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Full text of "Grundzüge der Criminalpsychologie auf Grundlage der Deutschen und ..."

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i 






1 








LIBRARY 

OP THE 

University of California. 

Class 




GEUNDZÜGE 

DER 



CRIMINALPSYCHOLOGIE 



AUF 

GRUNDLAGE DER DEUTSCHEN UND ÖSTERREICHISCHEN 
STRAPGESETZGEBUNG 

FÜR JURISTEN. 



VON 



Dr. R. von KRAFFT-EBING, . 

K. K. o. 8. Professor der Psychiatrie an der Universität Graz, Mitglied des deutschen Vereins der 

Irrenärzte, der Sociäte* medico-psychologique und der Societe de medecine legale in Paris, der Sociäte* 

de metlecine in Gent, der Soci6te" de med. mentale de Belgique, der Societa fireniatriea italiana, der 

mälico-psychological association in London etc. 



Zweite gänzlich umgearbeitete Auflage. 



^ OF THE 



UNIVERSITY 

OF 

IFOBN^ 

STUTTGART. 
VERLAG VON FERDINAND ENKE. 

1882. 



fc o«° 



*v 



toH£RAu 



Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart. 



I 



Herrn 



Dr. Franz von Holtzendorff, 

o. ö. Professor der Rechte an der Universität zu München, 



zum Äbschluss des 25. Jahres segensreicher Wirksamkeit als 
akademischer Lehrer 



in hochachtungsvoller Freundschaft 



der Verfasser. 



200004 



Vorwort zur ersten Auflage. 



Die nachfolgenden Blätter sind die Frucht langjähriger 
Erfahrungen und Studien auf dem Gebiet der Criminal- 
psychologie und aus dem Wunsch entstanden, Richtern 
und ärztlichen Sachverständigen eine möglichst klare und 
kurz gefasste Darstellung dieser Disciplin für ihre prak- 
tische Thätigkeit zu bieten. 

Aus diesem Grund konnte nur auf sicher Erworbenes, 
praktisch Wichtiges Bedacht genommen und darauf ver- 
zichtet werden, in theoretische Betrachtungen, weitschweifige 
Citate und Literaturangaben einzugehen. 

Auch eine casuistische Illustration der einzelnen Ab- 
schnitt^ schien entbehrlich. Eine reiche Ausbeute von 
Fällen bieten die Werke von C asper, Liman, Fried- 
reich' s Blätter, Henke's Zeitschrift, die Vierteljahrsschrift 
für gerichtl. Medicin, die deutsche Zeitschrift für Staats- 
arzneikunde, die Annales m^dico-psychologiques u. A. 

Bezüglich eingehender Literaturangaben verweise ich 
auf meine früheren gerichtsärztlichen Arbeiten. 

Eine neue Bearbeitung des Gebietes der Criminal- 
psychologie schien mir durch die Aenderungen der Gesetz- 
gebung, wie sie mit Einführung des deutschen Strafgesetz- 



VI Vorwort. 

buches erfolgten, aber auch durch die Fortschritte der 
Wissenschaft und die ungenügende Verbreitung derselben 
geboten. 

Gewisse Monstreprocesse in jüngster Zeit haben wenig- 
stens gezeigt, wie unklar noch manche Anschauungen, wie 
zäh gewisse Vorurtheile auf criminalpsychologischem Ge- 
biet sich erweisen, wie weit die gerichtliche Psychologie 
in ihrer praktischen Verwerthung noch davon entfernt ist, 
eine j,Psychopathologie a zu sein, wie wenig gewisse Er- 
rungenschaften der Anthropologie, Neuropathologie, empi- 
rischen Psychologie gewürdigt werden. 

Hoffentlich tragen diese Blätter dazu bei, Fortschritt 
und Interesse in einem social und wissenschaftlich höchst 
bedeutsamen Gebiet anzuregen. Ich übergebe sie der 
Oeffentlichkeit mit dem Wunsche, dass wenigstens der 
gute Wille des Verfassers aus ihnen erkannt und ihnen 
eine ebenso eingehende als belehrende Kritik zu Theil 
werden möge. Es ist mir Bedürfhiss, an dieser Stelle 
meinen Dank für die Annahme der Widmung meiner Ar- 
beit einem Manne auszusprechen, der als eifriger Vor- 
kämpfer für Fortschritt und Humanität auf dem Gebiet 
der Strafrechtspflege, Criminalpsychologie und Gefängniss- 
kunde sich verdient gemacht hat, und dem auch ich manche 
Anregung und Belehrung durch Wort und Schrift verdanke. 

Strassburg, im Juni 1872. 



Vorwort zur zweiten Auflage. 



Die vorliegende gänzlich umgearbeitete zweite Auflage 
hat ausschliesslich das praktische Bedürfniss des Rechts- 
gelehrten im Auge. Den Standpunkt des Gerichtsarztes 
mitzuberücksichtigen, wie dies bei Abfassung der ersten 
Auflage der Criminalpsychologie 1872 geschah, erschien 
dem Verfasser mit Rücksicht auf sein 1875 geschriebenes 
und 1881 umgearbeitetes Lehrbuch der gerichtlichen Psycho- 
pathologie überflüssig. 

Das Buch in seiner gegenwärtigen Gestalt soll den 
richterlichen Personen als Leitfaden in den so häufigen 
und schwierigen Fragen zweifelhafter Geistesgesundheit im 
Criminalforum dienen. 

In einer Einleitung wurde versucht, die Mangelhaftig- 
keit des processualischen Verfahrens gegenüber möglicher- 
weise geisteskranken Angeschuldigten und Angeklagten zu 
kennzeichnen, die Nothwendigkeit psychiatrischer Kennt- 
nisse für den Juristen nachzuweisen und den zweifelhaften 
Werth der sog. Kriterien des gesunden Menschenverstandes 
behufs Erkennung geistiger Krankheit in foro darzuthun. 

Das eigentliche Thema zerfällt in zwei Abschnitte. 
Der allgemeine oder formelle begleitet den fraglichen 



VIII Vorwort. 

Geisteskranken durch die verschiedenen Stadien des deut- 
schen und österreichischen Strafprocessverfahrens und be- 
müht sich klarzulegen, worauf es zur Vermeidung unge- 
rechter Urtheilssprechung gegenüber wirklichen Geistes- 
kranken ankommt. Der Verfasser hofft auf eine vorur- 
theilsfreie Prüfung der ' von ihm zur Verbesserung des 
formellen Verfahrens gemachten Vorschläge und auf eine 
nachsichtige Beurtheilung da, wo er als Laie juristisches 
Gebiet berühren musste. 

Der specielle oder klinische Theil bezweckt eine bün- 
dige und möglichst populäre Darstellung der geistigen 
Krankheitszustände, soweit ihre Kenntniss für den Rechts- 
gelehrten wünschenswerth oder nothwendig erscheint. Be- 
züglich Literaturangaben und Casuistik mag der Hinweis 
auf des Verfassers Lehrbuch der gerichtl. Psychopathologie 
genügen. 

Graz, Deceniber 1881. 



Inhalt. 



Seite 

Einleitung . 1 

Grundbedingungen der Zurechnungsfähigkeit (1). Häufig- 
keit unfreier Geisteszustände in foro (2) und ihrer Ver- 
kennung (2). . Fehlerhaftigkeit früherer Gesetzgebung 
und Untersuchungsweise bei geistig unfreien Zuständen (4). 
Gründe der noch heutzutage vielfach unrichtigen foren- 
sischen Beurtheilung Geistesgestörter (5). Schwierigkeit 
der ärztlichen Expertise (5). Vorurtheile und Unkenntniss 
der Juristen auf psychiatrischem Gebiet (6). Fehlerhaftig- 
keit des gerichtlichen Verfahrens bei fraglicher Geistes- 
krankheit (6). Notwendigkeit psychiatrischer Kennt- 
nisse für den Juristen (8). Falsche Anschauungen über 
die Erscheinungsweisen des Irreseins (9). Die Kriterien 
des „gesunden Menschenverstands^ zur Erkennung gei- 
stiger Krankheit unzureichend (10). Werth des Motivs 
der strafbaren Handlung (11). Isolirtheit der That im 
Leben des Thäters. Leumundsfrage (14). Prämeditation, 
List etc. vermeintlich mit geistiger Krankheit unverein- 
bar (16). Kriterium des Strafbarkeitsbewusstseins (17), 
der Reue (18). Verständige Rede schliesst geistige Krank- 
heit nicht aus (19). 

A. Allgemeiner oder formeller Theil 23 

Der fragliche Geisteskranke in den verschiedenen Stadien 
des Strafverfahrens. 

I. Vor dem Untersuchungsrichter 23 

Wichtigkeit der Beachtung des Geisteszustands beim In- 
culpaten (23). Mangelhafte Berücksichtigung desselben 



X Inhalt. 



Seite 



in praxi (24). Allgemeine Verdachtgründe für geistige 
Störung (24). Wichtigkeit eines psychischen Status prae- 
sens nach der Gefangensetzung (26). Angeblich man- 
gelnde Erinnerung für die That (28). Möglichkeit mo- 
mentaner Aufhellung des Bewusstseins bei Bewusstlosig- 
keit (28). Simulation geistiger Krankheit (29). In zieh- 
ten für Simulation (30). Notwendigkeit der Erforschung 
des Geisteszustands vor der That (31). Inzichten für eine 
Geisteskrankheit schon vor der That (31). Notwendig- 
keit einer Ermittlung der früheren Lebens- und Gesund- 
heitsverhältnisse (32). Fragebogen zu diesem Zweck (33). 
Erblichkeitsfrage (34). Gefahr voreiliger Schlüsse hie- 
bei (35). Bedeutung gewisser Alters- und Lebensperio- 
den (35). Alter der strafrechtlichen Unreife (36). Unter- 
scheidungsvermögen (36). Dasselbe involvirt nicht die 
Selbstbestimmungsfähigkeit (39). Alter der Pubertäts- 
entwicklung (39). Häufigkeit geistiger Störung im Pu- 
bertätsalter (40). Brandstiftungstrieb (41). Menstruation 
(41). Schwangerschaft und Gelüste in solcher (42). Ge- 
bärakt und Kindsmord (43). Wochenbett (45). Zeit 
rder geschlechtlichen Involution beim Weib (45). Greisen- 
alter und Sittlichkeitsvergehen in diesem Alter (46). 
Verbrechen, bei welchen unter allen Umständen eine ge- 
< xichtsärztliche Untersuchung wünschenswerth wäre (47). 
Richtige Wahl der Sachverständigen (48). Qualifikation 
eines Sachverständigen (48). Competenz der ärztlichen 
Wissenschaft in psychiatrischen Fragen (50). Stellung 
und Aufgabe der ärztlichen Sachverständigen (50). Be- 
rufung der Sachverständigen (51). Nothwendigkeit ge- 
nügender Beobachtungszeit (52). Passender Beobach- 
tungsort (52). Geeignete richterliche Fragestellung (53). 
Gutachten (55). Richterliches Prüfungsrecht des Gutach- 
tens (56). Einstellung des Verfahrens wegen geistiger 
Krankheit (56). Neuerliche Erhebung von Gutachten (57). 
II. Der fragliche Geisteskranke vor dem erkennen- 
den Richter ......" 58 

Etwaige Ergänzung der Voruntersuchung (58). Verhand- 
lungsfähigkeit (59). Vorbereitungen zur Hauptverhand- 
lung (59). Zulassung von Zeugen und Sachverständigen 
(60). Werth des Geständnisses und der Zeugenaussagen (61). 
Defensionalsachverständige (63). Hauptverhandlung (64). 
Kreuzverhör (65). Einwände gegen die Zurechnungs- 



Inhalt. XI 

Seite 
fähigkeit erst in der Hauptverhandlung (66). Schlussvor- 
trag des Gerichtspräsidenten (68). Gesichtspunkte für die 
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit (69). Mildernde 
Umstände (71). 

III. Der Geisteskranke nach dem Urtheil 72 

Wiederaufnahme des Verfahrens wegen geistiger Krank- 
heit (72). Geisteskrankheit Hinderniss der Vollstreckung 
der Todesstrafe (73), der Freiheitsstrafe (73). Unter- 
bringung geisteskrank gewordener Sträflinge (75). 

B. Specieller oder klinischer Theil. 

Zustände krankhafter Störung der Geistesthätigkeit 78 

Begründung einer Störung der Geistesthätigkeit als einer 

krankhaften . . . • 78 

Inwiefern durch krankhafte Störung der Geistesthätig- 
keit die freie Willensbestimmung aufgehoben wird 85 

I. Die psychischen Entwicklungshemmungen ... 86 

Blödsinn (89). Schwachsinn (91). Taubstummheit (95). 

II. Die psychischen Entartungen 97 

Klinische Uebersicht (97). Bedeutung der Entartungs- 
zustände für die Strafrechtspflege (100). Erkennungszeichen 
dieser Zustände (101). 
1. Moralisches (107), 2. impulsives Irresein (116) als be- 
merkenswerthe Erscheinungsweisen psychischer Ent- 
artung. 

III. Die Geisteskrankheiten 118 

Formen der Geisteskrankheit (118). Die Zurechnungs- 
fähigkeit bei Geisteskranken aufgehoben (119). 

1. Die Melancholie 120 

Erscheinungsbild (121). Gewaltthaten aus schmerzlichem 
Fühlen (123), aus Zwangsvorstellungen (124), aus Angst- 
anfällen (125), aus Sinnestäuschungen und Delirien (126). 
Indirekter Selbstmord (127). Mörder der eigenen Kinder 

aus Liebe (127). Unterscheidung von Affekt und Me- 
lancholie (128). Art der Ausführung von Gewaltthaten 
bei Melancholischen (129). 

2. Die Manie (Tobsucht) 130 

Maniakalische Exaltation (130), periodische Form (133). 
Lucida intervalla (134). 

3. Wahnsinn (Verrücktheit) 134 

Allgemeine Bemerkungen (135). Schwierigkeit der Er- 
kennung gewisser Wahnsinnszustände (136). 



XII Inhalt. 

Seite 

a) Verfolgungswahnsinn (137). Gemeingefährlichkeit 
solcher Kranken (138). Querulantenwahnsinn (140). 

b) Religiöser Wahnsinn (143). 

4. Erworbene geistige Schwächezustände . 144 

als Terminalzustände nach Melancholie, Manie und Wahn- 
sinn (145). Geistesschwäche nach blutigem Schlagfluss 
(146), nach Kopfverletzung (147). Dementia paraly- 
tica (148). 

5. Irresein durch Ausschweifungen im Trunk (Alkoholismus 

chronicus) 151 

6. Irresein der Epileptiker . 154 

Bedeutung der Epilepsie für das Forum (154). Dauernde 
geistige Störungen bei Epileptischen (155). Transitorisches 
Irresein (156). 

7. Irresein der Hysterischen 160 

Elementare geistige Störungen (160). Transitorisches 
Irresein (162). Ausgänge der Hysterie in chronisches 
Irresein (162). 

Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit 164 

Begriff der Bewusstlosigkeit im Sinn des Strafgesetzes 
(165). Anscheinend überlegtes Handeln in solchen Zu- 
ständen möglich (165). Bedeutung der Erinnerung für 
die forensische Beurtheilung (166). 

1. Traumzustände 167 

a) Schlaftrunkenheit 167 

b) Schlafwandeln 169 

2. Fieber- und Erschöpfungsdelirium 172 

3. Mania transitoria 173 

4. Raptus melancholicus 176 

5. Intoxikationszustände 177 

a) Rausch und pathologische Alkoholzustände . . . 177 

b) Vergiftungszustände : Narcotismus 183 

6. Die Affektzustände . 184 

Der physiologische Affekt (184). Der pathologische Af- 
fekt (186). 



•^ OF T He ^ 

UNIVERSITY 

OF 



Einleitung. 

Die erhabene Aufgabe des Strafrichters, als Hüter des 
vom Gesetzgeber zum Schutze der sittlichen und vitalen 
Interessen der Gesellschaft aufgestellten Gesetzes , Ver- 
letzungen desselben zu verfolgen und zu ahnden, wird 
dadurch eine besonders schwierige und verantwortliche, . 
dass häufig genug zwar der objektive Thatbestand einer 
strafbaren Handlung besteht, jedoch der subjektive That- 
bestand einer solchen bezüglich der Zurechnungsfähigkeifr 
des Thäters in Frage gestellt ist. 

Die Forderung des Gesetzgebers an den Einzelnen, 
dass er seine egoistischen und vielfach unsittlichen Be- 
strebungen den socialen sittlichen Interessen der Gesammt- 
heit unterordne, ist nur für Den erfüllbar, der vermöge 
einer günstigen Naturanlage und auf Grund einer genos- 
senen Erziehung die Fähigkeit einer Selbstbestimmung er- 
langt hat-- Als die Grundbedingungen dieser ergeben sich Gmndbe- 
ein intellektiv-ethisches Moment — die Erkenntniss der Nütz- der zurech- 
lichkeit und Nothwendigkeit einer gesetzlichen und Staat- keit. 
liehen Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die 
Kenntniss der Bedeutung der Gesetze für diesen Zweck 
und der praktischen Folgen ihrer Uebertretung — sowie 
die Befähigung, sich auf Grund dieser von dem v Unter- 
scheidungsvermögen a gelieferten Motive für die Begehung 
oder Unterlassung einer strafrechtlich vorgesehenen Hand- 
lung (frei) zu bestimmen. 

v. Krafft-Eblng, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 1 



2 Einleitung. Häufigkeit der Verkenn ung 

Der Mangel einer dieser beiden Bedingungen begründet 
einen Aufhebungsgrund der Zurechnung, die Unzurech- 
nungsfähigkeit und Straflosigkeit des Thäters. 

Das Gesetz ist nur an freie Menschen gerichtet. 
^isti^ 6 " ^ e rec ' 1 * nc l 1 psychologischen Bedingungen der Zurech- 

tfindet" nun g s fähi&keit 8 i n( l von der Integrität des Gehirns, als des 
Foro. Organs aller geistigen Leistungen, abhängig. 

Häufig genug sind die Leistungen des Gehirns un- 
zureichend für die Erfüllung dieser Bedingungen. Abge- 
sehen davon, dass die intellektuelle Reife und Selbstbestim- 
mungsfähigkeit durch jugendliches Alter, durch Wachs- 
thumshemmungen des Gehirns oder durch mangelnde funk- 
tionelle Ausbildung (Erziehung) fehlen kann, ist es möglich, 
. dass auch beim erwachsenen und erzogenen Menschen das 
Gehirn, gleich jedem anderen Organ, krankhaften Ver- 
änderungen anheimfallt, die vorübergehend oder dauernd 
die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit in Frage stellen. 
Diese Möglichkeit wird aber erfahrungsgemäss oft zur 
Thatsache und ihr wird das Strafgesetzbuch gerecht, indem 
es in besonderen §§ ausdrücklich erklärt, dass ein Ver- 
brechen oder Vergehen gar nicht vorhanden ist, wenn der 
Thäter zur Zeit der Begehung in einem Zustand von 
Bewusstlosigkeit oder krankhafter (Hemmung oder) Störung 
der Geistesthätigkeit sich befand, durch welchen seine freie 
Willensbestimmung aufgehoben war. 
der &1 v g k eifc ^ us ^ er Gefahr, einen Unzurechnungsfähigen (unge- 

mmggeistig recht) Strafe erleiden zu lassen, entspringt die grosse Ver- 
zustände. antwortlichkeit und Schwierigkeit der Aufgabe des Straf- 
richters. Jene ist keine eingebildete, sondern eine wirk- 
liche. Man braucht nur dem Gange der Gerichtsverhand- 
lungen zu folgen, Einsicht in die in den Annalen der 
Wissenschaft niedergelegten Gutachten zu nehmen und in 
den Strafhäusern Beobachtungen selbst anzustellen oder 
die Erfahrungen unbefangener Gefängnissärzte zu verglei- 
chen, um zur traurigen Ueberzeugung zu gelangen, dass 
in allen Culturländern alljährlich noch Unzurechnungsfähige 



geistig unfreier Zustände. 3 

zu entehrenden Freiheitsstrafen verurtheilt werden l ), ab 
und zu sogar noch Todesurtheile an solchen zur Voll- 
streckung gelangen! 



*) Zur Rechtfertigung dieser Behauptung mag folgendes aus 
der neuesten Literatur entnommene Beispiel dienen, das zugleich 
erweist, wie gering die psychologische Ausbildung der richterlichen 
Personen, wie incompetent der gesunde Menschenverstand in Fragen 
zweifelhafter geistiger Störung ist und wie nachlässig die Prüfung 
des Vorlebens Angeklagter häufig stattfindet. 

Am 13. Juni 1881 stand die 37 Jahre alte Dienstmagd Kruger 
vor dem Schwurgericht in Wien unter der Anklage des Mordver- 
suchs durch Weglegung des 14monatlichen Kinds ihres Dienstherrn, 
nachdem sie jenem ein Würgetuch um den Hals geschlungen und 
einen Knebel in den Mund gesteckt hatte. Die Umstände des Falls 
waren eigenthümlich genug und mussten den Verdacht auf geistige 
Schwäche erwecken. Als Motiv der That hatte die K. Abneigung 
gegen Kinder angegeben, weil sie als Kind selbst schlecht behandelt 
worden sei ! Die K. hatte dem Kind Würgetuch und Knebel so ap- 
plicirt, dass der Tod nicht eintrat, obwohl sie die Absicht zu tödten 
hatte. Sie verliess das Kind unter einem Hausthor, wo es bald ge- 
funden werden musste und auch gefunden wurde. Dann irrte sie 
herum, ging nach V/t Stunden zur Polizei, meldete sich als unter- 
standslos, erklärte, sie habe ein Kind weggelegt, bezeichnete jedoch 
•den Thatort falsch. Sie war bereits 3mal wegen gefährlicher Drohung 
und Excess, lmal wegen Kindsweglegung verurtheilt worden. Erst 
im Termin hatte der Vertheidiger , lediglich gestützt auf die Ab- 
wesenheit eines plausiblen Motivs der That, die Unzurechnungsfähig- 
keit seiner Glientin behauptet und war darüber in scharfe Aus- 
einandersetzungen mit Staatsanwalt und Gerichtspräsident gerathen. 
Leider hatte sich Niemand die Mühe genommen, das Vorleben der 
Angeklagten zu erforschen. Die K. wurde zu 8 Jahren Kerker ver- 
urtheilt. Kurz darauf brachte die Tagespresse die Notiz, die ver- 
urtheilte K. sei schon 1879 wegen versuchter Gewaltthätigkeit in 
Untersuchung gestanden, auf Grund gerichtsärztlichen Gutachtens 
jedoch als blödsinnig in die Landesirrenanstalt gekommen, im Ok- 
tober 1880 in ein Versorgungshaus versetzt worden, wo sie im De- 
zember einen Selbstmordversuch machte. Im März 1881 hatte man 
sie einer Wäscherin gegen Revers übergeben. Sechs Wochen später 
beging sie die That. Diese Angaben der Tagespresse bestätigten 
sich. Auch wurde ermittelt, dass schon nach der ersten Kindes- 
weglegung im Strafhause die K. sich oft aufgeregt und excessiv, wie 



Einleitung. Gründe, warum 



Fehlerhaf- 
tigkeit 
früherer Ge- 
setzgebung 
und Unter- 
suchungB- 
weiee bei 
geistig un- 
freien Zu- 
ständen. 



Diese für den Kichter wie für die Gesellschaft gleich 
schmerzliche Thatsache wird nur dadurch erträglicher, dass 
solche bedauerliche Fälle von Justizmord von Jahr zu Jahr 
seltener werden, insofern eine fortschreitende gerichtlich- 
psychologische Wissenschaft und eine ihre Resultate nicht 
mehr vornehm ignorirende Gesetzgebung und Praxis in der 
Klarstellung zweifelhafter Geisteszustände mit Bezug auf 
Fragen der Zurechnungsfähigkeit sich die Hände reichen. 

In noch nicht ferne hinter uns liegenden Zeiten war 
die Lage des Geisteskranken vor Gericht eine wahrhaft 
bedauernswerthe. Eine unreife, in ihren Resultaten viel- 
fach fehlerhafte, in ihrer praktischen Anwendung unsichere 
gerichtlich- psychologische Wissenschaft stand einer auf ver- 
kehrte und metaphysische Kriterien in der Freiheits- und 
Zurechnungsfähigkeitslehre sich stützenden Gesetzgebung 
zur Seite. 

Statt einer medicinisch- psychologischen Bezeichnung 
der Aufhebungsgründe der Zurechnungsfähigkeit wurden 
vom Gesetzgeber metaphysische Begriffe (Vernunftgebrauch) 
namhaft gemacht oder einzelne Zustände geistiger Krank- 
heit (Wahnsinn, Blpdsinn, Raserei) als einzig legale und 
die Zurechnungsfahigkeit aufhebende Formen des Irreseins 
aufgestellt. Dem entsprechend liess die Rechtsanschauung 
und Rechtsübung nur dann die Zurechnungsfähigkeit als 



eine Geisteskranke benommen hatte. Darauf hin beschloss der Ge- 
richtshof die Wiederaufnahme des Processes gegen die verurtheilte, 
früher wegen unheilbaren Blödsinns der Irrenanstalt übergeben ge- 
wesene K. — Dieser Fall zeigt evident, wie wichtig die Ermittlung 
der Vita anteacta bei Angeschuldigten bezüglich der Frage ihrer 
Zurechnungsfähigkeit sein kann und wie wenig Laien geeignet sind, 
selbst ausgesprochene und die Zurechnungsfähigkeit aufliebende Zu- 
stände geistigert Schwäche zu erkennen. Ob in diesem sensationellen 
Gerichtsfall der Vertheidiger von seinem Rechte Gebrauch machte, 
die Stellung der Zusatzfrage nach der Unzurechnungsfähigkeit im 
Sinne des § 319 St.P.O. (vgl. f. § 344 Z. 6 u. Mitterbacher, Commentar 
1882 S. 527) zu verlangen, ist dem Verf. nicht bekannt geworden. 
(Witlacil, Wiener med. Wochenschrift 1881. No. 29.) 



Geistesstörung in Foro häufig verkannt wird. 5 

fehlend gelten, wenn der Thäter an Wahnideen oder Sinnes- 
täuschungen litt, Recht von Unrecht nicht zu unterscheiden 
vermochte. Auf diesem bedauerlichen, weil rein die in- 
tellektuellen Funktionen des Seelenlebens zum Massstab 
geistiger Unfreiheit machenden Standpunkt steht heutzutage 
noch die englische Rechtsanschauung und tibersieht dabei 
gänzlich, dass die wichtigsten Impulse zu einem (unfreien) 
Handeln aus dem (krankhaft gestörten) Gefühlsleben stammen. 
Wie erwähnt, lässt aber auch in continentalen Cultur- 
ländern die Sicherheit der Rechtsprechung noch vielfach zu 
wünschen übrig und erscheint es in Bezug auf Fragen die 
Freiheit, Ehre, Leben des Staatsbürgers so nahe berühren, 
dringend erforderlich sich klar zu machen, aus welchen 
Gründen ungerechte Verurtheilungen geisteskranker und n^ d heut r 
geistesabnormer Menschen noch heute stattfinden. Wenn ^J 8 ^} 9 ^" 
dies in Deutschland geschieht, so kann der Fehler nicht tl ff n . 1 Be ^ r " 
in der Gesetzgebung liegen — die Ausdrücke der Bewusst- »eistesge- 

° o o storter. 

lpsigkeit oder krankhaften Störung der Geistesthätigkeit 
sind wenigstens medicinisch verständliche und praktisch 
durchaus brauchbare. Es kann sich somit nur um eine 
richtige Auffassung und Verwerthung dieser Begriffe handeln. 

Eine wichtige Fehlerquelle liegt in der Unvollkom- schwierig- 
menheit der gerichtlich psychiatrischen Wissenschaft, noch ärztlichen 
mehr in der Schwierigkeit der ihr zufallenden diagnostischen 
Aufgabe. Diese ist die Ermittlung eines krankhaften Hirn- 
zustands, mit vorwiegender Beeinträchtigung der geistigen 
Funktionen. Der Weg, auf dem allein diese Aufgabe ge- 
löst werden kann, ist ein klinischer, aber die klinischen 
Zeichen sind vielfach rein psychologische oder diese wenig- 
stens Ausschlag gebend. Sie sind grossentheils subjektive 
und als solche vortäuschbar und verhehlbar, vielfach schwer 
zu erfassen, nur zeitweise hervortretend, vieldeutig. Es 
gibt keine specifischen Symptome des Irreseins. Nur die 
Combination, gegenseitige Beziehung der Symptome, ihre 
richtige Interpretation, die Ermittlung ihrer Entstehungs- 
weise, ihrer ursächlichen Begründung, ihres Verlaufs, gibt 



6 Einleitung. Vorurtheile der Juristen. 

sichere Anhaltspunkte für die Beurtheilung eines zweifel- 
haften Geisteszustands als eines krankhaften. Trotz diesen 
in der Sache liegenden Schwierigkeiten ist die ärztliche 
Wissenschaft heutzutage in der Regel in der Lage, da& 
genügende Material zur Beurtheilung dem Richter an die 
Hand zu geben. Sie ist dazu befähigt durch theoretische 
namhafte Fortschritte, wie auch durch eine sichere Ver- 
werthung empirisch gefundener Krankheitszeichen und 
Grundsätze für ihr diagnostisches Vorgehen. Sie steht auf 
einem ganz andern Standpunkt als vor Decennien, wo 
spekulative Anschauungen, haltlose psychologische Raisonne- 
ments und Hypothesen, einseitiges Herausgreifen der That 
und ihrer Umstände, lückenhafte Beobachtung der Krank- 
heitszustände, irrthtimliche Aufstellung von Krankheitsfor- 
men, wie einer Manie sans delire, eines Brandstiftungstriebs 
und anderer Monomanien bei der Abgabe von gerichtsärzt- 
lichen Gutachten massgebend waren. 
V ^ün- le ^ as j ur i 8 ti scne Publikum ist diesen Fortschritten der 

seltenster g e " cnt li CÜ psychologischen Wissenschaft nicht gefolgt, es 
Juristen, beurtheilt sie vielfach noch mit dem Massstab von ehedem, 
ist misstrauisch gegen ihre Resultate, und schadet damit 
der Sache der Wahrheit und des Rechts, insofern sie gar 
nicht oder zu spät sich der Hülfe jener Wissenschaft be- 
dient und mit Misstrauen oder Geringschätzung ihre Re- 
sultate entgegennimmt. Darin liegen zweifellos wichtige 
Ursachen unrichtiger richterlicher Entscheidungen in Fragen 
zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit. Die gerichtliche Psycho- 
pathologie verdient heutzutage in foro gehört und anerkannt 
zu werden und nur selten wird sie nicht in der Lage sein 
können, Licht über das Dunkel eines zweifelhaften Geistes- 
zustands zu verbreiten. 
ti e keit h *£ ^ n g rosser Theil der Gründe der Unsicherheit der 

nfhel c ver- Rechtsprechung in Fällen zweifelhafter Zurechnungsfähig- 
fahrens. k e ft liegt aber offenbar in äusseren und darum zu ver- 
meidenden Hindernissen. Diese Hindernisse liegen wesent- 
lich darin, dass die Berufs- und Volksrichter als Laien 



Fehlerhaftigkeit des gerichtl. Verfahrene. 7 

vielfach falsche Vorstellungen von der Erscheinungsweise 
geistigabnormer Zustände haben, deshalb gap nicht oder 
zu spät Verdacht bezüglich geistiger Störung schöpfen, 
über Fragen der ungesunden Vernunft mit ihrem gesunden 
Menschenverstand urtheilen zu können vermeinen, die etwa 
zur Beurtheilung zugezogenen Aerzte fehlerhaft befragen, 
das Material für ihre Beurtheilung ihnen nur lückenhaft 
liefern, Zeit und Ort der Untersuchung ihnen mangelhaft 
zur Verfügung stellen, das Gerichtsverfahren einseitig und 
nicht vorurtheilsfrei durchführen, sich Sachverständiger be- 
dienen, die nur dem Namen nicht aber der Sache nach 
solche sind. Der Richter geht zudem vorweg von der 
allerdings bequemen, aber nichts weniger als sicheren An- 
nahme aus, dass der Thäter im Besitz der Bedingungen 
der Zurechriungsfähigkeit war und findet sich nur dann 
bemüssigt von dieser Voreingenommenheit abzugehen, falls 
die aussergewöhnlichen Umstände der That oder Besonder- 
heiten des Benehmens des Thäters ihm Verdacht bezüglich 
der Geistesintegrität desselben einflössen. Ein derart prä- 
occupirter Richter läuft immer Gefahr in seiner erhabenen 
Aufgabe statt Recht Unrecht zu sprechen, insofern er 
Jemand bestraft, der vermöge seiner defekten Organisation 
oder geistigen Störung frei zu handeln unvermögend war. 
Andererseits kann es ihm passiren, dass er mit seinem 
gesunden Menschenverstand durch Eigentümlichkeiten der 
That oder des Thäters geistige Krankheit und Unzurech- 
nungsfähigkeit da vermuthet und annimmt, wo keine solche 
wirklich vorhanden ist. Wird auch damit nicht das Recht 
des Einzelnen verletzt, so doch das Recht der Gesammt- 
heit. Der Richter gebe sich keiner Selbsttäuschung hin 
und bedenke seine Verantwortlichkeit , sowie dass er Laie 
in Fragen der Gehirnpathologie ist! Er kennt die Er- 
scheinungsweisen geistiger Störung nur vom Hörensagen 
oder aus laienhafter gelegentlicher Beobachtung im Alltags- 
leben. Er weiss kaum, dass die strafbaren Handlungen 
geisteskranker Menschen geradeso zur Ausfuhrung gelangen 



8 Einleitung. Psychiatr. Kenntnisse für Juristen nöthig. 

können wie die Geistesgesunder und dass geistige Krank- 
heit äusserliCh nicht immer und zu allen Zeiten zu Tage tritt. 
Als Laie lebt er in einer Sicherheit der Anschauung 
wie sie nur die Unkenntniss geben kann und vertraut auf 
seinen gesunden Menschenverstand, der doch in Fragen 
der Gehirnpathologie, dazu den allersubtilsten , nicht aus- 
reicht. So geschieht es, dass er als Untersuchungsrichter 
den geistig unfreien Zustand eines Angeschuldigten oft 
nicht erkennt und würdigt, dass ein solcher vielfach gar 
nicht erkannt wird und dass eine ungerechte Verurtheilung 
erfolgt oder dass erst in der Hauptverhandlung Zweifel 
an der Geistesintegrität des Angeklagten sich erheben. 
Wenn es auch jetzt noch Zeit ist eine ungerechte Ver- 
urtheilung zu verhüten, so ist doch eine wichtige Zeit zur 
etwaigen Heilung eines Unglücklichen oder wenigstens zur 
Klarstellung seines Geisteszustands versäumt worden. Es 
ist mit einem Menschen gerichtlich verhandelt worden, der 
unfähig war seine Interessen und Rechte wahrzunehmen, 
der Angeklagte ist in den ungünstigen Verhältnissen eines 
Gefängnisses möglicherweise unheilbar geworden und damit 
dauernd unglücklich. Im allerbesten Fall hat das Gericht 
viel Mühe und Zeit nützlos aufgewendet. 
Nothwen- All diesen Missständen und den Miss Verständnissen 

dilatorischer zwischen Richter und Sachverständigen kann nur abgeholfen 
für den werden, wenn der Richter eine Erfahrung von geisteskranken 
Zuständen erhält, die über die des gewöhnlichen Laien 
hinausgeht. Dies kann nur durch einen Unterricht in 
Psychiatrie erreicht werden, während gegenwärtig der 
Student der Rechtswissenschaft mit einer Commentirung 
der betr. Zurechnungsparagraphen im Straf recht und der 
oberflächlichen Mittheilung einiger Thatsachen der foren- 
sischen Psychologie gelegentlich seines encyclopädischen 
Studiums der gerichtlichen Medicin abgefunden wird. Dieser 
Unterricht müsste theils ein theoretischer sein, namentlich 
darauf gerichtet, die laienhaften Anschauungen auf diesem 
Gebiet zu berichtigen, theils ein Anschauungsunterricht, 



Der gesunde Menschenverstand nicht ausreichend. 9 

insofern Kranke der psychiatrischen Klinik als Typen des 
Irreseins dem Studirenden vorgeführt und, mit besonderer 
Berücksichtigung ihrer forensischen Beziehungen, die Grund- 
züge ihrer geistigen Störung hervorgehoben würden. Solche 
Einrichtungen bestehen wenigstens in den akademischen 
Studienordnungen Russlands. 

Nur auf diese Weise ist es möglich, dass der Wider- 
streit der Juristen und Sachverständigen aufhöre, der 
Untersuchungsrichter einen geschärften Blick für geistes- 
abnorme Zustände erhalte, der Vertheidiger die Interessen 
seines Clienten nach jeder Richtung wahrnehme, ohne 
leichtsinnig oder gar aus unlauteren Motiven die Zurech- 
nungsfahigkeitsfrage als Auskunftsmittel einer schlechten 
Vertheidigung zu benutzen. Aber auch der Staatsanwalt 
wird, wenn er mit den Grundthatsachen der Psychiatrie 
bekannt ist, den Thäter objektiver beurtheilen, nicht so 
schnell mit der beliebten Annahme einer Simulation bereit 
sein, die Aussprüche der Sachverständigen besser würdigen 
und diese nach ihrem Werth prüfen können, nicht minjier 
der Gerichtspräsident, der streng objektiv die Verhand- 
lung zu leiten und die Geschworenen als die Richter der 
Schuldfrage zu belehren hat. Damit würde auch die oft 
nichts weniger als beneidenswerthe Stellung der Sachver- 
ständigen eine nützlichere und würdigere werden. 



Die Kriterien des gesunden Menschenverstands in 
ihrer Verwerthung zur Beurtheilung eines zweifel- 
haften Geisteszustands. 

Wie sehr die Begriffe, welche sich der Laie von den Falsche An- 

, Behauungen 

Erscheinungsweisen der geistigen Störung macht, der Wirk- ^er Laien 
lichkeit widersprechen, kann der Irrenarzt an dem naiven scheinangs- 

A 7 weise des 

Erstaunen der Besucher von Irrenanstalten ermessen, welche Irreseins. 



10 



Einleitung. Diagnostischer Werth der Kriterien 



Die Kri- 
terien des 
„gesunden 
Menschen- 
verstands" 
zur Ermitt- 
lung krank- 
hafter 
Geisteszu- 
stände un- 
zureichend. 



darüber verwundert sind, dass die Kranken dieser Anstalten 
in der Mehrzahl aussehen und sich betragen wie gesunde 
Menschen, verständig antworten, richtig urtheilen. Der 
Besucher hatte sich erwartet, hier im Irrenhause eine eigene 
Species des genus Homo zu treffen und fragt enttäuscht, 
wo denn die eigentlichen Irren verwahrt seien. Schon 
Esquirol, einer der bedeutendsten Irrenärzte des Jahr- 
hunderts, macht die zutreffende Bemerkung: „Parlez (Tun 
fon, c'est pour le vulgaire parier d'un malade, dont les 
facultas intellectuelles et morales sont toutes d£nature"es, 
perverties ou abolies; c'est parier d'un homme, qui juge 
mal de ses rapports exte*rieurs, de sa position et de son 
e"tat, qui se livre aux actes les plus desordonne"s, les plus 
bizarres, les plus violents, sans motifs, sans combinaisons, 
sans preVoyance . . . 

Le public et mßme des hommes tres instruits ignorent, 
qu'un grand nombre de fous conservent la conscience de 
leur e*tat, celle de leurs rapports avec les objets exterieurs, 
celle de leur d^lire. Plusieurs coordonnent leurs ide*es, 
tiennent des discours sens^s, d^fendent leurs opinions avec 
finesse et mßme avec une logique seV&re, ils donnent des 
explications tres raisonnables et justifient leurs actions par 
des motifs tres plausibles. a 

Mit solcher Unkenntniss und Voreingenommenheit be- 
züglich des Wesens und der Erscheinungsweise geistig ab- 
normer Zustände steht der Richter (Berufs- und Volks- 
richter) demlnculpaten, der leicht möglich ein Geisteskranker 
ist, gegenüber. Er verwerthet bei der ihm vorschwebenden 
Frage bezüglich der Geistesintegrität gewisse diagnostische 
Kriterien, die er aus seinem gesunden Menschenverstand 
und der Psychologie des Alltagslebens geschöpft hat. Eine 
Beleuchtung des Werths dieser Kriterien ist wünschens- 
werth um Vorurtheile zu zerstören und die vermeintliche 
Sicherheit dieser Beurtheilungsweise in den schwierigsten 
Fragen der Gehirnpathologie zu erschüttern. Die Fehler 
dieser Methode, das Seelenleben zu erforschen, lassen sich 



des gesunden Menschenverstands. Motiv der Handlung. H 

wesentlich darin zusammenfassen, dass nicht der Thäter 
sondern die That, nicht die 'Lebensgeschichte sondern ein 
kurzer Lebensabschnitt, nicht der Gesammtinhalt des 
geistigen Lebens sondern wesentlich nur die intellektuelle 
erkennende Seite desselben, nicht der Kern der Persön- 
lichkeit sondern ihre trügerische Aussenseite 1 , nicht die 
positiven und wesentlichen klinischen Merkmale eines krank- 
haften Geisteslebens, sondern die negativen, unwesentlichen 
und allgemeinen psychologischen Kennzeichen eines solchen, 
dazu nach analytischer und nicht alleinrichtiger synthe- 
tischer Forschungsmethode, den Vorwurf der Untersuchung 
bilden. 

1. Eine der wichtigsten und auch naheliegenden **°*£ der 
Fragen in Fällen zweifelhafter Geistesgesundheit bildet Handlung. 
die nach dem Motiv der strafbaren Handlung. 

Man geht dabei von der Annahme aus, bei Geistes- 
gestörten seien die Handlungen motivlos oder durch unsin- 
nige Motive hervorgerufen, während sie bei Verbrechern 
immer motivirt und durch egoistische unsittliche Motive 
bedingt seien. Diese Behauptung ist nur in gewissen 
Gränzen anzuerkennen. Es ist nicht zu läugnen, dass das 
Motiv einer That wichtig ist insofern es sie bis zu ihren 
Wurzeln in ein helles Licht stellt, dass ferner bei Geistes- 
kranken zuweilen motivlose (sog. automatische, impulsive) 
Handlungen vorkommen, wie auch dass als Motiv einer 
That sich häufig eine offenbare Wahnidee oder eine Sinnes- 
täuschung ergibt. 

Aber motivlose Handlungen sind bei Geisteskranken 
die Ausnahme und bei einer grossen Zahl derselben (Wahn- 
sinn, bes. Verfolgungswahn) können die Motive dieselben 
sein wie beim Gesunden. 

Die Werthschätzung der Motive des Handelns für das 
Bestehen eines geistig unfreien Zustandes wird überhaupt 
dadurch sehr geschmälert, dass es nicht der Inhalt der 
Motive allein, sondern vielmehr die zwingende Gewalt der- 
selben und der. Ausfall von Gegenmotiven sind, die vielfach 



12 Einleitung. Diagnostischer Wertk 

das Handeln Geistesgestörter zu einem krankhaften und 
unfreien machen. Als Beispiele lassen sich hiefür zu krank- 
hafter Höhe gesteigerte und darum unwiderstehliche orga- 
nische Triebe (Hunger, Geschlechtstrieb) Geisteskranker, an- 
dererseits die rachsüchtigen Handlungen und Eigentumsver- 
letzungen Seitens Schwachsinniger anführen. Die Motive 
sind im letzteren Fall dieselben, wie die des gesunden 
Lebens, aber sie sind ausschlaggebend, weil die hemmenden, 
sittlichen und rechtlichen Gegenmotive des ersteren fehlen. 
Mag es auch richtig sein, dass ein motivloses Handeln dem 
normalen Geistesleben fremd ist, so muss doch zur Vor- 
sicht gemahnt werden, eine Handlung, deren Motiv nicht 
sofort gefunden werden kann, ohne Weiteres für eine motiv- 
lose zu halten. Eine eingehende Beobachtung Geistes- 
gestörter lehrt, dass ihre unerklärlichen Handlungen mei- 
stens nur scheinbar unmotivirte sind, sei es, weil ihre Mo- 
tive nicht klar waren (Angstzufälle Melancholischer) oder 
nach der That rasch dem Gedächtniss entschwunden sind, 
weil der Kranke in einem Traumzustand handelte, der keine 
Erinnerung hinterliess (Bewusstlosigkeitszustände) , sei es, 
dass der Kranke, zur Besonnenheit wieder gekommen, sich 
seiner Handlung schämt und ihre Motive verschweigt. Bei 
der Werthschätzung des Motivs muss immer die Vorfrage 
erledigt sein, ob das angegebene auch wirklich das wahre, 
zur That treibende war. 

Dieser Nachweis ist nach Umständen schwierig. So gibt 
es Melancholische, die, um recht empfindlich gestraft zu 
werden, sich recht schlechter Motive ihrer Handlung bezich- 
tigen, wie sie ja auch in ihrem herabgesetzten Selbstgefühl 
und in ihrem Drang, gestraft zu werden, sich verbrecherischer 
Thaten anklagen, die sie gar nicht begangen haben. Im 
direkten Gegensatz zu diesen Kranken existiren sog. rai- 
sonnirende (Maniakalische, Verrückte) die, gerade wie der 
Verbrecher, ihre Handlungen durch ganz andere Motive zu 
beschönigen suchen, als ihnen bei Begehung ihrer That mass- 
gebend waren. Endlich kommt es nicht selten vor, be- 



des Motivs der strafbaren Handlung. 13 

sonders bei jugendlichen Verbrechern sowie Schwachsinnigen, 
dass Motive in den Angeschuldigten durch die richterlichen 
Inquisitionen hineinexaminirt werden, die gar nicht die 
Triebfeder seiner Handlungen waren. 

Auch die absolute Widersinnigkeit eines Motivs, so 
sehr sie eine Präsumption für einen abnormen Geisteszustand 
erweckt, darf nicht abstrakt verwerthet werden. Findet 
sich freilich eine offenbare Wahnvorstellung als Motiv, so 
ist damit ein wichtiger Anhaltspunkt gegeben, aber erst 
dann, wenn eine wissenschaftliche Untersuchung die Ent- 
stehung und Stellung der fraglichen Wahnvorstellung ge- 
genüber dem übrigen Inhalt des Bewusstseins erwiesen und 
ihre Unterscheidung vom Irrthum, der excentrischen An- 
schauung, dem Aberglauben eines sonst Geistesgesunden 
gemacht hat. Nicht immer trägt aber eine Wahnvorstellung 
die Signatur des Wahnsinns in sich. Je mehr sie objektiv 
möglich ist (Vergiftungs -, überhaupt Verfolgungswahn, Wahn 
ehelicher Untreue), je weniger sie einen inneren Wider- 
spruch in sich trägt, je mehr sie unter dem Gewand der 
Leidenschaft und Immoralität zu Tage tritt, um so leichter 
kann die That als eine aus verbrecherischen Motiven her- 
vorgegangene erscheinen, wenn man sie und ihr Motiv eben 
für sich isolirt betrachtet. 

Auch das Missverhältniss zwischen Grösse des Motivs 
und der aus ihm hervorgehenden That ist von geringem 
Werth, da ebenso gut ein depravirter Verbrecher um we- 
niger Groschen willen einen Mord begehen als ein braver 
Bürger in der Hitze des Affekts, im Drang der Leiden- 
schaft aus geringfügiger Ursache einen Anderen umbringen 
kann. Nicht minder bedenklich ist es, aus dem moralischen 
Inhalt eines Motivs Schlüsse zu ziehen, da Geisteskrank- 
heit durchaus im Gepräge der Leidenschaft und Immoralität 
erscheinen kann und ihre Abgränzung in solchen Fällen 
von dem blos ethisch depravirten Verbrecher aus rein psy- 
chologischen und noch dazu isolirten Kriterien unmöglich ist. 

Von grösserem Werth ist es, wenn die Handlung zwar 



14 Einleitung. Leumundsfrage. 

motivirt ist, aber den Interessen des Thäters ganz zuwider 
lauft, somit die egoistischen Motive fehlen, die sonst in der 
Regel Triebfedern des wahren Verbrechens sind. Mag auch 
immerhin das Motiv der Handlung logischerweise das nächste 
Forschungsziel des Richters sein, so darf er doch nur 
mit Vorbehalt und Kenntniss des Wesens der Geistesstörung 
daraus Gesichtspunkte ableiten. Niemals ist eine abstrakte 
Werthschätzung dieses Kriteriums zulässig, niemals eine 
analytische Beurtheilung eines zweifelhaften Geisteszustandes 
räthlich. 

So wenig geläugnet werden soll, dass die Erforschung 
der Motive einer strafbaren Handlung logischerweise einen 
wichtigen Ausgangspunkt der Beurtheilung der That jeweils 
bilden wird und der übrigens schwierige Nachweis, dass 
eine That motivlos dasteht, wichtig werden kann, so un- 
statthaft ist es jedoch, aus der Unmotivirtheit oder Moti- 
virtheit an sich, sowie aus dem Inhalt der Motive einseitig 
einen Schluss auf die Freiheit oder Unfreiheit einer aus 
ihnen hervorgehenden Handlung zu ziehen, denn der nicht 
genügende Nachweis von Motiven beweist nicht ihr Fehlen 
und der Nachweis ganz palpabler, logischer und verbre- 
cherischer Motive verträgt sich ganz gut mit der Unfrei- 
der°ThS e im ^eit ^ es aus ihnen Handelnden. 

L Ti5twii e8 ^' ^ me logiscli berechtigte, aber in ihren Resultaten 

^fnure"* 8 abstrakt jedenfalls nicht verwerthbare Frage ist die, ob die 
That isolirt im Leben des Thäters dasteht oder ob 
man sich derselben von Seiten des Thäters ver- 
sehen konnte? Diese Angelegenheit spielt als Leu- 
mundsfrage eine grosse Rolle in foro. Es mag für den 
objektiven Thatbestand, z. B. bei einem Diebstahl, nicht un- 
wichtig sein, zu wissen, ob der Angeschuldigte ein Gewohn- 
heitsdieb war oder ein honetter Mann, und es mag auch 
ein gemeiner Diebstahl im letzteren Fall auf den subjek- 
tiven Thatbestand der Zurechnungsfahigkeit ein Streiflicht 
werfen, allein die Constatirung eines schlechten Leumunds 
beweist nichts für oder wider Geistesstörung und zwar ein- 



Isolirtheit der That im Leben des Thäters. 15 

fach deswegen nicht, weil evidente Geistesstörung auch 
unter der Maske der Schlechtigkeit, Unsittlichkeit, Bosheit 
auftreten kann und der Laie in der Regel den äusseren 
Schein mit dem Wesen der Sache verwechselt. 

Wer nur einige Erfahrung darüber hat, wie häufig 
dem Kundigen ganz evidente Symptome der Geistesstörung 
von gebildeten und ungebildeten Laien — von Zeugen, 
Pfarr- und Bürgermeisterämtern lange als Charakterfehler, 
böse Gesinnung, verbrecherische Neigung dargestellt wer- 
den, für den dürfte die Leumundsfrage viel von ihrem 
psychologischen Werth verlieren und bei exemplarisch 
schlechtem Leumund und von Kindsbeinen auf schlechter 
Lebensführung sich eher eine Vermuthung für als gegen 
das Bestehen einer Geistesstörung ergeben. Jedenfalls ist 
der von Casper in seinen Werken vertretene Standpunkt, 
wornach eine echte causa facinoris (bewusster Drang zur 
rechtswidrigen Befriedigung eines selbstsüchtigen Gelüstes), 
insofern sie mit der Gesinnungsweise des Thäters überein- 
stimme und die causa facinoris an sich nicht auf einer 
Wahnvorstellung beruhe, eines der sichersten Kennzeichen 
der Zurechnungsfähigkeit des Thäters zur Zeit der That sei, 
ein bedenklicher, vor dem nicht genug gewarnt werden kann. 

Geschieht es doch häufig genug, dass Menschen, deren 
sündhaftes verbrecherisches Vorleben nur der Ausdruck 
krankhafter, vielfach erblicher Einflüsse, die Folge früher 
überstandener Hirnkrankheiten, Kopfverletzungen, oder noch 
vorhandener aber schwer erkennbarer Geistesstörung ist, 
so lange als Gewohnheitsverbrecher, Vagabunden und Säufer 
polizeilich gemassregelt und gerichtlich bestraft werden, bis 
sie in die Hände eines Sachverständigen kommen, der den 
bündigen Nachweis eines moralischen Irreseins, eines Schwach- 
sinnes mit perversen Trieben, einer periodischen Geistes- 
störung oder gar einer Verrücktheit mit verborgenen Wahn- 
ideen liefert. 

Mit den rohen Kriterien des gesunden Menschenver- 
stands, dazu noch in abstrakter Verwerthung, kann nie- 



16 



Einleitung. Prämeditation, List. 



Prämedita- 
tlon, List 
etc., ver- 
meintlich 
beim Irre- 
sein ausge- 
schlossen. 



mals die Ermittlung eines zweifelhaften Geisteszustandes 
gelingen. Dies gilt auch für das angezogene Kriterium 
des Leumunds, abgesehen von seiner wichtigen objektiven 
Gewinnung. Gibt es doch Menschen, die im besten Leu- 
mund öffentlich stehen, bis eines Tags ihnen die Larve ab- 
gezogen wird und andererseits verbrecherische Menschen, 
die es nur dem Schein, nicht dem Wesen nach sind! Zu- 
dem kommen transitorische Störungen des Geisteslebens 
vor, die ebenso gut, ja noch häufiger einen lasterhaften 
Menschen, z. B. einen Säufer, heimsuchen wie einen soliden 
und nüchternen Ehrenmann. 

3. Ein weiterer Irrthum des gesunden Menschenver- 
stands besteht darin, dass man meint Prämeditation, 
List, kluge Berechnung der Umstände sei mit dem 
Bestehen von Geisteskrankheit unverträglich. Auch 
hier hat man generalisirt und mehr abgeleitet als das con- 
crete Vorkommen zu schliessen gestattet. Es ist nicht zu 
läugnen, dass ein plan- und sinnloses Handeln vielfach bei 
Geisteskranken vorkommt und zu einer bezüglichen Ver- 
muthung berechtigt, aber der entgegengesetzte Schluss lässt 
sich keineswegs ziehen. 

Man darf nicht vergessen, dass bei vielen Geistes- 
kranken das Denken und Schliessen als eine rein formale 
logische Operation ihres Denkapparates trotz falscher Prä- 
missen (Wahnideen) ganz regelrecht sich vollziehen kann 
und dass demgemäss die Handlungen, falls die sie be- 
dingende Wahnidee nicht an und für sich eine ganz ab- 
surde ist, ganz logisch, geordnet, zweckmässig erfolgen 
können. Es gibt sogar psychische Exaltationszutände, in 
welchen das durchaus unfreie, weil zwangsmässige Handeln 
bei der vorübergehenden Steigerung der Seelenfunktionen 
mit einer erleichterten Combination, kluger Berechnung 
der Umstände, sogar mit Schlauheit erfolgt. Zudem lässt 
sich als allgemeine Regel betrachten, dass überall da wo ein 
beruhigtes falsches Vorstellen, ein fixer Wahn (z. B. Ver- 
folgungswahn) das Handeln bestimmt und kein heftiger 



Kriterium des Strafbarkeitsbewusstseins. 17 

Affekt ciazutritt, die Handlungsweise den Charakter einer 
durchaus rachsüchtigen prämeditirten, mit vollem Bewusst- 
sein vollzogenen besitzen kann, der sie an und für sich 
von dem vollbewussten Verbrechen des Geistesgesunden 
nicht unterscheiden lässt.. Aber auch ein sinnloses Han- 
deln kommt nicht blos bei Geisteskranken vor, sondern 
auch beim Gesunden im Zustand des Affekts, beim Ver- 
brecher im Zustand der Ueberraschung und Bestürzung 
und gar häufig sind schon raffinirte Verbrecher durch 
auffallige Planlosigkeiten bei Verübung ihrer Thaten entdeckt 
worden. * Man gedenke nur des Mörders Hanke (Casper's 
Mörderphysiognomien. Vierteljahrschr. VI. H. 1), der am 
Ort seiner grauenvollen That sein blutiges Vorhemd aus- 
zog und zurückliess, wodurch seine Entdeckung nicht 
schwer wurde. 

Auch die fehlende Prämeditation einer That ist von 
geringem Werth, insofern eine Reihe von Verbrechen ohne 
alle Prämeditation von Gesunden im momentanen Antrieb 
vielleicht ebenso häufig begangen werden als nicht prä- 
meditirte Gewaltthaten von Geisteskranken. 

4. Aus dem während und nach der That hervortretenden Kriterium 

<ißfl Straf- 

Strafbarkeitsbewusstsein hat man vielfach die Berech- barkeitpbe- 

wusstseins. 

tigung geschöpft, die Zurechnungsfähigkeit des Thäters zur 
Zeit jener zu folgern. Diese Annahme lässt gänzlich ausser 
Acht, dass mit dem vorhandenen oder vorhandengewesenen 
Bewusstsein der Strafbarkeit nur eine der Bedingungen 
der Zurechnungsfähigkeit gegeben und über die andere, 
viel wichtigere Bedingung derselben — die Freiheit des 
Entschlusses — noch gar nichts präjudicirt ist. Es gibt viele 
Geisteskranke (Melancholische, Wahnsinnige), bei denen das 
Strafbarkeitsbewusstsein vollkommen erhalten ist, ja ge- 
radezu die Ausführung der That mitbedingt, während doch 
die Wahlfahigkeit durch den Zwang schmerzlicher Ge- 
fühle, triebartiger Impulse, quälender Vorstellungen, aus- 
gesprochener Wahnideen ganz entschieden fehlt. 

Als Beleg mögen hier nur jene Melancholischen an- 

v. K rafft- Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 2 



18 Kriterium der Reue. 

geführt werden, die zum Selbstmord zu feig oder ihn aus 
religiösen Gründen verschmähend; ein'en Mord blos des- 
halb begehen, um dafür hingerichtet zu werden und so 
indirekt ihr Ziel zu erreichen. 
Beue. 5. Auch die Reue nach der -That hat man diagnostisch 

verwerthen zu können vermeint, aber selbst Casper bezeichnet 
sie als ein „höchst werthloses diagnostisches Kriterium*, und 
mit Recht, denn der Geisteskranke, welcher nicht an fest- 
stehenden jeder Correktur unzugänglichen Wahnideen leidet 
oder sittlich und intellektuell nicht auf die Stufe des Blöd- 
sinnigen herab gesunken ist, hat sie gemein mit dem 
geistesgesunden und unbescholtenen Menschen, der sich in 
Affekt und Leidenschaft zu einem Verbrechen hinreissen 
Hess, ferner mit dem Gewohnheitsverbrecher, dessen mora- 
lisches Gefühl noch nicht ganz erloschen ist. Ist dies aber 
der Fall, so ist der Verbrecher reuelos gleich dem Geistes- 
kranken, dessen Bewusstsein zu tief gestört, dessen Wahn 
uncorrigirbar ist. 

Man muss sich aber auch bei offenbar Geistesgestörten 
hüten, aus der Gegenwart von Reue nach der That auf 
ein während ihrer Begehung dagewesenes Strafbarkeits- 
bewusstsein eben um dieser Reue willen zu schliessen. 

Dies gilt besonders für transitorische Geistesstörungen, 
bei welchen der Kranke im Anfall eine ganz andere Per- 
sönlichkeit war als ausserhalb desselben und rasch wieder 
zur Norm seines sittlichen Fühlens zurückkehrt, ferner für 
viele Melancholische, bei welchen die That oft die Bedeutung 
einer kritischen hat und vorübergehend wenigstens die 
Einsicht in den krankhaften Zustand wiederherstellt, nicht 
minder für viele Schwachsinnige, bei welchen die Reue 
nicht etwa von ihrem wiedererwachten sittlichen Bewusst- 
sein ausgeht, sondern eine durch äussere Einflüsse, durch 
geistlichen Zuspruch, durch unbehagliche Lage der Ge- 
fitngnisshaft geweckte ist, bei denen die That nicht um ihrer 
selbst und ihrer sittlichen Bedeutung willen, sondern nur 
wegen ihrer äusseren unangenehmen Folgen bereut wird. 



Verständiges Reden des fraglichen Geisteskranken. 19 

6. Der angebliche Geisteskranke spricht ganz verständi- 

° r o geB Reden 

verständig. Dieses Kriterium des gesunden Menschen- des zweifei- 

t ° m ° % haf t Geietes- 

verstands ist das bedenklichste, denn es nimmt nur auf kranken, 
den Stand der intellektuellen Funktionen Rücksicht und 
begnügt sich gewöhnlich zu constatiren, dass das Individuum 
seine Personalien und Erlebnisse richtig anzugeben weiss, 
über Zeit und Ort orientirt ist, allenfalls an einer Con- 
versation sich betheiligen kann. Mit einer solchen Leistung, 
die eigentlich nur niedere Funktionen des Geisteslebens 
repräsentirt und ganz gut von hochgradig Schwachsinnigen 
erfüllbar ist, sind die Grundlagen der Zurechnungsfahig- 
keit noch lange nicht gegeben. Verständig sprechen be- 
weist noch lange nicht verständig sein und verständig 
handeln. 

Die einseitige Prüfung der intellektuellen Funktionen 
und gar noch in der oberflächlichen Weise des Laien kann 
nur auf Abwege fuhren, wie überhaupt die Begründung 
des Wesens des Irreseins in Störungen der Intelligenz und 
die der Zurechnungsfähigkeit in dem positiven Moment eines 
Unterscheidungsvermögens und dem negativen des Fehlens 
von Wahnideen und Sinnestäuschungen nothwendig unrich- 
tige Urtheile herbeiführen muss. . • 

Allerdings kann bei der Solidarität der Geistesfunk- 
tionen auch die Denksphäre des Geisteskranken nie intakt 
sein, aber es braucht dies nicht in Form von Wahnideen 
zu geschehen und selbst gebildete und vorhandene „fixe" 
Ideen brauchen nicht immer im Bewusstsein zugegen zu 
sein und jederzeit entäussert zu werden. Wie oft ist es 
doch schon geschehen, dass Irre ganz vernünftig schienen, 
weil sie verständig sprachen, bis Jemand, der mit ihren 
geheimen fixen Ideen bekannt war, die Conversation auf 
diese lenkte und die Krankheit demonstrirte ! 

Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass 
das was den Laien hauptsächlich den Begriff des Irreseins 
ausmacht — andauerndes Unsinnreden — durchaus nicht 
nothwendiges Erforderniss einer Geisteskrankheit ist und dass 



20 Einleitung. Formale Störungen des Vorstellens. 

nach einer solchen Anschauung es nur wenig wirkliche Geistes- 
kranke in Irrenhäusern geben würde. Eine solche Anschauung 
lauft Gefahr, den Simulanten, der gerade das bietet, was 
der bon sens des Laien für charakteristisch hält, für geistes- 
krank, den wirklich Geisteskranken aber für geistesgesund 
zu halten. Bei der Mehrzahl der Geisteskranken sind die 
fixen Ideen als inhaltliche Störungen des Vorstellungspro- 
cesses durch blosse Störung im formalen Ablauf desselben 
oder aber durch Erscheinungen allgemeiner Abschwächung 
der intellektuellen Energien vertreten. Diese formalen Stö- 
rungen machen ebenso gut unfrei als die in Wahnideen 
sich bewegenden Formen des Irreseins, sei es, dass die 
Vorstellungsprocesse zu verlangsamt ablaufen oder Vor- 
stellungen mit krankhafter Intensität und Dauer im Be- 
wusstsein verharren (Zwangsvorstellungen), sei es dass der 
Vorstellungsablauf krankhaft so beschleunigt ist, dass ein 
besonnenes Erwägen der Motive und Gegenmotive eines 
Handelns unmöglich wird. Diese Störungen des intellek- 
tuellen Lebens können die einzigen bei den sog. Gemüths- 
krankheiten sein und vernichten die Bedingungen der Zu- 
rechnungsfahigkeit, in sofern eine ungestörte Ideenassocia- 
tion bei dein Vorgang der Selbstbestimmung unerlässlich ist. 

Zur Annahme einer die Zurechnungsfähigkeit auf- 
hebenden Geistesstörung genügen krankhafte Stimmungen 
und Affekte, formale Störungen der Processe des Vor- 
stellens und aus ihnen hervorgehende irre Bestrebungen, 
sowie Sinken der geistigen Vermögen überhaupt bis auf 
eine gewisse Stufe. 

Aus der Berücksichtigung der formalen Störungen des 
Seelenlebens erklärt sich auch die für den Laien paradoxe 
Thatsache, dass gewisse Kranke verkehrt handeln und doch 
vernünftig sprechen. Die Erklärung liegt einfach darin, 
dass entweder blos formale Störungen im Vorstellen be- 
stehen und das krankhafte Wollen von Störungen der 
Gemüthssphäre, von krankhaften Stimmungen, Affekten, 
Zwangsvorstellungen aus bedingt wird, oder dass allerdings 



Irrthum und Irrwahn. 21 

vorhandene und das Wollen bestimmende Wahnvorstellungen 
von den Kranken geschickt verborgen gehalten werden und 
sich nur in irren Handlungen kundgeben. Bei solchen Irre- 
seinszuständen kann es sogar geschehen, dass der Kranke 
nicht blos vernünftig spricht, sondern sogar mit Scharfsinn 
sein unsinniges Gebahren mit Vernunftgründen zu ent- 
schuldigen weiss (Folie raisonnante). 

Das Auffallendste für den Laien bleibt immer, dass 
im Wahnsinn Methode und Logik sich finden. Diese for- 
male Leistung des Denkvermögens, als eine durch ursprüng- 
liche Veranlagung gegebene, durch Erziehung und Ge- 
wohnheit gefestigte erlischt erst mit der tieferen organi- 
schen Erkrankung des Seelenorgans (Blödsinn) und geht 
selbst in den Zuständen krankhafter Bewusstlosigkeit , wo 
doch das Selbstbewusstsein tief gestört ist, nicht gänzlich 
verloren. 

Aber wenn auch umgekehrt die psychologische Unter- 
suchungsweise des Laien auf eine inhaltlich verkehrte Idee 
gestossen ist, so ist der gesunde Menschenverstand dennoch 
nicht im Stande, dieselbe ohne Weiteres als eine Wahn- 
idee mit ihren legalen Consequenzen zu beurtheilen. Wie 
er Gefahr läuft, eine evidente Wahnidee, da sie im Bereich 
des Möglichen liegt, mit Ueberzeugungstreue vorgebracht 
und mit Beweisen gestützt wird, für eine Thatsache zu 
halten, so kann es geschehen, dass er den blossen Irrthum 
eines Geistesgesunden, etwa aus Aberglauben hervorgehend, 
für eine Wahnidee hält. 

Es ist im Allgemeinen richtig und psychologisch von 
Bedeutung, dass der Irrthum eines Geistesgesunden auf 
einem Denk- oder Beobachtungsfehler beruht und von ihm 
erkannt wird, wenn man dem Irrenden seinen Fehler nach- 
weist, dass ferner der Irrthum des Geistesgesunden sich 
als ein objektiver ausweist, während der Irrwahn des Geistes- 
kranken immer eine Beziehung zum Subjekte hat (Ver- 
folgungswahn durch Hexen, die der Kranke sieht, fühlt etc. 
im Gegensatz zum Hexenglaubeu vergangener Jahrhunderte),. 



22 Einleitung. Geistesstörung eine Hirnkrankheit. 

dass der Wahn des Kranken nicht widerlegt werden kann 
und mit der ursächlichen Gehirnkrankheit steht und fallt, 
aber alle diese psychologischen Kriterien genügen nicht zur 
Sicherstellung, ob Irrthum oder Irrwahn besteht. 

Die Entscheidung vermag nur die ärztliche Wissen- 
schaft zu geben, indem sie einen fraglichen Wahn auf seine 
Entstehungsweise prüft, sein Verhalten zum historischen 
und gegenwärtigen Bewusstsein des fraglichen Kranken 
ermittelt, seinen Zusammenhang mit anderweitigen Zeichen 
eines gestörten Geisteszustandes herstellt. 

Aus der Unzulänglichkeit der Psychologie des Alltags- 
lebens gegenüber so markanten psychischen Erscheinungen, 
wie sie eine unrichtige Vorstellung darbietet, mag ein Ge- 
sammtschluss gezogen werden, wie weit der gesunde Men- 
schenverstand ohne wissenschaftliche Erfahrung mit seinen 
Kriterien in der Beurtheilung zweifelhafter Geisteszustände 
reicht. 

Geistesstörung als eine Hirnkrankheit kann nur klinisch 
ermittelt und festgestellt werden. Nur dann, wenn die Ur- 
sachen, Entstehungsweise, ihre körperlichen und psychischen 
Symptome, ihr Verlauf ermittelt sind, bietet der Fall eine 
solche Klarheit, dass die Frage der Zurechnungsfähigkeit er- 
örtert werden kann. Wie bei allen naturwissenschaftlichen 
Untersuchungen ist der synthetische, nicht der analytische, 
der induktive, nicht der deduktive Weg der Untersuchung 
der einzig richtige. Diese unerlässliche Sicherheit für die 
Rechtsprechung vermag nur die ärztliche Wissenschaft zu 
geben. Dass aber der Richter nicht blos fähig ist, den 
objektiven Thatbestand zu ermitteln, sondern auch ge- 
eignet, wesentlich zur Klärung des subjektiven bezüglich 
der Zurechnungsfähigkeit beizutragen, möge der folgende 
Abschnitt klarlegen und zugleich dem Richter zeigen, wo- 
rauf er beim Angeschuldigten, der zugleich ein Geistes- 
kranker sein kann und damit ausserhalb des Gesetzes steht, 
zu achten hat. 



A. Allgemeiner formeller Theil. 

Der fragliche Geisteskranke in den verschiedenen 
Stadien des Strafverfahrens. 

1 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Die Erfahrung lehrt, dass krankhafte Störung der Wichtigkeit 
Geistesthätigkeit häufig zu Rechtsverletzungen führt und * un « des 
dass es keineswegs leicht ist ; bei der Vieldeutigkeit psycho- ^anda <* es 
pathischer Erscheinungen, bei ihrer Unbestimmtheit, Ver- 
borgenheit, ja selbst absichtlichen Verheimlichung Seitens 
des Kranken sowie bei dem vielfach transitorischen Cha- 
rakter jener ihr Vorhandengewesensein zur Zeit einer straf- 
baren That und ihren Einfluss auf diese festzustellen. 

Und dennoch hängt von dieser Entscheidung die ganze 
Sicherheit und Würde der Rechtspflege ab. Der Wichtig- 
keit dieser Frage des subjektiven Thatbestands entsprechend 
ist der Untersuchungsrichter verpflichtet , ein ganz beson- 
deres Augenmerk auf den Geisteszustand des Inhaftirten 
zu richten. 

Dass weder die Fähigkeit, die Folgen der Handlung 
zu überlegen, noch Recht und Unrecht mit Bezug auf die 
That zu unterscheiden, noch Reuenach derselben, mangelnder 
Zusammenhang der That mit vorhandenen krankhaften Er- 
scheinungen, Fehlen von Wahnideen die Geistesgesundheit 
beweisen, wurde im Vorausgehenden zu zeigen versucht. 



24 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Die Verdachtgründe, aus welchen der Untersuchungsrichter 
Zweifel bezüglich der Geistesintegrität des Inhaftirten ent- 
nehmen kann, sind sehr mannigfach. Leider wird aber in 
der Regel das Hauptaugenmerk auf die Feststellung des 
objektiven Thatbestands verwendet und unter der durch 
nichts gerechtfertigten Präsumption der Zurechnungsfahig- 
keit der Blick vom subjektiven Thatbestand abgewendet. 
Es ist dies um so bedauerlicher, als der Untersuchungs- 
richter in seiner erhabenen Aufgabe Zeugen einvernehmen 
kann wie er will und alle Organe des Staats zur Ver- 
fügung hat. 
Mangelhafte So geschieht es, dass die Vorakten bezüglich der Per- 

des Geistes- sönlichkeit des Angeschuldigten, seines Vorlebens, in der 

zustands. . *-»<_»/ / 

Regel sich auf Leumund und etwaige Vorbestrafungen be- 
' schränken, dass die Schilderung der Umstände der Ergreifung, 
des Verhaltens in den Verhören und in der Gefangenschaft 
in der Regel höchst dürftig ist. Wird dann im Verlauf 
der Untersuchung der Gerichtsarzt berufen, so muss das 
Fehlende durch neuerliche Untersuchungen ergänzt werden 
und für die Gewinnung mancher wichtiger Thatsachen ist 
es nun zu spät. Auch die Darstellung des Verhaltens des 
Angeschuldigten in den Verhören ist meist eine lücken- 
hafte und da der unerfahrene Richter nur zu sehr geneigt 
ist, gleich Simulation zu wittern, wenn der Angeschuldigte 
sich auffällig benimmt, eine präoccupirte, mindestens nicht 
objektive. 
Allgemeine Anhaltspunkte für die Zweifelhaftigkeit des Geistes- 

Verdacht- * 

gründe für zustands ergeben sich für den aufmerksamen Richter zu- 

geistige 

Störung, nächst aus den die Umstände der That und der Ergreifung 
des Thäters schildernden Anzeigedokumenten, dann aus 
dem den objektiven Thatbestand enthaltenden Thatbestands- 
protokoll, aus dem das Verhalten des Thäters auf dem 
Transport schildernden Einlieferungsrapport, aus dem Be- 
fund des den Inhaftirten untersuchenden Gefängnissarztes, 
aus den Verhören mit dem Angeschuldigten, aus dem Be- 
nehmen desselben im Untersuchungsgefängniss, aus der 



Verdachtgründe für geistige Störung. 25 

Ermittlung der früheren Persönlichkeit und der Lebens- 
verhältnisse des Gefangenen. 

Die Anzeigedokumente ; wie sie durch die Berichte 
etwaiger Thatzeugen, der verhaftenden Polizeiorgane und 
Gensdarmen geliefert werden, müssen vor Allem genaue- 
stens den Zeitpunkt der That, den Ort derselben, den Ort 
der Ergreifung des Thäters, die Umstände der Ergreifung 
mit besonderer Berücksichtigung seines Gebahrens, seiner 
etwaigen Reden und Geständnisse, seiner Kleidung und 
sonstigen Aeusserlichkeiten enthalten. Die Ermittlung der 
Zeit der That ist besonders wichtig, damit vor- oder nach- 
her stattgefundene Aeusserungen und Handlungen chrono- 
logisch sicher dastehen. 

Es kann von hohem Werth sein zu wissen, ob der 
Inhaftirte in einem der That vorausgehenden Zeitraum 
betrunken oder sonstwie im Bewusstsein gestört erschien, 
ob er befangen oder unbefangen bei der Ergreifung er- 
schien, Kenntniss vom Vorgefallenen hatte oder nicht, sich 
der Verhaftung durch Widerstand oder Flucht zu entziehen 
versuchte, ob er am Thatort — vielleicht ruhig sitzend oder 
gar schlafend betroffen wurde oder entfernt von demselben, 
ob er Anstalten getroffen hatte, die Spuren seiner That 
zu verwischen, ob er sich fremdes Eigenthum angeeignet 
hatte ? 

Das die Umstände der That schildernde Thatbestands- 
protokoll hat zu ermitteln, ob die That allein oder mit 
Helfershelfern begangen wurde, ob vor Zeugen oder heim- 
lich, mit welchen Mitteln, Werkzeugen, ob diese die ge- 
eigneten waren oder bessere zu Gebot standen, ob bei 
Ausführung der That mit einer ungewöhnlichen Gewalt- 
anwendung, Rohheit und über das Ziel einer Tödtung 
hinausgehenden Grausamkeit vorgegangen wurde, ferner 
bei Leichen weiblicher Individuen, ob Zeichen eines ver- 
suchten oder vollzogenen Beischlafs vorhanden sind, ob 
entsprechende Zeichen am Thäter sich nachweisen lassen, 
ob er verwundet oder sonstwie beschädigt ist? 



26 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Es ist ferner wichtig zu constatiren, ob wirklich ein 
objektiver Thatbestand besteht, da es Kranke gibt, die 
sich fingirter Verbrechen beschuldigen, ob mit Grund an- 
genommen werden kann, dass der Selbstankläger auch 
wirklich der Thäter sei, da fälschliche Selbstbeschuldigungen 
•eines objektiven Thatbestands vorkommen. 

Doppelte Vorsicht ist nöthig, wenn Selbstanzeige ge- 
macht wird, wenn der Thäter seine Handlung so gravirend 
als möglich darstellt, wenn sie an den liebsten Angehörigen 
oder sonst werth gehaltenen Objekten begangen wurde oder 
die Personen dem Thäter ganz fremd waren, wenn das 
Verbrechen in Attentaten auf die Person des Staatsober- 
haupts, in Religionsstörung oder auffällig schamlosen Un- 
zuchtsdelikten besteht. 

Das Einlieferungsprotokoll ist wichtig, insofern 
es über das Gebahren des Verhafteten in den ersten Stun- 
den oder Tagen nach der That Auskunft gibt und es ge- 
rade gegenüber der Frage der Simulation sowie bei frag- 
licher transitorischer Geistesstörung auf diese Zeit erheblich 
ankommt. 

Es kann wichtig sein zu ermitteln, ob der Verhaftete 
Spuren von Berauschung zeigte, Angst- oder epileptische 
Anfalle bot, Bewusstseinsstörung erkennen Hess, delirirte 
u. s. w. Es ist nöthig, die Zeitfolge etwa constatirter auf- 
fälliger Erscheinungen genau festzustellen. 

Der ins Gefängniss Eingelieferte sollte ehestens vom 
Gefängnissarzt untersucht werden. Leider geschieht dies 
nur auf besonderes Verlangen des Inhaftirten oder des 
Gerichts oder bei den regelmässigen monatlichen Gefangen- 
hausvisitationen und dann nur oberflächlich in Bezug auf 
Wichtigkeit das körperliche Befinden, nicht aber bezüglich des geistigen 
chischen Zustandes. Schon Schlager hat vor Jahren diesen Um- 

.Status prae- 

sens nach stand beklagt, Dr. v. Wyss kürzlich ihn wieder hervor- 

fangen- gehoben und auf die Nothwendigkeit der Aufnahme eines 

psychischen Status praesens zur Zeit der Gefangensetzung 

hingewiesen — nicht etwa als Grundlage eines zu erstat- 



Psychischer Status praesens nach der Verhaftung. 27 

tenden Gutachtens und der zu ermittelnden Zurechnungs- 
fähigkeit, sondern einfach zur Vervollständigung der Unter- 
suchung und als eventuelle Unterstützung des Richters in 
der Gewinnung von Inzichten für oder gegen das Bestehen 
einer Geistesstörung. Leider geht bei dem gegenwärtigen 
Gerichtsverfahren der wichtige Moment, wo eine sachver- 
ständige ärztliche Person den psychischen Status ermitteln 
und aufzeichnen würde, vorüber und damit ein wichtiges 
Material für etwa später nöthig werdende Geisteszustands- 
untersuchungen verloren. Dieses Material wäre um so werth- 
voller, wenn jeder Gefangenhausarzt psychiatrisch gebildet 
wäre und ein von sachverständiger Hand entworfenes 
Schema für einen solchen Status der Untersuchung zu 
Grund gelegt würde. 

Direkte und wichtige Gelegenheit, sich Vermuthungen 
über die geistige Persönlichkeit des Angeschuldigten zu 
bilden, erwächst dem Untersuchungsrichter in den Ver- 
hören. 

Es ist nothwendig, dass das erste Verhör binnen der 
ersten 24 Stunden (Deutsche St.P.O. § 115, Oesterr. § 179) 
nach der Einlieferung stattfinde und neben den Personalien 
und Thatum ständen ganz besonders das Verhalten nach der 
That, die Feststellung der Erinnerung für die Umstände 
der Ergreifung, des Transports sowie der Einzelheiten der 
That berücksichtige. Eine stenographische Aufzeichnung 
wenigstens dieses ersten Verhörs, die genaue Darstellung 
des Benehmens in Form des Geberdenprotokolls wäre 
nützlich. 

Indicien für das Vorhandensein geistiger Störung muss 
das Benehmen des Thäters abgeben, wenn er sich selbst 
und seine That im schlechtesten Licht darstellt, gleich 
gestraft sein will, oder wenn er umgekehrt sich apathisch 
zeigt, selbst bei der sonst erschütternden Confrontation mit 
der Leiche des Gemordeten; ferner wenn er eine grosse 
Gereiztheit und Heftigkeit des Benehmens zeigt, redselig 
und abschweifend in der Rede ist, Nonchalance und Dreistig- 



28 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

keit des Benehmens an den Tag legt, sich seiner That 

mapgeinde runmt - I* 1 nicht seltenen Fällen wird es geschehen, dass 

Er fa"die ng ^ er Thäter von seiner Handlung nichts zu wissen behauptet. 

That. Dieser Umstand ist wichtig und fordert zur genauesten 

Untersuchung des angeblichen Erinnerungsmangels und 

seines zeitlichen Umfangs auf. Sind die Thatumstände 

genau erhoben, die Thatsachen des Ergreifungsberichts und 

Einlieferungsrapports chronologisch geordnet, so gewinnt 

dieses fragliche Symptom erhöhte Bedeutung. 

Das Fehlen der Erinnerung lässt eine Vermuthung auf 
das Vorhandengewesensein einer transitorischen Geistes- 
störung (Bewusstlosigkeit) zu, wenigstens ist der Erinnerungs- 
defekt für den Zeitraum des krankhaften Zustands Regel. 
Es kann aber ebenso gut blos behauptet sein und auf dem 
Vertheidigungsplan eines raffinirten Verbrechers beruhen. 
Es ist dann Sache des Untersuchungsrichters, durch 
Kreuz- und Querfragen an den Vernommenen, durch Fest- 
stellung, welchen Umfang zeitlich der angebliche Erin- 
nerungsdefekt hat, durch Vergleichung der bezüglichen 
Aussagen in den folgenden Verhören der Wahrheit auf die 
Spur zu kommen. Von grossem Werth sind dabei auch 
der Ergreifungs- und Einlieferungsrapport, jedoch muss der 
Richter wissen, dass bei gewissen Formen des transitori- 
schen Irreseins (alkoholisches, epileptisches) eine momentane 
A^enil£ e Aufhellung des Bewusstseins mit Fähigkeit, Rede und Ant- 
^einTmlt* wor ^ zu stehen, eintreten kann, in welcher sogar ein Verhör 
<ter Thatun^ mö S^ CÜ i ßt > dass ferner unmittelbar nach einer in Bewusst- 
Autklinftzu l° 8 igkeit begangenen That ein momentanes Wissen von 
,f be "' derselben beobachtet wurde, obwohl die den Verhaftenden 

achliesst Be- " 

W ke 8 itszu- g g emacn ten Angaben oder im ersten Verhör gegebenen Aus- 
nicS^aus sa S en hinterher dauernd der Erinnerung entschwunden sind. 
Auch ein verständiges Reden und Antworten schliesst Zu- 
stände von gleichzeitiger Bewusstlosigkeit und eine später 
dafür fehlende Erinnerung nicht geradezu aus. 

Während angebliche Erinnerungsdefekte meist leicht 
nachweisbare Täuschungen sind und den bündigen Beweis 



Erinnerungsmangel. Simulationsfrage. 29 

mangelnder Wahrheitsliebe des Angeschuldigten liefern, ist 
aber nicht zu übersehen, dass auch wirklich Geisteskranke, 
so z. B. Melancholische, aus Scham über die begangene 
That, ferner Geistesschwache als läppischer Vertheidigungs- 
versuch fälschlich Erinnerungslosigkeit behaupten. 

Es darf also aus dieser. Thatsache nicht ohne Wei- 
teres auf Simulation und geistige Gesundheit geschlossen 
werden. 

Des Weiteren möge der Untersuchungsrichter den Stand 
der Intelligenz, die Gemüthsbeschaffenheit, die Ausdrucks- 
weise des Inculpaten wohl beachten. Er hüte sich, durch das 
befangene scheue schüchterne Wesen, das vielen Menschen 
dem Untersuchungsrichter gegenüber eigenthümlich ist oder 
durch die Schwerhörigkeit des Betreffenden eine blödsinnige 
Schwäche ohne weitere Anhaltspunkte zu vermuthen. 

Häufig wird erst im Verlauf der Gefängnisshaft der simuiations- 
Angeschuldigte psychisch auffällig. Der vorsichtige Unter- 
suchungsrichter hüte sich vor Allem den Fehler zu be- 
gehen, vorweg Simulation zu vermuthen. Eine solche kommt 
oft genug im Gefängniss vor und ein bezüglicher Verdacht 
ist jedenfalls gerechtfertigt, aber von diesem bis zur Annahme 
der Simulation ist noch ein weiter Schritt, den ein gewissen- 
hafter Richter nicht ohne Weiteres thun sollte. Wenn der Ge- 
danke an Simulation auch naheliegt, insofern ein Verbrecher 
dadurch einer entehrenden und die Freiheit beschränkenden 
Strafe zu entgehen hofft, so darf nicht vergessen werden, 
dass Gemüthsbewegungen wichtige Ursachen für Geistes- 
störung sind und deren der Verbrecher vor, während und 
nach seiner That genug erfahren hat, zudem dass durch den 
Einfluss der Freiheitsberaubung sowie durch die somatisch 
schädigenden und psychisch deprimirenden Verhältnisse des 
Gefangenenlebens der Verdacht auf eine wirklich vorhandene 
Geistesstörung mindestens ebenso berechtigt ist, wie der 
auf Simulation. 

Zudem kann es sich um eine periodische oder durch 
die kritische Bedeutung einer schweren Gewaltthat zurück- 



30 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

getretene Geistesstörung handeln, wenn der Inhaftirte ver- 
dächtige psychische Symptome zu bieten beginnt. 

Hier ist vorläufig keine Präsumption möglich, son- 
dern nur eine sorgfältige Beobachtung des Angeschuldigten, 
entweder in Collektivhaft mit anderen intelligenten und ver- 
lässlichen Gefangenen oder noch besser in der andauernden 
und sorgfältigeren Beobachtung im Inquisitenspital. 

. Es ist Pflicht des Richters, dafür zu sorgen, dass, so- 
bald der Geisteszustand eines Gefangenen verdächtig wird, 
der GefiLngnissarzt täglich ihn beobachte und das Resultat 
seiner Beobachtungen in einem fortlaufenden Beobachtungs- 
journal niederlege, ein wichtiges Beurtheilungsmaterial für 
künftige Begutachtungen, das aber in der Regel in den 
Akten vergebens gesucht wird. Es wird ausserdem Sache 
des Richters sein, die Gefangnisswärter und Mitgefangenen 
über die von' ihnen gemachten Wahrnehmungen einzuver- 
nehmen, sich selbst von dem Benehmen des Inhaftirten so 
oft als möglich zu überzeugen und sobald er einen ge- 
gründeten Verdacht auf einen abnormen Geisteszustand hat, 
die Gerichtsärzte mit der Exploration zu betrauen. 

Es wäre sehr wünschenswerth, wenn in grösseren Unter- 
suchungsgefangnissen Gefangenwärter Verwendung fanden, 
die früher in einer Irrenanstalt gedient haben und das Ge- 
fangnisspersonal zu einer rein objektiven Beobachtung des 
verdächtigen Gefangenen angeleitet würde. 
für Z sinmi Vermuthungen für den aufmerksamen Untersuchungs- 

tion. richter, dass Simulation im Spiele sei, werden sich daraus 
ergeben, wenn der Inhaftirte seine angebliche Krankheit in 
Gegenwart der Beobachter zur Schau trägt, auf sein Kopf- 
leiden mit Ostentation hinweist, was wirkliche Geisteskranke 
nicht zu thun pflegen, wenn er in seinem etwaigen Toben 
noch eine gewisse Umsicht und Rücksicht zeigt, verkehrte 
Antworten gibt, aus denen hervorgeht, dass er gleichwohl 
den Sinn der Frage wohl verstanden hat. 

Die Ermittlung der Simulation von Geistesstörung ist 
keine leichte Aufgabe für den Gerichtsarzt. Wo die ort- 



Geisteszustand vor der That. 



31 



liehen Verhältnisse des Gefängnisses für die unerlässliche 
längere und ununterbrochene Beobachtung des fraglichen 
Simulanten ungünstig sind, wird der Untersuchungsrichter 
gut thun, dem Begehren nach einer Beobachtung in einer 
Irrenanstalt zuzustimmen. Er vergesse nicht, dass Simu- 
lation gleichzeitige Geisteskrankheit nicht ausschliesst, und 
dass Simulation durch die mit ihr nothwendig verbundene 
körperliche und geistige Anstrengung in wirkliche Geistes- 
krankheit übergehen kann. 

Die von manchen älteren Aerzten noch beliebten Kunst- 
griffe (Chloroformirung, Ekelkuren, elektrische Geisselung, 
Douchen etc.) zur Entlarvung fraglicher Simulanten sind 
unsicher, inhuman und selbst gefährlich und deshalb am 
besten zu unterlassen. 

Die Würdigung der That und des Thäters darf nicht 
bei ihr und der gegenwärtigen Persönlichkeit stehen bleiben, 
sondern muss auch die der That vorausgehenden Verhält- 
nisse und Stimmungen des Inhaftirten ermitteln. Unter allen 
Umständen ist die That der Ausfluss schon mehr weniger 
lange vor ihr bestehender Stimmungen, Gedankenverbin- 
dungen) Gedankenrichtungen, Affekte, Leidenschaften, Im- 
pulse. Im Falle sie die That eines Geistesgestörten ist, 
steht sie ebensowenig isolirt da, sondern ist nur Symptom 
eines bestehenden oder bestanden habenden Zustands, dessen 
Ermittlung sie in ein richtiges Licht zu setzen geeignet ist. 
Die Zeit vor der incriminirten That, die Umstände, wie 
der Thäter zu ihr kam, müssen deshalb sorgfältig ermittelt 
werden. Gewöhnlich geschieht dies nur bei schwereren 
Reaten, insbesondere insofern die psychologisch differentielle 
Diagnose eines Mords oder Todtschlags zu machen ist, 
aber auch bei allen möglichen strafbaren Handlungen er- 
scheint die Vorgeschichte der That nöthig. 

Als einigermassen auf einen krankhaften Hirnzustand 
schon vor der That hinweisende und der Beachtung des 
Richters würdige Thatsachen sind zu bezeichnen: 

Tiefgehende, äüsserlich kaum oder gar nicht motivirte 



Notwen- 
digkeit der 
Erhebung 
des Seelen- 
zustands. 
wie er 
schon vor 
der That 
bestand. 



Inzichten 
für eine 
Geistes- 
störung 
schon vor 
der That. 



32 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Aenderung des Wesens und Charakters mit Stumpfheit 
gegen früher hochgehaltene Lebensbeziehungen (Beruf und 
Familie), Zornmüthigkeit, der Persönlichkeit früher fremde 
Neigung zu Alkoholausschweifung, Vagabundiren, geschlecht- 
lichen Excessen. Abnahme des Gedächtnisses, rasche gei- 
stige Ermüdung, Nachlass des sittlichen und Rechtsgefühls, 
Nachlässigkeit im Berufsleben, feindliches, misstrauisches, 
gereiztes Benehmen, Eifersucht, Klagen über Verläumdung, 
Lebensbedrohung, selbst bei Gericht. Klagen über kör- 
perliche, speciell nervöse Beschwerden, Angst, Unruhe, 
Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, eigene Befürchtung irre zu 
werden. Schmerzliche Verstimmung, wehmüthige oder ge- 
reizte Stimmung, Lebensüberdruss und Selbstmordversuche, 
Klagen von sonderbaren Gedanken geplagt zu werden, dem 
Charakter früher fremde und übertriebene Religiosität, selbst 
ausgesprochene Befürchtungen, dass etwas Schreckliches 
passiren werde, mit vagen Andeutungen des bevorstehenden 
Unglücks, Warnung oder Bedrohung der Umgebung im 
Sinn einer zu gewärtigenden Gefahr von Seiten des Thäters, 
Versuche, sich der zur Begehung des Verbrechens gebo- 
tenen Mittel selbst zu berauben. 
Nothwen- Die richterliche Voruntersuchung muss aber noch weiter 

digkeit eines # . 

zurück- sehen und nicht bei der Vorgeschichte der That stehen 

greifens auf ° ° 

die früheren bleiben, sondern die des Thäters ermitteln. 

Lebens- und 

Gesund- Das Strafrecht fusst auf psychologischen, gleichwie auf 

häitnisse. ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten. Um dem Thäter 
gerecht zu werden und eine annähernde Vorstellung von 
seiner Schuld zu gewinnen, muss sie die Persönlichkeit des 
Thäters bis weit zurück in seinem Lebensgang ermitteln, 
denn nächst seiner Anlage sind seine Erziehung und Lebens- 
schicksale massgebend für das, was er geworden ist. 

Diese Untersuchung der Persönlichkeit beschränkt sich 
leider gewöhnlich auf Leumund, etwaige Vorbestrafungen 
und allenfalls noch auf die genossene Erziehung. 

Indem das Strafrecht sich auf diese ethisch-intellek- 
tuellen, zudem lückenhaft und nicht vorurtheilsfrei ermittelten 



Frühere Gesundheitsverhältnisfle des Angeschuldigten. 33 

Momente im Vorleben des Verbrechers beschränkt, ver- 
zichtet es auf eine allseitige und wissenschaftliche Er- 
forschung desselben, zu der im Sinne einer Neugestaltung 
des Strafrechts der Zug der Zeit und das Bedürfniss drängen 
und beraubt sich im concreten Fall wichtiger, weil mög- 
licherweise für die Vermuthung eines psychopathischen Zu- 
stands ausschlaggebender Thatsachen. Das Strafrecht be- 
schränkt sich auf die Würdigung der moralisch intellektuellen 
Erziehungsresultate und ignorirt den wichtigen Paktor der 
Abstammung und Anlage, sowie den der Lebensschicksale, 
wozu auch für die geistige Persönlichkeit bedeutsame er- 
littene Krankheiten, erworbene Gebrechen (Trunksucht) zu 
rechnen wären. 

Die Verwerthung dieser anthropologischen Seite des 
Menschen für Strafgesetzgebung überhaupt und Recht- 
sprechung im concreten Fall gehört der Zukunft an, aber 
der gewissenhafte und in seinem exploratorischen Vorgehen 
ungebundene Untersuchungsrichter wird schon in der Gegen- 
wart gut thun, diese Seite des Angeschuldigten nicht zu 
übersehen. Wenigstens sollte er dies bei schweren Ver- 
brechen zu thun nicht unterlassen. 

Die Belastung des Richters in Verfolgung dieser Auf- tragen, auf 

° ° die es iu der 

gäbe kann keine grosse sein, wenn em von kundiger Hand vita ante- 
entworfenes Schema dessen, worauf es ankommt, ihm zur kommt. 
Verfügung steht und dessen Ausfüllung (eine. Art Frage- 
bogen) von ihm der Gemeinde-, Pfarr- oder Polizeibehörde 
der Heimath des Angeschuldigten aufgetragen wird, ge- 
radeso wie er amtliche Erkundigungen nach dem Leumund 
und etwaigen Vorbestrafungen einzieht. Als bemerkens- 
werthe Punkte eines solchen Fragebogens wären hervor- 
zuheben: 

Vorgekommensein von schweren Hirn-, Nerven-, Geistes- 
krankheiten, Selbstmord, Trunksucht, auffalliger Immoralität 
und verbrecherischer Lebensführung in der Familie des 
Angeschuldigten. 

Geisteskrankheit, Epilepsie, Hysterie, Trunksucht, 

v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 8 



34 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

schwere Kopfverletzungen beim Angeschuldigten selbst, 
etwaiger früherer Aufenthalt in Irrenanstalten und welchen, 
etwa früher verhängte Curatel und von welchem Gericht? 
Die praktische Bedeutung dieser Fragepunkte wird in 
den Ausführungen des speciellen Theils dieses Buchs sich 
genugsam ergeben. An dieser Stelle sei nur der Wich- 
tigkeit der Erblichkeit von krankhaften Hirndispositionen 
gedacht. 
Erblich- Die Bedeutung dieses Gesetzes der Erblichkeit, alleemein 

keitsfrage. ° . > o 

anerkannt auf dem Gebiet des physiologischen Lebens und 
eine ätiologische Grossmacht auf dem der Pathologie, ist 
noch lange nicht hinlänglich gewürdigt in ihren praktischen 
Consequenzen in foro. Es ist zweifellos, dass nicht blos 
Geisteskrankheit im engeren Sinn, sondern auch schwere 
anderweitige Hirnkrankheiten, Epilepsie, Hysterie, ja selbst 
Trunksucht und überhaupt ausschweifende Lebensweise die 
psychische Integrität der Nachkommenschaft in Frage 
stellen und thatsächlich häufiger, als man dies vielfach noch 
annimmt, die normale Hirnentwicklung stören, ja selbst, 
wenn das gefährliche Lebensalter des sich noch entwickelnden 
Gehirns glücklich überstanden ist, dieses zeitlebens weniger 
widerstandsfähig gegen Schädlichkeiten aller Art erscheinen 
lassen und bei Einwirkung solcher in Krankheit versetzen. 
Der erbliche Einfluss kann sich in seltenen Fällen schon 
von Geburt an geltend machen (angeborenes Irresein) oder 
erst in einer späteren Lebensperiode (erworbene Krank- 
heit). Es kann hiebei der erbliche Einfluss sich durch kein 
Zeichen verrathen (blosse erbliche Anlage) oder durch man- 
nigfache Zeichen einer abnormen Funktion des Gehirns 
(Anomalien des Charakters, krankhafte Gemüthsreizbarkeit, 
durch Intensität und Dauer abnorme Affekte, abnorme 
Reaktion gegen Spirituosen, Krampf- u. a. Nervenkrank- 
heiten — erbliche Belastung — s. u. psychische Degenera- 
tionszustände). 

Die erblich veranlagte Krankheit kann dabei in gleicher 
Form wie bei der Ascendenz sich äussern und zu ganz 



Erbliche Einflüsse. Alters- und Lebensperioden. 35 

gleichen Handlungen führen (Diebstahl, Selbstmord) oder 
häufiger in veränderter Form. Sie bricht in annähernd 
der gleichen Lebenszeit bei Personen verschiedener Ge- 
nerationen aus (z. B. Irresein im Wochenbett bei Mutter 
und Tochter). Die tiefgehende Bedeutung dieses wich- 
tigsten aller Naturgesetze unter den Lebenserscheinungen 
ergibt sich unschwer aus diesen kurzen Andeutungen. 
Sie wird nur dadurch geschmälert, dass dieses Gesetz nicht 
immer zur Geltung kommt. Es kann nicht genug davor 
gewarnt werden, aus der blossen Thatsache, dass Irresein 
oder gleichwerthige HirnafFektionen bei der Ascendenz vor- 
gekommen sind, voreilige Schlüsse bezüglich des Geistes- Ge 2Jig e r 01> 
zustands eines Inhaftirten zu ziehen. Diese Thatsache hat SclllÖ8se - 
nur dann eine Bedeutung, wenn Störungen in der Hirn- 
entwicklung und Hirnfunktion des Descendenten nach- 
weisbar sind. Dann ist ihre Bedeutung eine sehr grosse 
und nöthigt jedenfalls zur sorgfältigen ärztlichen Beobach- 
tung des Angeschuldigten. 

Nächst der Erblichkeitsfrage hat ein gewissenhafter 
Untersuch ungarichter sein Augenmerk darauf zu richten, 
ob eine strafbare That nicht vielleicht in einer Alters- w i££{J|*J it 
und Lebensperiode begangen worden ist, in welcher erfah- A1 Leb~ e ns? d 
rungsgemäss die geistigen Funktionen noch nicht genügend P erioden - 
entwickelt sind oder in welchen geistige Störung nicht 
selten, namentlich bei erblich Belasteten oder auch blos 
Veranlagten vorkommt. 

Als solche Lebensperioden sind anzuführen : das kind- 
liche und jugendliche Alter, speciell das Alter der Ge- 
schlechtsentwicklung (Pubertät), die Zeit der Menstruation, 
die Schwangerschaft, der Gebärakt, das Wochenbett, die 
Zeit der geschlechtlichen Rückbildung beim Weib (Kli- 
macterium) und das höhere Greisenalter bei beiden Ge- 
schlechtern. 

Das Alter der strafrechtlichen Unreife (Kind- 
heit und Unmündigkeit). In richtiger Würdigung der 
Thatsache, dass erst von einem gewissen Alter an die 



^ OF TH£ 

UNIVERSITY 



36 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Alter der Hirnentwicklung und Erziehung eine solche Höhe erreicht 
liehen ün- haben, dass die Bedingungen der Zurechnungsfahigkeit ver- 
Deutscn.st.- muthet werden können, verzichtet die Strafgesetzgebung 
oest.st.GB. auf die strafgerichtliche Verfolgung des Kindes überhaupt. 

bis 273. Als Termin der strafgerichtlichen Verfolgbarkeit ist von 

Oest. St.Gr.- 

Entw. § 60 der deutschen Strafgesetzgebung und dem österr. Ent- 
wurf (§ 61) das 12., von dem heute noch geltenden Oesterr. 
St.G.S. das 10. zurückgelegte Lebensjahr festgesetzt. Je 
nach Klima, Race, Culturzustand der Bevölkerung wird 
dieser Zeitpunkt von der territorialen Strafgesetzgebung 
früher oder später normirt. 

Insofern die strafrechtliche Reife nicht plötzlich, son- 
dern allmählig erreicht wird, muss zwischen die Alters- 
periode der fehlenden Zurechnungfahigkeit des Kindes und 
die der vollzurechnungsrahigen Erwachsenen eine Alters- 
periode der zweifelhaften Zurechnungsfähigkeit (Alter der 
Unmündigkeit) eingeschoben werden. Dieses Lebensalter 
wird von der deutschen Strafgesetzgebung und von dem 
österr. Strafgesetzentwurf auf das 12. bis 18. Lebensjahr 
normirt. Der Staat hält sich, da in diesem Alter das 
Rechtsbewusstsein schon erwacht ist, für verpflichtet ein- 
zuschreiten, aber jenes ist noch unvollkommen und frag- 
lich. Eine Präsumption für und wider ist unzulässig. 
Der Fall muss als ein concreter beurtheilt werden. Das 
untergehet- gesetzliche Kriterium für die Beurtheilung des jugendlichen 
mö^enbei Verbrechers ist die „zur Erkenntniss der Strafbarkeit (der 
nche^ver- Handlung) erforderliche Einsicht*. Der Richter ist einzig 
Deutsch, st.- competent zur Beurtheilung ihres Vorhandenseins oder 

PO 8 298. 

Deutsch, st.- Fehlens. Diese Entscheidung kann eine sehr schwierige 
oest ' Entw.* sein. Der Gesetzgeber hat den Begriff des Unterscheidungs- 
vermögens nirgends definirt. Dem Geist und Wortlaut 
der Gesetzgebung nach kann es nur als das Bewusstsein 
von der Bedeutung der strafbaren That in ihren recht- 
lichen Wirkungen, das zugleich die Kenntniss ihrer mög- 
lichen Folgen in sich begriff, gedeutet werden. • (Besitz 
der „erforderlichen Einsicht zur Erkenntniss der Strafbar- 



Jugendliche Verbrecher. Unterscheidungsvermögen. 37 

keit der bezüglichen That a .) In der Regel wird der Richter 
zur Beurtheilung des geistig körperlichen Reifezustands eines 
jugendlichen Verbrechers, als eines physiologischen allein be- 
fähigt sein und die Zuziehung eines ärztlichen Sachverstän- 
digen nur erforderlich erscheinen, wenn Anomalien der 
körperlich geistigen Entwicklung oder Verdacht auf geistige 
Erkrankung sich ergeben. Der Richter muss ganz besonders 
berücksichtigen, dass die vom Gesetz angenommene Alters- 
gränze der criminellen Unreife eine willkürliche ist und 
dass die körperlich geistige Entwicklung nicht bei allen 
Individuen, sondern nur bei der Mehrzahl mit dem ab- 
gelaufenen 18. Lebensjahr erreicht ist. Durch erblich schä- 
digende Einflüsse, durch die sog. englische Krankheit, Hirn- 
erkrankungen (Convulsionen) in jungen Jahren, durch schwere 
Allgemeinerkrankungen wie z. B. Typhus, Kopfverletzungen, 
Bleichsucht, gestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane 
kann die Entwicklung eine verzögerte sein. Zudem ist 
nicht zu vergessen, dass erst mit vollendetem 21. Lebens- 
jahr das Gehirn seine volle Entwicklungshöhe erreicht hat und 
dass die psychische Leistungs- resp. die Zurechnungsfähigkeit 
von der Entwicklungsstufe des psychischen Organs abhängt. 
Solche Entwicklungs Verspätungen können ein Individuum 
trotz erreichter Altersreife einem solchen vor zurückge- 
legtem 18. Jahr gleich machen und je nach Umständen 
die Zurechnungsfahigkeit aufheben oder wenigstens die 
Wohlthat mildernder Umstände bedingen. 

Bei jugendlichen Verbrechern von 12 — 18 Jahren muss 
die Frage der Zurechnungsfahigkeit speciell gestellt und 
die Vorfrage des vorhandenen oder fehlenden Unterschei- 
dungsvermögens entschieden werden. (Deutsch. St.P.O.§298.) 
Der Richter hüte sich, ein solches vorschnell und einseitig 
aus einzelnen Kundgebungen der Intelligenz, aus isolirten 
moralischen oder intellektuellen Urtheilen, aus einer ge- 
wissen Schlauheit oder Bosheit zu erschliessen. Er muss 
sich sein Urtheil aus der Gesammtpersönlichkeit zu bilden 
suchen. Das Zeugniss des Lehrers, welches erhoben wird, 



38 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

berücksichtigt einseitig die intellektuelle Begabung und 
ermisst die Persönlichkeit an dem Mass des Erlernten, 
das Zeugniss des Geistlichen verwerthet nur die Katechis- 
mus- und Moralkenntnisse, ohne zu prüfen, ob sie verstan- 
den und nicht blos eingelernt wurden. Der Richter ist zu 
sehr geneigt, nach dem Satz „malitia supplet aetatem* zu 
urtheilen und nimmt ein inquisitorisch oder durch Sug- 
gestivfragen ermitteltes oder hineinexaminirtes Schuldbe- 
wusstsein für ein schon zur Zeit der That bestandenes. 
Er übersieht dabei leicht, dass vielfach solchen halbkindischen 
Leuten erst nach der That, wenn sie den angerichteten 
Schaden überschauen, die Folgen der That empfinden, von 
Angehörigen, Gefängnissbeamten etc. darauf aufmerksam 
gemacht worden sind, die Augen aufgehen. 

Der Richter möge sich ferner hüten, dass er ein ab- 
straktes theoretisches Strafbarkeitsbewusstsein nicht mit 
dem concreten zusammenwirft. Er übersehe nicht, dass 
die abstrakte Kenntniss des, Sitten- und Strafgesetzes noch 
nicht die Fähigkeit involvirt, den eigenen concreten Fall 
unter diese allgemeinen Anschauungen unterzuordnen. Dieses 
Bewusstsein von Gut und Bös, Recht und Unrecht ist oft 
noch lange ein oberflächliches, intellektuell noch nicht ab- 
geklärtes, das sich zudem mehr weniger instinktiv geltend 
macht. Urtheil und Erfahrung sind noch dürftig, die Re- 
flexion eine oberflächliche und beim geringsten Affekt 
gänzlich darniederliegende. 

Aber auch auf die Qualität der verübten strafbaren 
Handlung muss die Beurtheilung des Unterscheidungsver- 
mögens Rücksicht nehmen. 

Ein Diebstahl wird gewiss eher und früher als Un- 
recht erkannt als eine Fundverheimlichung oder Urkunden- 
fälschung oder gar eine hochverrätherische Handlung oder 
Majestätsbeleidigung! Die Möglichkeit, die Folgen einer 
Brandstiftung vorauszusehen, wird eher anzunehmen sein 
als die der eventuellen Folgen einer muthwilligen Beschä- 
digung einer Canalschleuse oder eines Eisenbahngleises. 



Unterscheidungsvermögen. Pubertätsalter. 39 

Der nachgewiesene Mangel des Unterscheidungsver- ^f™^* 1 " 
mögens macht den jugendlichen Verbrecher dem Kind unter m ° g ** ln " 
12 Jahren gleich; sein Vorhandensein verbürgt jedoch noch ni( ^ g ®f l J 1 b8t ' 
nicht die Zurechnungsföhigkeit, deren zweite Bedingung die mun ^ h,g " 
Selbstbestimmungsfähigkeit ist. Diese muss vorerst erwiesen 
«ein, um die Zurechnungsföhigkeit als vorhanden annehmen 
zu können. Gerade bei jugendlichen Verbrechern ist trotz 
vorhandenem Unterscheidungsvermögen der Mangel eines 
genügend erstarkten, auf rechtliche, sociale, ethische An- 
schauungen sich stützenden Willens denkbar. 

Einsicht in die Strafbarkeit und Folgen einer Hand- 
lung gewährleistet noch nicht die sofortige Geltendmachung 
und das Uebergewicht der aus jener Einsicht geschöpften 
Gegenmotive. Zeigt doch gerade das psychologische Stu- 
dium der Unmündigen ein grosses Gewicht der sinnlichen 
Antriebe, einen noch wenig geübten und gekräftigten 
Mechanismus der Selbstbestimmung, wobei die rechtlichen 
und moralischen Urtheile nur erst lose haften, noch nicht 
in Fleisch und Blut übergegangene Bestandtheile des Ich 
sind. Offenbar auf Grund dieser Thatsachen straft die Ge- 
setzgebung den jugendlichen Verbrecher, selbst- wenn er 
Unterscheidungsvermögen besitzt, milder als den Er- 
wachsenen. Eben daraus folgt, dass die Gesetzgebung 
bei dem Unmündigen, welcher die „erforderliche Einsicht* 
besitzt, eine (zwar nicht „verminderte" aber) unentwickelte, 
nichtvollentwickelte Zurechnungsföhigkeit annimmt ; ferner, 
dass im Sinne des Gesetzes die „erforderliche Einsicht* 
nicht gleichbedeutend ist mit Zurechnungsföhigkeit. 

Es ist ein Vorzug der neueren Strafgesetzgebung, 
dass sie das Alter der zweifelhaften strafrechtlichen Reife 
bis zum zurückgelegten 18. Lebensjahr hinausgeschoben 
hat, insofern in diese Altersjahre die für das geistige Leben ^^21 
so wichtige Geschlechtsentwicklung fallt. e ?S[£ k " 

Nie sollte der Richter diese bedeutsame biologische 
Lebensphase, gleich den anderen in der Folge zu erwähnen- 
den unberücksichtigt lassen. 



40 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

An und für sich beweist das Vorkommen einer straf- 
baren That in einer solchen Lebensphase gar nichts gegen 
ihre Zurechenbarkeit, aber eine gesteigerte Vorsicht ist 
richterlicherseits jedenfalls geboten und an sich gering- 
fügige Auffälligkeiten in dem Benehmen des Inhaftirten 
gewinnen eine gewisse Bedeutung und mahnen zur genauen 
Prüfung. 

Die Pubertätsentwicklung ist eine der bedeutsamsten 
Lebensphasen, weil das Hereintreten des Geschlechtsfaktors 
in das Gefühls- und Vorstellungsleben ganz geänderte Be- 
ziehungen zur Aussenwelt hervorruft und die Grundlage 
abgibt, auf welcher die ganze Summe der socialen und 
ethischen Gefühle des künftigen Charakters sich entwickelt. 
Es geschieht leicht, dass der mehr oder minder rasch sich 
vollziehende organisch-psychische Umwandlungsprocess das 
Seelenleben gewaltig und krankhaft beeinflusst und bei 
keinem Individuum dürfte es je ohne erhebliche Schwan- 
kungen der Gefühlslage, die dann in sentimentalen, hypo- 
chondrischen, weltschmerzlichen Stimmungen, romanhaften 
Gedanken, religiöser Schwärmerei u. dgl. ihren Ausdruck 
finden, abgehen. Häufig bewirken Störungen in der Ent- 
wicklung der Geschlechtsorgane, Bleichsucht, zufallige körper- 
liche Erkrankungen, geschlechtliche Ausschweifungen, wie 
Häufigkeit z. B. Onanie, geradezu krankhafte Seelenzustände, nament- 

krankhafter ° 7 

seeienzu- lieh bei erblicher Anlage. Die Statistik erweist wenig- 

ßtände im * . 

Pubertäts- stens, dass bei erblich Belasteten der Procentsatz der 

alter. 7 

Geistesstörung die höchste Ziffer im 16. — 20. Lebensjahr, 
offenbar auf Grund der Pubertätsvorgänge, erreicht. Neben 
Hysterie, Epilepsie und andern Nervenkrankheiten mit 
häufiger Complication geistiger Störung kommen ganz be- 
sonders häufig hier Zustände von Melancholie vor, die sich 
dann vielfach als Heimweh objektiviren, mit Angstgefühlen, 
Sinnestäuschungen, Zwangsideen verbinden und in straf- 
baren Handlungen — meist Brandstiftung oder selbst Töd- 
tung anvertrauter Kinder — sich entäussern. Die Häufigkeit 
der Brandstiftungen im Entwicklungsalter hat zur Irrlehre 



Sogen. Brandstiftungstrieb. Menstruation. 41 



einer Brandstiftungsmonomanie geführt , indem man nur sog. Brand- 
die That und ihre Umstände ins Auge fasste und mit 8tl /riS>f 8 " 
Uebersehung der jene bedingenden Verhältnisse entschieden 
pathologisch motivirte Brandlegungen mit aus Rache, Schaden- 
freude, Muth willen, Nachahmungslust einfach kindischer 
haltloser junger Leute motivirten zusammenwarf und zur 
Erfindung einer Pyromanie verwerthete, die nun wie alle 
anderen Monomanien längst von der vorgeschrittenen Wissen- 
schaft beseitigt ist. 

Nicht ohne Bedeutung sind auch die periodisch wieder- 
kehrenden Vorgänge der Menstruation für das Geistes- Menstrua- 
leben. Bei den meisten Frauen zeigt sich vor und während 
dieser Zeit eine gesteigerte nervöse und auch gemüthliche 
Erregbarkeit und bei gebärmutterkranken, namentlich aber 
bei erblich veranlagten und belasteten Weibern kann der 
Vorgang der Menstruation zu den heftigsten Affekten, ja 
sogar zu temporärer Geistesstörung Anlass geben. 

Es wäre geboten, bei der Einlieferung einer weiblichen 
im zeugungsfähigen Alter stehenden Gefangenen durch 
den Arzt des Inquisitenspitals ermitteln zu lassen, ob die 
Inhaftirte sich in Menstruation befindet oder wann sie zum 
letztenmal menstruirt war. Wie bedeutungsvoll eine solche 
Thatsache im Criminalforum werden kann, lehrt ein in 
Hitzig's Zeitschrift für Criminalrechtspflege (1827, Juli u. 
Aug.) mitgetheilter Fall einer Mutter, die ihr Kind ertränkt 
hatte. Niemand ahnte einen unfreien Geisteszustand zur 
Zeit der That. Die unglückliche Mutter war derselben 
geständig und wurde zum Tod verurtheilt. Kurz vor der 
Hinrichtung theilte sie einer Mitgefangenen mit, sie habe 
sich geschämt dem Richter zu sagen, dass sie zur Zeit der 
That ihre Periode hatte, eine Zeit, zu welcher sie regel- 
mässig von einer ihr unerklärlichen inneren Angst und Un- 
ruhe gequält werde und an Lebensüberdruss leide. Die 
Vollstreckung des Urtheils wurde vertagt, die Thäterin 
während mehrerer Menstruationstermine gerichtsärztlich be- 
obachtet, wobei sich ergab, dass sie zu dieser Zeit jeweils 



42 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

an Schlaflosigkeit, Kopfweh, Congestionen, Bangigkeit, Puls- 
beschleunigung bis zu 130 Schlägen, Lebensüberdruss und 
allen Erscheinungen einer tiefen Melancholie litt. Die Un- 
glückliche wurde freigesprochen. 
Schwanger- Auch die Schwangerschaft führt durch die ein- 

scbaft. ° 

greifenden Aenderungen von Blutumlauf und Stoffwechsel, 
die in ihrem Gefolge eintreten, nicht selten zu schweren 
Nervenkrankheiten (Veitstanz, Hysterie, Epilepsie) und 
davon abhängigen psychischen Anomalien, sowie auch zu 
ausgesprochener psychischer Erkrankung, namentlich in den 
drei letzten Monaten ihres Bestehens. Besondere Beach- 
scnwanger- tung verdienen Diebstähle in der Schwangerschaft, die der 

scnaits- 

gelüste. Volksglaube auf sog. unwiderstehliche oder in ihrer Nicht- 
befriedigung für die Frucht verhängnissvolle Gelüste zu 
beziehen geneigt ist. In der Regel handelt es sich um 
diebische Weiber, die sich das erwähnte Vorurtheil zu 
Nutze machend, einfach stehlen. Daneben kommen aber 
auch entschieden Diebstähle aus pathologischen Motiven 
vor und zwar auf Grund von krankhaften Stimmungen, 
Begehrungen, Zwangsvorstellungen bei Hysterischen oder 
auch melancholisch Verstimmten. Meist sind diese Gelüste 
auf Befriedigung des Nahrungstriebs, freilich in nicht selten 
perverser absonderlicher Geschmacksrichtung ausgehend. 
Verdächtig ist es immerhin, wenn die Gelüste auf Werth- 
objekte gerichtet sind. 

Der Richter wird die Umstände des Falls, die sociale 
Stellung der Diebin, den Werth und die Art der Ver- 
wendung der gestohlenen Gegenstände in Erwägung zu 
ziehen haben. Es wird wichtig sein zu ermitteln, ob die 
Betreffende ausserhalb der Schwangerschaft niemals sich 
Unredlichkeiten zu Schulden kommen liess, dagegen etwa 
in früheren Schwangerschaften gestohlen hat. Der absolute 
Unwerth einer gestohlenen Sache wird nicht belanglos sein, 
aber aus dem Werth derselben lässt sich an und für sich 
nichts folgern. Die Zurückgabe eines Gegenstands kann 
auch aus Schamgefühl unterlassen worden sein. Ganz * 



Schwangerschaftsgelüste. Gebärakt. 43 

monströse Gelüste werden immer Verdacht auf pathologische 
Bedingungen erregen. Bei erheblichem Verdacht wird die 
gerichtsärztliche Untersuchung des Falls sich empfehlen. 

Nur Gelüste, die als Theilerscheinung einer psychischen 
oder überhaupt einer Nervenkrankheit nachgewiesen werden, 
können eine entlastende Bedeutung in der Zurechnungs- 
fahigkeitsfrage gewinnen. 

Dem Zustand, in welchem sich die Gebärende in und tfeb&rakt. 

7 Oesterr. St.- 

nach dem Gebärakt befindet, trägt die Gesetzgebung j^'J^ 1 ^ 
schon dadurch Rechnung, dass sie die Tödtung des Kindes ^;^. 21 J t ; 
oder dessen Tod in Folge absichtlich unterlassener Hülfe- G - E "* w - 

§ 228. 

leistung mit einer verhältnissmässig milden Strafe ahndet, 
eingedenk der Thatsache, dass in diesem geistig und kör- 
perlich erschütternden und aufregenden Zustand die Ver- 
werthung sittlicher und rechtlicher Gegenmotive gegenüber 
dem Gedanken, sich des Kindes zu entledigen, namentlich 
bei unehelich Gebärenden erheblich erschwert ist. 

Ein affektvoller Zustand, oft schon lange vor der Ge- 
burt hervorgerufen durch Scham über die verlorene Ge- 
schlechtsehre, Sorge um die Zukunft, namentlich bei Ver- 
lassensein vom Geliebten, durch Verstossensein von der Fa- 
milie, lieblose Behandlung der Umgebung, materielle Noth, 
gesteigert durch den Schrecken bei der herannahenden, oft 
hülf losen Niederkunft, zur Höhe der Verzweiflung getrieben 
durch die Schmerzen der Geburt, ist hier wohl immer vor- 
handen und rechtfertigt die milde Beurtheilung des Mords 
des Kindes, als der Quelle all des Jammers. 

Der Richter wird auch die anthropologische Seite der 
Persönlichkeit zu würdigen haben und in Anomalien des 
Charakters (Excentricität , abnorme Gemüthsreizbarkeit, 
geistige Beschränktheit) mildernde Umstände erkennen, 
die auch das humane Strafgesetzbuch der Neuzeit zulässt. 

Von besonderer Wichtigkeit ist aber die Thatsache, 
dass die mächtig psychisch und somatisch irritirenden Vor- 
gänge der Geburt nicht selten vollständig unfreie Geistes- 
zustände während des Gebärakts herbeiführen und damit 



44 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

die Zurechnungsfähigkeit vollkommen aufheben. Diese 
sind nicht leicht zu erkennen und nachzuweisen und da 
sie immer durch krankhafte Bedingungen hervorgerufen 
sind und krankhafte Geisteszustände (Bewusstlosigkeit) dar- 
stellen, ist richterlich die höchste Vorsicht geboten und 
eine rein psychologische Beurtheilung unzulässig. 
vonB^ 6 Diese Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit können 

k™bei 8 Ge- eDensow °hl die eigene Fürsorge für das Kind im Fall einer 
bärenden, heimlichen hülflosen Niederkunft unmöglich machen, als die 
sinnesverwirrte, in transitorischer Geistesstörung befindliche 
Mutter zu einem aktiven Vorgehen gegen das soeben ge- 
borene Kind treiben. 

Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit im engeren Sinn 
sind durch Erschöpfung in Folge der Geburt oder durch 
ungewöhnlich starke Blutverluste motivirt, in seltenen Fällen 
durch Erstarrungszustände bei Hysterischen. Das Kind 
bietet in solchen Fällen keine Spuren von Vergewaltigung, 
sein Tod ist durch Ersticken im Bett werk, in Koth, Blut 
der Mutter, Verblutung durch Nichtunterbindung der Nabel- 
schnur, Erfrieren durch mangelnde Bedeckung, Erwärmung 
bedingt und erklärt. Die Mutter wird vielleicht noch ohn- 
mächtig an der Stelle der Geburt vorgefunden. 

Die transitorischen Irreseinszustände während und nach 
der Geburt sind bis zur Höhe der Sinnesverwirrung und Be- 
wusstlosigkeit gesteigerte Affekte, die durch das Uebermass 
der Wehenschmerzen, durch mächtig wirkende moralische 
Ursachen, durch besondere krankhafte Dispositionen hervor- 
gerufen sind, oder es handelt sich um Anfalle von sogenannter 
Mania transitoria oder Raptus melancholicus, um eclamp- 
tische, epileptische oder hysterische Nervenzufalle mit De- 
lirium oder um Delirien eines entzündlichen Fiebers. 
Bedeutung Psychologisch ist hier aufgehobene* Erinnerung für 

Amnesie. Geburtsvorgang und That für den Richter ein Fingerzeig, 
dass pathologische Vorgänge im Spiel waren. Die sofor- 
tige Ermittlung der Erinnerungslosigkeit durch das Verhör 
als einer thatsächlichen und die Feststellung ihres zeitlichen 



Wochenbett. Klimacterium. 45 

Umfangs muss seine nächste Aufgabe sein. Die Art der 
Tödtung des Kindes, insofern sie eine plan-, sinnlose, viel- 
leicht grässliche war, keine Anstalten zur Verwischung 
der Spuren der That getroffen wurden, anderweitige An- 
zeichen eines zerstörenden unbewussten Handelns aus den 
Umständen der That sich ergeben, werden den bezüglichen 
Verdacht bestärken und den Richter veranlassen, Sachver- 
ständige zu rufen, selbst wenn die allgemein psychologischen 
Momente des Falls (schlechter Leumund, uneheliche Ge- 
burt, geäusserte Absicht das Kind zu tödten, verheimlichte 
Schwangerschaft, absichtlich hülflose Niederkunft) für die 
Zurechnungsfahigkeit Indicien abgeben sollten. 

Auch im weiteren Verlauf des durchschnittlich "sechs Wochenbett. 
Wochen dauernden Rückbildungsprocesses der Gebärmutter 
(Wochenbett) sind geistige Störungen bei der geschwächten 
Entbundenen häufig und leicht die Ursache von Gewalt- 
taten gegen die Umgebung, besonders gegen das Kind. 
Auch Affekte in dieser Zeit, namentlich Verzweiflungsaffekte 
beim Verlassen des Geburtsasyls und der nun über die 
Mutter hereinbrechenden Noth des Lebens verdienen be- 
sondere Berücksichtigung, da sie analoge Seelenzustände 
darstellen können wie gleich nach der Geburt. 

Im Allgemeinen werden geistige Störungen im Wochen- 
bett besonders häufig in den ersten Tagen nach der Ent- 
bindung, sowie in den letzten Wochen beobachtet. Die 
Irreseinszustände in den ersten Tagen sind transitorische, 
analog denen zur Zeit der Entbindung, oder chronische. 
Die in den letzten Wochen auftretenden sind Melancholien 
oder Tobsuchten von längerem Verlauf und dadurch leichter 
nachweisbar. 

Auch die Zeit der geschlechtlichen Rückbildung zeit te «*- 

N ° schlecht- 

(Khmacterium) beim Weib ist von Bedeutung für das }{J*J£ *JJ£ 
Forum, insofern bei etwa 6 °/o der weiblichen Irren in Irren- Weib - 
häusern dieser körperliche Vorgang als Ursache ihrer Krank- 
heit nachgewiesen wird. Der Beginn dieses Lebensalters 
ist gewöhnlich die Mitte der 40 er Jahre, zuweilen be- 



46 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

ginnt es auch früher oder später, im Allgemeinen etwa 
30 Jahre seit dem Eintritt der Periode. Die Dauer des 
Involutionsprocesses kann Jahre betragen. 

Das Irresein in diesem Lebensalter hat häufig ge- 
schlechtliche Beziehungen (Verfolgungswahn mit feindlicher 
Reaktion gegen die Umgebung, ferner Eifersuchtswahn 
gegen den Ehemann mit Lebensbedrohung desselben). 

^tlr 11 ^ e Involution des Körpers im höheren Alter 

betrifft auch das Gehirn und ändert damit Charakter und 
geistige Leistungsfähigkeit. Neben dem Nachlass der in- 
tellektuellen Kräfte ist oft früh schon und viel ausge- 
sprochener als der intellektuelle Verfall ein Schwund der 
ethiscnen Gefühle und sittlichen Correktive bemerklich. 
Kommen dazu noch geschlechtliche Erregungsvorgänge, wie 

sittlich- dies nicht selten ist, so werden leicht Unzuchtsvergehen, 

keitsver- . , . 

gehen von namentlich an kleinen Kindern begangen, da der moralisch 
gangen, und intellektuell geschwächte Greis seine geschlechtlichen, 
zudem oft in krankhafter Stärke hervortretenden Neigungen 
nicht mehr zu bemeistern vermag. Die Erfahrung lehrt, 
dass dieser Thatsache in foro nur selten gebührende Rech- 
nung getragen wird. 

Auch Gemüthsleiden kommen auf dem Boden der 
senilen Degeneration gelegentlich vor und führen nicht 
selten zu schweren Gewaltthaten gegen die Enkel aus 
Wahn, dass Alles zu Grunde gehe und ein trostloses Dasein 
jenen bevorstehe, ferner Verfolgungswahn mit feindlichen 
Akten gegen die Umgebung und gerichtlichen Klagen 
wegen vermeintlicher Beraubung und Lebensbedrohung. 

Die vorausgehenden Thatsachen psychiatrischer Erfah- 
rung sind geeignet, dem Untersuchungsrichter die ganze 
Schwierigkeit und Verantwortlichkeit seiner Aufgabe, einen 
zweifelhaften Geisteszustand nicht zu übersehen, klar zu 
machen. Die Berufung der Experten zur Klärung eines 
dem Richter zweifelhaft erscheinenden Geisteszustands muss 
seinem Ermessen und Gewissen anheimgestellt bleiben. Wohl 
aber ist die Frage am Platz, unter welchen Umständen er 



Expertise, wann unbedingt räthlich? 47 

gut thun dürfte, sofort eine gerichtsärztliche Untersuchung verbrechen, 

Del weicnen 

des Geisteszustands eines Verbrechers zu verfügen? Sie unter aiien 

" Umständen 

erscheint räthlich: eine ge- 

richtsarzt- 

1. Bei vorhandener erblicher Belastung. ucne unter- 

° suchung 

2. Bei Trunksüchtigen, Epileptischen, Hysterischen, wünschens- 

3. Bei Individuen, die schon einmal geisteskrank waren. 

4. Bei Mordthaten, in deren Begehung eine auffällige 
Grausamkeit sich zeigt. 

5. Bei Sittlichkeits verbrechen, wenn sie von Individuen 
im Greisenalter begangen wurden oder in perverser Weise 
(an Personen desselben Geschlechts, an Thieren oder Leichen) 
oder mit Mord des Opfers der Lüste ausgeführt waren. 

6. Bei Verbrechen gegen das Leben des Kindes in 
und nach dem Gebärakt. 

7. Bei Gewohnheitsverbrechern, überhaupt bei Per- 
sonen von exemplarisch schlechter Aufführung, soferne der 
sittliche Defekt aus Fehlern oder Mangel der Erziehung 
nicht erklärbar ist. 

8. Bei Individuen, die sich ihrer strafbaren That nicht 
zu erinnern behaupten und bei welchen sich das thatsäch- 
liche Fehlen der Erinnerung aus den Umständen und Ver- 
nehmungen ergibt. 

Unter solchen Umständen, aber überhaupt da, wo sich 
dem Richter eine Vermuthung für das Bestehen eines geistig 
abnormen Zustands ergibt, erscheint es wünschenswerth, 
dass unter allen Umständen und zwar von Amtswegen dem 
Inculpaten zur Wahrnehmung seiner Interessen ein Ver- 
teidiger bestellt werde (vgl. Deutsche St.P.O. § 140—143, 
Oesterr. St.P.O. § 41. 45. 220. 347). 

Ebenso erscheint die Forderung einer Voruntersuchung 
in solchen Fällen gerechtfertigt, denn wie sich aus dem 
Folgenden ergeben wird, bedarf die Ermittlung der auf 
einen zweifelhaften Geisteszustand Bezug habenden Ver- 
hältnisse genügender Zeit und ist in der Hauptverhandlung 
nicht mehr befriedigend möglich. Wird in Fällen, welche 
schon dem Untersuchungsrichter bezüglich des Geisteszu- 



48 



Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 



Richtige 
Wahl der 
Sachver- 
ständigen. 



Qualifika- 
tion eines 
Sachver- 
ständigen. 



Standes zweifelhaft erscheinen, von Amtswegen ein Ver- 
theidiger aufgestellt, so wird es eine seiner ersten Auf- 
gaben sein, die nöthige Voruntersuchung zu beantragen. 
Freilich steht nach der jetzigen Deutschen St.P.O. das 
Recht, eine solche zu verlangen, dem Angeschuldigten zu, 
aber beim wirklich Geisteskranken wird dieses Recht illu- 
sorisch, da derselbe in der Regel kein Bewusstsein seiner 
Krankheit hat und deshalb eine Voruntersuchung nicht be- 
gehren wird. Es wäre zu wünschen, dass wenigstens der 
Staatsanwalt in solchen Fällen von seiner bezüglichen Be- 
fugniss im Interesse des Rechts und der Wahrheit Gebrauch 
machte. (Vgl. Deutsche St.P.O. § 176. 199, Oesterr. 
St.P.0. § 90. 91. 427.) 

Die Strafprocessordnung (Oesterr. § 119, Deutschland 
§ 73) überlässt es dem Untersuchungsrichter, indem sie 
ihm vollkommen freie Hand lässt, alles zur Erforschung 
der Wahrheit Geeignete zu verfügen, Sachverständige seiner 
Wahl mit der gerichtsärztlichen Untersuchung des ihm zweifel- 
haft erscheinenden' Geisteszustands zu betrauen. Die Oesterr. 
St.P.O. § 118. 132. 134 verlangt zwei Sachverständige, die 
deutsche leider nurj einen. 

Von der richtigen Wahl der Sachverständigen hängt 
zum grossen Theil die Sicherheit der Rechtsprechung ab 
und es wäre eine dringende Pflicht des Staates, dem Richter 
zur Aufklärung eines zweifelhaften Geisteszustands voll- 
kommen verlässliche und geeignete Aerzte zur Verfügung 
zu stellen. Leider ist weder in Oesterreich noch in Deutsch- 
land diese eigentlich selbstverständliche Forderung erfüllt. 

Um als Sachverständiger in Fragen zweifelhafter gei- 
stiger Gesundheit ein zweckentsprechendes Urtheil abgeben 
zu können, ist, wie bei jeder anderen Erfahrungs Wissen- 
schaft, ein eingehendes Studium Geisteskranker unerlässlich. 
Theoretisches Studium reicht bei einer so eminent prak- 
tischen und auf Beobachtung sich gründenden Wissenschaft, 
wie sie die gerichtliche Psychopathologie darstellt, keines- 
wegs aus. 



Qualifikation der Sachverständigen. 49 

Nur das längere Studium der Geisteskranken in Irren- 
anstalten oder psychiatrischen Kliniken und der durch eine 
Staatsprüfung ausgewiesene Besitz von psychiatrischen Kennt- 
nissen verbürgt die Qualifikation eines Sachverständigen in 
Fragen zweifelhafter Geistesgesundheit. Der Staat glaubt 
seinen Pflichten entsprochen zu haben, wenn er da und dort 
auf Universitäten psychiatrische Lehrstühle errichtet, aber 
er bindet weder durch eine Prüfungsordnung den Studenten 
an den Besuch dieser Lehranstalten, noch verlässigt er sich 
durch eine Prüfung, ob der angehende Arzt Kenntnisse in 
diesem wichtigen Zweig der Medicin sich erworben hat. 
Erfahrungsgemäss macht nur ein geringer Theil der Medi- 
ciner von der ihnen gebotenen Gelegenheit, sich psychia- 
trische Kenntnisse zu erwerben, Gebrauch. Die grosse Menge 
der Aerzte bleibt vollkommen unerfahren und wird doch 
vom Richter als sachverständig in Fällen fraglicher Geistes- 
krankheit benutzt. Ja der Arzt ist sogar gesetzlich ver- 
pflichtet, einer derartigen Aufforderung Folge zu leisten. 
(Vgl. Deutsche St.P.O. § 75, Oesterr. St.P.O. § 119, AI. 2.) 
Bei dieser Lage der Dinge ist der Sachverständige nur der 
Form nicht aber dem Wesen nach Sachverständiger und 
ist es nicht zu wundern, wenn schlechte Gütachten und 
fehlerhafte Urtheile sich ergeben. Die sog. Physikatsexa- 
mina in Oesterreich und Deutschland, in welche.n foren- 
sische Psychologie übrigens eine untergeordnete Rolle spielt, 
sind hoffentlich ein Uebergang zu einer staatlichen Ver- 
pflichtung für jeden Arzt, Psychiatrie praktisch zu studiren 
und darüber ein Examen zu bestehen. 

Bis zur Erfüllung dieses berechtigten Wunsches möge 
der gewissenhafte und nicht blos einer Gesetzesbestimmung 
formell Rechnung tragende Richter, bevor er Sachverständige 
beim Gericht anstellt oder ad hoc beruft, bedenken, dass 
nicht jeder zur Praxis berechtigte Arzt auch eo ipso sach- 
verständig in gerichtlich-psychologischen Fragen ist. 

Recht und Pflicht der Medicin, auch in Fragen zweifel- 
hafter geistiger Gesundheit ihr Votum abzugeben, ist heut- 

v. Krafft-Ebing, Criminalpsycliologie. 2. Auflage. 4 



50 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

d« P fcz£ z zutage nicht mehr fraglich und von der Gesetzgebung 
ilÄJ 1 ?; (Deutsche St.P.O. § 73— 83, 238-257; Oesterr. St.P.O. 
P8 8chln ri * § 134) geregelt. Noch Kant wollte Fragen dieser Art der 
DeuteciTst.- philosophischen Fakultät zuweisen und Regnaul t (1830) be- 
*2S8-wiT' stritt die Competenz der Aerzte. Freilich waren die psy- 
p. 8 aTi3 S 4t" chiatrischen Gutachten damals mehr philosophische Abhand- 
lungen als medicinische Expertisen und mehr geeignet zu 
verwirren als aufzuklären. 
undAKbP^ ^ e Stellung des ärztlichen Sachverständigen im heu- 
des ärzt- \ tigen Gerichtsverfahren ist nicht die eines Zeugen — denn 

liehen Sachi ° ° 

^r** 11 er berichtet flicht blos Sinneswahrnehmungen über mit der 
/ That • in Verbindung stehende Thatsachen der Vergangen- 
j heit, sondern zieht aus einer Reihe solcher wissenschaft- 
; liehe Schlüsse und belehrt den Richter über die Bedeutung 
: jener. Seine Stellung ist ferner weder die eines Gehülfen 
des Richters — da die Willensfreiheit und die aus ihr sich 
, ergebende Zurechnungsfähigkeit ihn nichts angehen, noch 
die eines Judex facti*, denn er hat überhaupt nicht im 
rechtlichen Sinne über Thatumstände ein Urtheil abzu- 
geben, sondern nur Thatumstände nach Fachkenntniss zu 
. begutachten. Seine Stellung und Aufgabe ist vielmehr eine 
! eigenartige, eine sachverständige Aufklärung des Richters 
» über für die Thatfrage wesentliche biologische Thatsachen. 
Diese sind Nachweisbarkeit oder Nichtnachweisbarkeit einer 
krankhaften Störung der Geistesthätigkeit. 

Besonders klar präcisirt die Aufgabe der ärztlichen 
Sachverständigen der § 134 der Oesterr. St.P.O.: 

„. . . dieselben haben über das Ergebniss ihrer Beob- 
achtungen Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung 
des Geistes- und Gemüthszustands des Beschuldigten einfluss- 
reichen Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeu- 
tung sowohl einzeln als im Zusammenhang zu prüfen und, falls 
sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur 
der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestim- 
men und sich sowohl nach den Akten als nach ihrer eigenen 
Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die 



Berufung der Sachverständigen. 51 

Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen \ 
,des Beschuldigten geäussert habe und noch äussere und ob / 
und in welchem Masse dieser getrübte Geisteszustand zur 
Zeit der begangenen That bestanden habe." 

Wo bei einem Gerichte Sachverständige dauernd be- d JSS?fr- 
stellt sind, hat der Untersuchungsrichter in erster Linie d 8 *^ 1 ^:. 
diese mit der Untersuchung zu betrauen. Der Richter ^'dj^ 8 ' 
braucht aber nach der Gesetzgebung nicht auf die ge- § 119 - 
richtsärztliche Leistung nicht berufsmässiger Gerichtsärzte 
zu verzichten, wenn besondere Fachkenntnisse in besonders 
schwierigen Fällen eine Zuziehung solcher wünschenswerth 
erscheinen lassen. Während der amtliche Gerichtsarzt un- 
weigerlich einer gerichtlichen Aufforderung in foro Folge 
leisten muss, kann billigerweise für einen nicht berufs- 
mässigen Arzt ein Zwang, als Sachverständiger in foro 
thätig zu sein, nur unter gewissen Umständen (Deutsche 
St.P.0. § 75; anders Oesterr. St.P.O. § 119 AI. 2) ein- 
treten. 

Die nächste Aufgabe des Untersuchungsrichters nach 
der Berufung des Sachverständigen ist die, dass er ihm 
Zweck und Anlass seiner Berufung mittheile, ihm sämmt- 
liches bereits verfügbares Beurtheilungsmaterial (Akten) 
zur Disposition stelle und ihm den uneingeschränkten Ver- 
kehr mit dem Exploranden gestatte. Es kann* namentlich 
bei fraglichen Fällen krankhafter Bewusstlosigkeit von 
Werth sein, dass der Sachverständige schon bei der Vor- 
nahme des Augenscheins am Thatort gegenwärtig sei. 

Häufig ist die Voruntersuchung beim Eintreten des 
Sachverständigen in den Verlauf der Angelegenheit eine 
flir die Gewinnung anthropologischer und klinischer Mo- 
mente bezüglich der Person des Angeschuldigten ungenü- 
gende. Der Richter muss dem Verlangen des Sachver- Ergänzung 
ständigen nach Feststellung solcher Fragen, wie sie aus theiiungs- 
dem Verkehr mit dem Exploranden, aus Zeugenangaben, Deutsch. St- 
aus Vermuthungen und Behauptungen des Vertheidigers oek'§i23. 
sich ergeben, entsprechen und Alles aufbieten, um zu einer 



52 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

wünschenswerthen Vervollständigung des Beurtheilungsma- 
terials zu gelangen. Dem Sachverständigen muss es ge- 
stattet sein, der Vernehmung von Zeugen beizuwohnen und 
selbst an sie Fragen zu stellen. . (Deutsche St.P.O. § 80.) 

digkeiTge- Unerlässlich für eine erfolgreiche Thätigkeit des Sach- 

Soobach- verständigen ist, dass der Richter ihm genügende Zeit und 

tmigszeit. passenden Ort zur Beobachtung gestatte. 

Die Forderung ausreichender Zeit rechtfertigt sich aus 
der meist erforderlichen Umfanglichkeit der Vorerhebungen 
über die Person des Angeschuldigten, die in der Regel die 
wichtige anthropologische Seite der Persönlichkeit bisher 
unerörtert Hessen, ferner aus der Häufigkeit zeitweiser Latenz 
des vielleicht nur periodisch sich äussernden Irreseins. Es 
können Monate erforderlich sein bis der Experte im Stande 
ist, ein entscheidendes Gutachten abzugeben und nur selten 
und bei gut charakterisirten Fällen von Irresein wird ein 
solches sofort möglich erscheinen. Das kann unbequem für 
den Richter sein, zumal, wenn erst nach längerer Dauer 
der Voruntersuchung sich Zweifel bezüglich der Geistes- 
integrität erhoben haben, aber er wird den Arzt, der ge- 
wissenhaft vorgeht, sich Zeit lässt, nicht tadeln noch drängen, 
sobald er die Schwierigkeit derartiger Untersuchungen ein- 
gesehen hat. Braucht doch auch der Richter zur Ermitt- 
lung des objektiven Thatbestands nicht selten viele Monate 
bis die Voruntersuchung abgeschlossen werden kann! 

Passender Nicht minder wichtig erscheint ein passender Ort für 

Ort der Be- * 

obachtung. die Beobachtung. In schwierigeren Fällen, überhaupt da, 

Deutsch. St.- 

p.o. § 8i. wo eine unausgesetzte Beobachtung (Fälle fraglicher Simu- 
lation, Dissimulation, fragliche epileptische Anfalle) und 
zwar durch Geübte erforderlich ist, wird es sich empfehlen, 
den Angeschuldigten in ein Spital oder in eine Irrenanstalt 
zu versetzen. Jedenfalls ist ein befriedigender Erfolg im 
Gefangniss, wo die Gefangenwärter durch stets bereite 
Vermuthung von Simulation befangen sind und der Arzt 
nur ab- und zugehen kann und auf sich selbst angewiesen 
ist, fraglich. 



Irrenanstalt als Beobachtungsort. 53 

Dem Verlangen des Sachverständigen, den Angeschul- 
digten zur genaueren Beobachtung in eine Irrenanstalt zu 
senden, sollten .richterlicherseits keine Schwierigkeiten ent- 
gegengesetzt werden. Die Deutsche St.P.O. § 81 gestattet 
auch diese Massnahme, macht sie aber aus übelangebrachter 
Humanität für den Angeschuldigten unnötigerweise von 
einem Gerichtsbeschluss abhängig, statt sie einfach dem 
Untersuchungsrichter zu überlassen und beschränkt leider 
die zulässige Dauer der Verwahrung auf 6 Wochen! Diese 
Frist wird sich zweifelsohne für viele Fälle unzureichend 
erweisen, zumal, da durch Versetzung in andere Verhält- 
nisse ein wirklich Geisteskranker meist Aenderungen seines 
Verhaltens für einige Zeit zeigt. 

Unter allen Umständen müsste der Direktion einer 
Irrenanstalt zugleich mit der Aufnahme eines solchen crimi- 
nellen Exploranden das ganze bisherige Aktenmaterial zur 
Einsicht überlassen werden. 

Von grosser Wichtigkeit ist eine präcise richtige Frage- p j£* e "f 6 
Stellung an die Sachverständigen. diesachver- 

Die deutsche Strafgesetzgebung hat einen grossen ständigen. 
Fortschritt zu verzeichnen, indem sie statt früherer meta- 
physischer Begriffe (Vernunft, Willensfreiheit) und nament- 
licher, deshalb nie erschöpfender Aufführung von die 
Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden Formen geistiger 
Krankheit, nur noch die allgemeinen und naturwissen- 
schaftlich verständlichen Begriffe der krankhaften Störung 
der Geistesthätigkeit und der Bewusstlosigkeit als die Zu- 
rechnungsfähigkeit abschliessende krankhafte Seelenzu- 
stände kennt. Logischerweise kann die Fragestellung des 
Richters im Sinne der Gesetzgebung nur darauf gerichtet 
sein, ob einer dieser Zustände oder beide zur Zeit einer 
strafbaren Handlung vorhanden waren. Nie sollte nach 
Zurechnungsfähigkeit oder Willensfreiheit gefragt werden. 
Es sind das Begriffe, welche die Naturwissenschaft nicht 
kennt und denen deshalb der Sachverständige als Laie oder 
mindestens als gewöhnlicher Bürger gegenübersteht. 



54 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

Auch hier gibt die deutsche Gesetzgebung einen Wink, 
insofern sie die ärztliche Frage nach der vorhandenen 
krankhaften Störung der Geistesthätigkeit von der rein 
richterlichen Frage der etwa dadurch aufgehobenen freien 
Willensbestimmung trennt. 

Aber eben in dieser zweiten Bedingung des Gesetzes- 
paragraphs liegt eine weitere Forderung an den Sachver- 
ständigen. 

Nicht jede krankhafte Störung der Geistesthätigkeit 
hebt an und für sich die Zürechnungsfähigkeit auf, so wenig 
als eine leichte Funktionsstörung irgend eines Organs schon 
als Krankheit im medicinischen oder legalen Sinn betrachtet 
werden kann, obwohl strengwissenschaftlich eine krank- 
hafte Störung der Funktion des Organs vorhanden ist. 

Auch im psychischen Organ kommen elementare funk- 
tionelle Störungen vor, die zwar für die Integrität des 
Geisteslebens nicht belanglos sind, Berücksichtigung in foro 
(mildernde Umstände) nöthig haben, aber weder den con- 
ventioneilen Begriff der Krankheit als eines Complexes von 
Funktionsstörungen, noch den legalen als einer die Willens- 
freiheit aufhebenden Krankheit involviren. Der Begriff 
der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit ist wissen- 
schaftlich eben ein weiterer als der sociale und legale. 

Ebendeshalb konnte sich der Gesetzgeber nicht be- 
gnügen, allgemein blosse krankhafte Störung der Geistes- 
thätigkeit als die Zurechnungsfähigkeit abschliessendes 
Moment hinzustellen, ebenso wenig kann in concreto auf 
das besondere Merkmal einer die Willensfreiheit aufheben- 
den krankhaften Störung der Geistesthätigkeit verzichtet 
werden. 

Wenn auch der Arzt die Frage nach der aufgehobenen 
Willensfreiheit nicht beantworten kann und darf, so kann 
und muss er jedoch in seiner Darstellung des etwa gefun- 
denen krankhaften Geisteszustands auf das specielle Be- 
dürfniss des Richters und den speciellen Zweck seiner 
Exploration insofern Bedacht nehmen, als er nicht blos die 



Gutachten. 55 

Symptome des Zustande ermittelt, sondern auch Umfang, 
Art und Grad der Funktionsstörung im geistigen Mechanis- 
mus mit besonderer Rücksicht auf die Fähigkeit der Unter- 
scheidung und der Wahl zwischen verschiedenen Motiven 
derart klarlegt, dass es dem Richter nicht schwer fällt, 
daraus zu erkennen ob die krankhafte Störung der Geistes- 
thätigkeit eine solche war, dass die freie Willensbestim- 
mung ausgeschlossen war. 

Gelingt dies dem Richter nicht, so ist der Fehler jeden- 
falls auf Seite des Sachverständigen. Diese in der Natur 
der Sache liegende und im Sinne der Gesetzgebung statt- 
findende Trennung der Aufgaben verhindert Uebergriffe 
in das Gebiet des Richters und kann einer gerechten Ent- 
scheidung in Fällen zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit nur 
förderlich sein. 

Seine sachverständige Deutung des gerichtsärztlichen 
Befunds hat der Experte mit Berücksichtigung der richter- 
lichen Fragestellung in Form eines Gutachtens zu geben. 
Das Gutachten kann in der Voruntersuchung je nach dem (££'12^ 
Ermessen des Richters ein mündliches oder schriftliches 
sein. Die letztere Form hat jedenfalls den Vorzug schon 
deshalb, weil spätere Begutachtungen dadurch erleichtert 
werden. Es muss billigerweise dem Sachverständigen zu- 
stehen, eine Verbesserung der Fragestellung zu verlangen, 
indem er mit überzeugenden Gründen die Notwendigkeit 
einer solchen nachweist. 

Bei den verwickelten Fragen geistiger Krankheit sollte 
immer dem Gutachten die ausführliche Lebens- und Krank- 
heitsgeschichte vorausgeschickt werden. Auf diese hat sich 
das Gutachten zu stützen. Nur aktenmässige Thatsachen 
dürfen den Schlüssen des Gutachtens zu Grunde gelegt 
werden. Befund und Gutachten müssen ausführlich, tref- 
fend, streng objektiv, in klarer Sprache mit thunlicher 
Vermeidung von Kunstausdrücken abgegeben werden. 

Die Schlüsse des Gutachtens können für den rein 
seiner Ueberzeugung folgenden Richter nicht bindend sein, 



Gutachten. 
Deutsch. St.- 



56 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter. 

schon deshalb nicht, weil das Gutachten nicht die einzige 
Quelle ist, aus welcher er seine Beweise schöpft. 

Richter- Jedenfalls muss ihm das unbeschränkte Prüfungsrecht 

fungsrecht des Gutachtens zuerkannt werden. Seinen Wissenschaft- 

achtens, liehen Werth kann er freilich nicht beurtheilen, wohl aber 

p.o. §"83." die Richtigkeit seiner Prämissen, die Logik seiner Schluss- 
folgerungen, die Genauigkeit der Ermittlung und Ver- 
werthung der Thatsachen. Sind die dem Gutachten zu 
Grund gelegten Annahmen unrichtig, lückenhaft, die Be- 
weise aus den Akten mangelhaft benutzt, die gezogenen 
Schlüsse unberechtigt, unbestimmt, vielleicht gar einander 
widersprechend, so ist der Richter nicht nur berechtigt, 
sondern sogar verpflichtet, ein derartiges Gutachten zu 
verwerfen,. denn nur dann, wenn der Beweis durch Sach- 
verständige dem Richter die volle Ueberzeugung verschafft 
hat, dass die nachgewiesene krankhafte Störung der Geistes- 
thätigkeit die Freiheit der Willensbestimmung unmöglich 
gemacht hat, kann der Richter die Zurechnung als auf- 
gehoben erklären und ein Verbrechen oder Vergehen aus 
diesem Mangel des subjektiven Thatbestands als nicht vor- 
Einsteiiung handen anerkannt werden. Hat aber das Gutachten dem 

fahrens. Gerichte diese Ueberzeugung verschafft, so ist es befugt, 
p.o. § 168.' das Verfahren gegen den Angeschuldigten wegen mangelnder 

§ 109. 2i3. Zurechnungsfähigkeit einzustellen. Der Betreffende ist dann 
kein Objekt für die Strafrechtspflege mehr und es kann, 
falls er noch geisteskrank ist, nur noch polizeilich die Frage 
entstehen, ob er wegen durch die strafbare That erwiesener 
Gemeingefährlichkeit in einer Irrenanstalt zu verwahren 
ist. Diese Frage hat die Sicherheitsbehörde, welcher der 
Freigesprochene zugeführt wurde, zu entscheiden. Nie 
sollte diese Massregel aber Platz greifen bevor nicht der 
Kranke einer neuerlichen Prüfung seines Geisteszustands 
unterworfen wurde, denn dieser kann sich seit Erstattung 
des Gutachtens geändert haben, der Betreffende inzwischen 
genesen oder blödsinnig und unschädlich geworden sein. 
In nicht seltenen Fällen ist der Richter jedoch durch 



Neuerliche Erhebung von Gutachten. 57 

das Gutachten nicht befriedigt, insofern dessen Schlüsse Neuerliche 

07 Erhebung 

nicht beweisend oder unbestimmt sind, zudem kann der ▼onGut- 

7 > achten. 

Richter bei der Wichtigkeit und Schwere des Falls sich Deutsch, st.- 
bei der gutachtlichen Aeusserung eines oder zweier Sach- 8 ° este 5L 
verständigen nicht beruhigen. 

Die Strafprozessordnung verpflichtet ihn dann sich an 
andere Sachverständige zu wenden, von denen eine Auf- 
klärung zu erwarten ist. (Oesterr. St.P.O. § 125, 126. 
Deutsche § 83.) Gewöhnlich wird dann das Ersuchen um 
Begutachtung an eine weitere Medicinalinstanz (Medicinal- 
collegium der Provinz in Preussen, medicinische Fakultät 
in Oesterreich) gerichtet. Dasselbe ist der Fall, wenn die 
Sachverständigen verschiedener Meinung waren und dissen- 
tirende Separatgutachten abgegeben wurden. 

Die Begutachtung in höherer Instanz leidet darunter, 
däss in der Regel eine persönliche Untersuchung des Ex- 
ploranden nicht statthaft ist und nach Lage der Akten ein 
Gutachten abgegeben werden soll. # 

Das ist nur in seltenen Fällen befriedigend möglich 
und die betr. Medicinalbehörde sollte sich nicht darauf ein- 
lassen, sondern die persönliche Beobachtung des zweifel- 
haften Zustands durch den Referenten fordern. Der ein- 
sichtsvolle Richter wird diesem Verlangen Rechnung tragen. 
Die Begutachtung durch ein Medicinalcollegium bietet keine 
grössere Sicherheit als die durch einfache Gerichtsärzte und 
der Richter möge bedenken, dass hoher Titel oder Amt nicht 
gerade eine Bürgschaft flir die Qualifikation des Sachverstän- 
digen sind. Schliesslich ist es doch in der Regel nur eine Person 
des Collegiums, der Referent, welche das Gutachten erstattet. 

Seitdem keine gesetzlichen Schwierigkeiten der Abgabe 
eines zweifelhaft irren Verbrechers nach der Irrenanstalt 
mehr gegenüberstehen, erscheint es zweckmässiger, in Fällen, 
wie die oben vorgesehenen, den Exploranden einer Irrenanstalt 
zuzustellen. Das Gutachten der Aerzte derselben, welche 
doch am besten in der Lage sind, den fraglichen Kranken 
zu beobachten und zu beurtheilen, wäre dann einzuholen. 



58 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 



II Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

Ist der Angeschuldigte während der Voruntersuchung 
in Geisteskrankheit verfallen , so kann die vorläufige Ein- 
stellung des Verfahrens beschlossen werden (Deutsche St.P.O. 
§ 203). Ergeben sich jedoch vor Abschluss der Vorunter- 
suchung keine überzeugenden Beweise für einen krank- 
haften, die Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden Geistes- 
zustand oder sind die für einen solchen sprechenden Indi- 
cien nicht hinreichend für die Annahme der Unzurechnungs- 
fähigkeit, so wird die Voruntersuchung geschlossen und das 
Beweismaterial der Strafkammer des Gerichtshofs vorgelegt, 
die nach vorgenommener Prüfung desselben gegen den An- 
geschuldigten das Hauptverfahren eröffnet. (Versetzung in 
Anklagezustand.) Die beschliessende Strafkammer würde 
jedenfalls gut daran thun, auch die Frage der Zurechnungs- 
fahigkeit eingehend zu erwägen und, falls sie die für einen 
geistig abnormen Zustand zur Zeit der That sprechenden 
Indicien schwerwiegend genug findet, mit der Eröffnung 
Ergänzung des Hauptverfahrens zuzuwarten, bis alle Zweifel behoben 

der Vor- 

unter- sind. Es liesse sich dadurch manchen Härten und fatalen 
Deutsch, st.- Situationen, in welchen sich später die Rechtsprechung 
öesterr. ' Geisteskranken gegenüber befindet, begegnen. 



§ 211. 



Ist die Eröffnung des Hauptverfahrens verfügt, so muss 
der Rechtsfall zum Austrag kommen. Nicht selten geschieht 
es nun, dass, bevor über den Angeklagten in der Hauptver- 
handlung verhandelt wird, sich trotz Untersuchungsrichter 
und Straf- bezw. Rathskammer begründete Zweifel über 
die Geistesintegrität des Angeklagten erheben, sei es, dass 
der Vertheidiger oder die Angehörigen inzwischen Beweise 
für die geistige Krankheit gewonnen haben, sei es, dass 
die zur Zeit der That erst in ihren Anfangen vorhanden 
gewesene Krankheit nun weiter vorgeschritten ist und selbst 
dem Laien erkennbar wird, sei es, dass der Angeklagte 



Verhandlungsfähigkeit. 59 

durch die schädlichen Momente der Haft jetzt erst geistig 
erkrankt ist. 

Unter allen Umständen ist es nothwendig, fn solchem 
Fall zu ermitteln, ob der gegenwärtige Zustand des Kranken 
derart sei, dass mit ihm gerichtlich verhandelt werden könne. 
Eine Verhandlungsfähigkeit in psychischer Beziehung kann verhand- 
nur demjenigen zugesprochen werden, der sich vertheidigen te". 
kann. Eine solche Fähigkeit setzt nothwendig das Be- 
wusstsein der Bedeutung der incriminirten Handlung, der 
gerichtlichen Tragweite einer gerichtlichen Verhandlung, 
die Fähigkeit, dem Richter Rede und Antwort bezüglich der 
persönlichen Verhältnisse und der Thatumstände zu stehen, 
und die Kenntniss der Rechtsmittel und Rechtswohlthaten 
voraus. 

Die Verhandlungsfähigkeit zu bestimmen, ist Sache 
des Gerichtes. Der Sachverständige hat Art und Grad der 
geistigen Störung zu diesem Behüfe klarzustellen. 

Ist der Angeklagte wegen Geisteskrankheit nicht ver- 
handlungsfahig, so muss die Austragung des Processes bis 
zur Wiederherstellung vertagt und der Kranke einer Irren- 
anstalt übergeben werden. 

Ist er geheilt und das ihm imputirte Verbrechen noch 
nicht verjährt, so muss das Processverfahren gegen ihn 
wieder aufgenommen werden. Es sollte hier grosse Milde 
walten, da Geisteskrankheiten sehr zu Recidiven neigen und 
die Wiederaufnahme des Strafprocesses nur zu leicht ein 
solches hervorbringt. Es gibt Fälle, wo durch jeweilige 
Rückfälle die Unheilbarkeit herbeigeführt und das Straf- 
verfahren dennoch nicht zu Ende gebracht werden konnte. 
In solchen Fällen kann eine Niederschlagung des Processes 
auf dem Weg der Gnade human und praktisch seih. 

In der Zwischenzeit von der Eröffnung des Haupt- vorberei- 
verfahrens bis zur Hauptverhandlung ist eine Beobachtung Hauptver- 
des Angeklagten um so eher angezeigt, wenn sich schon 
in der Voruntersuchung nicht beseitigte Zweifel bezüglich 
seiner Geistesintegrität erhoben haben. In Frankreich be- 



60 Öer Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

steht die zweckmässige Einrichtung, dass der Assisepra>i- 
dent von der Versetzung in Anklagezustand bis zum Termin 
den Angeklagten zu vernehmen hat. (Vgl. Oesterr. St.P.O. 
§ 220.) Diese Zeit ist eine wichtige für den Vertheidiger 
insofern es ihm obliegt, falls er den Geisteszustand seines 
Clienten für bedenklich hält, das nöthige Beweismaterial 
bezüglich dessen geistiger Störung vorzubereiten. Nie sollte 
der Vertheidiger leichtsinnig die Zurechnungsfähigkeitsfrage 
aufwerfen, d. h. ohne durch Auffindung von in den Akten 
und der Anklageschrift nicht enthaltenen erheblichen That- 
sachen, durch eingeholte Ansichten ärztlicher Vertrauens- 
männer dazu veranlasst zu sein. Die Unparteilichkeit des 
Verfahrens fordert, dass dem Vertheidiger dieselben Rechte 
in der Beibringung der Beweismittel eingeräumt werden 
Zulassung w i e dem öffentlichen Ankläger. Nach der Oesterr. St.P.O. 

von Zeugen 

und sach- (§ 225) hat sowohl der Staatsanwalt als der Vertheidiger 
digen. das Recht zu verlangen, dass noch andere als die vom 
Gerichtshof designirten Sachverständigen (gewöhnlich die- 
jenigen, welche bereits in der Voruntersuchung thätig waren) 
zur Hauptverhandlung geladen werden. Dieses Verlangen 
muss genügend motivirt sein und die Liste der vorzu- 
ladenden Sachverständigen dem Gegner 3 Tage vor der 
Hauptverhandlung bekannt gemacht werden. Ueber die 
Zulassung dieser Sachverständigen entscheidet in Oester- 
reich die Rathskammer. Im Fall der Ablehnung kann das 
Verlangen nochmals in der Hauptverhandlung gestellt werden. 
Erfolgt neuerlich eine Ablehnung, so ist in Oesterreich der 
Vertheidiger ausser Stand, zu Gunsten seines Clienten lau- 
tende Gutachten bedeutender Fachmänner, die nur die Be- 
deutung von Privatansichten hätten, zur Geltung zu bringen. 
In Deutschland dagegen (St.P.O. § 218. 219), gleichwie in 
Frankreich und England, können Ankläger wie Verthei- 
diger so viel Sachverständige ihrer Wahl mit oder ohne 
Zustimmung des Gerichtshofs laden als ihnen beliebt, nur 
muss dies rechtzeitig dem Gegner bekannt gegeben werden. 
•Nach § 220 der Deutschen St.P.O. und Oesterreich. 



Geständniss. Werth der Zeugenaussagen. 61 

§ 254 kann der Vorsitzende des Gerichts auch von Amts- 
wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen, sowie 
die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen. 

Das zur Beweisaufnahme und Urtheilsschöpfung in der 
Hauptverhandlung stattfindende Verfahren ist ein mündliches 
und unmittelbares (d. h. auf unmittelbarer Wahrnehmung des 
Gerichts beruhendes). Die Vernehmung des Angeklagten muss 
bei zweifelhafter Geistesgesundheit mit grosser Vorsicht vor- 
genommen werden, da er, werin wirklich geisteskrank, leicht 
verwirrt oder aufgeregt wird, seine Antworten müssen mit 
Reserve beurtheilt werden, da er leicht dissimulirt oder simu- 
lirt. Dass vernünftiges Reden und Antworten bestehende 
Geisteskrankheit nicht ausschliesst, wurde bereits erörtert. 

Das Geständniss eines Angeklagten genügt nicht zum oestand- 
Beweis seiner Schuld (Oesterr. St.P.O. § 206 x ). Auch 
Selbstanschuldigungen, die ein Angeklagter allenfalls im 
Gefängniss in einem Fieberdelirium oder im Schlaf aus- 
gesprochen hat, können im Indicienbeweis nicht verwerthet 
werden, da sie aus dem unbewussten Geistesleben hervor- 
gingen und es leicht begreiflich ist, dass ein Angeklagter 
im Sinn der Anklage träumt oder delirirt. Die Erklärung 
des Angeklagten, dass er geistesgesund sei und seine Ein- 
sprache gegenüber der gegensätzlichen Behauptung des 
Vertheidigers oder der Sachverständigen, beweist nicht 
gegen Geisteskrankheit, da wirkliche Geisteskranke in der 
Regel kein Bewusstsein von der krankhaften Störung ihrer 
Geistesthätigkeit, eher ist damit eine Vermuthung gegen 
Simulation gewonnen, insofern Simulanten es gerne haben, 
wenn man sie für krank erklärt. 

Auch die Aussagen der Zeugen, sofern sie negative zeugenauY- 
sind, müssen mit grosser Vorsicht aufgenommen werden De utech!'st.- 
und haben ihre Aussagen eigentlich nur insofern Werth esteri. 6 st.- 
als sie nicht Ansichten als vielmehr Thatsachen enthalten, ^.rro 1 ' 



*) In der Deutschen St.P.O. fehlt es an einer ausdrücklichen 
Bestimmung über diesen Punkt. 



62 ^ er Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

Geschieht es doch so oft, dass Laien Symptome von Irr- 
sinn übersehen oder falsch deuten! Ganz besondere Vor- 
sicht muss Zeugenaussagen gegenüber geübt werden, die 
die Anschuldigung eines unsittlichen Attentats enthalten 
und wobei die Zeugen hysterisch kranke Weiber sind, die 
möglicherweise aus Rache oder Drang Aufsehen zu erregen 
oder aus krankhaft erregter Phantasie solche Attentate 
fälschlich behaupten. Nicht minder ist Vorsicht geboten, 
da wo ein angeblich Gesunder* wegen einer widerrechtlichen 
Freiheitsberaubung durch eine Irrenanstalt Klage führt. 
Bis jetzt war der Kläger immer ein wirklich Geisteskranker. 
Wie sehr der Schein der Gesundheit wirkliche vortäuschen 
kann, lehrt ein Fall aus der englischen Gerichtspraxis, in 
welchem es sich um eine solche Klage handelte. Der be- 
schuldigte Arzt, Inhaber einer Privatanstalt, hatte es unter- 
lassen den Kranken zu beobachten und Beweise für seinen 
Irrsinn zu sammeln. Er konnte den Beweis in foro nicht 
liefern und seine Sache stand schlimm, da der Kläger voll- 
kommen vernünftig sprach und sich benahm. Kurz vor 
Schluss der Verhandlung verlangte Jemand aus dem Publi- 
kum, der den Kläger kannte, den Gerichtspräsident in 
wichtiger Angelegenheit zu sprechen. Nach einer Weile 
kam dieser in den Saal zurück und fragte den Kläger, 
warum er nicht mitgetheilt habe, dass er Christus sei. Der 
religiös wahnsinnige Kläger, im Kern seines Deliriums ge- 
troffen, bekannte, dass er Christus sei und erklärte, dass 
er seinen Feinden verzeihen wolle! Damit nahm der Ge- 
richtsfall eine unerwartete Wendung. 

Das Zeugniss eines Zeugen kann auch dadurch be- 
denklich werden, insofern dieser unmündig, taubstumm, 
geistesschwach oder geisteskrank zweifellos ist. Es gibt 
Fälle, wo auf ein solches Zeugniss im Indicienbeweis nicht 
verzichtet werden kann, z. B. wenn solche geistig defekte 
oder abnorme Individuen die einzigen Zeugen eines statt- 
gefundenen Verbrechens, etwa in einer Irrenanstalt, waren. 
Die Gesetzgebung (Deutsche St.P.O. § 56. Oesterr. § 151, 



Defensionalsachverständige. 63 

164, 170) lässt die Abhörung solcher Zeugen (als blosser 
„Auskunftspersonen*) principiell zu, aber nicht ihre Be- 
eidigung. Die Zulässigkeit der Abhörung eines solchen 
Zeugen über das, was er mit seinen Sinnen wahrgenommen 
hat, kann medicinisch psychologisch nicht bestritten werden, 
aber sie muss durch einen Gerichtsbeschluss nach vor- 
gängiger Einvernehmung ärztlicher Sachverständiger fest- 
gestellt werden. Niemals wird ein solches Individuum als 
ein vollgültiger Zeuge, schon wegen der mangelnden Eides- 
fahigkeit betrachtet werden können. Seine Glaubwürdig- 
keit wird durch die Art und Weise seiner Depositionen, 
die Klarheit seiner Darstellung des Sachverhalts und die 
Uebereinstimmung seiner Aussagen mit den anderweitigen 
Beweisergebnissen sich kundgeben und davon die innere 
Ueberzeugung der Richter und Geschworenen abhängen. 
In der Regel wird es sich um die Zeugnissfähigkeit Schwach- 
sinniger handeln. Die Lückenhaftigkeit ihrer Auffassungen, 
die Unverlässlichkeit derselben in affektvoller Erregung, 
die Möglichkeit einer Bestimmbarkeit zu falschem Zeug- 
niss muss berücksichtigt und ihre Vernehmung möglichst 
wenig feierlich, mit freundlicher Aufmunterung und in 
möglichst concreter, der Fassungskraft des Geistesschwachen 
angepassten Fragestellung vorgenommen werden, da sonst 
solche Zeugen leicht befangen und verwirrt werden. Nie 
sollte in solchen Fällen ein Kreuzverhör gehandhabt werden ! 

Zur Vernehmung Taubstummer ist jedenfalls ein Taub- 
stummenlehrer als Dolmetscher unerlässlich. 

Die Sachverständigen sind entweder von der Staats- Defensionai- 

° sachver- 

anwaltschaft oder von dem Angeklagten bezw. seinem Ver- ständige. 
theidiger oder auch von dem Gerichtspräsidenten Geladene. 
Es ist ungerecht, wenn die Defensionalsachverständigen 
nicht flir ebenso unbefangene und unpartheiische Sachver- 
ständige angesehen werden, wie die von der andern Parthei 
oder von Gerichtswegen Geladenen. Für ihre Unparthei- 
lichkeit bürgt der von ihnen wie von den andern Sach- 
verständigen geleistete Eid und ihre Unbescholtenheit, die 



64 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

überhaupt ihnen ein Erscheinen vor Gericht möglich macht. 
Es kann überhaupt bei einem so objektiven Verfahren, 
wie es die Hauptverhandlung darstellt, keinen Unterschied 
der Person noch des Mandats geben, sondern nur den der 
grösseren oder minderen Klarheit, Sicherheit und wissen- 
schaftlichen Richtigkeit, mit welcher der Sachverständige 
seine Anschauung nach bestem Wissen und Gewissen aus- 
spricht. Dies muss auch für die Fälle gelten, wo das 
Gutachten einer collegialen Fachbehörde von einem Dele- 
gaten derselben im Termin vertreten wird. Ein solcher 
kann nur als Einzelperson erscheinen und nur als solcher 
das Gutachten abgeben, zumal da er an das der Collegial- 
behörde, welches er mündlich zu vertreten hat, umsoweniger 
gebunden sein kann, als im Termin selbst Thatsachen sich 
ergeben können, die die ursprünglich von der Collegial- 
behörde vertretene Anschauung modificiren. 
Hauptver- Die Hauptverhandlung hat den Zweck, die Beweis- 

handlung. x ° 7 

mittel in Gegenwart der zum Urtheil Berufenen zu er- 
schöpfen. Ebendeshalb kann, von seltenen vom Gesetz 
vorgesehenen Ausnahmsfällen abgesehen, die Vernehmung 
der Zeugen und Sachverständigen nur mündlich erfolgen. 
Die Sachverständigen der Voruntersuchung müssen auch 
im Termin erscheinen und ihr Gutachten begründen. Die 
Verlesung von Collegialgutachten sollte unzulässig sein. 
Damit volle Klarheit in Bezug auf die durch Zeugen- und 
Sachverständigenaussagen gewonnenen Beweismittel für die 
zum Urtheil Berufenen entstehe, muss es nicht blos dem 
Vorsitzenden, dem Staatsanwalt, dem Vertheidiger, sondern 
auch den beisitzenden Richtern und den Geschworenen 
gestattet sein, Fragen an die Zeugen und Sachverständigen 
zu stellen (Deutsche St.P.O. § 238, 239; Oesterr. St.P.O. 
§ 249, 315). Nur bei dieser Einrichtung wird volle Un- 
parteilichkeit gewahrt und der zweifelhafte Fall nach jeder 
Richtung hin erörtert. 

Von der grössten Bedeutung ist es, dass durch dieses 
„Kreuzverhör* die Verlässlichkeit der Angaben der Zeugen 



Kreuzverhör. 65 

und Sachverständigen ins rechte Licht gestellt wird, z. B. Kreuz- 
durch Fragen wo und wie der Sachverständige seine psychia- Deutach.st.- 
trische Bildung erworben hat, ob er die früheren Gesund- 
heitsverhältnisse und Lebensbeziehungen des Angeklagten 
kennt, wie oft und wie lange er diesen beobachtet hat? 

Die Berechtigung zur Fragestellung bringt aber die 
Gefahr unpassender ungehöriger Fragestellung mit sich. 
Der Gesetzgeber (Deutsche St.P.O. § 240; Oesterr. St.P.O. 
§ 249 a. Schi.) hat diese Unzukömmlichkeiten vorgesehen 
und es ist Sache des Vorsitzenden von seinem Recht un- 
geeignete und nicht zur Sache gehörige Fragen zurückzu- 
weisen, Gebrauch zu machen. Dies bezieht sich namentlich 
auf die Taktik Seitens der Staatsanwaltschaft oder des Ver- 
theidigers, die gegnerischen Sachverständigen durch Sug- 
gestiv- und abstrakte Fragen zu verblüffen, zu verwirren, 
ihre Aussprüche miteinander in Widerspruch zu bringen und 
deren Gewicht dadurch zu schmälern. Es ist leichter zu 
fragen als zu antworten, namentlich da wo der Laie an 
den Vertreter einer Wissenschaft Fragen stellt. Als unge- 
eignet müssen jedenfalls alle abstrakten Fragen bezeichnet 
werden. Der Sachverständige hat in foro kein psychia- 
trisches Examen abzulegen, am allerwenigsten da wo die 
Examinatoren Laien sind, sondern Rede und Antwort bezüg- 
lich der Richtigkeit der Thatsachen zu stehen, auf welche 
sich sein gutachtlicher Ausspruch gründet. 

Wie kann es anders geschehen, als dass falsche Schlüsse 
und Missverständnisse bei den richterlichen Laien entstehen, 
wenn allgemein gefragt wird, ob Jemand geisteskrank sein 
kann, der zur fraglichen Zeit eine Reise machte, einen 
Wechsel ausstellte, ein Testament errichtete, einen Beruf 
ausübte, oder wenn die Frage allgemein nach dem Ein- 
fluss einer Kopfverletzung, der geistigen Störung bei den 
Eltern etc. etc. gerichtet ist? 

Abstrakte Fragen sind in der gerichtlichen Medicin 
oft gar nicht, vielfach erst nach gründlicher Ueberlegung 
zu beantworten, während dagegen concrete für Den, welcher 

v. Kfafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 5 



66 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

den gegebenen Fall nach allen Richtungen kennt, nicht 
schwierig sind. Nur concrete Fragen sollten deshalb zu- 
lässig sein. 

Ebensowenig kann und darf eine im Kreuzverhör ge- 
stellte Frage eine juristische sein, z. B. nach der Unter- 
scheidungsfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit u. dgl. 

Noch viel mehr als im Vorverfahren mussTom Sachver- 
ständigen im Hauptverfahren verlangt werden, dass er sein 
Gutachten klar und bündig erstatte. Sind doch die Richter 
der Schuldfrage Geschworene, deren Bildungsgrad sehr ver- 
schieden ist und von denen ein Verständniss für ein ge- 
schraubtes und vielfach in Kunstausdrücken sich bewegendes 
Gutachten nicht erwartet noch verlangt werden kann. 

Auch die Berufung auf Autoritäten und wissenschaft- 
liche Werke im Gutachten ist nur bedingt zuzulassen, da 
damit Missbrauch getrieben werden kann, insofern die Citi- 
rung von solchen Aussprüchen, losgelöst von dem übrigen 
Zusammenhang, bedenklich ist. Insoweit der Sachverstän- 
dige aus dem Beweisverfahren durch Zeugen neue und 
wichtige Anhaltspunkte für seine Beurtheilung des Geistes- 
zustands gewinnen kann, ist es nöthig, dass er bei der 
Vernehmung der Zeugen gegenwärtig sei. Nur die Ver- 
wechslung der Stellung des Sachverständigen mit der eines 
Zeugen könnte an der Berechtigung dieser Forderung einen 
Anstoss nehmen. 
Einwände Zuweilen werden erst während der Haupt Verhandlung 

£T6£TGD di6 

zurech- Einwände gegen die Zurechnungsfahigkeit gemacht. Es 
keit in der ist dann in der Regel der Vertheidiger, der diese Frage 

Hauptver- ° ' , V • i i n i 

handiung. erhebt. Es hängt vom Ermessen des Gerichtshofs nach 
Prüfung der vom Vertheidiger geltend gemachten Gründe 
ab, ob er dieser Einrede Gehör geben und eine ärztliche 
Untersuchung des Geisteszustands verordnen will. Wenn 
auch ein leichtsinniger und nur auf oberflächliche Ermitt* 
lungen und Vermuthungen hin gemachter Einwand der 
fraglichen Zurechnung&higkeit Seitens des Vertheidigers 
kaum den Gerichtshof zu einem Beschluss veranlassen wird, 



Verdacht geistiger Störung erst in der Hauptverhandlung. 67 

so ist es doch aus Billigkeitsrücksichten geboten, wenn 
irgend welche plausible Verdachtgründe sich ergeben, nicht 
leichthin über das gestellte Verlangen zur Tagesordnung 
überzugehen. Ist doch der Termin der letzte Moment im 
Verlauf des Strafverfahrens, wo ein die Schuldfrage so 
schwer beeinflussender Umstand ermittelt werden kann und 
die Gefahr einer ungerechten Verurtheilung immerhin 
möglich ! 

Erweisen sich die Verdachtgründe des Vertheidigers 
für geistige Störung des Angeklagten aber stichhaltig und 
veranlassen sie den Gerichtshof ärztliche Sachverständige 
vorzurufen, so ist es sehr fraglich, ob die in solchen Fällen 
übliche sofortige Berufung Sachverständiger in die Haupt- 
verhandlung richtig und sicher ist. 

In dem Vorausgehenden wurde gezeigt wie schwierig 
die Entscheidung der Frage nach geistiger Störung ist, 
welch umfängliche Vorerhebungen dazu nöthig sind. Wird 
erst im Termin die Stellung der Frage nach dem Geistes- 
zustand zur Zeit der That begehrt und erreicht, so sind 
die Vorerhebungen in den Akten jedenfalls ungenügend, 
der in den Verhandlungssaal berufene Arzt kennt weder die 
Persönlichkeit des Angeklagten noch die Vorakten, speciell 
nicht Thatumstände , Zeugenaussagen und Vorleben, und 
selbst wenn er mit seltenem Scharfblick sofort eine wohl 
charakterisirte Form geistiger Störung beim Angeklagten 
entdeckte, so wäre es ihm doch nicht möglich sofort die 
wichtige Frage zu entscheiden, ob Jener schon zur Zeit 
seiner That geisteskrank war. Aus diesen Gründen er- 
scheint es gerechtfertigt, dass wenn der Gerichtshof eine 
spätzeitige Untersuchung des Geisteszustands für nöthig 
findet, er die Verhandlung vertage bis diese wichtige Frage 
des subjektiven Thatbestands verhandlungsreif geworden 
ist. Ein wirklich Sachverständiger wird sich auf die Be- 
urtheilung des Geisteszustands, wenn er erst in die Haupt- 
verhandlung dazu berufen wurde, niemals einlassen. 

Da die Frage der Zurechnungsfähigkeit eine concrete 



68 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

und Theilfrage des Thatbestands , somit eine offene ist, 
kann vom Angeklagten nicht verlangt werden, dass er seine 
Unzurechnungsfähigkeit beweise. Jedenfalls steht ihm bezw. 
seinem Vertheidiger das Recht zu, die Stellung der allge- 
meinen Frage nach seiner Zurechnungsfahigkeit zu ver- 
langen. Obwohl nur das, was im Anklage- bezw. Eröffnungs- 
beschluss steht, verhandelt werden soll, wird der Gerichts- 
hof die Stellung dieser verlangten allgemeinen Frage nicht 
ablehnen können, falls die Voruntersuchung oder Haupt- 
verhandlung thatsächliche, das Verlangen des Angeklagten 
oder seines Vertheidigers rechtfertigende Gründe ergeben. 
Die Formulirung der Frage, ob der Angeklagte z. B. 
in krankhafter Störung der Geistesthätigkeit oder in Be- 
wusstlosigkeit zur Zeit der That sich befunden habe, ist 
natürlich Sache des Gerichtshofs (Oppenhoff). 

Objektiv wie das ganze Verfahren sollten der Vortrag 
des Staatsanwalts sowie der Schlussvortrag des Verthei- 
digers sein. Höher als die Parthei muss das Interesse der 
Wahrheit stehen. Es ist ebenso unwürdig eines Staats- 
anwalts leidenschaftlich und mit Nichtachtung der von der 
Wissenschaft erbrachten Thatsachen die Verurtheilung an- 
zustreben als es für einen Vertheidiger unsittlich ist, eine 
schlechte Sache mit allen Mitteln und Kniffen zu vertreten. 
S t!Sg 8 de8 r Namentlich ist es aber Sache des Gerichtspräsidenten, 

präSdflnton * n se i nem Schlussvortrag sich der grössten Objektivität zu 
^■poTfm'' böfoissige 11 ; das Pro und Contra der Beweisgründe klar 
s^ii^Ss darzustellen und sich eines eigenen, das Urtheil der Richter 
etwa beeinflussenden Urtheils zu enthalten. 

Da wo jedoch ein Volksgericht über die Schuldfrage 
zu urtheilen hat und der Geisteszustand des Angeklagten 
fraglich erscheint, wird der Präsident gut thun, den Ge- 
schworenen klar zu machen, dass die Frage nach der 
Schuld auch die Frago nach der Freiheit der Willens- 
bestimmung in sich schliesst und dass wenn sie Zweifel in 
die Willensfreiheit des Thäters setzen, sie befugt sind, die 
Schuldfrage zu verneinen. Er wird nicht minder gut thun, 



Grundbedingungen der Zurechnungsfähigkeit. (59 

den Volksrichtern vor der Urtheilsschöpfung eine dem 
gegenwärtigen Stand der Rechtsanschauung und psychiatri- 
schen Wissenschaft entsprechende Belehrung über die Grund- 
bedingungen der Zurechnungsfähigkeit zu geben. 

Der Zustand der Zurechnungsfahigkeit setzt die Er- Jg™*** 
kenntniss der Rechtswidrigkeit einer gewollten strafbaren ^^unga- 
That (libertas judicii) und die Fähigkeit der Selbstbestim- »w«*«**- 
mung für die Begehung oder Unterlassung dieser Hand- 
lung (libertas consilii) nothwendig voraus. 

Zur Annahme einer Erkenntnissfahigkeit ist erforder- 
lich, dass der Handelnde seiner selbst und der Aussenwelt 
klar bewusst sei. Er muss ein klares Bewusstsein seiner 
Lage, d. h. der Beziehungen zur Aussenwelt haben, die 
eine Erkenntniss der rechtlichen und sittlichen Bedeutung 
einer concreten gewollten Handlung gegenüber dem Straf- 
gesetz (Strafe) und gegenüber der Gesellschaft (Beschädi- 
gung fremder Interessen) und der möglichen Folgen der 
That in sich schliesst. 

Zur Erkenntnissfähigkeit gehört beim gegenwärtigen 
Stand der Culturentwicklung jedenfalls auch die Einsicht 
nach den ethischen Motiven. Der Mangel dieser, wenn 
mangelnde Erziehung ausgeschlossen werden kann, beruht 
immer auf pathologischen Bedingungen. 

Das vorhandene intellektuelle Merkmal des Unterschei- 
dungsvermögens d. h. des Bewusstseins der Strafbarkeit 
trotz fehlender ethischer Erkenntnissfähigkeit für die Be- 
deutung der That, lässt beim jetzigen Stand der An- 
schauungen über Zurechnungsfahigkeit allerdings nicht auf 
Straflosigkeit erkennen, aber die Verschuldung wird sich 
sehr gering herausstellen insofern das individuelle Strafbar- 
keitsbewusstsein die That, und wäre sie selbst die schwerste, 
nur als eine Uebertretung polizeilicher Vorschriften zu 
erkennen vermag. Um so lebhafter muss bei solchen Indi- 
viduen ihre eminente Gemeingefährlichkeit betont werden. 

Die zweite Grundbedingung der Zurechnungsfähigkeit 
setzt einen Seelenzustand voraus, in- welchem die intellektiv- 



70 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter. 

ethischen Motive der Strafbarkeit, Unsittlichkeit, Schädlich- 
keit der intendirten Handlung mit den egoistischen zu dieser 
antreibenden in Wechselwirkung treten und eine entschei- 
dende Wahl herbeiführen können. 

Dazu ist erforderlich eine ungestörte Ueberlegungs- 
fähigkeit (Besonnenheit und ungestörter Ablauf des Vor- 
stellens). 

Die Selbstbestimmungsföhigkeit kann gestört sein in- 
sofern eine Verwirrung und Unordnung im Vorstellungsablauf 
besteht (höhere Grade des Affekts) oder insofern Gegen- 
motive als hemmende contrastirende Vorstellungen auf 
Grund einer allgemeinen Hemmung des Vorstellungsablaufs 
(Melancholie) nicht ins Bewusstsein eintreten können, oder 
insofern diese Gegenmotive temporär verloren gegangen 
sind oder zu spät, d. h. erst nach geschehener That, im 
Bewusstsein auftreten (Manie), oder insofern ihr Gegen- 
gewicht durch das krankhaft vermehrte, weil organisch be- 
dingte Uebergewicht unsittlicher Antriebe, überhaupt thie- 
rischer Triebe ungenügend geworden ist. 

In der Regel liegt der Ausfall der Bedingungen der 
Zurechnungsfähigkeit jedoch auf der erkennenden Seite des 
Seelenlebens. Der Mechanismus der Wahl, soweit er im 
formal ungehinderten Ablauf der dazu nöthigen Processe 
besteht, kann ganz oder nahezu unversehrt sein. 

.Die libertas judicii fehlt oder ist beeinträchtigt durch 
Fälschung der Beziehungen zur Aussenwelt — Wahnideen, 
Sinnestäuschungen (Wahnsinn, Sinnesverwirrung), durch 
mangelhafte Erkenntnissfähigkeit der socialen Pflichten und 
positiven Vorschriften des Gesetzbuchs (Schwachsinn, Blöd- 
sinn, Taubstummheit). 

Dieser Grundthatsachen der Zurechnungsfähigkeits- 
frage muss sich der Richter behufs einer gerechten Ur- 
theilsschöpfung bewusst sein. Obwohl in der Frage nach 
der Schuld implicite auch die nach der Zurechnungsfähig- 
keit enthalten ist und ihre Beantwortung findet, hat die 
Oesterr. St.P.O. (§ 319) dennoch die Bestimmung getroffen, 



Mildernde Umstände. 71 

dass vor dem Geschworenengericht, falls behauptet wurde, 
dass ein Zustand zur Zeit der That vorhanden gewesen 
sei, der die Strafbarkeit ausschliessen würde, eine dieser 
Behauptung entsprechende Frage zu stellen sei. Diese 
obligatorische Stellung einer Zusatzfrage, wenn sie auch 
vom streng logischen Standpunkt aus überflüssig erscheint, 
hat das Gute, dass sie die Volksrichter ausdrücklich auf 
das subjektive Moment der Schuldfrage in letzter Stunde 
hinweist und bietet eine Gewähr dafür, dass sie auch diesen 
wichtigen Umstand in den Bereich ihrer Erwägungen ge- 
zogen hatten. 

Häufig genug kommt es vor, dass die Voraussetzungen Stände 
der Zurechnungsfähigkeit zwar nicht gerade fehlen, dass 
aber äussere gesellschaftliche (fehlende oder schlechte Er- 
ziehung) oder innere (organische) Bedingungen obwalten, 
welche die Fähigkeit einer Selbstbestimmung beeinträch- 
tigen und damit die Schuld mindern. Unter den organi- 
schen können es angeborene oder erworbene Zustände gei- 
stiger Schwäche, in erblicher Anlage begründete Anomalien 
der Persönlichkeit u. s. w. sein, welche die Zugkraft un- 
sittlicher Motive verstärkten, die Widerstandskraft schwäch- 
ten, ungewöhnlich starke Affekte und Leidenschaften her- 
vorriefen, die Besonnenheit und die Klarheit des Bewusst- 
seins trübten. 

Die frühere Gesetzgebung suchte solchen zahlreichen 
Fällen durch die Lehre einer verminderten Zurechnung 
gerecht zu werden, die gegenwärtige durch die Annahme 
von mildernden Umständen. 

Es ist Aufgabe des Sachverständigen, Vorhandensein 
und Bedeutung von die normale Denkfähigkeit störenden 
abnormen Zuständen und Vorgängen im Denkorgan klar- 
zulegen und den Richtern damit die Beurtheilung des sub- 
jektiven Thatbestands und des Einflusses jener Momente 
auf die Schuldfrage zu ermöglichen. Auch diese That- 
sachen hat der Vorsitzende den Richtern der Schuldfrage 
streng objektiv darzustellen. 



72 Der Geisteskranke nach dem Urtheil. 

Nie sollte in derartigen Fällen schon von Gerichtswegen 
unterlassen werden, ausser der Hauptfrage nach der Schuld 
überhaupt die Nebenfrage nach dem Vorhandensein mil- 
dernder Umstände im Sinne der § 295 und 297 der deutschen 
St.P.O. und § 322 der Oesterr. zu stellen. 

Die Geschworenen mögen bedenken, dass die deutsche 
Strafgesetzgebung beim Verbrechen des Mords leider keine 
mildernden Umstände zulässt und die Bejahung der Schuld- 
frage ein richterliches Todesurtheil nach sich zieht. Dass 
auch bei Mordverbrechen mildernde Umstände denkbar sind, 
kann nicht weiter hier nachgewiesen werden. Mögen die 
Volksrichter um so gewissenhafter in solchen Fällen, wo die 
Todesstrafe bevorsteht, die Schuldfrage erwägen und lieber 
diese verneinen, wo sie überhaupt Zweifel in die Zurech- 
nungsfahigkeit des Mörders setzen. Das Vertrauen auf die 
Gnade des Staatsoberhauptes kann hier nicht genügend 
beruhigen. 



EL Der Geisteskranke nach dem Urtheil. 

Wiederauf- Es gibt seltene Fälle, in welchen erst nach gefälltem 

verfahrene. Urtheile Beweise für die Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit 
der That sich ergeben. Auf S. 41 wurde ein Fall mit- 
getheilt, wo dies bei einer schon zum Tod Verurtheilten 
geschah. Die Oesterr. St.P.O. § 353. 354 und § 399 lit. 5 der 
deutschen St.P.O. gestatten die Wiederaufnahme eines durch 
rechtskräftiges Urtheil geschlossenen Verfahrens, wenn neue 
Thatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, welche allein 
oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die 
Freisprechung des Angeklagten oder, in Anwendung eines 
milderen Strafgesetzes, eine geringere Bestrafung zu be- 
gründen geeignet sind. Dadurch, sowie durch einige andere 
Bestimmungen, erscheint es wichtig, auf den Geisteszustand 
des Verurtheilten ein sorgsames Augenmerk zu richten. 



Geisteskrankheit Hinderniss der Todes- und Freiheitsstrafe. 73 

Der 6 485 der deutschen St.P.O. und Oesterr. 6 398 Geistes- 

ö ö krankheit 

bestimmen, dass an geisteskranken Personen ein Todesurtheil ein mnder- 
nicht vollstreckt werden darf. * voiistreck- 

Der qualvolle Seelenzustand, in welchem sich zum Tod Todesstrafe. 
Verurtheilte befinden und der sie so häufig veranlasst, selbst 
Hand an sich zu legen, ist der Entstehung von geistiger 
Krankheit jedenfalls günstig. Wenn doch hingerichtet sein 
muss, so ist es psychologisch räthlich und human, mög- 
lichst bald die Vollstreckung des Todesurtheils zu voll- 
ziehen. Ergeben sich Beweise für das Aufgetretensein einer 
Geisteskrankheit, so muss der Verurtheilte als Kranker be- 
handelt und einer Irrenheilanstalt übergeben werden. Er- 
langt er seine Geistesgesundheit wieder, so dürfte er der 
Gnade des Staatsoberhauptes zu empfehlen sein. 

Auch die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist nach st ^kung 
§ 487 der deutschen St.P.O. und nach § 398 der Oesterr. St.- g^LSS 
P.O. aufzuschieben wenn der Verurtheilte in Geisteskrankheit 
verfällt. Nach § 493 der deutschen St.P.O. wird die 
etwaige Dauer des Aufenthalts in einer Krankenanstalt in 
die Strafzeit eingerechnet, sofern der irre Verbrecher seine 
Strafe schon angetreten hatte. Auch bezüglich der Straf- 
haft kann die Frage entstehen, ob ihre Antretung oder 
Fortsetzung die geistige Integrität nicht gefährdet. 

Die heutige Gefangnisseinrichtung bringt, selbst in 
Isolirhaft, die geistige Gesundheit der Sträflinge wenig an 
und für sich in Gefahr. Immerhin ist Isolirhaft für geistig 
beschränkte und charakterologisch abnorme, belastete Indi- 
viduen vielfach bedenklich und dieser Umstand billigerweise 
bei der Strafvollstreckung zu berücksichtigen. 

In den seltenen Fällen, wo der Vollzug der angetre- 
tenen Strafe durch beständig wiederkehrende Anfalle gei- 
stiger Störung unterbrochen wird und schliesslich nur mit 
äusserster Gefahrdung der psychischen Existenz durchführbar 
erscheint, kann die Erlassung des Restes der Strafe auf dem 
Gnadenweg das einzige und von der Humanität gebotene 
Auskunftsmittel sein. Es erübrigt noch die Erwägung der 



74 D er Geisteskranke nach dem Urtheil. 

Frage, was mit den wegen Geisteskrankheit Freigespro- 
chenen zu geschehen habe und in welcher Weise geistes- 
krank gewordene Sträflinge passend unterzubringen seien. 
Bezüglich der ersteren handelt es sich zunächst um die 
Entscheidung der Frage, ob der Zustand krankhafter Stö- 
rung der Geistesthätigkeit zur Zeit der That auch nach 
dem Urtheilsspruch noch fortbestehe oder nicht? Im letz- 
teren Fall hat der Freisprechung die Freilassung auf dem 
Fusse zu folgen, im ersteren Fall ist der Freigesprochene 
der Sicherheitsbehörde zu übergeben, welche durch gerichts- 
ärztliche Untersuchung ermitteln zu lassen hat, ob der Be- 
treffende gemeingefährlich ist, in welchem Fall er einer 
Irrenanstalt zu übergeben ist. Es kann zweckmässig sein, 
wenn schon die Sachverständigen der Voruntersuchung oder 
des Hauptverfahrens in ihren Gutachten auf diesen Um- 
stand aufmerksam machen. Die Entlassung von solchen 
Kranken aus der Irrenanstalt sollte nur im Einvernehmen 
mit der Sicherheitsbehörde zulässig sein. 

Dass ein geisteskrank gewordener Straf ling nicht länger 
in der Straf haft zu belassen sei, ist eine Forderung des 
Rechts und der Humanität, denn weder das Bewusstsein 
der Strafe im causalen Zusammenhang mit dem Verbrechen 
noch die Möglichkeit einer moralischen Besserung sind in 
diesem Zustand vorhanden. Wohl aber besteht die Gefahr, 
dass der Kranke, wenn er in den Verhältnissen belassen 
wird, in denen er erkrankte, rasch unheilbar wird. 

Die bezügliche Gesetzgebung gegenüber solchen Fällen 
ist eine sehr mangel- und lückenhafte. 

In England sperrt man sogenannte criminal-lunatics, 
d. h. Leute, die schon geisteskrank waren, als sie ihr Ver- 
brechen begingen, mit „insane convicts a , d. h. Menschen, 
die erst in der Straf haft geisteskrank geworden sind, in 
eigene Verbrecherasyle zusammen und hält sie als ge- 
meingefährlich, selbst oft nach der Genesung, lebensläng- 
lich unter Staatsfürsorge. 

In Italien, Frankreich, Deutschland bleibt es den Be- 



Unterbringung geisteskranker Sträflinge. 75 

hörden anheimgestellt, ob sie den Irren im Gefangniss be- 
lassen oder in eine Irrenanstalt versetzen wollen. Nur 
bezüglich unheilbar gewordener irrer Sträflinge verfügt in 
Preussen ein Ministerialerlass vom 26. October 1858, dass 
solche für die Fortsetzung des Strafvollzugs nicht mehr 
geeignet sind und ; wenn gerichtlich für wahn- oder blöd- 
sinnig erklärt, an ihnen die Criminalstrafe nicht weiter 
vollstreckt werden darf. 

Der gegenwärtige Modus, wie sich die verschiedenen 
Staaten ihrer Pflicht gegen geisteskrank gewordene Ver- 
brecher entledigen, ist ein dreifacher: 1. Unterbringung in 
gewöhnlichen Irrenanstalten ; 2. in Irrenstationen der Ge- 
fängnisse und Strafanstalten ; 3. in eigenen Verbrecherasylen. 

Der erstere Modus hat vielen Tadel gefunden. Die 
Anhäufung vieler solcher verbrecherischer Elemente, na- 
mentlich wenn sie aus der Klasse des Gewohnheitsver- 
brecherthums hervorgegangen sind, verträgt sich nicht mit 
der freien humanen Verpflegungsform dieser Anstalten. 
Diese verbrecherischen Irren entweichen, zerstören Zucht, 
Sitte, Ordnung des Krankenhauses, wirken revoltirend und 
demoralisirend. 

In die Irrenanstalt gehören nur Leute, die schon zur 
Zeit des Verbrechens geisteskrank waren, die in der Unter- 
suchungshaft krank wurden, und solche Sträflinge, die 
nicht der Kategorie des Gewohnheitsverbrecherthums an- 
gehören, nicht die Züge des sogenannten Verbrecher Wahn- 
sinns darbieten. 

Am meisten empfiehlt sich die Errichtung von Irren- 
stationen bei Gefängnissen und Strafanstalten. Ihre Noth- 
wendigkeit ergibt sich von selbst. In jeder derartigen De- 
tentionsanstalt gibt es der Simulation verdächtige, ferner 
acut in und durch die Isolirhaft erkrankte Sträflinge, die 
einer sorgfältigen ärztlichen Beobachtung und Behandlung 
bedürfen. 

Ist diese Irrenstation mit allen Heilmitteln einer Irren- 
anstalt ausgerüstet, was ohnedies bei grossen Strafanstalten 



76 Der Geisteskranke nach dem Urtheil. 

erforderlich sein dürfte , so könnte sie auch für heilbare 
Fälle mit chronischem Verlauf verwerthet werden. 

Es bleiben die unheilbaren irren Sträflinge übrig, deren 
Störung aus einem verbrecherischen Vorleben (Gewohn- 
heitsverbrecherthum) hervorgegangen ist und die fatalen 
Züge des „Verbrecherwahnsinns" bietet. Für solche Fälle 
dürfte in kleineren Staaten die Creirung eines besonderen 
Quartiers in der Landesirrenpflegeanstalt ausreichen, für 
grosse Staaten dagegen die Errichtung eigener Verbrecher- 
asyle nicht zu umgehen sein. Man hat den englischen der- 
artigen Anstalten Nachtheile vorgeworfen (gefangnissartiger 
Charakter der Anstalt, Schwierigkeit Wärter zu bekommen, 
da ihr Leben beständig in Gefahr, schlimmer Einfluss, den 
die Kranken auf einander ausüben etc.), allein durch mög- 
lichste Isolirung, zweckmässige bauliche Einrichtungen, 
Herstellung kleinerer, da und dort zerstreuter Asyle etc., 
liesse sich ein grosser Theil dieser Gefahren und Missstände 
vermeiden. 



B. Specieller klinischer TheiL 

Als Zustände, in welchen eine strafbare Handlung als 
nicht begangen erachtet wird, bezeichnet die neuere Ge- 
setzgebung solche von krankhafter Störung (bezw. „Hem- 
mung tf Oesterr. Entw.) der Geistesthätigkeit und vonBewusst- 
losigkeit, sofern dadurch die freie Willensbestimmung (bezw. 
„die Fähigkeit der Einsicht a Oesterr. Entw.) ausgeschlossen 
war. Aus den Ausführungen des allgemeinen Theils dürfte 
sich ergeben, dass eine Kenntniss der Erscheinungsweise 
geistig abnormer Zustände und ihres Einflusses auf die 
Erkenntniss- und Selbstbestimmungsfähigkeit unerlässlich 
für den Juristen ist, wenn er den Sachverständigen und 
dessen Schlüsse verstehen und überhaupt als Richter, Staats- 
anwalt, Vertheidiger, Gerichtspräsident seiner Aufgabe ge- 
recht werden will. 

Diesem Bedürfniss einer wenigstens übersichtlichen 
Kenntniss des Gebiets der gerichtlichen Psychopathologie 
soll in den folgenden Blättern Rechnung getragen werden. 
In Anlehnung an den Wortlaut der Gesetzgebung ergeben 
sich für eine Betrachtung der geistig abnormen Zustände 
zwei grosse Gruppen — die Zustände krankhafter Störung 
der Geistesthätigkeit und die der sogenannten Bewusst- 
losigkeit. 



78 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit. 

Zustände krankhafter Störung der Geistes- 
thätigkeit. 

Sie zerfallen in zwei natürliche Gruppen, je nachdem 
die Störung der Geistesthätigkeit durch hemmende oder 
schädigende Einflüsse schon zur Zeit des noch in Entwick- 
lung begriffenen Gehirns eintrat und demgemäss die Ent- 
wicklung des geistigen Lebens eine Hemmung erfuhr 
(psychische Entwicklungshemmungen) oder eine 
krankhafte Richtung nahm (psychische Entartungen) 
oder indem krankmachende Einflüsse das Gehirn erst nach 
erreichter Entwicklung trafen und die Funktionen des geisti- 
gen Lebens störten (Geisteskrankheitenim engeren Sinn). 

Das Gesetz bezeichnet klar diejenigen Zustände ab- 
normer Geistesthätigkeit, in welchen es strafbare Hand- 
lungen als nicht geschehen betrachtet. Nicht jede Störung 
der Geistesthätigkeit (Affekt, Leidenschaft) an und für sich 
soll diese rechtliche Wirkung haben, sondern nur dann, 
wenn sie eine krankhafte ist und wenn sie die freie Willens- 
bestimmung aufhob. Für die gerichtliche Psychopathologie 
ergibt sich damit die Notwendigkeit zu untersuchen 

1. unter welchen Umständen eine Abweichung von der 
Norm geistiger Thätigkeit als eine krankhafte aner- 
kannt werden muss; 

2. durch welche Umstände eine krankhafte Störung der 
Geistesthätigkeit die Willensfreiheit aufhebt. 



Die Begründung einer Störung der Geistesthätig- 
keit als einer krankhaften. 

Krankhaft ist eine Störung der Geistesthätigkeit, wenn 
sie auf eine Krankheit des Gehirns, als des Organs der 
geistigen Funktionen sich zurückfuhren lässt. Das Be- 
stehen einer Krankheit wird nachgewiesen an einer sinn- 



Anhaltspunkte für Annahme geistiger Krankheit. 79 

lieh erkennbaren Veränderung des erkrankten Organs und 
an Abweichungen der Funktionen des Organs von der 
Norm. Am sichersten ist der Nachweis der Krankheit, 
wenn sowohl anatomische als funktionelle Aenderungen 
sich ergeben, namentlich wenn die gestörte Funktion aus 
der Veränderung des Organs verständlich wird. Bei vielen 
Krankheiten kann sich die Diagnose nur auf die gestörte 
Funktion stützen, weil die Veränderungen des Organs, 
namentlich während des Lebens, nicht sinnlich wahrnehm- 
bar sind. 

Hieher gehören, auch im Grossen und Ganzen die 
Geisteskrankheiten, insoweit nicht Anomalien des Schädels 
(abnorme Kleinheit oder abnorme Grösse durch Wasserkopf) 
einen Rückschluss auf die Beschaffenheit des Gehirns ge- 
statten. 

Die Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten, aber 
nicht jede Hirnkrankheit stört die geistigen Funktionen. 
Dies ist nur dann der Fall, wenn die Hirnerkrankung die 
Rinde des Grosshirns befällt und zwar in grösserer Aus- 
breitung. Die krankhafte Veränderung der Hirnrinde kann 
während des Lebens nur an dem Ausfall oder der Störung 
der Funktionen des erkrankten Gehirns nachgewiesen 
werden. Die Funktionen der Hirnrinde sind in erster 
Linie geistige (Fühlen, Vorstellen, Streben), aber sie ver- 
mittelt auch Funktionen der Bewegung, Empfindung, Er- 
nährung, Absonderung etc. etc. Die Mitbeachtung von der- 
artigen nicht psychischen Funktionsstörungen der Hirnrinde 
erweitert und vertieft die Diagnose der Hirnerkrankung, 
verleiht gleichzeitig vorfindlichen psychischen Funktions- 
störungen erhöhte Bedeutung und sichert die Berechtigung 
ihrer Auffassung als krankhafter Erscheinungen. 

Die Funktionen des geistigen Lebens bilden ein zu- 
sammenhängendes Ganze. Sie vollziehen sich in der Regel 
mit einer solchen Intensität, dass sie bewusst werden. Die 
Persönlichkeit (Ich) ist sich bewusst, dass sie wahrnimmt, 
denkt, handelt. Die geistigen Funktionen können aber auch 



80 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit 

unbewusst sich vollziehen (Zustände sog. Bewusstlosigkeit). 
Die hervorragendsten Funktionen des Geistes pflegt man 
Gemüth, Verstand, Wille zu nennen. Es sind dies nur 
Abstraktionen, nicht wirklich isolirt und selbständig be- 
stehende psychische Kräfte. Sie befinden sich in gegen- 
seitiger Abhängigkeit von einander. 

Daraus folgt, dass das geistige Leben als ein funk- 
tionell zusammengehöriges Ganze niemals partiell gestört 
werden kann. Wo dies den Anschein hat und man z. B. 
von einer Gemüthskrankheit spricht, kann dies nur so 
gemeint und verstanden werden, dass die dem Gemüth 
zugeschriebenen Funktionen im Vordergrund des Krank- 
heitsbilds stehen. 

Eine Krankheit ist immer ein complicirter Vorgang, 
der sich nicht auf das Symptom einer einzigen gestörten 
Funktion beschränkt. Immer findet sich eine Mehrheit 
von Symptomen. Die Summe und die nachweisbare gegen- 
seitige Abhängigkeit der Symptome begründen die Diagnose. 

Diese lässt sich nicht aus einem einzigen Symptom 
z. B. aus einer einzelnen Handlung machen. Immer han- 
delt es sich um einen Zustand. Die synthetische Erfassung 
der das Krankheitsbild ausmachenden Einzelsymptome ist 
die einzig richtige Methode. 

Neben der symptomatischen Erschliessung und Be- 
urtheilung der gestörten Funktionen ist für die Annahme 
von Krankheit entscheidend die Ermittlung ihrer Ursachen 
und ihres Verlaufs. 

Auch in dieser Hinsicht weist das Gebiet der geistigen 
Störungen strenge Gesetzmässigkeit auf. Die Ursachen sind 
theils veranlagende wie z. B. Erblichkeit, Lebensalter, Er- 
ziehung u. s. w., theils veranlassende wie z. B. Gemüths- 
bewegungen, körperliche Erkrankungen. Das psychische 
Organ erkrankt in der Regel nur in Folge mächtig wirkender 
Ursachen. Der Nachweis dieser, die ursächliche Begrün- 
dung der Krankheit stützt ihre Annahme. Je näher zeit- 
lich die fraglichen Symptome der Krankheit als Wirkungen 



Wissenschaftliche Diagnose des Irreseins. 81 

der ermittelten Ursache rücken, um so wahrscheinlicher 
wird die Annahme der Krankheit. 

Der Verlauf einer fraglichen geistigen Krankheit ist 
um so bedeutsamer, je deutlicher er sich als ein empirischer 
und gesetzmässiger ausweist/ je deutlicher Symptome und 
Symptomgruppen ohne äussere Anlässe zu- oder abnehmen, 
Ausbrüche der Krankheit mit zeitweise wiederkehrenden 
körperlichen Vorgängen (z. B. Menstruation) zusammen- 
fallen, von körperlichen Störungen (Bewegungs-, Empfin- 
dungs-, Absonderungsstörungen, Verstopfung, Fieber etc.) 
begleitet sind, Anfälle der fraglichen Krankheit in annähernd 
gleicher Zeit und unter gleichen Verhältnissen wieder- 
kehren. . 

Auf diese Gesichtspunkte hat sich die allgemeine Dia- 
gnose einer geistigen Krankheit als einer Hirnkrankheit zu 
stützen. Die specielle Diagnose nach Umfang und Art der 
Symptome krankhafter Geistesthätigkeit begegnet der Schwie- 
rigkeit, dass die abnorme Funktion an und für sich nichts 
beweist, so lange sie nicht auf ihre Bedingungen zurück- 
geführt ist. Der Geisteskranke kann dasselbe sagen und 
thun wie ein Geistesgesunder. Es gibt kein einziges Sym- 
ptom gestörter Geistesthätigkeit, das nicht auch gelegentlich 
im geistesgesunden Zustand vorkäme. Das Krankhafte bei 
geistiger Störung liegt darin, dass 1. die im Uebrigen 
ganz gesetzmässigen Vorgänge des Fühlens, Wahrnehmens, 
Vorstellens und Strebens nicht (wie im geistesgesunden Leben) 
auf entsprechende äussere Reize und Anlässe und conform 
__ diesen eintreten, sondern auf Grund innerer Anlässe und 
Reize, die eine Hirnerkrankung schafft. Der Kranke sieht 
und hört z. B. Dinge, die nicht durch Licht- und Schall- 
wellen begründet sind, sondern die durch innere (krank- 
hafte) Reizung seiner centralen Sinnesapparate vorgetäuscht 
sind (Hallucinationen), er ist heiter oder traurig, ohne dass 
ein äusserer Anlass ihn dazu berechtigt. 

Aus der äusserlich fehlenden Motivirung von Stim- 
mungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen oder auch aus 

v. K rafft- Ebing, Crimlnalpsycliologie. 2. Auflage. 6 



82 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit. 

der abnorm geringen oder starken Reaktion auf äussere 
Eindrücke schöpft deshalb schon der Laie zunächst Ver- 
dacht auf eine geistige Störung, während so lange die gei- 
stigen Processe auf genügenden äusseren Anlass und diesem 
entsprechend, in harmonischer Verknüpfung mit den Vor- 
gängen in der Aussenwelt ablaufen, wir keinen Anstand 
nehmen einen Menschen für geistesgesund zu halten. 

Ebendeshalb ist es aber höchst wichtig, die frühere 
habituelle Empfindungs- und Reaktionsweise eines Menschen 
zu kennen. Nur seine individuelle Betrachtung, die Ver- 
gleichung seiner früheren Individualität mit der jetzigen, 
die Ermittlung ob etwaige Aenderungen derselben spontan, 
äusserlich nicht motivirt aufgetreten sind, eröffnen Gesichts- 
punkte für die. Entscheidung, ob er psychisch krank sei. 
Es ist somit nöthig, dass nicht blosdie frühere Persönlichkeit 
mit ihrem geistigen Niveau, ihren früheren Anschauungen, 
Reaktionsweisen, Strebungen etc. bekannt sei, sondern dass 
auch die Umstände ersichtlich sind, unter welchen die frag- 
liche Krankheit aufgetreten ist. 

Fehlt diese Kenntniss oder sind die einer fraglichen 
Krankheit vorausgegangenen Ereignisse, z. B. Gemüths- 
bewegungen, derart, dass die Veränderung der Stimmung 
und Anschauungsweise noch durch jene genügend motivirt 
sich ausweist, so wird die Beurtheilung der wahrgenom- 
menen geistigen Veränderung (ob noch physiologische Ver- 
stimmung oder beginnende Gemüthskrankheit) schwierig 
bis weitere Symptome sich entwickeln. Thatsächlieh ist 
eine Verwechslung im angedeuteten Sinn im alltäglichen 
Leben etwas ganz Gewöhnliches, aber auch in foro kommt 
sie vor und veranlasst ungerechte Beurtheilungen des Geistes- 
zustands. Indem der wirkliche Geisteskranke auf Grund 
innerer krankhafter Vorgänge wahrnimmt, fühlt und vor- 
stellt, tritt er in Widerspruch mit der realen Welt — er 
wird alienirt, sein Standpunkt, von dem aus er die Aussen- 
welt beurtheilt, ist ein ver — rückter, er ist wahn— sinnig. 

Diese Aenderung braucht sich aber vorerst nicht in 



Wissenschaftliche Diagnose des Irreseins. 83 

so markanten Symptomen, wie sie Wahnideen und Sinnes- 
täuschungen darstellen, kundzugeben, auch nicht in ausge- 
sprochenen unmotivirten dauernden Aenderungen des Füh- 
lens. Es gibt zahlreiche Fälle wo, als Ausdruck einer be- 
ginnenden (Hirn-) geistigen Erkrankung, zunächst blos die 
gesammte bisherige Empfindungs-, Anschauungs- und Hand- 
lungsweise sich ändert. Besonders wichtig ist hier ein 
Nachlass der gemüthlichen und ethischen Beziehungen zur 
Aussenwelt (Gemüthsstumpf heit) namentlich in Verbindung 
mit abnormer Reizbarkeit. Diese Aenderung des Charakters 
ist um so bedeutsamer, wenn sie psychologisch, d. h. in 
äusseren Vorgängen nicht motivirt ist, dagegen an biolo- 
gische Entwicklungszustände (z. B. Pubertät) oder erlittene 
Kopfverletzungen, schwere körperliche Krankheiten sich 
anschliesst. Sie ist nicht selten Vorläufer von Hirnkrank- 
heiten, die später dann in Form von geistiger Schwäche 
oder ausgesprochenen Formen des Irreseins (s. Dementia 
paralytica, epileptisches, alkoholisches Irresein) deutlich sich 
kundgeben. 

2. Ein weiteres wichtiges Erkennungszeichen geistiger 
Krankheit ist darin gegeben, dass der Kranke sich der 
falschen weil subjektiven organischen inneren Entstehung 
seiner Stimmungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen nicht 
mehr bewusst wird, dass er sie für real begründet hält, 
logische und praktische (Handlungs-) Consequenzen aus 
ihnen zieht. Diese Trübung des Bewusstseins, dieses 
Glauben an Dinge, die mit dem Zeugniss der gesammten 
früheren Erfahrung des gesunden Menschenverstands in 
grellem Widerspruch stehen können, diese Unfähigkeit eine 
Correktur zu üben, weist auf weitere . Funktionsstörungen 
im geistigen Mechanismus hin. Sie erklärt sich aus der 
Veränderung der Stimmung, aus dem falschen und sich 
gegenseitig unterstützenden Zeugniss der Sinne, aus Hem- 
mungen des Vorstellens, vermöge deren berichtigende contro- 
lirende Vorstellungen nicht mehr eintreten können, aus 
Erinnerungsdefekten, die die früheren Erfahrungen des ge- 



g4 Krankhafte Störung der Qeistesthätigkeit. 

sunden Lebens verloren gehen Hessen, aus einer allgemeinen 
Abschwächung der intellektuellen Funktionen (Kritik, Be- 
obachtungsfähigkeit). 

Die Bedeutung dieser Störung des Bewusstseins lässt 
sich am besten an den Hallucinationen erweisen. Auch sie 
sind keine specifischen Kennzeichen des Irrseins, da sie 
auch bei körperlichen Schwäche- und Fieberzuständen, bei 
Vergiftungen, bei Nervenkrankheiten, wie Epilepsie, Hysterie 
und bei nervös erregbaren sonst geistig Gesunden vorkom- 
men können. 

Während sie aber beim Geistesgesunden und in nicht 
dem Gebiet der Geisteskrankheit angehörigen Hirnzuständen 
als Hallucinationen erkannt zu werden pflegen, ist es Regel, 
dass sie der Irre in seinem getrübten Bewusstsein für wirk- 
liche Wahrnehmungen hält. Aber auch dieser Umstand 
ist noch nicht beweisend für geistige Krankheit, insofern 
auch der Aberglaube des Geistesgesunden Hallucinationen 
für Wahrheiten halten kann. Nur ihr Zusammenhang mit 
anderweitigen elementaren Erscheinungen gestörten Seelen- 
lebens gestattet ihre sichere Verwerthung als Krankheits- 
zeichen, z. B. ihr Nachweis in mehreren Sinnesgebieten, 
ihr Zusammenhang mit Delirien, Affekten, krankhaften 
Stimmungen u, s. w. 

Es bedarf also des Nachweises einer inneren Beziehung 
und Zusammengehörigkeit der Symptome, um das einzelne 
auf die verlässliche Werthstufe eines diagnostischen Zeichens 
zu erheben. 

Dieser psychologisch gesetzmässige Zusammenhang der 
Symptome ist äusserst wichtig gegenüber der Frage der 
Simulation, wo er nothwendig fehlen muss, während im 
wirklichen Wahnsinn Logik und Methode ist, da die psy- 
chologischen Gesetze der Denkthätigkeit auch im kranken 
Zustand gelten und vielfach nur von falschen Prämissen 
aus das Denken und Urtheilen ausgeht. 



Gründe der aufgehobenen Willensbestimmung. 85 

Ermittlung der speciellen Umstände, auf Grund 
welcher durch krankhafte Störung der Geistesthätig- 
keit die freie Willensbestimmung aufgehoben wird. 

Das Gutachten des Arztes hat nicht blos den Beweis 
einer Hirnkrankheit, speciell einer Geisteskrankheit zu # er- 
bringen, sondern auch Art und Grad dieser so darzustellen, 
die Störung des gesetzmässigen geistigen Mechanismus mit 
besonderer Rücksicht auf die psychologischen Bedingungen 
der Zurechnungsfähigkeit dergestalt klarzulegen, dass die 
richterlich psychologische Frage nach der vorhandenen oder 
fehlenden Willensfreiheit daraus unschwer beantwortet wer- 
den kann. 

Die Vernichtung der Willensfreiheit durch psycho- 
pathische Zustände und Vorgänge kann nun daraus sich 
ergeben, dass: 

a) durch aus der Gehirnerkrankung herausgesetzte 
somit spontane Affekte, Stimmungen, Triebe und Stre- 
bungen, Wahnideen und Sinnestäuschungen ein Handeln 
herbeigeführt wird; 

b) dass den irgendwie entstandenen und beschaffenen 
Motiven eines strafbaren Handelns keine sittlichen recht- 
lichen Gegenvorstellungen mehr entgegentreten können, da 
diese entweder et) durch die Hirnkrankheit gleich anderen 
höheren psychischen Funktionen nicht erworben werden 
konnten oder verloren gegangen sind (angeborene und er- 
worbene psychische Schwächezustände) oder ß) durch in 
Folge der Erkrankung entstandene Störungen des Vor- 
stellungsablaufs nicht mehr in das Bewusstsein eintreten 
können (Melancholie, Manie); 

c) dass durch Wahnideen und Sinnestäuschungen das 
Selbst- und Weltbewusstsein gefälscht ist. Diese Störung 
kann soweit gehen, dass die ganze frühere Persönlichkeit 
in eine andere umgewandelt ist (Wahnsinn, Verrücktheit), 
so dass die Handlung von einer ganz anderen (krankhaften 



86 Psychische Entwicklungshemmungen. 

psychischen Persönlichkeit als der früheren des Thäters 
begangen wird. Die juristische Persönlichkeit ist hier die : 
selbe, die psychologische eine ganz andere geworden. 



I Die psychischen Entwicklimgshemmungen. 
Blödsinn. Schwachsinn. Taubstummheit. 

Eine äusserst wichtige criminalpsychologische Categorie 
von Menschen bilden diejenigen, bei welchen durch eine 
angeborene oder in früher Lebenszeit eingetretene Hirn- 
erkrankung die geistige Entwicklung auf der Stufe, welche 
sie damals einnahm, stehen blieb, oder sich nur um ein 
Geringes weiter bewegte. Es ergibt sich daraus eine lange 
Reihe von Individualitäten, die einzeln mit einander ver- 
glichen, ein Plus oder Minus darbieten, insgesammt aber 
der geistigen Höhe eines normalen oder Durchschnitts- 
menschen gegenübergestellt, nie die criminelle Reife eines 
solchen erreichen, die somit forensisch durchaus concret 
und individuell behandelt werden müssen. Die Repräsen- 
tanten dieser Categorie kann man als die Schwach- und 
Blödsinnigen bezeichnen, forensisch-psychologisch gleich 
stehen mit ihnen die Taubstummen. 

Häufig handelt es sich um fötale Entwicklungskrank- 
heiten des Gehirns, um zu frühzeitige Verwachsung der 
Schädelnähte und dadurch gehemmte Gehirnentwicklung, 
die sich dann auch in einer allgemeinen Kleinheit der 
Schädeldurchmesser kundgeben kann; in der Mehrzahl der 
Fälle sind aber Erkrankungszustände des Gehirns entzünd- 
licher oder congestiver Natur in der Kindheit, Entzündungen 
des Gehirns und seiner Häute, oder auch feinere, uns noch 
unbekannte Störungen der Ernährung des Gehirns wie sie 
unter dem Einfluss ungünstiger erblicher Verhältnisse der 
Erzeuger, namentlich der Alkoholexcesse derselben sich 
geltend machen, die hemmende Ursache. Es ist sogar wahr- 



Grundregeln der Beurtheilung. 87 

scheinlich ; dass sonst geistesgesunde und nüchterne Eltern, 
wenn der Moment der Zeugung zufällig mit einer Berau- 
schung zusammenfallt, geistesschwachen bis blödsinnigen 
oder auch epileptisch blödsinnigen Nachkommen das Dasein 
geben können. 

Die Scala dieser Fälle von congenitalem oder vor be- 
endigter Entwicklung eingetretenem Schwachsinn ist eine 
unendlich variable. Auf der untersten Stufe stehen jene 
absoluten und ganz bildungsunfähigen Idioten, deren Er- 
kennung und forensische Würdigung freilich nicht schwer 
ist, aber die Scala dieser geistigen Insuffizienzen erstreckt 
sich von diesen Nullen successiv bis zur Höhe der Voll- 
sinnigen und es ergeben sich da wo sich der Zustand dem 
Niveau der. Durchschnittsmenschen zwar nähert, aber dieses 
nicht erreicht, forensische Schwierigkeiten, wie sie nicht 
leicht bei einem anderen Zustand zweifelhafter Geistes- 
gesundheit entstehen können. 

Eine Grundregel bei der Beurtheilung solcher Fälle 
ist die, dass man synthetisch und nicht analytisch verfahre, 
dass man die ganze Persönlichkeit nach allen Richtungen 
auffasse und nicht nach einer Seite hin, die vielleicht be- 
sonders hervortritt, beurtheile. Gerade bei solchen Schwach- 
sinnigen kommt es zuweilen vor, dass sie eine ungewöhn- 
liche Begabung für gewisse artistische Leistungen z. B. 
Musik, ein auffallend gutes Gedächtniss für gewisse Cate- 
gorien z. B. Zahlen besitzen, während ihr geistiges Leben 
nach allen anderen Richtungen sich steril und insufficient 
erweist. 

Bei der psychologischen Beurtheilung des Unterschei- 
dungsvermögens solcher Individuen ist es ebenfalls von 
höchster Wichtigkeit, dass man dies concret und nicht 
abstrakt auffasse. Solche Schwachsinnige wissen z. B. 
ganz gut, dass man nicht tödten, nicht stehlen darf, aber 
sie wissen es nicht aus einem sittlichen und intellektuellen 
Erkenntnissprocess, den sie selbst durchgemacht haben, 
nicht aus einem selbsterworbenen Charakter heraus, der 



gg Psychische Entwicklungshemmungen. 

das Gewicht ethischer und rechtlicher Motive geltend macht, 
sondern sie wissen es nur abstrakt, sie reproduciren die 
moralischen und rechtlichen Begriffe und Urtheile Anderer, 
abstrakte Katechismus- und Moralbegriffe, die sie mühsam 
ihrem Gedächtniss einverleibt haben. Ein solches abstraktes 
Strafbarkeitsbewusstsein involvirt zwar ein allgemeines 
Wissen was Gut und Böse ist, aber nicht die Fähigkeit, 
dasselbe auf den eigenen concreten Fall anzuwenden, um 
des Guten selbst willen sich frei für das Gute zu be- 
stimmen. Bei Manchen sind auch statt der ethischen Be- 
griffe „gut und böse a nur die niederen egoistischen der 
Nützlichkeit und Schädlichkeit vorhanden. Legt man sol- 
chen Leuten die abstrakte Frage vor, ob diese oder jene 
Handlung Sünde resp. Verbrechen sei, so bekommt man 
oft eine ganz befriedigende Antwort von einem Menschen, 
der vollkommen ausser Stand ist, von diesen abstrakten 
Begriffen eine Anwendung auf den eigenen Fall, auf eigene 
Bewusstseinszustände zu machen. Dann genügen die er- 
borgten Begriffe nicht mehr. 

In dieser Richtung wird unendlich oft die Verantwort- 
lichkeit Schwachsinniger überschätzt. So wenig als im 
intellektuellen Leben solcher Menschen eine harmonisch 
sich vollziehende, vielleicht die eines Vollsinnigen tiber- 
treffende Einzelleistung das Urtheil über die Gesammt- 
leistungsf&higkeit präoccupiren darf, sollte bei der Beur- 
theilung des moralischen Ichs und der Höhe des Strafbar- 
keitsbewusstsein s durch ein isolirtes abstraktes aber richtiges 
moralisches Urtheil der Begutachter sich täuschen lassen. 
Zu einem freien vernunftgemässen Handeln gehören höhere 
Fähigkeiten, selbständig gebildete und tief ins Bewusstsein 
eingelebte rechtliche ethische Begriffe und Urtheile — statt 
dieser finden sich bei Schwachsinnigen vielfach nur frag- 
mentäre Reste einer unvollkommenen Schulbildung, Ge- 
dächtnissrudera halbverstandener Katechismusbegriffe. 

Man hat sich viele Mühe gegeben, die individuell un- 
endlich variirenden Fälle geistiger Infirmität und Imbecil- 



Blödsinn. 89 

lität in Categorien und Gradstufen einzuteilen und hat 
dabei mit mehr oder weniger Glück das Verhalten der 
Sprache als Kriterium benutzt. 

Für forensische Zwecke genügt es vollständig, zwei 
Hauptcategorien aufzustellen, die der Blödsinnigen und 
die der Schwachsinnigen, wobei die Unterscheidung 
wesentlich darin zu suchen ist, dass bei ersteren die Bildung 
übersinnlicher Vorstellungen, Begriffe und Urtheile mangelt, 
bei letzteren zwar möglich wird, aber nicht den Reichthum 
und die Klarheit wie bei Vollsinnigen erreicht. 

Der Blödsinnige: Auf der tiefsten Stufe des Blöd- 
sinns fehlen die geistigen Processe fast vollständig. Die 
Aufnahme von Sinneseindrücken beschränkt sich auf die 
Objekte, an welchen das Nahrungsbedürfniss befriedigt 
wird, und nur das sinnliche Bedürfniss der Befriedigung 
des Hungers veranlasst solche tiefstehende Organisationen 
zu einem triebartigen Bewegen, dem der bewusste Zweck 
mangelt. Der Geschlechtstrieb fehlt noch oder ist nur in 
Anfängen vorhanden. Auf einer weiteren Stufe zeigt der 
Geschlechtstrieb sich schon entwickelt, aber die Art seiner 
Befriedigung erinnert an. die der Thiere und nicht selten 
beobachtet man hier ein zeitweiliges brunstartiges Hervor- 
treten desselben. Die Befriedigung des Nahrungstriebs 
bildet noch immer den Mittelpunkt aller psychischen Vor- 
gänge ; statt eines bewussten mit einem vorgestellten Zweck 
verbundenen Strebens besteht ein blosser Bewegungsdrang, 
der nur durch äussere Anregung oder durch ein starkes sinn- 
liches Bedürfniss zur Entäusserung kommt, und den höchstens 
Dressur und gewohnheitsmässige Uebung zu mechanischen 
Leistungen fähig machen. Der Blödsinnige verharrt in 
träger Ruhe, da es ihm an Motiven zum Bewegen fehlt. 
Auch seine ganze Haltung hat das charakteristische Ge- 
präge des Schlaffen, Energielosen, das wesentlich dadurch 
zu Stande kommt, dass die Streckmuskeln geringer inner- 
virt sind als bei Vollsinnigen. Gang und Haltung bekommen 
dadurch etwas Plumpes, Haltloses, Täppisches ; nicht selten 



90 Psychische Entwicklungshemmungen. 

finden sich auch Contracturen, Verbildungen der Extremi- 
täten , Schwund einzelner Muskelgruppen, neben Schielen, 
Stottern und andern Sinnesfehlern, in Folge angeborener 
oder in frühem Lebensalter eingetretener Hirn- und Rücken- 
markserkrankungen ; zuweilen werden auch auf eine gleiche 
Ursache oder auf noch fortbestehende Krankheitsprocesse im 
Centralorgan beziehbare partielle Convulsionen, veitstanz- 
und epilepsieartige Zustände gefunden. Die Schädelbildung 
kann eine ganz normale sein, häufig ist aber die Stirn 
flach, oder es finden sich die Formen der Macro-, der 
Microcephalie oder des Cretinenschädels. 

So verschiedenartig die Stufen des Blödsinns sein kön- 
nen, so besteht die trennende Schranke vom Schwachsinn 
doch immer darin, dass die lückenhaften, spärlichen Vor- 
stellungen sich nie vom sinnlichen Element losmachen kön- 
nen, dass das Vermögen allgemeine Vorstellungen und 
Begriffe, Abstraktionen vom sinnlich Concreten zu bilden, 
vollständig mangelt. Die Reproduktion etwa gebildeter 
Vorstellungen ist unvollkommen, nur auf äussere Anregung 
oder auf ein sich erhebendes sinnliches Bedürfniss erfolgend. 
Die ganze Vorstellungsreihe läuft dabei rein mechanisch 
ab, wie sie usrprünglich gebildet wurde. Gemüthlicher 
Regungen ist der vollkommen Blödsinnige nicht fähig, Mit- 
gefühl, sociale Gefühle sind ihm versagt, nicht einmal das 
Bedürfniss eines socialen Lebens ist ihm gegeben, er ge- 
niesst nur dessen Wohlthaten ohne alles ethische Verständ- 
niss für dessen Bedeutung. Nur nach einer Richtung ist 
eine Reaktion möglich, nämlich wenn sein dürftiges Ich 
eine Beeinträchtigung erfährt. Er reagirt darauf mit hef- 
tigen Affekten des Zorns, die geradezu überwältigend sind, 
und in einer weit über das Ziel hinausgehenden brutalen 
Weise entäussert werden. Sie haben durchaus das Gepräge 
von Wuthparoxysmen, in denen das Bewusstsein vollständig 
schwindet, und deren sich das Individuum hinterher gar nicht 
erinnert. Zuweilen kommen solche Paroxysmen auch ganz 
spontan und in periodischer Aeusserungs weise zur Beobachtung« 



Schwachsinn. 91 

In der Mehrzahl der Fälle sind die criminellen Hand- 
lungen der Blödsinnigen durch solche pathologische Affekte 
vermittelt, sie begehen dann Todtschlag, Körperverletzungen, 
zerstören Mobiliar in äusserst brutaler Weise. 

Häufig sind es auch heftige sinnliche Begehren, die 
ebensowohl durch eine Steigerung der natürlichen Triebe, 
namentlich des Geschlechtstriebs, als durch den Mangel 
aller sittlichen ästhetischen, contrastirenden Vorstellungen 
unwiderstehlich werden. 

Planmässiger, von Combination und Ueberlegung zeu- 
gender Verbrechen ist der Blödsinnige nicht fähig. Die 
Casuistik besteht in Sittlichkeits verbrechen, namentlich Un- 
zucht mit Kindern und Nothzucht; häufig wird der öffent- 
liche Anstand durch nicht genügend überwachte Blöd- 
sinnige verletzt. Brandstiftungen sind nicht sowohl Akte 
der Rachsucht und Bosheit als vielmehr Folge unbedachten 
kindischen Spielens mit Feuer, kindischer Lust am Sehen 
von Feuer ohne Bewüsstsein der Bedeutung der That und 
ihrer Gefährlichkeit : nicht selten auch sind sie imitatorisch 
entstanden, geweckt durch das Sehen von Feuersbrtinsten. 

Der Schwachsinnige: Wir haben den Schwachsinn 
als eine Mittelstufe zwischen dem Blöd- und Vollsinnigen 
bezeichnet und gefunden, dass seine Merkmale gegenüber 
dem Ersteren in der Möglichkeit der Bildung abstrakter 
von dem sinnlichen Elemente losgelöster Vorstellungen 
(Begriffe) bestehen, die aber nicht den Umfang, die Deut- 
lichkeit und Reichhaltigkeit wie beim Letzteren besitzen. 
Während gegenüber dem Blödsinnigen ein durchgreifender 
qualitativer Unterschied in Inhalt und Artung des Seelen- 
lebens sich so bemerklich macht, findet sich nur ein quan- 
titativer gegenüber der Sphäre des Vollsinnigen und es ist 
ersichtlich, wie mannigfach hier die Uebergänge sein müs- 
sen, wie schwierig die Bestimmung der Gränze, wo der 
pathologische Schwachsinn in die aus blosser Dummheit, 
mangelhafter Erziehung resultirende Unwissenheit und Be- 
schränktheit des Vollsinnigen übergeht. 



92 Psychische Entwicklungshemmungen. 

Deshalb sind Untersuchungen bezüglich der Leistungs- 
fähigkeit vermuthlich Schwachsinniger, oft die schwierig- 
sten gerichtsärztlichen Aufgaben, und eine theoretische 
Darstellung muss darauf verzichten, alle die individuell so 
verschiedenen Gradationen zu zeichnen und auf eine all- 
gemeine mehr die tieferen Stufen berücksichtigende Dar- 
stellung sich beschränken. 

Schon die Sinnesthätigkeit weist Defekte nach gegen- 
über der des Vollsinnigen. Die Aufnahme der Eindrücke 
ist eine langsamere beim Schwachsinnigen, und viele Sin- 
neswahrnehmungen entgehen ihm. Nothwendig ergibt sich 
daraus ein geringerer ßeichthum an Vorstellungen und 
auch die sinnlich aufgenommenen werden nicht so voll- 
kommen verwerthet, wie beim Vollsinnigen, indem Associa- 
tion und Reproduktion träger und lückenhaft ablaufen. 

Die Bildung tibersinnlicher Begriffe und Urtheile leidet 
damit Noth, und das Urtheil in übersinnlichen Dingen ist 
einseitig, unklar und durch fremde Autorität stark beein- 
flusst. Der Schwachsinnige ist leichtgläubig, wird leicht 
düpirt, hat keine eigene Meinung, sondern stützt sich auf 
die Anderer. Das innere Wesen, die feineren Beziehungen 
der Dinge entgehen ihm, und ebenso unfähig ist er, falls 
er wirklich einmal die Pointe der Sache erfasst hat, sie 
mit dem richtigen Wort zu bezeichnen. 

Sein Sprachschatz ist immer arm, sobald es sich um 
übersinnliche Dinge handelt, während er in der ihm ad- 
äquaten sinnlichen Sphäre sich genügend auszudrücken 
vermag. Der dem Vollsinnigen innewohnende Drang, Grund 
und Wesen der Dinge und der mit ihnen geschehenden 
Veränderungen zu erforschen, fehlt ihm fast gänzlich, er 
nimmt die Dinge, wie sie sind. Ein höheres geistiges 
Interesse, ein zielvolles Streben ist ihm fremd; in der Be- 
friedigung der gewöhnlichen materiellen Bedürfnisse des 
Lebens geht sein ganzes Dasein auf, er hat keine Zeit 
noch weniger Lust sich mit etwas Abstraktem zu beschäf- 
tigen, das ihn langweilt und ihn unverhältnissmässige 



Schwachsinn. 93 

Anstrengung kostet. Dieselbe Unzulänglichkeit wie auf 
intellektuellem zeigt sich auch auf ethischem Gebiet. Der 
Schwachsinnige ist nothwendig Egoist und überschätzt 
vielfach seine Person und Leistungen, wodurch er den Spott 
der Anderen herausfordert und sich zur Zielscheibe ihres 
Witzes macht, wie dies meist in der Gesellschaft der Fall ist. 

Das Wohl und Wehe der Mitmenschen berührt ihn 
nicht, nur Benachtheiligung der eigenen Persönlichkeit er- 
zeugt stürmische Affekte, die dann leicht die Gränze der 
Norm überschreiten. Seine freudigen Affekte gehen dann 
wohl in tolle Ausgelassenheit über, seine depressiven in 
Wuth oder in Verwirrung, die namentlich leicht aus dem 
Affekt der Furcht erfolgt und in kopfloses Entsetzen aus- 
artet. Der Schwachsinnige kann ein brauchbares Glied 
der Gesellschaft sein, insofern er eine eingelernte gewohnte 
Beschäftigung gut, ja wenn sie eine rein* mechanische ist, 
noch besser als ein Vollsinniger verrichtet, eben weil er 
seine ganze Aufmerksamkeit ihr zuwendet und durch Nichts 
abgelenkt wird, aber diese Leistung verrichtet er maschi- 
nenmässig, ohne im Stande zu sein, sie zu ändern, etwas 
Neues zu combiniren und zu produciren. 

Er hat keine eigenen und neuen Ideen, sondern zehrt 
von dem dürftigen Vorrath an Kenntnissen und Erfah- 
rungen, die er sich mühsam erworben hat. Nothwendig 
fehlt ihm damit die Spontaneität, Aktivität, das plan- und 
zielvolle Streben des Vollsinnigen; ein geringfügiges Hinder- 
niss genügt, um ihn ausser Fassung zu bringen, indem er 
es nicht zu überwältigen vermag, und bei seiner Unselbstän- 
digkeit bedarf es oft blos eines einfachen Abrathens, um 
den Erfolg seiner Willenäbestrebungen zu vereiteln und 
diesen ein andres Ziel zu geben. Wegen dieser Leicht- 
bestimmbarkeit sind aber solche Schwachsinnige auch durch 
Drohung, Einschüchterung, Autorität Anderer zu den schwer- 
sten Verbrechen zu bringen und werden nicht selten gefügige 
Werkzeuge in der Hand perverser Verbrechernaturen. 

Höhere ästhetische, moralische Urtheile und Begriffe 



94 Psychische Entwicklungshemmungen. 

sind kaum vorhanden, vielfach ebensowenig da als Ab- 
straktionsvermögen und ein wirklich planvolles Streben. 
An ihre Stelle treten blos mnemonisch erworbene und 
automatisch reproducirte moralische Urtheile Anderer; fast 
alle religiösen ästhetischen rechtlichen Begriffe sind somit 
nur .Gedächtnissleistungen und Schulreminiscenzen. 

Immerhin kann das Rechts- und Pflichtgefühl ziem- 
lich gut entwickelt sein, nie ist es aber so tief auf ethische 
und abstrakte Begriffe gebaut wie beim Vollsinnigen und 
mehr eine halbbewusste Regung und Eingebung des Ge- 
wissens. Schon der physiognomische Ausdruck verräth 
in ausgeprägten Fällen, welch' Geistes Kind der Schwach- 
sinnige ist. 

Die Zurechnungsftthigkeit der Blödsinnigen ist auf- 
gehoben, schon einfach aus dem Grund, weil übersinnliche 
Begriffe, abstrakte Urtheile ästhetischen moralischen, recht- 
lichen Inhalts hier nicht möglich sind. Eine Verkennung 
und falsche Beurtheilung ist kaum möglich, leider aber 
oft genug schon vorgekommen von Seiten von Aerzten, 
die sich durch einzelne Fertigkeiten und intellektuelle 
Leistungen blenden und zu unrichtigen Rückschlüssen auf 
die Gesammtleistungsfähigkeit verleiten Hessen. Schwerer 
ist die Beurtheilung des Defekts bei gewissen Schwach- 
sinnigen. Es gibt deren, die im gewöhnlichen Lebens- 
kreis ganz gut zurecht kommen und selbst im Stand sind, 
in bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen auf eigenen 
Füssen zu stehen. Kommen aber aussergewöhnliche Lebens- 
lagen, oder versuchen sie in schwachsinniger Selbstüber- 
schätzung sich einmal über ihre Sphäre zu erheben, so 
erleiden sie jämmerlich Schiffbruch und dokumentiren zur 
Genüge die Insuffizienz ihrer Leistungsfähigkeit. 

Nicht alle Schwachsinnigen können als unzurechnungs- 
fähig bezeichnet werden. In dem Mass als ihr Rechts- 
bewusstsein entwickelt und ein wenn auch dürftiger Charakter 
vorhanden ist, sind sie einer rechtlichen Verantwortlichkeit 
fähig, wobei aber nicht zu vergessen ist, dass der Charakter 



Taubstummheit. 95 

schwach, die Ueberschauuag der rechtlichen Bedeutung der 
That und ihrer möglichen Folgen beschränkt ist, die sitt- 
lichen und rechtlichen Gefühle gering entwickelt sind, viel- 
fach auch die sinnlichen Antriebe, namentlich der Ge- 
schlechtstrieb, excessiv hervortreten, jedenfalls im Missver- 
hältniss zu den schwachen sittlichen Gegenmotiven stehen» 
Zudem sind die Associationen, überhaupt der ganze Vor- 
stellungsgang träge und die Gegenmotive treten verlang- 
samt und verspätet ein, so dass das Ich leicht vom An- 
trieb überrumpelt und zur That gedrängt wird, bevor jene 
Zeit haben sich Geltung zu verschaffen. 

Wenn wir im Allgemeinen beim Schwachsinnigen eine 
verminderte rechtliche Verantwortlichkeit annehmen kön- 
nen, so dürfte diese vollends auf ein Minimum, wenn nicht 
auf Null sinken, sobald auf dem Boden des Schwachsinns- 
ein Affekt sich entwickelt und ein strafbares Handeln ver- 
anlasst. Die schwachen sittlichen Correktive treten in 
solchem Fall gar nicht oder zu spät ein. 

Der Taubstumme. Vgl. Deutsches Strafgesetz § 58, 
Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz § 188, Deutsche St.P.O. 
§ 63, Abs. 2 und 3 § 298, Oesterr. St.P.O. § 164. Die 
Oesterr. Entwürfe wollen durch den Zusatz (Entw. HL 
§ 57): krankhafte Hemmung der Geistesthätigkeit — die 
besonderen Bestimmungen über „ Taubstumme* entbehrlich 
machen (Mot.). 

Zur Ausbildung der geistigen Anlage ist die Laut- 
sprache das wichtigste Förderungsmittel. Sie kann .aller- 
dings durch Zeichen- und Schriftsprache einigermassen er- 
setzt werden, aber die volle Klarheit des Gedankens und 
Begriffs wird dadurch niemals erreichbar sein, abgesehen 
von der erschwerten Gedankenmittheilung, die auf diese 
Surrogate der Lautsprache verwiesen ist. 

In dieser Lage befindet sich der Taubstumme, bei 
welchem, bevor die Sprache erlernt oder der Sprachschatz, 
gefestigt war, unheilbare Taubheit eingetreten ist und die 
wichtigste Eingangspforte für die geistige Entwicklung ver- 



96 Psychische Entwicklungshemmungen. 

schlössen hat. Bleibt der Taubstumme sich selbst über- 
lassen, so ist er funktionell dem Blödsinnigen gleichzusetzen, 
wird er Gegenstand einer Erziehung durch Zeichen-, Lippen-, 
Schriftsprache, so vermag er eine beachtenswerthe, der des 
Vollsinnigen nahestehende Stufe der geistigen Entwicklung 
zu erreichen. 

Die Höhe der geistigen Entwicklung, welche der Taub- 
stumme erreicht, ist eine sehr variable, je nach Art und 
Dauer der Erziehung und nach der geistigen individuellen 
Anlage. Es verdient Beachtung, dass die Ursache der 
Taubstummheit häufig nicht im Ohr, sondern in Erkran- 
kungen des Gehirns liegt, die geeignet sind die Fortent- 
wicklung desselben zugleich organisch zu stören und dass 
neben der Dürftigkeit und Erschwerung des geistigen Er- 
werbs auch eine Schwäche der geistigen Anlage zugleich 
mit dem Gehör- und Sprachdefekt bestehen kann. 

Unter diesen Umständen ist es mit Bezug auf die 
Frage der Zurechnungsfähigkeit Taubstummer geboten, 
dass der Gesetzgeber auf deren Geistesfahigkeit Bedacht 
nimmt. Das Deutsche St.G.B. § 58 bestimmt, dass ein 
Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbar- 
keit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche 
Einsicht nicht besass, freizusprechen ist. Dieselben Ge- 
sichtspunkte und Bedenken ergeben sich somit hier wie 
beim Unmündigen, nicht minder muss die Beurtheilung des 
Unterscheidungs Vermögens denselben Regeln, wie sie beim 
Unmündigen und beim Schwachsinnigen geltend gemacht 
wurden, folgen. 

Die gesetzgeberische Bestimmung hat das Gute, dass 
sie den Richter veranlasst, den Geisteszustand des Taub- 
stummen in besondere Erwägung zu ziehen. Da die in- 
tellektuelle Ausbildung bei diesen Unglücklichen sehr ver- 
schiedene Stufen aufweist, kann der Fall nur ganz concret 
beurtheilt werden. Bei dem Umstand, dass der Taub- 
stumme niemals die volle Höhe der Geistesentwicklung des 
Vollsinnigen erreicht, muss das Leiden als solches einen 



Psychische Entartungen. 97 

gewichtigen Milderungsgrund in foro abgeben, selbst wenn 
das Unterscheidungsvermögen als genügend ausgebildet 
befunden werden sollte. Die Verschuldung wird in dem 
Masse sich vermindern, als die geistige Ausbildung gering 
ist und allenfalls Anhaltspunkte für eine gleichzeitige Ver- 
kümmerung der Hirnentwicklung sich ergeben. Die Ver- 
antwortlichkeit eines ohne Unterricht aufgewachsenen oder 
ohne Erfolg eines solchen theilhaftig gewesenen Taub- 
stummen, ermittelt aus dem Kriterium des Unterschei- 
dungsvermögens, ist Null und ein solcher dem Blödsinnigen 
gleich zu erachten. Nie kann und soll in foro eine Prä- 
sumption für die Zurechnungsföhigkeit eines Taubstummen 
gehegt werden. Es ist nicht zu übersehen, dass trotz des 
schon vorhandenen intellektuellen Moments des Unterschei- 
dungsvermögens die zweite Grundbedingung der Zurechnungs- 
fahigkeit — das Vermögen der Selbstbestimmung mangeln 
kann, z. B. durch concurrirende Affekte, durch complicirende 
Gemüthskrankheit. Die Ermittlung des Geisteszustands hat 
beim Taubstummen mit der Schwierigkeit eines geistigen 
Verkehrs zu kämpfen. Die Verwerthung der Zeichen- 
sprache ist eine unsichere, bedarf eines Taubstummen- 
lehrers als Dolmetsch (Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz 
§ 188), sollte aber nicht vernachlässigt werden, selbst da 
wo der Gebrauch der Schriftsprache möglich ist. Je con- 
creter und klarer die Fragestellung ist, um so eher ist von 
der Exploration ein befriedigender Erfolg zu gewärtigen. 



n. Die psychischen Entartungen. 

Neben den psychischen Entwicklungshemmungen und im 
Uebergang von diesen zu den Geisteskrankheiten finden sich 
individuell äusserst verschiedenartige Zustände krankhaft ge- 
störter Geistesthätigkeit, die das gemeinsame Merkmal auf- 
weisen, dass bei ihnen die höchsten geistigen Funktionen 
verkümmert oder auch in perverser Erscheinungsweise sich 

y. K rafft- Eb in g, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 7 



98 Psychische Entartungen. 

darstellen. Diese eigenartige Abweichung von der Norm 
des Fühlens, Vorstellens und Strebens lässt sich als psy- 
chische Entartung (in funktionellem Sinn) der psychischen 
«Entwicklungshemmung einer- und der psychischen Krank- 
heit andrerseits gegenüberstellen. 

Diese psychischen Entartungen haben mit den Ent- 
wicklungshemmungen das gemeinsam , dass die organische 
Ursache der Entartung in der Zeit des sich noch ent- 
wickelnden Gehirns zur Wirkung gelangt und der weiteren 
Entwicklung des Seelenlebens eine krankhafte Richtung 
vorzeichnet. 

Aber diese schädigenden organischen Einflüsse sind 
nicht so gewaltig, dass sie die weitere Entwicklung des 
Geistes hemmen. Sie lassen allerdings nicht die intellek- 
tuelle Seite desselben intakt, jedoch nicht sowohl im Sinn 
eines sofort greifbaren Schwach- oder Blödsinns, als viel- 
mehr im Sinn einer funktionellen Schwäche der höchsten 
geistigen Centren, deren Leistung sich als Vernunft, ethische 
Anschauung, höheres Streben kurz bezeichnen lässt. 

Das formale Denken, das Schliessen und Urtheilen ist 
bei diesen Menschen im Allgemeinen richtig und unver- 
sehrt, aber die Bildung höherer sittlicher und vernünftiger 
Grund- und Weltanschauungen, als Leitmotive eines ziel- 
vollen Strebens gelingt nicht und damit erhebt sich das 
Individuum nicht zur Höhe eines selbständigen Charakters 
mit klarer Einsicht in den Werth, die Bedeutung und 
Pflichten des individuellen Lebens in der Gesellschaft. 

Die praktischen Folgen dieser Verkümmerung in den 
höchsten geistigen Funktionen sind geistige Unselbständig- 
keit bis zur Unfähigkeit, sich eine sociale Stellung zu er- 
ringen und in derselben zu behaupten, Unfähigkeit, den 
aus der individuellen Natur sich entwickelnden unsittlichen 
Regungen und Leidenschaften zum eigenen und gesellschaft- 
lichen Besten hinreichenden Widerstand zu leisten, Unfähig- 
keit zu einem energievollen zielbewussten Denken und Stre- 
ben, mit mangelhafter Einsicht in die Bedeutung und den 



Allgemeine Kennzeichen. 99 

Werth der Mittel z. B. des Geldes für die Erreichung 
höherer Lebensziele. 

Der auf der Oberfläche der individuellen Erscheinung 
haftende Blick sieht in derartigen Existenzen den Vaga- 
bunden, Verschwender, sittlichen Schwächling, der in das 
Wesen derselben eindringende Beurtheiler erkennt in dieser 
mangelhaften oder selbst unsittlichen Lebensführung die 
nothwendigen Consequenzen einer funktionellen Schwäche 
der höchsten geistigen Funktionen, deren Gradabstufungen 
sich bis zu den ausgesprochenen Zuständen der Imbecillität 
herab erstrecken und den Uebergang zu den Schwach- 
sinnigen der vorigen Gruppe darstellen. 

Von den eigentlichen Geisteskrankheiten als erwor- 
benen Krankheitszuständen eines vollentwickelten und bisher 
normal funktionirenden Gehirns unterscheiden sich diese 
psychischen Entartungen ausser der in der Zeit des sich 
erst entwickelnden Gehirns bereits zu Tage getretenen 
und stabilen Störung dadurch, dass hier nicht sowohl die 
intellektuelle Seite des Seelenlebens (Wahnideen, Sinnes- 
täuschungen) als vielmehr die ethischen Beziehungen, das 
Triebleben, überhaupt der Charakter vorwiegend eine Ab- 
weichung von der Norm zeigen. Aber auch hier sind 
die Uebergänge fliessend, indem viele dieser Entartungs- 
zustände, als organische Belastungserscheinungen, die Grund- 
lage bilden, auf welcher sich, oft langsam und unvermerkt, 
aber auch plötzlich, Irresein in vorübergehender Erschei- 
nungsweise oder auch als dauerndes und endliches Krank- 
heitsbild entwickelt. 

In diesen Zuständen von Entartung ist somit der in- 
nerste Kern der geistigen Persönlichkeit und zwar noch 
in der Zeit ihrer Entwicklung getroffen. Der Charakter, 
d. h. die ganze habituelle Gefühls-, Anschauungs-, Denk- 
und Handlungsweise nimmt eine andere, jedenfalls patho- 
logische Richtung. „Non sentiunt, non agunt, non ratioc- 
cinanturut caeterisanae mentis homines a (Zacchias). Unzählig 
sind, je nach individueller Organisation und daraus sich er- 



JOO Psychische Entartungen. 

gebender vorherrschender Triebrichtung, Anschauungsweise, 
die speciellen Aeusserungsweisen dieser Entartungszustände. 
Sie können sich unter dem Bild der Excentricität und zwar 
wieder in religiöser, politischer, artistischer, literarischer 
Richtung, entäussern, aber ebenso gut in Form lasterhafter, 
verbrecherischer Lebensführung, sittlicher und gemüthlicher 
Verschrobenheit, socialer Unverträglichkeit und Unerträg- 
lichkeit, häuslicher Tyrannei etc. 

Die Bedeutung dieser organischen Belastungs- und 
Entartungsphänomene in den höchsten Sphären des geistigen 
Lebens ist keine geringe, insofern derartige Menschen in der 
Gesellschaft viel häufiger vorkommen als die eigentlichen 
Geisteskranken, als sie bei der Schwäche ihrer ethischen 
und vernünftigen Leitmotive, ihren sinnlichen egoistischen 
und damit* vielfach unsittlichen Antrieben leicht erliegen und 
die Strafgesetze verletzen, wobei ihre Belastung und Entartung 
ihnen in der Bemessung ihrer Verschuldung billigerweise 
gutgeschrieben werden muss. Dazu kommt der Umstand, 
dass diese Entartungszustände unendlich schwieriger zu er- 
kennen und zu beurtheilen sind als die eigentlichen Geistes- 
krankheiten, weil auch rein äussere Momente, wie z. B. fehler- 
hafte Erziehung, analoge Defekt- und Entartungserschei- 
nungen bedingen, weil der abnorme Geisteszustand sich 
nicht scharf von einer bisher gesunden Lebensperiode ab- 
hebt, Wahnideen und Sinnestäuschungen in der Regel fehlen, 
die Charakter- und speciell ethische Verkümmerung als 
einfache Immoralität ohne alle krankhafte Grundlage um 
so leichter imponirt, als eine leidliche Intelligenz mit for= 
mal richtigem Urtheilen und Schliessen ihr gegenüber steht 
upd sie deckt. 

Unmöglich können diese schweren Funktionsstörungen 
in den höchsten Gebieten des geistigen Lebens bedeutungslos 
für die Frage der Zurechnungsfähigkeit sein, deren Be- 
dingungen ja gerade die Integrität dieser höchsten Funk- 
tionsleistungen sind. Sie stellen, soweit sie Ausfalls- oder 
Belastungs erscheinungen im geistigen Mechanismus bilden, 



Allgemeine Kennzeichen. 101 

gewichtige, die Schuldfrage mildernde Momente dar, die 
eine den Menschen nicht abstrakt und wie er sein sollte, 
sondern concret und wie er ist beurtheilende Justiz nicht 
ignoriren darf. Aber diesen Zuständen gegenüber erweist 
sich der einfache gesunde Menschenverstand zu ihrer Er- 
kennung gänzlich ungenügend, selbst die ärztliche Wissen- 
schaft vermag nur den concreten Fall bezüglich der Schwere 
und des Umfangs der Entartungssymptome zu klären, die 
allgemeine Diagnose auf das Bestehen einer krankhaften 
Störung der Geistesthätigkeit zu machen, ohne das Gewicht 
dieser Thatsachen für die Frage der Willensfreiheit oder 
Zurechnungsfahigkeit entscheiden zu können. Diese schwie- 
rigste aller Fragen muss dem Richter überlassen bleiben. 

Für die Sicherheit der Rechtspflege ist es entschei- 
dend, dass die ärztliche Wissenschaft den Nachweis einer 
organischen Begründung der fehlenden oder perversen 
Funktionen zu liefern vermag und damit den Unterschied 
von der durch Erziehung und andere nicht organische und 
darum zurechenbare Momente bedingten verkehrten und 
verbrecherischen Lebensführung begründet. 

Dann muss aber eine gerechte Justiz diese Resultate, 
so unbequem sie auch sein mögen, anerkennen und die 
Vagabunden, Verschwender, Excedenten, Querulanten, Ver- 
brecher für das nehmen was sie sind, für Unglückliche, 
deren Verschuldung mit anderem Mass gemessen werden 
muss als die nicht krankhafter weil nicht belasteter Menschen. 

Die entscheidenden Merkmale sind darin gegeben, dass 
das abnorme perverse Fühlen, Denken und Streben sich 
als ein durch organische Bedingungen gesetztes erweist, 
als Ausdruck einer abnormen Beschaffenheit des Gehirns, 
einer Hirnkrankheit. Es ifct fraglich, ob der Nachweis der- 
selben jemals in allen Fällen auf dem Sektionstisch ge- 
liefert werden wird. Zur Zeit entziehen sich die anato- 
mischen Bedingungen der Entartung noch der Leichen- 
diagnose, wenn von vereinzelten Befunden abgesehen wird. 
Der Begriff der Entartung kann nur in funktioneller Auf- 



102 Psychische Entartungen. 

fassung bestehen. Der Beweis kann nur aus den Störungen 
der Funktion in erster Linie, dann aus der ursächlichen 
Begründung dieser Zustände gewonnen werden. Der kli- 
nische funktionelle Beweis der Hirnkrankheit wird aber 
gewonnen dadurch: 

1. Dass vielfach bei solchen psychisch Entarteten Ueber- 
bleibsel von ursächlichen, in der Entwicklungsperiode des 
Gehirns eingetretenen Gehirnaffektionen nachweisbar sind 
— Schielen, Stottern, krampfhaftes Zucken der Gesichts- 
muskeln oder Lähmungen derselben, Pupillenveränderungen, 
Lähmungen und Schwund von Muskelgruppen einzelner 
Gliedmassen, Abnormitäten der Schädelentwicklung in Form 
von Wasserkopf, zu kleinem oder verschobenem Schädel, 
epileptische oder epilepsieartige Zufalle. 

2. Diese Störungen lassen sich oft zurückführen auf 
eine thatsächliche Hirnerkrankung, die mit Fieber, Con- 
vulsionen etc. in früher Kindheit auftrat, besonders häufig 
zur Zeit des Zahnens. 

3. Insofern schädigende Einflüsse schon in frühen Pe- 
rioden des Eilebens innerhalb des mütterlichen Organismus 
das Gehirn nicht selten trafen, kann Miss wachs einzelner 
Theile des Skelets und der Weichtheile bei solchen Ent- 
arteten nachweisbar sein (sog. anatomische Degenerations- 
zeichen), z. B. Disproportion der Entwicklung von Gehirn- 
und Gesichtsschädel, ungleiche Entwicklung der Gesichts- 
hälften, Anomalien der Entwicklung der Ohren, des Munds, 
des Gaumens, der Zähne, Misswachs der Glieder, der Ge- 
schlechtsorgane. 

4. Das Gehirn erweist sich schlecht constituirt in so- 
fern Reize, die bei der Mehrzahl der gut constituirten 
Menschen wirkungslos bleiben, bei solchen Entarteten zur 
Wirkung gelangen und eine ungewöhnliche heftige und aus- 
gebreitete Reaktion hervorbringen. 

Diese Resistenzschwäche des Gehirns zeigt sich viel- 
fach besonders deutlich bei selbst leichten fieberhaften Er- 
krankungen, ferner gegenüber Gemüthsbewegungen, Alkohol- 




Allgemeine Kennzeichen. 103 

genuss und gewissen Entwicklungszuständen des Körpers. 
Solche belastete Menschen deliriren ungewöhnlich leicht bei 
geringfügigen körperlichen Erkrankungen, sie gerathen bei 
geringfügigen Gemütsbewegungen in Affekte von krank- 
hafter Intensität und Dauer (s. u. pathologische Affekte), 
sie reagiren ungewöhnlich intensiv und entschieden abnorm 
auf Alkoholgenuss (s. u. pathologische Alkoholzustände) und 
verfallen in der Zeit der geschlechtlichen Entwicklung oder 
Rückbildung, in Schwangerschaft, Wochenbett etc. leicht 
in Nervenkrankheiten oder selbst Geisteskrankheiten oder 
schon früher vorhanden gewesene brechen zur Zeit dieser 
physiologischen Lebensvorgänge wieder aus. 

5. Auch abgesehen von ausgesprochenen dauernden 
Nervenkrankheiten finden sich bei solchen Belasteten als 
dauernde Anomalie vielfach grosse nervöse Erregbarkeit, 
mannigfache abnorme Reaktionen auf klimatische Einwir- 
kungen, besondere Nahrungsmittel, auf äussere psychische 
Eindrücke (Idiosynkrasien). 

Die meist angeborene funktionelle Schwäche der Ner- 
vencentren disponirt solche nervöse Menschen zum Genuss 
geistiger Getränke als eines vorübergehend die Nervosität 
angenehm beeinflussenden Reiz- und Genussmittels und 
unter dem deletären Einfluss des Alkoholgiftes entwickeln 
sich dann auf dem Boden der organischen Belastung die 
schwersten Zustände psychischer Entartung. 

6. Die geistig-körperliche Entwicklung derartiger Indi- 
viduen ist vielfach eine abnorm frühe oder verspätete. 

7. Häufig ist der Geschlechtstrieb ein krankhafter in 
sofern er a) ganz fehlt, womit dann in der Regel ein De- 
fekt ethischer socialer Gefühle verbunden ist; b) indem er 
abnorm stark bis zu zeitweisem brunstartigem Auftreten 
sich zeigt, vielfach auch abnorm früh c) oder pervers. Hier 
kann der Geschlechtstrieb wieder auf Personen des anderen 
Geschlechts gerichtet sein, aber er drängt nicht zum Bei- 
schlaf als der natürlichen Befriedigung, sondern zu irgend 
welchen unzüchtigen Handlungen als Aequivalent des Bei- 



104 Psychische Entartungen. 

schlafs oder die geschlechtliche Brunst findet nicht im ge- 
schlechtlichen Akt Ziel und Befriedigung, sondern erst in 
der Tödtung und Verstümmlung des Opfers der Lüste 
bis zum Genuss von Theilen der Leiche. Dahin gehören 
auch seltene Fälle von Leichenschändung und gewisse von 
Sodomie. 

In anderen Fällen fehlt der Trieb zum anderen Ge- 
schlecht in Folge einer angeborenen Verkehrung der Ge- 
schlechtsempfindung. Die Individuen fühlen sich zu ge- 
schlechtlichem Verkehr mit Personen ihres eigenen Ge- 
schlechts hingezogen und verabscheuen geradezu den mit 
solchen des anderen Geschlechts (sog. conträre Sexual- 
empfindung). 

8. Ueberaus mannigfach sind die Abnormitäten der 
psychischen Funktionen bei diesen Entartungszuständen. 
Wahnideen lind Sinnestäuschungen sind nie oder höchstens 
gelegentlich affektartiger Zustände oder Uebergenusses 
von Spirituosen auffindbar, die formalen Denkprocesse voll- 
ziehen sich bei oberflächlicher Betrachtung normal und 
ein greifbarer Schwachsinn wird in der Regel vermisst. 

Damit erscheint für den oberflächlichen Beurtheiler 
die geistige Sphäre unversehrt und die allerdings auffällige 
unsittliche Lebensführung eine rein verbrecherische. Aber 
diese Annahme ist eine grobe Täuschung. 

Niemals ist die moralische Defektuosität eine isolirte 
Erscheinung. 

Immer geht sie mit anderweitigen Abnormitäten der 
höheren geistigen Processe Hand in Hand. Im einen Fall 
besteht sie im Mangel einer zu einer geordneten Lebens- 
führung und sicheren Lebensstellung erforderlichen Er- 
kenntniss der Mittel und Ziele, in einer auffalligen Willens- 
und Charakterschwäche, Unfähigkeit egoistischen und un- 
sittlichen Impulsen Widerstand zu leisten, selbst wenn der 
Verstand so weit reicht, um die Einsicht in das dem eigenen 
Interesse Zuwiderlaufende der Handlung zu erkennen. 

In einem andern Fall überrascht die Verschrobenheit 



Allgemeine Kennzeichen. 105 

der Gefühle, Anschauungen, Neigungen, die Ueberspannt- 
heit, Leidenschaftlichkeit der Reaktionsweise, die Einseitig- 
keit gewisser Gedanken- und Willensrichtungen bei Stumpf- 
heit für viel näher liegende sociale Fragen und Pflichten, 
die Ungleichheit der geistigen Begabung bis zur partiellen 
Genialität in artistischer Hinsicht bei wahrer Imbecillität 
in Bezug auf ganz gewöhnliche Anlagen und Fähigkeiten, 
die Unstätigkeit des Wesens, die Ungleichheit der Hand- 
lungsweise in denselben Lagen zu verschiedenen Zeiten. 
Es finden sich eben bei solchen Menschen, wie ein bedeu- 
tender englischer Irrenarzt (Maudsley) hervorhebt, Eigen- 
tümlichkeiten im Denken, Fühlen und Handeln, die bei 
der ungeheueren Mehrzahl der übrigen Menschen nicht be- 
obachtet werden. Die Gedankenverbindungen sind unge- 
wöhnlich, die Gefühle abweichend, selbst pervers, die Hand- 
lungen erfolgen auf Motive, auf die Andere nicht oder nicht 
in gleicher Weise reagiren würden. Selten fehlt eine ab- 
norme Gemüthsreizbarkeit, häufig besteht ein grundloser 
Stimmungswechsel, ein beständiger Wechsel von depri- 
mirten und exaltirten Stimmungslagen. Zu einem anhal- 
tenden scharfen Denken sind solche Menschen unfähig, ihre 
Ideenassociation ist vielfach eine ganz sonderbare, ihre 
Fähigkeit, Eindrücke wiederzugeben, eine ungenaue. 

Nicht selten geschieht es, dass solche Menschen ganz 
unüberlegt handeln, d. h. ohne sich eines Motivs vor oder 
nachher bewusst zu sein. Solche „impulsive" Handlungen, 
oft ganz verkehrten, excentrischen, selbst unsittlichen Cha- 
rakters, können sogar in bestimmten Zeitintervallen und in 
genau derselben Weise wiederkehren. 

Die Haltlosigkeit, Verschrobenheit der Gefühle und 
Anschauungen, die geistige Unselbständigkeit dieser Leute, 
tritt, gleichwie beim Schwachsinnigen, im ruhigen Geleise 
des Alltagslebens vielleicht wenig hervor oder wird als 
blosse Excentricität, Originalität gedeutet. Kommen der- 
artige Individuen aber in Lebensconflikte, affektvolle Aus- 
nahmsstellungen u. dgl., dann zeigt sich ihre Verschroben- 



106 Psychische Entartungen. 

heit in absurden Motiven, kopflosen Handlungen. Ein 
treffliches Beispiel ist jener in Friedreich's Blättern 1879 
mitgetheilte Fall des Richters, der seine Frau im Todes- 
kampf nicht länger leiden zu sehen vermochte und erschoss. 

9. Das zweifelhafte Krankheitsbild ist dadurch motivirt, 
dass solche Individuen in der Regel von geistes- oder ner- 
venkranken, charakterologisch abnormen oder trunksüch- 
tigen Erzeugern abstammen oder dass schwere in der Kind- 
heit überstand ene Kopfverletzungen oder Hirnkrankheiten 
nachweisbar sind. In einzelnen dieser Fälle, wo die Ur- 
sache der psychischen Entartung eine erworbene war, ge- 
lang auch der Nachweis, dass die psychische Entartung 
von der Zeit der zur Geltung gelangten Ursache herdatirte. 

10. Die Geneigtheit derart Belasteter in ausgesprochene 
Geisteskrankheit zu verfallen, ist eine äusserst grosse. Sehr 
häufig geschieht dies in der Haft. Es besteht dann die 
Gefahr, dass die wirkliche Geistesstörung für eine simulirte 
gehalten wird, zumal da auf solch degenerativem Boden 
psychische Erkrankung von dem gewöhnlichen Bild abzu- 
weichen pflegt. 

Der Nachweis einer Anzahl dieser diagnostischen Zeichen 
mnss jeden Zweifel über das Bestehen eines psychischen 
Entartungszustands beseitigen. 

Bei der grossen individuellen Verschiedenheit der Be- 
lastungs- und Entartungszeichen kann eine allgemeine Formel 
für die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit nicht auf- 
gestellt werden. 

Bei blosser allgemeiner Verschrobenheit wird die 
Annahme mildernder Umstände im weitgehendsten Mass 
den Belastungsthatsachen gerecht werden. In Affekten 
und anderen psychischen Ausnahmezuständen können die 
Bedingungen der Zurechnungsfahigkeit jedenfalls gänz- 
lich verloren gehen. Es ist dann die schwierige Auf- 
gabe des Gerichtsarzts, nachzuweisen inwieweit die im- 
pulsiven Antriebe, perversen Gelüste, leidenschaftlichen 
Stimmungen, affektvollen Erregungen solcher Menschen mit 



Das moralische Irresein. 107 

krankhafter Stärke und organischer Nöthigung sich geltend 
machten. 

Da wo die Entartung temporär oder dauernd in aus- 
gesprochene Geisteskrankheit tibergegangen ist, wird die Auf- 
hebung der Zurechnungsfahigkeit keinem Zweifel begegnen. 
Als grell hervortretende Erscheinungsweisen psychischer 
Entartung verdienen das sog. moralische und impulsive 
Irresein besondere Erwähnung. 

1. Das moralische Irresein. 

Es gibt Individuen; .die, trotzdem dass sie mitten in 
dem Culturleben eines hochcivilisirten Volkes aufgewachsen 
sind, dennoch die Früchte dieses Culturlebens nicht assimilirt 
haben und zur Bildung sittlicher Gefühle, Vorstellungen, 
TJrtheile nicht gelangt sind. In der Ungezügeltheit ihrer ^y 
sinnlichen Triebe und egoistischen Gelüste stehen sie auf 
annähernd gleicher Stufe mit Wilden. In der That sind 
ihnen die Grundlagen, auf denen sich der moderne Cultur- 
und Rechtsstaat aufbaut, unfassbar, Recht und Sitte unver- 
ständlich und nichts anderes als lästige Schranken, die ihr 
Egoismus fortwährend zu durchbrechen geneigt ist, miss- 
achtend die natürlichsten und geheiligten Rechte des Ein- 
zelnen wie der Gesellschaft. 

Es gibt Fälle, wo der Defekt sittlicher Gefühle und 
Anschauungen sich aus mangelnder oder schlechter Er- 
ziehung erklärt, aber diesen stehen solche gegenüber, wo *-/ 
Erziehung und Beispiel tadellos waren und dennoch der 
moralische Sinn sich nicht entwickelte. Auffallig für den 
Psychologen ist, dass bei solchen Individuen vielfach schon 
in sehr frühem Lebensalter die schlechte Gesinnung und 
Bosheit hervortraten, zu einer Zeit wo von dem Einfluss 
bösen Beispiels noch nicht die Rede sein konnte. 

Das psychologische Räthsel findet seine Lösung in dem 
Nachweis, dass in derartigen Fällen von ungewöhnlich früh 
und grell zu Tage tretender Bösartigkeit der Gesinnung 



108 Psychische Entartungen. 

die Abstammung von irrsinnigen, nervenkranken oder trunk- 
J süchtigen Eltern vorliegt und mit der Annahme, dass die 

Unfähigkeit, das zu erwerben was integrirendes Moment 
im geistigen Dasein eines der Cultur und Erziehung 
des modernen Staats theilhaftig gewesenen Menschen sonst 
ist, eine funktionelle Schwäche oder Ausfallserscheinung 
eines inferior organisirten, degenerativen, belasteten Ge- 
hirns darstellt. 

Diese Annahme findet ihre Stütze darin, dass die 
ethischen Gefühle und Urtheile die höchsten geistigen 
Leistungen in der funktionellen Entwicklung des mensch- 
J liehen Gehirns sind und bei gewissen organischen Er- 
krankungen desselben oft lange schon geschwächt oder 
vernichtet erscheinen, bevor greifbare Störungen der Intel- 
ligenz auftreten. 

Jedenfalls ist die ethische Leistung des Menschen eine 
funktionelle Aeusserung seines Gehirns wie die des Ver- 
standes und der Ausfall dieser Leistung trotz gebotener 
Gelegenheit zu ihrer Erwerbung eine krankhafte Erschei- 
nung gleichwie ein Sinnesmangel. 

Der Mangel des moralischen Sinnes aus organischer 
defekter Anlage hat im socialen Leben des Culturstaats 
aber den gleichen praktischen Erfolg wie die mangelnde 
Weckung des moralischen Sinns durch defekte Erziehung 
oder wie die bewusste und willkürliche Aufgebung sittlicher 
Principien. Der Betreffende entbehrt der sittlichen Correk- 
tive seines Handelns, wird zum Verbrecher. Anders ist 
/ es mit seiner Verschuldung. Der durch Defekte seiner 
'■■ Hirnorganisation Unsittliche ist eine ganz andere Persön- 
lichkeit als der durch eigene Schuld unsittlich Gewordene. 
Jener ist nur dem Schein nach ein Verbrecher; er unter- 
scheidet sich von dem wirklichen geradeso wie der Schwach- 
sinnige von dem Dummen, welcher der Wohlthat einer 
Schule nicht theilhaftig wurde oder aus Faulheit die ihm 
gebotene Gelegenheit nicht benutzt hat. 

Die Wahrheit, dass es sittlichen Defekt aus krank- 



Das moralische Irresein. 109 

hafter Organisation des Gehirns gebe, hat schon Regio- 
montanus 1513 erkannt, insofern er behauptete, dass es 
boshafte, unsittliche Menschen gebe, die ihre Bosheit nicht 
aus sich selbst hätten und trotzdem von den Rechtsgelehrten 
gehängt würden. Was der Naturforscher des 16. Jahr- 
hunderts dem Einfluss der Gestirne (Geborensein im Zeichen 
der Venus) zuschrieb, sucht eine fortgeschrittene Zeit natur- 
wissenschaftlicher Aufklärung aus abnormen Organisations- 
verhältnissen des Menschen zu erklären. 

Ein Versuch in das Erscheinungsbild des krankhaft 
moralisch Entarteten einzudringen, ermittelt zunächst ein 
Fehlen moralischer Gefühle, Vorstellungen, Urtheile. Es 
gibt leichtere Fälle (moralischer Schwachsinn), wo zwar 
die sittlichen Urtheile und Anschauungen moralisch Voll- 
sinniger dem Individuum geläufig und abstrakt reproducirbar 
sind, aber sie bleiben von sittlichen Gefühlen unbetont und 
damit todte, für das eigene Handeln werthlose Vorstellungs- 
massen. 

Als schwerere Fälle (moralischer Blödsinn) sind die- 
jenigen anzusehen, wo nicht blos das ethische Gefühl 
mangelt, sondern auch die Intelligenz die rechtlichen und 
sittlichen Anschauungen Anderer nicht zu fassen vermag. 

Ein solcher Defektmensch vermag Bedeutung und 
Werth einer intendirten That nur aus ihrem Nutzen oder 
Schaden für das eigene Interesse zu beurtheilen und schöpft 
daraus Opportunitätsgründe für ihre sofortige Begehung 
oder Verschiebung in gelegenerer Zeit. 

Sitte und Gesetz sind solchen Menschen nur hem- 
mende lästige Schranken für die Befriedigung egoistischer 
Impulse, der Rechts- und Culturstaat erscheint ihrem sitt- 
lich blöden Auge nur als ein Polizeistaat, dessen catego- 
rischer Imperativ, wenn sie mit ihm in Conflikte gerathen, 
sie nur als Vexationen empfinden. Sie lehnen sich gegen 
ihn auf und gerathen in leidenschaftliche Erregungszustände. 
Bei ihrer sittlichen Idiotie kennt dann ihre Brutalität und 
Rücksichtslosigkeit keine Schranken. 



HO Psychische Entartungen. 

Der tiefeinschneidende Mangel des ethischen Sinnes 
macht solche Individuen unempfindlich für die Interessen 
und die Pflichten des socialen Lebens. Sie sind ebenso 
unempfindlich für sittliche Werthschätzung durch Andere. 
Eine nothwendige Consequenz ist der Mangel jeglicher 
Gewissensregung und Reue. Die schwerste Verletzung 
des Strafgesetzes erscheint ihnen nur als eine Uebertretung 
einer polizeilichen Vorschrift. Solche Entartete sind un- 
fähig sich im Rechts- und Culturstaat zu behaupten. Ihre 
Hand ist gegen Jedermann. Sie verfallen nothwendig einer 
Verbrecherlaufbahn, die, je nach wissenschaftlicher Er- 
kenntniss, welche die Gesellschaft solchen Unglücklichen 
gegenüber besitzt, mit dem Zucht- oder Irrenhause ab- 
schliesst. 

Sie finden dieses traurige Ende, nachdem sie schon 
als Kinder durch ihre Faulheit, Lügenhaftigkeit, Gemein- 
heit, monströse Grausamkeit gegen Altersgenossen, Thiere, 
der Schrecken der Eltern und Lehrer, als junge Leute bei 
ihrem Hang zu Unsittlichkeit, Prostitution, Vagabundiren, 
Verschwenden, Betrügen und Stehlen die Schande der 
Familien, die Plage der Gemeinden, der Polizei- und Justiz- 
behörden gewesen waren. 

Die wissenschaftliche Erfahrung vorgeschrittener ärzt- 
licher Forschung lautet dahin, dass der Mangel sittlicher 
Gefühle, wenn er auf psychologische äussere Momente 
einer mangel- oder fehlerhaften Erziehung nicht zurück- 
führbar ist, durch organische krankhafte innere Bedingungen 
seine Erklärung findet. 

Dieser Erkenntniss darf sich eine vorurtheilsfreie, ge- 
rechte und von metaphysischen Anschauungen befreite 
/Strafrechtspflege nicht mehr verschliessen. Sie muss in- 
f dividualisiren, nicht blos das Verbrechen, sondern auch den 
, Verbrecher würdigen. Sie darf nicht den Verbrecher aus 
defekter, vielleicht nachzuholender Erziehung mit dem 
Scheinverbrecher aus defekter und einer Ausgleichung un- 
zugänglichen Hirnanlage verwechseln. 



Das moralische Irresein. \\l 

Erfüllt sie diese Forderung, so wird sie die kost- 
spielige und mühsame Zucht und Erziehung des Strafhauses 
nicht an moralisch Unheilbare verschwenden, durch Miss- 
erfolge auf dem Gebiet des Strafvollzugs (bedingte Ent- 
lassung, Entlassung auf Widerruf etc.) und leidige Rück- 
falle nicht so häufig beunruhigt und abgeschreckt werden 
und durch lebenslange Verwahrung von moralisch irrsin- 
nigen Scheinverbrechern besser die vitalen und socialen 
Interessen der Gesammtheit wahren. 

Es ist für die Strafrechtspflege von äusserster Wich- 
tigkeit, dass die ärztliche Wissenschaft, welche die Lehre 
von einem moralischen Irresein aufstellt, auch im concreten 
Fall in der Lage sei, sicher die organisch-krankhafte Be- 
gründung eines moralischen Defekts nachzuweisen. Die 
rein psychologische Analyse des Falls, bezw. der gesunde 
Menschenverstand vermag diesen nur klinisch zu gewin- 
nenden Nachweis nicht zu liefern, er kann höchstens Ver- 
muthungen an die Hand geben. 

Solche müssen aber dem Richter daraus erwachsen, 
dass ein Individuum ungewöhnlich früh, nach Umständen 
ohne Verführung bösartig und als ein socialer Rebell er- 
schien, eine ungewöhnliche Bösartigkeit und Gefährlichkeit 
zeigte, selbst den Einflüssen des Straf hauses incorrigibel 
erschien, immer wieder rückfallig wurde, eine ausserordent- 
liche Perversität und Gefühlsrohheit in der Begehung von 
Unthaten bekundete, cynisch, reuelos als Angeschuldigter 
sich erwies. 

Jedenfalls sollte der schlechte Leumund nicht vorweg 
als Beweis für die verbrecherische Gesinnung und Zurech- 
nungsfähigkeit des Thäters genommen, sondern vielmehr 
aus einem von Kindsbeinen auf bösen Leumund eher eine 
Vermuthung im Sinn einer organisch belastenden Ursache 
der schlechten Lebensführung geschöpft werden. 

Aber alle die allgemein psychologischen Momente der 
Mächtigkeit, Absurdität, Perversität, Monstrosität der ver- 
brecherischen Antriebe, nicht minder die Unvorsichtigkeit, 



112 Psychische Entartungen. 

Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, mit der sie befriedigt, 
der Cynismus, mit dem sie bekannt werden, die Kaltblütig- 
keit und Reuelosigkeit solcher Menschen sind nicht ent- 
scheidend, da sie auch beim Gewohnheitsverbrecher aus 
defekter Erziehung und zurechenbarer Verkommenheit sich 
finden können. Nur die ärztliche Expertise kann hier 
Klarheit verschaffen. Leider wird sie viel zu selten an- 
geordnet und aus der Monstrosität und Perversität des Ver- 
brechers vorweg seine Zurechnungsfahigkeit vermuthet. 
So urtheilt das empörte sittliche Gefühl der Volksmasse, 
so darf aber nicht der kalt erwägende Verstand des Rechts- 
gelehrten urtheilen. Für die gerichtsärztliche Expertise liegt 
das Entscheidende der Aufgabe in der Zurückführung des 
ethischen Defekts auf einen Zustand psychischer Ent- 
artung. Jener bleibt vorläufig nur ein zweifelhaftes Sym- 
ptom, solange dieser Nachweis nicht geliefert ist. 

Die nächste Frage wird nach dem Vorhandensein 
gleichzeitiger intellektueller Defekte gerichtet sein. Kann 
moralisches Irresein als rein ethische Anomalie vorkommen, 
ohne dass zugleich Intelligenzstörungen beständen? 

Diese Annahme muss entschieden verneint werden. In 
vielen Fällen besteht ein greifbarer intellektueller Schwach- 
sinn; häufiger allerdings sind die niederen intellektuellen 
Funktionen, die Fähigkeit des Wahrnehmens, Schliessens, Ur- 
theilens unversehrt, aber nie fehlen Ausfallserscheinungen in 
den höchsten geistigen Leistungen, die man der „Vernunft* 
zuzuschreiben pflegt. Es fehlt die Einsicht in Zweck und 
Bedeutung des individuellen Lebens, Einsicht sogar in die 
Bedeutung der Mittel z. B. des Geldes, das solche geborene 
Verschwender sinnlos vergeuden, ohne für die dringendsten 
Lebensbedürfnisse vorzusprgen. Trotz aller Schlauheit und 
Ausdauer, wenn es sich um Befriedigung ihrer unsittlichen 
Impulse handelt, sind solche Entartete doch zu einem eigent- 
lichen Lebensberuf, zu einer geordneten Thätigkeit unfähig. 
Sie sind nicht blos unvernünftig, sondern auch unpraktisch, 
nicht blos einsichtslos für das Unsittliche, sondern auch 



Das moralische Irresein. H3 

für das positiv Verkehrte, ihren materiellen Interessen 
Schädliche ihres Thuns und Lassens. Arbeit, Broderwerb 
sind ihnen Gräuel, Vagabundiren, Prostitution, Bettel, 
Diebstahl ihr eigentlicher Beruf. Die trübsten Erfahrungen, 
welche sie im Leben machen, bleiben intellectuell unver- 
werthet, geschweige dass sie Gefühle der Reue als Anfang 
eines sittlichen Erkenntnissprocesses erwecken könnten, 
dem ihr sittlich blindes Auge verschlossen bleibt. 

Trotz dem formell logischen Denken, trotz Beweisen 
von instinktiver Schlauheit in ihren verbrecherischen Unter- 
nehmungen überrascht doch wieder das vielfach auffallige 
Ausserachtlassen der gewöhnlichsten Regeln der Klugheit. 
Dieser nur aus intellektueller Beschränktheit erklärbare 
Mangel an Voraussicht darf nicht als Kühnheit und Frech- 
heit einer perversen Verbrechernatur vorweg gedeutet wer- 
den. Bei vielen moralisch Irren zeigt ein tieferes Ein- 
dringen, wie mangelhaft auch ihre intellectuell e Bildungs- 
fähigkeit und Ausbildung, wie beschränkt ihr logisches Ur- 
theilen, wie einseitig und verschroben ihr Ideengang ist. 

Dazu kommt eine oft grell hervortretende formale 
Störung ihres Vorstellens — eine Schwäche der Repro- 
duktionstreue, die kaum Erlebtes in ganz entstellter Form 
wiedergibt und solche Individuen zu (geborenen) Lügnern 
wenigstens dem äusseren Schein nach macht. 

Die weitere Forschung hat im Einzelfall jene Kenn- 
zeichen zu ermitteln, die oben als für psychische Entartung 
überhaupt sprechend, namhaft gemacht wurden. Ganz be- 
sonders häufig und wichtig sind hier anatomische und funk- 
tionelle Entartungsphänomene, Intoleranz gegen Alkohol 
und demgemäss pathologische Alkoholreaktionszustände, 
krankhafte Gemüthsreizbarkeit und pathologische Affekte, 
Epilepsie und epilepsieartige Erscheinungen, hysterische 
Symptome, sporadische Symptomencomplexe von Geistes- 
störung, oft untermischt mit Simulationsversuchen, nament- 
lich wenn solche Individuen der Freiheit beraubt werden. 

Auch die unsittlichen Handlungen liefern manchen 

v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 8 



114 Psychische Entartungen. 

Fingerzeig für das Pathologische der Gesammtpersönlich- 
keit, insofern sie vielfach aus krankhaft gesteigerten, selbst 
perversen natürlichen Trieben, mit impulsivem Charakter 
und periodischer Wiederkehr auftreten. Die ätiologische 
Erforschung des Falles ermittelt die 'Abstammung von irr- 
sinnigen, trunksüchtigen, epileptischen, jedenfalls belasteten 
Erzeugern, Irresein und andere Belastungserscheinungen 
in der Blutsverwandtschaft und Nachkommenschaft, oder, 
in seltenen Fällen, Kopfverletzungen und andere Hirnin- 
sulte in frühen Jahren, von denen an der Charakter eine 
schlimme Richtung nahm und die Entwicklung des mora- 
lischen Sinnes zurückging. 

Das Schwergewicht dieser psychiatrischen Thatsachen 
wird keine spekulative Psychologie und Metaphysik zu er- 
schüttern vermögen. Die Anerkennung der psychischen 
Entartungszustände von Seiten der Strafrechtspflege kann 
nicht ausbleiben. 

Die Frage nach der rechtlichen Verantwortlichkeit 
solcher Defektmenschen ist eine schwierige. 

Im Allgemeinen kann eine solche für sie nicht ge- 
läugnet werden, denn sie besitzen eine formale Kenntniss 
des Rechts, sie zeigen Willkür des Handelns, insofern sie, 
ausgenommen bei sog. impulsiven Akten, aus Opportunitäts- 
gründen die Handlung begehen und unterlassen können. 
Aber das Recht erscheint ihrem sittlich blöden Auge nur 
als eine lästige Polizeivorschrift, der ganze Rechtsstaat nur 
als ein vexatorischer Polizeistaat, das schwerste Verbrechen 
höchstens als eine Uebertretung. Ihre Gegenmotive für 
eine intendirte Handlung schöpfen sie nicht aus sittlichen 
Vorstellungen, die gänzlich fehlen oder wenigstens uner- 
regbar durch Gefühle sind, sondern aus Opportunitäts- 
gründen der Befriedigung egoistischer Gelüste nach Mass- 
gabe günstiger Umstände für das Gelingen der intendirten 
Handlung. 

Will der Richter solche der Selbstführung und Selbst- 
controle aus Defekt der höchsten geistigen Funktionen bare 



Wohin mit den moralisch Irren? H5 

Menschen bestrafen, so könnte er es logischerweise nur 
insoweit thun, als er sie als Uebertreter polizeilicher Vor- 
schriften, nicht als Verbrecher trotz objektivem Thatbe- 
stand eines schweren Verbrechens strafte. Das geht nicht an 
nach dem Strafgesetz, aber auch nicht wegen der Interessen 
der Gesellschaft, die dauernd vor solchen gemeingefähr- 
lichen Entarteten durch lebenslängliche Internirung der- 
selben geschützt werden muss, der nicht gedient ist, wenn 
man die Straftaxen des Gesetzbuchs auf sie anwendet und 
sie nach abgesessener Strafe auf die Gesellschaft wieder 
loslässt. Die ärztliche Wissenschaft erweist die hohe Ge- 
meingefährlichkeit derartiger Menschen, zugleich aber auch 
die Incompetenz des Forums der Moral, indem sie den sitt- 
lichen Defekt auf organische Bedingungen zurückfuhrt, 
solche Unglückliche von den eigentlichen Verbrechern los- 
löst, für sie neben dauernder Verwahrung eine humane 
Behandlung fordert und eine Ehrenrettung an der mensch- 
lichen Gesellschaft vollbringt, die sich schaudernd und be- 
schämt von gewissen moralischen Scheinverbrechern aller 
Zeiten abwendet. 

Für die Entfernung aus der Gesellschaft und die Un- 
terbringung dieser Entarteten, voraussichtlich auf Lebens- 
dauer, muss durch asylartige Detentionsanstalten vorgesorgt 
werden, die ein Zwischending bilden zwischen der modernen 
Irren- und der Strafanstalt. 

Die letztere ist eine Ungerechtigkeit, denn diese Ent- 
arteten sind Verbrecher nur dem Scheine nach. Die Strafe 
kann sie nicht bessern oder heilen, sondern ihren psychisch 
abnormen Zustand nur verschlimmern und ihre Reaktions- 
weise auf die Zuchtmittel des Strafhauses führt zu patho- 
logischen Affekten, zu Geistesstörung, mindestens aber zu 
endlosen Unbotmässigkeiten und disciplinarischen Mass- 
regelungen, die die Beamten des Strafhauses von ihrem 
eigentlichen Beruf, moralisch besserungs- und heilungsfähige 
Verbrecher zu behandeln, abhalten und die Zwecke des 
kostspieligen Strafhauses illusorisch machen. Aber auch 



HG Psychische Entartungen. 

für die Unterbringung in gewöhnlichen, immer mehr den 
freien Verpflegsformen zustrebenden Irrenanstalten sind 
solche Entartete absolut ungeeignet. Man verschone jene 
mit solchen Individuen, wenn man nicht den wichtigen 
humanitären Zweck des Irrenhauses, seine Ruhe und Sicher- 
heit in Frage stellen will! Am Besten dürften für diese 
Unglücklichen die sog. Verbrecherasyle oder Irrenabthei- 
lungen der Gefängnisse (s. o.) sich eignen. 

2. Das impulsive Irresein. 

Bei belasteten psychisch entarteten Menschen können 
plötzlich, ohne intellektuelles Motiv, Antriebe zu strafbaren 
Handlungen auftreten, und mit solcher Stärke sich geltend 
machen, dass die triebartige Handlung unmittelbar, ohne 
dass eine Ueberlegung der Mittel und des Zwecks, der 
Bedeutung der Handlung und ihrer Folgen möglich wäre, 
erfolgt. Ein etwaiger Versuch des Kranken, dem blinden 
organischen Drang Widerstand zu leisten, ruft heftige be- 
klemmende Angst hervor und bildet einen weiteren Impuls 
zur Begehung. 

Kaum ist die That geschehen und die entlastende 
Wirkung auf das Bewusstsein hervorgebracht, so beurtheilt 
sie der Thäter nach ihrer ganzen Schwere. Er erschrickt, 
bereut und findet einigermassen Beruhigung darin, dass er 
seine That nicht gewollt, geplant hat, sondern zu ihr durch 
einen unerklärlichen inneren Zwang gedrängt war. Die 
That erscheint ihm als ein Verhängniss. Er zittert vor 
dem Gedanken einer Wiederholung und sinnt auf Mittel, 
Einsperrung, Binden u. s. w., um eine solche zu verhüten. 

Meist gehen der Katastrophe Vorboten des Sturmes 
in Form von Gemüthsbeklemmung, Gereiztheit, Gedrückt- 
heit, Aufgeregtheit vorher und setzen derartige Unglück- 
liche dann in den Stand Warnuhgsrufe zu geben, Vor- 
kehrungen für die Sicherheit des eigenen oder fremden 
Lebens noch zu treffen. 



Das impulsive Irresein. H7 

Ein logisches intellektuelles Motiv sucht der Kranke 
wie der Beurtheiler vergebens. Die That entsprang nicht 
der Sphäre des bewussten Seelenlebens, sondern der Tiefe 
des unbewussten. Ihre auslösenden Bedingungen waren 
mächtig und plötzlich sich geltend machende Stimmungen, 
organische Gefühle, Triebe, die sich zur treibenden Vor- 
stellung verdichteten. Dies« kann die Bedeutung einer 
Zwangsvorstellung bekommen oder auch zur imperativen 
Hallucination werden. 

Die triebartige Handlung kann auf Mord, Selbstmord, 
Brandstiftung, Befriedigung der Geschlechtslust gerichtet 
sein. Ganz besonders häufig treten solche impulsive Vor- 
gänge in physiologischen Lebensphasen solcher Menschen 
auf, in der Pubertät, zur Zeit der Periode, in der Schwanger- 
schaft, im Wochenbett. Die Thatsache eines impulsiven 
Handlungsirreseins muss die Rechtspflege anerkennen. Ein 
unverdächtiges und zutreffendes Beispiel für die Gewalt 
derartiger Impulse stellt der Selbstmord dar, dessen uner- 
wartete weil unmotivirte Ausführung bei solchen Entartungs- 
zuständen dem Irrenarzt geläufig ist. 

Die Justiz hat ein begreifliches Interesse daran, dass 
die Lehre von einem impulsiven Handeln nicht an die 
Stelle der früheren bedenklichen Lehre von den Mono- 
manien („monomania instinctiva a ) trete. 

Die heutige Wissenschaft bietet eine sichere Garantie 
vor dieser Gefahr, indem sie ein impulsives Handeln nur 
als Symptom eines Zustands krankhafter Störung der 
Geistesthätigkeit kennt und im concreten Fall das Bestehen 
eines solchen erweist, gerade wie sie den Mangel mora- 
lischer Gefühle und Correktive nur dann als krankhaft 
bezeichnet, wenn er Theilerscheinung eines psychopathischen 
Zustands ist. 

Die frühere Lehre der Monomanie beging den Grund- 
fehler, dass sie die That zum Ausgangspunkt der Be- 
urtheilung machte, aus ihrer Monstrosität, Unmotivirt- 
heit Schlüsse zog, statt die That bis zu ihren Wur- 



118 Geisteskrankheiten. 

zeln zu verfolgen und als krankhaftes Symptom zu er- 
weisen. 

Nur dann wenn der impulsive Akt als Theilerscheinung 
eines psychopathischen Zustands nachgewiesen ist, kann 
die Justiz berechtigt und verpflichtet sein, die Zurechnungs- 
fähigkeit des Handelnden in Betracht zu ziehen. 

Die allgemeinen Kennzeichen psychischer Entartungs- 
zustände wurden oben besprochen. Sie müssen die Grundlage 
des ärztlichen Gutachtens sein. Die impulsive That kann 
und darf nur die Bedeutung eines Einzelsymptoms haben. 

Weitere überzeugende Gründe für das Pathologische 
der That werden sich dann für den Richter aus ihrem 
Mechanismus, aus der Perversion der zum Handeln treiben- 
den organischen Gefühle, aus der Grausamkeit, Rücksichts- 
losigkeit der Ausführungsweise, ihrer Wiederkehr unter 
denselben äusseren oder inneren somatischen Bedingungen 
ergeben. 



DI. Die Geisteskrankheiten. 

Unter den Zuständen krankhafter Störung der Geistes- 
funktionen als Aufhebungsgründen der Zurechnungsfahig- 
keit nehmen die Geisteskrankheiten im engern Sinn, d. h. 
Krankheitszustände des entwickelten Gehirns, mit vorwal- 
tenden psychischen Symptomen, mit zeitlich begränztem und 
typischem, vorwiegend chronischem Verlauf, eine hervor- 
ragende Stellung ein. Seitdem die Gesetzgebung davon 
Abstand genommen hat, besondere Formen von Geistes- 
krankheit namhaft zu machen, hat die Terminologie keinen 
grossen Werth mehr für das Forum. Eine Eintheilung 
der Geisteskrankheiten kommt eigentlich nur mehr in 
sofern in Betracht, als ihre Darstellung einer solchen zur 
Uebersicht bedarf. 

Prägnante Formen geistiger Erkrankung sind die 
Melancholie und die Manie, bei welchen in hervorragender 



Die Zurechnungsfähigkeit hier aufgehoben. H9 

Weise das Fühlen und Streben krankhaft afficirt sind, wes- 
halb man sie auch als „Gemüthskrankheiten" bezeichnen 
kann. Daran reiht sich der Wahnsinn, in welchem Wahn- 
ideen und Sinnestäuschungen im Vordergrund des Krank- 
heitsbilds stehen. Gelangen diese Zustände nicht zur 
Heilung, so entstehen Zustände geistiger Schwäche (secun- 
därer Schwachsinn — Blödsinn), die jedoch auch primär 
unter dem Einfluss tieferer Erkrankungen der Hirnrinde 
sich ausbilden können. Weitere wichtige Formen geistiger 
Störung sind die Irreseinszustände, welche sich bei Epilepsie, 
Hysterie und unter dem Einfluss der Ausschweifungen im 
Trinken entwickeln. 

Die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit bei ausge- 
bildeter Geisteskrankheit kann bei der tiefen Störung der 
geistigen Funktionen in diesen Zuständen und bei der 
Solidarität der Processe des Seelenlebens keinem Zweifel 
begegnen. Jedenfalls gibt es keine partielle Störung des 
Geisteslebens und damit auch keine partielle Zurechnungs- 
fähigkeit. Wo das Geistesleben nur partiell gestört scheint, 
darf man sich durch diesen Schein nicht täuschen lassen. 
In Wirklichkeit wird in solchen Fällen gerade nur ein 
Bruchstück der allgemeinen Störung entäussert. Mit Recht 
hat die Gesetzgebung davon Abstand genommen, das Ver- 
langen zu stellen, dass die Willensunfreiheit speciell mit 
Beziehung auf die vorliegende That nachzuweisen sei. Mag 
es auch Geisteskranke geben, die bis zu einem gewissen 
Grad sich noch selbst bestimmen können, so ist es in con- 
creto unmöglich, diesen etwaigen Rest von Vermögen zu 
taxiren und dem Irren zur Last zu schreiben. „Satis 
furiosus ipso furore punitur. a 

Eine ebenfalls aufgegebene Anschauung ist auch die, 
dass nur dann eine aus einem Wahn hervorgegangene 
That straflos sein solle, wenn die That, im Falle der Wahn 
Wirklichkeit wäre, gesetzlich erlaubt sein würde. Nach 
dieser Theorie wäre ein an Verfolgungswahn Leidender 
straflos, wenn er in vermeintlicher Nothwehr gegen einen 



120 Geisteskrankheiten. 

Angriff auf sein Leben einen Andren tödtet, nicht aber 
wenn er, blos um Ruhe vor vermeintlichen Beschimpfungen, 
Chicanen etc. zu bekommen, zum Mörder würde oder ein 
mit seinem Wahn gar nicht in Beziehung stehendes Ver- 
brechen beginge. 

Ein solches falsches Raisonnement beruht auf der 
Verwechslung der moralischen Zurechnung mit der ju- 
ridischen, psychologischen. Es muss der Criminaljustiz 
ganz gleichgültig sein, ob eine aus einer Wahnidee erfol- 
gende That moralisch zu rechtfertigen wäre, so bald nur 
nachgewiesen ist, dass ihr Motiv eine Wahnidee und diese 
Symptom einer Geisteskrankheit war. Es wäre übrigens 
bei dem allseitig gestörten Geistesleben eines Irrsinnigen 
misslich wenn nicht unmöglich jedesmal nachzuweisen, dass 
seine That mit seinem Wahnkreis in Verbindung stehe. 

Eines Tags wurde dem Verfasser ein früherer Pfleg- 
ling wieder zugeführt, der bei der ersten Aufnahme an 
Verfolgungswahn gelitten hatte. Er hatte auf offener 
Strasse in ostentativer Weise durch Schmähung der Person 
des Landesfürsten eine Majestätsbeleidigung begangen. Ein 
logischer Zusammenhang dieser mit dem früheren Wahn- 
kreis war nicht auffindbar, bis der Kranke mittheilte, er 
habe sich der aus dem seiner Wohnung benachbarten Brau- 
haus kommenden beschimpfenden Stimmen nicht mehr anders 
zu erwehren gewusst, als indem er eine strafbare Hand- 
lung beging und dadurch ins Gefängniss kam, wo er sicher 
vor jenen Stimmen und vor der verfolgenden Nachbar- 
schaft zu sein hoffte. 

1. Die Melancholie. 

Eine der wichtigsten Formen der Geistesstörung für 
das Forum stellt die Melancholie dar, insofern Delirien 
und Hallucinationen bei diesem ^Gemüthsirresein a gänz- 
lich fehlen können (Melancholia sine delirio) oder erst spät 
in das Krankheitsbild complicirend eintreten. Gleichwohl 



Die Melancholie. 121 

können aus krankhaften Aenderungen des Fühlens und 
Vorstellens die schwersten Gewaltthaten entstehen, in deren 
Begehung der Kranke trotz nach Umständen vorhandenem 
Strafbarkeitsbewusstsein dennoch der Willensfreiheit völlig 
verlustig war. 

Wie es dem Laien überhaupt häufig begegnet, dass 
er eine krankhafte Gemüths Verstimmung , wenn sie nur 
einigermassen mit einem äusseren schmerzlichen Anlass 
motivirt werden kann, mit einer noch physiologischen 
verwechselt, so geschieht es in foro nicht selten, dass man 
für blosen Affekt und Leidenschaft hält, was schwere, die Zu- 
rechnung aufhebende Krankheit ist, zumal, da die äusseren 
Erscheinungsweisen beider Zustände die gleichen sein kön- 
nen, die That eine sozusagen kritische Bedeutung gehabt 
hat und die Symptome der Krankheit vorläufig zurück- 
treten liess, der Kranke äusserlich besonnen handelte, ver- 
ständig spricht, die tiefe Störung in seinem Gemüthsleben 
zu verbergen oder zu motiviren vermag. 

Die Merkmale einer Melancholie sind eine schmerz- 
liche Verstimmung und eine Erschwerung im Ablauf der 
geistigen Funktionen als Ausdruck einer Gehirnerkrankung. 
Die Unmotivirtheit oder nicht genügende Motivirung der 
Verstimmung durch äussere Anlässe, die Hemmung der 
geistigen Processe in jeder Richtung und in gesetzmässiger 
Weise, begleitende körperliche Symptome gestörter Ernäh- 
rung, Verdauung, Blutcirculation etc. weisen zunächst auf 
das Krankhafte des Vorgangs hin. 

Das Gefühlsleben dieser Kranken ist tief verändert. 
Alle Vorgänge in der Aussenwelt wie im Innenleben wer- 
den schmerzhaft empfunden, das Verhalten des Bewusst- 
seins ist nach jeder Richtung ein schmerzliches. Damit 
ergeben sich geänderte Beziehungen zur Aussenwelt in der 
Gegenwart und der Vergangenheit. Der Kranke empfindet 
Alles wehmüthig und schmerzlich und zieht sich deshalb 
von den Menschen, von Beruf und Allem, was ihm sonst 
lieb und werth war, zurück. 



122 Geisteskrankheiten. 

Mit der Zeit erlöschen alle seine gemüthlichen Be- 
ziehungen. Er wird gemüthlos, gefühllos gegenüber seinen 
höchsten Interessen, ja es kann ihm vorkommen als ob die 
äussere Welt nur noch eine Scheinwelt sei. 

Das Denken des Kranken dreht sich nur um schmerz- 
liche Erinnerungen, trübe Anschauungen bezüglich der Zu- 
kunft. Das Wollen ist tief herabgesetzt, der Kranke fühlt 
sich leistungs- und entschliessungsunfähig durch die Hem- 
mung in seinem geistigen Mechanismus und empfindet die 
Hemmung seines Fühlens, Vorstellens, Strebens in pein- 
licher Weise. Dazu kommt ein körperliches Gefühl der 
Abgeschlagenheit, Unlust, Ermüdung, oft auch Schmerz- 
haftigkeit in einzelnen Nervenbahnen. Unter dem Einfluss 
all dieser hemmenden Gefühle kostet es den Kranken 
enorme Anstrengung nur noch die gewöhnlichsten Pflichten 
des Alltagslebens zu erfüllen. Er verweilt am liebsten im 
Bett, in stiller brütender Resignation über seine Lage. Auf 
Grund des Bewusstseins körperlicher und geistiger Leistungs- 
unfähigkeit ist sein Selbstvertrauen und Selbstgefühl tief 
herabgesetzt. Die Zukunft erscheint ihm hoffnungslos, er 
fühlt sich unfähig, den nöthigen Unterhalt für die Seinigen 
zu erwerben, erwartet Noth und Schande für sich und seine 
Familie in der Zukunft. Auch die Religion gewährt ihm 
keinen Trost mehr. Das Gebet bringt ihm keine Erleich-, 
terung, Gott hat ihn verlassen. Ihm steht nicht blos leib- 
licher Untergang sondern auch ewige Verdammung bevor. 
Der Kranke fängt an über seine Lage zu grübeln. Er 
vermag nicht zu erkennen, dass sie der Ausdruck einer 
Hirnerkrankung ist, er sucht und findet den Grund seiner 
Verstimmung in äusseren und psychologischen Momenten. 
Sein herabgesetztes Selbstgefühl lässt ihm seine Lage in 
früheren Fehlern, Sünden begründet erscheinen, daraus er- 
klärt sich ihm die vermeintliche Missachtung der Menschen, 
aus Vernachlässigung der Religion sein Verlassensein von 
Gott. Ein peinliches Gefühl der Beklemmung in der Herz- 
und Magengegend bis zu quälender Angst (Präcordialangst), 



Die Melancholie. 123 

wie sie nur ein von Furcht vor Entdeckung und von Ge- 
wissensbissen gefolterter Verbrecher besitzt, martert ihn be- 
ständig und sucht und findet Motivirung in früheren wenn 
auch leichten Fehlern. Er hält sich wirklich für einen Ver- 
brecher, dem endlich das Gewissen erwacht ist. Nun ist 
es um seine Ruhe geschehen. Er irrt herum, lebt in qual- 
vollen Erwartungsaffekten bevorstehender Entdeckung, Ver- 
haftung, Hinrichtung. Der Schlaf flieht ihn gänzlich. Das 
trostlose Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Gleichgültig- 
keit gegen alle Lebensbeziehungen, der Unfähigkeit klar 
zu denken, sich dem über ihn hereinbrechenden Verhäng- 
niss zu entziehen, ruft Verzweiflungsaffekte hervor. Finstere 
Gedanken, sich der trostlosen Lage durch Selbstmord zu 
entziehen, dadurch die Welt von einem Scheusal zu be- 
freien, Busse und Sühne für ein vermeintlich lasterhaftes 
Leben zu finden, tauchen auf, vorläufig noch im Gegen- 
gewicht gehalten durch die Furcht vor ewiger Strafe und 
dem göttlichen Gericht. Der an der Zukunft verzweifelnde 
Kranke empfindet den Drang, seinen Angehörigen Noth 
und Schande zu ersparen, indem er sie mordet und sich 
dann selbst aus der Welt »schafft. Er schaudert vor diesem 
Gedanken zurück, aber dieser gewinnt immer mehr an Zug- 
kraft. Er hat noch so viel Besonnenheit zu fliehen und 
herumzuirren. Es ist ihm zu Muth, dass die äussere Welt 
nur noch eine Schattenwelt sei, er allein zurückgeblieben. 
Er kommt sich vor wie der ewige Jude in der Sage, der 
nirgends Ruhe finden kann. Er fühlt sich namenlos ver- 
lassen, allein zurückgeblieben mit seinem entsetzlichen 
Jammer in der für ihn todten, abgestorbenen Welt. Die 
Hemmung seines Denkens verursacht ihm trostlose Gefühle 
der Langeweile, qualvoller geistiger Oede. Er fühlt den 
Stillstand seiner Gedanken, den Anfang einer schrecklichen 
Ewigkeit, in welcher Minuten Jahre bedeuten, er fühlt sich 
machtlos diesem Bann und bösen Zauber gegenüber. In 
seiner Verzweiflung steigt ihm der Gedanke auf, zu irgend 
einer rettenden That sich aufzuraffen, durch irgend eine 



124 Geisteskrankheiten. 

Handlung, sei sie Mord, Selbstmord, Brandstiftung, den 
Bann zu durchbrechen, sich die Ueberzeugung zu ver- 
schaffen, dass er noch existirt, dass es noch eine reale 
Welt gibt, den Versuch zu machen, die trostlose Oede zu 
unterbrechen, sich den Beweis zu liefern, dass er überhaupt 
noch etwas leisten, eine Aenderung der Situation schaffen 
kann. 

Einen sittlichen Gegenhalt vermag der in seinem Ge- 
müth empfindungslose Kranke gegenüber solchen Gedanken 
nicht zu gewinnen. Eine Steigerung des Affekts, des Angst- 
vorgangs in seiner Brust macht ihn zum Mörder, Brand- 
stifter. Er athmet erleichtert auf, denn die That hat den 
lösenden Einfluss auf seinen qualvollen Bewusstseinszustand, 
den er instinktiv anstrebte, gehabt. Er erscheint nun be- 
sonnen, ruhig und bleibt es bis die Krankheit wieder ihren 
Aufschwung nimmt. 

Zu jeder Zeit können beim Melancholischen forensisch 
weiter wichtige Complicationen auftreten und den Kranken 
zu schweren Gewaltthaten fortreissen. Das sind zunächst 
die sog. Zwangsvorstellungen und Zustände plötzlich auf- 
tretender Präcordialangst. 

Zwangsvorstellungen sind Ideen, die sich mit krank- 
hafter Intensität und Dauer im Bewusstsein behaupten im 
Gegensatz zum normalen Geistesleben, in welchem selbst 
die erschütterndsten Vorstellungen nach kurzer Zeit durch 
solche anderen Inhalts abgelöst werden und eine willkür- 
liche Verdrängung jener möglich ist. 

Unter diesen Bedingungen befindet sich der Melancho- 
lische bei seinem tief gestörten und gehemmten Vor- 
stellungsablauf nicht. Er vermag die irgendwie in seinem 
Bewusstsein aufgetauchten lästigen Gedanken nicht abzu- 
schütteln. Seine ohnedies schmerzliche Stimmung wird 
dadurch gesteigert, lebhafte Angstgefühle begleiten den 
Vorgang. Dazu kommt der peinliche Inhalt der Vorstel- 
lung. Es ist ihm z. B. beim Anblick eines Messers der 
Gedanke aufgetaucht, damit Weib und Kind zu erstechen, 



Die Melancholie. 125 

er hat eine Feuersbrunst gesehen oder von einem Mord 
gelesen und er kann den Gedanken nicht los werden, sein 
Haus anzuzünden, seinen Freund zu ermorden. Dieser 
Gedanke macht ihn schaudern, sein sittliches Gefühl em- 
pört sich dagegen. Er sucht sich zu zerstreuen. Bei seiner 
nervösen Erregbarkeit rufen die entferntesten Beziehungen 
den bösen Gedanken immer wieder hervor. Je länger und 
stärker der Gedanke sich geltend macht, um so mächtiger 
wird der Impuls, ihm Folge- zu leisten. Der Kranke flieht, 
beraubt sich der Mittel die Unthat zu begehen, er sinnt 
auf Selbstmord als äusserstes Mittel, das Verbrechen zu 
vermeiden. Er irrt ruhelos umher, der Schlaf flieht ihn 
und wenn er einschlummert, schreckt ihn der böse Gedanke 
wieder auf. Die Klemme seines Bewusstseins wird uner- 
träglich, er fühlt, dass er nur durch Ausführung des Im- 
pulses Ruhe bekommen kann; noch vermag er dem Sturm 
in seinem Innern einigermassen durch Gebet, Aufbietung 
aller rechtlichen und sittlichen Motive zu begegnen — da 
kommt ein Ausbruch von Verzweiflung, namenloser Angst 
und die Unthat ist geschehen. Solche Zwangsvorstellungen 
kommen gerade bei leichteren Fällen von Melancholie, bei 
Nervenkranken mit 'psychischer Verstimmung, wenn eine 
erbliche Veranlagung besteht, nicht so selten" vor und kön- 
nen bis zur Katastrophe unerkannt bleiben. 

Eine weitere Möglichkeit für Gewaltthaten bietet das 
Auftreten von Angstanfällen beim Melancholischen. Zu 
jeder Zeit und selbst beim ruhigsten und leichtesten Kran- 
ken kann man sich solcher versehen. Eine verzehrende 
innere Angst tiberfallt den Kranken, trübt seine Besin- 
nung, ruft schreckliche Vorstellungen allgemeinen und 
eigenen Untergangs hervor, nach Umständen selbst Sinnes- 
täuschungen. Der Kranke flihlt sich getrieben, seiner qual- 
vollen Angst und Spannung in irgend einer erleichternden 
That Lösung zu verschaffen. Er versucht dies, indem er 
sich den Kopf an den Wänden einrennen will, sich zum 
Fenster hinausstürzt, sich die Augen aus den Augenhöhlen 



126 Geisteskrankheiten. 

herauswühlt, um sich sticht, haut, sein Haus in Brand 
steckt u. s. w. 

Mit der geschehenen instinktiv angestrebten That ist 
die Lösung der psychischen Spannung erfolgt. Der Kranke 
athmet auf wie von einer Todesgefahr befreit und so ent- 
setzlich auch die befreiende That sein mag, er ist ruhig 
und befriedigt darüber, dass er wieder existiren kann. Im 
Verlauf des melancholischen Krankheitsbilds kommt es, 
namentlich auf der Höhe afFektartiger Aufregungszustände, 
leicht zu Sinnestäuschungen und Delirien. Der Kranke hört 
z. B. Stimmen, die ihm drohendes Unheil verkünden, die 
ihn zu Unthaten antreiben; die Personen der Umgebung er- 
scheinen ihm in fratzenhafter Gestalt, als Teufel, Gespenster, 
er sieht sich von Schergen, Teufeln umwogt, wird die Zu- 
rüstungen zu seiner Hinrichtung, Höllenfahrt gewahr. Er folgt 
dem Gebot der Stimmen, setzt sich verzweifelt zur Wehr. 
Im Verlauf der Krankheit bilden sich auch Wahnideen 
und damit entsteht die Möglichkeit einer tiefen Störung 
des Bewusstseins der eigenen Persönlichkeit (melancholischer 
Wahnsinn). Der aller menschlichen Gefühle verlustige, von 
Gott verlassene Kranke kommt sich z. B. wie- ein Teufel, 
ein Thier vor; im Gefühl seiner Un Würdigkeit erscheint 
er sich als ein Sünder und Verbrecher, im Bewusstsein 
seiner Leistungsunfahigkeit wähnt er sich ruinirt, ein Bettler 
und zwar durch eigne Schuld. Sein eigenes Bewusstsein 
drohender Gefahr überträgt sich auf die Lage der Ange- 
hörigen. Er wähnt sie ebenfalls mit dem Tode bedroht, 
hört, ihr Hülfegeschrei u. dgl. Selbstmord, um all dem 
Jammer zu entgehen, die Welt von einem solchen Ver- 
brecher zu befreien, Gewaltthaten gegen die feindlich ver- 
kannte Umgebung sind die leicht möglichen Consequenzen 
solcher Delirien. Die hohe Gemeingefährlichkeit der me- 
lancholischen Kranken ergibt sich aus dem Vorstehenden 
von selbst. Gewaltthaten können entstehen durch bis zur 
Unerträglichkeit gesteigerte schmerzhafte Gefühle und 
Zwangsvorstellungen, durch Angstaffekte, durch Wahn- 



Die Melancholie. 127 

ideen und Sinnestäuschungen. Bemerkenswerthe Fälle aus 
der ersteren Kategorie sind diejenigen, wo der Kranke aus 
den der Melancholie eigenthümlichen Entschlussunfähig- 
keit, aus Feigheit, oder aus religiösen Motiven (um sich 
noch mit dem Himmel zu versöhnen, bussfertig zu sterben) 
das ihm unerträglich gewordene Leben durch eine straf- 
bare todeswürdige Handlung zu verlieren sucht (indirecter 
Selbstmord). 

Die gleiche psychologische Bedeutung haben die Fälle 
wo der Melancholische Andere dingt um ihn aus der Welt 
zu schaffen, von Anderen begangener Verbrechen sich 
fälschlich anklagt, Verbrechen begeht um ins Zuchthaus zu 
kommen, nach dem er sich in seinem herabgesetzten Selbst- 
gefühl sehnt. 

Nicht minder wichtig sind die Mörder ihrer eigenen 
Kinder — aus Liebe und Noth, d. h. um sie im vermeintlich 
hoffnungslosen Kampf um's Dasein nicht untergehen zu 
lassen. 

Nur selten wird es sich hier um noch physiologischen 
Affekt, in der Regel um Melancholie handeln, weshalb die 
Untersuchung des Geisteszustands unerlässlich sein dürfte. 
Die Handlungsweise in Fällen, wo schmerzliches Fühlen 
oder Zwangsvorstellungen eine Gewaltthat herbeiführen, 
kann Kaltblütigkeit, richtige Wahl der Mittel aufweisen, 
ausser da wo ein heftiger Affekt im Augenblick der That 
die Besonnenheit trübte. Da wo eine Zwangsvorstellung 
eine That motivirte, tritt diese nicht unvermittelt ein, son- 
dern erst nach langem und mächtigem Ringen mit dem 
bösen Antrieb. Dadurch unterscheidet sich jener Vorgang 
von der verbrecherischen mit Willkür ausgeführten That. 
Nie verfolgt der Thäter egoistische Zwecke. Mit der 
consumirten That ist ja der Zweck derselben erreicht, der 
nie direkt auf dieselbe gerichtet ist, sondern die für ihn 
nur das Mittel bildet. Nie fehlt die Ernüchterung und 
psychische Befreiung, um derenwillen in der Regel die 
That begangen wurde. Nie fehlt auch die Reue, da ja 



128 Geisteskrankheiten. 

das intellektive und ethische Bewusstsein mit der Realisi- 
rung der keinen verbrecherischen sondern einen psycholo- 
gischen Selbsterhaltungszweck erfüllenden That wieder zur 
vollen Geltung kommt. Nicht minder ist beachtenswerth, 
dass die That den Interessen, dem ganzen ethischen und 
religiösen Bewusstsein entgegengesetzt ist und aller äusseren 
Motive entbehrt. 

Forensisch wird es sich zunächst darum handeln ob 
ein Affekt oder ob Melancholie vorlag. Die äussere Beson- 
nenheit und Ruhe, die solche Menschen bisher bewahrten, 
so dass Niemand ihr schweres Leiden ahnte und ihre düstere 
Stimmung, Reizbarkeit, Launen, Vernachlässigung früherer 
Rücksichten und Pflichten im Sinn früherer schmerzlicher 
Ereignisse erklärlich fand, darf nicht falsch gedeutet werden. 
Nicht isolirte psychologische Kriterien, sondern nur der 
klinische Nachweis der Krankheit sind hier entscheidend. 
Viel wichtiger für die Beurtheilung ist der Zustand vor 
der That als nach derselben, wo die Symptome der Melan- 
cholie durch den gleichsam kritischen, mächtig erschüttern- 
den Einfluss jener vorläufig verwischt sein können. 

Anscheinend geringfügige Thatsachen vor der Hand- 
lung können in ihrer Summation bedeutungsvoll werden:' 
so das Aufgeben der» gewohnten Lebensweise, Charakter- 
veränderung (Neigung zum Alkoholgenuss, zu religiösen 
Hebungen), Gedanken an Selbstmord, bezügliche Vorbe- 
reitungen, Testamentserrichtung, Mangel an Selbstvertrauen, 
Schlaflosigkeit, Klagen über körperliches Krankheitsgefühl, 
Störungen der Verdauung, Abmagerung, mit oft ausge- 
sprochener hypochondrischer Verstimmung. Doppelt wichtig 
sind solche Thatsachen, wenn sie bei erblich belasteten 
Nervenkranken, bei in der Pubertätsperiode befindlichen In- 
dividuen sich vorfinden. Hier kann die schmerzliche Ver- 
stimmung als Heimweh erscheinen und der Drang zu einer 
Gewaltthat aus dem schmerzlichen Fühlen, aus Zwangs- 
vorstellungen, Sinnestäuschungen (Visionen der Heimath, 
Stimmen rufender Verwandten etc.), Angstanfallen ent- 



Die Melancholie. 129 

stehen. Besonders häufig und aus dem Verlangen heim- 
zukommen motivirt, ist hier Brandstiftung. 

Die Zurechnungsfähigkeit ist selbst in diesen leichteren 
Fällen von Melancholia (sine delirio) aufgehoben, weil die 
sittlichen und rechtlichen Gegenmotive, wenn sie überhaupt 
ins Bewusstsein noch eintreten, keine Zugkraft mehr haben, 
durch das viel mächtigere schmerzliche Fühlen überwältigt 
werden und der freie Fluss gegensätzlicher Vorstellungen 
durch die Hemmung des Vorstellungsablaufs gestört ist. 
Da wo eine Gewaltthat im Angstanfall eines Melancho- 
lischen zu Stande kommt, ist das Handeln, entsprechend 
der afFekt vollen Störung des Bewusstseins, nie ein plan- 
volles, zweckmässiges, sondern ein blindes, gleichsam con- 
vulsivisches. Der grässliche Bewusstseinszustand bedingt 
einen gewissen Eclat, eine über jedes Ziel hinausschiessende 
Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit. Zeit, Ort, Mittel, 
Zeugen sind gleichgültig bei der Ausführung, das Objekt, 
an dem der Drang nach Entlastung befriedigt wird, ist ein 
zufälliges. Das Opfer wird oft nicht blos getödtet, sondern 
gräulich verstümmelt. Wie wenig es dem Thäter um die 
That als solche zu thun war, beweisen Fälle von Brand- 
• Stiftung, wo er eifrig löschen half. Nach der That erfolgt 
Reue, Selbstanzeige, zuweilen auch Selbstmord, wenn sie 
eine grässliche war. 

Die Zurechnungsfähigkeit ist hier aufgehoben. Die 
Handlung ist eine rein zwangsmässige Entäusserung eines 
unerträglich gewordenen Bewusstseinszustands , auf des- 
sen Höhe selbst das Bewusstsein der Handlung verloren 
gehen kann. 

Auch bei Gewaltthaten aus Wahnideen und Sinnes- 
täuschungen ist äussere Besonnenheit, Prämeditation mög- 
lich, sofern kein mächtiger Affekt vorhanden war. Tritt 
nach der That Ernüchterung und Einsicht für den Wahn 
ein, so wird auch die Reue nicht fehlen. Die Zurech- 
nungsfähigkeit fehlt hier, weil der Thäter aus pathologischen 
Bedingungen handelte, deren Einfluss er sich nicht zu ent- 

v. Krafft-Ebing, Crimlnalpsychologie. 2. Auflage. 9 



130 Geisteskrankheiten. 

ziehen, deren Unrichtigkeit er nicht zu erkennen vermochte,, 
wenn auch das Bewusstsein der Handlung und ihrer Folgen 
vorhanden war. Viele dieser Gewaltthaten haben die Be- 
deutung einer vermeintlichen Nothwehr. 

2. Die Manie (Tobsucht). 

Unter diesem Namen versteht die Psychiatrie eine 
Grundform psychischer Erkrankung, charakterisirt durch 
einen krankhaft erleichterten beschleunigten Ablauf der 
Vorgänge des geistigen Lebens, zugleich mit Steigerung 
der Funktionen desselben, namentlich im Gebiet des Trieb- 
lebens und der Gefühle. Vorherrschend pflegt dabei eine 
heitere Stimmung zu sein. Durch diesen Symptomen- 
complex stellt die Manie ein der Melancholie ziemlich 
gegensätzliches Krankheitsbild dar. Die Manie bietet 
mannigfache Gradstufen von leichteren Formen, in welchen 
der Kranke eher den Eindruck eines ausgelassenen oder 
weinwarmen Menschen macht als den eines Irrsinnigen 
(maniakalische Exaltation) bis zu solchen, wo Sinnestäu- 
schungen, Delirien (Grösse, Verfolgung) auftreten, das Be- 
wusstsein erheblich getrübt ist, ein durch krankhafte Vor- • 
gänge im Gehirn bedingter Drang zu ungezügelter Muskel- 
bewegung sich geltend macht und in Zerstören, Toben 
(„Tobsucht") seine Entäusserung findet. Während solche 
Zustände von Tobsucht natürlich keine zweifelhaften mehr 
sein können und etwaige criminelle Handlungen (Tödtung, 
Brandstiftung, Nothzucht, Widerstand gegen die öffentliche 
Gewalt u. dgl.) sofort ihre richtige Deutung finden, ist ea 
anders bei jenen leichteren und dennoch, wie sich ergeben 
wird, die Zurechnung völlig aufhebenden Zuständen mania- 
kalischer Exaltation. Dem Laien erscheint der Kranke, 
da er nicht delirirt, verständig; sein über gute Sitte und 
Interessen Anderer sich hinaussetzendes Gebahren als sträf- 
licher Leichtsinn, zumal da der Kranke es zu entschul- 
digen versucht ; seine ausgelassene übermüthige Stimmung 



Die Manie (Tobsucht). 131 

wird auf Rechnung einer Angetrunkenheit gesetzt, und 
so wandert der Vagabund, Dieb, Störer der öffentlichen 
Ruhe und des Anstands vorläufig ins Untersuchungs- 
gefängniss. 

Die Nonchalance, Unbotmässigkeit in Haft und Ver- 
hören wird für Frechheit gehalten und trägt dem Inhaf 
tirten Ordnungsstrafen ein. Auffallig ist nur, däss diese 
nichts fruchten, der Häftling nach wie vor auch ohne Ge- 
tränke in seiner ausgelassenen Laune verharrt, wenig 
schläft und die nächtliche Ruhe stört. 

Das erfahrene Auge des Sachverständigen erkennt in 
dem Spassmacher und Unruhestifter den maniäkalischen 
Kranken. 

Die Stimmung ist eine grundlos heitere und damit 
krankhafte. Das Selbstgefühl des Kranken ist ein ge- 
steigertes und daraus erklärt sich sein tibermüthiges Wesen. 
Er ist leicht verletzlich und deshalb kam er mit den Or- 
ganen des Gesetzes, mit den Leuten auf der Strasse und 
im Wirthshaus in Conflikt, wie er sich im Gefängniss mit 
Gefangnisswärtern, Mitgefangenen und Disciplin des Hauses 
nicht verträgt. 

Seine Laune, gelegentliche zornige Auftritte mit der 
Umgebung abgerechnet, ist eine heitere und wird auch 
durch seine Einsperrung nicht getrübt. Er ist nach wie 
vor ein Spassmacher, neckt die Umgebung, deren komische 
und schwache Seiten er gleich herausgefunden hat. Er ist 
begehrlich, anmassend, herrisch, cynisch, übermüthig, ge- 
sprächig, witzig, ironisch, unstet, zu Excessen aller Art 
geneigt. 

Bevor er inhaftirt wurde, hat er herumvagabundirt, 
gestohlen, gezecht, mit Gästen und Wirthen sich nicht 
vertragen, Personen des anderen Geschlechts gegenüber 
sich Unziemliches erlaubt, die nächtliche Ruhe gestört, Be- 
schädigungen in öffentlichen Anlagen begangen, Fenster 
eingeschlagen, die Sicherheitsorgane verhöhnt, sich der 
Verhaftung widersetzt. Vor dem Richter weiss er die in- 



132 Geisteskrankheiten. 

criminirenden Facta als harmlose Spässe hinzustellen oder, 
in die Enge getrieben, setzt er sie auf Rechnung einer 
Angetrunkenheit, der Provokation Seitens Dritter oder be- 
hauptet, sich derselben nicht mehr zu erinnern. 

Trotz aller Redegewandtheit und Beweise von Um- 
sicht ist der Betreffende gleichwohl ein Geisteskranker. 
Sein Gefühlsleben ist exaltirt, seine Triebe sind gestei- 
gert, sein Gedankengang krankhaft beschleunigt, seine Hand- 
lungen unüberlegt. 

Es fehlt ihm die Besonnenheit. Seine Auffassung der 
Beziehungen zur Aussenwelt ist eine verfälschte, insofern 
sie ihm im rosigsten Licht erscheint, und sein krankhaft 
gesteigertes Kraftgefühl ihn Schwierigkeiten, die seinem 
Wollen und Vollbringen entgegenstehen, nicht mehr wahr- 
nehmen lässt. Dadurch wird er kühn, unternehmungslustig. 
Sein Gedankenablauf ist so gesteigert, dass ein ruhiges Be- 
sinnen und Ueberlegen schon formal ihm nicht mehr mög- 
lich wird, aber auch die hemmenden, controlir enden, sitt- 
lichen und rechtlichen Motive der gesammten früheren 
Lebenserfahrung und Erziehung treten bei der Störung des 
Bewusstseins gar nicht mehr oder bei der Beschleunigung 
seines Vorstellens verspätet, d. h. erst nach geschehener 
Handlung ins Bewusstsein. Zudem sind seine sinnlichen 
Triebe und Begierden durch die Hirnkrankheit abnorm ge- 
steigert. Damit werden seine Handlungen zwangsmässig, 
triebartig und nicht mehr zurechenbar. 

Es gibt zahlreiche Fälle von maniakalischer Exaltation, 
wo im Anfang oder gegen Ende des Krankheitsanfalls die 
Anomalien des Fühlens und Vorstellens wenig ausgesprochen 
sind, dafür aber das Triebleben vorwiegt und Impulse zur 
Aneignung fremden Eigenthums, Drang zu geschlechtlicher 
Befriedigung die einzig markanten Erscheinungen des Krank- 
heitsbilds, wenigstens für den Laien, darstellen. Entspre- 
chende Handlungen des Kranken werden dann leicht falsch 
beurtheilt, wenn blos die Handlung und ihre unsittlichen 
Motive und der Umstand, dass der Kranke seine Hand- 



Manie in periodischer Wiederkehr. 133 

hingen zu beschönigen und verständig zu reden weiss, in 
Betracht gezogen werden. 

Abgesehen von den obgeschilderten Anomalien der 
Stimmung, dem Rededrang, dem auffälligen Abspringen 
der Gedanken vom Thema, der Unerschöpflichkeit des 
Redestroms, dem grossen Selbstgefühl, der Dreistigkeit, ja 
selbst Frechheit des Benehmens, sind auch die Handlungen 
derartiger Maniakalischer selbst für den aufmerksamen 
Laien auffällig dadurch, dass sie rücksichtslos sind, mit 
bezeichnender Hast und Unruhe ausgeführt, dass der Be- 
treffende nicht naheliegende Vortheile, die er aus seiner 
Unternehmung ziehen konnte, verfolgte, unbedacht und un- 
besonnen handelte, so dass die Entdeckung nicht ausbleiben 
konnte. 

Dazu kommt weiter die Erwägung, dass die Strebungen 
und das ganze Gebahren in grellem Widerspruch mit der 
früheren gesunden Persönlichkeit stehen, dass die Unruhe 
und Unstetigkeit bald zunimmt, bald abnimmt, der Schlaf 
gering ist oder selbst ganz fehlt. 

Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass solche 
Krankheitszustände nicht selten periodisch, d. h. in an- 
nähernd gleichen Zeiträumen wiederkehren, und dass dann 
dieselben Triebrichtungen (z. B. zum Uebergenuss geistiger 
Getränke — Dipsomanie) wiederkehren. Gerade hier können 
die begleitenden Erscheinungen des maniakalischen Krank- 
heitsbilds temporär sehr gering zu Tage treten. Die wieder- 
holte Begehung strafbarer Handlungen, z. B. Diebstähle, 
Unzuchtsvergehen in annähernd gleichen Zeitabschnitten, 
unter gleichen Modalitäten und in gleicher Ausführungs- 
weise können wichtige Fingerzeige werden. 

Die strafbaren Handlungen Maniakalischer sind theils 
durch Steigerung des Trieblebens (Unzuchtsvergehen, Weg- 
nahme von Nahrungsmitteln, Genussmitteln, wie Spirituosen, 
Tabak etc.), theils durch die gemüthliche Erregbarkeit und 
das gesteigerte Selbstgefühl (Raufhändel, Widerstand gegen 
die Sicherheitsorgane etc.), theils durch die übermüthige 



134 Geisteskrankheiten . 

Laune und den Drang nach Muskelbewegung (muthwillige 
Zerstörung von fremdem Eigenthum, Störung der öffent- 
lichen Ruhe, Vagabundiren u. dergl.) bedingt. Ausserdem 
sind bei der Achtlosigkeit derartiger Kranker fahrlässige 
Brandstiftungen und bei der Trübung ihres ethischen Be- 
wusstseins Religionsstörungen, Verletzung des öffentlichen 
Anstands, Zechprellereien u. dergl. möglich. 

Da wo die Manie in Form periodisch wiederkehrender 
Anfalle sich äussert, ist es nöthig, auch bei strafbaren Hand- 
lungen, die in dem Zwischenraum zweier Anfalle begangen 
wurden (intervallum lucidum), den Geisteszustand des Thä- 
ters sorgfaltig zu prüfen. 

Nur höchst selten und zwar bei noch nicht lange be- 
standener und in seltenen Anfallen sich äussernder Krank- 
heit werden die Bedingungen für die Annahme der Zu- 
rechnungsfähigkeit in diesem Intervall sich finden. Es ist 
wohl zu beachten, dass in diesen „lichten* Zwischenräumen 
zwar die Krankheit äusserlich schweigt, aber gleichwohl 
der krankhafte Zustand des Gehirns fortdauert, gerade so 
wie der Wechselfieberkranke, wenn der Fieberanfall vor- 
über ist, noch nicht als gesund betrachtet werden kann, 
dass ferner das periodische Irresein fast ausschliesslich bei 
belasteten Individuen (sog. Entartungszustände) vorkommt 
und schon nach wenigen Anfallen die höheren Geistesfunk- 
tionen (Schwachsinn) und der Charakter (Gemüthsreizbar- 
keit, verminderte Zugkraft der sittlichen Energie) zu leiden 
pflegen. Da zudem es vielfach unmöglich ist, das lucidum 
intervallum zeitlich scharf von den letzten bemerkbaren und 
den ersten wiederauftretenden Symptomen der Krankheit 
abzugränzen und den Einfluss des vorgängigen oder fol- 
genden Anfalls auf eine strafbare That auszuschliessen, 
dürfte es misslich sein, lucida intervalla im Criminalforum 
zur Geltung zu bringen und erst zu beweisen sein, dass 
Jemand, der nicht lange Zeit vor und nach einer That 
geistesgestört war, frei gehandelt habe. Endlich muss auf- 
merksam gemacht werden, dass es ein periodisches Irre- 



Wahnsinn, 135 

sein, bestehend im Wechsel maniakalischer und melancho- 
lischer Zeiten (circuläres Irresein), gibt und das melancho- 
lische Stadium der Krankheit für ein lucides irrthümlich 
gehalten werden könnte. 

3. Wahnsinn (Verrücktheit). 

Die Grunderscheinung in dieser häufigen und prak- 
tisch wichtigen Form des Irreseins bilden Wahnideen 
und Sinnestäuschungen. Dadurch ändern sich die Be- 
ziehungen des Individuums zur Aussen weit (Wahnsinn), 
ja die Persönlichkeit kann eine ganz andere werden (Ver- 
rücktheit). Dieser krankhafte Vorgang stört an und für 
sich nicht die Processe des Urtheilens und Schliessens. 
Auch der Wahnsinn hat seine Logik, aber die Prämissen 
sind falsche — gefälschte Sinnes Wahrnehmungen, Wahn- 
ideen. Daneben können ganz richtige Wahrnehmungen 
stattfinden, aber alle Vorgänge in der Aussenwelt haben 
mehr weniger eine Beziehung zum krankhaften Ideen- 
kreis, werden durch die Brille des Wahns wahrgenommen 
und entsprechend verarbeitet. Die früheren Kenntnisse 
und beruflichen Leistungen gehen nicht verloren, so dass 
solche Kranke oft noch lange ihrem Berufe vorstehen; die 
Beziehungen zu Familie und Gesellschaft erfahren im Sinne 
der geänderten Beziehungen zur Aussenwelt tiefere Störungen. 
Es kann in diesem eigenthümlichen Umwandlungsprocess 
der Persönlichkeit das ganze bisherige gesunde Leben mit 
seinen Eindrücken und Erfahrungen der Erinnerung des 
Kranken erscheinen, wie wenn es ein Anderer erfahren, 
wie wenn es der Kranke in einem Roman gelesen hätte. 
Während solche Kranke noch lange das besitzen, was man 
in landläufiger Weise mit „Verstand" bezeichnet und deni- 
gemäss wahrnehmen, urtheilen und schliessen können, sind 
ihre höheren geistigen Funktionen tief geschädigt. Ihre 
Logik und Kritik liegt darnieder und das Zeugniss aller 
bisherigen Lebenserfahrung ist wirkungslos gegenüber den 



136 Geisteskrankheiten. 

ihrem Bewusstsein sich aufdrängenden, wenn auch noch 
so absurden Wahnideen; ihre früheren geistigen Interessen 
sind verloren gegangen, ihr Gemüth und ethisches Fühlen 
sind abgestumpft. Nur der Wahnkreis vermag noch ge- 
müthliche Regungen hervorzurufen, die aber sehr affektvolle 
werden können, und zu Handlungen anzuregen. Dass bei 
solchen Kranken strafbare Handlungen nicht mehr zu- 
gerechnet werden können, da sie durch falsche Auffassung 
der Verhältnisse der Aussenwelt bedingt und vielfach von 
einer der früheren gesunden Persönlichkeit ganz fremden 
begangen werden, kann keinem Zweifel begegnen, auch 
da nicht, wo ein direkter Zusammenhang der That mit dem 
Wahnkreis nicht nachzuweisen ist. Die Schwierigkeit für 
den Laien und zuweilen auch für den Sachverständigen 
besteht nur darin zu erkennen, dass eine schwere, ja ge- 
wöhnlich unheilbare Geisteskrankheit vorliegt. 

Diese Schwierigkeit entsteht daraus, dass die Krank- 
heit sich in der Regel ganz allmählig und oft schon in 
frühen Jahren entwickelt und das sonderbare Benehmen 
des Kranken noch als Charakteranomalie, Excentricität 
gedeutet werden kann, zumal da der Kranke äusserlich 
besonnen ist, nicht oder nur gelegentlich Gemüthsauf- 
regungen zeigt, objektiv richtige Schlüsse und Urtheile 
macht, berufliche Leistungen noch zu erfüllen vermag, 
seine Wahnideen verheimlicht, aus solchen entspringende 
Handlungen zu entschuldigen vermag, seine Wahnideen 
an und für sich nicht immer den Stempel der Verrückt- 
heit an sich tragen (Verfolgungswahn, Wahn ehelicher 
Untreue). So geschieht es leicht, dass der Kranke für 
einen Bösewicht, Rabulist, Lügner, Fanatiker gehalten 
wird oder blos für einen verschrobenen, mit einer Schrulle 
behafteten Menschen, oder dass man im besten Fall zwar 
die jjfixe Idee a erkennt, aber durch das im Uebrigen be- 
sonnene, anscheinend vernünftige Wesen, den Schein der 
Vernunft für deren Wesen nimmt, solche Menschen für 
gesund bis auf ihre fixe Idee hält und darauf die aller 



VerfolgtiDgs Wahnsinn. 137 

wissenschaftlichen Erfahrung widerstreitende Irrlehre einer 
partiellen Zurechnungsfahigkeit gründet. 

Täuschungen über den Zustand der Kranken sind um 
so leichter möglich, als ihre Handlungen gerade so prä- 
meditirt erfolgen können wie die Geistesgesunder und ihre 
Motive, obwohl in Wahnideen wurzelnd, durchaus das Ge- 
präge des Affekts, der Leidenschaft, des Fanatismus be- 
sitzen können. 

Für den richterlichen Laien wird der Schwerpunkt 
der Beurtheilung des Falls in dem Nachweis von Wahn- 
ideen und Sinnestäuschungen im Gegensatz zu den Hand- 
lungen des Verbrechers, des Fanatikers, des Abergläubischen 
liegen. Der ärztliche Sachverständige hat den Beweis zu 
erbringen, dass diese Kriterien des Wahnsinns Theilsym- 
ptome eines Krankheitszustands sind, der wieder zurück- 
fuhrbar ist auf eine Hirnkrankheit. 

Als praktisch wichtige Formendes Wahnsinns ergeben 
sich der Verfolgungs- und der religiöse Wahnsinn. 

a) Der Verfolgungswahnsinn. 

Die Entstehung dieser Wahnsinnsform ist nur selten 
eine plötzliche, meist eine langsame unvermerkte. Sie ent- 
wickelt sich aus einer charakterologisch abnormen, ver- 
schlossenen, reizbaren, leutscheuen Persönlichkeit, die Sym- 
ptome von nervöser Erkrankung (Nervenschwäche, Hysterie, 
Hypochondrie) nlfeist schon seit Jahren darbot. 

Dem Auftreten der Wahnideen geht ein Monate bis 
Jahre dauerndes Stadium voraus, in welchem die Kranken 
sich im Verkehr mit der Aussenwelt blos zurückgesetzt 
und missachtet fühlen. Später beziehen sie harmlose Sätze 
in Zeitungen, Predigten u. dgl. in feindseliger Weise auf 
sich, halten das zufällige Ausweichen der Leute in Lokalen 
und auf der Strasse für ein absichtliches. Sie bemerken, 
dass die Leute ihnen verächtliche oder drohende Geberden 
machen, dass man vor ihnen ausspuckt, sie hören be- 



138 Geisteskrankheiten. 

leidigende oder lieblose Anspielungen aus den Gesprächen 
der Umgebung. Auf der Höhe der Krankheit hören sie 
Stimmen, die Verfolgungen, Complote enthüllen, den Kranken 
in gemeinster Weise beschimpfen. Je nach besonderer ver- 
anlassender Ursache der Krankheit (Onanie, Gebärmutter- 
leiden, Magendarmcatarrh u. s. w.) bilden sich Wahnideen 
der Vergiftung, schädlicher Beeinflussung mit geheimniss- 
vollen Maschinen, mit Elektricität, Magnetismus, giftigen 
Dunsten u. dgl. Körperliche Schmerzen, Betäubungs- und 
Druckgefühle im Kopf, Verdauungsbeschwerden werden im 
Sinn dieser Delirien gedeutet und zu ihrem Aufbau ver- 
werthet. Die Urheber dieser Verfolgungen werden in 
Familienangehörigen, Hausgenossen, Jesuiten, Socialdemo- 
kraten, den Organen der Polizei u. dgl. gesucht und ge- 
funden. Auf der Höhe der Krankheit werden fast alle 
Wahrnehmungen und Sensationen im Sinne des Wahns 
gedeutet. 

Trotz dieser peinlichen Bewusstseinszustände ist die 
Besonnenheit dieser Kranken oft noch lange erhalten. Nur 
gelegentlich kommt es zu Affekten. Auffällig ist das noch 
scheuere, misstrauische Wesen des Kranken, seine Gereizt- 
heit gegen die Umgebung. 

Im Anfang der Krankheit verhalten sich diese Un- 
glücklichen beobachtend, passiv, defensiv gegen die Ver- 
folgungen und Verfolger. Sie fliehen, wenn sie können, 
treffen Schutzmassregeln zur Rettung ihres Lebens, ihrer 
Ehre, Freiheit, versehen sich mit Waffen, (3-egengiften u. dgh 
Eines Tags reisst ihnen die Geduld. Sie stossen Drohungen 
gegen ihre vermeintlichen Feinde aus, wenden sich um 
Schutz und Rechtshülfe an Staatsanwalt, Gerichte, Polizei. 
Das sind Signale, dass der Kranke gemeingefährlich ge- 
worden ist. Von Polizei und Gerichten in ihren vitalen 
Interessen nicht geschützt, auf sich selbst angewiesen, 
schreiten sie zur Selbsthülfe. 

Neuerliche Schmerzen und Betäubungsgefühle bei der 
Mahlzeit, eine verdächtige Geberde, ein Hüsteln der Um- 



Verfolglingswahnsinn. 139 

gebung u. dgl. können dem Kranken eine vermeintlich 
drohende Lebensgefahr andeuten und ihn zu einem Handeln 
drängen. Er fällt in vermeintlicher Nothwehr über den 
eingebildeten Feind her und tödtet ihn. In anderen Fällen 
ist es vorgekommen, dass solche Kranke ein Verbrechen 
begingen, um im Gefangniss ein Asyl vor ihren Feinden 
zu finden. Nicht selten sind auch criminelle Handlungen, 
nur um vor Gericht Gehör zu erlangen und das schänd- 
liche Complot gegen« den Kranken an die Oeffentlichkeit 
zu bringen und durch Verurtheilung der Todfeinde Ruhe 
zu bekommen. Die Handlungen dieser Kranken haben das 
Gepräge unsittlicher und prämeditirter. Es handelt sich 
um scheinbare Akte der Rache, Eifersucht, Leidenschaft. 

Auffällig ist nur die Rücksichtslosigkeit des Angriffs* 
am hellen Tag, auf offener Strasse, vor Zeugen, die Be- 
friedigung über die gelungene That, die dem Kranken als 
ein Akt durch Nothwehr gebotener und erlaubter Selbst- 
hülfe erscheint. 

Obwohl diese Wahnsinnsform nicht gerade schwer er- 
kennbar ist, sind Verkennungen des Zustands und unge- 
rechte Verurtheilungen nicht selten. Eine der bemerkens- 
werthesten ist die in des Verf. Lehrb. d. ger. Psychopathol. 
Beob. 34 mitgetheilte, wo ein Kranker wegen Mord seines 
vermeintlichen Feindes zu lebenslänglichem Kerker ver- 
urtheilt, bald nach dem Urtheil einen weiteren Mord an 
einem Mitgefangenen, der ebenfalls für einen Verfolger 
gehalten wurde, beging. Nun erst erschien sein Geistes- 
zustand zweifelhaft und eine gerichtsärztliche Expertise con- 
statirte den seit Jahren bestehenden Verfolgungswahnsinn! 

Sicherheitsbehörden , Staatsanwälte , Untersuchungs- 
richter sollten solche Kranke mit ihren Klagen nicht ein- 
fach abweisen, sondern der Irrenanstalt übergeben, denn 
sobald der Kranke droht oder klagt, ist er gemeingefähr- 
lich geworden. Gar manche Unthat wäre dadurch ver- 
meidbar. Aber auch das Leben der Gerichtspersonen kann 
durch solche Kranke gefährdet sein, indem sie, da sie ihre 



1 40 Geisteskran kheiten. 

Klage bei Gericht nicht anbrachten, nun leicht wähnen, 
dass auch die Gerichtsbeamten im Complot mit ihren 
Feinden stehen und sich an Jenen vergreifen. 

Als eine besondere und für das Forum sehr wichtige 
Form des Verfolgungswahnsinns ist noch der als Queru- 
lanten- oder Processkrämerwahnsinn bezeichnete zu 
erwähnen. 

Es handelt sich um Leute, die wegen irgend eines 
Vergehens oder einer Civilklage vefurtheilt, sich nun im 
Recht und das Gericht im Unrecht glauben, und in dem 
schmerzlichen Affekt und der leidenschaftlichen Aufregung, 
die diese vermeintliche Kränkung ihrer Rechte verursacht 
hat, den Wahn der Verfolgung concipiren. Der aus diesem 
Wahn hervorgehende Drang, ihr Recht hergestellt zu sehen, 
steigert sich immer mehr, beherrscht ihr ganzes Fühlen, 
Vorstellen und Streben, und was Anfangs noch Leiden- 
schaft schien, wird immer mehr zur wirklichen psychischen 
Krankheit, die keine Einsicht, Correktur, keine Rücksicht 
und Vernunft mehr kennt. Mit einer wahnsinnig conse- 
quenten Halsstarrigkeit, mit unverschämter Frechheit be- 
streiten dann solche Menschen nicht blos die Gerechtigkeit, 
sondern sogar die Rechtskraft der gegen sie ergangenen 
Urtheile, rekurriren in unablässigen Beschwerden und Ein- 
gaben an alle Behörden und Instanzen, ja werfen sich nicht 
selten zu Rabulisten und Winkeladvokaten für Andere auf. 
Ueberall abgewiesen, werden sie schliesslich insolent und 
aggressiv gegen die Gerichtsbehörden, beschuldigen sie der 
Partheilichkeit, Unredlichkeit, erlauben sich Amtsehren- und 
Majestätsbeleidigungen, Vergewaltigungen an öffentlichen 
Beamten, Dienern der bewaffneten Macht, ja selbst Mord 
und Todtschlag. 

Lange werden gewöhnlich solche Fälle von den Laien 
verkannt, denn trotz aller Einsichtslosigkeit für das Thö- 
richte und Unziemliche ihres Gebahrens gebieten solche 
Kranke in der Regel über eine bewundernswerthe Dia- 
lektik und Rechtskenntniss und sind gewandte scharfsinnige 



Querulanten- Wahnsinn. 141 

Sachwalter ihrer eigenen nur leider auf einer wahnsinnigen 
Prämisse beruhenden Sache. Da sie natürlich, kaum be- 
straft, desselben Vergehens — meist Amtsehrenbeleidigung 
— sich wieder schuldig machen, erscheinen sie als ver- 
stockte Bösewichter, bei denen Erschwerungs- und Straf- 
schärfungsgründe vorliegen, während ihr unbeugsames Ver- 
halten doch nur die nothwendige Consequenz eines Wahn- 
sinnes ist. Werden sie endlich in Irrenanstalten internirt, 
so setzen sie in rabulistischer, raisonnirender, querulirender 
Weise den kleinen Krieg gegen Gesetz und Gesellschaft 
fort, und wenn sich je die Thore der Anstalt ihnen öfrhen, 
so haben sie ein neues Processobjekt, nämlich die angeb- 
liche widerrechtliche Freiheitsberaubung durch die Aerzte 
des Irrenhauses. 

Die Erkennung des Geisteszustands dieser Querulanten 
als eines krankhaften findet, zum Schaden der Justiz, die 
viel Zeit und Mühe mit Irrsinnigen verliert und in ihrer 
Würde verletzt wird, erfahrungsgemäss erst in vorgerückten 
Stadien der Krankheit statt. 

Bietet doch der angebliche Kranke dem Laien alle 
Kriterien eines geistesgesunden Zustands — logisches Denken 
und Urtheilen, überraschende Redegewandtheit, Kenntniss 
der Gesetze bis auf die kleinsten Details des gerichtlichen 
Verfahrens, leidenschaftliches unsittliches Gebahren u. s. w. 

Anders erscheint der Fall dem sachverständigen Auge. 

Das formell richtige Denken und Urtheilen erfolgt 
nach falschen Prämissen, es fehlt die Möglichkeit, die 
Falschheit der Vordersätze zu prüfen und zu erkennen, 
weil eine krankhafte leidenschaftliche Erregung ein ruhiges 
Ueberlegen hindert, eine mangelhafte Reproduktionstreue 
die Thatsachen entstellt im Bewusstsein widerspiegelt und 
eine verschrobene alogische Beziehung jener stattfindet. 
Dazu finden sich bedenkliche ethische Defekte, trotz aller 
Planmässigkeit und Umsicht in der Befriedigung des leiden- 
schaftlichen Drangs Recht zu bekommen ein völliger Mangel 
der vernünftigen Einsicht in die Erfolglosigkeit, Schädlich- 



142 Geisteskrankheiten. 

keit,. Widersinnigkeit des- Kampfes um das vermeintliche 
Recht. 

Dazu die Verbissenheit in Rede und Handlungen, die 
krankhafte Rechthaberei, Rabulistik und Wortklauberei, 
die Hast und der Zwang im ganzen Gebahren dieser 
Kranken, ihre Schreibsucht mit charakteristischer Wort- 
verdrehung und Unterstreichen von Kraftstellen, die Mass- 
losigkeit der Ausdrucks weise , die aller Kritik und übler 
Erfahrung gegenüber unerschütterliche Ueberzeugung vom 
wahnhaften Recht und widerfahrenen Unrecht bis zu aus- 
gesprochenem Verfolgungswahn, das krankhafte Misstrauen, 
das erhöhte Selbstgefühl bis zu deutlichen Ueberschätzungs- 
ideen, das Haschen nach Anlässen, um neue Objekte zum 
Processiren aufzufinden. 

Lässt eine derartige synthetische Erfassung des zweifel- 
haften Krankheitszustands keinen Zweifel mehr zu, so ver- 
dient noch ausserdem der Umstand Beachtung, dass eine 
solche Processlust nicht von ungefähr entsteht, sondern 
eine besondere psychische Prädisposition voraussetzt. 

Die dem Querulanten Wahnsinn anheimfallenden Men- 
schen sind durchweg belastete, meist erblich veranlagte 
Menschen, ethisch defekt, geistig beschränkt, originär ver- 
schroben, trotz allem Rechtsbewusstsein nie zu einer sitt- 
lichen Auffassung des Rechts gelangend, jähzornig, sich 
selbst überschätzend, brutale Rechthaber und unverträgliche 
Egoisten. Bei vielen besteht schon in frühen Jahren eine 
förmliche Processlust. 

Nur auf Grund solcher Charakteranomalien und Be- 
lastungserscheinungen ist es erklärlich, dass ein gering- 
fügiger Rechtsstreit, in welchem derart Belastete unter- 
legen sind, eine so schwere geistige Störung zur Folge 
haben kann. 

Unter allen Umständen ist beharrliches Queruliren vor 
Gericht ein Moment, das dem Gerichtsbeamten den Ver- 
dacht auf einen geisteskranken Zustand erwecken muss. 
Endlose Processe, Vernichtung des Wohlstands der Familie, 



Religiöser Wahnsinn. 143 

Störungen der öffentlichen Ordnung, Untergrabung der Ach- 
tung vor dem Gesetz und dessen Vertretern in gewissen Volks- 
klassen, ungerechte Verurtheilungen, blutige Gewaltthaten, 
denen selbst Richter zum Opfer fallen können, Hessen sich 
vermeiden, wenn schon früh die Richter den Geisteszustand 
solcher Processer untersuchen lassen würden und sich nicht 
durch deren formale Logik und Dialektik düpiren und zu 
nutzlosen, gefährlichen und ungerechten Massregelungen 
dieser Unglücklichen bestimmen Hessen. 

b) Der religiöse Wahnsinn. 

Der überhandnehmende religiöse Indifferentismus hat 
jene Zustände von religiösem Wahnsinn, die in vergangenen 
Jahrhunderten eine Rolle spielten, selten gemacht. Es sind 
heutzutage fast ausschliesslich geistig beschränkte, von 
Kindsbeinen auf verschrobene, religiös unrichtig beein- 
flusste, zuweilen auch epileptische Individuen, die dieser 
Form des Wahnsinns anheimfallen. Neben der religiösen 
Richtung des Gemüths findet sich in der Regel eine starke 
Sinnlichkeit in geschlechtlicher Beziehung und geschlecht- 
liche Excesse, namentlich Onanie, sind häufig die excitiren- 
den Momente, welche religiöse Ecstasen, Hallucinationen 
hervorrufen und damit den Grund zu Wahnideen (Messias, 
Prophet, Mutter Gottes etc.) legen. Solche Kranke sind 
höchst gemeingefährlich. Sie werden es durch ihren patho- 
logischen Fanatismus, von Gott empfangene Befehle (Hallu- 
cinationen), verrückte Auslegung von Bibelstellen. Reli- 
gionsstörung, Aufregung und Fanatisirung beschränkter und 
bigotter Mitglieder der Gesellschaft, Mord vermeintlich un- 
würdiger oder irrgläubiger Priester, Tödtung von Ange- 
hörigen, um sie der Freuden des Paradieses theilhaftig zu 
machen, sie vor Sünden zu bewahren, in Nachahmung 
Abrahams ein Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, sind 
naheliegende und bis in die neueste Zeit in den Annalen 
der Wissenschaft verzeichnete Unthaten solcher Wahn- 



144 Geisteskrankheiten. 

sinniger. Bei jeder Gewaltthat aus religiösen Motiven wird 
ein einsichtsvoller Richter den Geisteszustand bedenklich 
finden und untersuchen lassen. Die diagnostische Frage 
wird sich darum drehen, ob blos religiöser Fanatismus, der 
dann die Bedeutung eines mildernden Umstands verdienen 
dürfte oder unzurechnungsfähig machender Wahnsinn vorliegt. 
Entscheidend sind Wahnideen und Sinnestäuschungen. In 
der Regel sind sie die greifbaren Motive der That. Die 
Einsichtslosigkeit für deren Bedeutung, die Befriedigung 
des Thäters über deren Gelingen, Fortdauer von Sinnes- 
täuschungen, zeitweise wiederkehrende religiöse Exaltations- 
zustände, die alogische urverrückte Auslegung von Stellen 
der Bibel, Aeusserungen von Selbstkasteiung, Selbstver- 
stümmelungen (besonders an den Geschlechtsorganen) bis 
zu Versuchen der Selbstkreuzigung in majorem dei gloriam 
werden die letzten Zweifel über die Deutung des Zustands 
als eines krankhaften beseitigen. 

4. Erworbene geistige Schwächezustände. 

Sie sind theils Ausgänge nicht zur Heilung gelangter 
Melancholien, Manien, Wahnsinnszustände, theils begleitende 
Erscheinung von das Gehirn und seine Umhüllungen mit 
Einschluss der Gehirnrinde befallenden und zum allmähligen 
Schwund dieser führenden Ernährungs- und Blutlaufs- 
störungen bis zu ausgesprochenen Formen der chronischen 
Entzündung. 

Als Ursachen ergeben sich irgendwie entstandene acute 
Entzündungen der Gehirnhäute (z. B. nach Kopfverletzung, 
Sonnenstich), Entartung der Blutgefässe im höheren Alter 
und auf Grund von Ausschweifungen (namentlich im Trunk), 
sowie heerdartige Gehirnerkrankungen, z. B. blutiger Schlag- 
fluss. 

Das Krankheitsbild ist in derartigen Fällen primärer 
und organischer Hirnaffektion das eines fortschreitenden 
Blödsinns mit Lähmungserscheinungen und durch zeitweise 



Erworbene Schwächezustände. 145 

Blutlaufsstörungen und Reizvorgänge im Gehirn bedingten 
Aufregungszuständen. 

Die Ausgangszustände der Gemüthskrankheiten und 
Wahnsinnsformen sind solche sog. secundärer Verwirrtheit 
oder Verrücktheit oder des erworbenen Schwach- bis Blöd- 
sinns. 

Die Zustände secundärer Verwirrtheit charakterisiren 
sich durch Zerfall der bisherigen einheitlichen Persönlich- 
keit, durch Verlust der höheren psychischen Leistungen 
der Urtheilsbildung, der logischen Ideenverbindung, durch 
Verblassen der Wahnideen, Zurücktreten der Sinnestäu- 
schungen und Affekte. 

Zeitweise noch aufdämmernde Wahnideen, Sinnes- 
täuschungen, wiederkehrende Angstanfälle, maniakalische 
Erregungen können hier noch strafbare Handlungen her- 
beiführen. Die Erkennung der schweren geistigen Störung 
begegnet in solchen Fällen keinen Schwierigkeiten. Anders 
liegt die Sache da wo, oberflächlich betrachtet, nur gering- 
fügige Schwächungen der höchsten geistigen Funktionen 
Folgezustände einer überstandenen Geisteskrankheit oder 
Begleiterscheinungen einer anderweitigen Hirnkrankheit sind. 
Der anscheinend intakte Explorand ist doch nicht mehr 
die frühere geistige Persönlichkeit. Er vermag sich, gleich 
wie der originär Schwachsinnige zwar ganz gut in den alt- 
gewohnten Bahnen des früheren Lebens und Berufs zurecht- 
zufinden, aber es ist nicht mehr der geschickte, t strebsame 
Arbeiter und Geschäftsmann von ehedem. Sein Urtheil ist 
weniger klar und präcis, die Arbeit geht ihm nicht mehr 
so leicht von der Hand. Auch seine Empfindungsweise ist 
gegen früher verändert und stumpfer, seine Beziehungen 
zur Welt und dem von ihm früher Hoch- und Werth- 
gehaltenen sind matter, seine ethischen Gefühle, seine 
ästhetischen Urtheile haben nicht mehr die frühere be- 
stimmende Kraft und Wärme. Dafür ist er leichter be- 
stimmbar in, seinem Urtheil und seinen Neigungen gewor- 
den, von geringerer Energie und Ausdauer in seinen Be- 

v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 10 



146 Geisteskrankheiten. 

strebungen, vielfach auch reizbarer, verletzlicher in seinen 
Gefühlen und Stimmungen. 

Von dieser leisen, oft nur durch Vergleichung der 
jetzigen mit der früheren bekannten Persönlichkeit erkenn- 
baren Abschwächung der psychischen Gesammtleistungs- 
fähigkeit bis zu den extremen Graden des Blödsinns finden 
sich unzählige Mittelstufen, charakterisirt durch mehr oder 
weniger grosse Ideenarmuth, Trägheit des Vorstellens, 
Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses, Energielosigkeit des- 
Strebens bis zur Willenlosigkeit. 

Sie haben im Allgemeinen grössere Bedeutung für da» 
Civilforum, wo die bürgerliche Verfugungsfreiheit oft ange- 
fochten wird, jedoch auch die Zurechnungsfahigkeit solcher 
Individuen kommt dann und wann in Frage, insofern sie 
bei ihrer Reizbarkeit und der Schwäche ihrer intellektuellen 
und sittlichen Energien Gewaltthaten begehen, bei ihrer 
Lenkbarkeit und psychischen Schwäche sich von perversen 
Naturen zu Unterschlagungen, Diebstählen gebrauchen lassen, 
bei ihrer Gedächtnissschwäche falsche Eide ablegen, bei 
ihrem krankhaft gesteigerten oder durch sittliche Motive 
nicht gehemmten Geschlechtstrieb Unzuchtsverbrechen oder 
Verletzungen des öffentlichen Anstandes sich zu Schulden 
kommen lassen u. s. w. 

Eine Hauptsache ist auch hier, dass man nicht au» 
einzelnen erhaltenen Leistungen und Urtheilen sich zu vor- 
eiligen diagnostischen Schlüssen auf das Verhalten des, Ge- 
sammtzustandes bestimmen lasse. 

Besonders wichtige und häufig vorkommende Arten 
dieser erworbenen geistigen Schwäche sind der Blödsinn 
nach Apoplexie, nach Kopfverletzungen und die sog. Gehirn- 
erweichung der Irren. 

a) Die Dementia nach Apoplexie. 

Nur selten stellt sich nach Schlaganfallen, die das Ge- 
hirn betroffen haben, die volle frühere geistige Leistungs- 
fähigkeit her. In der Regel bleiben mehr weniger beträcht- 



Geistesschwäche nach Kopfverletzung. 147 

liehe geistige Ausfallserscheinungen zurück und wenn das 
Gehirn einem Marasmus und Schwund anheimfallt, kommt 
es zu einem fortschreitenden Blödsinn. In leichteren Fällen 
besteht ein massiger Grad von Schwachsinn, der sich in 
grösserer Bestimmbarkeit, gemüthlicher Weichheit, Reiz- 
barkeit, geistiger Schlaffheit, Abschwächung der intellek- 
tuellen und ethischen Funktionen kund gibt. In schwereren 
Fällen leidet das Gedächtniss, die Sprache, bleiben die Rela- 
tionen zur Aussenwelt unklar bis zum Verkennen der Per- 
sonen und dem Verlust des Bewusstseins von Zeit und Ort. 
Nicht selten kommt es zeitweise zu ängstlichen Erregungs- 
zuständen, Verfolgungsdelirien. 

b) Geistige Schwächezustände nach Kopfverletzung. 

Selbst nach geringfügigen Kopfverletzungen können 
die geistigen Funktionen gestört werden. Glücklicherweise 
ist dies nicht häufig der Fall und sind die Kopfverletzungen, 
auf die in foro als die Geistesgesundheit schädigende That- 
sachen in der Lebensgeschichte des Thäters hingewiesen 
wird, meist ohne Bedeutung. Immerhin sind aber Kopf- 
verletzungen keine so seltene Ursache von geistiger Infir- 
mität oder Störung, namentlich wenn sie im Kindesalter 
erfolgten, und der Richter wird gut thun, eine solche Kopf- 
verletzung, wenn Vermuthungen dafür sprechen, dass sie 
nicht ohne Folgen geblieben sei, nicht ohne Weiteres zu 
ignoriren und wenigstens den Geisteszustand untersuchen 
zu lassen. In den Fällen von Geistesstörung bei Ver- 
brechern, welche Delbrück beobachtet hat, finden sich auf- 
fallend häufig Kopfverletzungen, ganz besonders bei Ge- 
wohnheitsdieben, und 'die Fälle sind in den Annalen der 
gerichtlichen Medicin nicht selten, wo die Nichtberücksich- 
tigung einer Geistesstörung nach Kopfverletzung ungerechte 
Verurtheilung, sogar zum Tode herbeigeführt hat. 

Besonders wichtige Folgen einer Kopfverletzung sind 
Aenderung des Charakters, abnorme Gemüthsreizbarkeit 



148 Geisteskrankheiten. 

und Unfähigkeit früher gewohnte Mengen spirituöser Ge- 
tränke zu ertragen (s. u. Zustände pathologischer Alkohol- 
reaktion). Wo derartige Hirnsymptome nach einer Kopf- 
verletzung sich entwickelt haben, muss bei einem Ange- 
schuldigten der Geisteszustand jedenfalls untersucht werden. 
Besonders wichtig und leicht verkennbar sind Zustände von 
massigem aber forensich schwer ins Gewicht fallendem 
Schwachsinn in Verbindung mit krankhafter Gemüthsreiz- 
barkeit, ferner solche von vorwiegendem sittlichem Schwach- 
sinn mit unsittlichen Neigungen und Trieben. Besonders 
häufig sind dann bei solchem Irresein nach Kopfverletzungen 
Affektverbrechen (Todtschlag, Raufhändel etc.). So ist 
dem Verfasser der Fall eines Kranken bekannt, bei wel- 
chem die ethisch- intellektuelle Störung nach einer schweren 
Kopfverletzung sich in Diebstahl, Bettel, sexuellen und 
Alkoholexcessen, Vagabundiren und Raufhändeln kundgab. 
Der Kranke wurde nach zahlreichen Bestrafungen und poli- 
zeilichen Massregelungen endlich als geisteskrank erkannt, 
in die Irrenanstalt gebracht, in welcher er nach Jahren 
starb. Die Sektion ergab eine chronische Entzündung der 
Gehirnhäute. 



c) Die Dementia paralytica. 

Von hervorragendem Interresse unter den Zuständen 
psychischer Schwäche ist endlich die der Laienwelt unter 
der Bezeichnung der „Gehirnerweichung der Irren" be- 
kannte Krankheit auch für das Forum, da an ihr Leidende 
nicht selten mit dem Strafgesetz in Collision kommen, und 
leider nur zu häufig ihr krankhafter Zustand verkannt wird. 
Namentlich sind es die Prodromalperiode der Krankheit 
und das in ihrem Verlaufe nicht seltene maniakalische Exal- 
tationsstadium, wo dies möglich ist, während in dem Sta- 
dium des Grössenwahnes sowie des finalen Blödsinns eine 
Täuschung über den Zustand kaum mehr möglich sein wird. 

Die Prodromalperiode dauert zuweilen ein bis mehrere 



Dementia paralytica. 149 

Jahre und äussert sich vielfach nur in einer ganz allmählig 
sich vollziehenden Aenderung des Charakters, der Sitten 
und Neigungen, ohne alles Auftreten von Wahnideen, 
Sinnestäuschungen oder Affekten. Diese Umänderung des 
Charakters betrifft zuweilen vorwiegend die ethische Seite. 
Die früher geläufigen und Obersatze des ganzen Denkens 
und Handelns gewesenen Begriffe von Anstand und Sittlich- 
keit lockern sich, verschwinden gänzlich, es kommt zu Zu- 
ständen deutlicher moral insanity. Die Kranken vernach- 
lässigen ihre Geschäfte und ihr Aeusseres, ergeben sich 
auch meist Alkoholexcessen , die sie schlecht ertragen, 
treiben sich in Bordellen herum, halten sich Maitressen, 
erlauben sich Verletzungen des öffentlichen Anstandes und 
kommen dadurch in Conflikte mit der Polizei. Selten ahnt 
schon jetzt der Laie, dass hinter der ganzen unsittlichen 
Lebensführung nichts Anderes als eine schwere zum Tode 
führende Krankheit steckt, obwohl dem Kundigen diese un- 
motivirte, stetige und scharf ausgesprochene Umänderung 
des ganzen Wesens und Charakters jedenfalls auffallen 
muss. Nicht selten finden sich in diesem Stadium schon 
deutliche Gedächtnissschwäche, namentlich für die Jüngst- 
vergangenheit, Neigung zu Congestionen und Schwindel- 
anfällcn, leichte Störungen der Sprache, Ungleichheit der 
Pupillen; psychischerseits ausser der Gedächtnissschwäche, 
die sich in Vergesslichkeit, Zerstreutheit kundgibt, Zeichen 
eines hereinbrechenden psychischen Verfalls, als da sind: 
Trägheit, Nachlässigkeit, leichtere Bestimmbarkeit neben 
gemüthlicher Erregbarkeit und Weichheit. Auch das Stu- 
dium der schriftlichen Arbeiten in dieser Periode ergibt 
oft schon beachtungswerthe Erscheinungen. So findet sich 
etwa, dass darin Worte und Buchstaben ausgelassen sind, 
dass Datum- und Rechnungsfehler gemacht wurden, es finden 
sich fehlende oder unrichtige Interpunktion, beginnende Aen- 
derungen der Handschrift, grössere Flüchtigkeit der Schrift- 
züge, schiefe Stellung der Buchstaben, Abweichungen von 
der geraden Linie, Unsauberkeiten des Papiers — Alles 



150 Geisteskrankheiten. 

beachtenswerte Spuren getrübter geistiger Klarheit, Be- 
sonnenheit und Aufmerksamkeit. Häufig entwickelt sich 
im Verlauf einer solchen überhandnehmenden psychischen 
Schwäche ein Zustand deutlicher maniakalischer Exaltation. 
Die Kranken stürzen sich dann in gewagte Spekulationen, 
kaufen, verkaufen, verschenken, sind in steter Unruhe und 
Erregung. In der Regel geht damit ein gesteigerter Ge- 
schlechtstrieb und eine grosse Neigung zu Alkohol excessen 
einher, aus denen Eaufhändel, Körperverletzungen, In- 
jurien etc. sich nur zu leicht ergeben. Der gesteigerte 
Geschlechtstrieb führt zu Familien- und öffentlichen Skan- 
dalen, Sittlichkeitsverbrechen und groben Verletzungen des 
öffentlichen Anstandes. Besonders häufig begehen diese 
Kranken Diebstähle, aber in so plumper einfältiger Weise, 
dass der That die Entdeckung auf dem Fusse folgt. Die 
Gedächtnissschwäche ist dabei zuweilen jetzt schon so gross, 
dass sie auf frischer That ertappt, nach kurzer Zeit gar nicht 
mehr wissen, wie sie zu dem gestohlenen Gegenstand ge- 
kommen sind, pure die That ableugnen und dann natürlich 
für verschmitzte Spitzbuben gehalten werden bis zu dem 
Moment, wo im Gefängniss Tobsucht und Grössenwahn 
ausbrechen und den Fall aufklären. Auch in den späteren 
Stadien der Krankheit ist Diebstahl eine häufige Erschei- 
nung. Meist liegt ihm dann ein universeller Grössenwahn 
zu Grund, der Alles für. sein Eigenthum hält. Bewusst- 
seinsstörung und Illusionen veranlassen dabei den Kranken, 
oft ganz werthlosen Flitterkram zu stehlen, indem er ihn 
für äusserst werthvolle Gegenstände hält. 

In den Irrenanstalten ist es ganz gewöhnlich, dass der- 
artige Kranke Abends alle Taschen mit allem möglichen 
Kehricht und Unrath, den sie unter Tags gesammelt, voll 
haben. In den späteren Stadien, wo die Dementia das 
Krankheitsbild überwuchert hat, sind die criminellen Hand- 
lungen hauptsächlich durch die schwere Bewusstseinsstörung 
vermittelt. Die Kranken wissen nicht mehr Zeit und Ort, 
Mein und Dein auseinander zu halten. Sie begeben sich 



Trunksucht. 151 

2. B. in fremde Häuser in der Meinung, es sei ihr eigenes, 
und tragen daraus Gegenstände fort, sie gehen auf fremdes 
Ackerfeld und ernten dort oder richten in triebartiger Ge- 
schäftigkeit allerlei Beschädigungen an. Sie verschulden 
ferner Feuersbrünste, indem sie z. B. die Kommode für 
den Heerd halten und darein Feuer machen, oder achtlos 
brennende Zündhölzchen wegwerfen. 

Die Erkennung derartiger weitgediehener Fälle ist 
nicht schwierig. Die grosse Bewusstseinsstörung , Ver- 
gesslichkeit, Gleichgiltigkeit, Einsichtslosigkeit psychischer- 
seits, die unverkennbaren Zeichen eines schweren Hirn- 
leidens, wie sie sich durch die Bewegungs- und Sprach- 
störungen verrathen, sichern die Diagnose. 

Die erwähnten Eigentümlichkeiten des Bewusstseins- 
^ustandes geben dem Mechanismus des Handelns derartiger 
Kranker zudem ein ganz besonderes Gepräge. Ihre Hand- 
lungen werden mit einer auffallenden Plumpheit, Brutalität, 
Eücksichtslosigkeit, Ungeschicklichkeit und Planlosigkeit, 
wie sie nur ein solcher Zustand von Demenz und Bewusst- 
seinsstörung bedingen kann, in Scene gesetzt. 

Gleichwohl ist es ein ganz gewöhnliches Vorkommen, 
dass solche Kranke für wirkliche Diebe gehalten und be- 
straft werden, indem man ihre Ungenirtheit für ungewöhn- 
liche Frechheit, ihr Läugnen aus Gedächtnissschwäche für 
Absicht und Simulation hält und ihre vorgeschrittene Geistes- 
schwäche übersieht, 

5. Das Irresein durch Ausschweifungen im Trunk (Trunk- 
sucht. Alkoholismus chronicus). 

• Der fortgesetzte Alkoholmissbrauch führt früher oder 
später zu einer sittlichen, intellektuellen und körperlichen 
Entartung beim Trunkenbold, deren tiefe organische Be- 
deutung sich daraus ergibt, dass die Nachkommen solcher 
Säufer in der Mehrzahl an Convulsionen bald nach der 
Geburt zu Grund gehen oder nervenschwach und Träger 



152 Geisteskrankheiten . 

von Krankheitskeimen sind, die sich zu den schwersten 
Nerven- und Geisteskrankheiten entwickeln. Die sociale 
Bedeutung der Trunksucht lässt sich u. A. daraus ermessen, 
dass in Deutschland z. B. etwa 50 °/ aller Verbrechen 
unter dem Einfluss von Alkoholexcessen begangen werden. 

Der Missbrauch des Alkohol ist ursprünglich ein Laster, 
eine Leidenschaft, zu dem jedoch mannigfache sociale Miss- 
stände (ungenügende Nahrung) angeborene und erworbene 
nervöse Schwäche, geistige Verstimmungen etc. den Anlas» 
geben. Mit der Zeit führt aber das Laster zur Gehirn- 
krankheit (chronisch-entzündliche Pröcesse) und dadurch 
wird die Zurechnungsfahigkeit in Frage gestellt. Nie sollte 
der Untersuchungsrichter unterlassen sich zu informiren 
ob der Angeschuldigte ein Säufer ist. Die ersten Zeichen 
der Störung der Geistesfunktionen pflegen sich in der 
ethischen Sphäre kundzugeben als bedenkliche Abnahme 
der ethischen Gefühle und sittlichen Correktive. Der 
Säufer verliert die Selbstachtung und wird gleichgiltig 
gegen die Werthschätzung Seitens seiner Mitbürger. Sein 
Pflichtgefühl erlischt gegenüber Gesellschaft, Familie, Be- 
ruf, er wird ein brutaler cynischer Egoist (inhumanitas 
ebriosa), er wird reizbar, jähzornig (ferocitas ebriosa) und 
bietet Zeiten tiefer geistiger Verstimmung bis zum Lebens- 
überdruss (morositas ebriosa), Gedächtniss, Intelligenz, 
geistige Energie lassen nach, er vermag seinen sittlichen, 
geistigen und materiellen Ruin zwar noch vorauszusehen, 
aber trotzdem seinem Laster nicht zu entsagen. Ist der 
Alkoholgenuss doch das einzige Mittel, das ihm vorüber- 
gehend noch ein Aufraffen aus seiner geistigen, gemüth- 
lichen und körperlichen Versunkenheit gewährt und er- 
möglicht ! 

So bewegt sich der Trunkenbold auf der schiefen Ebene 
seines geistigen, körperlichen und socialen Verfalls immer 
weiter abwärts. Es stellen sich Kopfweh, Schwindel, epilep- 
tische Zustände ein, die Sinne werden stumpf, es kommt 
zu Sinnestäuschungen, zu Muskelschwäche, Zittern, Ent- 



Trunksucht. 153 

artung der Verdauungsorgane, der Leber, Nieren. Der 
Unglückliche erträgt immer weniger den Alkohol, bekommt 
davon epileptische Anfalle, Delirien, Wuthanfalle. Der Aus- 
gangszustand ist körperliches Siechthum und Stumpfsinn. 

Die sittliche und intellektuelle Schwäche dieser Trunk- 
süchtigen, ihre krankhafte Gemüthsreizbarkeit führen zu 
den verschiedensten Gewaltthaten und Gesetzesverletzungen 
(Diebstahl, Unterschlagung, Meineid, Unzucht, Körperver- 
- letzungen, Todtschlag, Brandstiftung etc.) und machen sie 
in hohem Grad gemeingefährlich. Dazu kommt ein auf- 
fallend häufig und früh bei Säufern sich findender Wahn 
geschlechtlicher Untreue (Eifersuchtswahn), der sich oft 
auf Sinnestäuschungen stützt und nicht selten zu Mord der 
vermeintlich ehebrecherischen Gattin und ihres angeblichen 
Zuhälters führt. Das Vorkommen dieser fixen Idee bei 
Säufern verdient um so mehr alle Beachtung in foro, als 
die That ganz den Charakter der Rachsucht, Leidenschaft 
an sich trägt, ihr Motiv keine Unmöglichkeit enthält, oft 
recht plausibel gemacht wird, und, in frühen Stadien der 
Trunksucht wenigstens, die geistigen und körperlichen 
Zeichen dieser im Gefangniss mit der Entziehung des 
Alkohol rasch zurückzutreten pflegen. 

Die Bedeutung und Gefährlichkeit der Trunksucht 
wird noch dadurch gesteigert, dass jederzeit, besonders leicht 
durch Excesse im Trinken oder durch Entbehrung des ge- 
wohnten Nervenreizmittels transitorische Geistesstörung ein- 
treten kann. Besonders häufig und wichtig sind Anfälle von 
Delirium tremens, trunkfalliger Sinnestäuschung und Ver- 
folgungswahn. Heftige Angst, krankhafte Hallucinationen, 
feindliche Verkennung der Aussenwelt, schwere Störung 
des Bewusstseins können hier die schlimmsten Gewaltthaten 
herbeiführen. 

Schon in frühen Stadien der Trunksucht muss der 
sittlichen und intellektuellen Schwäche, sowie der krankhaften 
Gemüthsreizbarkeit Rechnung getragen und auf mildernde 
Umstände erkannt werden. Die vorgeschrittenen Stadien 



154 Geisteskrankheiten. 

sind dem Blödsinn, die episodischen Anfalle von Geistes- 
störung dem Wahnsinn gleich zu erachten. 

Die Gemeingefahrlichkeit und Unverbesserlichkeit der 
sich selbst überlassenen Säufer nöthigt zu polizeilicher 
Ueberwachung, in schweren Fällen zur Unterbringung in 
Bewahranstalten oder am besten in Trinkerasylen, die hoffent- 
lich mit der Zeit in allen Culturländern entstehen werden. 



6. Das Irresein der Epileptischen. 

Eine überaus, häufige Krankheit ist die Epilepsie und 
die statistischen Forschungen ergeben, dass bei 62 °/ dieser 
Kranken die geistigen Funktionen zeitweise oder dauernd 
gestört sind. Die Bedeutung der Epilepsie für das Forum 
ergibt sich damit von selbst und die hohe Procentzahl der 
geistig gestörten Epileptiker rechtfertigt die schon im allge- 
meinen Theil dieses Buchs gestellte Forderung, dass der 
Untersuchungsrichter ein wachsames Augenmerk auf den 
Geisteszustand Epileptischer habe und eine ärztliche Beob- 
achtung und Untersuchung ihres Geisteszustands verfuge. 
Die Forderung ist um so wichtiger als die Art der epilep- 
tischen Delirien gerade zu den schwersten Verbrechen An- 
lass gibt und ihre Erfüllung lässt hoffen, dass ungerechte 
Verurtheilungen dieser höchst unglücklichen Kranken selten 
sich ereignen werden. Dass sie unmöglich werden, ist vor- 
erst nicht zu hoffen, da die Epilepsie häufig dem Kranken 
wie seiner Umgebung unbekannt bleibt, weil die Anfälle 
der Krankheit etwa nur zur Nachtzeit oder höchst selten ein- 
treten, oder als scheinbar bedeutungslose Schwindel-, Angst-, 
Ohnmachtanfälle u. dgl. die gewöhnlichen Anfälle des Leidens 
vertreten. 

Damit fehlt dann ein wichtiger Hinweis auf die Epi- 
lepsie überhaupt und auf die Möglichkeit einer Gefahrdung 
des geistigen Lebens. Für den Juristen ist die Thatsache 
wichtig, dass verschiedenartige krampfhafte Anfälle mit 
Verlust des Bewusstseins die Bedeutung epileptischer haben 



Epileptisches Irresein. 155 

können, dass die Störung der Geistesfunktionen nicht von 
der Intensität und Zahl irgendwie gearteter Anfälle ab- 
hängig ist. t 

Die Störungen des Geisteslebens beim Epileptiker sind 
theils dauernde, theils transitorische. 

Die dauernden Störungen äussern sich in Form von 
Aenderungen des Charakters im Sinn krankhafter Gemüths- 
reizbarkeit, launenhafter Stimmung mit vorwaltender depri- 
mirter oft auch hypochondrischer, in Egoismus, Abstumpfung 
des Gemüths, Nachlass der ethischen Gefühle bis zu Zu- 
ständen wahrer moral insanity mit unsittlichen selbst ver- 
brecherischen Antrieben von oft ganz impulsivem Charakter, 
in auffälliger Brutalität und Grausamkeit, Misstrauen gegen 
die Aussenwelt bis zu Andeutungen von Verfolgungswahn. 
Daneben können sich Züge von Bigotterie, krankhafter 
Religiosität finden, die dem Charakter in gesunden Tagen 
entschieden fremd waren. Neben diesen Charakteranomalien 
und ethischen Defekten finden' sich Erscheinungen einer 
intellektuellen Schwächung, die durch alle Stufen des 
Schwachsinns bis zu völligem Blödsinn sich erstrecken kön- 
nen. Einen . mächtigen jedoch vorübergehenden Einfluss 
auf das Geistesleben des Epileptikers üben seine Anfälle 
aus. Minuten bis Tage vor solchen können Zustände tiefer 
geistiger Depression mit Verwirrung der Gedanken, grosser 
Gemüthsreizbarkeit, Angst, schreckhaften Hallucinationen, 
peinlichen Zwangsvorstellungen oder Verfolgungsdelirien 
bestehen und, ähnlich wie beim Melancholischen und Wahn- 
sinnigen, zu schrecklichen Gewaltthaten treiben. Analoge 
geistige Störungen finden sich häufig im Anschluss an An- 
fälle. Da solche häufig der Beobachtung entgehen, die 
zur That treibenden psychischen Störungen ganz tran- 
sitorische sind, begreift sich die Schwierigkeit der Erken- 
nung und Beurtheilung derartiger krankhaft vermittelter 
Gewaltthaten. Der Umstand, dass jederzeit bei Epilep- 
tischen solche explosive Erscheinungen auftreten können, 
nöthigt zur grössten Vorsicht und legt die Wahrscheinlich- 



156 Geisteskrankheiten . 

keit nahe, dass sie mit einem so leicht der Beobachtung 
entgangenen Anfall des Leidens in Verbindung stehen. 

Einer der bedeutendsten französischen ^Aerzte erklärt 
geradezu „man kann annehmen, fast ohne Gefahr sich zu 
täuschen, dass wenn ein Individuum plötzlich, ohne vor- 
herige Geistesstörung, ohne bis dahin ein Zeichen von 
Geisteskrankheit geboten zu haben, auch ohne leidenschaft- 
lichen Antrieb und ohne durch Alkohol oder sonst eine das 
Nervensystem heftig erregende Substanz vergiftet zu sein, 
einen Mord begeht, dieses Individuum epileptisch ist, dass 
es entweder einen gewöhnlichen Krampfanfall oder, was 
häufig vorkommt, einen blossen epileptischen Schwindel- 
anfall hatte. a 

Um so mehr ist nach Trousseau's Erfahrungen dies zu 
vermuthen, wenn ein Mord ohne Motiv, eigennützigen Zweck, 
ohne Prämeditation, ohne Berücksichtigung von Zeit, Ort, 
Mitteln begangen wurde. 

An die Zustände der Epilepsie knüpft sich noch ein 
weiteres forensisches Interesse, insofern als Vorläufer oder 
Nachzügler epileptischer Anfälle, zuweilen auch ohne Zu- 
sammenhang mit solchen, transitorische Irreseinszustände 
beobachtet werden, die, wenn sie ohne Zusammenhang mit 
gewöhnlichen Anfällen der Epilepsie sich einstellen, als 
selbständige Anfälle 'eines transitorischen Irreseins im- 
poniren und dann unrichtig als „Mania transitoria a u. dgl. 
gedeutet werden. 

Die heutige gerichtliche Medicin ist in der Lage, der- 
artige transitorische Irreseinszustände aus ihren klinischen 
Eigenthümlichkeiten als epileptische zu erkennen, auch wenn 
sie als freistehende, gleichsam stellvertretende Erscheinungen 
eines epileptischen Anfalls sich finden und der Umstand, 
dass das Individuum epileptisch ist, vorläufig noch zweifel- 
haft erscheint. 

Ihre epileptische Bedeutung ergibt sich aus ihrem jähen 
Ausbruch und Abschluss mit Vorläufern und Nachzüglern, 
wie sie auch beim gewöhnlichen krampfhaften Anfall des 



Epileptisches Irresein. 157 

Epileptikers beobachtet werden, aus der schweren Bewusst- 
seinsstörung des Kranken im Anfall, aus seinen schreck- 
haften Delirien (der Verfolgung) und Hallucinationen, na- 
mentlich wenn sie mit religiösen, heiteren abwechseln, mit 
Angst, grosser Gereiztheit und zeitweisem Stupor sich finden. 
Dazu kommt die lückenhafte bis vollkommen fehlende Erinne- 
rung für die Erlebnisse des Anfalls, entsprechend der tiefen 
Bewusstseinsstörung, jedoch ist zu beachten, dass unmittel- 
bar nach dem Anfall die Erinnerung noch vorhanden sein 
kann, um dann rasch und dauernd verloren zu gehen. 

Auch die Handlungsweise der Kranken ist wichtig, in- 
sofern sie, wenn auch anscheinend planmässig und combi- 
nirt, doch eine traumhafte, impulsive ist, indem bei dem meist 
gleichartigen Inhalt des Bewusstseins in solchen Anfällen 
dieselben Handlungen (Diebstahl, Brandstiftung, Mordver- 
such etc.) wiederkehren, entsprechend dem schrecklichen 
Inhalt des Bewusstseins das Handeln vielfach das Gepräge 
wilder Wuth, verzweifelter Gegenwehr, planlosen Vernich- 
tungsdrangs bekommt und eine unglaubliche Brutalität und 
Grausamkeit aufweist. 

Unter den transitorischen Anfällen psychischer Störung 
sind ganz besonders wichtig kurzdauernde Zustände geistiger 
Umdämmerung bis zum völligen Verlust des Bewusstseins, in 
Verbindung mit impulsiven Antrieben zu Diebstahl, zu öffent- 
licher Gewalttätigkeit, Brandstiftung, Mord, Unzuchtsver- 
gehen. Die rücksichtslose Handlungsweise, die häufige 
Wiederkehr identischer Handlungen, die fehlende Erinne- 
rung des Angeschuldigten sind geeignet, den Verdacht auf 
temporär unfreien, speciell epileptischen Geisteszustand zu 
lenken. 

Nicht minder sind bemerkenswerth Dämmerzustände 
mit heftiger Angst und tiefer geistiger Verworrenheit, 
wobei, analog wie beim Melancholischen im Angstanfall, 
schwere Gewaltthaten gegen die Umgebung erfolgen können. 
Eine Weiterentwicklung solcher Anfalle stellen Dämmer- 
zustände mit Delirien und schreckhaften Hallucinationen 



158 Geisteskrankheiten. 

dar, in welchen der Kranke der feindlich verkannten Aussen- 
welt höchst gefährlich wird, tobt und sich verzweifelt seines 
vermeintlich bedrohten Lebens wehrt. Eine Varietät dieses 
hallucinatorischen Delirs ist das religiöse, in welchem der 
Kranke sich im Himmel wähnt, mit göttlichen Personen im 
hallucinatorischen Verkehr steht. Auch hier sind auf Grund 
von Hallucinationen Gewaltthaten möglich. 

Es ist bemerkenswerth, dass trotz der schweren gei- 
stigen Verworrenheit der Kranke anscheinend planmässiger, 
von Combination zeugender Handlungen fähig ist. Noch 
mehr ist dies möglich in anfallsweisen Irreseinszuständen, 
in welchen der Epileptiker in einem traumartigen Dämmer- 
zustand analog dem Schlafwandler auf Grund von Delirien 
und Zwangsvorstellungen complicirte Handlungen z. B. 
Reisen vollbringt. Während die Dämmerzustände mit im- 
pulsiven Akten oft nur Minuten, die mit Angst und De- 
lirium meist nur Stunden bis Tage dauern, können diese 
Traumzustände sich auf Wochen erstrecken. Vagabundiren, 
Diebstahl, Schwindeleien, Desertion, selbst Mord sind in 
diesen Zuständen mehrfach beobachtet und auch falsch be- 
urtheilt worden. Ein klassisches Beispiel bietet der vor 
Jahren in Berlin verhandelte Fall Holtzapfel (Mord meh- 
rerer Personen in epileptischem Traumzustand), in welchem 
ein Todesurtheil gefallt, aber auf dem Weg der Gnade 
in Zuchthausstrafe umgewandelt wurde. 

Diese Traumzustände sind um so wichtiger, weil die 
Bewusstseinsstörung wenig augenfällig ist und (wie beim 
Nachtwandler) durch ein oft recht planmässiges Handeln 
verdeckt ist, ferner dadurch, dass diese Dämmer- und 
Traumzustände unvermerkt eintreten können, sich zeitlich 
nicht scharf von dem luciden Geisteszustand abheben und 
somit ihr zeitlicher Umfang schwer zu bestimmen ist. 

Alle diese Thatsachen machen die Frage des Geistes- 
zustands Epileptischer zur Zeit einer strafbaren That zu 
einer äusserst schwierigen. Die Epilepsie beweist an und 
für sich nichts für die Unzurechnungsfähigkeit des an ihr 



Epileptisches Irresein. 159 

Leidenden, auch das Zusammentreffen einer strafbaren 
That mit einem epileptischen Insult beweist nichts, da ein 
nicht geringer Procentsatz der Epileptischen geistig intakt 
bleibt und geistige Abnormitäten nicht immer dem epilep- 
tischen. Anfall vorausgehen oder ihm folgen. Aber die 
grösste Vorsicht ist hier nöthig und die Möglichkeit nie 
ganz auszuschliessen, dass das schwere Nervenleiden dennoch 
einen Einfluss auf die Begehung einer strafbaren That 
ausgeübt hat, insofern es etwa die Entstehung von krank- 
haften Stimmungen und Affekten begünstigte, Besonnenheit 
und Bewusstsein trübte, die Zugkraft sittlicher und intellek- 
tueller Gegenmotive schwächte. 

Man bedenke nur, dass die psychischen Störungen 
beim Epileptischen äusserst flüchtig sein und epileptische 
(Schwindel-) Anfalle, die sie bedingten, der Beobachtung 
gänzlich entgangen sein können. 

Der vorsichtige Jurist wird deshalb gut thun, bei epi- 
leptischen Angeschuldigten immer das Gutachten der ärzt- 
lichen Sachverständigen einzuholen und anerkennen, dass 
die gerichtlich medicinische Wissenschaft gerade diesen 
Zuständen gegenüber eine ziemlich hohe Stufe der Sicher- 
heit erreicht hat. 

Unter allen Umständen wäre es human und klug, in 
der Epilepsie an und für sich einen Milderungsgrund für 
ein begangenes Verbrechen zu erkennen. Die Flüchtigkeit 
und Häufigkeit schwerwiegender psychischer Störungen beim 
Epileptischen, die nie ganz auszuschliessende Möglichkeit, . 
dass eine strafbare That mit einem psychische Störung 
herbeiführenden unbeobachteten epileptischen Insult in Be- 
ziehung stand, vielleicht in einem Zustand geistiger Um- 
dämmerung zu Stande kam, rechtfertigen diese Forderung. 
Die Zustände epileptischen Blödsinns und transitorischer 
Geistesstörung bieten der Zurechnungsfähigkeitsfrage keine 
Schwierigkeiten. 



160 Geisteskrankheiten. 



7. Das Irresein der Hysterischen. 

Auch die Hysterie, jene vielgestaltige Nervenkrankheit, 
die vorzugsweise das weibliche Geschlecht im Alter der 
Fortpflanzungsfähigkeit afficirt, bietet mannigfache Be- 
ziehungen zur gerichtlichen Medicin, da sie nicht nur in 
der Regel mit elementaren psychischen Störungen sich 
verbindet, sondern auch in Zustände transi torischer oder 
dauernder Seelenstörung übergeht und sich umwandelt. 

Die elementaren Störungen der psychischen Funktionen 
fehlen wohl nie im Verlaufe einer hysterischen Neurose. Sie 
äussern sich theils in abnormer Gemüthsreizbarkeit, die als 
üble Laune, Reizbarkeit, äusserlich wenig oder gar nicht 
motivirte Verstimmung, in dem Herrschen von Affekten 
und leidenschaftlichen Stimmungen, Unzufriedenheit, Zank- 
sucht ihren klinischen Ausdruck findet, theils in äusserlich 
ganz unmotivirtem Stimmungswechsel, zuweilen deutlich 
ausgesprochenem Wechsel von Exaltation und Depression, 
womit krankhafte Zu- und Abneigungen gegen Personen 
und Objekte, auffallende Sympathien und Antipathien ge- 
geben sein können. 

Auch im Gebiet des Vorstellens finden sich mannig- 
fache Störungen, wesentlich charakterisirt dadurch, dass die 
Reproduktionstreue der Vorstellungen Noth leidet, der Vor- 
stellungsgang vielfach ein abspringender wird, und oft dem 
, gesunden Fühlen und Vorstellen ganz fremde, oft wunder- 
liche und verkehrte Vorstellungen auftauchen und mit einer 
krankhaften Prävalenz sich im Bewusstsein behaupten. 
(Zwangsvorstellungen.) Im Gebiet des Strebens und Wollens 
finden sich, neben krankhaft einseitig festgehaltenen Stre- 
bungen, eine bezeichnende Willensschwäche und Energie- 
losigkeit, die sich in Flüchtigkeit der Strebungen, Bevor- 
zugung von absurden ungewöhnlichen Motiven, völliger 
Gleichgiltigkeit gegen wichtige Lebensinteressen, vielfach 
kundgibt. 



Hysterisches Irresein. 161 

Auffallende Erregung und selbst Perversion bietet oft 
auch die geschlechtliche Sphäre. 

Mit der fortschreitenden Steigerung dieser angedeuteten 
Anomalien und dem Nachlass der Zugkraft sittlicher Mo-^ 
tive und Correktive kann es zu criminellen Handlungen 
kommen, deren volle Verantwortlichkeit dann fraglich ist. 
So führen die krankhafte Verstimmung, der pathologische 
Egoismus und die grosse Reizbarkeit der Hysterischen 
leicht zu Ehrenkränkungen, Verleumdungen, Denuncia- 
tionen ; namentlich die Affekte derselben dauern länger als 
bei Personen von gesundem Nervensystem, und nähern 
sich oft mehr dem Bild einer Tobsucht als dem eines ge- 
wöhnlichen Affekts. 

Die grundlose Antipathie gegen gewisse Personen er- 
zeugt leidenschaftliche Stimmungen gegen diese, welche 
die Motive verbrecherischer Handlungen werden können, 
ja selbst die natürlichen Gefühle der Mutterliebe können 
sich in krankhafte Abneigung gegen die Kinder ver- 
wandeln, und zu brutaler Misshandlung derselben fuhren. 
Die übergrosse Einbildungskraft und mangelhafte Repro- 
duktionstreue gibt Anlass zu falschen gerichtlichen Angaben 
und falschem Eid; der Drang, sich interessant zu machen, 
die schliesslich unbeherrschte Lust Aufsehen zu erregen, 
führt zu Betrügereien, Intriguen, Simulation. Eine mo- 
derne Form des frommen Betrugs, die fast nur auf dem 
Boden des Hysterismus vorkommt, aber selten dem aufge- 
klärten und energischen Untersuchungsrichter und Staats- 
anwalt gegenüber Stich hält, sind die Muttergotteser- 
scheinungen, aus denen die Spekulation dann Gnadenorte 
schafft. 

Sexuelle Erregung erzeugt oft geschlechtliche Ver- 
irrungen, grundlose Beschuldigung männlicher Personen der 
Umgebung, unzüchtige Handlungen sich gegen die Kranke 
erlaubt zu haben, Eifersucht und Argwohn gegen den 
Ehemann und damit Skandalprocesse und Ehescheidungs- 
klagen. Aus Zwangsvorstellungen, perversen Gelüsten, die 

v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 11 



162 Geisteskrankheiten. 

wieder aus abnormen Gemeingeftthlsempfindungen entstehen 
können, ergeben sich Diebereien, Unterschlagungen etc. 

Analog wie bei Epileptischen kommen auch hier im 
Zusammenhang mit hysterischen Krampfanfällen oder auch 
ohne solche transitorische Irresein szustände verschiedenster 
Form hervor. Sie äussern sich als affektartige Zustände, 
als delirante mit schreckhaftem oder religiösem und sexuellem 
Delir bis zur Ecstase, als manieartige Aufregungen mit im- 
pulsiven geschlechtlichen und Diebstahlshandlungen, dauern 
Stunden bis Tage, gehen mit erheblicher Störung des Be- 
wusstseins einher und werden demgemäss nur lückenhaft 
oder gar nicht erinnert. Da schreckhafte Delirien und 
Sinnestäuschungen hier seltener als bei den Epileptischen 
vorkommen, ist ihre forensische Bedeutung keine sehr grosse, 
jedoch sind Fälle von schweren in solchen Zuständen be- 
gangenen Gewalttaten (Mord, Brandstiftung) in der Literatur 
verzeichnet. Die erotischen Delirien können zu falschlicher 
Beschuldigung verübter Unzucht, die manischen Erregungs- 
zustände zu Diebstahl führen, die ecstatischen, insofern sie 
mit Predigen etc. einhergehen, können die Menge des Volks 
erregen, die öffentliche Ruhe stören und die Polizei zum 
Einschreiten nöthigen, namentlich wenn sie epidemisch auf- 
treten. Die Hysterie kann endlich auch ihren Ausgang in 
chronisches Irresein (erotische, dämonomanische Verrückt- 
heit, psychische Entartungszustände) nehmen. Am wich- 
tigsten, weil nicht auf den ersten Blick erkennbar, sind 
Zustände von folie raisonnante. Da sie nicht leicht zur 
Bildung von offenbaren Wahnideen führen, rein formale 
und affektive Störungen des Seelenlebens setzen, werden 
sie gar leicht falsch beurtheilt, da die Kranken social und 
ethisch durchaus den Eindruck böser, lügenhafter, schmäh- 
süchtiger Weiber machen. Dennoch ist der Zustand nichts 
Anderes als Krankheit. Es besteht hier ein durchaus krank- 
haftes, in den Extremen sich beständig bewegendes Gefühls- 
leben, wir vermissen nicht die Reizbarkeit und Leiden- 
schaftlichkeit, die dem Hysterismus eigen ist, die Schmäh- 



Hysterisches Irresein. 163 

sucht, Lügenhaftigkeit, Verstellungskunst, den krankhaften 
Egoismus, die Launenhaftigkeit, die grundlosen Antipathien, 
Sympathien, Bizarrerien. Unter der Form von Laune, 
Caprice zeigt sich ein deutlich markirter, ganz unmotivirter 
beständiger Gefühls Wechsel; wir finden krankhafte Affekte, 
krankhaft gesteigerte und vielfach unwiderstehliche Triebe, 
namentlich im Gebiete des Geschlechtstriebes, die zu scham- 
loser Prostitution, Onanie, zuweilen auch ganz verkehrtem 
Gebahren wie Anlegen von Männerkleidern, Neigung nackt 
im Zimmer herumzulaufen, sich mit unsaubern Dingen zu 
salben, äussern. Der Vorstellungsgang ist abspringend, 
bald abnorm verlangsamt, bald bis zur Gedankenjagd be- 
schleunigt, von bizarren unvermittelten Vorstellungen ein- 
genommen, die einen zwingenden Einfluss auf das Handeln 
gewinnen können und in unüberlegten, bizarren Handlungen, 
absurden Gelüsten ihren Ausdruck finden. Dabei er- 
scheinen die Neigungen, Gewohnheiten, Strebungen in 
grellem Contrast mit der früheren gesunden Persönlichkeit, 
die total umgewandelt, entartet ist. 

Das ganze Wollen und Streben solcher Kranker be- 
kommt schliesslich einen triebartigen impulsiven, aller Re- 
flexion und alles sittlichen Haltes baaren Charakter, wo- 
durch nothwendig theils einfach unmoralische, theils ver- 
kehrte und verbrecherische Handlungen (Dieberei, Schwin- 
delei, Vagabundiren) entstehen müssen. 

Eine gute Dosis Verstellungskunst, ein fast instinktiver 
Hang zur Simulation, erschweren zudem die Diagnose sol- 
cher Zerrbilder psychischer Existenz. 

Die Zurechnungsfähigkeit im transitorischen und chro- 
nischen Irresein der Hysterischen ist natürlich aufgehoben. 
Schwierigkeit für die rechtliche Beurtheilung bereiten nur 
die Fälle mit blossen elementaren Störungen. Blosse Ver- 
stimmungen, Launen, Gelüste hysterischer Weiber dürfen 
kein Entschuldigungsgrund für criminelle Handlungen wer- 
den, doch ist nicht zu übersehen, dass die Hysterie eine 
Neurose des gesammten Nervensystems ist, mannigfache 



Iß4 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

Erschwerungen der normalen Aeusserung der psychischen 
Energien, namentlich nach der sittlichen und Willensseite 
sich finden, die Erregbarkeitsschwelle für gemüthliche Reize 
bedeutend tiefer liegt, und Affekte leichter eintreten und 
das schwache Ich überwältigen. 

In der Regel dürfte in derartigen Fällen eine vermin- 
derte rechtliche Verantwortlichkeit (mildernde Umstände) 
anzuerkennen sein. — 



Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 

Die praktisch-ärztliche und volksthümliche Anschauung 
versteht unter Geisteskrankheit andauernde, meist Wochen 
und selbst Jahre währende Zustände geistiger Störung, die 
selbständige, von allgemeinen oder örtlichen krankhaften 
Zuständen des übrigen Körpers, unabhängige Hirnerkran- 
kungen darstellen. 

Es gibt jedoch psychische Ausnahmszustände, in wel- 
chen die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit ebenso 
aufgehoben sind wie bei der Geisteskrankheit im engeren 
Sinn, jedoch der Verlauf ein rascher, nach Umständen nur 
Stunden betragender ist und die Störung der Geistesfunktionen 
von mehr weniger deutlich zu Tage liegenden körperlichen 
Vorgängen, wie z. B. Fieber, Congestionen zum Gehirn, 
Vergiftung, aus bedingt ist. Während eine strengwissen- 
schaftliche Auffassung diese Zustände von „transitorischem a 
Irresein den chronischen Geistesstörungen anreiht, hat die 
Gesetzgebung jene unter einem eigenen Terminus „der 
Bewusstlosigkeitszustände" von dem Ganzen der übrigen 
Störungen der Geistesthätigkeit abgegränzt. Der gesetz- 
liche Begriff der Bewusstlosigkeit ist nicht gleich zu setzen 
dem landläufigen, alltäglichen, in welchem ein Individuum 
bewusstlos im Sinn einer Aufhebung der geistigen Thätig- 
keit überhaupt und damit auch der Fähigkeit, Bewegungs- 
akte zu vollbringen, gedacht wird. Die Bewusstlosigkeit 



Verdunklung des Bewusstseins. 165 

im Sinn des Strafgesetzbuchs deutet nur einen Zustand von 
Verdunklung des Bewusstseins an und zwar bis zu dem 
Grad, dass das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit und 
der Aussenwelt getrübt bis aufgehoben ist. Das Individuum 
ist sich als einer denkenden, empfindenden, handelnden 
Person nicht mehr bewusst, aber es ist im Stand auf Grund 
von inneren krankhaften Erregungsvorgängen (Delirien, 
Hallucinationen) mit der Aussenwelt in Verkehr zu treten, 
automatisch Handlungen zu verrichten, von denen das 
Selbstbewusstsein nicht oder nur dämmerhaft Kunde be- 
kommt und die demgemäss nur traumhaft oder gar nicht 
erinnert werden. 

Sie gehen nicht von der gesunden Persönlichkeit des 
Individuums aus, der Bewegungsapparat dient den unbe- 
wussten krankhaften psychischen Bewegungsmotiven rein 
maschinenartig, die Bewegungsakte sind rein automatische. 
Eine wichtige Thatsache ist jedoch, dass trotz aufgehobener 
Besonnenheit, Unterscheidungs- , Urtheils- und Wahlfahig- 
keit in diesen Zuständen ein anscheinend planmässiges über- 
legtes Handeln möglich ist. 

Dieser Anschein führt nur zu leicht Täuschungen über 
den Bewusstseinszustand des Handelnden zur Zeit seiner 
That herbei. Dazu kommt als erschwerendes Moment für 
die Erkennung und Klarstellung dieser Zustände ihre Flüch- 
tigkeit. Da zudem solche Bewusstlosigkeitszustände häufig 
vorkommen, ebenso leicht vorgetäuscht werden können, ist 
das forensische Interesse an ihnen kein geringes. 

Zwei Umstände sind es, die vorweg Beachtung ver- 
dienen und die Nachweisung jener Zustände erleichtern. 

Zunächst wird ihre Flüchtigkeit dadurch compensirt, 
dass sie Ausdruck oder Folge dauernder krankhafter Ver- 
anlagungen oder wirklicher Krankheiten des centralen 
Nervensystems sind oder wenigstens, wenn auch vorüber- 
gehender, so doch greifbarer körperlicher allgemeiner 
Störungen (Fieber, Menstruationsvorgänge etc.). 

Ferner entspricht dem Grad, der Art und dem zeit- 



166 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

liehen Umfang der krankhaften Bewusstlosigkeit eine Trü- 
bung der Erinnerung bis zum völligen Mangel derselben. 
Es ergibt sich daraus die Wichtigkeit einer richterlichen 
Erhebung und Prüfung der Erinnerungsfähigkeit für die 
Zeit der incriminirten That, der genauen Feststellung ihres 
zeitlichen Umfangs sobald als möglich nach der Einlieferung. 
Die Behauptung des Angeschuldigten, dass er seiner That 
sich nicht erinnere , muss sofort den Verdacht auf einen 
Bewusstlosigkeitszustand zur Zeit jener erwecken. Die 
durch eingehende Vernehmung gewonnene Gewissheit, dass 
die Amnesie keine erlogene ist, nähert jene Vermuthung 
der Wahrscheinlichkeit und nöthigt zur Berufung des Ex- 
perten. Der Nachweis einer wohlcharakterisirten Form 
von Bewusstlosigkeit Seitens der Sachverständigen schafft 
Gewissheit, die ihre volle wissenschaftliche Sicherheit da- 
mit gewinnt, dass eine dauernde Disposition oder Krank- 
heit des Nervensystems oder eine somatische Allgemein- 
erkrankung als Grundlage jener transitorischen Störung 
der Geistesfunktionen (Bewusstlosigkeit) erwiesen wird. 

Die frühere Gesetzgebung nahm auf solche krank- 
hafte Bewusstseinszustände Bedacht unter der Bezeichnung 
„Sinnenverwirrung" x ), ein Ausdruck, dem bei seiner Un- 
klarheit der Terminus der „Bewusstlosigkeit", wenn er 
richtig aufgefasst wird, entschieden vorgezogen werden 
muss, insofern er den Kern der Sache berührt und natur- 
wissenschaftlich verständlich ist. Für die Mehrzahl der 
unter diesen Begriff fallenden krankhaften Zustände wäre 
übrigens der Terminus des transitorischen Irreseins klarer 
und klinisch bezeichnender. Die Formen epileptischer und 
hysterischer Bewusstlosigkeit wurden schon oben besprochen. 
Es erübrigt noch die Besprechung 

1. der abnormen Zustände des Schlaf lebens ; 

2. der Zustände von Fieber- und Erschöpfungsdelir; 



*) Oesterr. Strafgesetz § 2 c. „Sinnen Verwirrung, in welcher der 
Thäter sich seiner Handlung nicht bewusst war." 



Schlaftrunkenheit. 167 

3. der von transitorischer Geistesstörung durch plötz- 
liche und tiefe Störungen der Blutcirculation im Gehirn 
(Mania transitoria und Raptus melanch.); 

4. der Vergiftungszustände durch Alkohol und ander- 
weitige Hirngifte; 

5. der pathologischen Affektzustände durch originäre 
und erworbene krankhafte Hirnzustände. 

1. Die Traumzustände. 

Dahin gehören die Schlaftrunkenheit (Somnolentia) und 
jener eigenthümliche Zustand des Nervensystems, den man 
als Schlafwandeln (Somnambulismus) bezeichnet. 

a) Die Schlaftrunkenheit. 

Sie ist jener eigenthümliche intermediäre Zustand zwi- 
schen Schlafen und Wachen, der eintritt, sobald die mit 
dem Erwachen gewöhnlich verbundene sofortige "Wieder- 
kehr von Selbstbewusstsein und Besonnenheit verzögert 
wird, so dass aus dem Traumleben mit herübergenommene 
Vorstellungen und Sinnestäuschungen oder falsche Eindrücke 
aus der noch nicht zum Bewusstsein gekommenen realen 
Welt den traumartigen Bewusstseinszustand unterhalten. 

Da aber in diesem intermediären Zustand schon mo- 
torische Reaktionen auf diese traumhaften Vorstellungen 
möglich sind, hat die Criminalpsychologie ein Interesse an 
diesem Zustand, insofern Gewaltthaten von solchen Schlaf- 
trunkenen an der traumartig verkannten Umgebung mög- 
lich sind, und auch nicht allzu selten vorkommen. 

So hat man Fälle beobachtet, wo Leute von einem 
beängstigenden Traume gequält und darüber erwacht, in 
vermeintlicher Nothwehr gegen eingedrungene Diebe und 
Mörder ihre nebenanschlafenden Angehörigen oder Personen, 
die sie aus tiefem Schlafe erweckten, feindlich verkennend 
tödteten. 

Ein erschütternder derartiger Fall findet sich in Bück- 



168 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 

nill und Tuke's Lehrbuch mitgetheilt. Ein Constabler hörte 
aus einem Hause mitten in der Nacht den Angstruf „rettet 
meine Kinder!* Er eilte ins Haus und traf eine Mutter 
im Nachtkleid, in grösster Verwirrung und Aufregung. 
Alles im Zimmer war in wirrem Durcheinander, zwei 
kleine Kinder sassen in einer Ecke gekauert. Die Frau 
rief beständig: „wo ist mein Säugling? Haben Sie ihn auf- 
gefangen? Ich muss ihn zum Fenster hinausgeworfen haben." 
Sie hatte das Kind durch eine Scheibe zum Fenster hinaus 
auf die Strasse geworfen, ohne jenes zu eröffnen. Sie hatte 
geträumt, ihre kleinen Jungen riefen ihr zu, dass das Haus 
in Flammen stehe, und in der schlaftrunkenen Sinnesver- 
wirrung hatte sie ihr kleinstes Kind zum Fenster hinaus- 
geworfen, um es vor den Flammen zu retten. 

Die Schlaftrunkenheit als solche ist ein ganz transi- 
torischer, nur wenige Minuten dauernder Zustand; nur in 
seltenen Fällen werden neue Sinnesdelirien aus einwirken- 
den Sinnesreizen erzeugt, unterhalten die hieraus entstehende 
Sinnesverwirrung und verzögern die Wiederkehr der Be 
sonnenheit. Die Erinnerung an die Erlebnisse des schlaf- 
trunkenen Zustandes ist immer nur eine summarische, die 
in ihn fallenden Begebenheiten projiciren sich dem wieder- 
erwachten Bewusstsein wie ein Traum. 

Prädispositionen für die Entstehung der Schlaftrunken- 
heit geben alle Umstände, welche den Schlaf besonders 
tief machen, namentlich die ersten Stunden des Schlafes 
und das jugendliche Alter, Zeiten, in denen der Schlaf 
schon physiologisch ein besonders tiefer ist, ausserdem 
grosse Strapazen, lange Entbehrung des Schlafes, voraus- 
gegangener Genuss von geistigen Getränken, reichliche 
Mahlzeit, heisse Schlafstube. Es gibt endlich Constitutionen, 
die einen ungewöhnlich tiefen Schlaf haben, und Familien, 
in denen mehrere Glieder zu Schlaftrunkenheit disponirt sind. 

Veranlassende Ursachen sind böse, schwere Träume, 
die den Schlafenden erwecken, oder plötzliches Erweckt- 
werden durch Dritte. 



Schlafwandeln. 169 

Ueber die NichtZurechenbarkeit in solchem Zustande 
begangener Thaten kann kein Zweifel bestehen; Schwierig- 
keit bereitet nur die Ermitthing des Bewusstseinszustandes 
zur Zeit derselben. Es ist hier wichtig zu erforschen, ob 
beim Individuum oder seiner Familie schon ähnliche Zu- 
stände vorgekommen sind, wie sein Schlaf und Erwachen 
gewöhnlich waren, welche sonstige prädisponirende und 
occasionelle Momente zusammenwirkten, um den Schlaf zu 
einem besonders tiefen zu machen, welche äussere oder 
innere Ursachen für die Unterbrechung des Schlafes sich 
ergaben, ob die That wirklich in die Zeit des gewöhn- 
lichen Schlafes fiel, wie lange dieser schon gedauert hatte, 
wie lange der angeblich schlaftrunkene Zustand dauerte, 
ob nicht zeitlich zwischen That und Erwachen Reden und 
Handlungen fielen, die auf wiedergekehrtes Selbstbewusst- 
sein und Apperception schliessen lassen. 

Es ist selbstverständlich, dass die That zeitlich un- 
mittelbar in den Moment des Erwachens oder Erweckt- 
werdens fallen muss, dass sie keine prämeditirte sein, son- 
dern nur den Charakter einer unbewussten, zufalligen an 
sich tragen kann. 

Wichtig ist endlich die genaue Prüfung, welchen Zeit- 
abschnitt und welche Punkte die Erinnerung umfasst. Bei 
wirklicher Schlaftrunkenheit kann die Erinnerung nur eine 
summarische sein und nur den subjektiven Inhalt des Traum- 
bewusstseins, nicht aber den objektiven Sachverhalt in sich 
begreifen. 

Daneben können auch die Vita anteacta, der Leumund, 
die fehlende Causa facinoris, das Benehmen nach der That 
verwerthet werden. 

b) Der Zustand des Schlafwandelns. 

Phänomenologisch besteht er darin, dass bei voll- 
kommen aufgehobenem Selbstbewusstsein durch spontane 
Thätigkeit des Gehirns, gleichwie im Traume, Vorstellungen 



170 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

und Sinnesbilder producirt werden, deren Uebergang in 
motorische Akte aber nicht gehemmt ist, so dass den Traum- 
vorstellungen adäquate und zweckentsprechende Handlungen 
möglich sind, während gleichzeitig die Sinneswahrnehmung 
aufgehoben oder auf die dem Inhalt des Traumbewusstseins 
entsprechenden Objekte eingeschränkt ist. Dieser Hand- 
lungen ist sich das Ich nicht bewusst, sie sind rein auto- 
matische Akte. Die Erinnerung für die Traumerlebnisse und 
natürlich für alle realen Begebnisse fehlt ganz im wachen 
Zustand, oder wirkliche Begebenheiten vermeint der Schlaf- 
wandler nur geträumt zu haben. Meist ist die Erinnerung 
an das in früheren Anfallen Geschehene auf die Zeit der 
jeweiligen Anfalle beschränkt, ein eigenthümlicher Zustand 
von Doppelleben und Doppelbewusstsein. 

Die Literatur besitzt Fälle, wo in solchen Anfällen 
criminelle Handlungen (Tödtung, Diebstahl, Schwängerung) 
stattgefunden haben. Das Schlafwandeln ist eine Nerven- 
krankheit, wahrscheinlich nur Theilerscheinung anderer 
Nervenkrankheiten (Epilepsie, Hysterie). Es findet sich 
vorwiegend im jugendlichen Alter, namentlich zur Zeit der 
Pubertätsentwicklung. Die Anfälle bestehen nicht selten 
Jahre lang, kehren zuweilen täglich und zu bestimmten 
Stunden wieder, werden immer von Schlaf eingeleitet; zu- 
weilen gehen ihnen leichte Convulsionen oder kataleptische 
Starre der Muskeln voraus. Der Anfall geht in einen Zu- 
stand von gewöhnlichem Schlafe wieder zurück oder wenn 
er durch äussere oder innere Anregung unterbrochen wird, 
geht er durch ein kürzeres oder längeres Stadium schlaf- 
trunkenartiger Verworrenheit in den wachen Zustand über. 
Die Traumvorstellungen können mehr oder weniger ge- 
ordnet und einfache Reproduktionen gewohnter Vorstellungs- 
gruppen des wachen Lebens sein, oder sie sind mangelhaft 
associirt und verworren. Dem entsprechend ist der Nacht- 
wandler zur Vornahme zweckmässiger Handlungen, zur 
Fortsetzung und Besorgung gewohnter Geschäfte fähig oder 
er dämmert planlos umher. 



Schlafwandeln. 171 

Die Constatirung der Krankheit hat in der Regel keine 
Schwierigkeiten, da sie eine chronische Neurose ist, ander- 
weitige Zeichen einer solchen, Prädispositionen zu Nerven- 
krankheiten sich etwa finden und weitere Anfälle sich be- 
obachten lassen. Dass eine criminelle That wirklich in 
einem solchen Anfalle begangen wurde, muss aus einer 
Reihe von Umständen erschlossen werden. 

Wiqhtig kann es bei typischen Anfallen werden, ob 
die That in die gewöhnliche Zeit derselben fallt. Das Zu- 
standekommen einer zweckmässig combinirten That schliesst 
das Schlafwandeln nicht aus. Bezüglich der That selbst 
und ihrer näheren Umstände können sich wichtige Anhalts- 
punkte ergeben, insofern z. B. zu ihrer Ausführung dem 
wachen Leben unmögliche (Weg über's Dach etc.) Mittel 
und Wege eingeschlagen wurden. 

Auch hier kann schliesslich die genaue Ermittlung 
wie sich die Erinnerung verhält, werthvolle Anhaltspunkte 
ergeben. 

Nie hat der Schlafwandler die Erinnerung für das, 
was in die Zeit seines Anfalles fiel, als Erlebtes, höch- 
stens als Geträumtes, in der Regel fehlt alle Erinnerung, 
wie im tiefen Schlafe. Jedenfalls ist es unmöglich, dass 
er sich an ein Faktum erinnere, das in die Zeit seines Zu- 
standes fallt, während er zeitlich vor oder nachher statt- 
gefundener Begebenheiten sich gar nicht erinnert oder sie 
nur geträumt zu haben vorgibt. Im Anfalle selbst ist 
gegenüber möglicher Simulation zu beachten, dass die 
Sinneswahrnehmung aufgehoben ist, oder sich auf das, was 
mit den das Traumbewusstsein erfüllenden Vorstellungen 
zusammenhängt, beschränkt. Bemerkenswerth ist auch der 
starre, verschlafene Ausdruck des Gesichts und der stiere 
wie verglaste Blick. 



172 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 



2. Fieber- und Erschöpfungsdelirium. 

Die Gehirnrinde, an welche die Funktion der geistigen 
Vorgänge geknüpft ist, erweist sich als ein äusserst blut- 
reiches und fein organisirtes Organ. Schwankungen des 
Blutgehalts, Verunreinigung des Bluts mit fremdartigen 
(giftigen) und dadurch reizenden Stoffen u. dgl. stören so- 
fort den Ablauf der psychischen Processe, beeinflussen die 
Stimmung, die Klarheit des Bewusstseins bis zur völligen 
Bewusstlosigkeit und sind geeignet, Delirien und Sinnes- 
täuschungen herbeizuführen. 

Solche Störungen der Gehirnernährung treten besonders 
leicht in fieberhaften Krankheiten ein und zwar auf der 
Höhe derselben oder in der Periode der Entfieberung und 
beginnenden Reconvalescenz. Es sind namentlich Krank- 
heiten, die auf Blutvergiftung beruhen und mit hohem 
Fieber (Scharlach, Blattern, Wechselfieber, Typhus, Py- 
ämie), bei denen ^ Phantasmen* des Kranken bemerkt wird, 
jedoch können auch Krank heitszustände mit massigem Fieber, 
wenn sie nervöse Constitutionen oder Säufer befallen, sich 
mit Delirien compliciren. 

Das Delirium auf der Höhe und im Beginn der Krank- 
heit beruht auf Blutvergiftung und Fieberhitze, während 
das der beginnenden Reconvalescenz aus ungenügender 
Hirnernährung (Blutverarmung, Herzschwäche und dadurch 
bedingte Blutarmuth des Gehirns) sich erklären dürfte. 
Dies gilt namentlich für Krankheiten wie Cholera, Brust- 
fellentzündung etc., die bedeutende Säfte Verluste mit sich 
bringen, sowie für Lungenentzündung, wo mit plötzlich auf- 
hörendem Fieber die Triebkraft des Herzens ungenügend wird. 

Forensisch bedeutsam sind diese Delirien, weil auf Grund 
von Wahn, Sinnestäuschungen, Angst schwere Gewaltthaten 
gegen die Umgebung möglich sind. 

Ganz besonders wichtig ist die Thatsache, dass solche 
delirante Zustände, ja selbst förmliche Tobanfälle zuweilen 



Delirium. Mania transitoria. 173 

im Verlauf eines Wechselfiebers an Stelle der gewöhnlichen 
Fieberanfalle treten, so dass der Anschein eines selbstän- 
digen Anfalls von Geistesstörung hervorgerufen wird. Auch 
im Kindbettfieber hat man Delirium als Ursache der Er- 
mordung des Kinds beobachtet. 

Der Untersuchungsrichter wird in Gegenden, wo 
Wechselfieber endemisch ist, wo gerade eine Typhus- 
epidemie besteht, wo eine Wöchnerin einer Gewaltthat 
gegen ihr Kind angeschuldigt ist, wo einer solchen ver- 
dächtige Erscheinungen von Fieber vorausgegangen sind 
oder das Individuum gerade eine schwere Krankheit durch- 
gemacht hat, die Möglichkeit eines deliranten Zustands 
zur Zeit der That zu berücksichtigen haben, um so mehr, 
wenn die psychologischen Momente der That auffallig sind, 
die Thatumstände auf ein mehr oder weniger bewusstloses 
traumhaftes Handeln hinweisen und der Angeschuldigte 
Erinnerungsdefekte bietet. 

Die Zustände des Delirium sind rechtlich den Traum- 
und Intoxicationszuständen, nach Umständen auch den 
Geisteskrankheiten gleich zu stellen. 

Erkrankt ein Gefangener fieberhaft und delirirt er, 
so können etwaige compromittirende Aeusserungen, die der 
bewusstlose Kranke in seinem Delir im Sinn einer Selbst- 
anklage macht, niemals für den Indicienbeweis Verwerthung 
finden, da die Delirien eines Kranken vielfach an die ihn 
im gesunden Zustand beschäftigenden Erlebnisse anknüpfen 
und kein Schuldbewusstsein involviren. 

3. Die Mania transitoria. 

Mit diesem Namen ist viel Missbrauch getrieben wor- 
den, insofern man die verschiedenartigsten transitorischen 
Störungen des Geisteslebens, namentlich solche auf epilep- 
tischer Grundlage, damit bezeichnet hat. Es geht jedoch 
nicht an wegen des Missbrauchs des Namens, was foren- 
sisch eine Angelegenheit untergeordneten Ranges und nur 



174 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 

klinisch von Belang ist ; die Thatsache des Vorkommens 
einer Mania transitoria zu läugnen oder gar wegen ihrer 
„Gefährlichkeit* für das Forum zu ignoriren (Casper). 

Die echte Mania transitoria lässt sich als eine 20 Mi- 
nuten bis einige Stunden dauernde, plötzlich bei voller 
geistiger Gesundheit eintretende und mit einem tiefen, meist 
mehrstündigen Schlaf abschliessende transitorische Geistes- 
störung bezeichnen, in welcher schwere Bewusstseinsstörung, 
Ideenflucht, Bewegungsdrang bis zu völliger Tobsucht, De- 
lirien und Sinnestäuschungen vorwiegend schreckhaften In- 
halts psychisch die hervorragendsten Symptome sind, wäh- 
rend körperlich ein heftiger Congestionszustand zum Ge- 
hirn besteht. Auf der Höhe des Anfalls können sogar 
Convulsionen und Zähneknirschen als Symptome mächtiger 
Hirnreizung auftreten. 

Das ganze Krankheitsbild macht den Eindruck einer 
durch plötzliche und intensive aber rasch sich ausgleichende 
Ueberfluthung des Gehirns mit Blut gesetzten Hirnerregung. 
Dieser Annahme entspricht auch die nicht selten dem An- 
fall vorausgehende Congestion, das Auftreten der Mania 
transitoria bei vollsaftigen, jugendlichen, zu Congestionen 
geneigten Individuen, namentlich dann, wenn heftige Ge- 
müthsbewegungen, Excesse im Trinken, Sonnenhitze, Auf- 
enthalt in einer dunstigen heissen Stube einwirkten. Bei 
Frauen werden solche Anfälle fast ausschliesslich während 
und nach der Entbindung, wo Schmerzen, Erschöpfung, 
psychische Aufregung, Geburtsarbeit Congestionen zum 
Gehirn hervorrufen, beobachtet. 

Zweifellose Fälle von Mania transitoria kommen nur 
im wachen Zustand vor. Im Schlaf auftretende sind min- 
destens einer epileptischen Begründung höchst verdächtig. 
Bemerkenswerth ist der Umstand, dass in der Regel ein 
solcher Anfall transitorischer Manie nur einmal im Leben, 
als eine ganz isolirte Erscheinung vorkommt. 

Diese Krankheit kann den gesündesten Menschen be- 
fallen und zum Mörder machen. Wenn sie auch glück- 



Mania transitoria. 175 

licherweise höchst selten ist, so verdient sie forensisch alle 
Beachtung. Eine Gefahr für die Sicherheit der Rechts- 
pflege ergibt sich nicht aus ihrer Annahme, denn wenn sie 
auch eine flüchtige Erscheinung ist, so ergeben sich doch 
aus der Eigentümlichkeit der geistigen Störung Indicien 
und Thatumstände, an denen eine falschlich vorgeschützte 
derartige Krankheit (vergl. den instruktiven Fall von 
Schwartzer „Die transitorische Tobsucht* p. 168) noth- 
wendig scheitern muss. 
Diese Kriterien sind: 

1. Eine vollständige Aufhebung der Erinnerung für 
alle subjektiven und objektiven Begebnisse während der 
ganzen Dauer des Anfalls. Dieser bildet eine Lücke in 
der Continuität des Geisteslebens und diese Lücke ist zeit- 
lich scharf begränzt. Wer einen solchen bewusstlosen Zu- 
stand zur Zeit seiner That vorschützt, ist unsicher in der 
zeitlichen Begränzung seines Erinnerungsdefekts und einem 
bezüglichen Verhör nicht gewachsen. Er ist unsicher* und 
befangen in der Vernehmung, während der wirklich krank 
Gewesene jene Unbefangenheit besitzt, die nur wirkliche 
Unbewusstheit verleihen kann. Es kann geschehen, dass 
der Thäter noch schlafend am Thatorte betroffen wird. 

2. Das Handeln des bewusstlosen Kranken schliesst 
jede Prämeditation, Rücksicht auf Zeit und Ort aus, das 
Objekt ist ein ganz zufälliges, die Handlungsweise eine 
geräuschvolle, zerstörende, wuthartige, anscheinend grau- 
same. Die Verteidigung des Angeschuldigten beschränkt 
sich auf ein Nichtwissen der ihm zugeschriebenen That, 
er hat weder versucht, die Spuren derselben zu tilgen, 
noch den Verdacht auf einen Anderen zu lenken. 

Die Aufgabe des Experten ist es, aus Dispositionen 
und Gelegenheitsursachen den Krankheitszustand zu er- 
klären. Eine Simulation ist bei dem streng gesetzmässigen 
Ablauf und Zusammenhang der Symptome, sowie den deut- 
lich in die Augen springenden körperlichen Zeichen einer 
heftigen Hirncongestion aussichtslos. 



176 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 



4. Der melancholische Angstanfall (Raptus nielancholicus). 

Auf S. 125 wurde die Thatsache erwähnt, dass beim 
Melancholischen jederzeit Anfälle heftigster Angst bis zur 
Trübung des Selbstbewusstseins eintreten und explosive 
Gewaltakte herbeiführen können. Ganz dasselbe kann auch 
bei nicht melancholisch Erkrankten, im Gegentheil vor und 
nachher geistig Gesunden geschehen. Ein Raptus melancholi- 
cus als freistehende Krankheitserscheinung wird zuweilen bei 
Epileptikern, Hypochondern, Hysterischen, Säufern, bei 
durch Onanie, Blutverluste, den Gebärakt Geschwächten 
oder mit einer Erkrankung des Herzens (fettige Entartung) 
Behafteten beobachtet. 

Die in der Herzgegend gefühlte Angst ist eine heftige, 
das Selbstbewusstsein geht verloren, der sinnlose Kranke 
wird getrieben, seiner ängstlichen Spannung in zerstörenden 
Bew^egungsakten Luft zu machen, er verfällt in blindes 
Wüthen und Toben, dem im besten Fall die Einrichtung seines 
Zimmers zum Objekt dient, ebenso leicht aber das Leben 
der Umgebung zum Opfer wird. Der vom Angstanfall 
getroffene Kranke ist blass, sein Puls unterdrückt, sein 
Antlitz entsetzt, verfallen, sein Athmen beschleunigt bis 
keuchend. 

Nach Minuten bis einer halben Stunde löst sich die 
ängstliche Spannung, der tobende Kranke wird erschöpft, 
ruhig, kommt wie aus einem schrecklichen Traume zu sich 
und fühlt sich erleichtert. Die Begebnisse des Anfalls stehen 
traumhaft, summarisch in seinem Bewusstsein da oder die 
Erinnerung fehlt selbst gänzlich. 

Die Handlungsweise und die Thatumstände entsprechen 
annähernd den bei der Mania transitoria angedeuteten. Be- 
merkenswerth ist die Rücksichtslosigkeit und Wuth in der 
Ausführung von Gewaltthaten und die kritische, lösende 
Wirkung dieser auf den Angstzustand, so dass der aus 
diesem zu sich kommende Thäter sich befriedigt und er- 



Rapt. mel. Intoxikationszastände. 177 

leichtert gleich nach der Thät fühlt, selbst wenn diese eine 
ungeheuerliche gewesen ist. 

Die Simulation eines solch gewaltigen und unter so 
markanten körperlichen Symptomen ablaufenden Seelen- 
sturms dürfte Niemand gelingen. Die Vorschützung eines 
Anfalls begegnet denselben Schwierigkeiten wie bei der 
Mania transitoria. Der sachverständige Nachweis eines 
Raptus melancholicus findet in der ursächlichen Begründung 
und Zurückführung auf erfahrungsgemäss wichtige Nerven- 
krankheiten und körperliche Störungen überhaupt, in der 
Berücksichtigung der Thatumstände, die das Gepräge einer 
explosiven Gewaltthat bei tief gestörtem Bewusstsein an 
sich tragen, sowie in den Defekten der Erinnerung für den 
Zeitabschnitt des fraglichen Anfalls genügende Anhalts- 
punkte. 

5. Die Intoiikationszustände. 

Hieher gehören die Wirkungen, welche der Genuss 
von Spirituosen oder narkotischen (giftigen) Stoffen auf die 
geistigen Funktionen ausübt und damit die rechtliche Ver- 
antwortlichkeit in Frage stellt. Von der grössten Bedeu- 
tung in foro sind die Wirkungen des absoluten oder rela- 
tiven Uebergenusses von Alkohol auf das Gehirn. 

a) Die Alkoholintoxikation. Gewöhnlicher Rausch und pathologische 
Alkoholzustände. 

Deutsch. StGB. § 51. Oesterr. St.G.B. § 2. lit. c. § 236. 523 ff. Oest. 
StG.Entw. § 57. 

Der vollentwickelte Rausch ist, wissenschaftlich be- 
trachtet, nichts Anderes, als ein künstlich erzeugtes Irre- 
sein und je nach Individualität des Trinkers, sowie nach 
Quantität und Qualität des Spirituosen Getränks sind die 
Formen und Symptome dieses Alkoholirreseins verschieden. 

Am häufigsten unter allen Alkoholzuständen sind es 
Fälle einfacher Berauschung, die zum Gegenstande foren- 

v. Kr äfft- E bin g, Oriminalpsychologle. 2. Auflage. 12 



178 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

sischer Beurtheilung werden, insofern sie zu Körperver- 
letzungen, Todtschlag, Ehrenkränkungen, Majestätsbeleidi- 
gungen und andern criminellen Handlungen führen. 

Gewöhnlich spielen sich die Fälle einfacher Berau- 
schung unter dem Bild einer maniakalischen Exaltation ab. 
Der Gedankenfluss wird rascher, die Stimmung gehoben, 
Gedächtniss und damit Combination und Reproduktion ge- 
steigert. Ein deutlicher Bewegungsdrang gibt sich in Singen, 
Schreien, Lachen, Tanzen, allerlei muthwilligen und viel- 
fach zwecklosen Handlungen kund. Im weitern Verlaufe 
verlieren sich eine Reihe ästhetischer Vorstellungen, mora- 
lischer Urtheile, die hemmend und controlirend dem ge- 
sunden Ich sonst zu Gebote stehen. — Der Betrunkene 
plaudert seine eignen und anderen Geheimnisse aus, — in 
vino veritas — er setzt sich über Sitte und Anstand hin- 
weg, er wird cynisch, brutal, unduldsam, rechthaberisch, 
aggressiv. 

Zuletzt kommt es zu einem Zustand psychischer 
Schwäche (zu Abnahme des Gedächtnisses, zu Mattigkeit, 
Schläfrigkeit, Verworrenheit), es treten Hallucinationen 
und Illusionen auf, und ein Zustand blödsinnigen Stupors 
schliesst die Scene ab, 

Die frühere Strafgesetzgebung hat sich vergebens be- 
müht, sichere Anhaltspunkte für die Zurechnungsfähigkeit 
des Berauschten zu gewinnen. Sie scheiterte in thesi und 
praxi daran, dass die geistigen Zustände des Berauschten 
äusserst mannigfache Grade darstellen und die Uebergänge 
fliessende sind. Praktisch kommt dazu noch die Schwierig- 
keit festzustellen, in welchem Stadium eines Rausches genau 
die strafbare Handlung begangen wurde. Die Beurthei- 
lung des psychischen Zustands eines Berauschten kann nur 
eine ganz concrete sein. Insofern im Rausch, selbst da, 
wo es sich nur um Zustände der Weinwarmheit oder leich- 
ten Angetrunkenheit handelt, die ganze Summe ästhe- 
tischer, ethischer, rechtlicher Hemmungsvorstellungen in ihrer 
Wirksamkeit beeinträchtigt erscheint, muss der Rausch, selbst 



Rausch. 179 

leichten Grades, als mildernder Umstand anerkannt werden. 
Oesterreich lässt in diesem Zustand die Strafe der Ueber- 
tretung eintreten, da wo ausserhalb desselben die Handlung 
als Verbrechen zugerechnet werden müsste. 

Ein psychologischer Nonsens ist die Lehre von Savigny, 
wornach ein Verbrechen im Rausch als prämeditirt möglich 
gedacht wird, denn war es prämeditirt, so kann nur ein 
weinwarmer, nicht aber die Zurechnungsfahigkeit aufheben- 
der Rausch bestanden haben, war aber ein solcher im vollen 
Sinn des Wortes vorhanden, so machte er jegliche ununter- 
brochene Ausführung des etwa Prämeditirten , also den 
Kausalzusammenhang zwischen Entschluss und That un- 
möglich, wenn auch nicht geläugnet werden kann, dass der 
Rausch oft schon längst vorhandene Antriebe zu strafbaren 
Handlungen entfesselt, die im nüchternen Zustand noch 
beherrscht wurden *). 

Die neuere Gesetzgebung thut wohl daran, dass sie 
die Zurechnungsfrage des Berauschten ganz unberührt lässt, 
so dass ein solcher Zustand nur dann die Zurechnungsfähig- 
keit aufzuheben geeignet ist, wenn er zur Bewusstlosigkeit 
oder krankhaften Störung der Geistesthätigkeit geführt hat. 

Es ergeben sich somit zwei Categorien von Alkohol- 
reaktionszuständen, die eine, bei welcher das Bewusstsein 
nicht geschwunden ist, die andere, bei welcher dies der Fall 
ist. Das sicherste Kriterium zur Unterscheidung bietet 
das Verhalten der Erinnerung. 

Während bei Fällen einfacher Berauschung der Richter 
auf Grund der Zeugenaussagen, der Berücksichtigung der 
Quantität und Qualität des genossenen Getränks, der That- 
umstände und allgemein psychologischen Kriterien den Fall 
zu beurtheilen vermag, ist es anders bei dem zur Bewusst- 
losigkeit gediehenen Rausch. 



*) unhaltbar dürfte auch sein die im Oesterr. Strfgs. § 2 lit. c. 
(„in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Be- 
rauschung") enthaltene Annahme der Zurechnung des Verbrechens, 
zu dessen Begehung der Thäter sich vollberauscht hatte! 



180 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 

Hier spielen wohl immer constitutionelle oder über- 
haupt somatische, nicht rein psychologische Momente eine 
Rolle, zu deren Würdigung nicht der Richter, sondern nur 
der ärztliche Experte berufen und competent sein kann. 
Die erwiesene Behauptung des Angeschuldigten, dass er 
sich einer (im Rausch begangenen) strafbaren Handlung 
nicht bewusst sei, sollte den Richter veranlassen, sich der 
Beihülfe des Experten zu bedienen. 

Die abnorme d. h. ungewöhnlich intensive und bis zur 
Bewusstlosigkeit sich steigernde Wirkung des Alkohols 
kann bedingt sein: 

a) durch angeborene fehlerhafte Hirnorganisation, welche 
das Gehirn widerstandsunfähig gegen die congestionirende 
und toxische Wirkung der Spirituosen macht (Hirnaffek- 
tionen in den ersten Lebensjahren, meist mit Hemmung 
der geistigen Entwicklung). Häufig ist diese mangelhafte 
Toleranz für Alkohol eine erblich bedingte (Belastungs-, 
Degenerationszeichen s. o. S. 103 psychische Entartungs- 
zustände) ; 

b) die abnorm intensive Reaktionsweise auf Alkohol 
ist eine erworbene durch überstandene Hirnerkrankungen, 
Kopfverletzungen, Schwächung des Gehirns in Folge von 
fortgesetzten Alkoholexcessen, bestehende Hirn- und Nerven- 
krankheiten (Epilepsie); 

c) die Reaktionsweise auf Alkohol ist eine ungewöhn- 
lich intensive, weil mit einem Excess im Trinken zufallige, 
die congestionirende Wirkung des Alkohol steigernde Um- 
stände (Gemüthsbewegungen, körperliche Anstrengung, ge- 
schlechtliche Aufregung, Sonnenhitze, Trinken bei nüch- 
ternem Magen, Beimischung narkotischer Stoffe zum Ge- 
tränk) zusammentrafen. 

Am wichtigsten sind hiebei Affekte. Es ist nicht zu 
übersehen, dass zwischen der Einwirkung von Alkohol 
und Affekt ein längerer Zeitraum massiger, durch den Al- 
kohol erzeugter Hirncongestion liegen kann, in welchem 
sich der Betreffende noch leidlich besonnen zeigte, bis 



Pathologische Alkoholzustände. 181 

plötzlich durch das Plus eines einwirkenden Affekts ein 
bewusstloser unfreier Zustand herbeigeführt wurde. Man 
muss sich dann hüten, blos der Einwirkung des Affekts 
zuzuschreiben , was gemischter Effekt jenes und des Al- 
kohols war. Solche Fälle von combinirter Wirkung von 
Rausch und Affekt sind in der Praxis äusserst häufig. 

Es begreift sich, dass Menge des genossenen Getränks 
und Wirkung vielfach in keinem Verhältniss zu einander 
stehen, eben weil innere organische oder ausserge wohnliche 
zufallige Bedingungen die Erregbarkeitsschwelle des Ge- 
hirns für alkoholische Getränke tiefer setzten. Dieses 
Missverhältniss zwischen constatirter Menge des Getränks 
und Wirkung muss nebst der Erinnerungslosigkeit für den 
Richter einen weiteren Fingerzeig für die pathologische 
Begründung des alkoholischen Ausnahmezustands abgeben. 

Leider wird Angesichts solcher Zustände von den 
Richtern und Geschworenen häufig Bewusstlosigkeit im 
gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht im rechtlich psycho- 
logischen genommen, und die Bewusstlosigkeit des (sinnlos) 
Betrunkenen nicht statuirt, weil der Betreffende noch mit 
der Aussenwelt verkehrte, zusammenhängend sprach und 
handelte, obwohl ein solches Verhalten (vgl. Traumzustände, 
Mania transitoria) durchaus nicht die Möglichkeit aus- 
schliesst, dass Jemand gleichzeitig des Selbstbewusstseins 
beraubt war, resp. nicht wusste was er that. Die Ent- 
scheidung dürfte auch hier im Verhalten des Erinnerungs- 
vermögens, als des besten Reagens für die Ermittlung des 
Standes des Selbstbewusstseins liegen. 

Wohl zu beachten ist eine eigenthümliche momentane 
Aufhellung des Bewusstseins bei solchen Zuständen z. B. 
nach einer Gewaltthat, im Moment der Verhaftung, des 
Verlassens der heissen Atmosphäre der Trinkstube etc., 
die dann eine momentane richtige Beantwortung einiger 
gestellter Fragen, ein zweckmässiges Gebahren ermöglicht, 
an die sich aber der Inkulpat nachträglich nicht erinnert. 
Solche Thatsachen werden dann leicht im Beweisverfahren 



182 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

einseitig für die Anschauung verwerthet, dass der Betref- 
fende nicht sinnlos betrunken, bewusstlos gewesen sei, ob- 
wohl doch der Mangel der Erinnerung dafür spricht. Es 
erinnert dies an einen ähnlichen Zustand bei Epileptischen, 
die nach einem Anfall anscheinend wieder bei sich sind, 
vernünftig sprechen und handeln, und hinterher gar nicht 
wissen, was sie in diesem scheinbar wieder besonnenen 
Zustand gethan haben. 

Mit der Geltendmachung des „bewusstlosen" Rauschs 
ist die Reihe der Zustände von pathologischer Alkohol- 
reaktion jedoch keineswegs erledigt. Es gibt solche, eben- 
falls auf Grund innerer organischer Ursachen oder zu- 
fälliger die Alkoholwirkung unterstützender Momente, bei 
welchen das Symptomenbild durchaus nicht mehr dem eines 
gewöhnlichen oder bewusstlosen Rauschs entspricht, sondern 
vielmehr in Wesen und Verlauf sich als ein Ausbruch 
transitorischer Geistesstörung darstellt. Da bei der Ent- 
stehung dieser der Alkoholgenuss nur eine Mitursache bil- 
dete, braucht die Quantität des genossenen Getränks keine 
besonders grosse gewesen zu sein und kann die Geistes- 
störung ohne vorausgehende Zeichen einer Berauschung 
eingetreten sein. 

Als praktisch wichtige Formen solcher transitorischen 
Geistesstörung ergeben sich: 

a) Anfälle gewöhnlicher Mania transitoria; 

b) Zustände von angstvollem hallucinatorischem De- 
lirium, die bis zu mehreren Tagen dauern können. Sie 
scheinen nur bei dem Trunk habituell Ergebenen vorzu- 
kommen; 

c) Zustände von epileptischem hallucinatorischem De- 
lirium. Der (relative) Alkoholexcess kann dabei von einem 
gewöhnlichen Epileptischen begangen und Anlass eines 
neuerlichen epileptischen Anfalls mit folgendem Delirium 
sein oder die Epilepsie ist erst auf dem Boden der Trunk- 
sucht entstanden. 

Die schwersten Gewaltthaten kommen bei dieser Com- 



Narkotische Vergiftungen. 183 

bination von Trunksucht und Epilepsie zu Stande mit für 
diese beiden Entartungszustände nahezu bezeichnendem 
brutalem Zerstörungsdrang. 

Für alle diese transitorischen Geistesstörungen unter 
dem Einfluss des Alkohols ist eine tiefe Störung des Be- 
wusstseins und ein völliger Erinnerungsdefekt Regel. • 

Der Richter möge aus allen diesen Erfahrungsthat- 
sachen ermessen, wie wenig die Zustände der Alkoholin- 
toxikation einer generalisirenden Beurtheilung zugänglich 
sind, wie fliessend die Uebergänge von der blossen Wein- 
warmheit bis zur tiefsten Störung des Selbstbewusstseins, 
wie häufig und mannigfach bestimmend hier constitutionelle 
und somatische Bedingungen eingreifen und wie sehr es 
nöthig ist, dass er, wenigstens überall da, wo sich Erinne- 
rungsdefekte ergeben, den ärztlichen Sachverständigen zu 
Rathe ziehe. 

b) Vergiftungszustände des Gehirns. Narkotismus. 

Es gibt zahlreiche ätherische (Oele, besonders Absynth, 
Schwefeläther, Chloroform) Stoffe, narkotische Substanzen 
(giftige Schwämme, Opium, Tollkirsche, Stechapfel, Bilsen- 
kraut u. s. w.) und metallische Verbindungen (Blei), die, 
in grösserer Dosis dem Organismus zugeführt, so lange sie 
im Blut kreisen, die auf sie äusserst empfindlich reagirende 
Hirnrinde in Erregung versetzen, Delirien und Hallucina- 
tionen, Angst- und Wuthanfalle hervorrufen und dadurch 
Anlass zu strafbaren Handlungen geben können. 

Solche Zustände von Vergiftungsdelir dauern Stunden 
bis Tage und gehen mit einer tiefen Störung des Bewusst- 
seins einher. 

Bei dem grossen Missbrauch, der heutzutage mit 
Morphium getrieben wird, muss der Thatsache gedacht 
werden, dass auch die plötzliche Entziehung dieses Genuss- 
mittels bei daran Gewöhnten, ähnlich wie beim Säufer die 
Entbehrung des Alkohol, den Ausbruch eines Delirium- 
tremens-artigen Zustands hervorrufen kann. 



Ig4 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

Hie und da scheint das Chloroform eigentümliche 
Wirkungen, und zwar auf die Geschlechtssphäre auszu- 
üben, indem es die Empfindungen des Beischlafs erzeugt. 
So sind Fälle in der Literatur bekannt, wo Frauen den 
chloroformirenden Arzt anklagten, ihren bewusstlosen Zu- 
stand während der Narkose missbraucht zu haben, obwohl 
die Untersuchung ergab, dass diese Beschuldigungen sich 
rein auf Hallucinationen gründeten. 

6. Die Affektzustände. 
Physiologischer und pathologischer Affekt. 

Deutsch. St.G.B. §§ 212. 213. Oesterr. St.G. § 2 lit. g. § 46 lit. d. 
§ 264 lit. e. Oesterr. Entw. § 60. Schi. § 220. 

Eine mächtig und plötzlich die Interessen der Persön- 
lichkeit beeinflussende Vorstellung kann das ruhige Gleich- 
gewicht der psychischen Funktionen erschüttern und damit 
den inneren Kern der Persönlichkeit mächtig afficiren. In- 
dem die afficirende Vorstellung lebhafte Gefühle hervor- 
ruft und den Ablauf des Vorstellens bis zur völligen Ver- 
wirrung stört, vermag der Affektvorgang die Besonnenheit 
und Ruhe der Ueberlegung unmöglich zu machen und 
stellt damit die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit in 
Frage. Obwohl dieser Zustand des Affekts an und für sich 
ein rein physiologischer ist, sieht sich der Gesetzgeber doch 
veranlasst, die in der Hitze des Affektes beschlossenen 
und ausgeführten Handlungen viel milder zu beurtheilen 
und mit geringerer Strafe zu bedrohen als die überlegten, 
so zu sagen mit kaltem Blut begangenen. Er unterscheidet 
die im Affekt begangenen Verbrechen gegen das Leben 
als der Ueberlegung ermangelnde Handlungen (Todtschlag) 
von dem kaltblütig überlegten und ausgeführten Mord und 
gewährt im Allgemeinen den im Affekt verübten strafbaren 
Handlungen die Wohlthat mildernder Umstände. 

Wie bei den Rauschzuständen sind auch beim Affekt- 
vorgang fliessende Intensitäts- und Qualitätsunterschiede zu 



Affektzustände. 185 

bemerken von einer leichten Erregung des Gemüths bis 
zum wildesten Affektsturm, in welchem das Selbst- und 
Weltbewusstsein momentan untergeht. 

Ausschlaggebend für die Mächtigkeit des Affekts sind 
verschiedene Umstände. Zunächst die Art des Affekts. 

Heitere Affekte erheben sich nicht leicht beim Er- 
wachsenen zu bedeutender Höhe und finden eine rasche 
Ausgleichung. Affekte der Angst, des Entsetzens fuhren 
schon leichter zu einer Trübung des Selbstbewusstseins 
(Sinnes Verwirrung) und zu kopflosen, selbst gefahrlichen 
Handlungen. Am mächtigsten wirkt auf das psychische 
Leben der Affekt des Zorns und Casper hat nicht Unrecht, 
wenn er gewisse Höhezustände des zornigen Affekts dem 
Wahnsinn vergleicht („ira furor brevis a ) und als „Wahn- 
sinn der Zorntrunkenheit* bezeichnet. 

Neben der Art des Affekts sind wichtig und ausschlag- 
gebend die Individualität des Afficirten, Eigentümlich- 
keiten des Temperaments, des Charakters. Sie sind meist 
originäre, vielfach ererbte, aber auch zufällige Momente 
können die psychische Afficirbarkeit beeinflussen. Als psy- 
chologische Momente ergeben sich vorausgehende gemüth- 
lich irritirende (Kummer, Sorgen, Eifersucht und andere 
Leidenschaften) als somatische, schwächende Einflüsse auf 
das Gehirnleben (schwere, die Ernährung herabsetzende 
Krankheiten, Nahrungsmangel oft in Verbindung mit Al- 
koholübergenuss, Blutverluste, Wochenbett, der Vorgang 
der Menstruation). 

Nicht minder wichtig für die Heftigkeit des Affekts 
ist die Unerwartetheit sowie die Mächtigkeit der das Ge- 
müthsleben afficirenden Vorstellungsgruppe. 

Ganz besonders mächtig wirken Affekte, deren affi- 
cirender Anlass eine Lebensbedrohung (Ueberschreitung der 
Gränzen der Verteidigung im Stand der Nothwehr), eine 
tiefe Verletzung sittlicher (Ehre) oder sexueller Gefühle 
(unglückliche Liebe, Eifersucht) oder vitaler Interessen 
(Verzweiflung über erfolglosen Kampf ums Dasein, Noth 



186 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

der liebsten Angehörigen) bildet. Namentlich mächtig ist 
der Affekt in oder bald nach der Geburt, da wo diese eine 
uneheliche oder aussereheliche ist, und die mächtig das 
Gemüth ergreifenden Vorstellungen der Schande durch ver- 
lorene Geschlechtsehre u. s. w. (vergl. S. 43) mit der Mutter- 
pflicht in Conflikt gerathen und nicht selten ihre tragische 
Lösung in dem Mord des Kindes finden. Mit Recht stellt 
die humane Strafgesetzgebung der Neuzeit diese Art des 
Mords als ein besonderes Verbrechen hin und bestraft 
es mild. 

Neben der Intensität eines Affekts ist criminalpsycho- 
logisch seine Dauer zu berücksichtigen. Es ist Regel, 
dass der Affekt rasch seine Ausgleichung in einer Sekre- 
tion (Weinen) oder in einer erleichternden That findet, 
aber es gibt Individualitäten, bei welchen zwischen affi- 
cirendem Ereigniss und That ein längerer Zwischenraum 
treten kann, insofern der Affekt noch eine Zeitlang be- 
herrscht wird, bis durch ein neues, vielleicht ganz gering- 
fügiges psychisches Moment oder durch einen Versuch, den 
Aerger wegzutrinken u. s. w., der glimmende Funke zur 
lodernden Flamme angefacht wird und der letzte Rest von 
Selbstbeherrschung verloren geht. Der psychische Zustand 
in dieser Zwischenzeit erfordert dann eine genaue Unter- 
suchung. Die Annahme, dass eine Handlung unmittelbar 
dem afficirenden Vorgang folgen müsse, um als Affekthand- 
lung anerkannt zu werden, sowie, dass ein Affektzustand 
die Ueberlegung ausschliesse, ist psychologisch unhaltbar. 

Fälle, in welchen ein Affekt eine ungewöhnlich lang- 
same Ausgleichung findet, müssen den Verdacht einer pa- 
thologischen Begründung erwecken, um so mehr, wenn der 
Affekt besonders intensiv war und auf seiner Höhe Ä Be- 
wusstlosigkeit" eintrat. 

Mit diesen Kriterien ist die physiologische Gränze des 
Affekts überschritten, der Affekt wird ein pathologischer. 
Er wird es durch organische Bedingungen und entzieht sich 
damit der Domäne und Beurtheilung des Richters. Um 



Pathologische Affektzustände. 187 

ein Verständniss für die Entstehung solcher pathologischer 
Affektzustände zu gewinnen, ist es nöthig, die schon in 
dem gewöhnlichen Affektvorgang zu Tage tretenden körper- 
lichen Erscheinungen zu betrachten. 

Der Anlass des Affekts ist eine psychische Erschüt- 
terung. Die Folge dieser ist eine Veränderung der Gleich- 
gewichtslage der Vorstellungen, wobei mächtige Impulse 
zur Abwehr oder Ausgleichung hervorgerufen werden und 
die Widerstandskraft sittlicher und rechtlicher, sonst zu 
Gebot stehender Vorstellungen, geschwächt ist. 

Neben dem psychischen Vorgang besteht aber ein 
körperlicher — die Einwirkung der afficirenden Vorstel- 
lungsgruppe auf die Circulation. Die Todtenblässe des 
Erschreckten, die Schamröthe des Verlegenen, die Zornes- 
röthe des Beleidigten sind sichtbare Zeichen wie mächtig 
der Affektvorgang auch in die körperlichen Funktionen 
eingreift. Die Circulation im Körper steht unter dem 
regulatorischen Einfluss von Nerven (Gefässnerven). Auf 
diese wirkt die afficirende Vorstellung und setzt, je nach 
Art des Affekts, Blutarmuth (Gefässkrampf) oder Blutüber- 
ftillung (Gefasslähmung) im Gehirn. Ueberschreitet diese 
Wirkung ein gewisses mittleres Mass, so wird der Affekt- 
vorgang ein abnorm intensiver und, indem die Circulations- 
störung sich nur allmälig wieder ausgleicht, ein abnorm 
langer. Der Affektvorgang bewirkt durch die begleitende 
CirculatioDsstörung eine tiefere, weil organische Hirnerre- 
gung, welche den Affekt abnorm intensiv und dauernd 
macht und eine Hirnaffektion darstellt, die nicht mehr nach 
dem Schema eines Affekts ablauft, weil, gleichwie bei ge- 
wissen pathologischen Alkoholzuständen der Alkohol, hier 
der Affekt nur den Anstoss zu einer selbständigen Hirn- 
störung abgibt. Das Krankheitsbild entspricht in solchen 
Fällen dem einer transitorischen Manie, eines acuten De- 
liriums oder einer stuporartigen Hemmung der Geistes- 
funktionen. 

Hier handelt es sich dann nicht mehr um physiolo- 



188 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit. 

gisehe, sondern um pathologische, weil delirante psychische 
Zustände (Sinnenverwirrung, „Wahnsinn der Zorntrunken- 
heit a ), die eine klinisch-ärztliche Beurtheilung nöthig machen. 

Diese pathologischen Affekte sind um so leichter mög- 
lich, je mehr durch organische constitutionelle Vorgänge 
die regulatorischen GefiLssnerven des Gehirns dem Affekt- 
vorgang gegenüber abnorm widerstandsunfähig sind oder 
mit dem Affekt gleichzeitig die Circulation des Gehirns 
beeinflussende Umstände (hohe äussere Temperatur, Alko- 
holgenuss, körperliche Erregung, z. B. durch Tanz) zur 
Geltung gelangen. 

Die organischen Bedingungen dieser pathologischen 
Affektzustände sind folgende: 

1) Es gibt Menschen, bei denen von frühester Jugend 
an eine solche Gemüthsreizbarkeit und Leidenschaftlichkeit 
sich kundgibt, deren Affekte so wenig motivirt eintreten, 
so heftig und ungewöhnlich verlaufen, dass man sich des 
Eindrucks einer organischen Begründung dieser Gemüths- 
anomalie nicht erwehren kann. Diese Vermuthung ge- 
winnt um so mehr Raum, wenn man sieht, wie vergeblich 
Erziehung und Cultur diesen vermeintlichen Charakterfehler 
zu tilgen bemüht sind, wie häufig gegen alles bessere Wollen 
und Wissen solcher Menschen ihr Ich im Affekt unterliegt 
und die Forderungen des Sitten- und Strafgesetzes, ihre 
Affekte zu beherrschen, ihnen unerfüllbar sind. 

Die Erfahrung lehrt nun, dass solche Individuen viel- 
fach zum Irresein disponirt sind, in der Ascendenz oder 
sonstigen Blutsverwandtschaft geistesgestörte Verwandte 
haben, durch allerlei Charakteranomalien, Bizarrerien und 
Excentricitäten ihre psychopathische Abkunft verrathen, 
ja wohl vorübergehend sogar in wirkliche Seelenstörung 
verfallen. 

2) Aehnliche Zustände krankhafter Gemüthsreizbarkeit 
wie hier auf Grund erblicher psychopathischer Anlage, ent- 
wickeln sich in Folge oder im Verlanfe der verschiedensten 
Hirnkrankheiten. So hat man sie nach Kopfverletzungen, 



Pathologische Affektzustände. 189 

nach Schlagfluss und Hirnentzündung, nach Typhus, nach 
Geisteskrankheiten entstehen sehen. Eine solche patho- 
logische Gemüthsreizbarkeit findet sich ferner bei ange- 
borenem und erworbenem Schwachsinn, bei Taubstummen, 
bei den affektartigen Anfangsstadien, in den Remissionen 
des Irreseins, im Verlaufe gewisser allgemeiner Neurosen, 
namentlich der Epilepsie, sowie auch des Veitstanzes, der 
Hysterie und Hypochondrie. 

3) Aber auch verschiedene psychische und physische 
schwächende Einflüsse auf das Nervensystem, andauernde 
Affekte und Leidenschaften, Alkohol- und sexuelle Excesse, 
chronische Krankheiten, die Schlaf, Ernährung und Blut- 
mischung tief stören, können solche die physiologische 
Gränze übersteigende Affekte herbeifuhren, denn immer ist 
die jeweilige Reizbarkeit nur ein Produkt aller aufs Nerven- 
system eingewirkt habenden Reize. 

4) Vielfach wirken mehrere der angeführten Bedin- 
gungen zusammen, um den Affekt zu einem pathologischen 
zu machen, z. B. Affekt und Epilepsie, psychopathische An- 
lage und Berauschung. Ganz besonders überwältigend ist 
die Wirkung eines Affekts bei Schwachsinnigen, da hier 
zur accessorischen Störung eine tiefe präexistirende des 
psychischen Mechanismus kommt. 

Man hat in früherer Zeit geglaubt, eine eigene Form 
psychischer Krankheit (Excandescentia furibunda) aus sol- 
chen Zuständen pathologischer Gemüthsreizbarkeit machen 
zu müssen, obwohl sie nur eigenthümliche Reaktionsweisen 
abnormer psychischer Anlagen oder Zustände sind. 

Bei der Beurtheilung der zahlreichen, aus solchen 
pathologischen Affekten erfolgenden Rechtsverletzungen 
(Tödtung, Körperverletzung etc.) ist eine eingehende 
Würdigung der angegebenen anthropologischen und klini- 
schen Momente dringend nothwendig. Sie wird den psy- 
chischen Stammbaum, die somatische und psychische Con- 
stitution, den habituellen psychischen Tonus (Tempera- 
ment), etwaige Aenderungen der gemüthlichen Erregbar- 



190 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit. 

keit durch Hirnkrankheiten und Nervenaffektionen, nament- 
lich etwa latente oder früher bestandene Psychosen, vor- 
zugsweise zu berücksichtigen haben. Indicien. für das 
Gegebensein einer pathologischen Affektstufe müssen dem 
Untersuchungsrichter vor Allem die Angabe des Inkul- 
paten sein, dass er sich der Handlung nicht oder nur 
lückenhaft erinnern könne; auch die Planlosigkeit, über 
alles vernünftige Mass hinausgehende Rücksichtslosigkeit 
und Grausamkeit des Thäters lassen nach Umständen 
auf eine vorhanden gewesene Störung seines Bewusstseins 
schliessen. 

Die criminellen Handlungen im physiologischen Affekt 
unterstehen der Domäne des Richters und fallen unter 
die Milderungsgründe des Gesetzbuchs; für die im patho- 
logischen Affekt verübten wird die Zurechnungsfähigkeit 
fraglich, selbst aufgehoben erkannt werden müssen, wo die 
Besinnung temporär geschwunden war und die Erinnerung 
lückenhaft oder mangelhaft sich zeigte. Solche Zustände 
fallen damit nothwendig unter den gesetzlichen Begriff 
der Bewusstlosigkeit. — 

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