als die 
mSchligsie Leute in China ... und hätten bessere Tage als die in den 
Insulis ronunatis wohneten, wüßren aber nicht von Gott" etc. — * Magde- 



burg 1755, 70. 



U 



CEuvres VI, 173, 






lee 

trachteten, bis noch weit in die zweite Hälfte des achtzetinten Jahr- 
hunderts der maßgebliche. Die Chinesen galten nachher wie vor- 
her trotz der geriogen JV\einung, die sich über ihre künstlerischen 
Fähigkeiten gebildet hatte, die aber gerade in der RousseauzeitJ 
durch die Begeisterung für die so „natürliche' chinesische" 
Gartenkunst,' nahezu paralysiert wurde; trotz ihres Fremden- 
hasses^ über den sich die europaischen Gesandten in ihren 
Reiseberichten immer wieder beklagten; trotz der „Friponnerie* 
ihrer KauFleule^ auf die das handeltreibende Europa nicht aufhortej 
zu schelten, ' als «le peuple le plus poll, le plus juste, le plui 
sage".^ 

Diese Ansicht erhält man auch durchaus noch bei Raynal 
wo die dgtracteurs fast frontartig gegen die Panegyriker auf- 
marschieren.* Selbst Diderots Aussprüchen über die Chinesen, 
die bisweilen sehr heftig klingen, darf man nicht zu großes 
Gewicht beilegen; sie tragen Fast immer mehr einen gelegentlich 
als grundsätzlich feindlichen Charakter. Rousseau hat sich nur 
wenig über die Chinesen geäußert. Die Stellen, an denen er sich 
gegen sie wendet, haben ihren Grund in der altgemeinen Kultur- 
feindlicbkeit seines Discours von 1750, über den Diderot, an- 
läBlich des Kaisers L'Y-Vang-Ti, der alle Bücher, ausgenommen 
über Ackerbau, Architektur und Medizin verbrennen ließ, einmal 
sehr launig bemerkte: „Hätte Rousseau diesen historischen Zug 
gekannt, was hätte er nicht daraus allein zu machen verstanden! 
W^ie hätte er die Grundsätze des chinesischen Kaisers heraus- 
gestricheal"^ Im übrigen hat Rousseau, soweit ich es sehe, 
die politischen Vorzüge des Chinesen ganz im Sinne seiner 

< Unzer; Üb^^r die chinesischen Gärten, Lemgo 1773, 7, B. — » .A la^ 
Cbine passe 1» friponneri« pc»ur une galanterie." Lange^ Journal: 1721, 
1722, 233. Salmon: Die heutige Historie und der gegenwärtige Staat 
von allen Nationen et«. Alfona 1732, 74. Montesquieu: Bsprit des 
Idls. XIX. cp. 10. Teutscher Merkur 1775, I, 254. Drastischer in dem 
kleinen Dialog bei Raynal 1, 218 tf. Europeen: „Chinois tu m'as vendu 
de mauvaises marchandises." Chinois: „Cela se peut, mais it faut paycr." 
E. „Tu as blesse les lois de la iuscice et abusä de ma connance." Ch. ^Cs\» 
se peuf, mais iL Taut payer." E. „Mais tu n'es donc qu'un fripon^ un mal- 
heureux?" Ch. „Cela se peut, mais il faut payer." E. „Quelle opinion 
veux-tu donc que je remporte dans mon pays de ces Chinois, si renommfs 
par leur sagesse? Je dirai que vous n'etes que de la canaille." Ch. ^Cela 
se peut, mais il Faut payer/ — Darauf zahlt der Europäer, der Chinese 
nimmt das Geld und sagt: „Europeen, au lieu de lemp^ier, comme tu 
vlens de Faire, ne valoit— 11 pas mieux de se laire et eommencer par 

od tu as flni? car qu'y as— tu gagne?" Vgl, a, 0. GoJdsmich: Versuche. 

Basel 1780, 163. — '•> Voltaire: Princesse de Babylon SS,— ' Raynal 
204ff. - f' Diderot: XVIll. 6. Nov. 1760. 




167 

Zeit anerTtannt. Jedenfalls blieb China unbestritten das älteste 
Land, das nur mit Indien,^ mit dem Reiche der Pharaonen'' 
um das Vorrecht der Erstgeburt rang, das lange vor den Griechen 
eine blühende dramatische Literatur besaD,^ das Romane hatte, 
als die alten Deutscheo noch in ihren Wäldern lebten^* es 
blieb das bcvölkertste Land, dessen Menschenmenge, wie Du Halde*^ 
sagte, titibeschtei blieb war, das an Größe und Einwohnerzahl das 
gesamte Europa übertraf;" es blieb vor allem das reichste, das 
fruchtbarste und in dieser Beziehung das schlechthin vorbildliche 
Land. 

Um sich vorzustellen, wie stark der Eindruck war, den die 
Nachrichten über die ungeheuere Volksmenge Chinas, von der 
Faßmann berichtete, die Portugiesen hätten in ihrer Bestürzung 
über die Fruchtbarkeit der Chinesen gefragt, ob denn ihre 
Frauen zehn oder zwölf Kinder auf einmal zur Welt brächten," 
auf Europa und vor allem auf Frankreich machten, muß man 
daran denken, wie sehr sich das politische Interesse des acht- 
zehnten Jahrhunderts mit den Theorieen iiber die Bevölkerung 
beschäftigte.^ 

Die BevÖlkerungs lehre des achtjehnten Jahrhunderts ging 
vor allem davon aus, zu erweisen, daß seit der Antike eine 
starke Herabminderung der Volksmenge in Europa zu kon- 

1 Voltaire XVII, S54. — ' Vgl. Montesquieu: Esprit XVllI. 
Kap- 6. Voltaire: XIII, 279, XXV, 7, XXVIII, 38, XXXXVII, 329, 527, 529, 
XXXXVIII, 221. Huetius: Geschichte der Handlung und Schiffahrt der 
Alten^ Frankfurt und LeipzEg 1763 30, 31. De Guignes: Memoire 
dxns Icqucl on prOuve que les Chinois sant une colonie ^gyptienne. 
Paria 1759. Leroux DeshauteSrayes: Doutes sur la dissertation de M, de 
Guignes, qui a pour titre: Memoire danä lequel etc. Paris 1759, De 
Guignes: R£ponse aux doules proposes, de M. Deshautresrayes. Paris 
175Ö, Monboddo: Von dem Ursprung und Fortgang der Sprache, 
Riga nS5, 264, 265, Aieiners; S, o. paSsim. Pauw; „Rechcrches philo- 
sophiquBs" etc. s. a. Gothaiscbe gelehrte Zeitung 1778. 258, 269, 519, 
Dülaii Zwei vergessene Berner Gelehrte des 18, Jahrhdts- Neujahrs- 
blätter d. Li(. GeseJIsch. Bern 1893, 17. — * Voltaire VI, 403, 4Ö5. — 
'' Eckermann, s. o. — '' Du Halde> Ausfuhr], Besebreibg. d. chines. 
Reiches, II, 18. — " Galiani: Correspondance II, Ö6, Quesnay, 579. 
A. Sri Li b 293 ff, Bemerkungen über Indien und China von G. 
(Archenholtz: neue Literatur- und Völkerkunde 1787, I, 164, 165], 
V, Ereiienbauch 141. 142. Raynal 1, 177, 180, III, 178. — ' Reisender 
Chineser I, 32, 33. Unverzagt erzählt in seinem Gesandcschafis- 
bcricbte, daJl man in China die N^aren auf den Straßen nicht ötfenc- 
lich ausrufen könne, weil man sich „für Gescbrey und für Menge 
des Volkes" die Ohren zustopfen miisse (138, 139), und daß der Kaiser im 
Sommer vor der Menge der Einwohner seiner Hauptstadt und vor ihrem 
üblen Geruch Hieben müsse. — " Pritz Wolters, Studien über Agrar- 
zusiändeundAgrarprobleme in Frankreich, 1700 — 1790. Leipzig 1905, 17Slf. 




IflS 



statieren sei. Man hatte die Ansicht gewonnen, daß sich die 
Menschheit langsam durch innere Erschöpfung vermindern 
mü&se. Nach Vossius, der diese Frage zuerst erörtert zu haben 
scheint, wurde sie in England hauptsachlich durch Wallace, in 
Frankreich durch Montesquien und d'Argenson, durch die 
Physiokraten» Rousseau, Raynal, Necker und Condorcet ver- 
treten-' 

Man glaubte ferner, daß diese Entvölkerung mit dem 
augenblicklichen TieTstande der Landwirtschaft eng zusammen- 
hänge, da man ja einst — es wurde das antikische Beispiel der 
kleinen griechischen Republiken angerührt, — auch auf einem 
kleinen, aber gut bebauten Gebiete, eine große Bevölkerung 
unterhatten hatte.'^ 

Das historische Beispiel schien durch ein gegenwärtiges in 
vollem Umfange bestätigt zu werden: durch China, das selbst 
im Verhältnis zur ungeheueren Ausdehnung seiner Provinzen 
eine ungeheuere Menschenmenge ernährte. 

Man bat die Berichte der Missionare, die ziemlich ein- 
gehende Erkundungen über die Zahl der chinesischen Be- 
völkerung angestellt haben, zunächst Fast kritiklos hingenommen^ 
und sich weniger für die Tatsache: für das Vorhandensein 
solcher ungeheueren Volksmenge, die von den Engländern in 
den neunziger Jahren auf rund 333 Millionen geschätzt wurde,* 
als für die Ursachen dieses Faktums interessiert. Erst in den 
letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ist man, wie es scheint, 
kritischer geworden. Abb6 Grosier, der 1787 die Einwohner- 
zahl Chinas nach P. Amiot auf 200 Millionen hezilfert, bemerkt 
ausdrücklich, daß man in Europa daran nicht glaubet! wollte.' 
Hüttner hat sich in seinem Reiseberichte (17&3) für die 
Richtigkeit dieser Angabe ausgesprochen," de Guignes dagegen, 
der in den neunziger Jahren sehr umfassende statistische 
Untersuchungen vornahm,' verhielt sich allen diesen Be- 



' Friti ^C'ollers 179, ISO. - ^ Ebd. 181, 182- - ' Un CBlculateur, 
d'ailEeurs exacte, assure que la Chine ne poss^de quc so^sanl« et douzc 
milliflns d'habitants; mais, par Je dernier döriqmbrenient, rapporte par le 
P. du Halde, on compte ces soixante et douze mülions, sans y comprendre 
les vieill^rds, les jeuTics gens au dessous de vingt ans, et le bonze^; 
ce qui doit a]!er k plus du dpuble- H faut arouer qiie d'ordinaire nous 
peuplons et ddpeuplons la terre un peu au ba^ard; tout le monde se 
conduit ainsi, nous ne sotnmes gu^re faits ppur avoir uns notione exacte 
des cboses; la peu pr^s est notre guide, et souvent ce guide £gare 
beaucoup. Vcfltaire, CEuvres XU, 186, — ' de Guignes 111, 67. — 
" Beschreibung von China. Straüburg 17S7, I, 340^ 343. — " Hüiiner, 
173, 174. 111, 55 ff. 



169 

nchtigungen gegenüber sehr skeptisch. Er gelangte» indem er die 
Arbeiten der französischen Statistiker d*Expil]y und Messancre 
heranzog, die mit ihrem exakten Material die Wallaceschen 
Theorieen heftig bekämpften' zu dem Resultat, daß weder die 

^ Chinesinnen fruchtbarer seien als die Frauen Fraiikreichs,^ noch 
daß die Bevölkerung Chinas die der anderen Länder überträfe.^ 
Indessen das Faktum interessierte vie gesagt zunächst weniger 
als die Ursache. Montesquieu erklärte sie durch die Starke 
Zeugungslust der Chinesen, die er einmal aus einem seelischen, 
zum anderen aus einem physfschen Grundtriebe ableitete. So sagt 
er im 120. Briefe der „Lettres persannes"» die Freude der 
Chinesen an einer zahlreichen Nachkommenschaft, entspräche 
einer gewissen Art des chinesischen Denkens: „comme les 
enfants regardent leurs p^res comme des dieux, quMIs les 
honoreal apräs leur mort par des sacrtßces, dans lesquels ils 
croient que leurs ämes, an&antis£s dans le Tien^ reprennent 
une nouvelle vie, chacun est port^ & sugmenter une famille si 
soumise dans cette vie et si n£cessaire dans l'autre".' So 
äußert er sich im „Esprit des lois": Die Fische, nach ihm 
ein Hauptnahrungsmittel der Chinesen, lieferten in ihren Öligen 
Teilen wesentlich den zur Zeugung notwendigen Stoff, oder mit 
seinen Worten: „cette mati^re qui sert ä la gfinfiration".'* Voltaire 
glaubte, daß die Polygamie, die die Frauen in die Serails ein- 
schließt und so den Ehebruch unmöglich macht, dem Wachs- 
tum der Bevölkerung günstig sei. Andere sahen in der Einfach- 
heit und MäOigkeit der chinesischen Lebensweise, in der Ge- 
sundheit des Klimas, in der Seltenheit und Unblutigkeit der 
Kriege, in der Verachtung des Zölibates oder selbst im Tee' 
genuQ die Ursachen, „die bewirken, daß es keine Gegend der 
ganzen Welt gibt, die ebenso wie China bevölkert ist".^ Endlich 
gab Abb6 Grosier außer dem von Montesquieu bereits er- 
wähnten fünfzehn verschiedene Gründe Für die Fruchtbarkeit 
der Chinesen an.' 



* FriiK Wolters 180, 181. — » 111,69. — " ebd. 79. — * Vgl. auch 
Raynal I, 188. — ^ Esprit XXIII, Kap. 13. — ^ Raynal I, 1S8. III, 176. 
— ^ Grosier I, 341. „1. Die Schande, die dem Andenken derer an- 
klebt, die ohne Nachkominen sterben. 2. Die allgemeine Sitte, welche 
die Verheiratung ihrer Kinder zur wichtigsten Angelegenheit der Väter, 
und iWütier macht. 3. Die Ehre, die der Staat den Witwen zuerkennr 
die nicht wieder zur zweiten Ehe schreiten. 4. Die häufigen Annehmungen 
an Kindes Statt, welche den Familien aufhelfen und ihre Stämme fort- 
pflanzen- &. Rückfall der Güler an den Hauptstaram durch Enterbung 
der Tochter. 6. Die Eingezogenheit der 'Weiber, welche sie geßilliger 




170 

Den Umstand, daß China ohne groQe Beschwerde seine 
ungeheure Volksmenge zu ernähren schien, erklärte man sich 
aus der Gunst seines Klimas* und der Vortrefflichkeit seines 
Bodens, der an mehreren Stellen zweimalige Ernte im Jahre 
hervorbrachte,^ vor allem aber aus den Tugenden seiner Be- 
wohner und der Weisheit seiner Regierung.' 

„Teile est l'industrie des laboureurs et ils sont si durs 
au travail et si inFaiiguables,** hatte der P. du Halde gesagt, »qu'il 
n'y a point de province, qui ne seit träs Fertile et, qu*il n'y 
en a pas de guerres, qui ne puisse Faire subsister In multitude 
inconcevable de ses habitanls."* Daher sind alle Tage Tage der 
Arbeit, nur der erste Tag ist frei für die „devoir de sociätä", 
wie der letzte Tag im Jahre ausschließlich der Ahnen Verehrung, 
dem ,culle domestique" geweiht ist: ,Le culte public c'est 
Tamour de travail,"'^ 

Indessen hatte Montesquieu ausgeführt, daß der Boden 
Chinas, so fruchtbar und gut bebaut er auch sei, kaum genüge, 
seine Einwohner zu ernähren. Die Folge davon sei, daß man 
die „nützlichen Künste* pflegen, ,die des Vergnügens aber 
fliehen müsse". ^ Er rühmte auF der anderen Seite aber die 



gegen ihre Männer macht, sie vor einer Menge von Zußllen in ihrer 
Schwangerschaft schützt und sie zwingt, sich mit der Sorge für die Er- 
ziehung ihrer Kinder zu beschäftigen. 7. Die" Ehen der Soldaten, 8. Die 
Un Veränderlichkeit der Abgaben, welche alle auf die Lindereien gelegt 
sind und also nie anders aEs miiielbar auf den KaufTnann uad den Hand- 
werker wirken. 9. Die geringe Anzahl der Seeleute und ReisendeA. 10. Die 
Menge derer, welche nur zu gewissen Zeilen in ihren Häusern sind. 
11. Der liefe Friede, der im ganzen weiten Reiche herrscht 12. Die 
mäßige und afbeitsame Lebensart, selbst der Großen. 13. Der Mangel des 
Vortirtcils in Ansehung der Mesalliancen. 14. Die alte Klugheitslehre der 
Politik, nur dem Mann uitd nicht dit; Familie zu erheben, den Adel nur 
an gewisse Würden zu ktiüpfen und Talenten zu erteilen, ohne ihn erblich 
werden za lassen, 15. Die Reinlichkeit der Sitten unter dem Volk« 
und die Unbekanniheit mit dem Laster der Galanterie." — Vgl. auch die 
satirische Bemerkung in Tiecks ^lungstem Gericht": „einige Statisiiker 
Freuien sich laut über die große Population im Himmel, indem sie die 
Ursachen der BevÖikerung bald dem Klima (vgl. Montesquieuy, bald der 
Staatsverfassung (vgl. Quesnay) zuschrieben." — ' v, Breitenbaach, 
87.— ' Hübner, Reales Siaatslexikon, Leipdg 1717, 396, 397. DuHalde 
D£»criplion I, 15, II, 65. v, Breitenbauch 93. Stounton 238, 239. — 
* „Oberhaupt bat China, das eines der angebautescen Länder in der 
Welt ist, den glücklichen Fortgang seines Ackerbaues, seinen einfältigen 
Sinen, sowie seinen Gesetzen zuzuschreiben, die von der Natur und von 
der Vernunft gebilligt worden sind.'^ Die Jesuiten in China, 76; vgl. 
auch Quesnay, CEuvres, ed. Oncken 625. — * II, 64. — * Raynal 
I, 182, ISi — « Esprit VII, Kap. 6. 



jheit der chinesischen Gesetzgeber, die die schädlichen Ein- 
wirkungen des erschlaffenden und zum Müßiggang reizenden 

I asiatischen Klimas dadurch beseitigt halten, daß sie in ihrer 
Religion, ihrer Philosophie, ihren Gesetzen, besonderen Nach- 
druck auf die praktische Werklätigkeit und Pflichterfüllung ge- 
legt hätten. ' Ähnlich , wie sich Quesnay dafür begeisterte, 
das in China Politik und Moral „ein und dieselbe Wissenschaft" 
seien. - 

I Die d^tracteurs hingegen erklärten ohne weiteres den 
Fleiß der Chinesen für eine Not, die durch das Mißverhältnis 
ihrer Einwohnerzahl und ihrer Produktion erzeugt -werde, 

[■aus der man nur künstlich eine Tugend gemacht habe." Sie 
erwähnten auch ,die barbarischen Mittel", wie Kinder- 
aussetzung und Kindermord, deren sich die Chinesen be- 
dienten, um der Übervölkerung ihres Landes zu steuern,* und 
betonten die zahlreichen Hungersnöte, deren Folgen bereits 
Montesquieu in den schwärzesten Farben geschildert halte.'' Dar- 
auf erwiderten die Panegyriker mit dem Hinweis auf das er- 
habene Beispiel Spartas/ dessen Gesetze die Kinderaussetzung 
atisdrücklich gestatteten» oder indem sie spottend fragten, ob 
denn die zwangsweise Einschließung der Madchen itt die Notinea- 
ktäster Europas von einer aufgeklärteren und weniger grau- 
samen Gesinnung zeuge, als die Aussetzung der Tochter in 
China?' Sie suchten die Tatsache der „grausamen Hungers- 
nöte'' dadurch zu mildern, daß sie an die Vorsorge der Kaiser 
Für Getreidemagazine in Notjahren erinnerten,^ die Kaiser 
Kang-hi dem notleidenden Volke geöffnet hatte/ über die der 
auch im achtzehnten Jahrhundert vietgelesene Verfasser^" des 
neupolierten Geschicbts-, Kunst- und Sittenspiegels sich schon 
1670 SO enthusiastisch geäußert hatte.'^ Sie konnten sich 
auch nicht genug tun, die Geschicklichkeit der Chinesen in 
der Ausnutzung des Bodens und die Intensität ihrer Land- 
wirtschaft zu preisen, ,wo kaum ein Fuß breit Landes" un- 
bebaut sei,^^ wo man weder Hecken, noch Gräben, ja kaum 



^ Esprit XIV, Kap. 5. — * tEuvres 605; vgl. a. d'ArgCnson: Memoircs 
cl Journal (td.Jannet) Paris 1 858 V, 310. — *Raynal 1,222. — ^ Raynal 
1,223. — " Esprit VIII, Kap. 21. — " Grosicr II, 99. — ^Hclvctius II, 
156, — * Lettrcs ßdiflantes III, 709 ff., Raynal I, 156, Pallas-Lange 142, 
Salmon 83, Slounton 121. — « v. Breitenbauch 12. — '" Bieder- 
mann 180fr. — " „Siehe, so rühmlich wird in Sina die Arm uC versorgtl 
Werde rot. Du falsches Christentum! Denn dieses Heydenthum macht 
dich zu Schanden und wird künlftig, wenn die Vergeltung geschehen SOU' 
Weniger Streiche leiden als du." — '^ Neuhof 265, Dapper H, 122. 



172 



einen Baum sähe, so sehr fürchteten die Chinesen, auch nur 
eiaen Zoll Landes zu verlieren/ ivo selbst die Berg« angebaut 
seien, indem man mit vieler Mühe Terrassen auf ihren Ab- 
hängen angelegt habe, um das Herabgleitea der Erde zu ver- 
hindern. ^ 

In gleicher Weise rühmten sie die ,culture des eaux" der 
Chinesen^ die das ganze Land mit Kanälen durchzogen hatte, 
welche in gleicher Weise dem Landbau zur Bewässerung der 
Äcker, wie dem Handel zur Erleichterung des Verkehrs dienten.^ 

Auch gedachten sie ihrer Sorglichkeit in der AufsammluDg 
der Abßille zu Düngerzwecken, die so weit ging, daD man die 
«Überbleibsel vom Bartputz' dazu aufhob, ja, mit menschlichen 
Exkrementen Handel triebt Der Holländer Van Braam, der in 
China große Schiffsladungen Tierknocben sah, bemerkt dazu: 
,Man verbrennt sie und streut die Asche davon auf die Felder . . .* 
Dieses Verfahren soll den Boden sehr fruchtbar machen.* Diese 
Weisheit, die uns heute so selbstverständlich erscheint, macht 
auch für die damalige Zeit einen etwas rückständigen Ein- 
druck, da schon 1550 im „Praedium rusticum" Knochendüngung 
erwähnt wird.^ 

Bis in das Detail hinein gingen die Beobachtungen der 
Reisenden und die V ergleich ungen, die sie zwischen den 
chinesischen und heimischen Gepflogenheiten anstellten. Die 
einzelnen Verfahren im Pflügen und Säen, die Schmal beetkultur 
und ähnliche Dinge wurden in Europa kaum mit größerem 
Interesse diskutiert, als sie von den Chinareisen den wenigstens 
in den neunziger Jahren erörtert wurden/ 



1 Du HnHe Beschreibg. IJ, 65. — * Rayos.! 1, 179, Slounton 121, 
vRn Braüin 1,180. — 'Dapper22, Yssbrants Ides 353. Unverzagt 147. 
Du Halde, Beschreibung I, 77. v. Breite nbaucti 80. Quesnay 578,579. 
Stounton 228, 239. de Guignes !> 195. — Genaue Beschreib, b. 
Grosier I, 309ff., des Kanales Yun bei Äthan. Kircher, China 
Illusirata etc. Amsterdam 16S7, 21&. — * Erasin. Franciscus 1403. 
Dapper 122. Salmon 49. Stounton 279ff. Anderson 58^ 59. 
V. Braam 1, 124. — " ebd, Beschreibung IL 71. — " Fraas, Gesch. 
d. Land^aues u. d. Forsiwissens<:h. München 1865^ 55. — ' So sagt 
z. B. Siounton: „Die Chinesen pHügen aUemal nach Süden hin» 
indem sie mit der rechten Hand den FAug regieren. Auch in Eng- 
land hat man die Bemerkung gemacht, daß die südliche Seite der 
Felder weit besser bewachsen ist, als die nSrdlicbe. Vielleicbt wird in 
England Nordwest die besfe Richtung seyn, sowie Süden in China, 
die feinde im Frühling und Herbst fast nie daher wehen" (232), 
vsn Braam^ der sich in China mehrfach an seine Heimacprovinz 
erinnert fühlte (1,36), vergleicht die Kultur der chinesischen Beete 
den Anpflanzungen in den holländischen Gemüsegarten (11,111). 



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ina, weil ^H 

1). Odef ^M 

l Utrecht ^H 

leete mit ^H 



173 



Ja selbst die landwirtschaftliche Mechanik der Chinesen 
'triumphierte über die europäische. ^ Die Engländer, die im Gefolge 
Lord Mflcartneys nach Peking kamen> brachten Zeichnungen 
von den chinesischeTi Bewässerungsmaschinen nach Europa,^ 
die um die Jahrhundertwende auch in Deutschland bekannt 
vurden.^ De Guignes schickte das Modell einer solchen 
Maschine an die Pariser Akademie.^ Van Braam erwarb einen 
chinesischen Pflug, den er in Europa heimisch zu machen ge- 
dachte/' Indessen hatte man den chinesischen Pflug in 
Frankreich schon durch den P. d'Incarville kennen gelernt, und 
Abb€ Rozier hatte ihn in seinem Cours complet d'agriculture 

^H1783} abgebildet, genau beschrieben und Vorschläge zu seiner 
Adflptierüng an den schwereren französischen Boden gemacht." 
Schließlich mündete die Begeisterung für das einzelne in 
den allgemeinen Hymnus Filangieris aus: ,Est-il, en Europe, 
un peuple qui puisse dire, comme l'industrieux Chinois: La 
terre que nous habitous est employ6 tout enti^re ä pourvoir ä 
Dotre subsistence; nous ne partageons point avec les b€tes 
sauvages ses productions pr6cieuses; le nz, qui est notre 
Premier aliment couvre toute Ia surface de notre vaste Empire; 

Bles eauK des fleuves sont, en quelque sorte, elles mfimes des 
surfaces sur lesquelles nous elevons, quand cela nou^ est 
possible, nos habitations mobiles; nous avons bäti sur elles 

Bnos vtllages flottans, pour ne point d^rober ä la culture eette 
portion de terre qu'occuperoient les maisonsj"'' oder van Braams, 
der, die ganze europäische Agrarhewegung aus der zweiten Hälfte 

Kdes achtzehnten Jahrhunderts ignorierend, emphatisch erklärt, da Q 
^die Chinesen in der Ackerbaukunst in nichts den Europaern nach- 
stehen, daß sie sogar den Vorteil haben, Jahrhunderte anführen 
zu können, seit denen sie diese Kunst auf einen Grad von Voll- 
kommenheit brachten, während man bey uns nur seit einigen 
Jahren alte Methoden und im Allgemeinen nur mit geringem 
Erfolge zu verbessern angefangen hat".'^ 

Wichtiger aber als diese Eigenschaften der chinesischen 
Landbevölkerung mußten den Staats- und GesellschaFtstheoretikern 
der Zeit die Maßnahmen der Regierung in China erscheinen, 
[durch welche sie ihre Ackerbau treibenden Untertanen immer 



i 



^ Über die landwirtschaftliche Mechanik in Europa vgl. Fraas, passim. 
» Anderson 117. — ^ CrohmanriL Ideen-Magazin. Hefr XVII, Tafel 10. 
Heft XVIII, Tafel 6. Heft XX, Tafel 7. — * 1, 264. Nähere Beschreib. 
II,251ff. " Ml, 39. De Guignes II, 11. — «ebd. 111,81 ff. — 'Gaelano 
Füaneieri: La science de la legislarion. Paris 1786. II, 30 IT. — » 11^ 174. 




174 




wieder zu den größtmögltchsten Anstrengungen anzuspannen 
verstand. Merkantilisten und Physiokraten mußten sich in diesem 
Interesse an den chinesischen üegierungsmaximen durchaus 
begegnen: die einen vom Standpunkt der „landesFürstlichen 
WohJfahrispoLizei"/ die andern von ihrer grundsätzlichen Vor- 
liebe für den Ackerbau und von der Quesnayschen Ansicht 
ausgehend, daß in der „Bebauung der Erde mit größtmöglichstem 
Erfolge** die hauptsächliche Ursache für das Gedeihen einer 
Nation beruhe. Noch 1762 äußerte sich daher der merkanti- 
listische Staatsrechtslehrer von Justi in Hinsicht auf China 
folgendermaßen: „Der Zustand des Ackerbaues und die Menge 
der Nahrungsmittel, welche gewonnen werden, kommt garnicbt 
hauptsächlich auf die natijrliche Fruchtbarkeit des Bodens an. 
Ein träges^ faules und in dem Ackerbau unwissendes Volk kann 
dem fruchtbaresten Boden sehr wenig nutzen, dahingegen ein 
HeiDiges und geschicktes Volk einen ziemlich unfruchtbaren 
Boden allerdings fruchtbar machen kann. Der Ackerbau ist 
also nicht eine Sache, welche die Regierung denen ohngefähren 
Neigungen des Volkes überlassen kann; sondern ihre Vorsorge 
muß den Fleiß und die Geschicklichkeit der Unterthanen hierzu 
auf alle An ermuntern."^ 

Das Interesse an diesen Fragen führte zum Studium der 
chinesischen Geschichte. Man betrachtete das Wirken der 
einzelnen Kaiser, man las ihre alten Gesetzbucher, die der 
P. Hervieu herausgegeben hatte, und gelangte zu der Über- 
zeugung, daü in der Tat die Hochschätzung des Ackerbaues 
einzig und allein auf die Initiative d&r chinesischen Kaiser 
zurückgehe, die nicht allein durch ihr Beispiel vorbildlich wirkten, 
sondern die vor allem den Bauernstand mit Ehren überhäuften, 
während die Fürsten der anderen Nationen ihn immer mehr zu 
Sklaven herahzudrücken suchten-* 

Man erfuhr bei diesem Studium der chinesischen Geschiebte, 
daß der Ursprung des Ackerbaues in China auf den Kaiser 
Ching-Nong (2837 v. Chr.), öden Kornbauerdencker"/' „den himm- 
lischen Ackersmann* * zurückgehe, der auch der Erßnder des 
Ackergerätes und der erste Lehrer in der Kunst, die Getreide- 
arten zu unterscheiden," gewesen sei. Man lernte — leicht und 
glücklich bot sich wiederum der Vergleich mit den antikischen 



4 
4 



I 



1 Gustflv Schmoller, Grundriß der allgetneLden Votkswirtschifts-^ 
lehnt, Leipz. 1900, I, 88. — ^ CEuvres, 643. — ^ Justi, 291, 292, —'' 
' ebd. 30611. - ' Erasiti. Frantiskus 1403. — '' Du Halde: Be-i 
Schreibung 1, 273. — ' D 4p per 124. 



175 



^ 



g 



Vorbildern an — daß Kaiser Yao (2375 v. Chr) sich seinen 

Nachfolger Chun vom Pfluge geholt habe, dem wiedemni ein 
schlichter Landmann in der Regierung folgte: Yn, der das 
Geheimnis erfand^ verschiedene Kanäle zu öffnen und durch 
dieselben das überflüssige Wasser, mit dem damals einzelne 
Gegenden Chinas noch bedeckt waren, nach dem Meere ab- 
zuführen. Man begeisterte sieb Für Kaiser, wie Kan<rang, der 
e Äcker verteilt und Grenzsteine gesetzt hatte, für Tscbao- 

:ang, der die Klagen der Bauern gehört und unter einem heiligen 
ejdenbaume Recht gcsprachcn, für King-rang, der die Länder' 
Verteilung und die Ackergesetze erneuert hatte, vor allem aber für 
Ven-tt (17B V, Chr.), der eigenhändig seinen Garten umgrub, um 
durch dieses erhabene Beispiel sein in langer, verheerender Kriegs- 
zeit entmutigtes Volk aufs neue zum Ackerbau aufzumuntern.^ 
I Die größte Bewunderung, das größte Entzücken aber riefen 
Im achtzehnten Jahrhundert die beiden alten symbolischen Acker- 
feste der Chinesen hervor: das Frühlingsfest und die Eröffnung 

er Erde durch den pflügenden Kaiser. Unzählige Male sind 
diese Feste in jener Zeit beschrieben worden; ^ man scheint nicht 
müde geworden zu sein, ihre Schilderungen immer wieder zu lesen^ 
I Ich wähle hier anstatt der bekannteren, am häufigsten 
zitierten Beschreibung des Du Halde ^ die knappere aus dem 
Langescheu Tagebuche, da& Pallas herausgegeben* hat: ,Alle 
Jahre im Frühling begiebt sich der Kaiser nach Sien g-Nong- tan 

erbaut durch Yonglo 1406)'^ der Anhöhe der alten Ackersleute, 



' Du Halde: Beschreibung 11, 83]r. — - In den Schriften des 
siebzehnten Jahrhunderts Fand ich nur zwei Stellen, die diese Feste 
erwättnen: Erssm. Franciscus I40& u. Dapper, 124. — ' Hi Be- 
schreibung 67ff, vgl. a. Grosier II, 96Ef. — ■• v. Breitenhauch, 86. 
* Pallas-Lange, 144, 145. Ober den religiBsen Ursprung vergJ. 
Grosierll, 162, 163: Man lieset ausdrücklich im Li— ky, einem der alten 
canonischen Bücher: „Es ist zu dem Tsi (dem Opfer für den Himmel), 
äAü der Katser selbst in dem südlictien Kiao pHügt, um das Getreide, das 
man davon erndtet, im Opfer darzubringen. Auch ist es zu dem Tsi, 
daß die Kaiserin und die Prinzessinnen Seidenwurmer in dem tiördl. 
Kiao ziehen, um Opferkleider aus der gewonnenen Seide zu machen . . . 
Venn der Kaiser und die Prinzen die Erde pflügen; wenn die Kaiserin 
und die Prinzessinnen Seide ziehen, so geschieht dies aus Ehrfurcbt, wo- 
mit sie sich gegen dert Geist, welcher das Weltall beherrscht, durch- 
drungen Fühlen; es geschieht, um diesen Geist nach dem gr&ßen und 
]ill«n Religions&ystem zu ehren." Über Analogieen bei anderen Völkern 
s. Erasm. FranCisCuS 1416. Montesquieu, Esprit XIV cap. S. Vergl, 
la. Costaz: Histoire de l'administraiicin en France Iä34, I, 151, 152 und 
'das Walam Olum, das heilige Buch der Delawaren. Brinton: The 
Lenäp^ and their legends. whith ihe eomplete text and Symbols of the 
,Walam Olum (Library of Aboriginal American Litterature V (1885). 




176 

das Feld zu bestellen. Auf dieser Anhohe opfert er vorher dem 
Himmel. Sowohl der Ort, als die für den Kaiser eingerichteten 
Wohnungen sind nicht prächtig; die Ceremonie selbst aber ist 
ehrwürdig und verdient bemerkt zu werden. Der Kaiser pflügt 
einen kleinen Raum, der mit einer Matte bedeckt ist. Nachdem 
er sich eine halbe Stunde damit bescbärtigt bat, begibt er sich 
auf ein großes Gerüste^ von wo er die Fürsten und Staats- 
bedienten oder Mandarinen in den offenen Feldern pflügen sieht. 
Solange der Kaiser pflügt, singen mehrere Bauern alte Lieder 
ab, die von der Wichtigkeit des Ackerbaues handeln. Der Kaiser 
sowohl als die Fürsten und Großen sind wie Ackersleute ge- 
kleidet, die AckergerätschaFten sind sehr zierlich gemacht und 
werden in einem besonderen Gebäude aufbewahrt. Das Ge- 
treide^ welches nachher auf dem vom Kaiser und den Großen 
bestellten Feldern eingeerndtet wird, wird in besondere Vorraths- 
häuser gebracht. Man bemerkt dabey sorgfältig, wie das Getreide 
geräth, indessen bemüht man sich zu zeigen, daß dasjenige, 
welches auf dem vom Kaiser selbst bestellten Felde wächst, eine 
viel reichere Erndte gebe, als auf den übrigen. Man bäckt nach- 
dem von diesem Getreide Kuchen, die bei verschiedener Ge- 
legenheit dem Himmel (Changti) geopfert werden. Der Kaiser 
bereitet sich zu dieser Ceremonie durch Fasten, Beten und eine 
Art Einsamkeit vor. Übrigens sucht man durch dieselbe das 
Andenken an jene Zeiten zu erhalten, da die Kaiser noch selbst 
ihr Feld bestellten; und ganz gewiß schreibt sich diese Cere- 
monie aus den allerältesten Zeiten her.^ 



Um sich die Wirkungen dieser chinesischen Feste auf die 
Europäer des achtzehnten Jahrhunderts deutlicher zu veranschau- 
lichen, mögen hier einige Beispiele folgen: Montesquieu nennt 
sie „ies institutions admirables pour encourager l'agriculture*.^ 
Raynat berichtet, daß europäische Reisende, die dieser Zeremonie 
beiwohnten, beklagten, „daB dieses politische Fest, das den Zweck 
hat^ zur Arbeit zu ermutigen, nicht in unseren Himmelsstrichen 
an Stelle derer gefeiert würde, die durch den Müßiggang zur 
Unfruchtbarkeil der Felder erfunden zu sein scheinen;" '^ ähnlich 
wie Voltaire, der diese Feste an mehreren Stellen seiner Werke 
verherrlicht hat, erklärter , Durch welches Verhängnis ist der 
Ackerbau in Wahrheit nur in China geachtet? Jeder Staats- 



^ Esprit XIV cap. 8, a. Rpugier de U Bergerie; Recherch«s 
sur les principftux abus. Paris t7SS, B. -- " Kayaal I, 1S4. 



177 



linister in Europa sollte mit Aufmerksamkeit Folgendes Memoire 
lesen, obwohl es von einem Jesuiten stammt" (Folgt der Beriebt 
über die Zeremonie des pflügenden Kaisers). "^ Es scheint so- 
gar, daD das Beispiel der chinesischen Kaiser von den europäi- 
schen Monarchen wirklich nachgeahmt wurde, ich finde wenig- 
stens, daß Schlözer einen Kupferstich; „Der pflügende Dauphin" 
erwähnt,- 

Ich ßnde Ferner, daß die Artikel nägriculture" und ,popu- 
lation" der Enzyklopädie Beschreibungen dieser Feste nach 
du Halde wiedergeben,*^ daß Schiller in den Versen Kalafs, die 
^^as Kätsel der Turandot (Akt 11, 4) beantworten: 

^H ,Dies Ding von Eisen, Jas nur wen'ge schätzen, 

^H Das Chinas Kaiser selbst [n seiner Hand 

^P Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahres", 

auF diese Zeremonie anspielt; daß der Kotzebuesche „Vielwisser", 
der seinen Bruder, einen biederen Landwirt, über das Wesen 
des Ackerhaus belehren will, neben antikischen Beispielen auch 
den pflügenden Kaiser nennt;* daß endlich der preußische 
JVlinister von Hertzberg in seinem Landhause Britz bei Berlin 
auf Tapeten aus selbstgewonnener Seide neben den Bildern des 
MJCurius Dentatus und Cinctnnatus auch das chinesische Acker- 

^fest darstellen lieQ.^ 

^P Wohl haben die detracteurs auch diese alten chinesischen 
Feste zum Gegenstand ihrer Angriffe gemacht und ausgeführt, 
daß das PHiigen des chinesischen Kaisers in Wahrheit nichts 
anderes sei, als eine traditionelle leere Zeremonie, ohne Leben, 
ohne Geltung in der Gegenwart.^ Man kann ihre Spuren noch 
verFolgen, wenn man In der Lichtenbergischen Erklärung der 
KupFerstiche Hogarihs, bei der Schilderung des einen Gefangenen 
im Zuchthause zu Newgate (Weg der Buhlerin, vierte Platte) 
liest; „Wirklich stände dieser Mann als Oberpol izei-lnspe clor 
in einem honetten Werkhause so da, . . . so würde man , . . 
glauben, er betriebe das Hanfklopfen wie der chinesische Kaiser 

^das Ptlügen." ' 



r ' Voltaire XXVI, 132 ff. ~ ' Schlözer; Briefwechsel. Görtmgen 
1778, I, 389. — ' I, I83ff., XIII, 96. — ' Peregrinus: Jahrhunderte lang 
gingen die Römer vom PHug zu den Siaftts3mtern und von diesen wieder 
zu dem Pflug. Ja, selbst der Kaiser von China pflijgi jührlich ein Mal in 
Person." Der Vielwisser 27,28. — ^ „Dort sah man den Kaiser mit den 
chinesischen Mandarinen, wie sie den PHug führen und die Gemahlinnen 
desselben, wie sie M aul beerb I älter pflücken, um die Nation zum Ackcr- 
und Seidenbau aufzumuntern." Posselt: Ewald Friedr. Graf v, Hertzberg, 
Tübingen 1798, 40. S. a. Nicolai 111, 1047. - " Rsynul 1, 184. — 

J 2. Lieferung. Göttingen 1794, 196. 

12 




Indessen vermochten solche abgünstigen Meinungen der 
Defrikteurs kaum die Oberhand zu gewinnen.^ Sie moDten 
vielmehr vor den Nachrichten von den großen Unternehmungen 
der chinesischen Kaiser, die ähnlich wie die alten Ägypter,' 
ähnlich wie die Holländer^ zwei der blühendsten Provinzen dem 
Wasser entrissen und so ihrem Ruhme den Erfolg glücklicher 
und friedlicher Eroberer hinzugefügt hatten, verstummen. Denn es 
hat auf die Zeitgenossen Friedrich Wilhelms I. oder Friedrichs IL 
sicherlich den allergröBten Eindruck gemacht, wenn sie solche 
Stellen bei Montesquieu oder Raynal lasen. Man spürt den 
unmittelbaren Reflex derartiger Nachrichten, wenn Marperger 
jn seinem Plantagenfraktat anlaQlich der chitiesischcn Kanäle 
schreibt; «Wie denn auch noch kürtzlich in denen Avisen aus 
Berlin geschrieben worden, daß Ihre königliche Majestät in 
Preußen das, um die Stadt Nauen herumb befindliche Bruch- 
Iflod, . . . durch Ziehung unterschiedlicher Kanäle und Gräben 
dergestalt hatte säubern und urbar machen lassen, daß jetzund 
viel neue Holländereyen oder Meyereyer, {die wie leicht zu 
erachten der Cammer ein ziemliches einbringen) daselbst hönten 
angeleget werden."^ 

Es geht daraus deutlich hervor: alle diese Beispiele wollen 
nicht als Einzelheiten oder gar als Kuriositäten angesehen werden, 
Sie verlangen, um bestehen zu können, immer wieder die Be- 
ziehung auf das Ganze, auf die Grundströmung des Jahrhunderts. 
Das eine gibt dem andern sein Relief, seine Farhe, seinen Akzent, 
kurz, erst die Möglichkeit, sich abzuheben, zu leuchten, zu 
tönen im Gefüge des gesamten Lebens. W^enn ein Reisender 
berichtet: die Regierung in China verbiete ihren Untertanen, 
Ochsen zu schlachten, damit diese nützlichen Tiere dem Acker- 
bau nicht entzogen würden,^ so gewinnt diese Nachricht erst 
Bedeutung im Zusammenhang der Agrarpolitik der chinesischen 
Kaiser; erhöhte Bedeutung aber, wenn man sich daran erinnert, 
daß der zeitgenössische Leser hei solcher Lektüre fast instinktiv 
das klassische Gegenstück dabei mit las und mit empfand: 
t,Wer in Athen einen Pflugochsen tötete^ mußte sterben." In 
vergrößertem Maßstabe gilt dies von der sozialen Position der 
chinesischen Bauern. Das Grundlegende dabei besteht in der 



' Ihre Widerlegung bei Raynal I^ 1S4.. ~ " Montesquieu, Esprit 
XVIll, Kap. 6. Raynal I, 180. — " Montesquieu ebenda. — * Mar- 
pergeTt 37. — '' Kurtze Beschreibung über des Schiffs Kronprinz 
glücklich gehaltene Reise nach und von China. Copenhagen und Leipzii 
1770, 32. 



3 7fl 



K 



I 



Differenz zwischen ihrer wirtschaftlichen 
jenigen der europäischen Bauern. 

In China gibt es außer dem Untertanenverhältnis zum 
Kaiser Für den Bauern keine Abhängiglteit von Privaten oder 
Korporationen;' sie rangieren nicht nur über den Handwerkern, 
sondern sogar über den Kaufleuten,' sie erhalten in zahlreichen 
unentgeltlichen Schulen die Möglichkeit größerer Bildung, so dal^ 
ein vom Pfluge weggeholter chinesischer Bauer wie im alten 
Rom ohne weiteres ein öffentliches Amt bekleiden kann.' Sie 
genießen ungestört die Früchte ihrer Arbeit und werden durch 
Prämien und Privilegien zu immer neuen Anstrengungen und 
Leistungen angespornt/ 

Dagegen beHndet sich der europäische Bauer in zahllosen, 



|teir 



„Un citoyen qui passäde un champ, acquis ou Iransmis, ne se le 
voir P&5 dispu»r par les abus ryranniques des lols f^odales.'^ — ».Les 
pr^tres memes, si hardis partout ä former des pr^sentations sur les Terres 
n'onr jamais osS le tenter ä la Chine." Raynal ], 185. Die Jesuiten in 
China, 81 ff: „Die Ctiinesen genießen ruhig ihre eigentümlichen Be^ 
Sitzungen und die Güter, die, da sie Ihrer Natur nach nicht geteilt werden 
kSnnen . . . allen zugehören." Schiffahrt, Fischerei, Jagd usw. sind frei. 
Es gibt keine Frondienste, kein Einkaufsgetd, keinen „von jenen hab- 
süchtigen Menschen, die nach öffentlichem Unglück schmachten, von 
jenen Pächtern, die sich niemals hesser bereichern, als wenn eine schlechte 
Ernte die Felder zu Grunde richtet . . . keinen von jenen Menschen, deren 
verderbliches Handwerk zur Zelt des Unsinnes der Lehensrechte geboren 
worden ist, ... die den Landmann von seinem Pfluge abreißen und ihn 
in die den Seelen geRhrliche Abwege der Chicane führen". Vgl. a. Hei- 
vetius II, 184. — ^ Du Halde: Beschreibung II, 13. Stounton 109. 
Quesnay 601. De Gulgnes II, 452. — ' Grosier II, 98. Quesnay 
1-594. — ■* Neuhof, Dapper passim. Brand 313. Jeder Gouverneur 
Iner jeden Provinz muß in jedem Jahr dem Kaiser den fleißigsten und 
umsichtigsten Landmann namhaft machen, der dann den Rang eines 
Mandarinen S.Grades erhält. Du Halde: Beschreibung II, 71, zitiert v. 
Montesquieu, Esprit XIV, cap. 8. Vgl. die Tugendprämien bei Voltaire. 
In den Lettres Editlantes III, 665 ist eine Memoire des Asang-ton <Sur- 
intendant) von Junan und Koeitscheou wiedergegeben, in welchem dem 
Kaiser folgende Vorschläge für Prämien gemacht werden (1727): 1. Die 
urbar gemachten Ländereien sollen dem gehören, der sie bebaut hat, und 
zwar 2. Sechs Ernten hindurch sleucrfrei. 3. Wer 15 Morgen urbar macht, 
erhill dafür eine öFFentlicbe Belohnung. 4. Bei einer größeren Anzahl 
von Morgen steigt die Belohnung dementsprechend. 5. Den Titel eines 
Kien-zeng erhält ein Baccalaureus, der 160 Morgen urbar macht. 6. Ein 
zum Tode verurteilter Mandarin 3. Grades Icann begnadigt werden, wenn 
er lOOO Morgen urbar macht, ein Mandarin 5. und 6. Grades, wenn er 8CX>, 
ein Mandarin 7. Grades, wenn er 600 Morgen urbar macht. Außerdem 
bleibt das urbar gemachte Land im Besitz des Mandarinen. Um sich auch 
da ein Bild zu machen, wie starli ein solches Memoir etwa in Frankreich 
gewirkt haben muH, vergleiche Fritz Wolters Soff. 

k 




ISO 

äußerst komplizierten Abhängi^keifsverhaltnissenj von privaten, 
«ie Korporationen, von Adligen und Klöstern,' ,der geringste 
Handwerksmann dünkt sich neben dem Bauern ein Wesen 
höherer Art zu seyn," '^ für seine Bildung geschieht von 
selten der Regierung nur das Allernot dürftigste. Er wird in der 
Ausübung seiner Tätigkeit, ebenso in dem Genuß der Früchte 
seiner Arbeit beständig durch eine große Zahl von Herrenrechten 
gestört, die unerbittlich in Anspruch genommen werden, vor 
allem durch das Jagdrecbt, von dem Holbach sagte: „L'agri- 
culture est indignertient sacrifiee ä l'flmusement des ricbes."* 

Man kann sich keine größeren Gegensätze denken. Hier 
ein völlig lichtes, schattenloses Bild, dort eine Zeichnung, in 
der Schatten gegen Schatten gesetzt zu sein scheint. Hier eine 
Komposition von der äußersten Klarheit und Einfachheit, dort 
eine Anhäufung wirr verknäueher Linien. Aber dieser jähe 
Kontrast, der in seiner so absolut ausgesprochenen Gegen- 
sätzlichkeit Für uns etwas Unverständliches, Fast Komisches hat, 
bekommt Feinheiten und höhere Reize, wenn man ihn in seine 
richtige Umgebung rückt: in die Sehnsucht, in das Streben des 
Jahrhunderts nach wirklichkeitsfernen, utopistischen Idealen. 
Alle die einzelnen Nuancen dieser Romantik: die Begeisterung 
für die Antike, wie für die beiden Indien, für die Naturvölker, 
wie für die phantastischen Einwohner der Glücklichen Eilande 
und Schwimmenden Inseln müssen helfen die Kruditat einer 
solchen Gegenüberstellung uns verständlicher und reizvoller zu 
machen. — 

Adam Smith gibt als Motiv des Interesses der chinesischen 
Regierung finanzielle Gründe an. Er sagt: da diese Fürsten 
den größten Teil ihrer Einnahmen aus einer Grundsteuer von 
den einzelnen Gütern bezogen, hätten sie sich demgemäß der 
Landwirtschaft angenommen, weil von ihrem Gedeihen und von 
ihrem Verfnll die Zunahme oder die Verringerung ihres eigenen 
Einkommens abbing.'* Der landwirtschaftliche Grundbesitz in 
China war aber wesentlich Kleingrundbesitz, denn der Ehrgeiz 
eines jeden Chinesen ging, wie Adam Smith sich ausdrückte, 
dahin, ein kleines Stück Land als Eigentum oder in Pacht zu 
besitzen.^ Um so mehr mußte also die klare und kluge Be- 
wußtheit der kaiserlichen Bauernpolitik auch dJe Bewunderung 



' Vgl. das schöne und lehrreiche Kapitel bei Fritz Wolters, Die 
Feudalrechre und die Landwirtschaft im 18. Jahrhundert. 244 ff. — , 
*Jusii 306, 30e. — ii Eihocratie. Amsterdam lllG, US; vgl, FritzJ 
Wolters 256 ff. — ' II, 195, 197. — * II, 193. 



181 



9 



kühleren Theoretiker erregen, die sich nicht, wie etwa 
Voltaire mit einer allgemeinen Lobpreisung der den chinesischen 
Kaisern gewissermaßen angeborenen „sagesse" begnügen wollten. 
Fügt man noch hinzu, daß der chinesische Kleiogrundbesitz die 
Ideale der Agrarschriftsteller zu verwirklichen schien, die im 
Kampfe gegen die chinabegeisterten Physiokraten die TheoHeen 
des kleinen Grundeigeniums und der gleichen Bodenteitung ver- 
traten * — Abb6 Pluquet nannte in dieser Beziehung China das 
Land der höchsten Vollkommenheit „d'ficonomie rurale et 
domestique"^ — so ist es leicht ersichtlich, daß auch die An- 
hänger der verschiedensten nationalökonomischeo Richtungen 
dazu gelangten, die Chinesen für alle Fragen des Wirtschafts- 
lebens neben der Antike^ als unmittelbar praktisches Vorbild 
heranzuziehen. 

Die bezeichnendsten Beispiele aber hierfür liefern Quesnay 
und seine Schüler. Quesnay, den man den Konfuzius von 
Europa nani5te,* und der die berühmte Apologie des „Despotisme 
de la Chine' geschrieben hatte, ^ Mercier, der in seinen 
Ephemeriden die chinesische Gesellschaft als den vollkommenen 
Gesell seh aftstypus darstellte, Turgot, der nicht nur Bücher aus 
China kommen Heß, sondern auch mit chinesischen Mandarinen 
Gedanken über Politik und Moral austauschte und zwei jungen 
Chinesen, die von den Missionaren zu Studienzwecken nach 
Frankreich gesandt waren, eine ganze Reihe von Fragenbogen 
gab," die sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat ausfüllen 
sollten.^ 

Schon Mendoza hatte erzählt: „Wie wohl das Königreich 
so groG und reich ist, so sind doch die Beschwerungen, die 
von den Unterthanen dem König gegeben werden, leichter und 
träglicher denn in keinem anderen Landt, es seye unter Christen, 
Türken oder Hcyden.* ** Die holländischen Reisenden des sieb- 
zehnten Jahrhunderts haben im allgemeinen diesßm Berichte 
gleichfalls zugestimmt. In den Ansichten der Staatstheoretiker 
des achtzehnten Jahrhunderts aber erhielten solche Über- 
lieferungen durch die ständige Gewöhnung einer vergleichenden 
Betrachtungsweise etwas über das ethnographische Interesse 



' Fritz Wolters ISölf. - '^ Trait^ sur le luxe II, 14. Paris 1786. 
— ^ vgl. Fritz Wolters 36, 170B.. 189, 190. - * Lum^nEe: les Mirabeaus. 
Paria 18S9, 1,213. — * CEuvres ed. Oncken. Paris. — ' Questions sur 
la Chine adressies k M. M. Ko et Yang. CEuvres, V, Paris ISOS, J40ff.; 
vgl. a. Meiners, s. o. Vorbericht. — ' Dumfiril: Inftuence des J^suices 
... sur le mouvemeni des id^es au XVIII i5me siegle. Memoires de 
Vaeadämie de Dijon, 1874, 24. — * Mendoza-Ketlner 83. 




Hinausgehendes Für Europa Vorbildliches und Allgemeirigiiltiges. 
In diesem Sinne muß der Satz d^Argensons angesehen werden, 
der die Gleichheit der Steuern in China lobt,^ oder Quesnays 
Forderung, die Abgaben wie in China durch königliche Beamte 
und nicht wie in Frankreich durch Sleuerpächter einziehen zu 
lassen.^ In diesem Sinne muQ man es auch auFfassen, wenn 
Rousseau sagt: obwohl China dasjenige Land der Welt sei, daß 
die größten finanziellen Anforderungen an seine Untertanen 
stelle, so würden die Steuern dort am besten bezahlt und die 
Bewohner nicht bedrüclct, weil weder auf dem Brotkorn, noch 
auf den übrigen Lebensmitteln Abgaben lägen,^ oder wenn 
Grosier erklärt, daß das chinesische Steuersystem, das haupt- 
sächlich auF Naturalleistungen beruhe, das Vorbild für Vaubans 
„Dime royale* abgegeben haben müsse.* 

Die Ähnlichkeit zwischen dem Vaubanschen und dem 
chinesischen System, die Abb6 Grosier zu diesem Vergleich 
veranlagte, lag vor allem darin, daD es sich in beiden Fällen 
um Naturalleistungen handelte, denn die Grundsteuer in China^ 
die hauptsachlichste Einnahmequelle dieses Reiches, bestand in 
Abgaben, die man in natura von den einzelnen Grundstijcken, 
je nach der Güte ihrer Produktion, im höchsten Falle zu 
einem Zehntel, erhob,'* Da die Beamten und das Militär von 
dieser Steuer gleichfalls in Naturalien Cehalt oder Löhnung 
erhielten, so sah man diese Art der Besteuerung als die ein- 
fachste Lösung der Steuerfrage überhaupt an, weil sie, wie 
Grosier erklärte, den Privatmann der iVlühe überhebt, „die 
Produkte seines Bodens und seines Fleißes kümmerlich gegen 
eine willkürliche Summe Geldes umzusetzen, um einen Teil 
davon in den kaiserlichen Schatz abzulieFern. Dieser Umtausch 
ist allezeit drückend für den Unterthan, und dies hat die 
chinesische Regierung verhindern wollen"." 

Die Europäer begeisterten sich nun in gleicher Weise für 
die Einfachheit dieses Systems, dessen Durchführung ein genauer 
Kataster,' den man in Frankreich immer vergeblich einzuführen 



> Consid^rations sur le gouvernement de la France. Paris I7S0, 107. 
— ^ CEuvres613. - * Ausg. v. 1795 1,261. - ' 11,66. ^ "^ Grosier II, 67. 
,Les Impots . . . dir Mr. Poivre, ne sonc pocT^s sur les lerres m^iliocres 
qu'au IrenriSme des produits.*' Helvetius IV, 16S. Raynal 1, Iä6. 
Pluquet 11, 16, 17. - MI, 66. - ' Du Halde, Beschreib. 11, 21, Sal- 
mon, 83: ,^Es wird alle Jahre ein Verzeichnis von eines jeden Mannes 
Familie, Gürern und Vermögen nebst den Gefällen, so er der Krone ent- 
richten muß, eingenommen und in die Register eingeiragen: auch eine 
Abschrift davon über die Thiire eines jeden Hauses aufgehängl." 



18S 



* 

* 
P 






versucht hatte/ wesentlich erleichterte, wie für den Umstflnd, 
daß niemals außerordentliche SteuerD gefordert wurden, weil 
es die Kaiser als eine Ehrenpflicht betrachteten, trotz ihrer 
beträchtlichen Ausgaben mit ihren Einnahmen auszukommen, ja» 
für Kriegsfälle, Hungersnöte usw. noch etwas zu erübrigen.* 
Ebenso bewunderte man die Humanität, mit der die Regierung die 
säumigen Steuerzahler tat Leistung ihrer Pflichten heraniog: 
An Stelle der Dragonaden, wie in Frankreich, gab man den 
lässigen Bürgern die Armen und Kranken als Einquartterung» 
die so lange in den Häusern ihrer Quartierwirte blieben, 
bis sie das verzehrt hatten, was der Staat an Gebühren zu 
Fordern hatte.'' Man muß sich dabei an die Brutalitäten der 
französischen Steuereintreiber erinnern, wie sie Voltaire in 
seinem Gedichte B^es gabelles" gebrandmarkt hatte.'' Aber 
auch von den Zöllen, der anderen Einnahmequelle der chine- 
sischen Kaiser, rühmte man, daß sie leichter als die in Europa,^ 
ja, wobl die leichtesten in der ganzen Welt seien, da sie 
lediglich von den KauHeuten und auch von diesen mit der 
größten Liberalität gefordert wurden.^ Montesquieu und Rous- 
seau, die sonst eben nicht zu den Lobrednem Chinas gehören, 
waren durchaus derselben Ansicht."' Im „Geist der Gesetze" 
wurde bereitwilligst anerkannt, daß die chinesische Zollverwaltung 
die Reisenden, die nicht dem Kaufmannsstande angehörten, 
weder durch unnötige Öffnung, noch Durchsuchung des Gepäcks 
belästige. — Auch hierzu muß natürlich das europäische Gegen- 
bild ergänzt werden. 

Es ist nicht meine Absicht, hier noch auf Einzelheiten, die 
die Reisebeschreibungen des siebzehnten und achtzehnten Jahr- 
hunderts in Fülle darbieten, einzugehen. Die ersten kritisch- 
statistischen Untersuchungen auf dem Gebiete der chinesischen 
Fioatizgeschichte verdankt man wiederum de Guignes." 

Faßt man aber zum Schluß diese Betrachtungen über die 
Einwirkung Chinas auf die wirtschaftliche Kultur Europas zu- 
sammen, so wird sich im großen und ganzen dasselbe Bild er- 



' Grosier II, 67. — * Raynal l, !87, GrOSier 11, 68, Schiller, 
CtlEn», 73. — " Rayiml I, 187, 225, 226. ^Au üeu d'installer danS les foycrs 
du d^blteur des satellites, qui se jettent sur son )it, sur ses Uäien^ilcS, sur 
&e$ meubles, sur ses bestiaux, sur Sa perSonne; au lieu de trainer dans 
un« prison ou de le laisser sans pain, etendii &ur In paille de sa chau- 
mi^re, depouillöe, il vaut mieux, sanS douCe, le eortdaniiier ä nourrir 
I« pauvre.« — ' XIV, 9Z. — '' Montesquieu, Espril XIV, Kap. H. — 
• Grosier H, 65. — ' Montesquieu ebd. RousseiU Ausgabe von 
1795. I, 1B2, - M, 86, 87, 94, 101. 




184 



geben, wie bei der Darstellung der chinesischen Einflüsse auf 
seine geistige Kultur: es handelt sich hier wie dort um uto- 
pisiisch-phantastische "Werte, zu denen aüch das wirklichste, 
gegenständlichste Detail umgebildet wurde. Denn, indem man 
charakteristische Einzelzüge willkürlich aus dem Rahmen des 
Gesamtbildes von China herausnahm und sie zu einem wohl 
scheinbar den Tatsachen entsprechendenj in Wahrheit aber 
völlig unwirklichen Ganzen zusammenstellte, entfernte man 
sich in gleicher Weise vom Boden der Realität, wie wenn man 
demgegenüber die heimischen Verhältnisse so düster malte, 
daß sie der Wirklichkeit nicht mehr entsprachen. 

Über allem aber standen im verklärenden Schimmer der 
Feme die Bilder glückseliger Eintracht und inneren Friedens, 
aus deren Süßigkeit diese romantische Sehnsucht des Jahr- 
hunderts immer wieder ihre besten, schöpferischsten Kräfte sog. 



V. 



Von der wirtscbaftlichen Tüchtigkeit der Chinesen ward 
der Blick des Jahrhunderts auf ihre politischeo Tugenden gelenkt. 
Neben hervorstechende Einzelzüge trat das Gesamtbild ihres 
politischen Systems, wie neben dem pflügenden Kaiser das 
Bildnis dessen trat, der in Peking nicht nur als letzte Summe 
und höchstes Symbol der monarchischen Gewalt thront, sondern 
der in seiner allesbeherrschenden Macht auch in -Wahrheit 
alles umfaßt, alles durchdringt; ohne den nichts geschieht, an 
dem alles hängt, auf den aller Augen warten. 

«Die Chinesen", sagt d'Argenson, «vergleichen die mon- 
archische Autorität mit einem gewaltigen Strom, der zuerst 
alle Deiche, die man ihm entgegenstellt, bricht, der alle Hinder- 
nisse hinwegräumt; aber wenn er sein Bett gefunden hat, ISfit 
er seine Wasser ruhig dahinfließen, erquickt er die Felder, die 
er benetzt, und ohne etwas von seiner Majestät zu verlieren, 
läßt er aus seiner Fülle Kanäle hervorgehen, die in weitem 
Umkreise die Äcker fruchtbar machen," Sie fügen hinzu, daQ 
eine gute Regierung auf zwei Säulen ruht, ohne die sie nicht 
bestehen könnte: auf der Autorität und auf der Mäßigung.* 

Diese beiden Begriffe „autorit6'' und modäration" ent- 
halten die Funkte, an denen eine Beurteilung des chinesischen 
Verfassungssystems einsetzen mußte, und nach ihnen 



I 




n 



4 



d'Argenson 103. 



len haben ^H 



t85 



BiKss 



sich dann auch die Meinungen und Anschauungen des achr- 
whnten Jahrhunderts in ihrer Sieilungnahme zur Regierung der 
in China hauptsächlich orientiert. Goethe sah noch tS27 in 
ihucB die Gründe dafür> daß das chinesische Reich sich seit 
Jahrtausenden erhalten habe, und daß es auch Fernerhin fort- 
bestehen würde/ 

Das Interesse des achtzehnten Jahrhunderts an der Er- 
issung und Ergründung des politischen Systems der Chinesen 
war kein eigentlich wissenschaftliches. Die Vergleiche, die 
man zwischen ihrer und den Verfassungen der anderen Länder 
anstellte, hatten keinen Selbstzweck, sondern dienten vielmehr 
dazu, ein Vorbild zu schaffen, nach dem auch praktisch die 
heimischen Verfassungs zustände revidiert und umgestaltet werden 
sollten. Oder um mich abermals der Worte d'Argensons zu 
bedienen: „China stellt ein befriedigendes und tröstliches 
Modell der monarchischen Autorität dar, die, mit Mäßigung 
ausgeübt, dem Herrscher wie den Untertanen zum gegen- 
seitigen Vorteile dient."- 

Man war im allgemeinen weit davon entfernt, etwa das 
Vorbaftdetisein einer solcheti in Jahrtausenden erstarrten Staats- 
form entwicklungshistorisch zu begreifen oder zu erklären, 

,jnan begnügte sich vielmehr mit der Tatsache ihres Daseins, 
lie Erstaunen und mehr noch Bewunderung erregte. Daher 

"erscheint das chinesische Regierungssystem in den Berichten der 
Missionare, obwohl seine einzigartige und besondere Stellung 
sofort erfaßt wurde^ als etwas^ das über aller Diskussion steht. 
,Also wirdt in diesen gegenwärtigen Historien," heißt es in der 
Darstellung des Spaniers Mendoza von 15S9 kurzweg, nein solch 
vernünftig, wolbedächtig klug und weise Regiment beschrieben 
und an den Tag gegeben, deßgleichen in keinen Historien, bei 
keinei] Völkern, sie seyen Meden, Fersen, Inden, Griechen, 
Römer oder anderer wie die Namen seyo mögen, jemals befunden, 
gelesen, gehört oder erkanndt worden." " Der französische Jesuit 
P. Le Comte geht vielleicht noch weiter, wenn er in der Re- 
gierung Chinas ganz im Sinne Bossuets * gleichsam eine gött- 
^licbe und daher von Anbeginn vollkommene Manifestation sieht.^ 

^M ^ Eckermann s. o. — " d'Argenson 101. — "Mendoza-Kellner 

^'Vorrede. - * Vgl. Hettner ö. — '^ „Sina scheinet den gemeinen Gesetzen 
der Natur viel weniger untergeben zu seyn (als andere Reiche): und gleich- 
saca als wenn Gott selbst sich alldar zum Gesetzgeber aufgeworfen hStte, 
ist die Gestalt ihres Regimentes bey ihrem Ursprünge fast nicht weniger 
vollkommen gewesen als gegenwircig, nach mehr als 4000 Jahren die es 
gewähret." Das heutige Sina. Frankfurt und Leipzig. 1699. 2. 3. 




186 

Aber selbst Voltaire erklärt noch 1764 im Dicttonnatre philo" 
sophique: „Mais ce qui met les Chinois 8U-dessus de tous les 
peuples de la terre, c'est que m leurs lois, ni leurs moeurs, nH 
la languB que parlent chez eux Ltiä lettres n'ont pas cbBDgi 
depuis environ quatre tnille aas." * 

Ich ßnde also Dicht, daß sich in dieser Beziehung ein grund* 
sStzIicher Unterschied ig der Betrachtungsweise der frühereti 
und des achtzehnten Jahrhunderts feststellen lieQe. Ich sehe 
im Gegenteil, daß man hier wie dort, im Bilde Chinas nur die 
Züge sucht und findet, die den eigenen Zügen oder vielmehr 
denen des eigenen Ideals gleichen; daß die Verfechter eines 
aufgeklärten Absolutismus wie Voltaire* oder Quesnay^ sich 
hartnäckig dagegen wehren, daQ China ein despotisch regierter 
Staat sei, während der konstitutionell gesonnene Montesquieu 
in seiner Ablehnung der chinesischen Verfassung das despotische 
Element mit Vorliebe und Eifer betont.^ ^_ 

Das Feststehende für die Zeit ist der äußerst konsequeo^H 
durchgeführte Gedanke der Zentralisation in der «8Utorit&'. 
Das Urteil des Einzelnen differiert nach dem Maße, in dem^ 
man die .mod^ration" der Herrscher ztigibt oder nicht, ■ 

In dieser „modfiration" der chinesischen Kaiser, für die 
als Musterbeispiele Fürsten wie Tai-tsong ^ oder Kien-tong ■ 
angeführt wurden, die sich in gleicher Weise durch Mäßigkeit 
ihrer Lebensführung, wie durch Mäßigung in ihrer Herrschaft 
auszeichneten, sahen die Lobredner Chinas etwa die Summe 
aller der Regenten lügenden, welche die Herrscher des auf- 
geklärten Absolutismus in Europa schmückten. Wie diese, so 
verglichen sie die Kaiser von China mit den verehrten Vor- 
bildern aus der Antike, mit Fürsten wie Mark Aurel oder Julianus 
Apostala,' h 

Sie priesen ihre Aufklärung in religiösen Dingen: daß ihrefl 
Regierung als die einzige unter denen des Altertums sich nicht 
der Herrschaft der Priester gebeugt habe;^ sie zitierten den 
Erlaß des Kaisers Ven-ti, der den Beamten verbot, den Himmel 
für das Glück der Kaiser anzuflehen und dabei das Wohl 
des Volkes zu vernachlässigen;' sie rühmten das Edikt des 
Kaisers Tong, der über 40000 Bonzenklöster auf einmal auf- 



' XXX, 195. Vgl. a. d'Argenson 101. — '' XV, 27L - ' OEuvrea 
563, 564. — * Esprit passjm- — ' Vgl. Justi: Von der MiLfltgung der 
Monarchen in dem Beispiel« des $inesischen Kaiser» Tai-tsong 1. s. o. 
- ' Vgl. auch Voltaire XV, 473. v, Breitenbauch 29, 30. — ' Justi, 
161, 162, - "^ Voltaire XV, 41, 88, — " Schiller, China, 7a. 




187 

hob/ eine Tatsache, die den Charakter eines unmittelbaren 
praktischen Vorbildes erhielt, wenn man dagegen Voltaires Mit- 
teilung stellte» daß Franitreich zu Beginn des achtzehnten Jahr- 
liunderts mehr Klöster als selbst Italien hatte. ^ 

Ebenso feierten sie die Ge rech tigkeitsli ehe der chinesischen 
^Kaiser in unzähligen Anekdoten, die beweisen sollten, daß diese 
Herrscher ähnlich wie die Fürsten des aufgeklärten Europa oft 
persönlich eingriffeti, wenn sie von irgendeiner Verletzung 
des Rechtes Kunde erhielten/^ Lange berichtete in seinem 
Tagebuch* von einer Institution, die in den alten Zeiten des 
Reiches Geltung hatte: Im Pavillon Tschua-kitig befdtid sich 
eine Trommel, die jeder, der glaubte, vor Gericht Unrecht er- 
halten zu haben, rühren durfte. Die obersten Mandarinen 
waren auf dieses Signal hin verpflichtet, sofort die Beschwerde 
zu untersuchen und ein neues Urteil zu fällen. 

Der Bemühungen der Kaiser um die wirtschaftliche Melio- 
ration ihres Landes, die sie an die Seite der preuDischen 
Könige des achtzehnten Jahrhunderts rückten,^ ist bereits ge- 
dacht worden. Aber über dies alles hinaus erschien die Fried- 
fertigkeit der chinesischen Herrscher vorbildlich, die kein Lau- 
vois zu Krieg und Blutvergießen aufzumuntern vermochte, die 
sich nicht wie Karl XII., „der nordische Alexander", hinreißen 
ließen, ihr Land vom Volk zu entblößen utid mit Hunger und 
unerschwinglichen Abgaben zu bedrücken." 

Indessen mit der Anführung solcher Anekdoten begnügten 
Elch die Panegyriker der chinesischen Verfassung nicht: sie 
gingen weiter und gaben die Gründe an, »Triebfedern der Re- 



• Montesquieu: Esprit VII, Kap. 7. Grosier 11, 44, 45. Wort- 
laut des Edikts: . . . Einmahl sollen mehr als 4600 Bonzerieti, die auf 
allen Seiten des Reiches verstreut sind, durchaus zerstört werden; in 
dem Maaße, daß die Bonzen und Bonzinnen, (es gab uäTnlich Bonzerien 
für beide Geschlechter), welcbe diese Bonzerien bewohnten und sich nach 
der angestellten Schfitzung auf 26 Uan (oder 260000 Personen) belaufen, 
in die Welt zurijckkehren, und das ihre zur Summe der öffentlichen 
Abgaben beitragen. Zum anderen soll man auch 4 Uan (oder 40000] 
geringere Bonzerien, die auf dem Lande zerstreut sind, zerstören, der- 
gestaltt daß die damit verbundenen Einkünfte, die sich auf 1000 Uan 
Tsing (eine chinesische Münze, '/'"> einer Unze Silber) belaufen mögen, 
unseren Krongutern heimfallen, und daß iS Uan Skiaren, welche die 
Bonzen hieEten, zu dem Volke geschlagen werden und auf die Listen 
der Magistrate kommen. — * Vgl. Hetiner 120. — ' Vgl. u. a. Quesnay 
630. Justi 48, 49, — * Pallas-Lange 139. — "' In einem Buche über 
China heißt es direkt, die chinesischen Kaiser hätten es sich immer zur 
Ehre angerechnet» »die ersten Arbeiter ihres Reiches zu sein". Die 
Jesuiten in China, 76, — " Justiz 132, 143. 



188 



gieruTig", wie sie Justi nannte,' die im Gegensatze zu den 
europäischen Verfassungen^^ die „niQd6ration" der Kaiser voi^ 
China gewährleisteten, ^M 

Die erste dieser „Triebfedern" sah man in dem „fundii- 
mentalen Grundgesetz" der chinesischen Regierung, in der 
„überall verbreiteten Maxime", daß der Kaiser, der Sohn de^H 
höchsten Wesens, des Shang-ti oder Tien^ Vater und Mutter 
des Volkes isi^ und zwar bedeutete diese Anschauung nicht 
wie in Europa einen leeren Begriff, sondern wurzelte tief in 
der Seele des Volkes j* „ils repätent sans cesse" , sagte 
d'Argenson, „que tout Pempire chinois n'est qu'une seule 
famille, que leur empereur n'a ni esciaves, ni serviteurs, mais 
que tous sont esciaves de la loi, dict6e de toute anciennet^ 
par rstre supr^me, auteur du droit naturel et appliqu6e par 
Tempereur qu'on appelle le grand-pöre. ^ Je nachdem nun der 
Kaisef durch seine Güte und seine monarchischen Tugenden 
Liebe erweclit, je nachdem genieGt er Ehrfurcht und Ansehen 
bei seinen Untertanen/ daher ist sein eigenstes Interesse, 
auch ein wahrhaft väterliches Regiment zu führen. ,On y a 
regardfi plus qu'ailleurs, le bien public pour le premier de- 
voir. De lä vient l'attention continuelle de l'empereur et des 
tribunau}^ ä r^parer les grands chemins* k joindre les rtviäres, 
ä creuser de canaux, ä favoriser la culture des terres et les 
manufactures. ' ^H 

Andererseits Ist im Bewußtsein der Untertanen das GePüfan^ 
daß sie die Kinder des Kaisers seien, durch die Tradition fest 
eingepflanzt.^ Ihre Unterwerfung ist daher nicht sklavisch, 
sondern entspringt dem kindlichen Gehorsam.^ Denn wie die 
Väter den Kindern^ so haben auch die Kinder den Vätern gegen- 
über alle Pflichten zu erfüllen. Da nun aber jeder Statthalter 
als kaiserlicher Vertreter für den Vater seiner Provinz gilt und 
jeder Mandarin für den Vater der Stadt^ über die er gesetzt 
wurde, so genügt „dieser bloQe Schatten kaiserlicher Autorität) 
der sich in den Mandarinen zeiget", um „bey den Gemüthern 
der Untertbaaen" alles auszurichten."^ ^M 

Die alten Kaiser haben für ihr Verhältnis zu den Unter^^ 



— " Dil Halde: Beächreihg. II, llfl 
Hiire XV, 271. Qu esnay, 614, 585,^ 



» Ebd., 29. — ' Ebd., 35, 37. — 
Letires ädiflantes III, 664, 665. Vali 
Justi, 29, 30. — * d'Argeasöo, 104. — * D u Halde ebd., 17. — • Die 
Landstraßen in Ctiina wurden von den Reifenden ganz besonders ge- 
rühmt; vgl. Mendoza-Ktllner, 24, Dapper, 90, Anderson, 
34, usw. — ' Voltaire XV, 271. — * Justi 29.— ■ Quesni) 
614. — '" Du Halde II, 29. 



ly, CEuvrcdH 



1&0 

tauen noch ein anderes Bild gebraucht, das aber in gleicher 
tt'eise den patriarchalischen Grundcharakter ihrer Regierungs- 
weise betont: „Der Regent ist weiter nichts als ein Hirt, der 
dafür sorgen muß, daß sich niemand von der Herde verirre"« 
beißt es in einem Gesetze aus der Sammlung des P. Hervieu.^ 

Bis ins Einzelste wurde von den Panegyrikern geschildert, 
wie sorglich und wie genau die chinesischen Kaiser ihre Vater- 
und HirtenpBichien erfüllien. Es wurde ausgeführt, wie alle 
von den Tribunalen ausgearbeiteten und vorgelegten Entwürfe 
erst durch die persönliche Zustimmung des Herrschers RechtskniFt 
erhalten können, wie alle Amter nur nach seinem Ermessen besetzt 
werden, so daU der in Europa, vor allem in Frankreich, so be- 
rüchtigte Amterverkauf ausgeschlossen sei, ebenso wie dadurch 
verhindert würde, daß die Ämter sich in bestimmten Familien 
von Generation zu Generation forterbten.'^ 

„In den anderen Ländern**, ruft Voltaire aus, ^bestrafen die 
Gesetze das Verbrechen, in China tun sie mehr, sie belohnen 
die Tugend",^ und an einer anderen Stelle erzählte er: „L'ern- 
pereur de la Chine ^tablit le premier des prix pour la vertu",* 
ähnlich wie sich Goethe an der politisch-moralischen „Legende" 
aus dem chinesischen Roman freute: „von einem jungen Mann, 
der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten 
Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. '^^ 

Eine weitere Äußerung der väterlichen Liebe sah man in 
dem Verhalten der Kaiser zu ihren Behörden, die ohne weiteres 
abgesetzt wurden, wenn in ihren Bezirken sich ein Aufstand, 
eine Hungersnot usw. erhob, und zwar wurde diese harte Strafe 
damit begründet, daß die betreffenden i^andarinen ihre väter- 
lichen Pflichten vernachlässigt hätten. Die Begeisterung für 
diese MaiJregcl der chinesischen Kaiser hat auch noch in der 
Revolution eine gewisse Rolle gespielt, das beweist eitle Stelle 
bei Tainc, die sich der Verfasser der „Origines" nicht ju er- 
klären vertnag, obwohl der Kanal, durch den diese Mitteitung 
zur Kenntnis der französischen Revolutionäre gelangte, hier 
einmal völlig sichtbar ist: Rousseaus Discours sur l'£conomie 
politique." Als nämlich die Munizipalität von Marseille 1790 
gegen die verfassungsmäßigen Bestimmungen jeden für wahl- 
berechtigterklärte, derein Handwerk triebe oder sonst einen Beruf 
ausübte, wurde von der Nationalversammlung eine Kommission 



* Zitiert bei Schiller, China, 76. - " Grosier 11, OfT. — ' XJV, 

273. ~ * Princesse de Babylon § V. — ■■ Eckermann s, o. ~ ' Rousseau, 
Paris (Hacbenej 1, 65»., IM, 22&, 285. 



1! 



abgeschickt, um die Ordnung wieder herzustellen. Darauf ver- 
langten die städtischen Beamten daselbst eine Abberufung der 
Kommissäre, indem sie erklärten : „ In China wird jeder 
Mandarin, gegen den die öffentliche Meinung sich ausspricht, 
abgesetzt; man betrachtet ihn als einen Lehrer, der es nicht 
versteht, einem Vater die Liebe seiner Kinder zu sichern. "^ 

Vor allem aber erkannte man die wahrhaft väterliche Ge- 
sinnung der chinesischen Kaiser darin, daD sie mehr auf das 
Wohl ihres Reiches, ihrer weiteren Familie, als auf das Wohl 
ihrer Dynastie und ihrer engeren Familie bedacht waren. Denn 
sie schlössen die unwürdigen Erstgeborenen von der Nachfolge 
aus und beschränkten mit ebensoviel Klugheit wie Menschlich- 
keit die Rechte der jüngeren unter ihren Söhnen, 

Es ist bereits oben erwähnt worden, daß die Frühesten 
Kaiser, wenn sie keine Söhne hatten, die sie für geeignet 
oder wert hielten, den kaiserlichen Thron zu besteigen, ein- 
fache Landleute zu ihren Nachfolgern erhoben. Aber wenn 
auch später nur Prinzen von Geblüt zur HerrschaFC gelangten, 
so wurde von den Kaisero auch da eine sorgfältige Auslese unter 
ihren Söhnen gehalten und keineswegs wie in Europa dem ältesten 
Sohne die Herrschaft ohne weiteres anvertraut." Der viel- 
gepriesene Kien-Iong war z. B. der vierte Sohn seines Vaters Jong- 
tsching, der ihm wegen «seiner guten Eigenschaften, seiner all- 
gemein bewiesenen Barmherzigkeit, seiner gegen Eltern und Ver- 
wandte bezeigten Liebe, die ihn auch seinem Großvater schätz- 
bar machte", seinen Brüdern vorzog.^ Von Jong-isching dagegen 
erzählte man, daß er im Augenblick des Todes seines Vaters den 
eigenen Namen einem anderen in dessen Testamente unter-^ 
geschoben habe.* ^M 

Justi vergleicht die Tatsache, daß die jüngeren Brüder, der 
Sicherheit des regierenden Monarchen geopfert und etwa wie 
in Persjen geblendet wurden, mit den Gewohnheiten der Bienen, 
die auch nur eine Königin am Lehen lassen, die übrigen 
„Prinzessinnen" aber toten. Er preist in dieser Beziehung die 
chinesischen Herrscher, die ihre Brüder weder einkerkerten 
noch umbringen ließen. Ja, er meint sogar, darin den stärksten 
Gegenbeweis gegen die Behauptung zu sehen, daß in China_ 
eine despotische Regierung herrsche.' Andererseits rühmt 
im Gegensatz zu Europa, daß die chinesischen Prinzen Fast 
als Prälendenten aufgetreten sind." 

' Les Origines de la France conlemporaine, Dtsch. Ausg: Leipzig^ 
1877 ff. II, 2, S. USFf. - » Salmon 69. - * v. Breätenbauch 14. 
* Siounton 146. - ' Juati 377 ff., 388. - « Ebd, 3Se. 



191 

Er bezeichnete auch darin die Chinesen als vorbildlich^ daß 
sie den jüngeren Söhnen häußg die Führung der Heere anver- 
traut hätten. Dagegen versicherte Du Halde ausdrücklich, daß 
man den Prinzen von Geblüt keinerlei Einfluß auF die Regierung 
des Landes verstattete,' «ie auch vorher $chon Neuhof betont 
hatte, daß die Prinzen zwar einen eigenen Hofstaat und aus- 
kömmliche Apanage erhielten, aber die Stadr, in der sie resi- 
dierten, nicht verlassen durften.^ Allerdings war man darin 
ziemlich einer Meinung, daß, wie es Salmon ausdrückte, auch 
nicht einer von den zurückgesetzten Prinzen „nach der Krone ge- 
schnappt und sein Recht der Geburt oder sonst was vorgeschützt 
habe, obgleich das Reich in den Händen der jüngeren Brüder 
gewesen*,^ wenn auch Diderot in einem Briefe an Sophie 
Voland mitteilte, der Kaiser L'Y Vang-ti habe die Tyrannei der 
Prinzen von Geblüt mit Gewalt brechen müssen/ Beim Tode 
des Kaisers Tschang- ti, so erzählt Le Comle, gab es mehr 
als 2000 Prinzen von Geblüt in allen Provinzen, «ohne daß der 
Fried« und gute Ordnung im geringsten nicht seyn angefochten 
worden".'^ 

„Ein anderer Zügel, wodurch die Gesetze die höchste Gewalt 
des Kaisers einschränken, falls es etwa versucht werden sollte, 
dieselbe zu mißbrauchen", berichtete Du Halde, „ist in der Freiheit 
XU finden, die dem Mandarinen eigen ist, daß sie in demüthigen 
und ehrfurchtsvollen Schriften dem K&yser die Fehler vorhalten, 
die bey der Verwaltung seyner Regierung mit untergelaufen und 
ihm zeigen, daß sie vermögend wären^ die gute Ordnung im 
Reiche zu zerrütten."^ Quesnay bemerkte dazu, daß diese Bin- 
richtung der «Remontrances ä Tempereur" von Anbeginn durch 
das chinesische Gesetz geheiligt wurde, wie auch tüchtige Kaiser 
ihren Mandarinen immer wieder die Erfüllung dieser Pflichten 
an das Herz legten. Aber auch die Grausamkeit einzelner 
Herrscher, die solche unbequemen Mahner ohne weiteres be- 
seitigen ließen, schreckte diese „ehrenwerten Beamten" nicht ab, 
von ihren Rechten ihren Pßichten Gebrauch zu machen. Daher 
wurden die Tyrannen, als sie sahen, dal^ sie nur politische 
Märtyrer schufen, deren Popularität ihre Herrschaft gefährdete, 
gezwungen, einzulenken und auch weiterhin den Mahnungen 
ihrer Räte Gehör zu geben. ^ Der deutsche me rkantif istische 



' Du Halde, Beschreibg. II, 16. — ^ Neuhof, 213, vgl. a. Sal- 
mon, 82. — " Salmon, ebd. — * Diderot^ XVIII, 131. — '■ Das heutige 
Slna» 13. — * Du Halde, Bescbreibg. II, IS. — ^ CEuvres Ö07; vgl. a. 
Helvetius [I, 14S; d'Argens 11, 392. 



192 



Staaislheoretiker Jusfi suchte sogar aus dieser cbinesischen 
Institution das Recht der Untertanen aller Staaten abzuleiten, 
derartige Beschwerden bei den einzelnen Landesregierungea ein- 
zubringen. Er meinte, daD zwar die „Ministers die Collegien 
und ansehnliche Corpora" in erster Linie dazu verpflichtet 
wären, daß aber auch jeder einzelne Untertan unstreitig das 
Recht haben müOte, über die Fehler und Gebrechen der Re- 
gierung vorstellig zu werden. Der Vergleich, den er zur 
Illustration seiner Behauptung gebrauchte^ ist charakteristisch 
genug, um hier angeführt 2u werden; „Was würde man von dem 
Director einer Handelsgesellschaft sagen, wenn er behaupten 
wollte, dAÜ die Mitglieder der Gesellschaft ihm keine Vo 
Stellungen und Erinnerungen zu tbun beFugt wären? Würde 
nicht jeder vernünftige Mensch urtheylen müssen, Ü&Ü sich dieser 
Director eine unerträgliche Despoierey über die Gesellschaft 
anmaaDe?"^ J 

Eine weitere, noch moralischere Beschränkung der kä!ser-i 
liehen JVlacht sah man in der Zensurbehörde der Kolis, denen 
nicht nur die Mandarinen, sondern die Kaiser selbst unter- 
worfen waren: „Les censeurs nommes Kolis examinent rout 
rigoureusement et sont redoutables jusqu'ä Tempereur et aux 
princes du sang." - Diese Zensurbehörde beschreibt Diderot 
folgendermaßen: Der Monarch ist einem Rat von Richtern 
unterworfen, die ihn streng tadeln, wenn er Unrecht begeht, 
und seine Geschichte bei seinen Lebzeiten schreiben. Dieser 
Rat wird in China aits zwölf Mandarinen'' gebildet. Sie ver- 
sammeln sich alle Tage. In ihrem Versammlungsraum beladet 
sich ein Kasten, der oben mit einer Öffnung versehen ist, 
durch welche die mit Namen unterzeichneten Denkschriften 
hineingeworfen werden, die die Geschichte des Regenten bilden 
sollen. Diese Denkschriften bilden schon eine Sammlung von i 
drei- bis vierhundert Bänden/ I 

Es ist vielleicht nicht so wunderbar, als es auf einen ober- 
Häcblichen Blick hin erscheinen möchte, daß die Menschen des 
achtzehnten Jahrhunderts auch in dieser merkwürdigen Institution 
eine zuverlässige Garantie für die „mod^ration" der Kaiser von 
China zu sehen glaubten. Diese Überzeugung entspringt der- 
selben Wurzel, aus der etwa Voltaires Begeisterung über die 
Tugeadprämien der chinesischen Kaiser hervorging: aus derj 



i nj 



' Justi 32ff. — ' Quesnay 607. — " Nach Neuhof 216, 217, &u 
00 Mandartneci; vgl. a. Dritte Gesandtschafisreise, 34, 35. — ■ DideroiJ 
s. o.; vgl. a. Helvetius 111, 225. 



ISS 



-von aller TatsäcbHchkelt abstrahierenden rationalistischen Denk- 
weise ihrer Zeit. Ein Satz Justis mag in diesem Zusammenhange 
die Anschauung der Lobredner China$ näher beleuchten: ,Wean 
eiti Mondreh versichert ist, daß seine unüberlegten und bd&eo 
Handlungen der Nachveit ohne Schmeicheley und Bekleisterung 
werden erzahlt werden, so müßte er einen sehr unedlen 
und niederträchtigen Geist haben^ wenn er nicht dadurch auf- 
gemuntert werden sollte, sich als ein löblicher und guter 
Regent zu zeigen." ' Es mag zugegeben werden, daO dieser 
Satz des «glatt systematisferendea" ^ Staatsrechtlehrers auch 
im Rahmen der Zeit als zu dürr, zu schulmeisterlich wirkt, 
■ber immerhin enthält er Elemente, auf denen auch größere 
unter den zeitgenössischen Geistern ihre Gedankreihen auf- 
gebaut haben. 

Dazu kommt noch, dali es auf die damalige Zeit auDer- 
ordetillich stark wirken mußte, wenn itian sah, wie in China 
ganz im Gegensatz zu der europäischen Hofhistoriographic eine 
kritische, von Schmeichelei freie Kaisergeschichte zu entstehen 
schien. In diesem Sinne schreibt Sioeu -Tscheou, der eine 
von den reisenden Chinesen des Marquis d'Argens, an seinen 
Freund Yn-Che-Chan: „Wenn man den meisten Teil der Zu- 
eignungs Schriften an die gekrönten Hgupter in Europa seit 
zweyhundert Jahren lesen sollte, so würde man beynahe glauben 
müssen, daQ alle Nattonea in diesem Teile der Welt zwei 
Jahrhunderte lang von lauter Fürsten, wie ehemals August^ 
Titus, Trajan, Marcus Aürelius u. dergl. waren, beherrscht worden 
wären.'" Und Justi fügt hinzu: ,Wir Europäer verderben alle 
unsere Fürsten durch unsere niederträchtige Schmeichelei."* — 
Diderot nimmt auch hier eine abweichende Stellung ein, er 
führt nach seiner umfänglichen Beschreibung des „Geschichts- 
Tribunales" das Beispiel eines Kaisers an, das den inneren 
Unwert dieser ganzen Institution bezeugt.'' 

Alle diese einzelnen Meinungen der chinabegeisterten 
Philosophen lassen sich in dem emphatischen Satze des Abb6 
Grosier zusammenfassen: , Niemahls sah ein Land weniger böse 
Regenten, niemahls ward ein Land mit einer größeren Zahl treff- 
licher Fürsten beglückt." Es waren dies, wie ausgeführt wurde, 
im groDen und ganzen die Ansichten der Verfechter des auf- 
geklärten Absolutismus und der wirtschaftspolizeilichen Tätigkeit 
der Regierung. Christian Wolf ist, wie Gustav SchmoHer dies 



■ Justi 37. — ^ Gustav Schmoller, Grundnil 1,87. — 
vgl. a. Justi, 38. — • Justi 37. — '• Diderot s. o. 

13 



11,393; 




194 



abschlieDend gesagt hat, der Lehrer dieser Generation, d 
bis 1786 regiert hat. „Er preist aus vollster Überzeugung 
China mit seiner Vi ei regier ung und seinem Mandannentum als 
Musterstaat. Der Regierung wird in schrankenloser Weise die 
Sorge Für die allgemeine Glückseligkeit zugewiesen; sie soll 
für richtigen Lohn und Beschüftigung aller Menschen, für 
mittleren Preis, für die rechte Zahl der Menschen im ganzen 
und in jedem Berufszweige, Für die Tugenden und guten Sitten 
der Hindernder Hausfrauen, der Bürger und der Beamten sorgen.*' 



Die dätracteurs haben den Ausführungen der Panegyriker 
die Behauptung entgegengestellt, daß die Auffassung von der 
patriarchalischen Regierung in China eine Art von Trauinerei 
sei, über die der chinesische Kaiser und seine Mandarinen 
lachen würden, wenn sie davon erführen." 

Sicherlich haben sie darin den utopistischen Charakter der 
Chinabegeisterung erkannt und getroffen.^ 

JWan erhält indessen bei Raynal, der die Meinung der eiif? 
zelnen Lobredner und Widersacher Chinas, ohne auch nur einen 
Namen zu nennen, so zusammengestellt hat, als ob sie paradoxe 
Gedanken ein und desselben Kopfes wären, kein gutes Bild, 
denn es fehlen dort alle die feinen persönlichen Nuancen, die 
erst das Reizvolle einer solchen Bewegung ausmachen. Übrigens 
wurde diese Art der Darstellung auch schon von den Zeit- 
genossen getadelt.* 



M 



M 



' Grundriß I, 88. — ' Rayflft] I, 214, 215. — =■ Es sei vcrslatlet 
hier eine Bemerkung Wilhelm ScherCrs {Kleine Schriften hg. v. E. Schmidt. 
Berlin 1893 II, 334) zu vecieichrien, die mir erst während des Druckes 
bekannt geworden ist : :,Wir werden vielleicht nie genau wissen, auf 
welche Weise sich pqelisclie, n^tionalökonomische (der Physiokraien), 
po]ltische und ethnographische Gesichtspuniite verketten, durchdringen und 
beFruchten: denn auf allen diesen Gebteten macht sich das naive Ideal 
gehend- Europa demütigt sich vor asiatischer Kultur und Unkultur, vor 
vermeintlich vorweltlicher Vollkommenheit, China erntet die Bewunderung 
der französischen Philosophen, auch die Staatslehre hat ihre Chinoiserien, 
der Zopf wird das bedeutungsvolle Symbol einer wenig schmeichelhaften 
geistigen Verwandtschaft, und doch ist auch der Zopf ein Fortscbriti 
zur Natur und Wahrheit gegenüber der Staats perrücke des si^cle de 
Louis XIV. (?) Ich bin geneigt, anzunehmen, daH der Anstoß gerade von 
der Poesie ausgeht und auf die Wissenschaften wirkt, welche dann natür- 
lich auf die Dichtung wirken und ihr neuen Stoff zuführen, Doch wird 
sich ein Beweis dafür, wenn überhaupt, eher deduktiv als induktiv her- 
stellen lassen. — * Vgl. den Brief Turgots an Morellet: Mfimotres de 
TAbbä Morellet. Paris 1821, 1, 215. 



* 




Unter diesen dStracteurs nimmt Montesquieu die erste 
Stelle ein, wenn man ihn auch nicht so ohne weiteres zu den 
absoluten Gegnern der Chinabegeisterung rechnen darf, wie 
etwa Voltaire zu den schrankenlosen Anhängern dieser Bewegung. 
Denn Montesquieu verfahrt jm großen und ganzen vorsichtiger, 
man köotile sagen objektiver als Voltaire auf der einen, Diderot 
auf der anderen Seite, und man wird auch hierin eine der 
Ursachen seines großen Einflusses auf das neunzehnte Jahr- 
hundert sehen dürfen, 

Bossuet hatte zwischen der absoluten Monarchie, d&ren 
Herrscher nach Gesetzen, und der willkürlichen Monarchie 
unterschieden, deren Herrscher nach seinen Launen regiert. 
Diese willkürliche Monarchie nannte Montesquieu Despotismus^ 
und als solchen bezeichnete er die Regierungsform des chinesischen 
Reiches. 

Denn er vermißte in diesem Staatswesen vor allem die 
Ehre, die nach seiner Meinung das Prinzip der Motiarchie wie 
die Tugend das Prinzip der Demolcratie ist: Nos mtssionnaires 
nous parlent du vasce empire de la Chine, comme d'un gou- 
vernement admirable qui m^le ensembie dans son principe la 
crainte, l'honneur et la vertu. ■ — J'ignore ce que c'est que 
cette honneur dont on parle chez des peuples ä qui on ne Tait 
riea ä faire qu'ä coups de baton.* Da für ihn ferner die 
chinesische »vertu" in den Lobpreisungen der Missionare durch 
die Berichte weltlicher Reisenden widerlegt wird,' so bleibt 
für ihn als einziges Prinzip der chinesischen Staatsgewalt die 
Furcht über, und er wird nicht müde, zu schildern, wie lediglich 
die Furcht die Triebfeder für alle Handluogen der chinesischen 
Herrscher gewesen ist.* Ähnlich wie es Ancillon 1825 ausdrückte: 
Unter dem Despotismus ist keiner sicher, solange der Despot 
sicher ist, und seine Unsicherheit ist das beste Mittel der 
allgemeinen Sicherheit.'* 

Wohl erkannte er, wie bereits erwähnt, die Fürsorge der 
Kaiser für die Landwirtschaft an, wohl pries er jene «friedlichen 



■ Sore], S5. — ^ Esprit VI», 21- — " Er zitiert Lange s. o. und 
Lord Anson; $, d, Herrn Admir^U Loe-d Ansons Reise um die Welt etc. 
GSttängen 1763, - * Esprit VU, C«p. 7; VIII, cap. 21. - <■ Über den 
Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Ceselzgebung. 
Berlin, 47; vgl. Montesquieu: U (der chinesische Kaiser) ne senttra 
point comme rtos princes que s'il gouverne mal, il sera moins heureux 
dans I'aotre vie, moins puisssnt et moins riebe dans celle-ci: il saura 
que si sQn gouvernement n'est pas bon il perdra Tempire et la vie. 
Esprit VllI, cap. 21. 

13* 



I 



196 

Eroberungen" der alten Herrscher von China,^ ebenso wie er 
auch betonte, daß das chinesische Regiment durch einige 
„circonstances particuH&res et peut-^ire uniques" noch nicht so 
„verdorben" sei, als es eigentUch sein müDie." ^ 

Aber auf der anderen Seite sehilden er ganz im Gegensat^l 
zu Justi die Grausamkeit, mit der ein Kaiser seinen jüngeren 
Brüdern den Prozeß habe machen lassen, ähnlich wie man von 
Yon-tsching, dem Vater Klen-longs, berichtete, daß er die Prinzen 
von Geblüt hartnäckig verfolgt habe.' Oder er führt aus, wi 
man in China vergeblich versuchte, der Günstllngswirtscha 
der Eunuchen*' zu beseitigen.'' 

So kommt Montesquieu, soviel er auch die Einzelheiten 
gegeneinander abwägt, doch zu seiner Anfangsthese zurück, 
die er nur insoweit einschränkt, als er zugibt, daC unter den 
alten Kaisern, als China noch nicht seinen heutigen Umfang 
hatte,^ die Regierung sich in etwas von diesetp Despotismus 
unterschieden habe. „Mais aujourd'hui cela n'est pas."^ 

IVlan kennt die Erwiderung Voltaires auf diese Montesquieu-« 
sehe Darstellung. Nach der Anführung seiner Gewährsmänner^ 
und der Aufzählung einiger Vorzüge Chinas entgegnet er 
Montesquieu: „Der Autor glaubt oder will glauben machen, 
daß es in China nichts aU einen Despoten und 150 Millionen 
Sklaven gibt, die rnsn vie die Geschöpfe eines Oeflügelhofes 
regiert. Er vergißt dabei die große Zahl von Tribunalen, von 
denen eins dem anderen untergeordnet ist.^ Er vergißt auch, 
daß Kaiser Kam-hi, der den Jesuiten die Erlaubnis erwirken 
wollte, in China das Christentum zu lehren, selbst ihr Gesuch 
an ein Tribunal überwies." Mit der ganzen Ironie des Rokoko- 
menschen wendet er sich gegen die barbarischen Vorbilder 



* Esprit XVIII, cap. 6. — ^ Ebd. VIII, cap. 21. „De causes tirfies 
]a pluparr du physique du cliraat ont put forcer les causfis mor&les dans 
ce pays, et faire des espöces de prodiges." — " v. Roiteck und 
Welcker, XIV 553, Altona 1843. (Artikel von RutenbergJ — ' Ober 
die chin. Eunuchen vgl. NeuhoF 269; Grosier II, lOl ; Stounion 204;^ 
de GuignesII, 294. — * Esprif XV^ cap, 19; vg]. Haller, 52. -AbeM 
auch in China ist die alle Einfalt der Herrscher durch die Schmeichler^ 
verdrungen, Usong gestund es. Die Belohnungen werden durch den 
Rath unwürdiger Verschnittenen ausgetbeilt, der obersten Mandarinen 
Unlerdröckungen übersehen, und das Joch auf das Volk erschweret.* 
" « Vgl. dazu Esprit VIII, cap. 17 „Un itat monarchique doit etre d'une 
grandeur tnddiöcre." — ' Ebd. cap. 21. — " Über die einzelnen Tribunale, 
auf deren Organisation hier nicht eingegangen werden sali, vgl. Neu- 
hof 213if.; dritte Gesandtschaft 3217.; Palias-Lange 137, 138; Du 
Halde, Beschreib. II, 31 ff,; de Guignes II, 446, 463. Über die Man- 
darinen im einzelnen Grosier II, lOff.; de Guignes 11, 452, 455, 464, 




197 

JWontesquieus: „Si Montesquieu veut nons persuader, que les 
monarchies de l'Europe etablies par des Goth$, des G^pides, 
des Alains sont fondßes sur I'honneur, pourquoi veut il öter 
Thonneur ä \a Chine?"^ 

An anderen Stellen äußert er in energischer Abwehr des 
Ansonschen Zit&ies: die niedere Bevölkerung von Kanton 
könne keinen AlaDstab für die Beurteilung des chinesischen 
Volkes abgeben,^ und aus der Tatsache, daß in China der 
Pöbel mit Bambusschlägen bestraft würde, Folge noch nicht, 
diu China mit seiner Tribunalregieruog in unzureichender 
Weise regiert werde, ^ 

Sorgfältiger, aber auch unendlich viel trockener als Voltaire 
hat Quesnay iVIontesquieus Ausführungen zu widerlegen gesucht. 
Er bringt für jede der einzelnen Behauptungen Montesquieus den 
Gegenbeweis. Es würde ermüden, hier die ganze Apologie 
Quesnays* zu reproduzieren; nur einige wichtige Punkte seien 
genannt. Mit Voltaire, mit Justi bezweifelt er die Zuverlässig- 
keit der Kaufleute, Montesquieus Gewährsmänner.* Er be- 
zeichnet die Verfolgungen der Prinzen von Geblüt durch den 
Kaiser als einen Einzelfall, dem sich nichts ähnliches an die Seite 
stellen lasse, und betont, daß es sich in diesem Einzelfalle um 
eine wirkliche Verschwörung gehandelt habe, in die auch die 
Jesuiten verstrickt waren.* Gegen den Satz Montesquieus, der 
den Chinesen alles Ehrgefijhl abspricht, führt er als Tatsache 
an, daQ in keinem Lande der Welt so viel zur Erweckung des 
Ehrgeizes getan werde als in China. ^ Als Gipfelpunkt seiner 
Widerlegung aber kann man die Stelle über die Bevölkerung 
ansehen. Er sagt dort, ganz im Sinne seiner Zeit:^ «Une 
grande populaiion ne peut s'accumuler que dans les bons gou- 
vernements; car les mauvais gouvernements anSantissent, les 
richesses et les hommes. Un peu d'attention sur ce peuple 
prodigieux suffit pour dissiper tous les nuages qu'on voudrait 
rSpandre sur 1e gouvernement chinois. En nous disani que 
le besoin d'une si grande multitude en impose dans un 
mauvais gouvernement M. de Montesquieu Forme un ralsonne- 
ment qui implique contradiction; un peuple prodigieux et un 
mauvais gouvernement nc peuveat se trouver ensemble dans 
aucun royaume du monde'*/ 



' Esprit VIII, cap, 21, Anm. v. Voltaire. — ' XV, 272.— " XXXXII, 
44S, Anm. A — ^ (Euvres Ö22ff. - » <Euvres 622, 623. — » Ehd, 623; 
vgl. a. Helvelius II, 179. — ' <Euvres 622. — " Fritz Wolters ]S2j 
1S3. — « (Euvres 623. 



b 



Aus der Verteidigung des Französischen HegieruDgssystems 
durch Justi, die sich zum Teil mit der Voltaires' und Quesnsys' 
decbt, sei nur ein Moment herausgehoben. Er zieht die kolle- 
giale Tribunalverfflssung Chinas den europäischen Ministerien 
vor, indem er ausführt, daß die Kollegien, die sich sowohl am 
Hofe, als auch in den einzelnen Provinzen unter ständiger 
gegenseitiger Kontrolle und der Kontrolle durch Zensoren be- 
finden, verhindern» daß einige Minister die Herrschaft über den 
Staat erlangen könnten/ 



Indessen, das neunzehnte Jahrhundert hat den Angriffen 
Montesquieus recht gegeben. An die Seite der dfitracteurs 
aus Raynals Buch, die oft mit sehr witzigen Bemerkungen die 
von den Panegyrikern gepriesenen Garantieen für die „modfi- 
ration" der Kaiser von China verspottet haben,* traten schon 
in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Reisende, 
■wie Barrow^ und de Guignes, traten Staatstheoretiker, wie der 
Sozialist Mably,* die die Berichte der Jesuiten, wie die Aus- 
führungen der Physiokraten in Frage stellten. An ihre Seite 



^ „'Wenn er (Montesquieu^ ferner behÄUptet, daß der Prügel der 
Regimentssub sei, welcher Sina beherrsche; so hat er sich nicht erinnert, 
daß alle Mandarinen und Gelehrte mithin, da in Sina kein erblieber Adel 
ist, alle Leute van Ansehen und Verstände davon ausgenommen sind, 
so daft dieser Regimentsstab allein vor den Pohel übrig bleibt; und «e 
ist noch eine große Frage, ob es besser ist denselben durch Geldstrafen 
und Sportuln arm und elend zu machen, oder ihn unter dem Stocke zu 
halten." jListi52,52; vgl- dagegen Senac-Meilhan: CEuvres Hamb- 1795, 
], 92. Des PrinClpes de Montesquieu sur ie gouvernement: „Deo Kaiser 
I3ßt dem Minister oder einem Mandarin die Bastonnade geben und der 
Minister oder der Mandarin fühlen sich dadurch nicbt erniedrigt," „Ce soni 
des 6co]iers, qui se remettent k leurs places, apr^s avoir €ti fustigfs." — 
'^ Justi ebd. — ' Interessant ist die Anspielung auf Rußland, wo die Kollegien 
erst unter Alexander!, durch Ministerien ersetzt wurden. Vgl Theodor Schie- 
mann: — '' Z. B. die Einschränkung durch die Tribunale und Mandarine: 
„Si la barri^re qui prot^ge Ie peuple n'esi pas h^riss^e de lances, d'^p^es 
de baionneites dirig^es vers la poitrine ou la i^ce sacr£e de l'empereur 
pere et despote, nous craindrons, mal'ä-propos peui-ftrc, mais nous crain- 
droas, que cette barrt^re ne soit a la Chine qu'une grande totle d'arajgn^e 
sur laquelle on auroit peint l'image de la justice et de la liben^, mais 
au travers de laquelle rhomme qui a de bons yeux apervoif la iSte hideuse 
du despote." Raynsl, 214 oder das „Geschichtstribunal'*: „Oh Theureuse 
conlree que Ja ChJneF Oh la contr^e unique oü l'biEtonographe du prince 
n''esC ni pusillanime, ni rampant, ni accessible, ä la s^duction, et oti Ie 
priitce qui peut faire couper la t6te ou la main k son bistoriagraphe 
pälit d'effroi lorsque celui-ci prend la plume." Ebd. 212, 213. — ^ Vor 
allem cap. 7. — » CEuvres, Paris Tan III, 7. IX, 13, SOff. 



190 



trat Herder. Sein veiter völkerverglejchender Blick erkannte 
die Bedingtheiten des Landes und der Rasse, welche die Chinesen 
wie jedes andere Volk in unverrückbare Grenzen spannte: „Es 
ist auf diese Stelle der Erdkugel hingepflanzt; und wie die 
Magnetnadel in Sina nicht die europäische Abweichung hat: so 
konnten aus diesem Menschenstamme in dieser ßegion äuch 
niemals Griechen und Romer werden. Sinesen waren und 
blieben sie^ ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen 
Nase, platter Stirne, wenig Bart, großen Ohren und einem 
dicken Bauche von der Natur begabt: was diese Organisation 
hervorbringen konnte, bat sie hervorgebracht, etwas anderes 
kann man von ihr nicht fordern." ' Damit spricht Herder im 
Vergleich zu den westlichen Kulturen dem chinesischen Geiste 
jede Tiefe ab. Aber indem er in sein W^esen eindringt und 
ihn bis in seine feinsten Verästelungen analysiert, erhebt er 
sich weil über die Paoegyriker und dStracteurs und vermag 
China als einen Organismus, einen unter vielen Organismen 
des geschichtlichen Lebens zu erfassen und sein Urteil über 
ihn bleibend zu gestalten. 

In unmittelbarem Zusammenhange mit seinem verehrten 
Vorbilde Montesquieu schrieb dann der deutsche Staatsrechts- 
lehrer Zachariä 1820 folgende Sätze: „Gleichwohl mögte 
die chinesische Verfassung, wenn man sie, wie billig, auf 
die gesamten Zwecke des Menschen bezieht, selbst der 
ZwingherrschaFt nachstehn. — Der eine Grundfehler der 
chinesischen Verfassung f$t der, daß sie die gesamte Denk- 
und Handlungsweise des Volkes in einen bestimmten Kreis 
bannen, einen jeden einzelnen in einem jeden Verhältnisse 
meisternd und bewachend, das geistige Leben in seinem innersten 
Keime tödet. Die Chinesen sind und bleiben ewig dieselben, 
gealterte Kinder oder unmündige Greise . . . Der zweyte Grund- 
fehler dieser Verfassung ist der, daß sie die Gesetze der Sitt- 
lichkeit in äußere Gesetze verkehrend, das eigentliche Wesen 
der Tugend in Schatten stellt. Die Chinesen sind gesittet ohne 
Sittlichkeit; sie sind eitel ohne Seibätachtung und Muth; sie 
heucheln Tugend, weil sie nur die Strafe fürchten." ' Oder 
Torqueville nannte ihre Regierung „imb^ctle et barbare"." 

Welch ein Abstand von dem Ausspruch des Pater Kircher, 
dem China mit seiner Gelehrtenregierung das platonische Staats- 



' Herder: Ideen zur Geschichte der Menschheit Bd. XIAbscbn. l, 
— ■* Zachariä: Vierzig Bücher vom Staate. StuttE. u. TiJbingert II, 178, 
17Q. _ ' Lavcrgne: Les fcönomistes fran^ais du XVIlIiime siöcle. 
Paris 1870, 107. 



200 



ideal zu verwirklichen schien (1667); aber auch ein Historiker 
wie Hii)rich5, der unter dem Eindruck der Revolution von 1840 
eine Verteidigungsschrift der Monarchie in seinem schönen Buche 
„Die Könige" niederlegte, hat das chinesische Verfassungssystem 
vötlig abgelehnt.' Endlich sei abschließend an Hegels Wort 
erinnert: «Dss ausgezeichnete in China ist, daß alles, was zum 
Geiste gehört^ Freie Sittlichkeit, JVtoralirät, Gemüth, innere 
Religion, WissenschaFt und eigentliche Kunst entfernt ist. Der 
Kaiser spricht immer mit Majestät und väterlicher Güte zum 
Volke, das jedoch nur das schlechteste Selbstgefühl über sich 
selbst hat, und nur geboren zu sein £lKubt> den Wagen der 
Macht der kaiserlichen Majestät zu ziehen. Die Last, die es 
zu Boden drückt, scheint ihm sein notwendiges Schicksal zu 
Min, und es ist ihtn nicht schrecklich, sich als Sklaven zu 
verkaufen und das saure Brot der Knechtschaft zu essen I* 
Allerdings hat noch Benjamin Constant, ähnlich wie es der 
Abb6 Galiant einst scherzend prophezeite, mit Ernst und Nach- 
druck erklärt, daß unser Erdteil in politiscfaer, wie sozialer 
Beziehung dem chinesischen System entgegengehe. 



1 D[e Kfinige, Entwicklungsgesch. d. Konigtbum» von den iliesteu 
Zeilen bis auf die Gegenwart Leipz- 1842, 14. — v. Rotteck und 
Welcker XIV, 572. 



ÜBER DIE THEORETISCHE 

BEGRÜNDUNG DES ABSOLUTISMUS 

IM SIEBZEHNTEN JAHRHUNDERT. 

Von FRITZ '«'OLTERS. 

L'aoior e Ib SiiDoria 

Die vir heute einzeln stehen, jeder eine einsame Welt, 
deren Einheit oder Widersprüche nicht mehr der Mikrokosmos 
einer größeren Einheit oder sllumfassender Widersprüche sind, 
die unter dem Übermaß der kleinen Freiheit, welche den Schutz 
der niedersten Lose mit deren Wichtigkeit vermengte, Fast ganz 
verlernt haben, daß Herrschaft und Dienst nicht nur Begriffe 
sind, um Verhältnismaße wirtschaftlicher Pakte zu bezeichnen, 
sondern lebendiges Handeln lebendiger Menschen, so daß die 
einen erhaben sind, die anderen willig oder unwillig sich neigen: 
vir fassen schwer das Bild einer Welt, in der sich jedes fest 
umschlossene Teilganze zugleich als Glied und Gleichnis einer 
höheren und diese zuletzt der unendlichen, alles in sich be- 
greifenden Einheit faßte, in der der feste Glaube an diese höheren 
und höchsten Ordnungen das Gefühl der sich senkenden Stufen 
mitgebar, und während duch die niedrigste noch von der gött- 
lichen Kugel umschlossen blieb, dennoch jene steigenden Grade 
der Mitielbarkeiten in der verschiedenen Entfernung vom Kerne 
das deutliche Maß der innehabenden Würden und Gewalten 
setzten: wir fassen schwer das Bild der mittelalterlichen Welt, 
weil sie das Wesen ihrer Ordnungen in den irdisch-Iciblichen oder 
himmlisch-geistigen Trägern der Würden und Gewalten dieser 
Ordnungen selber sah und daher das Verhältnis des allmächtigen 
Gottes zu den Menschen mit der gleichen körperlichen Sinnlich- 
keit der Beziehung einer lebendigen Person zu lebendigen 
Personen anschauen konnte wie das Verhältnis des kleinsten 
Herrn zu seinen Untergebenen. Sie erfaßte die Person itnmer 
nur unter dem Bilde des einfachen Organismus, und jeder Ver- 



202 

such, einen zusaniiiiengesetzten Organismus wie den Staat als 
einfache Person zu begreifen, scheiiene stets daran, daQ selbst 
dann, wenn ein fester Begriff dafür gefunden var, sein Inhalt 
immer wieder in die Summen zerlegt wurde, also die Person 
des Staates nur als Summe der EinzeLbürger gesehen werden 
konnte. Ja, als das große Weltgcbaude des mittelalterlichen 
Geistes zerbröckelte, dauerte es noch Jahrhunderte, wie Otto 
Gierke zeigte, dem man in diesen Fragen jede Grundlage datikt, 
ehe diese Anschauungsform ihre Kraft erschöpfte, und die 
neue vom Wesen des Staates zunächst als eines künstlichen, 
dann eines lebendigen Organismus dem Geiste sichtbar wurde.^ 

Die in Gott ruhende Einheit der mittelalterlichen Welt 
drückte ihr irdisches Bild in den beiden Ordnungen der Kirche 
und des Reiches aus. Bedeutete dieser zwiefache Ausdruck 
nichts anderes als das Gleichnis des ungeheuren Zwiespaltes 
selber, den das Christentum in die Menschheit legte, indem es 
ihr zwei klar geschiedene Leben gab, so mußte in diesem 
Lchenskerne der Idee auch der Keim ihres Unterganges Hegen: 
die höchste Steigerung des eioeti Teiles konnte sich nur ia der 
Unterwerfung des anderen vollenden, und damit zerbrach, gleich- 
gültig welcher siegte, das Gefüge des Ganzen. Die Kirche, 
weiche zunächst die Siegerin zu sein schien, hatte ihren eben- 
hurtigen Gegner nicht anders niederwerFen können, als daß sie 
die Widersacher in seinem eigenen Lager aufnährte, aus dem 
einen Hydraltopf des Reiches die Kopfe der nationalen Staaten 
schlug und so mit der Vervielfältigung des nur einmal möglichen 
Gegensatzes die Form der mittelalterlichen Welt zerbrach: was 
nun begann, war der Kampf um die Bildung einer neuen Form. 

Die Waffe, welche die Kirche gegen das Reich gewendet 
hatte, war der Zweifel an seiner Ebenbürtigkeit gewesen; sie 
hatte abgestritten, daß es gleich ihr seinen untnittelbarea 
Ursprung von Gott habe, und behauptet, daQ der Staat nur 
mittelbar durch sie, die alleinige Vikahn Gottes auf Erden, 
geschaffen werden dürfe, sollte sein Ursprung nicht vom Bösen 
sein. Nach der inneren Zermürbung des Universalreiches hatte 



^ Wie nithe schien die Erfassung d«r orgsnischen Gessm (persönlich ■ 
keit bei Sätzen der römischen Juristen zu liegen, wie: Omnis eorum (der 
Herrschenden) numerus quL in locuni unius substituitur, pro singulari 
persona habendus (Bornitius, De maiestvte politica et summo imperio, 
Up$iäe 1610, 73), indem die Zahl der Herrechenden in der reinen Demo- 
kratie im Prinzip alte umfaßt. Aber es scheint, als ob der moderne Geist 
er^t die Idee der CleichheLt der Menschenrechte erleben mußte, um 
auf diesem nivellierten Grunde wieder die Einheit erfassen zu können. 



203 



sie diese BehauptuDg gegen die erstarkenden Einzelstaaten zu 
verteidigen, welche gerade im Kampfe gegen jede Universalität 
und so auch gegen deren kirchliche Begründutig des unmittel- 
baren göttlichen Ursprungs aufwuchsen. Sie nahmen ihre 
GegenwafTen aus der Zeit^ welche die Gewalt von Staat und 
Kirche nicht in dieser ungeheuren Zweiheit kannte, nämlich 
der Antike, und suchten jeder durch die Wiederbelebung des 
rc^mischen Begriffes vom Staate als einem Exklusivverbande ^ 
alles innerhalb der äußeren Grenzen liegende Gebiet weltlicher 
wie geistlicher Gewalt als ihre eigenste Domäne in Anspruch 
zu nehmen. Dieser Wille mußte in seinen Folgerungen die 
allgemeine Kirche zerstören: die Reformation machte erst diese 
neuen einheitlichen Staatswesen möglicfa; die katholischeti 
konnten ihnen bis zu den äußersten Graden der gallikanischen 
Kirche folgen. 

Aber wahrend des Kampfes der großen Gewalten und an 
ihrer Zersplitterung gestärkt, bildete sich langsam eine neue 
Gewalt, die in der Reformation mit dumpfer Kraft anrollte» 
von den Leitern der Staaten bereitwillig genutzt, um die Mauern 
der Kirche einzurennen, sofort wieder niedergetreten, als sie 
eigenes Recht beanspruchen wollte, die aber unzerstörbar in 
den beiden folgenden Jahrhunderten ihre einmal aufgebrochene 
Kraft in die Köpfe der Theoretiker zu werfen schien» ehe e$ 
ihr gelang, nach den Stadien des Meuchelmordes und der 
Schafotte in dem ungeheuren Kampfe der Revolution ein Rechts- 
wesen unserer Zeit zu werden: ich meine, neben die Ideen der 
Kirche und des Staates tritt die Idee des Volkes. Die 
herrschenden Mächte des Mittelalters bildeten immer nur die 
Spitzen eines harmonisch gegliederten Baues; als mit seiner 
AuFl&sung die mittleren Glieder teils zerßelen, teils zur Selb- 
ständigkeit erstarkten, öffnete sich zwischen den Herrschern und 
den Beherrschten eine ungeheure, unüberbrückbare Kluft. Die 
Gesamtheit der Beherrschten wurde in den Begriff der Volks- 
gemeinschaft gespannt, die nun naturgemäß den Herrschera 
gegenüber ihr neues Recht suchen mußte. So stellten sich in den 
religiösen Wirren des sechzehnten Jahrhutidens drei Mächte ein- 
ander gegenüber und erhoben Anspruch am Staate: die Kirche, 
welche im allgemeinen ihren Willen und ihr Recht an der 
univer«;3len Herrschaft nicht aufgab» forderte im besonderen 
wenigstens die geistliche Herrschafe im weltlichen Staate^ der 



^ Gierke: Johannes Althustus und die Entwicklung der n^turrecht- 
licben Sia&tstbeorieen. Breslau ISSO, 127, 128. 



204 

Herrscher forderte^ als die Verkörperung des Staates selbst unc 
also als der Inbegriff alier staatlichen Rechte angesehen zu 
werden^ das Volk Forderte nur dumpf ein gleiches, da es noch 
keine Organe besaß und die Überreste der alten Ordnung, die 
Stände, wenn sie nicht, wie in den meisten Lioderri, langsam 
untergingen, nur selten unter ihren Sondervünschen das Wohl 
des Ganzen vertraten. Vor allem aber hatte das Volk dem 
göttlichen Ursprung, aus welchem Kirche und Herrscher gleicher- 
weise als der höchsten und einzigen Quelle ihre Rechte speisten, 
keinen Rechtsgrund seiner Ansprüche entgegenzusetzen^ denn 
auch das erneut sich ausbildende Naturrechi, so sehr es seinem 
Wesen nach demokratisch war und auch die Nährmutter der 
Demokratie wurde, diente zunächst den Zwecken der herr- 
schenden Fürsten. 

Im Mittelalter hatte das Recht als göttliche Ordnung 
Naturrecht, weltliches und geistliches Recht vereint.* Grund 
und Maüstab d«r Gesetze war da$ geoffenbarte Gesetz Gottes, 
da die verderbte Naiiir des Menschen allein dem Willen keine 
klaren Vorschriften zu geben vermochte. Mit der Zerspaltung 
der mittelalterlichen Autoritäten, dem Widerstreit der Staaten und 
Konfessionen suchte das isolierte Individuum nach einer neuen 
Rechtseinheit und fand sie in der ehemals verachteten mensch- 
lichen Natur, ^ welcher der Humanismus durch das Bild des 
antiken Menschen, die Reformation durch die neue Unmittel- 
barkeit der Beziehung zu Gott eine erhöhte Wertung gegeben 
hatte. Neben der göttlichen Quelle des Gesetzes öffnet sich 
also als zweite Quelle die menschliche Natur, deren Wesen 
zu erkennen sowohl durch die Betrachtuttg der menschlichen 
Beziehungen und Bildungen, der Erforschungen ihrer natür- 
lichen Entstehung und Entwicklung möglich war, wie auch 
durch eine rein begriffliche Methode, welche die Axiome und 
Elemente entwickelt und durch Analyse und Synthese die 
vernünftigen, d. h. natürlichen, Prinzipien des menschlichen 
Handelns festzusetzen vermag^ Die eine Weise^ welche sich 
mehr auf die in der ganzen Natur erkennbare und von Gott 
ihr eingepflanzte GesetzmäUigkeit stützte und ihre Beweise 
dem historischen Leben der Menschen, den Tieren und selbst 
den Harmonieen des Weltalls entnahm, hatte ihre Hauptvertreter 
im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, während die zweite 



^ Hlnrichs: Geschichte der Rechts- uAd Staats-Prinzipien. Leipzig 
184Ö. I, 1—6. — * Gustav Schmoller: Sludicn, Jahrbuch Für GeseU- 
g^bung und Verwaltung. VIH, IS&4, 54. 



20S 



Weise, welche die menschliche Vernunft allein zum Grund und 
Spiegel menschlichen Rechtes machen wollte, und die schon durch 
Hemming (1513 — 1600), dana im siebzehnten Jahrhundert durch 
Descartes und Spinoza, Althu&ius und Hobbys die unerhörte 
Sicherheit ihrer mftthemaihischen Logik gefunden hatte, erst im 
achtzehnten Jahrhundert die Selbstverständlichkeit der Allein- 
herrschaft gewann und aus den Händen der Könige in die der 
Völker gleitend die Reiche der Erde erschütterte. Im siebzehnten 
Jahrhundert nun mischen sich alle diese Elemente zu den aus- If 
gebildetsten Theorieen, die Herrschaft der Fürsten zu begründen 
und bis zum Bilde einer göttlichen Herrschaft zu erhöben. 
Die Urheber dieser Theorieen scheiden sich also in den Grund- 
richtungen, je nachdem sie Gott oder die Natur oder die Ver- 
nunft als den nächsten Grund der menschlichen Ordnung nehmen,^ 
aber sie benutzen dementsprechend nicht geschieden die Offen- 
barung oder die Geschichte oder die begriffliche Wissenschaft 
als Quellen, sondern sie lassen die Bibel, die logische Er- 
kenntnis und für die Erforschung der menschlichen Natur zum 
größten Teile noch Aristoteles als unbedingte oder sich er- 
gänzende Autoritäten nebeneinander bestehen. oE)ie langgedauerte 
Verwirrung des natürlichen und des übernatürlichen Lichts", 
wie es später Thomasius nannte, begann noch kaum sich zu ent- 
wirren. 

Die theoretischen Begründungen der absoluten iVlonarchie, 
die seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entstanden, wurden 
äußerlich hervorgerufen durch die AngritTe der Monarchomachen 
auf die fürstliche Souveränität. Jeder Umsturz alter Ordnungen 
wird mit dem Anrecht unternommen, bessere heraufzu Führen; 
aber die tatsächlichen Schätzung der ungeheueren Gewalt, die 
nach der Schwächung des Reiches eintrat und in den Theorieen 
Maccbiavellis ihre feinste Zuspitzung Fand oder die erträumten 
Lebensmöglichkeiten eines Morus oder Campanella, die dem 
Mittelalter völlig fremd geblieben waren, weil die Durchdringung 
jedes gesetzmäßigen Zustandes mit der essentiellen Gerechtigkeit 
Gottes ein vorstellbares Besseres nicht erlaubte und höchstens 
eine höhere, aber in sich unerreichbare Ordnung der niederen, 
wie der Engelstaat dem irdischen Staate, zum kritischen Ver- 
gleiche dienen konnte: keine dieser beiden Abfindungen konnte 
die Untertanen der Fürsten darüber trösten, daß auch die 
innerste Selbstbestimmung der Seele, welche die Erneuerung 

*^ Gierke: AUhusius, 94, 95. Bodin unterscheidet Gott, Natur, 
McQScb in i^r Scttilderung der Staatsveränderungen schon deutlich als 
ibgestufte Ursachen. Bodin: De la r^publiqu«. Lyon 1579, ä77. 




300 



des religiösen Lebens versprochen hatte, der politischea Nötigung 
oder gar der Laune der im Sturze der Universalkirche noch 
mehr erstarkten Fürsten zum Opfer fallen sollte. Um also ihre 
religiöse Freiheit, welche freilich nicht mit religiöser Duldung 
zu verwechseln ist^ zu wahren, begannen die protestantischen 
— oder besser die kalvinistischen — Monarchomachen das schon 
vom Mittelalter überkommene und vom Humanismus verstärkte 
Prinzip der Souveränität des Volkes und also das Recht der 
Völker, über die Könige zu richten, in ihren Schriften zu ver- 
künden. Während die meisten Reformatoren und im Anfang 
seiner Laufbahn auch Kalvm selbst die Fürsten für die von 
Gott gesetzte Obrigkeit, diese für die Schützerin seiner Ge- 
rechtigkeit, Dolmetscherin und selbst Rächerin Gottes erklärt 
hatten^ kehrte Kalvin später seine Waffe gegen die Könige und 
tnachte Genf zum Herd der zahlreichen Schriften des Festlandes 
und auch Englands gegen die Herrscher oder, wie es in ihnen 
heißt, die Tyrannen der Völker,* Die katholischen Monarcho- 
machen zogen ihre fanatischen Beweise aus dem gleichen 
Prinzip der Souveränität des Volltes; aber es diente zugleich 
ihrem höheren Zwecke, die Überordnung der Kirche über den 
Staat zu erweisen. Nicht das Volk sollte der Richter des Fürsten 
sein, sondern die Kirche: denn nachdem das Papsttum Längst 
darauf verzichtet halte, die Entstehung der Staaten durch seine 
Mittlerschaft zu fordern^ bestand sie dennoch auf ihrer Über- 
ordnung über jede weltliche Herrschaft aus dem gleichen Grunde 
der Einzigkeit ihrer unmittelbaren Einsetzung durch Gott, indem 
sie die weltliche Herrschaft durch das Mittel einer ursprüng- 
lichen Übertragung durch das Volk entstehen ließ.^ An die 
Stelle des »mediante ecciesia" setzten Dominikaner und Jesuiten 
das „mediante populo" und suchten nun in dieser Form den Adel 
und die Weihe der Könige unter die des Papstes hinabzudrücken. 
Volk und Kirche waren also die Gegner der Selbstherrlichkeit 
der Könige und beide griffen sie den Ursprung der Herrschaft 
an. Die Verteidiger der absoluten Fürstlichen Gewalt muQten 



' Gaartz: Puritan. Glaubens- und Regiments Spiegel usw., Leipzig, 
nennt diese Schriften das „Genevische Gift* und führt eine gonze Reibe 
van ihnen auf. c. 210—245. Vergl. a. Janet; Histolre de la science 
polilique. Paris 1887, II, 26, 27, Gierke: Alth. 57, 58, Baudrillarl: 7. 
Bodin et sün Cemps, Paris I&53, 33ff. — ' Omnts potestüs est a Deg 
principaliter, vel immediate ut in potesiate ecclesiae, vel mediante repubJica. 
ut tndvili. Suarez:Tractatüs de legibus. Antwerpen 1613,236. Bellarmin: 
Disptilationcs. Köln 1620, II, 5]8, 519. Vergl. E. v. Meier: Französische 
EinHüssc auf die preußisch-deutsche Staats- u. Hechtsgesch, 1, 1, cap, I, vor 
alJem G. v. Bczold: Die L-^hre von der VolkssouveränJtätjHisI. ZtB. XXXVl. 




207 



also zunächst die Entstehung der Herrschaft begründen. Ich 
sehe darum freilich in diesen begründenden Theorieen nicht den 
besonderen Grund der absoluten Känigsherrschsft selbst: Sie 
sind Spiegelungen der sich streitenden Gewalten; doch nach 
seiner Klarheit oder Kraft vermag der zurückgeworfene Srrahl 
selber wieder das Lebendige zu bedingen, die Richtung seiner 
Entwicklung zu bestärken oder zu verändern.' 

Im sechzehnten Jahrhundert und dem ersten Teile des 
siebzehnten überwog in den Theorleen über die Entstehung des 
Staates die Meinung des Aristoceles von der organischen Ent- 
wicklung der menschlichen Gesellschaft.^ Nachdem die Idee 
der Natur in der Renaissance eine ungeheuere Steigerung er- 
fahren hatte, und die Gottheit hinter den ewig wallenden 
natürlichen Gesetzen zurückgetreten war, leitete man auch die 
menschlichen Ordnungen aus den Bedingungen des menschlichen 
Organismus selber her und machte den Trieb der Geselluog (Sozia- 
bilität) zur Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft.^ Die 
Familie {familia oder societas paterna) war daher die ursprüng- 
lichste und stärkste Gemeinschaft: durch Vermehrung ent- 
wickelten sich aus ihr die Hausstände (famitia oder societas 
herilis), die Dorfgenossenschaft (vicus), der Gauverband (pagus 
oder provincia) und durch den Zusammenschluß dieser grÖBeren 
Teile der Staat. Die Herrschaft in diesen Gemeinschaften 
beruhte ebenfalls in den natürlichen Bedingtheiten ihrer Glieder. 
Wie selbst bei Tieren, wie den Kranichen, Ameisen und Bienen, 
das PriDdp der Gesellschaft auf Über- und Unterordnung 
begründet ist, so ist auch Herrschaft und Gehorsam ursprünglich 
im Wesen jeder menschlichen Gesellschaft enthalten:* die wohl- 



^ Vergl. Die Begleitung der praktEschen Politik durch die Theorieen 
bet Koser: Die Epochen der äbäoluien MonArchie in der neueren Ge- 
schichte. Histor. Zeitschf. LXI, 246ff. — - Der Einfluß des AristoteEes 
zeigt sich auch noch bei den Reetiis gel ehrten und Staatslhearetikern des 
]6. und 17. Jahrhunderts (bis gegen 1650} so stark, dafl z. B. Cellarius 
in seiner Poliiica succineta ex Ariälü4ele eruu, Jena 1711, im Index 
Verborum s. ArLStoteles sagt: Qui cum ubique tere et omnibus 
pagellis citätus legätur, omnia bic änAOtare loca noluimus. — 
* Hemming bei Hinrichs; Staats- und Reehisprinzipien 1, 3i. S. a. 
Kaltenborn; Die Vorläufer des Hugo Grotius. Leipzig 1848, 237f. 
— ■* Barclay: De regno, Paris I60O, SOff- Geniilis (1605) bei Hin- 
richs, I, S4EF. Bornirius: TraCtatuS duö. Leipzig 1610, 27if. Sclioen- 
horner: Politicorum Libri VIL Lübeck 1627, 202. Felwinger: Disser- 
tationes politicae. Altdorf 1676, 817—^818. Beemanus: Meditationes 
Polilicae. Frankfurt a. O. 1679, 3. — Selbst bei den Engeln isc praefeciura 
und siibj'ectiö, warum Sollte sie bei den Menschen nicht schon im Stande 
der Unschuld gewesen sein? — Bellarmin: Disput 520j 621. 



20S 



geordnete Familie ist schon das Bild des Gemeinwesens, die 
häusliche Gewalt gleicht der souveränen, und die Form der 
hauslichen Regierung ist das wahre Vorbild der staatlichen 
Regierung.^ Die tatsächliche Ursache der HerrschaFt aber ist 
die Gewalt:^ wie der Vater als der Stärkere der natürliche 
Herrscher der Frauen, Kinder und Sklaven ist, so ordnen sieb 
mit der Entstehung größerer Gemeinwesen die Schwächeren 
den Stärkeren unter oder werden zur Unterordnung gezwungen. 
Durch diese Unterordnung überirigt der Einzelne Freiwillig oder 
unfreiwillig, schweigend oder ausdrücklich einen Teil seiner 
ursprünglichen Freiheit und Rechte dem Herrschenden, und 
durch diese Übertragung wird die Souveränität oder Majestät 
oder absolute Gewalt geboren, welche den Staat erst zum voll- 
kommensten Gebilde menschlicher Gemeinschaften macht." Die 
Übertragung der Herrschaft ist eine unwiderrufliche Veräußerung. 
Die höchste Gewalt selbst ist absolut, d. h. nicht begrenzt und 
nicht teilbar,' Die drei möglichen Staaisformen, in denen sie 
sich darstellt, sind die Demokratie, wo sie im ganzen Volke, 
die Aristokratie, wo sie in einem Teile des Volkes, die Monarchie, 
wo sie in einem einzigen Menschen ruht. Die beste StaatsForm 
ist die Monarchie. Die Theoretiker dieser Richtung, welche in 
Bodin ihren Gipfel hatte, beriefen alle monarchischen Bilder 
der sinnlichen und übersinnlichen Welt, vom Staate der Bienen 
bis zum Staate der Engel, um den in der Natur begründeten 
Vorrang der Monarchie aufzuzeigen." Ja, Jean Bodin ordnete 
in dem letzten Kapitel seines ^('erkes über die Republik bei 
seiner Polemik gegen Piatons tiefstes Werk, den Timäus, die 
höchste Form des Königtums ° dem harmonischen Aufbau der 
Welt in einer Weise ein, welche die seltsame Vereinigung 
. mathematischer und religiöser Erkenntnis, in der das innerste 
Wesen des Geistes seiner Zeit begriifen lag, mit einer nicht zu 
überbietenden Bildkraft offenbarte. Indem er den antiken Be- 
gdfFen der distributiven oder geonüeidschen und der kommu- 
taiiven oder arithmetischen Gerechtigkeit, velche der aristo- 



' BodiD: De la Republique. Lyon 1579, 7-8. — ^ Ebd. 47, 43. 
350fF. — * Die Zurück rührung aller Möglichkeiten zur Erlangung der 
höchsren Gewall (Erbfolge; gerechter oder ungerechter Krieg usw.) auf 
die Übertragung durch das Volk: Suarez 140, BelUrmin II, 518—519. 
— * Bodin 147, Bornitius49. — '' S.o. S. 207, die Stellen der Note 4, 
dazu Bodin 653, Bellarmin 1, 516ff., Defensio regia pro Carola I, etc. 
1649, 103 H*. — * Denn auch die Monarchie zerlegte er noch in drei Arten 
nach der Form itirer Regierung: die Monarcliie royaie ou !£gitiine; seigneu- 
riale; tyrannlque. Bodin tSSff., so später a. Felwinger 24if. u. a. m. 



I 




20fi 

kr&tischen und der demokratischen RegierungsForm entsprachen, 
die harmonische Gerechtigkeit, welche die beiden in sich be- 
schließe, als das Prinzip der besten Monarchie entgegenstellte, 
reigte er diese als die schönste und vollkommenste Staatsform. 
Denn harmonisch und ganz ihr ähnlich ist auch die Seele in 
ihren Kräften aufgebaut. Die Welt ist nach dem harmonischen 
Maße erschaffen und regiert; zwischen allen ihren Teilen, den 
organischen und unorganischen, knüpft sich ohne Unterbrechung 
das harmonische Band: „Und ganz so wie die Einheit über den 
drei ersten Zahlen, die Vernunft über den drei Kräften der 
Seele, der unteilbare Punkt ijber der Linie, der Oberfläche und 
dem Körper, so, kann man sagen, eint der große, ewige, einzige, 
reine, einfache, unteilbare König, über die Welten der Elemente, 
des Himmels und der Vernunft erhoben, diese drei in sich, 
indem er den Glanz seiner Majestät und die Süße der göttlichen 
Harmonie in dieser ganzen Welt wiederleuchten EaOt, nach deren 
Bild der weise König sich gestalten und sein Königreich 
regieren soll."^ 

Diese Begründung in der Natur und diese Erhöhung der 
Könige genügte dennoch nicht: die Idee des absoluten König- 
tums fühlte sich gleichsam in der Reinheit ihres Ursprungs 
getrübt, in der Wurzel ihrer Macht gefährdet. Die Erlangung 
der höchsten Macht durch eine Übertragung der Rechte des 
Einzelnen an den Souverän war im Grunde das gleiche Prinzip, 
aus dem die Monarchomachen die Souveränität des Volkes und 
die Berechtigung des Königsmordes abgeleitet hatten. Die 
Vertragstheorie, nach welcher der Fürst um des Volkes willen 
geschaffen war und dem Volke verantwortlich blieb, hatten sie 
iwar nur so weit ausgebildet, als sie dem Fanatismus ihrer 
Propaganda diente; doch war ihr um die Wende des Jahrhunderts 
in Althusius ein schöpferischer Geist entstanden, der mit einer 
außerordentlichen Kraft begrifflicher Scheidung ausgerüstet das 
ganze Gefüge der menschlichen Gemeinschaftsbildung in eine 
größere historische Tiefe rückte, indem er vor die Bildung des 
Staates und der Herrschaft die Bildung der souveränen Volks- 
gemeinschaft oder Gesellschaft setzte, welche durch den freien 
Willensakt der mit gleichen Rechten ausgestatteten Individuen des 
Naturzustandes geschaffen, selbst die unveräußerliche Souveränität 
besitzt und ihrerseits den Staat als eine besondere Regierungs- 
form, den oder die Herrscher als Vera titw örtliche Beamte einsetzt 
Wenn auch nicht diese demokratische Anschauung der Herrschaft, 



Bodin 706-738. 



14 



210 



so nahm doch fast die ganze monarchisch gesonnene Naturrechts- 
lehre seit Grotius den Begriff des ursprünglichen G eselisch aFts- 
vertrages an, d. h. man legte den Ursprung der Staaten und 
die Quelle der höchsten Gewalt in das natürliche Recht der 
Individuen oder, um die spätere Ausbildung des BegrifFes vor- 
wegzunehmen, in die Menschenrechte.^ 

Aus diesem Unterbau ergaben sich als notwendige Folgerungeti 
auch hei den monarchischen Theoretikern eine Reihe von mög- 
lichen Beschränkungen der Souveränität, welche vor allem i 
den Bildern der beschränkten und unvollkommenen Monarchieen 
ihren Ausdruck fanden und die reine Form der absoluten 
Monarchie hinter die historisch gewordenen Bedingtheiten 
zurückzudrängen drohten.' 

Aber hier zeigte sich die Lebenskraft der Idee, welche auf 
auf einem doppelten Grunde aufbauend die Gewalt der Könige 
jeder Möglichkeit politischer Beschränkung entrückte. Die eine 
Begründung ruhte auf dem stärksten begrifllichen System des 
Natur- und Staatsrechts der Zeit und blieb innerhalb der Grenzen 
des menschlichen Geistes; das wesentliche Merkmal der anderen 
war die Durchbrechung der menschlichen Ordnung durch eine 
unmittelbare Willenshandlung Gottes. Beide Theorieen — ic 
nenne die erste die philosophische, die zweite die religiöse 
Theorie des Absolutismus — suchten vor aUem jeden Ursprung 
der souveränen Gewalt in dem Individuum zu tilgen. 

Die katholische Naturrechtslehre um die Wende des sech- 
zehnten und siebzehnten Jahrhunderts hatte dieser Theorie zwar 
insofern schon den Weg bereitet, als sie die souveräne Gewalt 
nicht in den einzelnen Menschen noch in der untergeordneten 
staatlichen Menge enthalten sein, sondern erst durch Gott über 
die Natur mit dem politischen Leben in der vollkommensten 
Gemeinschaft entstehen^ und also von dieser erst auf den 
Fürsten übertragen ließ; aber sie setzte damit nicht nur — wir 
wissen aus welchem Grunde — eine doppelte Mittl erschaff, die 
Natur und die vollkommene Gemeinschaft, zwischen Gott und 
den Fürsten, sondern bestritt auch ausdrücklich jede unmittel- 
bare Beziehung des fürstlichen Ursprungs zu Gott und stellte 
die nicht abzuleugnenden biblischen Fälle als Ausnahmen ua 



e 



' Gicrke: Althusius, 98f. — ' Grotius: De jure belli ac pacis. 
Paris I6Z5, 76 fr. — * Dico hancpatestatetn dari aOeo per modum proprietatis 
consequentis natura, eo modo, quo dando formani, dat consequemia ad 
formam . . . assero, hanc potcstatem non result^re in humann natura donec 
homines in unam communiJatem perfectam congregentur etc. SuaresJ 
138, 130, a. Bcllarmip U, 517. 



211 



einen iibernstürlichen Modus dar, während im allgemeinen die 
Menschen in den bürgerlicheii Dingen nicht durch Offenbarungen» 
sondern durch die natürliche Vernunft regiert ^vürdea.' Jedoch 
gerade dieser übernatürliche Modus wurde der Angelpunkt der 
religiösen Theorie, welche aus dem mystischen Gedanken der 
Stuarts erwachsend und schon in den Schriften Jakobs I. und 
Karls I.- in ihren wesentlichen Teilen ausgestaltet, in England 
durch Filmer ihre historische, in Deutschland durch Hörn ihre 
letzte systematische Ausbildung erlangte, während in Frankreich 
Bossuet beide Formen in sich vereinigte. 

Die historische Richtung suchte aus der Bibel und den 
Kjrchenvatero den Nachweis zu führen, daß die Behauptungen 
„aller Alonarchomachen bis zu Kalvin und Bellarmin" Auf einer 
irrtümlichen Auslegung der heiligen Schriften beruhe. Die 
höchste politische Gewalt entsteht nicht erst mit der Errichtung 
einer vollkommenen Gemeinschaft, sondern Goti selbst hat als 
ersten Herrscher den Vater über die Kinder gesetzt, und diese 
ursprüngliche väterliche Gewalt ist die Quelle aller königlichen 
Autorität. Daher ist alte staatliche Souveränität unmittelbare 
göttliche Institution, deren Träger sein Recht auf den ersten 
väterlichen Ursprung der Könige zurückführen kann. Denn 
Adam als der erste Vater und Herrscher hat die Herrschaft 
über die ganze Welt erhalten, und aus ihm leiteten die 
Patriarchen als seine direkten Nachkommen ihre Gewalt über 
die größeren Familienverbände, die ihnen t^nterstanden, her.' 
So pflanzten sich auch nach der Sprachverwirrung die Herrscher 
über die Völker stets aus den ältesten Zweigen des Menschen- 
geschlechtes fort, und wo die menschliche Schwäche den ältesten 
Sproß nicht deutlich zu erkennen vermag, ruht die Nachfolge 
auf den ältesten Familien oder Fürstengescblechtern eines 
Landes als auf Gottes Eingesetzten; aber auch diese bilden 
nicht eine neue königliche Souveränität — daß das Volk es 
durch Übertragung oder stillschweigende Duldung könnte, 
wird als lächerlich abgewiesen — sondern sie setzen nur den 



• Suarez 140, 150. — * Vgl. Jacob 1.: Opera. Lond. 1319. Basilicön 
Dorort 127 ff. Jus liberae Monarchiae 177 ff. Coniuratiö Sulptiurei 209ff. 
Pro jure regio adversus Cardinalem Pcrronium 403ff. Karl I.: Elxt^v 
ßaQtliK^, Ferner Defcnsio regia, die ibrc Begründungen aus den Werkea 
Jakob \. und Karl 1. entnimmt; vgl. a. d. Urteil Rankes über die 
lElcrarischen Werke Jakob I. Sämll. Werke Leipz. 1870, XV, 105ff. 
Über Cowells „Iqterpreter," 1607 eine der frühesten absolutistischen 
Theorieen Englands s. K:oser275PF. — ' Fümcr: Patriarcha, Deutsch von 
Vllmanns, Halle I90&2(r. — Über die Potestas Regia bei den Patriarchen S. 
«ucb V are inunddeErenb erg k: Verisimilia Tt]eolPgica,Frankfurt 1606, 12. 



TTT 



W 



212 



von Gott durch eine besondere Vorsehung schon erwählten 
König ein.-' 

Diese naive patriarchalische Anschauung von der Entstehung 
des Königtums genügte Freilich dem logisch außerordentlich ge- 
schulten und klar begriiflich ordnenden Geiste des siebzehnten 
Jahrhunderts nicht. Seitdem die Kraft der Theologie sich in den 
Streitigketten des sechzehnten Jahrhunderts erschöpft hatte, seit 
Bodin das Wesen des Staates und die Lehrer des Natur- und Völker- 
rechts die Beziehungen der Staaten zueinander untersuchten, 
begann die Politik sich als eine Wissenschaft auszubilden, welche 
den ersten Rang unter allen WissenschaFten beanspruchte und nicht 
nur durch „die Sicherheit ihrer Anlage, die Erhabenheit ihres 
Vorwurfes und den Nutzen ihrer Beschäftigung** die anderen 
überragte,'- sondern durch eine Art Geheimwissenj welches vor 
allem um den fast mystischen Begriff der Ratio Status aus- 
gebildet wurde, ^ die verborgensten Fäden der menschlichen 
Geschicke in ihrer Lehre vereinigte. In dieser Verbindung von 
Begrüfswissenschaft und Mystik suchte die religiöse Theorie 
des Absolutismus ein unverrückbares Fundament für die höchsten 
Träger des politischen Lebens zu schaffet!. Als das Prinzip 
des Ursprungs der Gesellschaft nahm sie ebenfalls den 
rifr aristotelischen Gesellungstrieb, der sich durch das Zusammen- 

wohnen der Blutsverwandten steigerte, und ließ den Staat aus 
der natürlichen Vergrößerung der einfachen Gesellschaften, Ehe, 
Familie, Hausstand, entstehen, wie es der von Gott gewollten 
Vermehrung des Menschengeschlechtes entsprach. Das Wesen 
der Ehe vor dem Staate beruhte in der Gewalt des Mannes über 
Leben und Tod seiner Frau, das Wesen der Familie in dem 
gleichen Recht des Vaters über die Kinder, das Weseti des Haus- 
standes in dem gleichen Rechte des Herrn über die Untergebenen 
und Sklaven, Aber diese Gewalten kamen nicht, wie die eigent- 
lichen Theoretiker der natürlichen Entwicklung behauptet hatten, 
aus der Natur und etwa dem Rechte des Stärkeren: denn die An- 
lage des Körpers oder der Seele besagt ein Geeignetsein zur Aus- 
übung der Gewalt, aber nicht die Ursache der Gewalt, und wenn 
der Mensch aus einer natürlichen Neigung die Gesellschaft sucht» 
so liegt darin ebensowenig eine Fähigkeit die Herrschergewalt 
zu erzeugen, wie die Tiere eine solche haben.* Keine Herr- 

1 Filmer; passim- — * Hörn: De cisitste, Utrecht 1864, SIT., 44> 
45. — * Becmanus 30«". Felwinger 23, 24. Ziegler; De juribua 
maie&tatisiractaiusetc. Wittenberg 16SI,89. Im I8.j8lirhundert ausführlicher 
bei Strykius: Supplem. Dissertationum et operuni, FrankF, u. Leipz. 
1702,205. Pelizhoffer; Are anorum Status iibridecem, FrankF. 1710, 45 ff. 
— ^ Hörn, 68, 69. Becmanus, 79: Nur die natura rationalis ist der 



213 

4Ch»ft, weder eine öfFeoUIcbe noch eine private, vermag der 
Mensch über den Menschen zu erlangen außer durch die aus- 
drückliche Einsetzung und wirkende GegenwIrtigkeJt Gottes.' 
So hat Gott dem Mann über die Frau, dem Vater über die 
Kinder die Herrschaft mit ausdrücklichen Worten gegeben; so 
herrscht der Herr über die Sklaven, weil Gott ihm den Sieg 
gibt, nicht weil es eine natürliche Knechtschaft und eine 
natürliche Freiheit gäbe.^ Der gleiche Grund für die Unmög- 
lichkeit der Erzeugung der Herrschaft durch die einfachen 
Gesell Schäften galt auch für die zusammengesetzten der Staaten.^ 
Das Zusammentreten der Menschen zu einem Gemeinwesen 
bedeutet noch nicht die Begründung des Imperium majestaticum, 
welches erst den Staat hervorbringt, das aber selbst zu schaffen 
kein Trieb und keine natürliche Neigung vermag.* 

An der Möglichkeit der drei überlieferten Staatsformen 
hielt man meistens fest^; doch beschränkte die äuGersie Zu- 
spitzung der Theorie sie auf die Monarchie und die freie 
Republik, indem sie jedoch diese letztere nur noch als eine Nach- 
ahmung der Monarchie gelten ließ. Daß diese die beste Staats- 
form seif war selbstverständlich geworden. In ihren Definitionen 
tritt immer mehr die schroffe Scheidung zwischen dem Herrscher 
und den Beherrschten als einer unter gleichem Recht lebenden 
Volksmasse hervor. Die Kluft ober wurde ins Ungeheure er- 
weitert durch die letzte Steigerung des Begriffnes der Majestät, 
und zwar in-der religiösen Theorie der persönlichen Maiestät. 
Denn lautete die engere Definition der Monarchie: Res publica^ 
in qua Rex imperat subditis, so die des Herrschers: Rex est 
qui habet Majestatem/ Die Majestät aber ist „jenes erhabene 
Wort, welches den Herrscher und die ganze königliche Republik 
erfüllt und formt", dessen Lob und Hoheit die Römer sagten, 
das die Quelle aller Würden ist wie die Sonne die Quelle alles 
Lichts, und wie diese die leuchtendste ist, da sie allen anderen 



Herrschaft fähig, daher die Tiere nicht, weil sie die Dinge „rite genere 
et in flnes suos dErigere nesciunt^. — ' Hörn, 70, 71. — ^ Ebd. 72, 95. 
— ' GraswinckeJ: De Jure majesiatis. Haag 1542, I4fF. — ^ Harn, 
100. — ^ Barclay IIOfF. Bornitius 11, 12. Arnlsaeus: Opera potitica. 
Straßburg 1648. I, 102 fF. Felwinger S25. Filmer 27, 2S. Bech«r: 
Politischer Diskurs. Frankfurt 168S, 12fF. — ** Hörn 115, 118. Bec- 
m&nus 7S. Felwinger 826. - Die Herabdrückung des Volkes charakte- 
risieren stark: Richelieu: Test. pol. Amsterdam 16SS;9Sr. „Tou3 les 
Politiques sont d'accord que si les Peuples etoient trop ä leur aise, il 
aeroic impossible de les conienJr dans les Regles de leur devoir ... 11 
les faul comparer aux Muhes qui £tanl accoüluniez k la Charge, se gäient 
par un long repos." 



214 



das Licht schenkt, so ist jener höniglicbe Name <Jer würdigste, 
weil dus ibm alle anderen Würden strömen. Gott hat sie als 
ein Zeichen und BiJd seiner Majestät über die Menschen gesetzt» 
damit sie durch den Gehcrsam und die höchste Ehrung aller 
erhoben würde: die Majestät ist der Inbegriff der staatlichen 
Macht, ilire einzige Ursache ist Gott, und ihr Ursprung 
liegt im allmächtigen Schöpfer.' 

Denn die höchste Würde, so argumentierte man, kann nur 
die höchste Ursache geben, und man stützte diesen Beweis noch 
als einen communis populorum consensus durch alle Autoritäten 
der jüdischen, christlichen und aniibeo Literatur. Daß die 
Majesias nicht aus der Natur kommen konnte, lag in dem er- 
wähnten Argument begründet, daß sie der einzelne Mensch in 
keiner Form besitzt: es war daher noch weniger möglich, daß 
eine Gesamtheit der Einzelnen als Volk sie durrh eine Über- 
tragung verleihen konnte, da eine Gesamtheit kein natür- 
licher Körper ist und ihr daher auch nichts natürlich eiti- 
wohnen kann. In dieser Auffassung eines Gesamtkörpers als 
eines reinen Begriffes im Gegensatz zum natürlichen Körper 
lag die stärkste Zurückweisung aller individualistisch-demo- 
kratischen Theorieen der Souveränität des Volkes.* Aus dieser 
Abweisung jeder anderen Herkunft der Majestät ergab sich 
dann mit Notwendigkeit, daß Gott nicht nur ihre bewirkende, 
sondern auch ihre begründende Ursache sein mußte, d. h. daß 
er sie unmittelbar übertrage und also das Volk auch nicht 
als ein Mittler zwischen Gott und dem Fürsten Geltung habe." 
Nicht das Volk steht am Anfang, sondern die Majestät ist älter 
als das Volk^* und alle Handlungen der Übertragung sind nur 
scheinbar: Denn bei der Wahl etwa ist nicht diese die Ursache 
der Herrschaft, sondern sie ist nur der modus acquirendi oder 
die causa acquisitionis, was mit der causa imperii nichts gemein 
hat, und selbst bei der Verwandlung eines Reiches von einer 



' Barclay 525. Jacob I. 137ff. Irvinus: Te iure regni. Lütticb 
1627, 31 ff. Arnisaeus; De iure majesutis passim. Hörn 515 ff« 
Becmanus 598. Ziegler 6 ff . — '^ Barclay 111 ff. Jacob I, ISOfT. 
Grotius fi7 ff. Irvinus 29 if. Graswinukel 10 ff. Arnisaeus 76 ff. 
Öefensio regia 251. Hörn 134, 512fF. Becmanus 556, S5S. Ziegler 
30 ff, Gaartz: Vorrede. Felwinger läßt eine Übercrdnung des Volkes 
in den Fällen zu, in denen es sich nicht um die Miijestas absoluta 
handelt. — " Gentilis 17. Barclay 114. Bornitius 17ff. Irvinus 30ff. 
Graswinckel Iff. Harn 135 ff. Defensio regia €0 ff. Becmanus 168. 
Ziegler 5ä, 59. Felwinger 828, S23. Bossuet: l'oltEique tiree de 
l'Ecriture sainte. Brüssel 1721 (1709'). L. II und III passim. — * Gras- 
winckel 10. 



215 

Demokratie in eine Monarchie ist das Volk nur die Ursache 
der Übertragung, nicht die Ursache der Herrschaft. Denn „das 
Volk", sagt Hörn in einer Abweisung so monarchisch gesonnener 
Theoretiker wie Barclay, Grotius und Saumaise, «kann so viel 
auF den Fürsten übertragen wie der TeuFel auf Christus, dem 
er die Reiche der Welt so freigebig versprach, da er doch nicht 
einmal über ein zahmes Schwein die Herrschaft hatte*.' Auf die 
gleiche Weise wurden alle Anschauungen von der Entstehung der 
Herrschaft durch Gewalttat oder Zwang, Natur oder Völkerrecht, 
Notwendigkeit oder Bedürfnis aus den wesentlichen Attributen der 
höchsten einigen und beständigen Majestät als Irrtümer abgewiesen. 
Wean aber die Inhaber dieser Majestas, die Könige, 
von der Gewalt des Einen Gottes kommen, um mit TertuUian 
zu reden, durch ihn die zweiten und nach ihm die ersten, 
vor allen und über allen Göttern und Menschen sind,* so gibt 
es niemand im Staate, der über den Herrscher richten könnte, 
als Gott seLbst. Er ist also von allen Gesetzen der bürger- 
lichen Gesellschaft frei und gelöst. Der Satz des Ulpian 
„Princeps legibus solutus" wurde in unaufhörlichen Varianten 
wiederholt und durch das Gewicht des römischen Rechtes ver- 
stärkt.' Gebunden hielt man die Majestät nur an die Gesetze 
Gottes und der Natur, und wenn einige Theoretiker sie auch 
auf die Fundamentalgesetze des Staates oder auF die völker- 
rechtlichen Verträge verpflichten wollten,* so lösten andere sie 
dagegen in gewissen Fällen selbst von den Gesetzen der Natur;" 
auch die Bindung an die göttlichen und natürlichen Gesetze bezog 
sich nach der allgemeinsten Übereinstimmung nur auf die 
richtende (vis directiva), nie auf die zwingende Kraft (vis 
coactiva) des Gesetzes.^ Die Betonung dieser Scheidung 
richtete sich ebenso gegen „die schändlichen Axiomata der 
Puritaner* wie gegen die .»scholastischen Spitzfindigkeiten der 
Jesuiten",' um die unbedingte Gehorsamspflicht der Untertanen 
zu begründen, denen nur bei Befehlen wider Gott ein passiver 
Widerstand zustände, und so jedes Recht des bewaffneten Wider- 
standes zu vernichten," Denn während man am Anfange des 



1 Hörn 155 !T, — * Ziegler 7, — * S. schon Gentilis 9 (1605): 
.Princeps legibus solutus est aii Lex et eadera: quod lejf est, quodcunqu« 
pUcet principi. Et liaec lex non barbara sed Romans est: id est praestan- 
tlssirtia in legibus hominum,'* — ■■ Bornitius 51 ff. Felwinger 59, 
109PP., 841ff. — " Graswinckc] 34ff. — '^ Bornitius 70ff. Becmanus 
132 PP. Ziegler !Sff. - ' Gaartz läSff. Filmer 4, — " Barclay 132—168, 
2nff. W. de Erenberglc 1 1 ff . Schönborner 34*. Irvinus 215ff. 
Graswinckel I06ff. DefenKio regia 2Öff. Hörn 2l&fr. 



216 



Jahrhunderts noch einen Unterschied zwischen dem Tyrannus 
absque tiiulo, d. h. dem Usurpator eines Reiches, und dem 
Tyrannus absque exercitio, d. h. dem gewalttätig regierenden 
legitimen Könige mit absoluter Souveränität,' machte und gegen 
den ersteren, wenn nicht den Mord, so doch aktive Gewalt Für 
erlaubt hielt, so schloß die religiöse Theorie in dem Bestreben, 
den Untergebenen jedes Urteil über die Herrschenden zu ent- 
ziehen, auch den Widerstand gegen alle Formen der Tyrannen 
aus und empfahl als Hilfe nur das Vertrauen auf Gott, die 
Beharrlichkeit und die gerechte Übung der eigeneti KräFte,* 

Die Unterscheidung selbst jedoch von König und Tyrann, 
an deren Gegensätzlichkeit im achtzehnten Jahrhundert das 
Bild der Tugenden des aufgeklärten Fürsten sich vollendete, 
wird in der alten Form beibehalten und beruht im wesent- 
lichen darauf, daß der König seine höchste Gewalt stets auf das 
öfTentltche Wesen bezieht, der Tyrann sie stets für seinen 
privaten Gebrauch benutzt» daß dieser alles für erlaubt hält, 
jener seine Handlungen an der Gerechtigkeit und der Ehre 
miQt." 

Denn sollte der König auch jeder irdischen Macht entrückt 
sein, so war seine steile Stellung durch die einzige Verpflichtung 
gegen Gott eine über alles Menschenscbicksal schwierige und 
sorgenvolle und erforderte von ihm die höchste Auswirkung 
aller geistigen Kräfte/ Die MajesJas war die formende Ge- 
walt, welche der Materie Staat Gestalt und Leben geben sollte, 
nicht das Haupt allein, mehr noch die Seele des Körpers, iij 
der die Vollendung des Zweckes lag. In der Ansicht vom 
Zweck des Staates aber bekannte sich die religiöse Theorie 
des Absolutismus zur höchsten Forderung. Während vor ihr 
die aristotelische Formel vom guten und schönen Leben, die 
nach ihr die Grundlage zur eudämonistischen Ausdeutung des 
Wohlfahrtsstaates werden sollte,'^ meistens im Heil der Gemein- 
schaft, im Schutz gegen Feinde, im Trost gegen Einsamkeit, in 
der Erhaltung der natürlichen Gesetze und höchstens bei Bodin 



^ Zu den absolut souveränen Fürsten rechnet Bodin (207 ff.) die 
von Fpanfcreich, England, Spanien, Schottland, Äthiopien, Tijrke], Persien 
und Moskau. Jeder Angriff auf sie auf dem Wege des Rechtes oder durch 
die Tat, ja selbst der Gedanke daran macht des Todes schuldig. S. a. 
Schönborner 242 fF. — ' Jacot) I. ]4"7 ff,, t83 £f. Defensio regia 53 ff . 
Felwinger 122, S4fiff. HornS33ff. — ^ BObiiviscitursuorum commodoram 
neque quicquam privat! habet . . . hoc palladium illud est^ haec delapsa coelo 
ancilia" etc. Fei winger 850. — ■'S.Graswinckel: „Conspectus virtutura 
regiamm" 99ff. - '• Marchet: Studien über die Entwicklung der Vet- 
waltungslehre. München 18&5, 232ff. 



217 



auch in der schönen Harmonie gefunden wurde,' verstand sie 
unter dem Zwecke des Staates entweder überhaupt nicht das 
Glück der Privaten noch der Menge oder stellte es nur als 
einen untergeordneten Zweck dem höchsten nach, der auf einem 
rein formalen Grunde aufgebaut nach dem Bilde Gottes die Ord- 
DUOg und Verwaltung der Welldinge forderte: dereinige mystische 
Körper des Staates sollte nach der ihm innewohnenden Gesetz- 
mäßigkeit vor allem sain Heil darin suchen, sich mit der höch- 
sten Herrschaft, die in der Majestät beschlossen lag, zu beseelen, 
damit er, wie der menschliche Körper durch die Seele sei und 
Bewegung habe, durch die lebendige Herrschaft der Majestät 
lebe und stark sei, und nicht wie der menschliche Körper ohne 
die Seele zu sein aufhöre, durch den Verlust der Majestät als 
Staat zugrunde gehe und zur Anarchie, dem gesetzlosen Haufen 
der Menschen oder einem anderen verdorbenen und Formlosen 
Chaos entarte.^ Weder Attalische Schätze, noch bis zum 
Himmel aufgehäuFies Gold und Silber, Reichtum der Siädte, 
noch die Menge der Provinzen konnten diesen aus dem Wesen 
der MajesiSf erschlossenen Zweck zu erreichen dienen, da nur, 
was die Form gab, nicht die Menge (quantitas) ihn förderte: also 
vermochte nur die tiefste Einheit von Herrscher und Staat das 
Ziel der menschlichen Gesellschaft zu erlangen oder besser in 
sich zu bilden: Nam Deus imperatori leges subjecit et Imperator 
est lex animata in terris. 

Es leuchtet ein, in welche Tiefen die Rechte der Unter- 
tanen um der Erreichung eines solchen Zweckes willen hlnab- 
gestoßeo werden durften, und in der Tat machte das äußerste 
Herrscherrecht, das diese Zeit ausbildete, nicht mehr vor dem 
halt, was den Menschen von jeher fast heiliger gegolten hat 
als ihr Leben, nämlich vor dem privaten Eigentum. Die letzte 
Erhöhung der irdischen Majestät und die tiefste Begründung 
ihrer Macht lag im Dominium Eminens. In den milderen Phasen 
der theoretischen Ausgestaltung des Absolutismus war der Begriff 
am Anfang des Jahrhunderts aufgetaucht und sein wesentlicher 
Inhalt dahin festgelegt, daß der Inhaber der Staatsgewalt die 
privaten Güter nicht nur im Falle äußerster Notwendigkeit, 
sondern auch um des öffentlichen T^ulzens willen benutzen, 
ja verderben und veräuDem könae, wenn dafür die Haftung der 



/ 



' Schönborncr 2, 7, 116. Seckcndorf s, Harchet 22. Becmanus 
^, IM. Becher 42. Klockius: Tractatusd e contributjonibus 1734, 10, 
IJ. Bodin 3. — ^ Suarcz 160. Bornitius 22ff. Irvinu* 41, Fei- 
winger &31 usw, 



zis 



Eatschädigung AUS öffentlichen Mitteln anerkannt und sie im Falle 
des augenblicklichen Unvermögens als schlummernde Schuld 
betrachtet werde,* Aber indem die religiöse Theorie das 
Dominium Eminens nicht als ein besonderes Recht, sondern als 
einen alle Rechte der Majestät gleichmäßig durchdringenden 
Modus, der ihr zu allen Zeiten und überall (semper atque 
ubique) eigen sei, erwies und es als ein Gleichnis des Dominium 
Excellenciae, das Gott «n allen Dingen, auch ati den privaieti 
Gütern, hätte, betrachtete, mußte sie alle Beschränkungen 
jener frühen Formulierung fallen lassen, und wie sie zu- 
nächst die EntschädigungspHicht als dem Wesen der höchsten 
Gewalt widersprechend verneinte und die Ersetzung der 
Verluste höchstens als besonderes Geschenk zuließ, so er- 
klärte sie auch die Beschränkung der Anwendung des Domi- 
nium Eminens auf die besonderen Falle des öffentlichen Wohles 
oder der dringenden Not, welche schon von ungeheurer Tragweite 
geworden waren,'* für hinfällig und gestattete dem Herrscher, ohne 
irgendeinen Grund zu seiner Lust die Bürger zu berauben und ihre 
Glücksgüter an sich zu reißen. Daß die Majestät dieses Recht 
nicht immer ausübt, besagt nichts über da$ Wesen und die 
stets wirksame Gewalt dieses Rechtes; denn wie der Fürst 
das Recht über Leben und Tod zu seiner Lust und ohne vorher- 
gegangenes Verbrechen hat und dennoch nicht immer die Köpfe 
seiner unschuldigen Bürger herunterschlägt, wie er das Recht 
der Waffen hat und dennoch nicht immer die Waffen führt und 
nicht sein Volk in beständigem Kriege erschöpft, wie der Mensch 
die Macht zu reden und zu lachen hat und dennoch nicht immer 
redet oder lacht, um nicht die Schande einer Torheit zu zeigen, 
so besitzt die Majestät immer das Dominium Eminens, aber 
übt es aus den in seinem Wesen beschlossenen Gründen nicht 
immer aus.^ Diese ungeheuere Steigerung der irdischen Majestät, 
welche hinter ihren Ahnen im archaischen Despotismus, hinter 
ihren älteren Brüdern im römischen Imperialismus nur durch 
die letzte christliche Schranke, welche sie hinderte, sich selbst 
zum Gott zu erklären/ zurückbleiben muQte, obwohl sie in 



> Grotiu565,3l6,734, 735. — Mcb erinnere daran, daß die Fürsten 
des 17. Jahrhunderts das Rechi des Casus durae necessitatis, das durch 
den Reichtstagsbeschluß von 1654 Gesetzes kr» fr erlange hatte, tenutzten, 
um auch die ständischen Rechte und Privilegien zu vernichien und alle 
staatliche Gewall in ihrer Hand zu vereinigen. ~ ' Hgrn 2G9S. Bec- 
inanus 29&fF., 70517. Die Ansichi über di« Emschädlgungspflicht setzte 
sich jedoch bald wieder durch. S. Ziegler93PF. — * Vgl. Kurtßreysig: 
Der Stufenbau und die Gesetze der Wehgeschichte. Berlin 1905, 49. — 
Kulturgeschichte der Neuzeil II, 1; 366ir. 444, 445. 




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219 



gleichüismäDigem SiTine oft genug &I$ die Gottheit auf Erden 
migesprocheo wurde, suchte die zweite als die philosophische 
bezeichnete Theorie des Absolutismus, welche fast ganz aus 
dem einen Haupte des Thomas Hobbes erwuchs, auf rein 
rationalem Wege^ indem sie aus den sichtbaren Wirkungen die 
Ursachen erschloß und verkettete, mit einer gleichen Stärke 
durch eine unentrinnbare Geschlossenheit der Gedanken zu 
erreichen. 

Ausgehend von der Erforschung des Körpers als dem einzig 
erkennbaren Objekt der Philosophie wurden Lust und Schmerz 
zur einzigen Grundlage der Scheidung von Gut und Böse gemacht 
und aus der Gleichheit des höchsten Gutes, der Erhaltung des 
Lebens, und des größten Übels, des Todes, für alle Menschen 
die ursprüngEiche Gleichheit der Rechte der Einzelnen und aus 
deren unmöglicher Versöhnlichkeit im Gegensatz zu dem aristo- 
telischen Gesell ungstriebe der Krieg aller gegen alle gefolgert. 

Ich kann die behannten Schlüsse kurz fassen: Das Recht 
aller auf alles gefährdete in dem Zustande des allgemeinen 
Krieges die Erhaltung jedes Einzelnen, und deshalb trieb 
die natürliche Einsicht die Einzelnen dazu , eine bessere 
Form der Erhaltung in der Einigung zu erlangen, d. h. den 
Frieden zu suchen, auf das absolute Recht auf alles zu 
verzichten und die Grundlagen der Einigung für unverlettlJch 
zu erklären. Diese Prinzipien der Vernunft oder des natürlichen 
Gesetzes werden aber erst verpflichtend durch eine unwider- 
stehliche Macht, welche ihre Ausführung sichert: diese Macht 
ist der Staat. Der Staat entsteht entweder durch die Gewalt eines 
Siegers oder durch die freiwillige Unterwerfung unter die absolute 
Macht eines oder mehrerer Menschen: die innere Ursache ist in 
beiden Fällen die Einstimmung in die Herrschaft aus Furcht 
vor Tod und Gefahr. Es besteht also vor dem Staate kein Volk 
und keine Gesellschaft, die irgend einen GewaltlJtel in sich trüge 
und übertragen könnte; es bestehen nur die Einzelnen, die auf ihr 
natürliches Recht durch äul3ere Gewalt oder durch innere 
Nötigung, deren Grundursache aber die gleiche ist, verzichten und 
durch diese Negierung ein neues Gemeinschaftswesen, eiiie künst- 
liche Person, den Staat, notwendig erzeugen müssen, in dem von 
nun an der absolute Wille mit absoluter Gewalt über alle 
herrschend ist und ihren absoluten Gehorsam fordern kann. 
Die drei bekannten Arien des Staates, Demokratie, Aristokratie 
und Monarchie, sind die einzig möglichen und bleiben es in 
ihren höchsten Zuspitzungen, für welche nur die mißbilligenden 
Meinungen der Menschen andere Kamen, wie Anarchie, Oligarchie 



230 

und Tyrannis, erfunden habend Die beste Staatsform ist immer 
die gerade bestehende^ doch ist in der MoiiBrchi& die Einheit 
des staatlichen Willens und Handelns am besten gewahrt- aber 
in jeder ist die höchste Gevftlt die unveränderlich gleiche, 
unbegrenzte und unteilbare, welche die Gesetze gibt und auf- 
hebt, das Recht über Leben und Tod und auch das Eigentum 
der Bürger^ selbst die Bestimmung des Gewissens und des 
religiösen Glaubens allein, unbeschränkt und ohne Verantwortung 
ausübt.^ 

Mit dieser Aufrichtung der staatlichen Souveränität war 
jedes souveräne, ja überhaupt jedes Recht des Volkes und 
des Einzelnen vernichtet. Aber wenn die hinreiDende Kraft 
dieser Theorie in der zwingenden Logik ibter negativen Axiome 
und DeRnitionen lag, so barg sich gerade darin auch ein Sprung, 
der das empfindsame monarchische Gefühl jener Zeit miUtraujsch 
machte: Denn wenn die Souveränität durch den Verzicht der 
Einzelnen auf ihr natürliches Recht und ihre Unterwerfung 
unter den Gemeinschaftskörper entstehen sollte, so konnte 
die schärfste Logik nicht verwischen, daD zum wenigsten der 
Anfang der Souveränität mit einer Willenshandlung der In- 
dividuen unlöslich verknüpft war und ihr Verzicht gab, was 
nach der religiösen Theorie der allmächtige Gott gab." Dieses 
monarchische /Vlißtrauen war in der Tat von tiefer Berechtigung. 
Abgesehen davon, daß man aus den gleichen Prämissen 
der philosophischen Theorie auch die Demokratie als den Urtyp 
des Staates herleiten konnte,' stellte die rein naturrechtliclie 
Begründung und die Möglichkeit der rein rationellen Erfassung 
der Souveränität schon an sich eine mindernde Kritik der 
Majestät dar, und indem man diese ihres göittichen Ursprungs 
ganz entkleidete, zerriß man alle Schleier, mit denen eine 
übernatürliche Weihe sie umgeben hatte, und gab die ent- 
blößte Erhabenheit den forschenden Blicken aller Menschen 
preis. Alle Begründung einer Ordnung der Dinge fiel ins 
Menschliche zurück. Die Herrscher selber gingen bald in 
das kluge Garn jener Lehre. Sie wurden aufgeklart: im auf- 
geklärten Despotismus aber trat hinter der begründenden Ver- 
nunft jede Wirkung Gottes oder der Natur zurück. Die 



' Hobbes; Levialhan, cap, 19. — * Ebd. cap. 18. — » S. Korn: Die 

Theorie des Hobbes erscheint zunächst annehmbar doch bei näherer Be< 
tracblung verderblich, sie gibt dem Volk diescbCimmste Watfe in die Hand, 
dft es dessen freien Willen zur Grundlage macht usw. (I66ff.) — Hobbes 
flel bekanntlich nach dem Erscheinen seines Buches ^De cive" beim 
engtischen Königstiause in Ungnade. — *■ Spinoza: Tractatus politicus 
u. Tractatus theoEogico-politicus passJm. 



221 

feinste Spitze der philosophischen Theorie, die Vernichtung 
jedes Einzelrechtes, brach zunächst ab, und Für die Ent- 
stehung der staatlichen Herrschaft Verden die individua- 
listischen Deutungen der Vertragstheorie wieder geltend oder 
verschmelzen mit jener zu einer in der Wirkung absolut 
monarchischen, in ihrem Ursprung aber demolcrstischen Staats- 
begründung.' Was Gewalt blieb und KräFt gewann, war das 
neue künstliche Tier, der Leviathan des Thomas Hobbes, der 
Staat, vor dem sich die legitimen Herrscher des kommenden 
Jahrhunderts neigten und sich seine Diener nannten. Wenn zwar 
das Volk noch nicht, sondern zunächst der Begrilf des Staates 
die Person des absoluten Fürsten überwunden hatte^ obwohl 
dieser Begriff selbst erst durch das Bild der absoluten persön- 
lichen Majestät seine neue Einheit gewonnen hatte, so zeigte 
doch der veränderte Zweck des aufgeklärten Staates, der weit unter 
den Formalen, im Weltganzen ruhenden Zweck der absoluten 
Monarchie herabsank, nämlich die Wohlfahrt der Einzelnen, durch 
deren Anerkennung der aufgeklärte Monarch sich selbst be- 
schränkttf, mit voller Deutlichkeit, daü die Wurzeln dieses Begriffes 
im Volke lagen. So bedeutet der AuFgeklärte Despotismus nicht 
die letzte Erhöhung des absoluten Königtums, sondern den 
Übergang zu den demokratischeren Staatsformen unserer Zeit. 
Daß die Idee der absoluten Monarchie so schnell zugrunde ging, 
lag in der doppelten Gegnerschaft von Volk und Kirche. Sie 
vermochte weder das Maß von Herrschaftsanspruch, das mit 
der Zerstörung der mittelalterlichen Welt in das Volk als in 
eine Summe von ununterschiedenen, mit gleichen Rechten aus- 
gestatteten Einzelnen gesunken war, wieder an sich zu ziehen 
und es auf religiöser oder rationaler Grundlage in einem ein- 
heitlichen Weltbilde der unumschränkten EtnzelherrschaFt duF- 
zulösea, noch die Macht der Kirche, deren Unterordnung unter 
die weltliche Gewalt alle Theodeen aus dem Wesen der voll- 
kommenen Souveränität folgerten, in den katholischen Ländern in 
der alten Form der römischen Kirche rein auf das geistliche Gebiet 
zu beschränken, noch weniger sie durch die innerlich geforderte 
Ausbildung einer staatlich- nationalen Kirche völlig aus den 
politischen Grenzen zu drängen oder sie in den protestantischen 
Ländern, wo die Möglichkeit einer einheitlichen Form, wie es ein- 
gangs erwähnt wurde, gegeben war, den Händen und Herzen des 
Volkes oder der Einzelnen ganz zu entreil^eu und zu einem 



' Vor iUcm PufendörT, Böhmer und Leäbniz sind die Vertreter 
dieser aeuen Formulierung der Theorieen, s. Gierke: Altbusius I83(f. 



Hemst & ZleniMO, G. m. b. H.. VItteDbeix. 



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Grundriaae und BouMAlne tut S 
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