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i
1
LIBRARY
OP THE
University of California.
Class
GEUNDZÜGE
DER
CRIMINALPSYCHOLOGIE
AUF
GRUNDLAGE DER DEUTSCHEN UND ÖSTERREICHISCHEN
STRAPGESETZGEBUNG
FÜR JURISTEN.
VON
Dr. R. von KRAFFT-EBING, .
K. K. o. 8. Professor der Psychiatrie an der Universität Graz, Mitglied des deutschen Vereins der
Irrenärzte, der Sociäte* medico-psychologique und der Societe de medecine legale in Paris, der Sociäte*
de metlecine in Gent, der Soci6te" de med. mentale de Belgique, der Societa fireniatriea italiana, der
mälico-psychological association in London etc.
Zweite gänzlich umgearbeitete Auflage.
^ OF THE
UNIVERSITY
OF
IFOBN^
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1882.
fc o«°
*v
toH£RAu
Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.
I
Herrn
Dr. Franz von Holtzendorff,
o. ö. Professor der Rechte an der Universität zu München,
zum Äbschluss des 25. Jahres segensreicher Wirksamkeit als
akademischer Lehrer
in hochachtungsvoller Freundschaft
der Verfasser.
200004
Vorwort zur ersten Auflage.
Die nachfolgenden Blätter sind die Frucht langjähriger
Erfahrungen und Studien auf dem Gebiet der Criminal-
psychologie und aus dem Wunsch entstanden, Richtern
und ärztlichen Sachverständigen eine möglichst klare und
kurz gefasste Darstellung dieser Disciplin für ihre prak-
tische Thätigkeit zu bieten.
Aus diesem Grund konnte nur auf sicher Erworbenes,
praktisch Wichtiges Bedacht genommen und darauf ver-
zichtet werden, in theoretische Betrachtungen, weitschweifige
Citate und Literaturangaben einzugehen.
Auch eine casuistische Illustration der einzelnen Ab-
schnitt^ schien entbehrlich. Eine reiche Ausbeute von
Fällen bieten die Werke von C asper, Liman, Fried-
reich' s Blätter, Henke's Zeitschrift, die Vierteljahrsschrift
für gerichtl. Medicin, die deutsche Zeitschrift für Staats-
arzneikunde, die Annales m^dico-psychologiques u. A.
Bezüglich eingehender Literaturangaben verweise ich
auf meine früheren gerichtsärztlichen Arbeiten.
Eine neue Bearbeitung des Gebietes der Criminal-
psychologie schien mir durch die Aenderungen der Gesetz-
gebung, wie sie mit Einführung des deutschen Strafgesetz-
VI Vorwort.
buches erfolgten, aber auch durch die Fortschritte der
Wissenschaft und die ungenügende Verbreitung derselben
geboten.
Gewisse Monstreprocesse in jüngster Zeit haben wenig-
stens gezeigt, wie unklar noch manche Anschauungen, wie
zäh gewisse Vorurtheile auf criminalpsychologischem Ge-
biet sich erweisen, wie weit die gerichtliche Psychologie
in ihrer praktischen Verwerthung noch davon entfernt ist,
eine j,Psychopathologie a zu sein, wie wenig gewisse Er-
rungenschaften der Anthropologie, Neuropathologie, empi-
rischen Psychologie gewürdigt werden.
Hoffentlich tragen diese Blätter dazu bei, Fortschritt
und Interesse in einem social und wissenschaftlich höchst
bedeutsamen Gebiet anzuregen. Ich übergebe sie der
Oeffentlichkeit mit dem Wunsche, dass wenigstens der
gute Wille des Verfassers aus ihnen erkannt und ihnen
eine ebenso eingehende als belehrende Kritik zu Theil
werden möge. Es ist mir Bedürfhiss, an dieser Stelle
meinen Dank für die Annahme der Widmung meiner Ar-
beit einem Manne auszusprechen, der als eifriger Vor-
kämpfer für Fortschritt und Humanität auf dem Gebiet
der Strafrechtspflege, Criminalpsychologie und Gefängniss-
kunde sich verdient gemacht hat, und dem auch ich manche
Anregung und Belehrung durch Wort und Schrift verdanke.
Strassburg, im Juni 1872.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die vorliegende gänzlich umgearbeitete zweite Auflage
hat ausschliesslich das praktische Bedürfniss des Rechts-
gelehrten im Auge. Den Standpunkt des Gerichtsarztes
mitzuberücksichtigen, wie dies bei Abfassung der ersten
Auflage der Criminalpsychologie 1872 geschah, erschien
dem Verfasser mit Rücksicht auf sein 1875 geschriebenes
und 1881 umgearbeitetes Lehrbuch der gerichtlichen Psycho-
pathologie überflüssig.
Das Buch in seiner gegenwärtigen Gestalt soll den
richterlichen Personen als Leitfaden in den so häufigen
und schwierigen Fragen zweifelhafter Geistesgesundheit im
Criminalforum dienen.
In einer Einleitung wurde versucht, die Mangelhaftig-
keit des processualischen Verfahrens gegenüber möglicher-
weise geisteskranken Angeschuldigten und Angeklagten zu
kennzeichnen, die Nothwendigkeit psychiatrischer Kennt-
nisse für den Juristen nachzuweisen und den zweifelhaften
Werth der sog. Kriterien des gesunden Menschenverstandes
behufs Erkennung geistiger Krankheit in foro darzuthun.
Das eigentliche Thema zerfällt in zwei Abschnitte.
Der allgemeine oder formelle begleitet den fraglichen
VIII Vorwort.
Geisteskranken durch die verschiedenen Stadien des deut-
schen und österreichischen Strafprocessverfahrens und be-
müht sich klarzulegen, worauf es zur Vermeidung unge-
rechter Urtheilssprechung gegenüber wirklichen Geistes-
kranken ankommt. Der Verfasser hofft auf eine vorur-
theilsfreie Prüfung der ' von ihm zur Verbesserung des
formellen Verfahrens gemachten Vorschläge und auf eine
nachsichtige Beurtheilung da, wo er als Laie juristisches
Gebiet berühren musste.
Der specielle oder klinische Theil bezweckt eine bün-
dige und möglichst populäre Darstellung der geistigen
Krankheitszustände, soweit ihre Kenntniss für den Rechts-
gelehrten wünschenswerth oder nothwendig erscheint. Be-
züglich Literaturangaben und Casuistik mag der Hinweis
auf des Verfassers Lehrbuch der gerichtl. Psychopathologie
genügen.
Graz, Deceniber 1881.
Inhalt.
Seite
Einleitung . 1
Grundbedingungen der Zurechnungsfähigkeit (1). Häufig-
keit unfreier Geisteszustände in foro (2) und ihrer Ver-
kennung (2). . Fehlerhaftigkeit früherer Gesetzgebung
und Untersuchungsweise bei geistig unfreien Zuständen (4).
Gründe der noch heutzutage vielfach unrichtigen foren-
sischen Beurtheilung Geistesgestörter (5). Schwierigkeit
der ärztlichen Expertise (5). Vorurtheile und Unkenntniss
der Juristen auf psychiatrischem Gebiet (6). Fehlerhaftig-
keit des gerichtlichen Verfahrens bei fraglicher Geistes-
krankheit (6). Notwendigkeit psychiatrischer Kennt-
nisse für den Juristen (8). Falsche Anschauungen über
die Erscheinungsweisen des Irreseins (9). Die Kriterien
des „gesunden Menschenverstands^ zur Erkennung gei-
stiger Krankheit unzureichend (10). Werth des Motivs
der strafbaren Handlung (11). Isolirtheit der That im
Leben des Thäters. Leumundsfrage (14). Prämeditation,
List etc. vermeintlich mit geistiger Krankheit unverein-
bar (16). Kriterium des Strafbarkeitsbewusstseins (17),
der Reue (18). Verständige Rede schliesst geistige Krank-
heit nicht aus (19).
A. Allgemeiner oder formeller Theil 23
Der fragliche Geisteskranke in den verschiedenen Stadien
des Strafverfahrens.
I. Vor dem Untersuchungsrichter 23
Wichtigkeit der Beachtung des Geisteszustands beim In-
culpaten (23). Mangelhafte Berücksichtigung desselben
X Inhalt.
Seite
in praxi (24). Allgemeine Verdachtgründe für geistige
Störung (24). Wichtigkeit eines psychischen Status prae-
sens nach der Gefangensetzung (26). Angeblich man-
gelnde Erinnerung für die That (28). Möglichkeit mo-
mentaner Aufhellung des Bewusstseins bei Bewusstlosig-
keit (28). Simulation geistiger Krankheit (29). In zieh-
ten für Simulation (30). Notwendigkeit der Erforschung
des Geisteszustands vor der That (31). Inzichten für eine
Geisteskrankheit schon vor der That (31). Notwendig-
keit einer Ermittlung der früheren Lebens- und Gesund-
heitsverhältnisse (32). Fragebogen zu diesem Zweck (33).
Erblichkeitsfrage (34). Gefahr voreiliger Schlüsse hie-
bei (35). Bedeutung gewisser Alters- und Lebensperio-
den (35). Alter der strafrechtlichen Unreife (36). Unter-
scheidungsvermögen (36). Dasselbe involvirt nicht die
Selbstbestimmungsfähigkeit (39). Alter der Pubertäts-
entwicklung (39). Häufigkeit geistiger Störung im Pu-
bertätsalter (40). Brandstiftungstrieb (41). Menstruation
(41). Schwangerschaft und Gelüste in solcher (42). Ge-
bärakt und Kindsmord (43). Wochenbett (45). Zeit
rder geschlechtlichen Involution beim Weib (45). Greisen-
alter und Sittlichkeitsvergehen in diesem Alter (46).
Verbrechen, bei welchen unter allen Umständen eine ge-
< xichtsärztliche Untersuchung wünschenswerth wäre (47).
Richtige Wahl der Sachverständigen (48). Qualifikation
eines Sachverständigen (48). Competenz der ärztlichen
Wissenschaft in psychiatrischen Fragen (50). Stellung
und Aufgabe der ärztlichen Sachverständigen (50). Be-
rufung der Sachverständigen (51). Nothwendigkeit ge-
nügender Beobachtungszeit (52). Passender Beobach-
tungsort (52). Geeignete richterliche Fragestellung (53).
Gutachten (55). Richterliches Prüfungsrecht des Gutach-
tens (56). Einstellung des Verfahrens wegen geistiger
Krankheit (56). Neuerliche Erhebung von Gutachten (57).
II. Der fragliche Geisteskranke vor dem erkennen-
den Richter ......" 58
Etwaige Ergänzung der Voruntersuchung (58). Verhand-
lungsfähigkeit (59). Vorbereitungen zur Hauptverhand-
lung (59). Zulassung von Zeugen und Sachverständigen
(60). Werth des Geständnisses und der Zeugenaussagen (61).
Defensionalsachverständige (63). Hauptverhandlung (64).
Kreuzverhör (65). Einwände gegen die Zurechnungs-
Inhalt. XI
Seite
fähigkeit erst in der Hauptverhandlung (66). Schlussvor-
trag des Gerichtspräsidenten (68). Gesichtspunkte für die
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit (69). Mildernde
Umstände (71).
III. Der Geisteskranke nach dem Urtheil 72
Wiederaufnahme des Verfahrens wegen geistiger Krank-
heit (72). Geisteskrankheit Hinderniss der Vollstreckung
der Todesstrafe (73), der Freiheitsstrafe (73). Unter-
bringung geisteskrank gewordener Sträflinge (75).
B. Specieller oder klinischer Theil.
Zustände krankhafter Störung der Geistesthätigkeit 78
Begründung einer Störung der Geistesthätigkeit als einer
krankhaften . . . • 78
Inwiefern durch krankhafte Störung der Geistesthätig-
keit die freie Willensbestimmung aufgehoben wird 85
I. Die psychischen Entwicklungshemmungen ... 86
Blödsinn (89). Schwachsinn (91). Taubstummheit (95).
II. Die psychischen Entartungen 97
Klinische Uebersicht (97). Bedeutung der Entartungs-
zustände für die Strafrechtspflege (100). Erkennungszeichen
dieser Zustände (101).
1. Moralisches (107), 2. impulsives Irresein (116) als be-
merkenswerthe Erscheinungsweisen psychischer Ent-
artung.
III. Die Geisteskrankheiten 118
Formen der Geisteskrankheit (118). Die Zurechnungs-
fähigkeit bei Geisteskranken aufgehoben (119).
1. Die Melancholie 120
Erscheinungsbild (121). Gewaltthaten aus schmerzlichem
Fühlen (123), aus Zwangsvorstellungen (124), aus Angst-
anfällen (125), aus Sinnestäuschungen und Delirien (126).
Indirekter Selbstmord (127). Mörder der eigenen Kinder
aus Liebe (127). Unterscheidung von Affekt und Me-
lancholie (128). Art der Ausführung von Gewaltthaten
bei Melancholischen (129).
2. Die Manie (Tobsucht) 130
Maniakalische Exaltation (130), periodische Form (133).
Lucida intervalla (134).
3. Wahnsinn (Verrücktheit) 134
Allgemeine Bemerkungen (135). Schwierigkeit der Er-
kennung gewisser Wahnsinnszustände (136).
XII Inhalt.
Seite
a) Verfolgungswahnsinn (137). Gemeingefährlichkeit
solcher Kranken (138). Querulantenwahnsinn (140).
b) Religiöser Wahnsinn (143).
4. Erworbene geistige Schwächezustände . 144
als Terminalzustände nach Melancholie, Manie und Wahn-
sinn (145). Geistesschwäche nach blutigem Schlagfluss
(146), nach Kopfverletzung (147). Dementia paraly-
tica (148).
5. Irresein durch Ausschweifungen im Trunk (Alkoholismus
chronicus) 151
6. Irresein der Epileptiker . 154
Bedeutung der Epilepsie für das Forum (154). Dauernde
geistige Störungen bei Epileptischen (155). Transitorisches
Irresein (156).
7. Irresein der Hysterischen 160
Elementare geistige Störungen (160). Transitorisches
Irresein (162). Ausgänge der Hysterie in chronisches
Irresein (162).
Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit 164
Begriff der Bewusstlosigkeit im Sinn des Strafgesetzes
(165). Anscheinend überlegtes Handeln in solchen Zu-
ständen möglich (165). Bedeutung der Erinnerung für
die forensische Beurtheilung (166).
1. Traumzustände 167
a) Schlaftrunkenheit 167
b) Schlafwandeln 169
2. Fieber- und Erschöpfungsdelirium 172
3. Mania transitoria 173
4. Raptus melancholicus 176
5. Intoxikationszustände 177
a) Rausch und pathologische Alkoholzustände . . . 177
b) Vergiftungszustände : Narcotismus 183
6. Die Affektzustände . 184
Der physiologische Affekt (184). Der pathologische Af-
fekt (186).
•^ OF T He ^
UNIVERSITY
OF
Einleitung.
Die erhabene Aufgabe des Strafrichters, als Hüter des
vom Gesetzgeber zum Schutze der sittlichen und vitalen
Interessen der Gesellschaft aufgestellten Gesetzes , Ver-
letzungen desselben zu verfolgen und zu ahnden, wird
dadurch eine besonders schwierige und verantwortliche, .
dass häufig genug zwar der objektive Thatbestand einer
strafbaren Handlung besteht, jedoch der subjektive That-
bestand einer solchen bezüglich der Zurechnungsfähigkeifr
des Thäters in Frage gestellt ist.
Die Forderung des Gesetzgebers an den Einzelnen,
dass er seine egoistischen und vielfach unsittlichen Be-
strebungen den socialen sittlichen Interessen der Gesammt-
heit unterordne, ist nur für Den erfüllbar, der vermöge
einer günstigen Naturanlage und auf Grund einer genos-
senen Erziehung die Fähigkeit einer Selbstbestimmung er-
langt hat-- Als die Grundbedingungen dieser ergeben sich Gmndbe-
ein intellektiv-ethisches Moment — die Erkenntniss der Nütz- der zurech-
lichkeit und Nothwendigkeit einer gesetzlichen und Staat- keit.
liehen Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die
Kenntniss der Bedeutung der Gesetze für diesen Zweck
und der praktischen Folgen ihrer Uebertretung — sowie
die Befähigung, sich auf Grund dieser von dem v Unter-
scheidungsvermögen a gelieferten Motive für die Begehung
oder Unterlassung einer strafrechtlich vorgesehenen Hand-
lung (frei) zu bestimmen.
v. Krafft-Eblng, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 1
2 Einleitung. Häufigkeit der Verkenn ung
Der Mangel einer dieser beiden Bedingungen begründet
einen Aufhebungsgrund der Zurechnung, die Unzurech-
nungsfähigkeit und Straflosigkeit des Thäters.
Das Gesetz ist nur an freie Menschen gerichtet.
^isti^ 6 " ^ e rec ' 1 * nc l 1 psychologischen Bedingungen der Zurech-
tfindet" nun g s fähi&keit 8 i n( l von der Integrität des Gehirns, als des
Foro. Organs aller geistigen Leistungen, abhängig.
Häufig genug sind die Leistungen des Gehirns un-
zureichend für die Erfüllung dieser Bedingungen. Abge-
sehen davon, dass die intellektuelle Reife und Selbstbestim-
mungsfähigkeit durch jugendliches Alter, durch Wachs-
thumshemmungen des Gehirns oder durch mangelnde funk-
tionelle Ausbildung (Erziehung) fehlen kann, ist es möglich,
. dass auch beim erwachsenen und erzogenen Menschen das
Gehirn, gleich jedem anderen Organ, krankhaften Ver-
änderungen anheimfallt, die vorübergehend oder dauernd
die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit in Frage stellen.
Diese Möglichkeit wird aber erfahrungsgemäss oft zur
Thatsache und ihr wird das Strafgesetzbuch gerecht, indem
es in besonderen §§ ausdrücklich erklärt, dass ein Ver-
brechen oder Vergehen gar nicht vorhanden ist, wenn der
Thäter zur Zeit der Begehung in einem Zustand von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter (Hemmung oder) Störung
der Geistesthätigkeit sich befand, durch welchen seine freie
Willensbestimmung aufgehoben war.
der &1 v g k eifc ^ us ^ er Gefahr, einen Unzurechnungsfähigen (unge-
mmggeistig recht) Strafe erleiden zu lassen, entspringt die grosse Ver-
zustände. antwortlichkeit und Schwierigkeit der Aufgabe des Straf-
richters. Jene ist keine eingebildete, sondern eine wirk-
liche. Man braucht nur dem Gange der Gerichtsverhand-
lungen zu folgen, Einsicht in die in den Annalen der
Wissenschaft niedergelegten Gutachten zu nehmen und in
den Strafhäusern Beobachtungen selbst anzustellen oder
die Erfahrungen unbefangener Gefängnissärzte zu verglei-
chen, um zur traurigen Ueberzeugung zu gelangen, dass
in allen Culturländern alljährlich noch Unzurechnungsfähige
geistig unfreier Zustände. 3
zu entehrenden Freiheitsstrafen verurtheilt werden l ), ab
und zu sogar noch Todesurtheile an solchen zur Voll-
streckung gelangen!
*) Zur Rechtfertigung dieser Behauptung mag folgendes aus
der neuesten Literatur entnommene Beispiel dienen, das zugleich
erweist, wie gering die psychologische Ausbildung der richterlichen
Personen, wie incompetent der gesunde Menschenverstand in Fragen
zweifelhafter geistiger Störung ist und wie nachlässig die Prüfung
des Vorlebens Angeklagter häufig stattfindet.
Am 13. Juni 1881 stand die 37 Jahre alte Dienstmagd Kruger
vor dem Schwurgericht in Wien unter der Anklage des Mordver-
suchs durch Weglegung des 14monatlichen Kinds ihres Dienstherrn,
nachdem sie jenem ein Würgetuch um den Hals geschlungen und
einen Knebel in den Mund gesteckt hatte. Die Umstände des Falls
waren eigenthümlich genug und mussten den Verdacht auf geistige
Schwäche erwecken. Als Motiv der That hatte die K. Abneigung
gegen Kinder angegeben, weil sie als Kind selbst schlecht behandelt
worden sei ! Die K. hatte dem Kind Würgetuch und Knebel so ap-
plicirt, dass der Tod nicht eintrat, obwohl sie die Absicht zu tödten
hatte. Sie verliess das Kind unter einem Hausthor, wo es bald ge-
funden werden musste und auch gefunden wurde. Dann irrte sie
herum, ging nach V/t Stunden zur Polizei, meldete sich als unter-
standslos, erklärte, sie habe ein Kind weggelegt, bezeichnete jedoch
•den Thatort falsch. Sie war bereits 3mal wegen gefährlicher Drohung
und Excess, lmal wegen Kindsweglegung verurtheilt worden. Erst
im Termin hatte der Vertheidiger , lediglich gestützt auf die Ab-
wesenheit eines plausiblen Motivs der That, die Unzurechnungsfähig-
keit seiner Glientin behauptet und war darüber in scharfe Aus-
einandersetzungen mit Staatsanwalt und Gerichtspräsident gerathen.
Leider hatte sich Niemand die Mühe genommen, das Vorleben der
Angeklagten zu erforschen. Die K. wurde zu 8 Jahren Kerker ver-
urtheilt. Kurz darauf brachte die Tagespresse die Notiz, die ver-
urtheilte K. sei schon 1879 wegen versuchter Gewaltthätigkeit in
Untersuchung gestanden, auf Grund gerichtsärztlichen Gutachtens
jedoch als blödsinnig in die Landesirrenanstalt gekommen, im Ok-
tober 1880 in ein Versorgungshaus versetzt worden, wo sie im De-
zember einen Selbstmordversuch machte. Im März 1881 hatte man
sie einer Wäscherin gegen Revers übergeben. Sechs Wochen später
beging sie die That. Diese Angaben der Tagespresse bestätigten
sich. Auch wurde ermittelt, dass schon nach der ersten Kindes-
weglegung im Strafhause die K. sich oft aufgeregt und excessiv, wie
Einleitung. Gründe, warum
Fehlerhaf-
tigkeit
früherer Ge-
setzgebung
und Unter-
suchungB-
weiee bei
geistig un-
freien Zu-
ständen.
Diese für den Kichter wie für die Gesellschaft gleich
schmerzliche Thatsache wird nur dadurch erträglicher, dass
solche bedauerliche Fälle von Justizmord von Jahr zu Jahr
seltener werden, insofern eine fortschreitende gerichtlich-
psychologische Wissenschaft und eine ihre Resultate nicht
mehr vornehm ignorirende Gesetzgebung und Praxis in der
Klarstellung zweifelhafter Geisteszustände mit Bezug auf
Fragen der Zurechnungsfähigkeit sich die Hände reichen.
In noch nicht ferne hinter uns liegenden Zeiten war
die Lage des Geisteskranken vor Gericht eine wahrhaft
bedauernswerthe. Eine unreife, in ihren Resultaten viel-
fach fehlerhafte, in ihrer praktischen Anwendung unsichere
gerichtlich- psychologische Wissenschaft stand einer auf ver-
kehrte und metaphysische Kriterien in der Freiheits- und
Zurechnungsfähigkeitslehre sich stützenden Gesetzgebung
zur Seite.
Statt einer medicinisch- psychologischen Bezeichnung
der Aufhebungsgründe der Zurechnungsfähigkeit wurden
vom Gesetzgeber metaphysische Begriffe (Vernunftgebrauch)
namhaft gemacht oder einzelne Zustände geistiger Krank-
heit (Wahnsinn, Blpdsinn, Raserei) als einzig legale und
die Zurechnungsfahigkeit aufhebende Formen des Irreseins
aufgestellt. Dem entsprechend liess die Rechtsanschauung
und Rechtsübung nur dann die Zurechnungsfähigkeit als
eine Geisteskranke benommen hatte. Darauf hin beschloss der Ge-
richtshof die Wiederaufnahme des Processes gegen die verurtheilte,
früher wegen unheilbaren Blödsinns der Irrenanstalt übergeben ge-
wesene K. — Dieser Fall zeigt evident, wie wichtig die Ermittlung
der Vita anteacta bei Angeschuldigten bezüglich der Frage ihrer
Zurechnungsfähigkeit sein kann und wie wenig Laien geeignet sind,
selbst ausgesprochene und die Zurechnungsfähigkeit aufliebende Zu-
stände geistigert Schwäche zu erkennen. Ob in diesem sensationellen
Gerichtsfall der Vertheidiger von seinem Rechte Gebrauch machte,
die Stellung der Zusatzfrage nach der Unzurechnungsfähigkeit im
Sinne des § 319 St.P.O. (vgl. f. § 344 Z. 6 u. Mitterbacher, Commentar
1882 S. 527) zu verlangen, ist dem Verf. nicht bekannt geworden.
(Witlacil, Wiener med. Wochenschrift 1881. No. 29.)
Geistesstörung in Foro häufig verkannt wird. 5
fehlend gelten, wenn der Thäter an Wahnideen oder Sinnes-
täuschungen litt, Recht von Unrecht nicht zu unterscheiden
vermochte. Auf diesem bedauerlichen, weil rein die in-
tellektuellen Funktionen des Seelenlebens zum Massstab
geistiger Unfreiheit machenden Standpunkt steht heutzutage
noch die englische Rechtsanschauung und tibersieht dabei
gänzlich, dass die wichtigsten Impulse zu einem (unfreien)
Handeln aus dem (krankhaft gestörten) Gefühlsleben stammen.
Wie erwähnt, lässt aber auch in continentalen Cultur-
ländern die Sicherheit der Rechtsprechung noch vielfach zu
wünschen übrig und erscheint es in Bezug auf Fragen die
Freiheit, Ehre, Leben des Staatsbürgers so nahe berühren,
dringend erforderlich sich klar zu machen, aus welchen
Gründen ungerechte Verurtheilungen geisteskranker und n^ d heut r
geistesabnormer Menschen noch heute stattfinden. Wenn ^J 8 ^} 9 ^"
dies in Deutschland geschieht, so kann der Fehler nicht tl ff n . 1 Be ^ r "
in der Gesetzgebung liegen — die Ausdrücke der Bewusst- »eistesge-
° o o storter.
lpsigkeit oder krankhaften Störung der Geistesthätigkeit
sind wenigstens medicinisch verständliche und praktisch
durchaus brauchbare. Es kann sich somit nur um eine
richtige Auffassung und Verwerthung dieser Begriffe handeln.
Eine wichtige Fehlerquelle liegt in der Unvollkom- schwierig-
menheit der gerichtlich psychiatrischen Wissenschaft, noch ärztlichen
mehr in der Schwierigkeit der ihr zufallenden diagnostischen
Aufgabe. Diese ist die Ermittlung eines krankhaften Hirn-
zustands, mit vorwiegender Beeinträchtigung der geistigen
Funktionen. Der Weg, auf dem allein diese Aufgabe ge-
löst werden kann, ist ein klinischer, aber die klinischen
Zeichen sind vielfach rein psychologische oder diese wenig-
stens Ausschlag gebend. Sie sind grossentheils subjektive
und als solche vortäuschbar und verhehlbar, vielfach schwer
zu erfassen, nur zeitweise hervortretend, vieldeutig. Es
gibt keine specifischen Symptome des Irreseins. Nur die
Combination, gegenseitige Beziehung der Symptome, ihre
richtige Interpretation, die Ermittlung ihrer Entstehungs-
weise, ihrer ursächlichen Begründung, ihres Verlaufs, gibt
6 Einleitung. Vorurtheile der Juristen.
sichere Anhaltspunkte für die Beurtheilung eines zweifel-
haften Geisteszustands als eines krankhaften. Trotz diesen
in der Sache liegenden Schwierigkeiten ist die ärztliche
Wissenschaft heutzutage in der Regel in der Lage, da&
genügende Material zur Beurtheilung dem Richter an die
Hand zu geben. Sie ist dazu befähigt durch theoretische
namhafte Fortschritte, wie auch durch eine sichere Ver-
werthung empirisch gefundener Krankheitszeichen und
Grundsätze für ihr diagnostisches Vorgehen. Sie steht auf
einem ganz andern Standpunkt als vor Decennien, wo
spekulative Anschauungen, haltlose psychologische Raisonne-
ments und Hypothesen, einseitiges Herausgreifen der That
und ihrer Umstände, lückenhafte Beobachtung der Krank-
heitszustände, irrthtimliche Aufstellung von Krankheitsfor-
men, wie einer Manie sans delire, eines Brandstiftungstriebs
und anderer Monomanien bei der Abgabe von gerichtsärzt-
lichen Gutachten massgebend waren.
V ^ün- le ^ as j ur i 8 ti scne Publikum ist diesen Fortschritten der
seltenster g e " cnt li CÜ psychologischen Wissenschaft nicht gefolgt, es
Juristen, beurtheilt sie vielfach noch mit dem Massstab von ehedem,
ist misstrauisch gegen ihre Resultate, und schadet damit
der Sache der Wahrheit und des Rechts, insofern sie gar
nicht oder zu spät sich der Hülfe jener Wissenschaft be-
dient und mit Misstrauen oder Geringschätzung ihre Re-
sultate entgegennimmt. Darin liegen zweifellos wichtige
Ursachen unrichtiger richterlicher Entscheidungen in Fragen
zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit. Die gerichtliche Psycho-
pathologie verdient heutzutage in foro gehört und anerkannt
zu werden und nur selten wird sie nicht in der Lage sein
können, Licht über das Dunkel eines zweifelhaften Geistes-
zustands zu verbreiten.
ti e keit h *£ ^ n g rosser Theil der Gründe der Unsicherheit der
nfhel c ver- Rechtsprechung in Fällen zweifelhafter Zurechnungsfähig-
fahrens. k e ft liegt aber offenbar in äusseren und darum zu ver-
meidenden Hindernissen. Diese Hindernisse liegen wesent-
lich darin, dass die Berufs- und Volksrichter als Laien
Fehlerhaftigkeit des gerichtl. Verfahrene. 7
vielfach falsche Vorstellungen von der Erscheinungsweise
geistigabnormer Zustände haben, deshalb gap nicht oder
zu spät Verdacht bezüglich geistiger Störung schöpfen,
über Fragen der ungesunden Vernunft mit ihrem gesunden
Menschenverstand urtheilen zu können vermeinen, die etwa
zur Beurtheilung zugezogenen Aerzte fehlerhaft befragen,
das Material für ihre Beurtheilung ihnen nur lückenhaft
liefern, Zeit und Ort der Untersuchung ihnen mangelhaft
zur Verfügung stellen, das Gerichtsverfahren einseitig und
nicht vorurtheilsfrei durchführen, sich Sachverständiger be-
dienen, die nur dem Namen nicht aber der Sache nach
solche sind. Der Richter geht zudem vorweg von der
allerdings bequemen, aber nichts weniger als sicheren An-
nahme aus, dass der Thäter im Besitz der Bedingungen
der Zurechriungsfähigkeit war und findet sich nur dann
bemüssigt von dieser Voreingenommenheit abzugehen, falls
die aussergewöhnlichen Umstände der That oder Besonder-
heiten des Benehmens des Thäters ihm Verdacht bezüglich
der Geistesintegrität desselben einflössen. Ein derart prä-
occupirter Richter läuft immer Gefahr in seiner erhabenen
Aufgabe statt Recht Unrecht zu sprechen, insofern er
Jemand bestraft, der vermöge seiner defekten Organisation
oder geistigen Störung frei zu handeln unvermögend war.
Andererseits kann es ihm passiren, dass er mit seinem
gesunden Menschenverstand durch Eigentümlichkeiten der
That oder des Thäters geistige Krankheit und Unzurech-
nungsfähigkeit da vermuthet und annimmt, wo keine solche
wirklich vorhanden ist. Wird auch damit nicht das Recht
des Einzelnen verletzt, so doch das Recht der Gesammt-
heit. Der Richter gebe sich keiner Selbsttäuschung hin
und bedenke seine Verantwortlichkeit , sowie dass er Laie
in Fragen der Gehirnpathologie ist! Er kennt die Er-
scheinungsweisen geistiger Störung nur vom Hörensagen
oder aus laienhafter gelegentlicher Beobachtung im Alltags-
leben. Er weiss kaum, dass die strafbaren Handlungen
geisteskranker Menschen geradeso zur Ausfuhrung gelangen
8 Einleitung. Psychiatr. Kenntnisse für Juristen nöthig.
können wie die Geistesgesunder und dass geistige Krank-
heit äusserliCh nicht immer und zu allen Zeiten zu Tage tritt.
Als Laie lebt er in einer Sicherheit der Anschauung
wie sie nur die Unkenntniss geben kann und vertraut auf
seinen gesunden Menschenverstand, der doch in Fragen
der Gehirnpathologie, dazu den allersubtilsten , nicht aus-
reicht. So geschieht es, dass er als Untersuchungsrichter
den geistig unfreien Zustand eines Angeschuldigten oft
nicht erkennt und würdigt, dass ein solcher vielfach gar
nicht erkannt wird und dass eine ungerechte Verurtheilung
erfolgt oder dass erst in der Hauptverhandlung Zweifel
an der Geistesintegrität des Angeklagten sich erheben.
Wenn es auch jetzt noch Zeit ist eine ungerechte Ver-
urtheilung zu verhüten, so ist doch eine wichtige Zeit zur
etwaigen Heilung eines Unglücklichen oder wenigstens zur
Klarstellung seines Geisteszustands versäumt worden. Es
ist mit einem Menschen gerichtlich verhandelt worden, der
unfähig war seine Interessen und Rechte wahrzunehmen,
der Angeklagte ist in den ungünstigen Verhältnissen eines
Gefängnisses möglicherweise unheilbar geworden und damit
dauernd unglücklich. Im allerbesten Fall hat das Gericht
viel Mühe und Zeit nützlos aufgewendet.
Nothwen- All diesen Missständen und den Miss Verständnissen
dilatorischer zwischen Richter und Sachverständigen kann nur abgeholfen
für den werden, wenn der Richter eine Erfahrung von geisteskranken
Zuständen erhält, die über die des gewöhnlichen Laien
hinausgeht. Dies kann nur durch einen Unterricht in
Psychiatrie erreicht werden, während gegenwärtig der
Student der Rechtswissenschaft mit einer Commentirung
der betr. Zurechnungsparagraphen im Straf recht und der
oberflächlichen Mittheilung einiger Thatsachen der foren-
sischen Psychologie gelegentlich seines encyclopädischen
Studiums der gerichtlichen Medicin abgefunden wird. Dieser
Unterricht müsste theils ein theoretischer sein, namentlich
darauf gerichtet, die laienhaften Anschauungen auf diesem
Gebiet zu berichtigen, theils ein Anschauungsunterricht,
Der gesunde Menschenverstand nicht ausreichend. 9
insofern Kranke der psychiatrischen Klinik als Typen des
Irreseins dem Studirenden vorgeführt und, mit besonderer
Berücksichtigung ihrer forensischen Beziehungen, die Grund-
züge ihrer geistigen Störung hervorgehoben würden. Solche
Einrichtungen bestehen wenigstens in den akademischen
Studienordnungen Russlands.
Nur auf diese Weise ist es möglich, dass der Wider-
streit der Juristen und Sachverständigen aufhöre, der
Untersuchungsrichter einen geschärften Blick für geistes-
abnorme Zustände erhalte, der Vertheidiger die Interessen
seines Clienten nach jeder Richtung wahrnehme, ohne
leichtsinnig oder gar aus unlauteren Motiven die Zurech-
nungsfahigkeitsfrage als Auskunftsmittel einer schlechten
Vertheidigung zu benutzen. Aber auch der Staatsanwalt
wird, wenn er mit den Grundthatsachen der Psychiatrie
bekannt ist, den Thäter objektiver beurtheilen, nicht so
schnell mit der beliebten Annahme einer Simulation bereit
sein, die Aussprüche der Sachverständigen besser würdigen
und diese nach ihrem Werth prüfen können, nicht minjier
der Gerichtspräsident, der streng objektiv die Verhand-
lung zu leiten und die Geschworenen als die Richter der
Schuldfrage zu belehren hat. Damit würde auch die oft
nichts weniger als beneidenswerthe Stellung der Sachver-
ständigen eine nützlichere und würdigere werden.
Die Kriterien des gesunden Menschenverstands in
ihrer Verwerthung zur Beurtheilung eines zweifel-
haften Geisteszustands.
Wie sehr die Begriffe, welche sich der Laie von den Falsche An-
, Behauungen
Erscheinungsweisen der geistigen Störung macht, der Wirk- ^er Laien
lichkeit widersprechen, kann der Irrenarzt an dem naiven scheinangs-
A 7 weise des
Erstaunen der Besucher von Irrenanstalten ermessen, welche Irreseins.
10
Einleitung. Diagnostischer Werth der Kriterien
Die Kri-
terien des
„gesunden
Menschen-
verstands"
zur Ermitt-
lung krank-
hafter
Geisteszu-
stände un-
zureichend.
darüber verwundert sind, dass die Kranken dieser Anstalten
in der Mehrzahl aussehen und sich betragen wie gesunde
Menschen, verständig antworten, richtig urtheilen. Der
Besucher hatte sich erwartet, hier im Irrenhause eine eigene
Species des genus Homo zu treffen und fragt enttäuscht,
wo denn die eigentlichen Irren verwahrt seien. Schon
Esquirol, einer der bedeutendsten Irrenärzte des Jahr-
hunderts, macht die zutreffende Bemerkung: „Parlez (Tun
fon, c'est pour le vulgaire parier d'un malade, dont les
facultas intellectuelles et morales sont toutes d£nature"es,
perverties ou abolies; c'est parier d'un homme, qui juge
mal de ses rapports exte*rieurs, de sa position et de son
e"tat, qui se livre aux actes les plus desordonne"s, les plus
bizarres, les plus violents, sans motifs, sans combinaisons,
sans preVoyance . . .
Le public et mßme des hommes tres instruits ignorent,
qu'un grand nombre de fous conservent la conscience de
leur e*tat, celle de leurs rapports avec les objets exterieurs,
celle de leur d^lire. Plusieurs coordonnent leurs ide*es,
tiennent des discours sens^s, d^fendent leurs opinions avec
finesse et mßme avec une logique seV&re, ils donnent des
explications tres raisonnables et justifient leurs actions par
des motifs tres plausibles. a
Mit solcher Unkenntniss und Voreingenommenheit be-
züglich des Wesens und der Erscheinungsweise geistig ab-
normer Zustände steht der Richter (Berufs- und Volks-
richter) demlnculpaten, der leicht möglich ein Geisteskranker
ist, gegenüber. Er verwerthet bei der ihm vorschwebenden
Frage bezüglich der Geistesintegrität gewisse diagnostische
Kriterien, die er aus seinem gesunden Menschenverstand
und der Psychologie des Alltagslebens geschöpft hat. Eine
Beleuchtung des Werths dieser Kriterien ist wünschens-
werth um Vorurtheile zu zerstören und die vermeintliche
Sicherheit dieser Beurtheilungsweise in den schwierigsten
Fragen der Gehirnpathologie zu erschüttern. Die Fehler
dieser Methode, das Seelenleben zu erforschen, lassen sich
des gesunden Menschenverstands. Motiv der Handlung. H
wesentlich darin zusammenfassen, dass nicht der Thäter
sondern die That, nicht die 'Lebensgeschichte sondern ein
kurzer Lebensabschnitt, nicht der Gesammtinhalt des
geistigen Lebens sondern wesentlich nur die intellektuelle
erkennende Seite desselben, nicht der Kern der Persön-
lichkeit sondern ihre trügerische Aussenseite 1 , nicht die
positiven und wesentlichen klinischen Merkmale eines krank-
haften Geisteslebens, sondern die negativen, unwesentlichen
und allgemeinen psychologischen Kennzeichen eines solchen,
dazu nach analytischer und nicht alleinrichtiger synthe-
tischer Forschungsmethode, den Vorwurf der Untersuchung
bilden.
1. Eine der wichtigsten und auch naheliegenden **°*£ der
Fragen in Fällen zweifelhafter Geistesgesundheit bildet Handlung.
die nach dem Motiv der strafbaren Handlung.
Man geht dabei von der Annahme aus, bei Geistes-
gestörten seien die Handlungen motivlos oder durch unsin-
nige Motive hervorgerufen, während sie bei Verbrechern
immer motivirt und durch egoistische unsittliche Motive
bedingt seien. Diese Behauptung ist nur in gewissen
Gränzen anzuerkennen. Es ist nicht zu läugnen, dass das
Motiv einer That wichtig ist insofern es sie bis zu ihren
Wurzeln in ein helles Licht stellt, dass ferner bei Geistes-
kranken zuweilen motivlose (sog. automatische, impulsive)
Handlungen vorkommen, wie auch dass als Motiv einer
That sich häufig eine offenbare Wahnidee oder eine Sinnes-
täuschung ergibt.
Aber motivlose Handlungen sind bei Geisteskranken
die Ausnahme und bei einer grossen Zahl derselben (Wahn-
sinn, bes. Verfolgungswahn) können die Motive dieselben
sein wie beim Gesunden.
Die Werthschätzung der Motive des Handelns für das
Bestehen eines geistig unfreien Zustandes wird überhaupt
dadurch sehr geschmälert, dass es nicht der Inhalt der
Motive allein, sondern vielmehr die zwingende Gewalt der-
selben und der. Ausfall von Gegenmotiven sind, die vielfach
12 Einleitung. Diagnostischer Wertk
das Handeln Geistesgestörter zu einem krankhaften und
unfreien machen. Als Beispiele lassen sich hiefür zu krank-
hafter Höhe gesteigerte und darum unwiderstehliche orga-
nische Triebe (Hunger, Geschlechtstrieb) Geisteskranker, an-
dererseits die rachsüchtigen Handlungen und Eigentumsver-
letzungen Seitens Schwachsinniger anführen. Die Motive
sind im letzteren Fall dieselben, wie die des gesunden
Lebens, aber sie sind ausschlaggebend, weil die hemmenden,
sittlichen und rechtlichen Gegenmotive des ersteren fehlen.
Mag es auch richtig sein, dass ein motivloses Handeln dem
normalen Geistesleben fremd ist, so muss doch zur Vor-
sicht gemahnt werden, eine Handlung, deren Motiv nicht
sofort gefunden werden kann, ohne Weiteres für eine motiv-
lose zu halten. Eine eingehende Beobachtung Geistes-
gestörter lehrt, dass ihre unerklärlichen Handlungen mei-
stens nur scheinbar unmotivirte sind, sei es, weil ihre Mo-
tive nicht klar waren (Angstzufälle Melancholischer) oder
nach der That rasch dem Gedächtniss entschwunden sind,
weil der Kranke in einem Traumzustand handelte, der keine
Erinnerung hinterliess (Bewusstlosigkeitszustände) , sei es,
dass der Kranke, zur Besonnenheit wieder gekommen, sich
seiner Handlung schämt und ihre Motive verschweigt. Bei
der Werthschätzung des Motivs muss immer die Vorfrage
erledigt sein, ob das angegebene auch wirklich das wahre,
zur That treibende war.
Dieser Nachweis ist nach Umständen schwierig. So gibt
es Melancholische, die, um recht empfindlich gestraft zu
werden, sich recht schlechter Motive ihrer Handlung bezich-
tigen, wie sie ja auch in ihrem herabgesetzten Selbstgefühl
und in ihrem Drang, gestraft zu werden, sich verbrecherischer
Thaten anklagen, die sie gar nicht begangen haben. Im
direkten Gegensatz zu diesen Kranken existiren sog. rai-
sonnirende (Maniakalische, Verrückte) die, gerade wie der
Verbrecher, ihre Handlungen durch ganz andere Motive zu
beschönigen suchen, als ihnen bei Begehung ihrer That mass-
gebend waren. Endlich kommt es nicht selten vor, be-
des Motivs der strafbaren Handlung. 13
sonders bei jugendlichen Verbrechern sowie Schwachsinnigen,
dass Motive in den Angeschuldigten durch die richterlichen
Inquisitionen hineinexaminirt werden, die gar nicht die
Triebfeder seiner Handlungen waren.
Auch die absolute Widersinnigkeit eines Motivs, so
sehr sie eine Präsumption für einen abnormen Geisteszustand
erweckt, darf nicht abstrakt verwerthet werden. Findet
sich freilich eine offenbare Wahnvorstellung als Motiv, so
ist damit ein wichtiger Anhaltspunkt gegeben, aber erst
dann, wenn eine wissenschaftliche Untersuchung die Ent-
stehung und Stellung der fraglichen Wahnvorstellung ge-
genüber dem übrigen Inhalt des Bewusstseins erwiesen und
ihre Unterscheidung vom Irrthum, der excentrischen An-
schauung, dem Aberglauben eines sonst Geistesgesunden
gemacht hat. Nicht immer trägt aber eine Wahnvorstellung
die Signatur des Wahnsinns in sich. Je mehr sie objektiv
möglich ist (Vergiftungs -, überhaupt Verfolgungswahn, Wahn
ehelicher Untreue), je weniger sie einen inneren Wider-
spruch in sich trägt, je mehr sie unter dem Gewand der
Leidenschaft und Immoralität zu Tage tritt, um so leichter
kann die That als eine aus verbrecherischen Motiven her-
vorgegangene erscheinen, wenn man sie und ihr Motiv eben
für sich isolirt betrachtet.
Auch das Missverhältniss zwischen Grösse des Motivs
und der aus ihm hervorgehenden That ist von geringem
Werth, da ebenso gut ein depravirter Verbrecher um we-
niger Groschen willen einen Mord begehen als ein braver
Bürger in der Hitze des Affekts, im Drang der Leiden-
schaft aus geringfügiger Ursache einen Anderen umbringen
kann. Nicht minder bedenklich ist es, aus dem moralischen
Inhalt eines Motivs Schlüsse zu ziehen, da Geisteskrank-
heit durchaus im Gepräge der Leidenschaft und Immoralität
erscheinen kann und ihre Abgränzung in solchen Fällen
von dem blos ethisch depravirten Verbrecher aus rein psy-
chologischen und noch dazu isolirten Kriterien unmöglich ist.
Von grösserem Werth ist es, wenn die Handlung zwar
14 Einleitung. Leumundsfrage.
motivirt ist, aber den Interessen des Thäters ganz zuwider
lauft, somit die egoistischen Motive fehlen, die sonst in der
Regel Triebfedern des wahren Verbrechens sind. Mag auch
immerhin das Motiv der Handlung logischerweise das nächste
Forschungsziel des Richters sein, so darf er doch nur
mit Vorbehalt und Kenntniss des Wesens der Geistesstörung
daraus Gesichtspunkte ableiten. Niemals ist eine abstrakte
Werthschätzung dieses Kriteriums zulässig, niemals eine
analytische Beurtheilung eines zweifelhaften Geisteszustandes
räthlich.
So wenig geläugnet werden soll, dass die Erforschung
der Motive einer strafbaren Handlung logischerweise einen
wichtigen Ausgangspunkt der Beurtheilung der That jeweils
bilden wird und der übrigens schwierige Nachweis, dass
eine That motivlos dasteht, wichtig werden kann, so un-
statthaft ist es jedoch, aus der Unmotivirtheit oder Moti-
virtheit an sich, sowie aus dem Inhalt der Motive einseitig
einen Schluss auf die Freiheit oder Unfreiheit einer aus
ihnen hervorgehenden Handlung zu ziehen, denn der nicht
genügende Nachweis von Motiven beweist nicht ihr Fehlen
und der Nachweis ganz palpabler, logischer und verbre-
cherischer Motive verträgt sich ganz gut mit der Unfrei-
der°ThS e im ^eit ^ es aus ihnen Handelnden.
L Ti5twii e8 ^' ^ me logiscli berechtigte, aber in ihren Resultaten
^fnure"* 8 abstrakt jedenfalls nicht verwerthbare Frage ist die, ob die
That isolirt im Leben des Thäters dasteht oder ob
man sich derselben von Seiten des Thäters ver-
sehen konnte? Diese Angelegenheit spielt als Leu-
mundsfrage eine grosse Rolle in foro. Es mag für den
objektiven Thatbestand, z. B. bei einem Diebstahl, nicht un-
wichtig sein, zu wissen, ob der Angeschuldigte ein Gewohn-
heitsdieb war oder ein honetter Mann, und es mag auch
ein gemeiner Diebstahl im letzteren Fall auf den subjek-
tiven Thatbestand der Zurechnungsfahigkeit ein Streiflicht
werfen, allein die Constatirung eines schlechten Leumunds
beweist nichts für oder wider Geistesstörung und zwar ein-
Isolirtheit der That im Leben des Thäters. 15
fach deswegen nicht, weil evidente Geistesstörung auch
unter der Maske der Schlechtigkeit, Unsittlichkeit, Bosheit
auftreten kann und der Laie in der Regel den äusseren
Schein mit dem Wesen der Sache verwechselt.
Wer nur einige Erfahrung darüber hat, wie häufig
dem Kundigen ganz evidente Symptome der Geistesstörung
von gebildeten und ungebildeten Laien — von Zeugen,
Pfarr- und Bürgermeisterämtern lange als Charakterfehler,
böse Gesinnung, verbrecherische Neigung dargestellt wer-
den, für den dürfte die Leumundsfrage viel von ihrem
psychologischen Werth verlieren und bei exemplarisch
schlechtem Leumund und von Kindsbeinen auf schlechter
Lebensführung sich eher eine Vermuthung für als gegen
das Bestehen einer Geistesstörung ergeben. Jedenfalls ist
der von Casper in seinen Werken vertretene Standpunkt,
wornach eine echte causa facinoris (bewusster Drang zur
rechtswidrigen Befriedigung eines selbstsüchtigen Gelüstes),
insofern sie mit der Gesinnungsweise des Thäters überein-
stimme und die causa facinoris an sich nicht auf einer
Wahnvorstellung beruhe, eines der sichersten Kennzeichen
der Zurechnungsfähigkeit des Thäters zur Zeit der That sei,
ein bedenklicher, vor dem nicht genug gewarnt werden kann.
Geschieht es doch häufig genug, dass Menschen, deren
sündhaftes verbrecherisches Vorleben nur der Ausdruck
krankhafter, vielfach erblicher Einflüsse, die Folge früher
überstandener Hirnkrankheiten, Kopfverletzungen, oder noch
vorhandener aber schwer erkennbarer Geistesstörung ist,
so lange als Gewohnheitsverbrecher, Vagabunden und Säufer
polizeilich gemassregelt und gerichtlich bestraft werden, bis
sie in die Hände eines Sachverständigen kommen, der den
bündigen Nachweis eines moralischen Irreseins, eines Schwach-
sinnes mit perversen Trieben, einer periodischen Geistes-
störung oder gar einer Verrücktheit mit verborgenen Wahn-
ideen liefert.
Mit den rohen Kriterien des gesunden Menschenver-
stands, dazu noch in abstrakter Verwerthung, kann nie-
16
Einleitung. Prämeditation, List.
Prämedita-
tlon, List
etc., ver-
meintlich
beim Irre-
sein ausge-
schlossen.
mals die Ermittlung eines zweifelhaften Geisteszustandes
gelingen. Dies gilt auch für das angezogene Kriterium
des Leumunds, abgesehen von seiner wichtigen objektiven
Gewinnung. Gibt es doch Menschen, die im besten Leu-
mund öffentlich stehen, bis eines Tags ihnen die Larve ab-
gezogen wird und andererseits verbrecherische Menschen,
die es nur dem Schein, nicht dem Wesen nach sind! Zu-
dem kommen transitorische Störungen des Geisteslebens
vor, die ebenso gut, ja noch häufiger einen lasterhaften
Menschen, z. B. einen Säufer, heimsuchen wie einen soliden
und nüchternen Ehrenmann.
3. Ein weiterer Irrthum des gesunden Menschenver-
stands besteht darin, dass man meint Prämeditation,
List, kluge Berechnung der Umstände sei mit dem
Bestehen von Geisteskrankheit unverträglich. Auch
hier hat man generalisirt und mehr abgeleitet als das con-
crete Vorkommen zu schliessen gestattet. Es ist nicht zu
läugnen, dass ein plan- und sinnloses Handeln vielfach bei
Geisteskranken vorkommt und zu einer bezüglichen Ver-
muthung berechtigt, aber der entgegengesetzte Schluss lässt
sich keineswegs ziehen.
Man darf nicht vergessen, dass bei vielen Geistes-
kranken das Denken und Schliessen als eine rein formale
logische Operation ihres Denkapparates trotz falscher Prä-
missen (Wahnideen) ganz regelrecht sich vollziehen kann
und dass demgemäss die Handlungen, falls die sie be-
dingende Wahnidee nicht an und für sich eine ganz ab-
surde ist, ganz logisch, geordnet, zweckmässig erfolgen
können. Es gibt sogar psychische Exaltationszutände, in
welchen das durchaus unfreie, weil zwangsmässige Handeln
bei der vorübergehenden Steigerung der Seelenfunktionen
mit einer erleichterten Combination, kluger Berechnung
der Umstände, sogar mit Schlauheit erfolgt. Zudem lässt
sich als allgemeine Regel betrachten, dass überall da wo ein
beruhigtes falsches Vorstellen, ein fixer Wahn (z. B. Ver-
folgungswahn) das Handeln bestimmt und kein heftiger
Kriterium des Strafbarkeitsbewusstseins. 17
Affekt ciazutritt, die Handlungsweise den Charakter einer
durchaus rachsüchtigen prämeditirten, mit vollem Bewusst-
sein vollzogenen besitzen kann, der sie an und für sich
von dem vollbewussten Verbrechen des Geistesgesunden
nicht unterscheiden lässt.. Aber auch ein sinnloses Han-
deln kommt nicht blos bei Geisteskranken vor, sondern
auch beim Gesunden im Zustand des Affekts, beim Ver-
brecher im Zustand der Ueberraschung und Bestürzung
und gar häufig sind schon raffinirte Verbrecher durch
auffallige Planlosigkeiten bei Verübung ihrer Thaten entdeckt
worden. * Man gedenke nur des Mörders Hanke (Casper's
Mörderphysiognomien. Vierteljahrschr. VI. H. 1), der am
Ort seiner grauenvollen That sein blutiges Vorhemd aus-
zog und zurückliess, wodurch seine Entdeckung nicht
schwer wurde.
Auch die fehlende Prämeditation einer That ist von
geringem Werth, insofern eine Reihe von Verbrechen ohne
alle Prämeditation von Gesunden im momentanen Antrieb
vielleicht ebenso häufig begangen werden als nicht prä-
meditirte Gewaltthaten von Geisteskranken.
4. Aus dem während und nach der That hervortretenden Kriterium
<ißfl Straf-
Strafbarkeitsbewusstsein hat man vielfach die Berech- barkeitpbe-
wusstseins.
tigung geschöpft, die Zurechnungsfähigkeit des Thäters zur
Zeit jener zu folgern. Diese Annahme lässt gänzlich ausser
Acht, dass mit dem vorhandenen oder vorhandengewesenen
Bewusstsein der Strafbarkeit nur eine der Bedingungen
der Zurechnungsfähigkeit gegeben und über die andere,
viel wichtigere Bedingung derselben — die Freiheit des
Entschlusses — noch gar nichts präjudicirt ist. Es gibt viele
Geisteskranke (Melancholische, Wahnsinnige), bei denen das
Strafbarkeitsbewusstsein vollkommen erhalten ist, ja ge-
radezu die Ausführung der That mitbedingt, während doch
die Wahlfahigkeit durch den Zwang schmerzlicher Ge-
fühle, triebartiger Impulse, quälender Vorstellungen, aus-
gesprochener Wahnideen ganz entschieden fehlt.
Als Beleg mögen hier nur jene Melancholischen an-
v. K rafft- Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 2
18 Kriterium der Reue.
geführt werden, die zum Selbstmord zu feig oder ihn aus
religiösen Gründen verschmähend; ein'en Mord blos des-
halb begehen, um dafür hingerichtet zu werden und so
indirekt ihr Ziel zu erreichen.
Beue. 5. Auch die Reue nach der -That hat man diagnostisch
verwerthen zu können vermeint, aber selbst Casper bezeichnet
sie als ein „höchst werthloses diagnostisches Kriterium*, und
mit Recht, denn der Geisteskranke, welcher nicht an fest-
stehenden jeder Correktur unzugänglichen Wahnideen leidet
oder sittlich und intellektuell nicht auf die Stufe des Blöd-
sinnigen herab gesunken ist, hat sie gemein mit dem
geistesgesunden und unbescholtenen Menschen, der sich in
Affekt und Leidenschaft zu einem Verbrechen hinreissen
Hess, ferner mit dem Gewohnheitsverbrecher, dessen mora-
lisches Gefühl noch nicht ganz erloschen ist. Ist dies aber
der Fall, so ist der Verbrecher reuelos gleich dem Geistes-
kranken, dessen Bewusstsein zu tief gestört, dessen Wahn
uncorrigirbar ist.
Man muss sich aber auch bei offenbar Geistesgestörten
hüten, aus der Gegenwart von Reue nach der That auf
ein während ihrer Begehung dagewesenes Strafbarkeits-
bewusstsein eben um dieser Reue willen zu schliessen.
Dies gilt besonders für transitorische Geistesstörungen,
bei welchen der Kranke im Anfall eine ganz andere Per-
sönlichkeit war als ausserhalb desselben und rasch wieder
zur Norm seines sittlichen Fühlens zurückkehrt, ferner für
viele Melancholische, bei welchen die That oft die Bedeutung
einer kritischen hat und vorübergehend wenigstens die
Einsicht in den krankhaften Zustand wiederherstellt, nicht
minder für viele Schwachsinnige, bei welchen die Reue
nicht etwa von ihrem wiedererwachten sittlichen Bewusst-
sein ausgeht, sondern eine durch äussere Einflüsse, durch
geistlichen Zuspruch, durch unbehagliche Lage der Ge-
fitngnisshaft geweckte ist, bei denen die That nicht um ihrer
selbst und ihrer sittlichen Bedeutung willen, sondern nur
wegen ihrer äusseren unangenehmen Folgen bereut wird.
Verständiges Reden des fraglichen Geisteskranken. 19
6. Der angebliche Geisteskranke spricht ganz verständi-
° r o geB Reden
verständig. Dieses Kriterium des gesunden Menschen- des zweifei-
t ° m ° % haf t Geietes-
verstands ist das bedenklichste, denn es nimmt nur auf kranken,
den Stand der intellektuellen Funktionen Rücksicht und
begnügt sich gewöhnlich zu constatiren, dass das Individuum
seine Personalien und Erlebnisse richtig anzugeben weiss,
über Zeit und Ort orientirt ist, allenfalls an einer Con-
versation sich betheiligen kann. Mit einer solchen Leistung,
die eigentlich nur niedere Funktionen des Geisteslebens
repräsentirt und ganz gut von hochgradig Schwachsinnigen
erfüllbar ist, sind die Grundlagen der Zurechnungsfahig-
keit noch lange nicht gegeben. Verständig sprechen be-
weist noch lange nicht verständig sein und verständig
handeln.
Die einseitige Prüfung der intellektuellen Funktionen
und gar noch in der oberflächlichen Weise des Laien kann
nur auf Abwege fuhren, wie überhaupt die Begründung
des Wesens des Irreseins in Störungen der Intelligenz und
die der Zurechnungsfähigkeit in dem positiven Moment eines
Unterscheidungsvermögens und dem negativen des Fehlens
von Wahnideen und Sinnestäuschungen nothwendig unrich-
tige Urtheile herbeiführen muss. . •
Allerdings kann bei der Solidarität der Geistesfunk-
tionen auch die Denksphäre des Geisteskranken nie intakt
sein, aber es braucht dies nicht in Form von Wahnideen
zu geschehen und selbst gebildete und vorhandene „fixe"
Ideen brauchen nicht immer im Bewusstsein zugegen zu
sein und jederzeit entäussert zu werden. Wie oft ist es
doch schon geschehen, dass Irre ganz vernünftig schienen,
weil sie verständig sprachen, bis Jemand, der mit ihren
geheimen fixen Ideen bekannt war, die Conversation auf
diese lenkte und die Krankheit demonstrirte !
Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass
das was den Laien hauptsächlich den Begriff des Irreseins
ausmacht — andauerndes Unsinnreden — durchaus nicht
nothwendiges Erforderniss einer Geisteskrankheit ist und dass
20 Einleitung. Formale Störungen des Vorstellens.
nach einer solchen Anschauung es nur wenig wirkliche Geistes-
kranke in Irrenhäusern geben würde. Eine solche Anschauung
lauft Gefahr, den Simulanten, der gerade das bietet, was
der bon sens des Laien für charakteristisch hält, für geistes-
krank, den wirklich Geisteskranken aber für geistesgesund
zu halten. Bei der Mehrzahl der Geisteskranken sind die
fixen Ideen als inhaltliche Störungen des Vorstellungspro-
cesses durch blosse Störung im formalen Ablauf desselben
oder aber durch Erscheinungen allgemeiner Abschwächung
der intellektuellen Energien vertreten. Diese formalen Stö-
rungen machen ebenso gut unfrei als die in Wahnideen
sich bewegenden Formen des Irreseins, sei es, dass die
Vorstellungsprocesse zu verlangsamt ablaufen oder Vor-
stellungen mit krankhafter Intensität und Dauer im Be-
wusstsein verharren (Zwangsvorstellungen), sei es dass der
Vorstellungsablauf krankhaft so beschleunigt ist, dass ein
besonnenes Erwägen der Motive und Gegenmotive eines
Handelns unmöglich wird. Diese Störungen des intellek-
tuellen Lebens können die einzigen bei den sog. Gemüths-
krankheiten sein und vernichten die Bedingungen der Zu-
rechnungsfahigkeit, in sofern eine ungestörte Ideenassocia-
tion bei dein Vorgang der Selbstbestimmung unerlässlich ist.
Zur Annahme einer die Zurechnungsfähigkeit auf-
hebenden Geistesstörung genügen krankhafte Stimmungen
und Affekte, formale Störungen der Processe des Vor-
stellens und aus ihnen hervorgehende irre Bestrebungen,
sowie Sinken der geistigen Vermögen überhaupt bis auf
eine gewisse Stufe.
Aus der Berücksichtigung der formalen Störungen des
Seelenlebens erklärt sich auch die für den Laien paradoxe
Thatsache, dass gewisse Kranke verkehrt handeln und doch
vernünftig sprechen. Die Erklärung liegt einfach darin,
dass entweder blos formale Störungen im Vorstellen be-
stehen und das krankhafte Wollen von Störungen der
Gemüthssphäre, von krankhaften Stimmungen, Affekten,
Zwangsvorstellungen aus bedingt wird, oder dass allerdings
Irrthum und Irrwahn. 21
vorhandene und das Wollen bestimmende Wahnvorstellungen
von den Kranken geschickt verborgen gehalten werden und
sich nur in irren Handlungen kundgeben. Bei solchen Irre-
seinszuständen kann es sogar geschehen, dass der Kranke
nicht blos vernünftig spricht, sondern sogar mit Scharfsinn
sein unsinniges Gebahren mit Vernunftgründen zu ent-
schuldigen weiss (Folie raisonnante).
Das Auffallendste für den Laien bleibt immer, dass
im Wahnsinn Methode und Logik sich finden. Diese for-
male Leistung des Denkvermögens, als eine durch ursprüng-
liche Veranlagung gegebene, durch Erziehung und Ge-
wohnheit gefestigte erlischt erst mit der tieferen organi-
schen Erkrankung des Seelenorgans (Blödsinn) und geht
selbst in den Zuständen krankhafter Bewusstlosigkeit , wo
doch das Selbstbewusstsein tief gestört ist, nicht gänzlich
verloren.
Aber wenn auch umgekehrt die psychologische Unter-
suchungsweise des Laien auf eine inhaltlich verkehrte Idee
gestossen ist, so ist der gesunde Menschenverstand dennoch
nicht im Stande, dieselbe ohne Weiteres als eine Wahn-
idee mit ihren legalen Consequenzen zu beurtheilen. Wie
er Gefahr läuft, eine evidente Wahnidee, da sie im Bereich
des Möglichen liegt, mit Ueberzeugungstreue vorgebracht
und mit Beweisen gestützt wird, für eine Thatsache zu
halten, so kann es geschehen, dass er den blossen Irrthum
eines Geistesgesunden, etwa aus Aberglauben hervorgehend,
für eine Wahnidee hält.
Es ist im Allgemeinen richtig und psychologisch von
Bedeutung, dass der Irrthum eines Geistesgesunden auf
einem Denk- oder Beobachtungsfehler beruht und von ihm
erkannt wird, wenn man dem Irrenden seinen Fehler nach-
weist, dass ferner der Irrthum des Geistesgesunden sich
als ein objektiver ausweist, während der Irrwahn des Geistes-
kranken immer eine Beziehung zum Subjekte hat (Ver-
folgungswahn durch Hexen, die der Kranke sieht, fühlt etc.
im Gegensatz zum Hexenglaubeu vergangener Jahrhunderte),.
22 Einleitung. Geistesstörung eine Hirnkrankheit.
dass der Wahn des Kranken nicht widerlegt werden kann
und mit der ursächlichen Gehirnkrankheit steht und fallt,
aber alle diese psychologischen Kriterien genügen nicht zur
Sicherstellung, ob Irrthum oder Irrwahn besteht.
Die Entscheidung vermag nur die ärztliche Wissen-
schaft zu geben, indem sie einen fraglichen Wahn auf seine
Entstehungsweise prüft, sein Verhalten zum historischen
und gegenwärtigen Bewusstsein des fraglichen Kranken
ermittelt, seinen Zusammenhang mit anderweitigen Zeichen
eines gestörten Geisteszustandes herstellt.
Aus der Unzulänglichkeit der Psychologie des Alltags-
lebens gegenüber so markanten psychischen Erscheinungen,
wie sie eine unrichtige Vorstellung darbietet, mag ein Ge-
sammtschluss gezogen werden, wie weit der gesunde Men-
schenverstand ohne wissenschaftliche Erfahrung mit seinen
Kriterien in der Beurtheilung zweifelhafter Geisteszustände
reicht.
Geistesstörung als eine Hirnkrankheit kann nur klinisch
ermittelt und festgestellt werden. Nur dann, wenn die Ur-
sachen, Entstehungsweise, ihre körperlichen und psychischen
Symptome, ihr Verlauf ermittelt sind, bietet der Fall eine
solche Klarheit, dass die Frage der Zurechnungsfähigkeit er-
örtert werden kann. Wie bei allen naturwissenschaftlichen
Untersuchungen ist der synthetische, nicht der analytische,
der induktive, nicht der deduktive Weg der Untersuchung
der einzig richtige. Diese unerlässliche Sicherheit für die
Rechtsprechung vermag nur die ärztliche Wissenschaft zu
geben. Dass aber der Richter nicht blos fähig ist, den
objektiven Thatbestand zu ermitteln, sondern auch ge-
eignet, wesentlich zur Klärung des subjektiven bezüglich
der Zurechnungsfähigkeit beizutragen, möge der folgende
Abschnitt klarlegen und zugleich dem Richter zeigen, wo-
rauf er beim Angeschuldigten, der zugleich ein Geistes-
kranker sein kann und damit ausserhalb des Gesetzes steht,
zu achten hat.
A. Allgemeiner formeller Theil.
Der fragliche Geisteskranke in den verschiedenen
Stadien des Strafverfahrens.
1 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Die Erfahrung lehrt, dass krankhafte Störung der Wichtigkeit
Geistesthätigkeit häufig zu Rechtsverletzungen führt und * un « des
dass es keineswegs leicht ist ; bei der Vieldeutigkeit psycho- ^anda <* es
pathischer Erscheinungen, bei ihrer Unbestimmtheit, Ver-
borgenheit, ja selbst absichtlichen Verheimlichung Seitens
des Kranken sowie bei dem vielfach transitorischen Cha-
rakter jener ihr Vorhandengewesensein zur Zeit einer straf-
baren That und ihren Einfluss auf diese festzustellen.
Und dennoch hängt von dieser Entscheidung die ganze
Sicherheit und Würde der Rechtspflege ab. Der Wichtig-
keit dieser Frage des subjektiven Thatbestands entsprechend
ist der Untersuchungsrichter verpflichtet , ein ganz beson-
deres Augenmerk auf den Geisteszustand des Inhaftirten
zu richten.
Dass weder die Fähigkeit, die Folgen der Handlung
zu überlegen, noch Recht und Unrecht mit Bezug auf die
That zu unterscheiden, noch Reuenach derselben, mangelnder
Zusammenhang der That mit vorhandenen krankhaften Er-
scheinungen, Fehlen von Wahnideen die Geistesgesundheit
beweisen, wurde im Vorausgehenden zu zeigen versucht.
24 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Die Verdachtgründe, aus welchen der Untersuchungsrichter
Zweifel bezüglich der Geistesintegrität des Inhaftirten ent-
nehmen kann, sind sehr mannigfach. Leider wird aber in
der Regel das Hauptaugenmerk auf die Feststellung des
objektiven Thatbestands verwendet und unter der durch
nichts gerechtfertigten Präsumption der Zurechnungsfahig-
keit der Blick vom subjektiven Thatbestand abgewendet.
Es ist dies um so bedauerlicher, als der Untersuchungs-
richter in seiner erhabenen Aufgabe Zeugen einvernehmen
kann wie er will und alle Organe des Staats zur Ver-
fügung hat.
Mangelhafte So geschieht es, dass die Vorakten bezüglich der Per-
des Geistes- sönlichkeit des Angeschuldigten, seines Vorlebens, in der
zustands. . *-»<_»/ /
Regel sich auf Leumund und etwaige Vorbestrafungen be-
' schränken, dass die Schilderung der Umstände der Ergreifung,
des Verhaltens in den Verhören und in der Gefangenschaft
in der Regel höchst dürftig ist. Wird dann im Verlauf
der Untersuchung der Gerichtsarzt berufen, so muss das
Fehlende durch neuerliche Untersuchungen ergänzt werden
und für die Gewinnung mancher wichtiger Thatsachen ist
es nun zu spät. Auch die Darstellung des Verhaltens des
Angeschuldigten in den Verhören ist meist eine lücken-
hafte und da der unerfahrene Richter nur zu sehr geneigt
ist, gleich Simulation zu wittern, wenn der Angeschuldigte
sich auffällig benimmt, eine präoccupirte, mindestens nicht
objektive.
Allgemeine Anhaltspunkte für die Zweifelhaftigkeit des Geistes-
Verdacht- *
gründe für zustands ergeben sich für den aufmerksamen Richter zu-
geistige
Störung, nächst aus den die Umstände der That und der Ergreifung
des Thäters schildernden Anzeigedokumenten, dann aus
dem den objektiven Thatbestand enthaltenden Thatbestands-
protokoll, aus dem das Verhalten des Thäters auf dem
Transport schildernden Einlieferungsrapport, aus dem Be-
fund des den Inhaftirten untersuchenden Gefängnissarztes,
aus den Verhören mit dem Angeschuldigten, aus dem Be-
nehmen desselben im Untersuchungsgefängniss, aus der
Verdachtgründe für geistige Störung. 25
Ermittlung der früheren Persönlichkeit und der Lebens-
verhältnisse des Gefangenen.
Die Anzeigedokumente ; wie sie durch die Berichte
etwaiger Thatzeugen, der verhaftenden Polizeiorgane und
Gensdarmen geliefert werden, müssen vor Allem genaue-
stens den Zeitpunkt der That, den Ort derselben, den Ort
der Ergreifung des Thäters, die Umstände der Ergreifung
mit besonderer Berücksichtigung seines Gebahrens, seiner
etwaigen Reden und Geständnisse, seiner Kleidung und
sonstigen Aeusserlichkeiten enthalten. Die Ermittlung der
Zeit der That ist besonders wichtig, damit vor- oder nach-
her stattgefundene Aeusserungen und Handlungen chrono-
logisch sicher dastehen.
Es kann von hohem Werth sein zu wissen, ob der
Inhaftirte in einem der That vorausgehenden Zeitraum
betrunken oder sonstwie im Bewusstsein gestört erschien,
ob er befangen oder unbefangen bei der Ergreifung er-
schien, Kenntniss vom Vorgefallenen hatte oder nicht, sich
der Verhaftung durch Widerstand oder Flucht zu entziehen
versuchte, ob er am Thatort — vielleicht ruhig sitzend oder
gar schlafend betroffen wurde oder entfernt von demselben,
ob er Anstalten getroffen hatte, die Spuren seiner That
zu verwischen, ob er sich fremdes Eigenthum angeeignet
hatte ?
Das die Umstände der That schildernde Thatbestands-
protokoll hat zu ermitteln, ob die That allein oder mit
Helfershelfern begangen wurde, ob vor Zeugen oder heim-
lich, mit welchen Mitteln, Werkzeugen, ob diese die ge-
eigneten waren oder bessere zu Gebot standen, ob bei
Ausführung der That mit einer ungewöhnlichen Gewalt-
anwendung, Rohheit und über das Ziel einer Tödtung
hinausgehenden Grausamkeit vorgegangen wurde, ferner
bei Leichen weiblicher Individuen, ob Zeichen eines ver-
suchten oder vollzogenen Beischlafs vorhanden sind, ob
entsprechende Zeichen am Thäter sich nachweisen lassen,
ob er verwundet oder sonstwie beschädigt ist?
26 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Es ist ferner wichtig zu constatiren, ob wirklich ein
objektiver Thatbestand besteht, da es Kranke gibt, die
sich fingirter Verbrechen beschuldigen, ob mit Grund an-
genommen werden kann, dass der Selbstankläger auch
wirklich der Thäter sei, da fälschliche Selbstbeschuldigungen
•eines objektiven Thatbestands vorkommen.
Doppelte Vorsicht ist nöthig, wenn Selbstanzeige ge-
macht wird, wenn der Thäter seine Handlung so gravirend
als möglich darstellt, wenn sie an den liebsten Angehörigen
oder sonst werth gehaltenen Objekten begangen wurde oder
die Personen dem Thäter ganz fremd waren, wenn das
Verbrechen in Attentaten auf die Person des Staatsober-
haupts, in Religionsstörung oder auffällig schamlosen Un-
zuchtsdelikten besteht.
Das Einlieferungsprotokoll ist wichtig, insofern
es über das Gebahren des Verhafteten in den ersten Stun-
den oder Tagen nach der That Auskunft gibt und es ge-
rade gegenüber der Frage der Simulation sowie bei frag-
licher transitorischer Geistesstörung auf diese Zeit erheblich
ankommt.
Es kann wichtig sein zu ermitteln, ob der Verhaftete
Spuren von Berauschung zeigte, Angst- oder epileptische
Anfalle bot, Bewusstseinsstörung erkennen Hess, delirirte
u. s. w. Es ist nöthig, die Zeitfolge etwa constatirter auf-
fälliger Erscheinungen genau festzustellen.
Der ins Gefängniss Eingelieferte sollte ehestens vom
Gefängnissarzt untersucht werden. Leider geschieht dies
nur auf besonderes Verlangen des Inhaftirten oder des
Gerichts oder bei den regelmässigen monatlichen Gefangen-
hausvisitationen und dann nur oberflächlich in Bezug auf
Wichtigkeit das körperliche Befinden, nicht aber bezüglich des geistigen
chischen Zustandes. Schon Schlager hat vor Jahren diesen Um-
.Status prae-
sens nach stand beklagt, Dr. v. Wyss kürzlich ihn wieder hervor-
fangen- gehoben und auf die Nothwendigkeit der Aufnahme eines
psychischen Status praesens zur Zeit der Gefangensetzung
hingewiesen — nicht etwa als Grundlage eines zu erstat-
Psychischer Status praesens nach der Verhaftung. 27
tenden Gutachtens und der zu ermittelnden Zurechnungs-
fähigkeit, sondern einfach zur Vervollständigung der Unter-
suchung und als eventuelle Unterstützung des Richters in
der Gewinnung von Inzichten für oder gegen das Bestehen
einer Geistesstörung. Leider geht bei dem gegenwärtigen
Gerichtsverfahren der wichtige Moment, wo eine sachver-
ständige ärztliche Person den psychischen Status ermitteln
und aufzeichnen würde, vorüber und damit ein wichtiges
Material für etwa später nöthig werdende Geisteszustands-
untersuchungen verloren. Dieses Material wäre um so werth-
voller, wenn jeder Gefangenhausarzt psychiatrisch gebildet
wäre und ein von sachverständiger Hand entworfenes
Schema für einen solchen Status der Untersuchung zu
Grund gelegt würde.
Direkte und wichtige Gelegenheit, sich Vermuthungen
über die geistige Persönlichkeit des Angeschuldigten zu
bilden, erwächst dem Untersuchungsrichter in den Ver-
hören.
Es ist nothwendig, dass das erste Verhör binnen der
ersten 24 Stunden (Deutsche St.P.O. § 115, Oesterr. § 179)
nach der Einlieferung stattfinde und neben den Personalien
und Thatum ständen ganz besonders das Verhalten nach der
That, die Feststellung der Erinnerung für die Umstände
der Ergreifung, des Transports sowie der Einzelheiten der
That berücksichtige. Eine stenographische Aufzeichnung
wenigstens dieses ersten Verhörs, die genaue Darstellung
des Benehmens in Form des Geberdenprotokolls wäre
nützlich.
Indicien für das Vorhandensein geistiger Störung muss
das Benehmen des Thäters abgeben, wenn er sich selbst
und seine That im schlechtesten Licht darstellt, gleich
gestraft sein will, oder wenn er umgekehrt sich apathisch
zeigt, selbst bei der sonst erschütternden Confrontation mit
der Leiche des Gemordeten; ferner wenn er eine grosse
Gereiztheit und Heftigkeit des Benehmens zeigt, redselig
und abschweifend in der Rede ist, Nonchalance und Dreistig-
28 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
keit des Benehmens an den Tag legt, sich seiner That
mapgeinde runmt - I* 1 nicht seltenen Fällen wird es geschehen, dass
Er fa"die ng ^ er Thäter von seiner Handlung nichts zu wissen behauptet.
That. Dieser Umstand ist wichtig und fordert zur genauesten
Untersuchung des angeblichen Erinnerungsmangels und
seines zeitlichen Umfangs auf. Sind die Thatumstände
genau erhoben, die Thatsachen des Ergreifungsberichts und
Einlieferungsrapports chronologisch geordnet, so gewinnt
dieses fragliche Symptom erhöhte Bedeutung.
Das Fehlen der Erinnerung lässt eine Vermuthung auf
das Vorhandengewesensein einer transitorischen Geistes-
störung (Bewusstlosigkeit) zu, wenigstens ist der Erinnerungs-
defekt für den Zeitraum des krankhaften Zustands Regel.
Es kann aber ebenso gut blos behauptet sein und auf dem
Vertheidigungsplan eines raffinirten Verbrechers beruhen.
Es ist dann Sache des Untersuchungsrichters, durch
Kreuz- und Querfragen an den Vernommenen, durch Fest-
stellung, welchen Umfang zeitlich der angebliche Erin-
nerungsdefekt hat, durch Vergleichung der bezüglichen
Aussagen in den folgenden Verhören der Wahrheit auf die
Spur zu kommen. Von grossem Werth sind dabei auch
der Ergreifungs- und Einlieferungsrapport, jedoch muss der
Richter wissen, dass bei gewissen Formen des transitori-
schen Irreseins (alkoholisches, epileptisches) eine momentane
A^enil£ e Aufhellung des Bewusstseins mit Fähigkeit, Rede und Ant-
^einTmlt* wor ^ zu stehen, eintreten kann, in welcher sogar ein Verhör
<ter Thatun^ mö S^ CÜ i ßt > dass ferner unmittelbar nach einer in Bewusst-
Autklinftzu l° 8 igkeit begangenen That ein momentanes Wissen von
,f be "' derselben beobachtet wurde, obwohl die den Verhaftenden
achliesst Be- "
W ke 8 itszu- g g emacn ten Angaben oder im ersten Verhör gegebenen Aus-
nicS^aus sa S en hinterher dauernd der Erinnerung entschwunden sind.
Auch ein verständiges Reden und Antworten schliesst Zu-
stände von gleichzeitiger Bewusstlosigkeit und eine später
dafür fehlende Erinnerung nicht geradezu aus.
Während angebliche Erinnerungsdefekte meist leicht
nachweisbare Täuschungen sind und den bündigen Beweis
Erinnerungsmangel. Simulationsfrage. 29
mangelnder Wahrheitsliebe des Angeschuldigten liefern, ist
aber nicht zu übersehen, dass auch wirklich Geisteskranke,
so z. B. Melancholische, aus Scham über die begangene
That, ferner Geistesschwache als läppischer Vertheidigungs-
versuch fälschlich Erinnerungslosigkeit behaupten.
Es darf also aus dieser. Thatsache nicht ohne Wei-
teres auf Simulation und geistige Gesundheit geschlossen
werden.
Des Weiteren möge der Untersuchungsrichter den Stand
der Intelligenz, die Gemüthsbeschaffenheit, die Ausdrucks-
weise des Inculpaten wohl beachten. Er hüte sich, durch das
befangene scheue schüchterne Wesen, das vielen Menschen
dem Untersuchungsrichter gegenüber eigenthümlich ist oder
durch die Schwerhörigkeit des Betreffenden eine blödsinnige
Schwäche ohne weitere Anhaltspunkte zu vermuthen.
Häufig wird erst im Verlauf der Gefängnisshaft der simuiations-
Angeschuldigte psychisch auffällig. Der vorsichtige Unter-
suchungsrichter hüte sich vor Allem den Fehler zu be-
gehen, vorweg Simulation zu vermuthen. Eine solche kommt
oft genug im Gefängniss vor und ein bezüglicher Verdacht
ist jedenfalls gerechtfertigt, aber von diesem bis zur Annahme
der Simulation ist noch ein weiter Schritt, den ein gewissen-
hafter Richter nicht ohne Weiteres thun sollte. Wenn der Ge-
danke an Simulation auch naheliegt, insofern ein Verbrecher
dadurch einer entehrenden und die Freiheit beschränkenden
Strafe zu entgehen hofft, so darf nicht vergessen werden,
dass Gemüthsbewegungen wichtige Ursachen für Geistes-
störung sind und deren der Verbrecher vor, während und
nach seiner That genug erfahren hat, zudem dass durch den
Einfluss der Freiheitsberaubung sowie durch die somatisch
schädigenden und psychisch deprimirenden Verhältnisse des
Gefangenenlebens der Verdacht auf eine wirklich vorhandene
Geistesstörung mindestens ebenso berechtigt ist, wie der
auf Simulation.
Zudem kann es sich um eine periodische oder durch
die kritische Bedeutung einer schweren Gewaltthat zurück-
30 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
getretene Geistesstörung handeln, wenn der Inhaftirte ver-
dächtige psychische Symptome zu bieten beginnt.
Hier ist vorläufig keine Präsumption möglich, son-
dern nur eine sorgfältige Beobachtung des Angeschuldigten,
entweder in Collektivhaft mit anderen intelligenten und ver-
lässlichen Gefangenen oder noch besser in der andauernden
und sorgfältigeren Beobachtung im Inquisitenspital.
. Es ist Pflicht des Richters, dafür zu sorgen, dass, so-
bald der Geisteszustand eines Gefangenen verdächtig wird,
der GefiLngnissarzt täglich ihn beobachte und das Resultat
seiner Beobachtungen in einem fortlaufenden Beobachtungs-
journal niederlege, ein wichtiges Beurtheilungsmaterial für
künftige Begutachtungen, das aber in der Regel in den
Akten vergebens gesucht wird. Es wird ausserdem Sache
des Richters sein, die Gefangnisswärter und Mitgefangenen
über die von' ihnen gemachten Wahrnehmungen einzuver-
nehmen, sich selbst von dem Benehmen des Inhaftirten so
oft als möglich zu überzeugen und sobald er einen ge-
gründeten Verdacht auf einen abnormen Geisteszustand hat,
die Gerichtsärzte mit der Exploration zu betrauen.
Es wäre sehr wünschenswerth, wenn in grösseren Unter-
suchungsgefangnissen Gefangenwärter Verwendung fanden,
die früher in einer Irrenanstalt gedient haben und das Ge-
fangnisspersonal zu einer rein objektiven Beobachtung des
verdächtigen Gefangenen angeleitet würde.
für Z sinmi Vermuthungen für den aufmerksamen Untersuchungs-
tion. richter, dass Simulation im Spiele sei, werden sich daraus
ergeben, wenn der Inhaftirte seine angebliche Krankheit in
Gegenwart der Beobachter zur Schau trägt, auf sein Kopf-
leiden mit Ostentation hinweist, was wirkliche Geisteskranke
nicht zu thun pflegen, wenn er in seinem etwaigen Toben
noch eine gewisse Umsicht und Rücksicht zeigt, verkehrte
Antworten gibt, aus denen hervorgeht, dass er gleichwohl
den Sinn der Frage wohl verstanden hat.
Die Ermittlung der Simulation von Geistesstörung ist
keine leichte Aufgabe für den Gerichtsarzt. Wo die ort-
Geisteszustand vor der That.
31
liehen Verhältnisse des Gefängnisses für die unerlässliche
längere und ununterbrochene Beobachtung des fraglichen
Simulanten ungünstig sind, wird der Untersuchungsrichter
gut thun, dem Begehren nach einer Beobachtung in einer
Irrenanstalt zuzustimmen. Er vergesse nicht, dass Simu-
lation gleichzeitige Geisteskrankheit nicht ausschliesst, und
dass Simulation durch die mit ihr nothwendig verbundene
körperliche und geistige Anstrengung in wirkliche Geistes-
krankheit übergehen kann.
Die von manchen älteren Aerzten noch beliebten Kunst-
griffe (Chloroformirung, Ekelkuren, elektrische Geisselung,
Douchen etc.) zur Entlarvung fraglicher Simulanten sind
unsicher, inhuman und selbst gefährlich und deshalb am
besten zu unterlassen.
Die Würdigung der That und des Thäters darf nicht
bei ihr und der gegenwärtigen Persönlichkeit stehen bleiben,
sondern muss auch die der That vorausgehenden Verhält-
nisse und Stimmungen des Inhaftirten ermitteln. Unter allen
Umständen ist die That der Ausfluss schon mehr weniger
lange vor ihr bestehender Stimmungen, Gedankenverbin-
dungen) Gedankenrichtungen, Affekte, Leidenschaften, Im-
pulse. Im Falle sie die That eines Geistesgestörten ist,
steht sie ebensowenig isolirt da, sondern ist nur Symptom
eines bestehenden oder bestanden habenden Zustands, dessen
Ermittlung sie in ein richtiges Licht zu setzen geeignet ist.
Die Zeit vor der incriminirten That, die Umstände, wie
der Thäter zu ihr kam, müssen deshalb sorgfältig ermittelt
werden. Gewöhnlich geschieht dies nur bei schwereren
Reaten, insbesondere insofern die psychologisch differentielle
Diagnose eines Mords oder Todtschlags zu machen ist,
aber auch bei allen möglichen strafbaren Handlungen er-
scheint die Vorgeschichte der That nöthig.
Als einigermassen auf einen krankhaften Hirnzustand
schon vor der That hinweisende und der Beachtung des
Richters würdige Thatsachen sind zu bezeichnen:
Tiefgehende, äüsserlich kaum oder gar nicht motivirte
Notwen-
digkeit der
Erhebung
des Seelen-
zustands.
wie er
schon vor
der That
bestand.
Inzichten
für eine
Geistes-
störung
schon vor
der That.
32 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Aenderung des Wesens und Charakters mit Stumpfheit
gegen früher hochgehaltene Lebensbeziehungen (Beruf und
Familie), Zornmüthigkeit, der Persönlichkeit früher fremde
Neigung zu Alkoholausschweifung, Vagabundiren, geschlecht-
lichen Excessen. Abnahme des Gedächtnisses, rasche gei-
stige Ermüdung, Nachlass des sittlichen und Rechtsgefühls,
Nachlässigkeit im Berufsleben, feindliches, misstrauisches,
gereiztes Benehmen, Eifersucht, Klagen über Verläumdung,
Lebensbedrohung, selbst bei Gericht. Klagen über kör-
perliche, speciell nervöse Beschwerden, Angst, Unruhe,
Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, eigene Befürchtung irre zu
werden. Schmerzliche Verstimmung, wehmüthige oder ge-
reizte Stimmung, Lebensüberdruss und Selbstmordversuche,
Klagen von sonderbaren Gedanken geplagt zu werden, dem
Charakter früher fremde und übertriebene Religiosität, selbst
ausgesprochene Befürchtungen, dass etwas Schreckliches
passiren werde, mit vagen Andeutungen des bevorstehenden
Unglücks, Warnung oder Bedrohung der Umgebung im
Sinn einer zu gewärtigenden Gefahr von Seiten des Thäters,
Versuche, sich der zur Begehung des Verbrechens gebo-
tenen Mittel selbst zu berauben.
Nothwen- Die richterliche Voruntersuchung muss aber noch weiter
digkeit eines # .
zurück- sehen und nicht bei der Vorgeschichte der That stehen
greifens auf ° °
die früheren bleiben, sondern die des Thäters ermitteln.
Lebens- und
Gesund- Das Strafrecht fusst auf psychologischen, gleichwie auf
häitnisse. ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten. Um dem Thäter
gerecht zu werden und eine annähernde Vorstellung von
seiner Schuld zu gewinnen, muss sie die Persönlichkeit des
Thäters bis weit zurück in seinem Lebensgang ermitteln,
denn nächst seiner Anlage sind seine Erziehung und Lebens-
schicksale massgebend für das, was er geworden ist.
Diese Untersuchung der Persönlichkeit beschränkt sich
leider gewöhnlich auf Leumund, etwaige Vorbestrafungen
und allenfalls noch auf die genossene Erziehung.
Indem das Strafrecht sich auf diese ethisch-intellek-
tuellen, zudem lückenhaft und nicht vorurtheilsfrei ermittelten
Frühere Gesundheitsverhältnisfle des Angeschuldigten. 33
Momente im Vorleben des Verbrechers beschränkt, ver-
zichtet es auf eine allseitige und wissenschaftliche Er-
forschung desselben, zu der im Sinne einer Neugestaltung
des Strafrechts der Zug der Zeit und das Bedürfniss drängen
und beraubt sich im concreten Fall wichtiger, weil mög-
licherweise für die Vermuthung eines psychopathischen Zu-
stands ausschlaggebender Thatsachen. Das Strafrecht be-
schränkt sich auf die Würdigung der moralisch intellektuellen
Erziehungsresultate und ignorirt den wichtigen Paktor der
Abstammung und Anlage, sowie den der Lebensschicksale,
wozu auch für die geistige Persönlichkeit bedeutsame er-
littene Krankheiten, erworbene Gebrechen (Trunksucht) zu
rechnen wären.
Die Verwerthung dieser anthropologischen Seite des
Menschen für Strafgesetzgebung überhaupt und Recht-
sprechung im concreten Fall gehört der Zukunft an, aber
der gewissenhafte und in seinem exploratorischen Vorgehen
ungebundene Untersuchungsrichter wird schon in der Gegen-
wart gut thun, diese Seite des Angeschuldigten nicht zu
übersehen. Wenigstens sollte er dies bei schweren Ver-
brechen zu thun nicht unterlassen.
Die Belastung des Richters in Verfolgung dieser Auf- tragen, auf
° ° die es iu der
gäbe kann keine grosse sein, wenn em von kundiger Hand vita ante-
entworfenes Schema dessen, worauf es ankommt, ihm zur kommt.
Verfügung steht und dessen Ausfüllung (eine. Art Frage-
bogen) von ihm der Gemeinde-, Pfarr- oder Polizeibehörde
der Heimath des Angeschuldigten aufgetragen wird, ge-
radeso wie er amtliche Erkundigungen nach dem Leumund
und etwaigen Vorbestrafungen einzieht. Als bemerkens-
werthe Punkte eines solchen Fragebogens wären hervor-
zuheben:
Vorgekommensein von schweren Hirn-, Nerven-, Geistes-
krankheiten, Selbstmord, Trunksucht, auffalliger Immoralität
und verbrecherischer Lebensführung in der Familie des
Angeschuldigten.
Geisteskrankheit, Epilepsie, Hysterie, Trunksucht,
v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 8
34 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
schwere Kopfverletzungen beim Angeschuldigten selbst,
etwaiger früherer Aufenthalt in Irrenanstalten und welchen,
etwa früher verhängte Curatel und von welchem Gericht?
Die praktische Bedeutung dieser Fragepunkte wird in
den Ausführungen des speciellen Theils dieses Buchs sich
genugsam ergeben. An dieser Stelle sei nur der Wich-
tigkeit der Erblichkeit von krankhaften Hirndispositionen
gedacht.
Erblich- Die Bedeutung dieses Gesetzes der Erblichkeit, alleemein
keitsfrage. ° . > o
anerkannt auf dem Gebiet des physiologischen Lebens und
eine ätiologische Grossmacht auf dem der Pathologie, ist
noch lange nicht hinlänglich gewürdigt in ihren praktischen
Consequenzen in foro. Es ist zweifellos, dass nicht blos
Geisteskrankheit im engeren Sinn, sondern auch schwere
anderweitige Hirnkrankheiten, Epilepsie, Hysterie, ja selbst
Trunksucht und überhaupt ausschweifende Lebensweise die
psychische Integrität der Nachkommenschaft in Frage
stellen und thatsächlich häufiger, als man dies vielfach noch
annimmt, die normale Hirnentwicklung stören, ja selbst,
wenn das gefährliche Lebensalter des sich noch entwickelnden
Gehirns glücklich überstanden ist, dieses zeitlebens weniger
widerstandsfähig gegen Schädlichkeiten aller Art erscheinen
lassen und bei Einwirkung solcher in Krankheit versetzen.
Der erbliche Einfluss kann sich in seltenen Fällen schon
von Geburt an geltend machen (angeborenes Irresein) oder
erst in einer späteren Lebensperiode (erworbene Krank-
heit). Es kann hiebei der erbliche Einfluss sich durch kein
Zeichen verrathen (blosse erbliche Anlage) oder durch man-
nigfache Zeichen einer abnormen Funktion des Gehirns
(Anomalien des Charakters, krankhafte Gemüthsreizbarkeit,
durch Intensität und Dauer abnorme Affekte, abnorme
Reaktion gegen Spirituosen, Krampf- u. a. Nervenkrank-
heiten — erbliche Belastung — s. u. psychische Degenera-
tionszustände).
Die erblich veranlagte Krankheit kann dabei in gleicher
Form wie bei der Ascendenz sich äussern und zu ganz
Erbliche Einflüsse. Alters- und Lebensperioden. 35
gleichen Handlungen führen (Diebstahl, Selbstmord) oder
häufiger in veränderter Form. Sie bricht in annähernd
der gleichen Lebenszeit bei Personen verschiedener Ge-
nerationen aus (z. B. Irresein im Wochenbett bei Mutter
und Tochter). Die tiefgehende Bedeutung dieses wich-
tigsten aller Naturgesetze unter den Lebenserscheinungen
ergibt sich unschwer aus diesen kurzen Andeutungen.
Sie wird nur dadurch geschmälert, dass dieses Gesetz nicht
immer zur Geltung kommt. Es kann nicht genug davor
gewarnt werden, aus der blossen Thatsache, dass Irresein
oder gleichwerthige HirnafFektionen bei der Ascendenz vor-
gekommen sind, voreilige Schlüsse bezüglich des Geistes- Ge 2Jig e r 01>
zustands eines Inhaftirten zu ziehen. Diese Thatsache hat SclllÖ8se -
nur dann eine Bedeutung, wenn Störungen in der Hirn-
entwicklung und Hirnfunktion des Descendenten nach-
weisbar sind. Dann ist ihre Bedeutung eine sehr grosse
und nöthigt jedenfalls zur sorgfältigen ärztlichen Beobach-
tung des Angeschuldigten.
Nächst der Erblichkeitsfrage hat ein gewissenhafter
Untersuch ungarichter sein Augenmerk darauf zu richten,
ob eine strafbare That nicht vielleicht in einer Alters- w i££{J|*J it
und Lebensperiode begangen worden ist, in welcher erfah- A1 Leb~ e ns? d
rungsgemäss die geistigen Funktionen noch nicht genügend P erioden -
entwickelt sind oder in welchen geistige Störung nicht
selten, namentlich bei erblich Belasteten oder auch blos
Veranlagten vorkommt.
Als solche Lebensperioden sind anzuführen : das kind-
liche und jugendliche Alter, speciell das Alter der Ge-
schlechtsentwicklung (Pubertät), die Zeit der Menstruation,
die Schwangerschaft, der Gebärakt, das Wochenbett, die
Zeit der geschlechtlichen Rückbildung beim Weib (Kli-
macterium) und das höhere Greisenalter bei beiden Ge-
schlechtern.
Das Alter der strafrechtlichen Unreife (Kind-
heit und Unmündigkeit). In richtiger Würdigung der
Thatsache, dass erst von einem gewissen Alter an die
^ OF TH£
UNIVERSITY
36 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Alter der Hirnentwicklung und Erziehung eine solche Höhe erreicht
liehen ün- haben, dass die Bedingungen der Zurechnungsfahigkeit ver-
Deutscn.st.- muthet werden können, verzichtet die Strafgesetzgebung
oest.st.GB. auf die strafgerichtliche Verfolgung des Kindes überhaupt.
bis 273. Als Termin der strafgerichtlichen Verfolgbarkeit ist von
Oest. St.Gr.-
Entw. § 60 der deutschen Strafgesetzgebung und dem österr. Ent-
wurf (§ 61) das 12., von dem heute noch geltenden Oesterr.
St.G.S. das 10. zurückgelegte Lebensjahr festgesetzt. Je
nach Klima, Race, Culturzustand der Bevölkerung wird
dieser Zeitpunkt von der territorialen Strafgesetzgebung
früher oder später normirt.
Insofern die strafrechtliche Reife nicht plötzlich, son-
dern allmählig erreicht wird, muss zwischen die Alters-
periode der fehlenden Zurechnungfahigkeit des Kindes und
die der vollzurechnungsrahigen Erwachsenen eine Alters-
periode der zweifelhaften Zurechnungsfähigkeit (Alter der
Unmündigkeit) eingeschoben werden. Dieses Lebensalter
wird von der deutschen Strafgesetzgebung und von dem
österr. Strafgesetzentwurf auf das 12. bis 18. Lebensjahr
normirt. Der Staat hält sich, da in diesem Alter das
Rechtsbewusstsein schon erwacht ist, für verpflichtet ein-
zuschreiten, aber jenes ist noch unvollkommen und frag-
lich. Eine Präsumption für und wider ist unzulässig.
Der Fall muss als ein concreter beurtheilt werden. Das
untergehet- gesetzliche Kriterium für die Beurtheilung des jugendlichen
mö^enbei Verbrechers ist die „zur Erkenntniss der Strafbarkeit (der
nche^ver- Handlung) erforderliche Einsicht*. Der Richter ist einzig
Deutsch, st.- competent zur Beurtheilung ihres Vorhandenseins oder
PO 8 298.
Deutsch, st.- Fehlens. Diese Entscheidung kann eine sehr schwierige
oest ' Entw.* sein. Der Gesetzgeber hat den Begriff des Unterscheidungs-
vermögens nirgends definirt. Dem Geist und Wortlaut
der Gesetzgebung nach kann es nur als das Bewusstsein
von der Bedeutung der strafbaren That in ihren recht-
lichen Wirkungen, das zugleich die Kenntniss ihrer mög-
lichen Folgen in sich begriff, gedeutet werden. • (Besitz
der „erforderlichen Einsicht zur Erkenntniss der Strafbar-
Jugendliche Verbrecher. Unterscheidungsvermögen. 37
keit der bezüglichen That a .) In der Regel wird der Richter
zur Beurtheilung des geistig körperlichen Reifezustands eines
jugendlichen Verbrechers, als eines physiologischen allein be-
fähigt sein und die Zuziehung eines ärztlichen Sachverstän-
digen nur erforderlich erscheinen, wenn Anomalien der
körperlich geistigen Entwicklung oder Verdacht auf geistige
Erkrankung sich ergeben. Der Richter muss ganz besonders
berücksichtigen, dass die vom Gesetz angenommene Alters-
gränze der criminellen Unreife eine willkürliche ist und
dass die körperlich geistige Entwicklung nicht bei allen
Individuen, sondern nur bei der Mehrzahl mit dem ab-
gelaufenen 18. Lebensjahr erreicht ist. Durch erblich schä-
digende Einflüsse, durch die sog. englische Krankheit, Hirn-
erkrankungen (Convulsionen) in jungen Jahren, durch schwere
Allgemeinerkrankungen wie z. B. Typhus, Kopfverletzungen,
Bleichsucht, gestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane
kann die Entwicklung eine verzögerte sein. Zudem ist
nicht zu vergessen, dass erst mit vollendetem 21. Lebens-
jahr das Gehirn seine volle Entwicklungshöhe erreicht hat und
dass die psychische Leistungs- resp. die Zurechnungsfähigkeit
von der Entwicklungsstufe des psychischen Organs abhängt.
Solche Entwicklungs Verspätungen können ein Individuum
trotz erreichter Altersreife einem solchen vor zurückge-
legtem 18. Jahr gleich machen und je nach Umständen
die Zurechnungsfahigkeit aufheben oder wenigstens die
Wohlthat mildernder Umstände bedingen.
Bei jugendlichen Verbrechern von 12 — 18 Jahren muss
die Frage der Zurechnungsfahigkeit speciell gestellt und
die Vorfrage des vorhandenen oder fehlenden Unterschei-
dungsvermögens entschieden werden. (Deutsch. St.P.O.§298.)
Der Richter hüte sich, ein solches vorschnell und einseitig
aus einzelnen Kundgebungen der Intelligenz, aus isolirten
moralischen oder intellektuellen Urtheilen, aus einer ge-
wissen Schlauheit oder Bosheit zu erschliessen. Er muss
sich sein Urtheil aus der Gesammtpersönlichkeit zu bilden
suchen. Das Zeugniss des Lehrers, welches erhoben wird,
38 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
berücksichtigt einseitig die intellektuelle Begabung und
ermisst die Persönlichkeit an dem Mass des Erlernten,
das Zeugniss des Geistlichen verwerthet nur die Katechis-
mus- und Moralkenntnisse, ohne zu prüfen, ob sie verstan-
den und nicht blos eingelernt wurden. Der Richter ist zu
sehr geneigt, nach dem Satz „malitia supplet aetatem* zu
urtheilen und nimmt ein inquisitorisch oder durch Sug-
gestivfragen ermitteltes oder hineinexaminirtes Schuldbe-
wusstsein für ein schon zur Zeit der That bestandenes.
Er übersieht dabei leicht, dass vielfach solchen halbkindischen
Leuten erst nach der That, wenn sie den angerichteten
Schaden überschauen, die Folgen der That empfinden, von
Angehörigen, Gefängnissbeamten etc. darauf aufmerksam
gemacht worden sind, die Augen aufgehen.
Der Richter möge sich ferner hüten, dass er ein ab-
straktes theoretisches Strafbarkeitsbewusstsein nicht mit
dem concreten zusammenwirft. Er übersehe nicht, dass
die abstrakte Kenntniss des, Sitten- und Strafgesetzes noch
nicht die Fähigkeit involvirt, den eigenen concreten Fall
unter diese allgemeinen Anschauungen unterzuordnen. Dieses
Bewusstsein von Gut und Bös, Recht und Unrecht ist oft
noch lange ein oberflächliches, intellektuell noch nicht ab-
geklärtes, das sich zudem mehr weniger instinktiv geltend
macht. Urtheil und Erfahrung sind noch dürftig, die Re-
flexion eine oberflächliche und beim geringsten Affekt
gänzlich darniederliegende.
Aber auch auf die Qualität der verübten strafbaren
Handlung muss die Beurtheilung des Unterscheidungsver-
mögens Rücksicht nehmen.
Ein Diebstahl wird gewiss eher und früher als Un-
recht erkannt als eine Fundverheimlichung oder Urkunden-
fälschung oder gar eine hochverrätherische Handlung oder
Majestätsbeleidigung! Die Möglichkeit, die Folgen einer
Brandstiftung vorauszusehen, wird eher anzunehmen sein
als die der eventuellen Folgen einer muthwilligen Beschä-
digung einer Canalschleuse oder eines Eisenbahngleises.
Unterscheidungsvermögen. Pubertätsalter. 39
Der nachgewiesene Mangel des Unterscheidungsver- ^f™^* 1 "
mögens macht den jugendlichen Verbrecher dem Kind unter m ° g ** ln "
12 Jahren gleich; sein Vorhandensein verbürgt jedoch noch ni( ^ g ®f l J 1 b8t '
nicht die Zurechnungsföhigkeit, deren zweite Bedingung die mun ^ h,g "
Selbstbestimmungsfähigkeit ist. Diese muss vorerst erwiesen
«ein, um die Zurechnungsföhigkeit als vorhanden annehmen
zu können. Gerade bei jugendlichen Verbrechern ist trotz
vorhandenem Unterscheidungsvermögen der Mangel eines
genügend erstarkten, auf rechtliche, sociale, ethische An-
schauungen sich stützenden Willens denkbar.
Einsicht in die Strafbarkeit und Folgen einer Hand-
lung gewährleistet noch nicht die sofortige Geltendmachung
und das Uebergewicht der aus jener Einsicht geschöpften
Gegenmotive. Zeigt doch gerade das psychologische Stu-
dium der Unmündigen ein grosses Gewicht der sinnlichen
Antriebe, einen noch wenig geübten und gekräftigten
Mechanismus der Selbstbestimmung, wobei die rechtlichen
und moralischen Urtheile nur erst lose haften, noch nicht
in Fleisch und Blut übergegangene Bestandtheile des Ich
sind. Offenbar auf Grund dieser Thatsachen straft die Ge-
setzgebung den jugendlichen Verbrecher, selbst- wenn er
Unterscheidungsvermögen besitzt, milder als den Er-
wachsenen. Eben daraus folgt, dass die Gesetzgebung
bei dem Unmündigen, welcher die „erforderliche Einsicht*
besitzt, eine (zwar nicht „verminderte" aber) unentwickelte,
nichtvollentwickelte Zurechnungsföhigkeit annimmt ; ferner,
dass im Sinne des Gesetzes die „erforderliche Einsicht*
nicht gleichbedeutend ist mit Zurechnungsföhigkeit.
Es ist ein Vorzug der neueren Strafgesetzgebung,
dass sie das Alter der zweifelhaften strafrechtlichen Reife
bis zum zurückgelegten 18. Lebensjahr hinausgeschoben
hat, insofern in diese Altersjahre die für das geistige Leben ^^21
so wichtige Geschlechtsentwicklung fallt. e ?S[£ k "
Nie sollte der Richter diese bedeutsame biologische
Lebensphase, gleich den anderen in der Folge zu erwähnen-
den unberücksichtigt lassen.
40 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
An und für sich beweist das Vorkommen einer straf-
baren That in einer solchen Lebensphase gar nichts gegen
ihre Zurechenbarkeit, aber eine gesteigerte Vorsicht ist
richterlicherseits jedenfalls geboten und an sich gering-
fügige Auffälligkeiten in dem Benehmen des Inhaftirten
gewinnen eine gewisse Bedeutung und mahnen zur genauen
Prüfung.
Die Pubertätsentwicklung ist eine der bedeutsamsten
Lebensphasen, weil das Hereintreten des Geschlechtsfaktors
in das Gefühls- und Vorstellungsleben ganz geänderte Be-
ziehungen zur Aussenwelt hervorruft und die Grundlage
abgibt, auf welcher die ganze Summe der socialen und
ethischen Gefühle des künftigen Charakters sich entwickelt.
Es geschieht leicht, dass der mehr oder minder rasch sich
vollziehende organisch-psychische Umwandlungsprocess das
Seelenleben gewaltig und krankhaft beeinflusst und bei
keinem Individuum dürfte es je ohne erhebliche Schwan-
kungen der Gefühlslage, die dann in sentimentalen, hypo-
chondrischen, weltschmerzlichen Stimmungen, romanhaften
Gedanken, religiöser Schwärmerei u. dgl. ihren Ausdruck
finden, abgehen. Häufig bewirken Störungen in der Ent-
wicklung der Geschlechtsorgane, Bleichsucht, zufallige körper-
liche Erkrankungen, geschlechtliche Ausschweifungen, wie
Häufigkeit z. B. Onanie, geradezu krankhafte Seelenzustände, nament-
krankhafter ° 7
seeienzu- lieh bei erblicher Anlage. Die Statistik erweist wenig-
ßtände im * .
Pubertäts- stens, dass bei erblich Belasteten der Procentsatz der
alter. 7
Geistesstörung die höchste Ziffer im 16. — 20. Lebensjahr,
offenbar auf Grund der Pubertätsvorgänge, erreicht. Neben
Hysterie, Epilepsie und andern Nervenkrankheiten mit
häufiger Complication geistiger Störung kommen ganz be-
sonders häufig hier Zustände von Melancholie vor, die sich
dann vielfach als Heimweh objektiviren, mit Angstgefühlen,
Sinnestäuschungen, Zwangsideen verbinden und in straf-
baren Handlungen — meist Brandstiftung oder selbst Töd-
tung anvertrauter Kinder — sich entäussern. Die Häufigkeit
der Brandstiftungen im Entwicklungsalter hat zur Irrlehre
Sogen. Brandstiftungstrieb. Menstruation. 41
einer Brandstiftungsmonomanie geführt , indem man nur sog. Brand-
die That und ihre Umstände ins Auge fasste und mit 8tl /riS>f 8 "
Uebersehung der jene bedingenden Verhältnisse entschieden
pathologisch motivirte Brandlegungen mit aus Rache, Schaden-
freude, Muth willen, Nachahmungslust einfach kindischer
haltloser junger Leute motivirten zusammenwarf und zur
Erfindung einer Pyromanie verwerthete, die nun wie alle
anderen Monomanien längst von der vorgeschrittenen Wissen-
schaft beseitigt ist.
Nicht ohne Bedeutung sind auch die periodisch wieder-
kehrenden Vorgänge der Menstruation für das Geistes- Menstrua-
leben. Bei den meisten Frauen zeigt sich vor und während
dieser Zeit eine gesteigerte nervöse und auch gemüthliche
Erregbarkeit und bei gebärmutterkranken, namentlich aber
bei erblich veranlagten und belasteten Weibern kann der
Vorgang der Menstruation zu den heftigsten Affekten, ja
sogar zu temporärer Geistesstörung Anlass geben.
Es wäre geboten, bei der Einlieferung einer weiblichen
im zeugungsfähigen Alter stehenden Gefangenen durch
den Arzt des Inquisitenspitals ermitteln zu lassen, ob die
Inhaftirte sich in Menstruation befindet oder wann sie zum
letztenmal menstruirt war. Wie bedeutungsvoll eine solche
Thatsache im Criminalforum werden kann, lehrt ein in
Hitzig's Zeitschrift für Criminalrechtspflege (1827, Juli u.
Aug.) mitgetheilter Fall einer Mutter, die ihr Kind ertränkt
hatte. Niemand ahnte einen unfreien Geisteszustand zur
Zeit der That. Die unglückliche Mutter war derselben
geständig und wurde zum Tod verurtheilt. Kurz vor der
Hinrichtung theilte sie einer Mitgefangenen mit, sie habe
sich geschämt dem Richter zu sagen, dass sie zur Zeit der
That ihre Periode hatte, eine Zeit, zu welcher sie regel-
mässig von einer ihr unerklärlichen inneren Angst und Un-
ruhe gequält werde und an Lebensüberdruss leide. Die
Vollstreckung des Urtheils wurde vertagt, die Thäterin
während mehrerer Menstruationstermine gerichtsärztlich be-
obachtet, wobei sich ergab, dass sie zu dieser Zeit jeweils
42 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
an Schlaflosigkeit, Kopfweh, Congestionen, Bangigkeit, Puls-
beschleunigung bis zu 130 Schlägen, Lebensüberdruss und
allen Erscheinungen einer tiefen Melancholie litt. Die Un-
glückliche wurde freigesprochen.
Schwanger- Auch die Schwangerschaft führt durch die ein-
scbaft. °
greifenden Aenderungen von Blutumlauf und Stoffwechsel,
die in ihrem Gefolge eintreten, nicht selten zu schweren
Nervenkrankheiten (Veitstanz, Hysterie, Epilepsie) und
davon abhängigen psychischen Anomalien, sowie auch zu
ausgesprochener psychischer Erkrankung, namentlich in den
drei letzten Monaten ihres Bestehens. Besondere Beach-
scnwanger- tung verdienen Diebstähle in der Schwangerschaft, die der
scnaits-
gelüste. Volksglaube auf sog. unwiderstehliche oder in ihrer Nicht-
befriedigung für die Frucht verhängnissvolle Gelüste zu
beziehen geneigt ist. In der Regel handelt es sich um
diebische Weiber, die sich das erwähnte Vorurtheil zu
Nutze machend, einfach stehlen. Daneben kommen aber
auch entschieden Diebstähle aus pathologischen Motiven
vor und zwar auf Grund von krankhaften Stimmungen,
Begehrungen, Zwangsvorstellungen bei Hysterischen oder
auch melancholisch Verstimmten. Meist sind diese Gelüste
auf Befriedigung des Nahrungstriebs, freilich in nicht selten
perverser absonderlicher Geschmacksrichtung ausgehend.
Verdächtig ist es immerhin, wenn die Gelüste auf Werth-
objekte gerichtet sind.
Der Richter wird die Umstände des Falls, die sociale
Stellung der Diebin, den Werth und die Art der Ver-
wendung der gestohlenen Gegenstände in Erwägung zu
ziehen haben. Es wird wichtig sein zu ermitteln, ob die
Betreffende ausserhalb der Schwangerschaft niemals sich
Unredlichkeiten zu Schulden kommen liess, dagegen etwa
in früheren Schwangerschaften gestohlen hat. Der absolute
Unwerth einer gestohlenen Sache wird nicht belanglos sein,
aber aus dem Werth derselben lässt sich an und für sich
nichts folgern. Die Zurückgabe eines Gegenstands kann
auch aus Schamgefühl unterlassen worden sein. Ganz *
Schwangerschaftsgelüste. Gebärakt. 43
monströse Gelüste werden immer Verdacht auf pathologische
Bedingungen erregen. Bei erheblichem Verdacht wird die
gerichtsärztliche Untersuchung des Falls sich empfehlen.
Nur Gelüste, die als Theilerscheinung einer psychischen
oder überhaupt einer Nervenkrankheit nachgewiesen werden,
können eine entlastende Bedeutung in der Zurechnungs-
fahigkeitsfrage gewinnen.
Dem Zustand, in welchem sich die Gebärende in und tfeb&rakt.
7 Oesterr. St.-
nach dem Gebärakt befindet, trägt die Gesetzgebung j^'J^ 1 ^
schon dadurch Rechnung, dass sie die Tödtung des Kindes ^;^. 21 J t ;
oder dessen Tod in Folge absichtlich unterlassener Hülfe- G - E "* w -
§ 228.
leistung mit einer verhältnissmässig milden Strafe ahndet,
eingedenk der Thatsache, dass in diesem geistig und kör-
perlich erschütternden und aufregenden Zustand die Ver-
werthung sittlicher und rechtlicher Gegenmotive gegenüber
dem Gedanken, sich des Kindes zu entledigen, namentlich
bei unehelich Gebärenden erheblich erschwert ist.
Ein affektvoller Zustand, oft schon lange vor der Ge-
burt hervorgerufen durch Scham über die verlorene Ge-
schlechtsehre, Sorge um die Zukunft, namentlich bei Ver-
lassensein vom Geliebten, durch Verstossensein von der Fa-
milie, lieblose Behandlung der Umgebung, materielle Noth,
gesteigert durch den Schrecken bei der herannahenden, oft
hülf losen Niederkunft, zur Höhe der Verzweiflung getrieben
durch die Schmerzen der Geburt, ist hier wohl immer vor-
handen und rechtfertigt die milde Beurtheilung des Mords
des Kindes, als der Quelle all des Jammers.
Der Richter wird auch die anthropologische Seite der
Persönlichkeit zu würdigen haben und in Anomalien des
Charakters (Excentricität , abnorme Gemüthsreizbarkeit,
geistige Beschränktheit) mildernde Umstände erkennen,
die auch das humane Strafgesetzbuch der Neuzeit zulässt.
Von besonderer Wichtigkeit ist aber die Thatsache,
dass die mächtig psychisch und somatisch irritirenden Vor-
gänge der Geburt nicht selten vollständig unfreie Geistes-
zustände während des Gebärakts herbeiführen und damit
44 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
die Zurechnungsfähigkeit vollkommen aufheben. Diese
sind nicht leicht zu erkennen und nachzuweisen und da
sie immer durch krankhafte Bedingungen hervorgerufen
sind und krankhafte Geisteszustände (Bewusstlosigkeit) dar-
stellen, ist richterlich die höchste Vorsicht geboten und
eine rein psychologische Beurtheilung unzulässig.
vonB^ 6 Diese Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit können
k™bei 8 Ge- eDensow °hl die eigene Fürsorge für das Kind im Fall einer
bärenden, heimlichen hülflosen Niederkunft unmöglich machen, als die
sinnesverwirrte, in transitorischer Geistesstörung befindliche
Mutter zu einem aktiven Vorgehen gegen das soeben ge-
borene Kind treiben.
Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit im engeren Sinn
sind durch Erschöpfung in Folge der Geburt oder durch
ungewöhnlich starke Blutverluste motivirt, in seltenen Fällen
durch Erstarrungszustände bei Hysterischen. Das Kind
bietet in solchen Fällen keine Spuren von Vergewaltigung,
sein Tod ist durch Ersticken im Bett werk, in Koth, Blut
der Mutter, Verblutung durch Nichtunterbindung der Nabel-
schnur, Erfrieren durch mangelnde Bedeckung, Erwärmung
bedingt und erklärt. Die Mutter wird vielleicht noch ohn-
mächtig an der Stelle der Geburt vorgefunden.
Die transitorischen Irreseinszustände während und nach
der Geburt sind bis zur Höhe der Sinnesverwirrung und Be-
wusstlosigkeit gesteigerte Affekte, die durch das Uebermass
der Wehenschmerzen, durch mächtig wirkende moralische
Ursachen, durch besondere krankhafte Dispositionen hervor-
gerufen sind, oder es handelt sich um Anfalle von sogenannter
Mania transitoria oder Raptus melancholicus, um eclamp-
tische, epileptische oder hysterische Nervenzufalle mit De-
lirium oder um Delirien eines entzündlichen Fiebers.
Bedeutung Psychologisch ist hier aufgehobene* Erinnerung für
Amnesie. Geburtsvorgang und That für den Richter ein Fingerzeig,
dass pathologische Vorgänge im Spiel waren. Die sofor-
tige Ermittlung der Erinnerungslosigkeit durch das Verhör
als einer thatsächlichen und die Feststellung ihres zeitlichen
Wochenbett. Klimacterium. 45
Umfangs muss seine nächste Aufgabe sein. Die Art der
Tödtung des Kindes, insofern sie eine plan-, sinnlose, viel-
leicht grässliche war, keine Anstalten zur Verwischung
der Spuren der That getroffen wurden, anderweitige An-
zeichen eines zerstörenden unbewussten Handelns aus den
Umständen der That sich ergeben, werden den bezüglichen
Verdacht bestärken und den Richter veranlassen, Sachver-
ständige zu rufen, selbst wenn die allgemein psychologischen
Momente des Falls (schlechter Leumund, uneheliche Ge-
burt, geäusserte Absicht das Kind zu tödten, verheimlichte
Schwangerschaft, absichtlich hülflose Niederkunft) für die
Zurechnungsfahigkeit Indicien abgeben sollten.
Auch im weiteren Verlauf des durchschnittlich "sechs Wochenbett.
Wochen dauernden Rückbildungsprocesses der Gebärmutter
(Wochenbett) sind geistige Störungen bei der geschwächten
Entbundenen häufig und leicht die Ursache von Gewalt-
taten gegen die Umgebung, besonders gegen das Kind.
Auch Affekte in dieser Zeit, namentlich Verzweiflungsaffekte
beim Verlassen des Geburtsasyls und der nun über die
Mutter hereinbrechenden Noth des Lebens verdienen be-
sondere Berücksichtigung, da sie analoge Seelenzustände
darstellen können wie gleich nach der Geburt.
Im Allgemeinen werden geistige Störungen im Wochen-
bett besonders häufig in den ersten Tagen nach der Ent-
bindung, sowie in den letzten Wochen beobachtet. Die
Irreseinszustände in den ersten Tagen sind transitorische,
analog denen zur Zeit der Entbindung, oder chronische.
Die in den letzten Wochen auftretenden sind Melancholien
oder Tobsuchten von längerem Verlauf und dadurch leichter
nachweisbar.
Auch die Zeit der geschlechtlichen Rückbildung zeit te «*-
N ° schlecht-
(Khmacterium) beim Weib ist von Bedeutung für das }{J*J£ *JJ£
Forum, insofern bei etwa 6 °/o der weiblichen Irren in Irren- Weib -
häusern dieser körperliche Vorgang als Ursache ihrer Krank-
heit nachgewiesen wird. Der Beginn dieses Lebensalters
ist gewöhnlich die Mitte der 40 er Jahre, zuweilen be-
46 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
ginnt es auch früher oder später, im Allgemeinen etwa
30 Jahre seit dem Eintritt der Periode. Die Dauer des
Involutionsprocesses kann Jahre betragen.
Das Irresein in diesem Lebensalter hat häufig ge-
schlechtliche Beziehungen (Verfolgungswahn mit feindlicher
Reaktion gegen die Umgebung, ferner Eifersuchtswahn
gegen den Ehemann mit Lebensbedrohung desselben).
^tlr 11 ^ e Involution des Körpers im höheren Alter
betrifft auch das Gehirn und ändert damit Charakter und
geistige Leistungsfähigkeit. Neben dem Nachlass der in-
tellektuellen Kräfte ist oft früh schon und viel ausge-
sprochener als der intellektuelle Verfall ein Schwund der
ethiscnen Gefühle und sittlichen Correktive bemerklich.
Kommen dazu noch geschlechtliche Erregungsvorgänge, wie
sittlich- dies nicht selten ist, so werden leicht Unzuchtsvergehen,
keitsver- . , .
gehen von namentlich an kleinen Kindern begangen, da der moralisch
gangen, und intellektuell geschwächte Greis seine geschlechtlichen,
zudem oft in krankhafter Stärke hervortretenden Neigungen
nicht mehr zu bemeistern vermag. Die Erfahrung lehrt,
dass dieser Thatsache in foro nur selten gebührende Rech-
nung getragen wird.
Auch Gemüthsleiden kommen auf dem Boden der
senilen Degeneration gelegentlich vor und führen nicht
selten zu schweren Gewaltthaten gegen die Enkel aus
Wahn, dass Alles zu Grunde gehe und ein trostloses Dasein
jenen bevorstehe, ferner Verfolgungswahn mit feindlichen
Akten gegen die Umgebung und gerichtlichen Klagen
wegen vermeintlicher Beraubung und Lebensbedrohung.
Die vorausgehenden Thatsachen psychiatrischer Erfah-
rung sind geeignet, dem Untersuchungsrichter die ganze
Schwierigkeit und Verantwortlichkeit seiner Aufgabe, einen
zweifelhaften Geisteszustand nicht zu übersehen, klar zu
machen. Die Berufung der Experten zur Klärung eines
dem Richter zweifelhaft erscheinenden Geisteszustands muss
seinem Ermessen und Gewissen anheimgestellt bleiben. Wohl
aber ist die Frage am Platz, unter welchen Umständen er
Expertise, wann unbedingt räthlich? 47
gut thun dürfte, sofort eine gerichtsärztliche Untersuchung verbrechen,
Del weicnen
des Geisteszustands eines Verbrechers zu verfügen? Sie unter aiien
" Umständen
erscheint räthlich: eine ge-
richtsarzt-
1. Bei vorhandener erblicher Belastung. ucne unter-
° suchung
2. Bei Trunksüchtigen, Epileptischen, Hysterischen, wünschens-
3. Bei Individuen, die schon einmal geisteskrank waren.
4. Bei Mordthaten, in deren Begehung eine auffällige
Grausamkeit sich zeigt.
5. Bei Sittlichkeits verbrechen, wenn sie von Individuen
im Greisenalter begangen wurden oder in perverser Weise
(an Personen desselben Geschlechts, an Thieren oder Leichen)
oder mit Mord des Opfers der Lüste ausgeführt waren.
6. Bei Verbrechen gegen das Leben des Kindes in
und nach dem Gebärakt.
7. Bei Gewohnheitsverbrechern, überhaupt bei Per-
sonen von exemplarisch schlechter Aufführung, soferne der
sittliche Defekt aus Fehlern oder Mangel der Erziehung
nicht erklärbar ist.
8. Bei Individuen, die sich ihrer strafbaren That nicht
zu erinnern behaupten und bei welchen sich das thatsäch-
liche Fehlen der Erinnerung aus den Umständen und Ver-
nehmungen ergibt.
Unter solchen Umständen, aber überhaupt da, wo sich
dem Richter eine Vermuthung für das Bestehen eines geistig
abnormen Zustands ergibt, erscheint es wünschenswerth,
dass unter allen Umständen und zwar von Amtswegen dem
Inculpaten zur Wahrnehmung seiner Interessen ein Ver-
teidiger bestellt werde (vgl. Deutsche St.P.O. § 140—143,
Oesterr. St.P.O. § 41. 45. 220. 347).
Ebenso erscheint die Forderung einer Voruntersuchung
in solchen Fällen gerechtfertigt, denn wie sich aus dem
Folgenden ergeben wird, bedarf die Ermittlung der auf
einen zweifelhaften Geisteszustand Bezug habenden Ver-
hältnisse genügender Zeit und ist in der Hauptverhandlung
nicht mehr befriedigend möglich. Wird in Fällen, welche
schon dem Untersuchungsrichter bezüglich des Geisteszu-
48
Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Richtige
Wahl der
Sachver-
ständigen.
Qualifika-
tion eines
Sachver-
ständigen.
Standes zweifelhaft erscheinen, von Amtswegen ein Ver-
theidiger aufgestellt, so wird es eine seiner ersten Auf-
gaben sein, die nöthige Voruntersuchung zu beantragen.
Freilich steht nach der jetzigen Deutschen St.P.O. das
Recht, eine solche zu verlangen, dem Angeschuldigten zu,
aber beim wirklich Geisteskranken wird dieses Recht illu-
sorisch, da derselbe in der Regel kein Bewusstsein seiner
Krankheit hat und deshalb eine Voruntersuchung nicht be-
gehren wird. Es wäre zu wünschen, dass wenigstens der
Staatsanwalt in solchen Fällen von seiner bezüglichen Be-
fugniss im Interesse des Rechts und der Wahrheit Gebrauch
machte. (Vgl. Deutsche St.P.O. § 176. 199, Oesterr.
St.P.0. § 90. 91. 427.)
Die Strafprocessordnung (Oesterr. § 119, Deutschland
§ 73) überlässt es dem Untersuchungsrichter, indem sie
ihm vollkommen freie Hand lässt, alles zur Erforschung
der Wahrheit Geeignete zu verfügen, Sachverständige seiner
Wahl mit der gerichtsärztlichen Untersuchung des ihm zweifel-
haft erscheinenden' Geisteszustands zu betrauen. Die Oesterr.
St.P.O. § 118. 132. 134 verlangt zwei Sachverständige, die
deutsche leider nurj einen.
Von der richtigen Wahl der Sachverständigen hängt
zum grossen Theil die Sicherheit der Rechtsprechung ab
und es wäre eine dringende Pflicht des Staates, dem Richter
zur Aufklärung eines zweifelhaften Geisteszustands voll-
kommen verlässliche und geeignete Aerzte zur Verfügung
zu stellen. Leider ist weder in Oesterreich noch in Deutsch-
land diese eigentlich selbstverständliche Forderung erfüllt.
Um als Sachverständiger in Fragen zweifelhafter gei-
stiger Gesundheit ein zweckentsprechendes Urtheil abgeben
zu können, ist, wie bei jeder anderen Erfahrungs Wissen-
schaft, ein eingehendes Studium Geisteskranker unerlässlich.
Theoretisches Studium reicht bei einer so eminent prak-
tischen und auf Beobachtung sich gründenden Wissenschaft,
wie sie die gerichtliche Psychopathologie darstellt, keines-
wegs aus.
Qualifikation der Sachverständigen. 49
Nur das längere Studium der Geisteskranken in Irren-
anstalten oder psychiatrischen Kliniken und der durch eine
Staatsprüfung ausgewiesene Besitz von psychiatrischen Kennt-
nissen verbürgt die Qualifikation eines Sachverständigen in
Fragen zweifelhafter Geistesgesundheit. Der Staat glaubt
seinen Pflichten entsprochen zu haben, wenn er da und dort
auf Universitäten psychiatrische Lehrstühle errichtet, aber
er bindet weder durch eine Prüfungsordnung den Studenten
an den Besuch dieser Lehranstalten, noch verlässigt er sich
durch eine Prüfung, ob der angehende Arzt Kenntnisse in
diesem wichtigen Zweig der Medicin sich erworben hat.
Erfahrungsgemäss macht nur ein geringer Theil der Medi-
ciner von der ihnen gebotenen Gelegenheit, sich psychia-
trische Kenntnisse zu erwerben, Gebrauch. Die grosse Menge
der Aerzte bleibt vollkommen unerfahren und wird doch
vom Richter als sachverständig in Fällen fraglicher Geistes-
krankheit benutzt. Ja der Arzt ist sogar gesetzlich ver-
pflichtet, einer derartigen Aufforderung Folge zu leisten.
(Vgl. Deutsche St.P.O. § 75, Oesterr. St.P.O. § 119, AI. 2.)
Bei dieser Lage der Dinge ist der Sachverständige nur der
Form nicht aber dem Wesen nach Sachverständiger und
ist es nicht zu wundern, wenn schlechte Gütachten und
fehlerhafte Urtheile sich ergeben. Die sog. Physikatsexa-
mina in Oesterreich und Deutschland, in welche.n foren-
sische Psychologie übrigens eine untergeordnete Rolle spielt,
sind hoffentlich ein Uebergang zu einer staatlichen Ver-
pflichtung für jeden Arzt, Psychiatrie praktisch zu studiren
und darüber ein Examen zu bestehen.
Bis zur Erfüllung dieses berechtigten Wunsches möge
der gewissenhafte und nicht blos einer Gesetzesbestimmung
formell Rechnung tragende Richter, bevor er Sachverständige
beim Gericht anstellt oder ad hoc beruft, bedenken, dass
nicht jeder zur Praxis berechtigte Arzt auch eo ipso sach-
verständig in gerichtlich-psychologischen Fragen ist.
Recht und Pflicht der Medicin, auch in Fragen zweifel-
hafter geistiger Gesundheit ihr Votum abzugeben, ist heut-
v. Krafft-Ebing, Criminalpsycliologie. 2. Auflage. 4
50 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
d« P fcz£ z zutage nicht mehr fraglich und von der Gesetzgebung
ilÄJ 1 ?; (Deutsche St.P.O. § 73— 83, 238-257; Oesterr. St.P.O.
P8 8chln ri * § 134) geregelt. Noch Kant wollte Fragen dieser Art der
DeuteciTst.- philosophischen Fakultät zuweisen und Regnaul t (1830) be-
*2S8-wiT' stritt die Competenz der Aerzte. Freilich waren die psy-
p. 8 aTi3 S 4t" chiatrischen Gutachten damals mehr philosophische Abhand-
lungen als medicinische Expertisen und mehr geeignet zu
verwirren als aufzuklären.
undAKbP^ ^ e Stellung des ärztlichen Sachverständigen im heu-
des ärzt- \ tigen Gerichtsverfahren ist nicht die eines Zeugen — denn
liehen Sachi ° °
^r** 11 er berichtet flicht blos Sinneswahrnehmungen über mit der
/ That • in Verbindung stehende Thatsachen der Vergangen-
j heit, sondern zieht aus einer Reihe solcher wissenschaft-
; liehe Schlüsse und belehrt den Richter über die Bedeutung
: jener. Seine Stellung ist ferner weder die eines Gehülfen
des Richters — da die Willensfreiheit und die aus ihr sich
, ergebende Zurechnungsfähigkeit ihn nichts angehen, noch
die eines Judex facti*, denn er hat überhaupt nicht im
rechtlichen Sinne über Thatumstände ein Urtheil abzu-
geben, sondern nur Thatumstände nach Fachkenntniss zu
. begutachten. Seine Stellung und Aufgabe ist vielmehr eine
! eigenartige, eine sachverständige Aufklärung des Richters
» über für die Thatfrage wesentliche biologische Thatsachen.
Diese sind Nachweisbarkeit oder Nichtnachweisbarkeit einer
krankhaften Störung der Geistesthätigkeit.
Besonders klar präcisirt die Aufgabe der ärztlichen
Sachverständigen der § 134 der Oesterr. St.P.O.:
„. . . dieselben haben über das Ergebniss ihrer Beob-
achtungen Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung
des Geistes- und Gemüthszustands des Beschuldigten einfluss-
reichen Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeu-
tung sowohl einzeln als im Zusammenhang zu prüfen und, falls
sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur
der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestim-
men und sich sowohl nach den Akten als nach ihrer eigenen
Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die
Berufung der Sachverständigen. 51
Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen \
,des Beschuldigten geäussert habe und noch äussere und ob /
und in welchem Masse dieser getrübte Geisteszustand zur
Zeit der begangenen That bestanden habe."
Wo bei einem Gerichte Sachverständige dauernd be- d JSS?fr-
stellt sind, hat der Untersuchungsrichter in erster Linie d 8 *^ 1 ^:.
diese mit der Untersuchung zu betrauen. Der Richter ^'dj^ 8 '
braucht aber nach der Gesetzgebung nicht auf die ge- § 119 -
richtsärztliche Leistung nicht berufsmässiger Gerichtsärzte
zu verzichten, wenn besondere Fachkenntnisse in besonders
schwierigen Fällen eine Zuziehung solcher wünschenswerth
erscheinen lassen. Während der amtliche Gerichtsarzt un-
weigerlich einer gerichtlichen Aufforderung in foro Folge
leisten muss, kann billigerweise für einen nicht berufs-
mässigen Arzt ein Zwang, als Sachverständiger in foro
thätig zu sein, nur unter gewissen Umständen (Deutsche
St.P.0. § 75; anders Oesterr. St.P.O. § 119 AI. 2) ein-
treten.
Die nächste Aufgabe des Untersuchungsrichters nach
der Berufung des Sachverständigen ist die, dass er ihm
Zweck und Anlass seiner Berufung mittheile, ihm sämmt-
liches bereits verfügbares Beurtheilungsmaterial (Akten)
zur Disposition stelle und ihm den uneingeschränkten Ver-
kehr mit dem Exploranden gestatte. Es kann* namentlich
bei fraglichen Fällen krankhafter Bewusstlosigkeit von
Werth sein, dass der Sachverständige schon bei der Vor-
nahme des Augenscheins am Thatort gegenwärtig sei.
Häufig ist die Voruntersuchung beim Eintreten des
Sachverständigen in den Verlauf der Angelegenheit eine
flir die Gewinnung anthropologischer und klinischer Mo-
mente bezüglich der Person des Angeschuldigten ungenü-
gende. Der Richter muss dem Verlangen des Sachver- Ergänzung
ständigen nach Feststellung solcher Fragen, wie sie aus theiiungs-
dem Verkehr mit dem Exploranden, aus Zeugenangaben, Deutsch. St-
aus Vermuthungen und Behauptungen des Vertheidigers oek'§i23.
sich ergeben, entsprechen und Alles aufbieten, um zu einer
52 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
wünschenswerthen Vervollständigung des Beurtheilungsma-
terials zu gelangen. Dem Sachverständigen muss es ge-
stattet sein, der Vernehmung von Zeugen beizuwohnen und
selbst an sie Fragen zu stellen. . (Deutsche St.P.O. § 80.)
digkeiTge- Unerlässlich für eine erfolgreiche Thätigkeit des Sach-
Soobach- verständigen ist, dass der Richter ihm genügende Zeit und
tmigszeit. passenden Ort zur Beobachtung gestatte.
Die Forderung ausreichender Zeit rechtfertigt sich aus
der meist erforderlichen Umfanglichkeit der Vorerhebungen
über die Person des Angeschuldigten, die in der Regel die
wichtige anthropologische Seite der Persönlichkeit bisher
unerörtert Hessen, ferner aus der Häufigkeit zeitweiser Latenz
des vielleicht nur periodisch sich äussernden Irreseins. Es
können Monate erforderlich sein bis der Experte im Stande
ist, ein entscheidendes Gutachten abzugeben und nur selten
und bei gut charakterisirten Fällen von Irresein wird ein
solches sofort möglich erscheinen. Das kann unbequem für
den Richter sein, zumal, wenn erst nach längerer Dauer
der Voruntersuchung sich Zweifel bezüglich der Geistes-
integrität erhoben haben, aber er wird den Arzt, der ge-
wissenhaft vorgeht, sich Zeit lässt, nicht tadeln noch drängen,
sobald er die Schwierigkeit derartiger Untersuchungen ein-
gesehen hat. Braucht doch auch der Richter zur Ermitt-
lung des objektiven Thatbestands nicht selten viele Monate
bis die Voruntersuchung abgeschlossen werden kann!
Passender Nicht minder wichtig erscheint ein passender Ort für
Ort der Be- *
obachtung. die Beobachtung. In schwierigeren Fällen, überhaupt da,
Deutsch. St.-
p.o. § 8i. wo eine unausgesetzte Beobachtung (Fälle fraglicher Simu-
lation, Dissimulation, fragliche epileptische Anfalle) und
zwar durch Geübte erforderlich ist, wird es sich empfehlen,
den Angeschuldigten in ein Spital oder in eine Irrenanstalt
zu versetzen. Jedenfalls ist ein befriedigender Erfolg im
Gefangniss, wo die Gefangenwärter durch stets bereite
Vermuthung von Simulation befangen sind und der Arzt
nur ab- und zugehen kann und auf sich selbst angewiesen
ist, fraglich.
Irrenanstalt als Beobachtungsort. 53
Dem Verlangen des Sachverständigen, den Angeschul-
digten zur genaueren Beobachtung in eine Irrenanstalt zu
senden, sollten .richterlicherseits keine Schwierigkeiten ent-
gegengesetzt werden. Die Deutsche St.P.O. § 81 gestattet
auch diese Massnahme, macht sie aber aus übelangebrachter
Humanität für den Angeschuldigten unnötigerweise von
einem Gerichtsbeschluss abhängig, statt sie einfach dem
Untersuchungsrichter zu überlassen und beschränkt leider
die zulässige Dauer der Verwahrung auf 6 Wochen! Diese
Frist wird sich zweifelsohne für viele Fälle unzureichend
erweisen, zumal, da durch Versetzung in andere Verhält-
nisse ein wirklich Geisteskranker meist Aenderungen seines
Verhaltens für einige Zeit zeigt.
Unter allen Umständen müsste der Direktion einer
Irrenanstalt zugleich mit der Aufnahme eines solchen crimi-
nellen Exploranden das ganze bisherige Aktenmaterial zur
Einsicht überlassen werden.
Von grosser Wichtigkeit ist eine präcise richtige Frage- p j£* e "f 6
Stellung an die Sachverständigen. diesachver-
Die deutsche Strafgesetzgebung hat einen grossen ständigen.
Fortschritt zu verzeichnen, indem sie statt früherer meta-
physischer Begriffe (Vernunft, Willensfreiheit) und nament-
licher, deshalb nie erschöpfender Aufführung von die
Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden Formen geistiger
Krankheit, nur noch die allgemeinen und naturwissen-
schaftlich verständlichen Begriffe der krankhaften Störung
der Geistesthätigkeit und der Bewusstlosigkeit als die Zu-
rechnungsfähigkeit abschliessende krankhafte Seelenzu-
stände kennt. Logischerweise kann die Fragestellung des
Richters im Sinne der Gesetzgebung nur darauf gerichtet
sein, ob einer dieser Zustände oder beide zur Zeit einer
strafbaren Handlung vorhanden waren. Nie sollte nach
Zurechnungsfähigkeit oder Willensfreiheit gefragt werden.
Es sind das Begriffe, welche die Naturwissenschaft nicht
kennt und denen deshalb der Sachverständige als Laie oder
mindestens als gewöhnlicher Bürger gegenübersteht.
54 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
Auch hier gibt die deutsche Gesetzgebung einen Wink,
insofern sie die ärztliche Frage nach der vorhandenen
krankhaften Störung der Geistesthätigkeit von der rein
richterlichen Frage der etwa dadurch aufgehobenen freien
Willensbestimmung trennt.
Aber eben in dieser zweiten Bedingung des Gesetzes-
paragraphs liegt eine weitere Forderung an den Sachver-
ständigen.
Nicht jede krankhafte Störung der Geistesthätigkeit
hebt an und für sich die Zürechnungsfähigkeit auf, so wenig
als eine leichte Funktionsstörung irgend eines Organs schon
als Krankheit im medicinischen oder legalen Sinn betrachtet
werden kann, obwohl strengwissenschaftlich eine krank-
hafte Störung der Funktion des Organs vorhanden ist.
Auch im psychischen Organ kommen elementare funk-
tionelle Störungen vor, die zwar für die Integrität des
Geisteslebens nicht belanglos sind, Berücksichtigung in foro
(mildernde Umstände) nöthig haben, aber weder den con-
ventioneilen Begriff der Krankheit als eines Complexes von
Funktionsstörungen, noch den legalen als einer die Willens-
freiheit aufhebenden Krankheit involviren. Der Begriff
der krankhaften Störung der Geistesthätigkeit ist wissen-
schaftlich eben ein weiterer als der sociale und legale.
Ebendeshalb konnte sich der Gesetzgeber nicht be-
gnügen, allgemein blosse krankhafte Störung der Geistes-
thätigkeit als die Zurechnungsfähigkeit abschliessendes
Moment hinzustellen, ebenso wenig kann in concreto auf
das besondere Merkmal einer die Willensfreiheit aufheben-
den krankhaften Störung der Geistesthätigkeit verzichtet
werden.
Wenn auch der Arzt die Frage nach der aufgehobenen
Willensfreiheit nicht beantworten kann und darf, so kann
und muss er jedoch in seiner Darstellung des etwa gefun-
denen krankhaften Geisteszustands auf das specielle Be-
dürfniss des Richters und den speciellen Zweck seiner
Exploration insofern Bedacht nehmen, als er nicht blos die
Gutachten. 55
Symptome des Zustande ermittelt, sondern auch Umfang,
Art und Grad der Funktionsstörung im geistigen Mechanis-
mus mit besonderer Rücksicht auf die Fähigkeit der Unter-
scheidung und der Wahl zwischen verschiedenen Motiven
derart klarlegt, dass es dem Richter nicht schwer fällt,
daraus zu erkennen ob die krankhafte Störung der Geistes-
thätigkeit eine solche war, dass die freie Willensbestim-
mung ausgeschlossen war.
Gelingt dies dem Richter nicht, so ist der Fehler jeden-
falls auf Seite des Sachverständigen. Diese in der Natur
der Sache liegende und im Sinne der Gesetzgebung statt-
findende Trennung der Aufgaben verhindert Uebergriffe
in das Gebiet des Richters und kann einer gerechten Ent-
scheidung in Fällen zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit nur
förderlich sein.
Seine sachverständige Deutung des gerichtsärztlichen
Befunds hat der Experte mit Berücksichtigung der richter-
lichen Fragestellung in Form eines Gutachtens zu geben.
Das Gutachten kann in der Voruntersuchung je nach dem (££'12^
Ermessen des Richters ein mündliches oder schriftliches
sein. Die letztere Form hat jedenfalls den Vorzug schon
deshalb, weil spätere Begutachtungen dadurch erleichtert
werden. Es muss billigerweise dem Sachverständigen zu-
stehen, eine Verbesserung der Fragestellung zu verlangen,
indem er mit überzeugenden Gründen die Notwendigkeit
einer solchen nachweist.
Bei den verwickelten Fragen geistiger Krankheit sollte
immer dem Gutachten die ausführliche Lebens- und Krank-
heitsgeschichte vorausgeschickt werden. Auf diese hat sich
das Gutachten zu stützen. Nur aktenmässige Thatsachen
dürfen den Schlüssen des Gutachtens zu Grunde gelegt
werden. Befund und Gutachten müssen ausführlich, tref-
fend, streng objektiv, in klarer Sprache mit thunlicher
Vermeidung von Kunstausdrücken abgegeben werden.
Die Schlüsse des Gutachtens können für den rein
seiner Ueberzeugung folgenden Richter nicht bindend sein,
Gutachten.
Deutsch. St.-
56 Der Geisteskranke vor dem Untersuchungsrichter.
schon deshalb nicht, weil das Gutachten nicht die einzige
Quelle ist, aus welcher er seine Beweise schöpft.
Richter- Jedenfalls muss ihm das unbeschränkte Prüfungsrecht
fungsrecht des Gutachtens zuerkannt werden. Seinen Wissenschaft-
achtens, liehen Werth kann er freilich nicht beurtheilen, wohl aber
p.o. §"83." die Richtigkeit seiner Prämissen, die Logik seiner Schluss-
folgerungen, die Genauigkeit der Ermittlung und Ver-
werthung der Thatsachen. Sind die dem Gutachten zu
Grund gelegten Annahmen unrichtig, lückenhaft, die Be-
weise aus den Akten mangelhaft benutzt, die gezogenen
Schlüsse unberechtigt, unbestimmt, vielleicht gar einander
widersprechend, so ist der Richter nicht nur berechtigt,
sondern sogar verpflichtet, ein derartiges Gutachten zu
verwerfen,. denn nur dann, wenn der Beweis durch Sach-
verständige dem Richter die volle Ueberzeugung verschafft
hat, dass die nachgewiesene krankhafte Störung der Geistes-
thätigkeit die Freiheit der Willensbestimmung unmöglich
gemacht hat, kann der Richter die Zurechnung als auf-
gehoben erklären und ein Verbrechen oder Vergehen aus
diesem Mangel des subjektiven Thatbestands als nicht vor-
Einsteiiung handen anerkannt werden. Hat aber das Gutachten dem
fahrens. Gerichte diese Ueberzeugung verschafft, so ist es befugt,
p.o. § 168.' das Verfahren gegen den Angeschuldigten wegen mangelnder
§ 109. 2i3. Zurechnungsfähigkeit einzustellen. Der Betreffende ist dann
kein Objekt für die Strafrechtspflege mehr und es kann,
falls er noch geisteskrank ist, nur noch polizeilich die Frage
entstehen, ob er wegen durch die strafbare That erwiesener
Gemeingefährlichkeit in einer Irrenanstalt zu verwahren
ist. Diese Frage hat die Sicherheitsbehörde, welcher der
Freigesprochene zugeführt wurde, zu entscheiden. Nie
sollte diese Massregel aber Platz greifen bevor nicht der
Kranke einer neuerlichen Prüfung seines Geisteszustands
unterworfen wurde, denn dieser kann sich seit Erstattung
des Gutachtens geändert haben, der Betreffende inzwischen
genesen oder blödsinnig und unschädlich geworden sein.
In nicht seltenen Fällen ist der Richter jedoch durch
Neuerliche Erhebung von Gutachten. 57
das Gutachten nicht befriedigt, insofern dessen Schlüsse Neuerliche
07 Erhebung
nicht beweisend oder unbestimmt sind, zudem kann der ▼onGut-
7 > achten.
Richter bei der Wichtigkeit und Schwere des Falls sich Deutsch, st.-
bei der gutachtlichen Aeusserung eines oder zweier Sach- 8 ° este 5L
verständigen nicht beruhigen.
Die Strafprozessordnung verpflichtet ihn dann sich an
andere Sachverständige zu wenden, von denen eine Auf-
klärung zu erwarten ist. (Oesterr. St.P.O. § 125, 126.
Deutsche § 83.) Gewöhnlich wird dann das Ersuchen um
Begutachtung an eine weitere Medicinalinstanz (Medicinal-
collegium der Provinz in Preussen, medicinische Fakultät
in Oesterreich) gerichtet. Dasselbe ist der Fall, wenn die
Sachverständigen verschiedener Meinung waren und dissen-
tirende Separatgutachten abgegeben wurden.
Die Begutachtung in höherer Instanz leidet darunter,
däss in der Regel eine persönliche Untersuchung des Ex-
ploranden nicht statthaft ist und nach Lage der Akten ein
Gutachten abgegeben werden soll. #
Das ist nur in seltenen Fällen befriedigend möglich
und die betr. Medicinalbehörde sollte sich nicht darauf ein-
lassen, sondern die persönliche Beobachtung des zweifel-
haften Zustands durch den Referenten fordern. Der ein-
sichtsvolle Richter wird diesem Verlangen Rechnung tragen.
Die Begutachtung durch ein Medicinalcollegium bietet keine
grössere Sicherheit als die durch einfache Gerichtsärzte und
der Richter möge bedenken, dass hoher Titel oder Amt nicht
gerade eine Bürgschaft flir die Qualifikation des Sachverstän-
digen sind. Schliesslich ist es doch in der Regel nur eine Person
des Collegiums, der Referent, welche das Gutachten erstattet.
Seitdem keine gesetzlichen Schwierigkeiten der Abgabe
eines zweifelhaft irren Verbrechers nach der Irrenanstalt
mehr gegenüberstehen, erscheint es zweckmässiger, in Fällen,
wie die oben vorgesehenen, den Exploranden einer Irrenanstalt
zuzustellen. Das Gutachten der Aerzte derselben, welche
doch am besten in der Lage sind, den fraglichen Kranken
zu beobachten und zu beurtheilen, wäre dann einzuholen.
58 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
II Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
Ist der Angeschuldigte während der Voruntersuchung
in Geisteskrankheit verfallen , so kann die vorläufige Ein-
stellung des Verfahrens beschlossen werden (Deutsche St.P.O.
§ 203). Ergeben sich jedoch vor Abschluss der Vorunter-
suchung keine überzeugenden Beweise für einen krank-
haften, die Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden Geistes-
zustand oder sind die für einen solchen sprechenden Indi-
cien nicht hinreichend für die Annahme der Unzurechnungs-
fähigkeit, so wird die Voruntersuchung geschlossen und das
Beweismaterial der Strafkammer des Gerichtshofs vorgelegt,
die nach vorgenommener Prüfung desselben gegen den An-
geschuldigten das Hauptverfahren eröffnet. (Versetzung in
Anklagezustand.) Die beschliessende Strafkammer würde
jedenfalls gut daran thun, auch die Frage der Zurechnungs-
fahigkeit eingehend zu erwägen und, falls sie die für einen
geistig abnormen Zustand zur Zeit der That sprechenden
Indicien schwerwiegend genug findet, mit der Eröffnung
Ergänzung des Hauptverfahrens zuzuwarten, bis alle Zweifel behoben
der Vor-
unter- sind. Es liesse sich dadurch manchen Härten und fatalen
Deutsch, st.- Situationen, in welchen sich später die Rechtsprechung
öesterr. ' Geisteskranken gegenüber befindet, begegnen.
§ 211.
Ist die Eröffnung des Hauptverfahrens verfügt, so muss
der Rechtsfall zum Austrag kommen. Nicht selten geschieht
es nun, dass, bevor über den Angeklagten in der Hauptver-
handlung verhandelt wird, sich trotz Untersuchungsrichter
und Straf- bezw. Rathskammer begründete Zweifel über
die Geistesintegrität des Angeklagten erheben, sei es, dass
der Vertheidiger oder die Angehörigen inzwischen Beweise
für die geistige Krankheit gewonnen haben, sei es, dass
die zur Zeit der That erst in ihren Anfangen vorhanden
gewesene Krankheit nun weiter vorgeschritten ist und selbst
dem Laien erkennbar wird, sei es, dass der Angeklagte
Verhandlungsfähigkeit. 59
durch die schädlichen Momente der Haft jetzt erst geistig
erkrankt ist.
Unter allen Umständen ist es nothwendig, fn solchem
Fall zu ermitteln, ob der gegenwärtige Zustand des Kranken
derart sei, dass mit ihm gerichtlich verhandelt werden könne.
Eine Verhandlungsfähigkeit in psychischer Beziehung kann verhand-
nur demjenigen zugesprochen werden, der sich vertheidigen te".
kann. Eine solche Fähigkeit setzt nothwendig das Be-
wusstsein der Bedeutung der incriminirten Handlung, der
gerichtlichen Tragweite einer gerichtlichen Verhandlung,
die Fähigkeit, dem Richter Rede und Antwort bezüglich der
persönlichen Verhältnisse und der Thatumstände zu stehen,
und die Kenntniss der Rechtsmittel und Rechtswohlthaten
voraus.
Die Verhandlungsfähigkeit zu bestimmen, ist Sache
des Gerichtes. Der Sachverständige hat Art und Grad der
geistigen Störung zu diesem Behüfe klarzustellen.
Ist der Angeklagte wegen Geisteskrankheit nicht ver-
handlungsfahig, so muss die Austragung des Processes bis
zur Wiederherstellung vertagt und der Kranke einer Irren-
anstalt übergeben werden.
Ist er geheilt und das ihm imputirte Verbrechen noch
nicht verjährt, so muss das Processverfahren gegen ihn
wieder aufgenommen werden. Es sollte hier grosse Milde
walten, da Geisteskrankheiten sehr zu Recidiven neigen und
die Wiederaufnahme des Strafprocesses nur zu leicht ein
solches hervorbringt. Es gibt Fälle, wo durch jeweilige
Rückfälle die Unheilbarkeit herbeigeführt und das Straf-
verfahren dennoch nicht zu Ende gebracht werden konnte.
In solchen Fällen kann eine Niederschlagung des Processes
auf dem Weg der Gnade human und praktisch seih.
In der Zwischenzeit von der Eröffnung des Haupt- vorberei-
verfahrens bis zur Hauptverhandlung ist eine Beobachtung Hauptver-
des Angeklagten um so eher angezeigt, wenn sich schon
in der Voruntersuchung nicht beseitigte Zweifel bezüglich
seiner Geistesintegrität erhoben haben. In Frankreich be-
60 Öer Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
steht die zweckmässige Einrichtung, dass der Assisepra>i-
dent von der Versetzung in Anklagezustand bis zum Termin
den Angeklagten zu vernehmen hat. (Vgl. Oesterr. St.P.O.
§ 220.) Diese Zeit ist eine wichtige für den Vertheidiger
insofern es ihm obliegt, falls er den Geisteszustand seines
Clienten für bedenklich hält, das nöthige Beweismaterial
bezüglich dessen geistiger Störung vorzubereiten. Nie sollte
der Vertheidiger leichtsinnig die Zurechnungsfähigkeitsfrage
aufwerfen, d. h. ohne durch Auffindung von in den Akten
und der Anklageschrift nicht enthaltenen erheblichen That-
sachen, durch eingeholte Ansichten ärztlicher Vertrauens-
männer dazu veranlasst zu sein. Die Unparteilichkeit des
Verfahrens fordert, dass dem Vertheidiger dieselben Rechte
in der Beibringung der Beweismittel eingeräumt werden
Zulassung w i e dem öffentlichen Ankläger. Nach der Oesterr. St.P.O.
von Zeugen
und sach- (§ 225) hat sowohl der Staatsanwalt als der Vertheidiger
digen. das Recht zu verlangen, dass noch andere als die vom
Gerichtshof designirten Sachverständigen (gewöhnlich die-
jenigen, welche bereits in der Voruntersuchung thätig waren)
zur Hauptverhandlung geladen werden. Dieses Verlangen
muss genügend motivirt sein und die Liste der vorzu-
ladenden Sachverständigen dem Gegner 3 Tage vor der
Hauptverhandlung bekannt gemacht werden. Ueber die
Zulassung dieser Sachverständigen entscheidet in Oester-
reich die Rathskammer. Im Fall der Ablehnung kann das
Verlangen nochmals in der Hauptverhandlung gestellt werden.
Erfolgt neuerlich eine Ablehnung, so ist in Oesterreich der
Vertheidiger ausser Stand, zu Gunsten seines Clienten lau-
tende Gutachten bedeutender Fachmänner, die nur die Be-
deutung von Privatansichten hätten, zur Geltung zu bringen.
In Deutschland dagegen (St.P.O. § 218. 219), gleichwie in
Frankreich und England, können Ankläger wie Verthei-
diger so viel Sachverständige ihrer Wahl mit oder ohne
Zustimmung des Gerichtshofs laden als ihnen beliebt, nur
muss dies rechtzeitig dem Gegner bekannt gegeben werden.
•Nach § 220 der Deutschen St.P.O. und Oesterreich.
Geständniss. Werth der Zeugenaussagen. 61
§ 254 kann der Vorsitzende des Gerichts auch von Amts-
wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen, sowie
die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.
Das zur Beweisaufnahme und Urtheilsschöpfung in der
Hauptverhandlung stattfindende Verfahren ist ein mündliches
und unmittelbares (d. h. auf unmittelbarer Wahrnehmung des
Gerichts beruhendes). Die Vernehmung des Angeklagten muss
bei zweifelhafter Geistesgesundheit mit grosser Vorsicht vor-
genommen werden, da er, werin wirklich geisteskrank, leicht
verwirrt oder aufgeregt wird, seine Antworten müssen mit
Reserve beurtheilt werden, da er leicht dissimulirt oder simu-
lirt. Dass vernünftiges Reden und Antworten bestehende
Geisteskrankheit nicht ausschliesst, wurde bereits erörtert.
Das Geständniss eines Angeklagten genügt nicht zum oestand-
Beweis seiner Schuld (Oesterr. St.P.O. § 206 x ). Auch
Selbstanschuldigungen, die ein Angeklagter allenfalls im
Gefängniss in einem Fieberdelirium oder im Schlaf aus-
gesprochen hat, können im Indicienbeweis nicht verwerthet
werden, da sie aus dem unbewussten Geistesleben hervor-
gingen und es leicht begreiflich ist, dass ein Angeklagter
im Sinn der Anklage träumt oder delirirt. Die Erklärung
des Angeklagten, dass er geistesgesund sei und seine Ein-
sprache gegenüber der gegensätzlichen Behauptung des
Vertheidigers oder der Sachverständigen, beweist nicht
gegen Geisteskrankheit, da wirkliche Geisteskranke in der
Regel kein Bewusstsein von der krankhaften Störung ihrer
Geistesthätigkeit, eher ist damit eine Vermuthung gegen
Simulation gewonnen, insofern Simulanten es gerne haben,
wenn man sie für krank erklärt.
Auch die Aussagen der Zeugen, sofern sie negative zeugenauY-
sind, müssen mit grosser Vorsicht aufgenommen werden De utech!'st.-
und haben ihre Aussagen eigentlich nur insofern Werth esteri. 6 st.-
als sie nicht Ansichten als vielmehr Thatsachen enthalten, ^.rro 1 '
*) In der Deutschen St.P.O. fehlt es an einer ausdrücklichen
Bestimmung über diesen Punkt.
62 ^ er Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
Geschieht es doch so oft, dass Laien Symptome von Irr-
sinn übersehen oder falsch deuten! Ganz besondere Vor-
sicht muss Zeugenaussagen gegenüber geübt werden, die
die Anschuldigung eines unsittlichen Attentats enthalten
und wobei die Zeugen hysterisch kranke Weiber sind, die
möglicherweise aus Rache oder Drang Aufsehen zu erregen
oder aus krankhaft erregter Phantasie solche Attentate
fälschlich behaupten. Nicht minder ist Vorsicht geboten,
da wo ein angeblich Gesunder* wegen einer widerrechtlichen
Freiheitsberaubung durch eine Irrenanstalt Klage führt.
Bis jetzt war der Kläger immer ein wirklich Geisteskranker.
Wie sehr der Schein der Gesundheit wirkliche vortäuschen
kann, lehrt ein Fall aus der englischen Gerichtspraxis, in
welchem es sich um eine solche Klage handelte. Der be-
schuldigte Arzt, Inhaber einer Privatanstalt, hatte es unter-
lassen den Kranken zu beobachten und Beweise für seinen
Irrsinn zu sammeln. Er konnte den Beweis in foro nicht
liefern und seine Sache stand schlimm, da der Kläger voll-
kommen vernünftig sprach und sich benahm. Kurz vor
Schluss der Verhandlung verlangte Jemand aus dem Publi-
kum, der den Kläger kannte, den Gerichtspräsident in
wichtiger Angelegenheit zu sprechen. Nach einer Weile
kam dieser in den Saal zurück und fragte den Kläger,
warum er nicht mitgetheilt habe, dass er Christus sei. Der
religiös wahnsinnige Kläger, im Kern seines Deliriums ge-
troffen, bekannte, dass er Christus sei und erklärte, dass
er seinen Feinden verzeihen wolle! Damit nahm der Ge-
richtsfall eine unerwartete Wendung.
Das Zeugniss eines Zeugen kann auch dadurch be-
denklich werden, insofern dieser unmündig, taubstumm,
geistesschwach oder geisteskrank zweifellos ist. Es gibt
Fälle, wo auf ein solches Zeugniss im Indicienbeweis nicht
verzichtet werden kann, z. B. wenn solche geistig defekte
oder abnorme Individuen die einzigen Zeugen eines statt-
gefundenen Verbrechens, etwa in einer Irrenanstalt, waren.
Die Gesetzgebung (Deutsche St.P.O. § 56. Oesterr. § 151,
Defensionalsachverständige. 63
164, 170) lässt die Abhörung solcher Zeugen (als blosser
„Auskunftspersonen*) principiell zu, aber nicht ihre Be-
eidigung. Die Zulässigkeit der Abhörung eines solchen
Zeugen über das, was er mit seinen Sinnen wahrgenommen
hat, kann medicinisch psychologisch nicht bestritten werden,
aber sie muss durch einen Gerichtsbeschluss nach vor-
gängiger Einvernehmung ärztlicher Sachverständiger fest-
gestellt werden. Niemals wird ein solches Individuum als
ein vollgültiger Zeuge, schon wegen der mangelnden Eides-
fahigkeit betrachtet werden können. Seine Glaubwürdig-
keit wird durch die Art und Weise seiner Depositionen,
die Klarheit seiner Darstellung des Sachverhalts und die
Uebereinstimmung seiner Aussagen mit den anderweitigen
Beweisergebnissen sich kundgeben und davon die innere
Ueberzeugung der Richter und Geschworenen abhängen.
In der Regel wird es sich um die Zeugnissfähigkeit Schwach-
sinniger handeln. Die Lückenhaftigkeit ihrer Auffassungen,
die Unverlässlichkeit derselben in affektvoller Erregung,
die Möglichkeit einer Bestimmbarkeit zu falschem Zeug-
niss muss berücksichtigt und ihre Vernehmung möglichst
wenig feierlich, mit freundlicher Aufmunterung und in
möglichst concreter, der Fassungskraft des Geistesschwachen
angepassten Fragestellung vorgenommen werden, da sonst
solche Zeugen leicht befangen und verwirrt werden. Nie
sollte in solchen Fällen ein Kreuzverhör gehandhabt werden !
Zur Vernehmung Taubstummer ist jedenfalls ein Taub-
stummenlehrer als Dolmetscher unerlässlich.
Die Sachverständigen sind entweder von der Staats- Defensionai-
° sachver-
anwaltschaft oder von dem Angeklagten bezw. seinem Ver- ständige.
theidiger oder auch von dem Gerichtspräsidenten Geladene.
Es ist ungerecht, wenn die Defensionalsachverständigen
nicht flir ebenso unbefangene und unpartheiische Sachver-
ständige angesehen werden, wie die von der andern Parthei
oder von Gerichtswegen Geladenen. Für ihre Unparthei-
lichkeit bürgt der von ihnen wie von den andern Sach-
verständigen geleistete Eid und ihre Unbescholtenheit, die
64 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
überhaupt ihnen ein Erscheinen vor Gericht möglich macht.
Es kann überhaupt bei einem so objektiven Verfahren,
wie es die Hauptverhandlung darstellt, keinen Unterschied
der Person noch des Mandats geben, sondern nur den der
grösseren oder minderen Klarheit, Sicherheit und wissen-
schaftlichen Richtigkeit, mit welcher der Sachverständige
seine Anschauung nach bestem Wissen und Gewissen aus-
spricht. Dies muss auch für die Fälle gelten, wo das
Gutachten einer collegialen Fachbehörde von einem Dele-
gaten derselben im Termin vertreten wird. Ein solcher
kann nur als Einzelperson erscheinen und nur als solcher
das Gutachten abgeben, zumal da er an das der Collegial-
behörde, welches er mündlich zu vertreten hat, umsoweniger
gebunden sein kann, als im Termin selbst Thatsachen sich
ergeben können, die die ursprünglich von der Collegial-
behörde vertretene Anschauung modificiren.
Hauptver- Die Hauptverhandlung hat den Zweck, die Beweis-
handlung. x ° 7
mittel in Gegenwart der zum Urtheil Berufenen zu er-
schöpfen. Ebendeshalb kann, von seltenen vom Gesetz
vorgesehenen Ausnahmsfällen abgesehen, die Vernehmung
der Zeugen und Sachverständigen nur mündlich erfolgen.
Die Sachverständigen der Voruntersuchung müssen auch
im Termin erscheinen und ihr Gutachten begründen. Die
Verlesung von Collegialgutachten sollte unzulässig sein.
Damit volle Klarheit in Bezug auf die durch Zeugen- und
Sachverständigenaussagen gewonnenen Beweismittel für die
zum Urtheil Berufenen entstehe, muss es nicht blos dem
Vorsitzenden, dem Staatsanwalt, dem Vertheidiger, sondern
auch den beisitzenden Richtern und den Geschworenen
gestattet sein, Fragen an die Zeugen und Sachverständigen
zu stellen (Deutsche St.P.O. § 238, 239; Oesterr. St.P.O.
§ 249, 315). Nur bei dieser Einrichtung wird volle Un-
parteilichkeit gewahrt und der zweifelhafte Fall nach jeder
Richtung hin erörtert.
Von der grössten Bedeutung ist es, dass durch dieses
„Kreuzverhör* die Verlässlichkeit der Angaben der Zeugen
Kreuzverhör. 65
und Sachverständigen ins rechte Licht gestellt wird, z. B. Kreuz-
durch Fragen wo und wie der Sachverständige seine psychia- Deutach.st.-
trische Bildung erworben hat, ob er die früheren Gesund-
heitsverhältnisse und Lebensbeziehungen des Angeklagten
kennt, wie oft und wie lange er diesen beobachtet hat?
Die Berechtigung zur Fragestellung bringt aber die
Gefahr unpassender ungehöriger Fragestellung mit sich.
Der Gesetzgeber (Deutsche St.P.O. § 240; Oesterr. St.P.O.
§ 249 a. Schi.) hat diese Unzukömmlichkeiten vorgesehen
und es ist Sache des Vorsitzenden von seinem Recht un-
geeignete und nicht zur Sache gehörige Fragen zurückzu-
weisen, Gebrauch zu machen. Dies bezieht sich namentlich
auf die Taktik Seitens der Staatsanwaltschaft oder des Ver-
theidigers, die gegnerischen Sachverständigen durch Sug-
gestiv- und abstrakte Fragen zu verblüffen, zu verwirren,
ihre Aussprüche miteinander in Widerspruch zu bringen und
deren Gewicht dadurch zu schmälern. Es ist leichter zu
fragen als zu antworten, namentlich da wo der Laie an
den Vertreter einer Wissenschaft Fragen stellt. Als unge-
eignet müssen jedenfalls alle abstrakten Fragen bezeichnet
werden. Der Sachverständige hat in foro kein psychia-
trisches Examen abzulegen, am allerwenigsten da wo die
Examinatoren Laien sind, sondern Rede und Antwort bezüg-
lich der Richtigkeit der Thatsachen zu stehen, auf welche
sich sein gutachtlicher Ausspruch gründet.
Wie kann es anders geschehen, als dass falsche Schlüsse
und Missverständnisse bei den richterlichen Laien entstehen,
wenn allgemein gefragt wird, ob Jemand geisteskrank sein
kann, der zur fraglichen Zeit eine Reise machte, einen
Wechsel ausstellte, ein Testament errichtete, einen Beruf
ausübte, oder wenn die Frage allgemein nach dem Ein-
fluss einer Kopfverletzung, der geistigen Störung bei den
Eltern etc. etc. gerichtet ist?
Abstrakte Fragen sind in der gerichtlichen Medicin
oft gar nicht, vielfach erst nach gründlicher Ueberlegung
zu beantworten, während dagegen concrete für Den, welcher
v. Kfafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 5
66 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
den gegebenen Fall nach allen Richtungen kennt, nicht
schwierig sind. Nur concrete Fragen sollten deshalb zu-
lässig sein.
Ebensowenig kann und darf eine im Kreuzverhör ge-
stellte Frage eine juristische sein, z. B. nach der Unter-
scheidungsfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit u. dgl.
Noch viel mehr als im Vorverfahren mussTom Sachver-
ständigen im Hauptverfahren verlangt werden, dass er sein
Gutachten klar und bündig erstatte. Sind doch die Richter
der Schuldfrage Geschworene, deren Bildungsgrad sehr ver-
schieden ist und von denen ein Verständniss für ein ge-
schraubtes und vielfach in Kunstausdrücken sich bewegendes
Gutachten nicht erwartet noch verlangt werden kann.
Auch die Berufung auf Autoritäten und wissenschaft-
liche Werke im Gutachten ist nur bedingt zuzulassen, da
damit Missbrauch getrieben werden kann, insofern die Citi-
rung von solchen Aussprüchen, losgelöst von dem übrigen
Zusammenhang, bedenklich ist. Insoweit der Sachverstän-
dige aus dem Beweisverfahren durch Zeugen neue und
wichtige Anhaltspunkte für seine Beurtheilung des Geistes-
zustands gewinnen kann, ist es nöthig, dass er bei der
Vernehmung der Zeugen gegenwärtig sei. Nur die Ver-
wechslung der Stellung des Sachverständigen mit der eines
Zeugen könnte an der Berechtigung dieser Forderung einen
Anstoss nehmen.
Einwände Zuweilen werden erst während der Haupt Verhandlung
£T6£TGD di6
zurech- Einwände gegen die Zurechnungsfahigkeit gemacht. Es
keit in der ist dann in der Regel der Vertheidiger, der diese Frage
Hauptver- ° ' , V • i i n i
handiung. erhebt. Es hängt vom Ermessen des Gerichtshofs nach
Prüfung der vom Vertheidiger geltend gemachten Gründe
ab, ob er dieser Einrede Gehör geben und eine ärztliche
Untersuchung des Geisteszustands verordnen will. Wenn
auch ein leichtsinniger und nur auf oberflächliche Ermitt*
lungen und Vermuthungen hin gemachter Einwand der
fraglichen Zurechnung&higkeit Seitens des Vertheidigers
kaum den Gerichtshof zu einem Beschluss veranlassen wird,
Verdacht geistiger Störung erst in der Hauptverhandlung. 67
so ist es doch aus Billigkeitsrücksichten geboten, wenn
irgend welche plausible Verdachtgründe sich ergeben, nicht
leichthin über das gestellte Verlangen zur Tagesordnung
überzugehen. Ist doch der Termin der letzte Moment im
Verlauf des Strafverfahrens, wo ein die Schuldfrage so
schwer beeinflussender Umstand ermittelt werden kann und
die Gefahr einer ungerechten Verurtheilung immerhin
möglich !
Erweisen sich die Verdachtgründe des Vertheidigers
für geistige Störung des Angeklagten aber stichhaltig und
veranlassen sie den Gerichtshof ärztliche Sachverständige
vorzurufen, so ist es sehr fraglich, ob die in solchen Fällen
übliche sofortige Berufung Sachverständiger in die Haupt-
verhandlung richtig und sicher ist.
In dem Vorausgehenden wurde gezeigt wie schwierig
die Entscheidung der Frage nach geistiger Störung ist,
welch umfängliche Vorerhebungen dazu nöthig sind. Wird
erst im Termin die Stellung der Frage nach dem Geistes-
zustand zur Zeit der That begehrt und erreicht, so sind
die Vorerhebungen in den Akten jedenfalls ungenügend,
der in den Verhandlungssaal berufene Arzt kennt weder die
Persönlichkeit des Angeklagten noch die Vorakten, speciell
nicht Thatumstände , Zeugenaussagen und Vorleben, und
selbst wenn er mit seltenem Scharfblick sofort eine wohl
charakterisirte Form geistiger Störung beim Angeklagten
entdeckte, so wäre es ihm doch nicht möglich sofort die
wichtige Frage zu entscheiden, ob Jener schon zur Zeit
seiner That geisteskrank war. Aus diesen Gründen er-
scheint es gerechtfertigt, dass wenn der Gerichtshof eine
spätzeitige Untersuchung des Geisteszustands für nöthig
findet, er die Verhandlung vertage bis diese wichtige Frage
des subjektiven Thatbestands verhandlungsreif geworden
ist. Ein wirklich Sachverständiger wird sich auf die Be-
urtheilung des Geisteszustands, wenn er erst in die Haupt-
verhandlung dazu berufen wurde, niemals einlassen.
Da die Frage der Zurechnungsfähigkeit eine concrete
68 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
und Theilfrage des Thatbestands , somit eine offene ist,
kann vom Angeklagten nicht verlangt werden, dass er seine
Unzurechnungsfähigkeit beweise. Jedenfalls steht ihm bezw.
seinem Vertheidiger das Recht zu, die Stellung der allge-
meinen Frage nach seiner Zurechnungsfahigkeit zu ver-
langen. Obwohl nur das, was im Anklage- bezw. Eröffnungs-
beschluss steht, verhandelt werden soll, wird der Gerichts-
hof die Stellung dieser verlangten allgemeinen Frage nicht
ablehnen können, falls die Voruntersuchung oder Haupt-
verhandlung thatsächliche, das Verlangen des Angeklagten
oder seines Vertheidigers rechtfertigende Gründe ergeben.
Die Formulirung der Frage, ob der Angeklagte z. B.
in krankhafter Störung der Geistesthätigkeit oder in Be-
wusstlosigkeit zur Zeit der That sich befunden habe, ist
natürlich Sache des Gerichtshofs (Oppenhoff).
Objektiv wie das ganze Verfahren sollten der Vortrag
des Staatsanwalts sowie der Schlussvortrag des Verthei-
digers sein. Höher als die Parthei muss das Interesse der
Wahrheit stehen. Es ist ebenso unwürdig eines Staats-
anwalts leidenschaftlich und mit Nichtachtung der von der
Wissenschaft erbrachten Thatsachen die Verurtheilung an-
zustreben als es für einen Vertheidiger unsittlich ist, eine
schlechte Sache mit allen Mitteln und Kniffen zu vertreten.
S t!Sg 8 de8 r Namentlich ist es aber Sache des Gerichtspräsidenten,
präSdflnton * n se i nem Schlussvortrag sich der grössten Objektivität zu
^■poTfm'' böfoissige 11 ; das Pro und Contra der Beweisgründe klar
s^ii^Ss darzustellen und sich eines eigenen, das Urtheil der Richter
etwa beeinflussenden Urtheils zu enthalten.
Da wo jedoch ein Volksgericht über die Schuldfrage
zu urtheilen hat und der Geisteszustand des Angeklagten
fraglich erscheint, wird der Präsident gut thun, den Ge-
schworenen klar zu machen, dass die Frage nach der
Schuld auch die Frago nach der Freiheit der Willens-
bestimmung in sich schliesst und dass wenn sie Zweifel in
die Willensfreiheit des Thäters setzen, sie befugt sind, die
Schuldfrage zu verneinen. Er wird nicht minder gut thun,
Grundbedingungen der Zurechnungsfähigkeit. (59
den Volksrichtern vor der Urtheilsschöpfung eine dem
gegenwärtigen Stand der Rechtsanschauung und psychiatri-
schen Wissenschaft entsprechende Belehrung über die Grund-
bedingungen der Zurechnungsfähigkeit zu geben.
Der Zustand der Zurechnungsfahigkeit setzt die Er- Jg™***
kenntniss der Rechtswidrigkeit einer gewollten strafbaren ^^unga-
That (libertas judicii) und die Fähigkeit der Selbstbestim- »w«*«**-
mung für die Begehung oder Unterlassung dieser Hand-
lung (libertas consilii) nothwendig voraus.
Zur Annahme einer Erkenntnissfahigkeit ist erforder-
lich, dass der Handelnde seiner selbst und der Aussenwelt
klar bewusst sei. Er muss ein klares Bewusstsein seiner
Lage, d. h. der Beziehungen zur Aussenwelt haben, die
eine Erkenntniss der rechtlichen und sittlichen Bedeutung
einer concreten gewollten Handlung gegenüber dem Straf-
gesetz (Strafe) und gegenüber der Gesellschaft (Beschädi-
gung fremder Interessen) und der möglichen Folgen der
That in sich schliesst.
Zur Erkenntnissfähigkeit gehört beim gegenwärtigen
Stand der Culturentwicklung jedenfalls auch die Einsicht
nach den ethischen Motiven. Der Mangel dieser, wenn
mangelnde Erziehung ausgeschlossen werden kann, beruht
immer auf pathologischen Bedingungen.
Das vorhandene intellektuelle Merkmal des Unterschei-
dungsvermögens d. h. des Bewusstseins der Strafbarkeit
trotz fehlender ethischer Erkenntnissfähigkeit für die Be-
deutung der That, lässt beim jetzigen Stand der An-
schauungen über Zurechnungsfahigkeit allerdings nicht auf
Straflosigkeit erkennen, aber die Verschuldung wird sich
sehr gering herausstellen insofern das individuelle Strafbar-
keitsbewusstsein die That, und wäre sie selbst die schwerste,
nur als eine Uebertretung polizeilicher Vorschriften zu
erkennen vermag. Um so lebhafter muss bei solchen Indi-
viduen ihre eminente Gemeingefährlichkeit betont werden.
Die zweite Grundbedingung der Zurechnungsfähigkeit
setzt einen Seelenzustand voraus, in- welchem die intellektiv-
70 Der Geisteskranke vor dem erkennenden Richter.
ethischen Motive der Strafbarkeit, Unsittlichkeit, Schädlich-
keit der intendirten Handlung mit den egoistischen zu dieser
antreibenden in Wechselwirkung treten und eine entschei-
dende Wahl herbeiführen können.
Dazu ist erforderlich eine ungestörte Ueberlegungs-
fähigkeit (Besonnenheit und ungestörter Ablauf des Vor-
stellens).
Die Selbstbestimmungsföhigkeit kann gestört sein in-
sofern eine Verwirrung und Unordnung im Vorstellungsablauf
besteht (höhere Grade des Affekts) oder insofern Gegen-
motive als hemmende contrastirende Vorstellungen auf
Grund einer allgemeinen Hemmung des Vorstellungsablaufs
(Melancholie) nicht ins Bewusstsein eintreten können, oder
insofern diese Gegenmotive temporär verloren gegangen
sind oder zu spät, d. h. erst nach geschehener That, im
Bewusstsein auftreten (Manie), oder insofern ihr Gegen-
gewicht durch das krankhaft vermehrte, weil organisch be-
dingte Uebergewicht unsittlicher Antriebe, überhaupt thie-
rischer Triebe ungenügend geworden ist.
In der Regel liegt der Ausfall der Bedingungen der
Zurechnungsfähigkeit jedoch auf der erkennenden Seite des
Seelenlebens. Der Mechanismus der Wahl, soweit er im
formal ungehinderten Ablauf der dazu nöthigen Processe
besteht, kann ganz oder nahezu unversehrt sein.
.Die libertas judicii fehlt oder ist beeinträchtigt durch
Fälschung der Beziehungen zur Aussenwelt — Wahnideen,
Sinnestäuschungen (Wahnsinn, Sinnesverwirrung), durch
mangelhafte Erkenntnissfähigkeit der socialen Pflichten und
positiven Vorschriften des Gesetzbuchs (Schwachsinn, Blöd-
sinn, Taubstummheit).
Dieser Grundthatsachen der Zurechnungsfähigkeits-
frage muss sich der Richter behufs einer gerechten Ur-
theilsschöpfung bewusst sein. Obwohl in der Frage nach
der Schuld implicite auch die nach der Zurechnungsfähig-
keit enthalten ist und ihre Beantwortung findet, hat die
Oesterr. St.P.O. (§ 319) dennoch die Bestimmung getroffen,
Mildernde Umstände. 71
dass vor dem Geschworenengericht, falls behauptet wurde,
dass ein Zustand zur Zeit der That vorhanden gewesen
sei, der die Strafbarkeit ausschliessen würde, eine dieser
Behauptung entsprechende Frage zu stellen sei. Diese
obligatorische Stellung einer Zusatzfrage, wenn sie auch
vom streng logischen Standpunkt aus überflüssig erscheint,
hat das Gute, dass sie die Volksrichter ausdrücklich auf
das subjektive Moment der Schuldfrage in letzter Stunde
hinweist und bietet eine Gewähr dafür, dass sie auch diesen
wichtigen Umstand in den Bereich ihrer Erwägungen ge-
zogen hatten.
Häufig genug kommt es vor, dass die Voraussetzungen Stände
der Zurechnungsfähigkeit zwar nicht gerade fehlen, dass
aber äussere gesellschaftliche (fehlende oder schlechte Er-
ziehung) oder innere (organische) Bedingungen obwalten,
welche die Fähigkeit einer Selbstbestimmung beeinträch-
tigen und damit die Schuld mindern. Unter den organi-
schen können es angeborene oder erworbene Zustände gei-
stiger Schwäche, in erblicher Anlage begründete Anomalien
der Persönlichkeit u. s. w. sein, welche die Zugkraft un-
sittlicher Motive verstärkten, die Widerstandskraft schwäch-
ten, ungewöhnlich starke Affekte und Leidenschaften her-
vorriefen, die Besonnenheit und die Klarheit des Bewusst-
seins trübten.
Die frühere Gesetzgebung suchte solchen zahlreichen
Fällen durch die Lehre einer verminderten Zurechnung
gerecht zu werden, die gegenwärtige durch die Annahme
von mildernden Umständen.
Es ist Aufgabe des Sachverständigen, Vorhandensein
und Bedeutung von die normale Denkfähigkeit störenden
abnormen Zuständen und Vorgängen im Denkorgan klar-
zulegen und den Richtern damit die Beurtheilung des sub-
jektiven Thatbestands und des Einflusses jener Momente
auf die Schuldfrage zu ermöglichen. Auch diese That-
sachen hat der Vorsitzende den Richtern der Schuldfrage
streng objektiv darzustellen.
72 Der Geisteskranke nach dem Urtheil.
Nie sollte in derartigen Fällen schon von Gerichtswegen
unterlassen werden, ausser der Hauptfrage nach der Schuld
überhaupt die Nebenfrage nach dem Vorhandensein mil-
dernder Umstände im Sinne der § 295 und 297 der deutschen
St.P.O. und § 322 der Oesterr. zu stellen.
Die Geschworenen mögen bedenken, dass die deutsche
Strafgesetzgebung beim Verbrechen des Mords leider keine
mildernden Umstände zulässt und die Bejahung der Schuld-
frage ein richterliches Todesurtheil nach sich zieht. Dass
auch bei Mordverbrechen mildernde Umstände denkbar sind,
kann nicht weiter hier nachgewiesen werden. Mögen die
Volksrichter um so gewissenhafter in solchen Fällen, wo die
Todesstrafe bevorsteht, die Schuldfrage erwägen und lieber
diese verneinen, wo sie überhaupt Zweifel in die Zurech-
nungsfahigkeit des Mörders setzen. Das Vertrauen auf die
Gnade des Staatsoberhauptes kann hier nicht genügend
beruhigen.
EL Der Geisteskranke nach dem Urtheil.
Wiederauf- Es gibt seltene Fälle, in welchen erst nach gefälltem
verfahrene. Urtheile Beweise für die Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit
der That sich ergeben. Auf S. 41 wurde ein Fall mit-
getheilt, wo dies bei einer schon zum Tod Verurtheilten
geschah. Die Oesterr. St.P.O. § 353. 354 und § 399 lit. 5 der
deutschen St.P.O. gestatten die Wiederaufnahme eines durch
rechtskräftiges Urtheil geschlossenen Verfahrens, wenn neue
Thatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, welche allein
oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die
Freisprechung des Angeklagten oder, in Anwendung eines
milderen Strafgesetzes, eine geringere Bestrafung zu be-
gründen geeignet sind. Dadurch, sowie durch einige andere
Bestimmungen, erscheint es wichtig, auf den Geisteszustand
des Verurtheilten ein sorgsames Augenmerk zu richten.
Geisteskrankheit Hinderniss der Todes- und Freiheitsstrafe. 73
Der 6 485 der deutschen St.P.O. und Oesterr. 6 398 Geistes-
ö ö krankheit
bestimmen, dass an geisteskranken Personen ein Todesurtheil ein mnder-
nicht vollstreckt werden darf. * voiistreck-
Der qualvolle Seelenzustand, in welchem sich zum Tod Todesstrafe.
Verurtheilte befinden und der sie so häufig veranlasst, selbst
Hand an sich zu legen, ist der Entstehung von geistiger
Krankheit jedenfalls günstig. Wenn doch hingerichtet sein
muss, so ist es psychologisch räthlich und human, mög-
lichst bald die Vollstreckung des Todesurtheils zu voll-
ziehen. Ergeben sich Beweise für das Aufgetretensein einer
Geisteskrankheit, so muss der Verurtheilte als Kranker be-
handelt und einer Irrenheilanstalt übergeben werden. Er-
langt er seine Geistesgesundheit wieder, so dürfte er der
Gnade des Staatsoberhauptes zu empfehlen sein.
Auch die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist nach st ^kung
§ 487 der deutschen St.P.O. und nach § 398 der Oesterr. St.- g^LSS
P.O. aufzuschieben wenn der Verurtheilte in Geisteskrankheit
verfällt. Nach § 493 der deutschen St.P.O. wird die
etwaige Dauer des Aufenthalts in einer Krankenanstalt in
die Strafzeit eingerechnet, sofern der irre Verbrecher seine
Strafe schon angetreten hatte. Auch bezüglich der Straf-
haft kann die Frage entstehen, ob ihre Antretung oder
Fortsetzung die geistige Integrität nicht gefährdet.
Die heutige Gefangnisseinrichtung bringt, selbst in
Isolirhaft, die geistige Gesundheit der Sträflinge wenig an
und für sich in Gefahr. Immerhin ist Isolirhaft für geistig
beschränkte und charakterologisch abnorme, belastete Indi-
viduen vielfach bedenklich und dieser Umstand billigerweise
bei der Strafvollstreckung zu berücksichtigen.
In den seltenen Fällen, wo der Vollzug der angetre-
tenen Strafe durch beständig wiederkehrende Anfalle gei-
stiger Störung unterbrochen wird und schliesslich nur mit
äusserster Gefahrdung der psychischen Existenz durchführbar
erscheint, kann die Erlassung des Restes der Strafe auf dem
Gnadenweg das einzige und von der Humanität gebotene
Auskunftsmittel sein. Es erübrigt noch die Erwägung der
74 D er Geisteskranke nach dem Urtheil.
Frage, was mit den wegen Geisteskrankheit Freigespro-
chenen zu geschehen habe und in welcher Weise geistes-
krank gewordene Sträflinge passend unterzubringen seien.
Bezüglich der ersteren handelt es sich zunächst um die
Entscheidung der Frage, ob der Zustand krankhafter Stö-
rung der Geistesthätigkeit zur Zeit der That auch nach
dem Urtheilsspruch noch fortbestehe oder nicht? Im letz-
teren Fall hat der Freisprechung die Freilassung auf dem
Fusse zu folgen, im ersteren Fall ist der Freigesprochene
der Sicherheitsbehörde zu übergeben, welche durch gerichts-
ärztliche Untersuchung ermitteln zu lassen hat, ob der Be-
treffende gemeingefährlich ist, in welchem Fall er einer
Irrenanstalt zu übergeben ist. Es kann zweckmässig sein,
wenn schon die Sachverständigen der Voruntersuchung oder
des Hauptverfahrens in ihren Gutachten auf diesen Um-
stand aufmerksam machen. Die Entlassung von solchen
Kranken aus der Irrenanstalt sollte nur im Einvernehmen
mit der Sicherheitsbehörde zulässig sein.
Dass ein geisteskrank gewordener Straf ling nicht länger
in der Straf haft zu belassen sei, ist eine Forderung des
Rechts und der Humanität, denn weder das Bewusstsein
der Strafe im causalen Zusammenhang mit dem Verbrechen
noch die Möglichkeit einer moralischen Besserung sind in
diesem Zustand vorhanden. Wohl aber besteht die Gefahr,
dass der Kranke, wenn er in den Verhältnissen belassen
wird, in denen er erkrankte, rasch unheilbar wird.
Die bezügliche Gesetzgebung gegenüber solchen Fällen
ist eine sehr mangel- und lückenhafte.
In England sperrt man sogenannte criminal-lunatics,
d. h. Leute, die schon geisteskrank waren, als sie ihr Ver-
brechen begingen, mit „insane convicts a , d. h. Menschen,
die erst in der Straf haft geisteskrank geworden sind, in
eigene Verbrecherasyle zusammen und hält sie als ge-
meingefährlich, selbst oft nach der Genesung, lebensläng-
lich unter Staatsfürsorge.
In Italien, Frankreich, Deutschland bleibt es den Be-
Unterbringung geisteskranker Sträflinge. 75
hörden anheimgestellt, ob sie den Irren im Gefangniss be-
lassen oder in eine Irrenanstalt versetzen wollen. Nur
bezüglich unheilbar gewordener irrer Sträflinge verfügt in
Preussen ein Ministerialerlass vom 26. October 1858, dass
solche für die Fortsetzung des Strafvollzugs nicht mehr
geeignet sind und ; wenn gerichtlich für wahn- oder blöd-
sinnig erklärt, an ihnen die Criminalstrafe nicht weiter
vollstreckt werden darf.
Der gegenwärtige Modus, wie sich die verschiedenen
Staaten ihrer Pflicht gegen geisteskrank gewordene Ver-
brecher entledigen, ist ein dreifacher: 1. Unterbringung in
gewöhnlichen Irrenanstalten ; 2. in Irrenstationen der Ge-
fängnisse und Strafanstalten ; 3. in eigenen Verbrecherasylen.
Der erstere Modus hat vielen Tadel gefunden. Die
Anhäufung vieler solcher verbrecherischer Elemente, na-
mentlich wenn sie aus der Klasse des Gewohnheitsver-
brecherthums hervorgegangen sind, verträgt sich nicht mit
der freien humanen Verpflegungsform dieser Anstalten.
Diese verbrecherischen Irren entweichen, zerstören Zucht,
Sitte, Ordnung des Krankenhauses, wirken revoltirend und
demoralisirend.
In die Irrenanstalt gehören nur Leute, die schon zur
Zeit des Verbrechens geisteskrank waren, die in der Unter-
suchungshaft krank wurden, und solche Sträflinge, die
nicht der Kategorie des Gewohnheitsverbrecherthums an-
gehören, nicht die Züge des sogenannten Verbrecher Wahn-
sinns darbieten.
Am meisten empfiehlt sich die Errichtung von Irren-
stationen bei Gefängnissen und Strafanstalten. Ihre Noth-
wendigkeit ergibt sich von selbst. In jeder derartigen De-
tentionsanstalt gibt es der Simulation verdächtige, ferner
acut in und durch die Isolirhaft erkrankte Sträflinge, die
einer sorgfältigen ärztlichen Beobachtung und Behandlung
bedürfen.
Ist diese Irrenstation mit allen Heilmitteln einer Irren-
anstalt ausgerüstet, was ohnedies bei grossen Strafanstalten
76 Der Geisteskranke nach dem Urtheil.
erforderlich sein dürfte , so könnte sie auch für heilbare
Fälle mit chronischem Verlauf verwerthet werden.
Es bleiben die unheilbaren irren Sträflinge übrig, deren
Störung aus einem verbrecherischen Vorleben (Gewohn-
heitsverbrecherthum) hervorgegangen ist und die fatalen
Züge des „Verbrecherwahnsinns" bietet. Für solche Fälle
dürfte in kleineren Staaten die Creirung eines besonderen
Quartiers in der Landesirrenpflegeanstalt ausreichen, für
grosse Staaten dagegen die Errichtung eigener Verbrecher-
asyle nicht zu umgehen sein. Man hat den englischen der-
artigen Anstalten Nachtheile vorgeworfen (gefangnissartiger
Charakter der Anstalt, Schwierigkeit Wärter zu bekommen,
da ihr Leben beständig in Gefahr, schlimmer Einfluss, den
die Kranken auf einander ausüben etc.), allein durch mög-
lichste Isolirung, zweckmässige bauliche Einrichtungen,
Herstellung kleinerer, da und dort zerstreuter Asyle etc.,
liesse sich ein grosser Theil dieser Gefahren und Missstände
vermeiden.
B. Specieller klinischer TheiL
Als Zustände, in welchen eine strafbare Handlung als
nicht begangen erachtet wird, bezeichnet die neuere Ge-
setzgebung solche von krankhafter Störung (bezw. „Hem-
mung tf Oesterr. Entw.) der Geistesthätigkeit und vonBewusst-
losigkeit, sofern dadurch die freie Willensbestimmung (bezw.
„die Fähigkeit der Einsicht a Oesterr. Entw.) ausgeschlossen
war. Aus den Ausführungen des allgemeinen Theils dürfte
sich ergeben, dass eine Kenntniss der Erscheinungsweise
geistig abnormer Zustände und ihres Einflusses auf die
Erkenntniss- und Selbstbestimmungsfähigkeit unerlässlich
für den Juristen ist, wenn er den Sachverständigen und
dessen Schlüsse verstehen und überhaupt als Richter, Staats-
anwalt, Vertheidiger, Gerichtspräsident seiner Aufgabe ge-
recht werden will.
Diesem Bedürfniss einer wenigstens übersichtlichen
Kenntniss des Gebiets der gerichtlichen Psychopathologie
soll in den folgenden Blättern Rechnung getragen werden.
In Anlehnung an den Wortlaut der Gesetzgebung ergeben
sich für eine Betrachtung der geistig abnormen Zustände
zwei grosse Gruppen — die Zustände krankhafter Störung
der Geistesthätigkeit und die der sogenannten Bewusst-
losigkeit.
78 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit.
Zustände krankhafter Störung der Geistes-
thätigkeit.
Sie zerfallen in zwei natürliche Gruppen, je nachdem
die Störung der Geistesthätigkeit durch hemmende oder
schädigende Einflüsse schon zur Zeit des noch in Entwick-
lung begriffenen Gehirns eintrat und demgemäss die Ent-
wicklung des geistigen Lebens eine Hemmung erfuhr
(psychische Entwicklungshemmungen) oder eine
krankhafte Richtung nahm (psychische Entartungen)
oder indem krankmachende Einflüsse das Gehirn erst nach
erreichter Entwicklung trafen und die Funktionen des geisti-
gen Lebens störten (Geisteskrankheitenim engeren Sinn).
Das Gesetz bezeichnet klar diejenigen Zustände ab-
normer Geistesthätigkeit, in welchen es strafbare Hand-
lungen als nicht geschehen betrachtet. Nicht jede Störung
der Geistesthätigkeit (Affekt, Leidenschaft) an und für sich
soll diese rechtliche Wirkung haben, sondern nur dann,
wenn sie eine krankhafte ist und wenn sie die freie Willens-
bestimmung aufhob. Für die gerichtliche Psychopathologie
ergibt sich damit die Notwendigkeit zu untersuchen
1. unter welchen Umständen eine Abweichung von der
Norm geistiger Thätigkeit als eine krankhafte aner-
kannt werden muss;
2. durch welche Umstände eine krankhafte Störung der
Geistesthätigkeit die Willensfreiheit aufhebt.
Die Begründung einer Störung der Geistesthätig-
keit als einer krankhaften.
Krankhaft ist eine Störung der Geistesthätigkeit, wenn
sie auf eine Krankheit des Gehirns, als des Organs der
geistigen Funktionen sich zurückfuhren lässt. Das Be-
stehen einer Krankheit wird nachgewiesen an einer sinn-
Anhaltspunkte für Annahme geistiger Krankheit. 79
lieh erkennbaren Veränderung des erkrankten Organs und
an Abweichungen der Funktionen des Organs von der
Norm. Am sichersten ist der Nachweis der Krankheit,
wenn sowohl anatomische als funktionelle Aenderungen
sich ergeben, namentlich wenn die gestörte Funktion aus
der Veränderung des Organs verständlich wird. Bei vielen
Krankheiten kann sich die Diagnose nur auf die gestörte
Funktion stützen, weil die Veränderungen des Organs,
namentlich während des Lebens, nicht sinnlich wahrnehm-
bar sind.
Hieher gehören, auch im Grossen und Ganzen die
Geisteskrankheiten, insoweit nicht Anomalien des Schädels
(abnorme Kleinheit oder abnorme Grösse durch Wasserkopf)
einen Rückschluss auf die Beschaffenheit des Gehirns ge-
statten.
Die Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten, aber
nicht jede Hirnkrankheit stört die geistigen Funktionen.
Dies ist nur dann der Fall, wenn die Hirnerkrankung die
Rinde des Grosshirns befällt und zwar in grösserer Aus-
breitung. Die krankhafte Veränderung der Hirnrinde kann
während des Lebens nur an dem Ausfall oder der Störung
der Funktionen des erkrankten Gehirns nachgewiesen
werden. Die Funktionen der Hirnrinde sind in erster
Linie geistige (Fühlen, Vorstellen, Streben), aber sie ver-
mittelt auch Funktionen der Bewegung, Empfindung, Er-
nährung, Absonderung etc. etc. Die Mitbeachtung von der-
artigen nicht psychischen Funktionsstörungen der Hirnrinde
erweitert und vertieft die Diagnose der Hirnerkrankung,
verleiht gleichzeitig vorfindlichen psychischen Funktions-
störungen erhöhte Bedeutung und sichert die Berechtigung
ihrer Auffassung als krankhafter Erscheinungen.
Die Funktionen des geistigen Lebens bilden ein zu-
sammenhängendes Ganze. Sie vollziehen sich in der Regel
mit einer solchen Intensität, dass sie bewusst werden. Die
Persönlichkeit (Ich) ist sich bewusst, dass sie wahrnimmt,
denkt, handelt. Die geistigen Funktionen können aber auch
80 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit
unbewusst sich vollziehen (Zustände sog. Bewusstlosigkeit).
Die hervorragendsten Funktionen des Geistes pflegt man
Gemüth, Verstand, Wille zu nennen. Es sind dies nur
Abstraktionen, nicht wirklich isolirt und selbständig be-
stehende psychische Kräfte. Sie befinden sich in gegen-
seitiger Abhängigkeit von einander.
Daraus folgt, dass das geistige Leben als ein funk-
tionell zusammengehöriges Ganze niemals partiell gestört
werden kann. Wo dies den Anschein hat und man z. B.
von einer Gemüthskrankheit spricht, kann dies nur so
gemeint und verstanden werden, dass die dem Gemüth
zugeschriebenen Funktionen im Vordergrund des Krank-
heitsbilds stehen.
Eine Krankheit ist immer ein complicirter Vorgang,
der sich nicht auf das Symptom einer einzigen gestörten
Funktion beschränkt. Immer findet sich eine Mehrheit
von Symptomen. Die Summe und die nachweisbare gegen-
seitige Abhängigkeit der Symptome begründen die Diagnose.
Diese lässt sich nicht aus einem einzigen Symptom
z. B. aus einer einzelnen Handlung machen. Immer han-
delt es sich um einen Zustand. Die synthetische Erfassung
der das Krankheitsbild ausmachenden Einzelsymptome ist
die einzig richtige Methode.
Neben der symptomatischen Erschliessung und Be-
urtheilung der gestörten Funktionen ist für die Annahme
von Krankheit entscheidend die Ermittlung ihrer Ursachen
und ihres Verlaufs.
Auch in dieser Hinsicht weist das Gebiet der geistigen
Störungen strenge Gesetzmässigkeit auf. Die Ursachen sind
theils veranlagende wie z. B. Erblichkeit, Lebensalter, Er-
ziehung u. s. w., theils veranlassende wie z. B. Gemüths-
bewegungen, körperliche Erkrankungen. Das psychische
Organ erkrankt in der Regel nur in Folge mächtig wirkender
Ursachen. Der Nachweis dieser, die ursächliche Begrün-
dung der Krankheit stützt ihre Annahme. Je näher zeit-
lich die fraglichen Symptome der Krankheit als Wirkungen
Wissenschaftliche Diagnose des Irreseins. 81
der ermittelten Ursache rücken, um so wahrscheinlicher
wird die Annahme der Krankheit.
Der Verlauf einer fraglichen geistigen Krankheit ist
um so bedeutsamer, je deutlicher er sich als ein empirischer
und gesetzmässiger ausweist/ je deutlicher Symptome und
Symptomgruppen ohne äussere Anlässe zu- oder abnehmen,
Ausbrüche der Krankheit mit zeitweise wiederkehrenden
körperlichen Vorgängen (z. B. Menstruation) zusammen-
fallen, von körperlichen Störungen (Bewegungs-, Empfin-
dungs-, Absonderungsstörungen, Verstopfung, Fieber etc.)
begleitet sind, Anfälle der fraglichen Krankheit in annähernd
gleicher Zeit und unter gleichen Verhältnissen wieder-
kehren. .
Auf diese Gesichtspunkte hat sich die allgemeine Dia-
gnose einer geistigen Krankheit als einer Hirnkrankheit zu
stützen. Die specielle Diagnose nach Umfang und Art der
Symptome krankhafter Geistesthätigkeit begegnet der Schwie-
rigkeit, dass die abnorme Funktion an und für sich nichts
beweist, so lange sie nicht auf ihre Bedingungen zurück-
geführt ist. Der Geisteskranke kann dasselbe sagen und
thun wie ein Geistesgesunder. Es gibt kein einziges Sym-
ptom gestörter Geistesthätigkeit, das nicht auch gelegentlich
im geistesgesunden Zustand vorkäme. Das Krankhafte bei
geistiger Störung liegt darin, dass 1. die im Uebrigen
ganz gesetzmässigen Vorgänge des Fühlens, Wahrnehmens,
Vorstellens und Strebens nicht (wie im geistesgesunden Leben)
auf entsprechende äussere Reize und Anlässe und conform
__ diesen eintreten, sondern auf Grund innerer Anlässe und
Reize, die eine Hirnerkrankung schafft. Der Kranke sieht
und hört z. B. Dinge, die nicht durch Licht- und Schall-
wellen begründet sind, sondern die durch innere (krank-
hafte) Reizung seiner centralen Sinnesapparate vorgetäuscht
sind (Hallucinationen), er ist heiter oder traurig, ohne dass
ein äusserer Anlass ihn dazu berechtigt.
Aus der äusserlich fehlenden Motivirung von Stim-
mungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen oder auch aus
v. K rafft- Ebing, Crimlnalpsycliologie. 2. Auflage. 6
82 Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit.
der abnorm geringen oder starken Reaktion auf äussere
Eindrücke schöpft deshalb schon der Laie zunächst Ver-
dacht auf eine geistige Störung, während so lange die gei-
stigen Processe auf genügenden äusseren Anlass und diesem
entsprechend, in harmonischer Verknüpfung mit den Vor-
gängen in der Aussenwelt ablaufen, wir keinen Anstand
nehmen einen Menschen für geistesgesund zu halten.
Ebendeshalb ist es aber höchst wichtig, die frühere
habituelle Empfindungs- und Reaktionsweise eines Menschen
zu kennen. Nur seine individuelle Betrachtung, die Ver-
gleichung seiner früheren Individualität mit der jetzigen,
die Ermittlung ob etwaige Aenderungen derselben spontan,
äusserlich nicht motivirt aufgetreten sind, eröffnen Gesichts-
punkte für die. Entscheidung, ob er psychisch krank sei.
Es ist somit nöthig, dass nicht blosdie frühere Persönlichkeit
mit ihrem geistigen Niveau, ihren früheren Anschauungen,
Reaktionsweisen, Strebungen etc. bekannt sei, sondern dass
auch die Umstände ersichtlich sind, unter welchen die frag-
liche Krankheit aufgetreten ist.
Fehlt diese Kenntniss oder sind die einer fraglichen
Krankheit vorausgegangenen Ereignisse, z. B. Gemüths-
bewegungen, derart, dass die Veränderung der Stimmung
und Anschauungsweise noch durch jene genügend motivirt
sich ausweist, so wird die Beurtheilung der wahrgenom-
menen geistigen Veränderung (ob noch physiologische Ver-
stimmung oder beginnende Gemüthskrankheit) schwierig
bis weitere Symptome sich entwickeln. Thatsächlieh ist
eine Verwechslung im angedeuteten Sinn im alltäglichen
Leben etwas ganz Gewöhnliches, aber auch in foro kommt
sie vor und veranlasst ungerechte Beurtheilungen des Geistes-
zustands. Indem der wirkliche Geisteskranke auf Grund
innerer krankhafter Vorgänge wahrnimmt, fühlt und vor-
stellt, tritt er in Widerspruch mit der realen Welt — er
wird alienirt, sein Standpunkt, von dem aus er die Aussen-
welt beurtheilt, ist ein ver — rückter, er ist wahn— sinnig.
Diese Aenderung braucht sich aber vorerst nicht in
Wissenschaftliche Diagnose des Irreseins. 83
so markanten Symptomen, wie sie Wahnideen und Sinnes-
täuschungen darstellen, kundzugeben, auch nicht in ausge-
sprochenen unmotivirten dauernden Aenderungen des Füh-
lens. Es gibt zahlreiche Fälle wo, als Ausdruck einer be-
ginnenden (Hirn-) geistigen Erkrankung, zunächst blos die
gesammte bisherige Empfindungs-, Anschauungs- und Hand-
lungsweise sich ändert. Besonders wichtig ist hier ein
Nachlass der gemüthlichen und ethischen Beziehungen zur
Aussenwelt (Gemüthsstumpf heit) namentlich in Verbindung
mit abnormer Reizbarkeit. Diese Aenderung des Charakters
ist um so bedeutsamer, wenn sie psychologisch, d. h. in
äusseren Vorgängen nicht motivirt ist, dagegen an biolo-
gische Entwicklungszustände (z. B. Pubertät) oder erlittene
Kopfverletzungen, schwere körperliche Krankheiten sich
anschliesst. Sie ist nicht selten Vorläufer von Hirnkrank-
heiten, die später dann in Form von geistiger Schwäche
oder ausgesprochenen Formen des Irreseins (s. Dementia
paralytica, epileptisches, alkoholisches Irresein) deutlich sich
kundgeben.
2. Ein weiteres wichtiges Erkennungszeichen geistiger
Krankheit ist darin gegeben, dass der Kranke sich der
falschen weil subjektiven organischen inneren Entstehung
seiner Stimmungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen nicht
mehr bewusst wird, dass er sie für real begründet hält,
logische und praktische (Handlungs-) Consequenzen aus
ihnen zieht. Diese Trübung des Bewusstseins, dieses
Glauben an Dinge, die mit dem Zeugniss der gesammten
früheren Erfahrung des gesunden Menschenverstands in
grellem Widerspruch stehen können, diese Unfähigkeit eine
Correktur zu üben, weist auf weitere . Funktionsstörungen
im geistigen Mechanismus hin. Sie erklärt sich aus der
Veränderung der Stimmung, aus dem falschen und sich
gegenseitig unterstützenden Zeugniss der Sinne, aus Hem-
mungen des Vorstellens, vermöge deren berichtigende contro-
lirende Vorstellungen nicht mehr eintreten können, aus
Erinnerungsdefekten, die die früheren Erfahrungen des ge-
g4 Krankhafte Störung der Qeistesthätigkeit.
sunden Lebens verloren gehen Hessen, aus einer allgemeinen
Abschwächung der intellektuellen Funktionen (Kritik, Be-
obachtungsfähigkeit).
Die Bedeutung dieser Störung des Bewusstseins lässt
sich am besten an den Hallucinationen erweisen. Auch sie
sind keine specifischen Kennzeichen des Irrseins, da sie
auch bei körperlichen Schwäche- und Fieberzuständen, bei
Vergiftungen, bei Nervenkrankheiten, wie Epilepsie, Hysterie
und bei nervös erregbaren sonst geistig Gesunden vorkom-
men können.
Während sie aber beim Geistesgesunden und in nicht
dem Gebiet der Geisteskrankheit angehörigen Hirnzuständen
als Hallucinationen erkannt zu werden pflegen, ist es Regel,
dass sie der Irre in seinem getrübten Bewusstsein für wirk-
liche Wahrnehmungen hält. Aber auch dieser Umstand
ist noch nicht beweisend für geistige Krankheit, insofern
auch der Aberglaube des Geistesgesunden Hallucinationen
für Wahrheiten halten kann. Nur ihr Zusammenhang mit
anderweitigen elementaren Erscheinungen gestörten Seelen-
lebens gestattet ihre sichere Verwerthung als Krankheits-
zeichen, z. B. ihr Nachweis in mehreren Sinnesgebieten,
ihr Zusammenhang mit Delirien, Affekten, krankhaften
Stimmungen u, s. w.
Es bedarf also des Nachweises einer inneren Beziehung
und Zusammengehörigkeit der Symptome, um das einzelne
auf die verlässliche Werthstufe eines diagnostischen Zeichens
zu erheben.
Dieser psychologisch gesetzmässige Zusammenhang der
Symptome ist äusserst wichtig gegenüber der Frage der
Simulation, wo er nothwendig fehlen muss, während im
wirklichen Wahnsinn Logik und Methode ist, da die psy-
chologischen Gesetze der Denkthätigkeit auch im kranken
Zustand gelten und vielfach nur von falschen Prämissen
aus das Denken und Urtheilen ausgeht.
Gründe der aufgehobenen Willensbestimmung. 85
Ermittlung der speciellen Umstände, auf Grund
welcher durch krankhafte Störung der Geistesthätig-
keit die freie Willensbestimmung aufgehoben wird.
Das Gutachten des Arztes hat nicht blos den Beweis
einer Hirnkrankheit, speciell einer Geisteskrankheit zu # er-
bringen, sondern auch Art und Grad dieser so darzustellen,
die Störung des gesetzmässigen geistigen Mechanismus mit
besonderer Rücksicht auf die psychologischen Bedingungen
der Zurechnungsfähigkeit dergestalt klarzulegen, dass die
richterlich psychologische Frage nach der vorhandenen oder
fehlenden Willensfreiheit daraus unschwer beantwortet wer-
den kann.
Die Vernichtung der Willensfreiheit durch psycho-
pathische Zustände und Vorgänge kann nun daraus sich
ergeben, dass:
a) durch aus der Gehirnerkrankung herausgesetzte
somit spontane Affekte, Stimmungen, Triebe und Stre-
bungen, Wahnideen und Sinnestäuschungen ein Handeln
herbeigeführt wird;
b) dass den irgendwie entstandenen und beschaffenen
Motiven eines strafbaren Handelns keine sittlichen recht-
lichen Gegenvorstellungen mehr entgegentreten können, da
diese entweder et) durch die Hirnkrankheit gleich anderen
höheren psychischen Funktionen nicht erworben werden
konnten oder verloren gegangen sind (angeborene und er-
worbene psychische Schwächezustände) oder ß) durch in
Folge der Erkrankung entstandene Störungen des Vor-
stellungsablaufs nicht mehr in das Bewusstsein eintreten
können (Melancholie, Manie);
c) dass durch Wahnideen und Sinnestäuschungen das
Selbst- und Weltbewusstsein gefälscht ist. Diese Störung
kann soweit gehen, dass die ganze frühere Persönlichkeit
in eine andere umgewandelt ist (Wahnsinn, Verrücktheit),
so dass die Handlung von einer ganz anderen (krankhaften
86 Psychische Entwicklungshemmungen.
psychischen Persönlichkeit als der früheren des Thäters
begangen wird. Die juristische Persönlichkeit ist hier die :
selbe, die psychologische eine ganz andere geworden.
I Die psychischen Entwicklimgshemmungen.
Blödsinn. Schwachsinn. Taubstummheit.
Eine äusserst wichtige criminalpsychologische Categorie
von Menschen bilden diejenigen, bei welchen durch eine
angeborene oder in früher Lebenszeit eingetretene Hirn-
erkrankung die geistige Entwicklung auf der Stufe, welche
sie damals einnahm, stehen blieb, oder sich nur um ein
Geringes weiter bewegte. Es ergibt sich daraus eine lange
Reihe von Individualitäten, die einzeln mit einander ver-
glichen, ein Plus oder Minus darbieten, insgesammt aber
der geistigen Höhe eines normalen oder Durchschnitts-
menschen gegenübergestellt, nie die criminelle Reife eines
solchen erreichen, die somit forensisch durchaus concret
und individuell behandelt werden müssen. Die Repräsen-
tanten dieser Categorie kann man als die Schwach- und
Blödsinnigen bezeichnen, forensisch-psychologisch gleich
stehen mit ihnen die Taubstummen.
Häufig handelt es sich um fötale Entwicklungskrank-
heiten des Gehirns, um zu frühzeitige Verwachsung der
Schädelnähte und dadurch gehemmte Gehirnentwicklung,
die sich dann auch in einer allgemeinen Kleinheit der
Schädeldurchmesser kundgeben kann; in der Mehrzahl der
Fälle sind aber Erkrankungszustände des Gehirns entzünd-
licher oder congestiver Natur in der Kindheit, Entzündungen
des Gehirns und seiner Häute, oder auch feinere, uns noch
unbekannte Störungen der Ernährung des Gehirns wie sie
unter dem Einfluss ungünstiger erblicher Verhältnisse der
Erzeuger, namentlich der Alkoholexcesse derselben sich
geltend machen, die hemmende Ursache. Es ist sogar wahr-
Grundregeln der Beurtheilung. 87
scheinlich ; dass sonst geistesgesunde und nüchterne Eltern,
wenn der Moment der Zeugung zufällig mit einer Berau-
schung zusammenfallt, geistesschwachen bis blödsinnigen
oder auch epileptisch blödsinnigen Nachkommen das Dasein
geben können.
Die Scala dieser Fälle von congenitalem oder vor be-
endigter Entwicklung eingetretenem Schwachsinn ist eine
unendlich variable. Auf der untersten Stufe stehen jene
absoluten und ganz bildungsunfähigen Idioten, deren Er-
kennung und forensische Würdigung freilich nicht schwer
ist, aber die Scala dieser geistigen Insuffizienzen erstreckt
sich von diesen Nullen successiv bis zur Höhe der Voll-
sinnigen und es ergeben sich da wo sich der Zustand dem
Niveau der. Durchschnittsmenschen zwar nähert, aber dieses
nicht erreicht, forensische Schwierigkeiten, wie sie nicht
leicht bei einem anderen Zustand zweifelhafter Geistes-
gesundheit entstehen können.
Eine Grundregel bei der Beurtheilung solcher Fälle
ist die, dass man synthetisch und nicht analytisch verfahre,
dass man die ganze Persönlichkeit nach allen Richtungen
auffasse und nicht nach einer Seite hin, die vielleicht be-
sonders hervortritt, beurtheile. Gerade bei solchen Schwach-
sinnigen kommt es zuweilen vor, dass sie eine ungewöhn-
liche Begabung für gewisse artistische Leistungen z. B.
Musik, ein auffallend gutes Gedächtniss für gewisse Cate-
gorien z. B. Zahlen besitzen, während ihr geistiges Leben
nach allen anderen Richtungen sich steril und insufficient
erweist.
Bei der psychologischen Beurtheilung des Unterschei-
dungsvermögens solcher Individuen ist es ebenfalls von
höchster Wichtigkeit, dass man dies concret und nicht
abstrakt auffasse. Solche Schwachsinnige wissen z. B.
ganz gut, dass man nicht tödten, nicht stehlen darf, aber
sie wissen es nicht aus einem sittlichen und intellektuellen
Erkenntnissprocess, den sie selbst durchgemacht haben,
nicht aus einem selbsterworbenen Charakter heraus, der
gg Psychische Entwicklungshemmungen.
das Gewicht ethischer und rechtlicher Motive geltend macht,
sondern sie wissen es nur abstrakt, sie reproduciren die
moralischen und rechtlichen Begriffe und Urtheile Anderer,
abstrakte Katechismus- und Moralbegriffe, die sie mühsam
ihrem Gedächtniss einverleibt haben. Ein solches abstraktes
Strafbarkeitsbewusstsein involvirt zwar ein allgemeines
Wissen was Gut und Böse ist, aber nicht die Fähigkeit,
dasselbe auf den eigenen concreten Fall anzuwenden, um
des Guten selbst willen sich frei für das Gute zu be-
stimmen. Bei Manchen sind auch statt der ethischen Be-
griffe „gut und böse a nur die niederen egoistischen der
Nützlichkeit und Schädlichkeit vorhanden. Legt man sol-
chen Leuten die abstrakte Frage vor, ob diese oder jene
Handlung Sünde resp. Verbrechen sei, so bekommt man
oft eine ganz befriedigende Antwort von einem Menschen,
der vollkommen ausser Stand ist, von diesen abstrakten
Begriffen eine Anwendung auf den eigenen Fall, auf eigene
Bewusstseinszustände zu machen. Dann genügen die er-
borgten Begriffe nicht mehr.
In dieser Richtung wird unendlich oft die Verantwort-
lichkeit Schwachsinniger überschätzt. So wenig als im
intellektuellen Leben solcher Menschen eine harmonisch
sich vollziehende, vielleicht die eines Vollsinnigen tiber-
treffende Einzelleistung das Urtheil über die Gesammt-
leistungsf&higkeit präoccupiren darf, sollte bei der Beur-
theilung des moralischen Ichs und der Höhe des Strafbar-
keitsbewusstsein s durch ein isolirtes abstraktes aber richtiges
moralisches Urtheil der Begutachter sich täuschen lassen.
Zu einem freien vernunftgemässen Handeln gehören höhere
Fähigkeiten, selbständig gebildete und tief ins Bewusstsein
eingelebte rechtliche ethische Begriffe und Urtheile — statt
dieser finden sich bei Schwachsinnigen vielfach nur frag-
mentäre Reste einer unvollkommenen Schulbildung, Ge-
dächtnissrudera halbverstandener Katechismusbegriffe.
Man hat sich viele Mühe gegeben, die individuell un-
endlich variirenden Fälle geistiger Infirmität und Imbecil-
Blödsinn. 89
lität in Categorien und Gradstufen einzuteilen und hat
dabei mit mehr oder weniger Glück das Verhalten der
Sprache als Kriterium benutzt.
Für forensische Zwecke genügt es vollständig, zwei
Hauptcategorien aufzustellen, die der Blödsinnigen und
die der Schwachsinnigen, wobei die Unterscheidung
wesentlich darin zu suchen ist, dass bei ersteren die Bildung
übersinnlicher Vorstellungen, Begriffe und Urtheile mangelt,
bei letzteren zwar möglich wird, aber nicht den Reichthum
und die Klarheit wie bei Vollsinnigen erreicht.
Der Blödsinnige: Auf der tiefsten Stufe des Blöd-
sinns fehlen die geistigen Processe fast vollständig. Die
Aufnahme von Sinneseindrücken beschränkt sich auf die
Objekte, an welchen das Nahrungsbedürfniss befriedigt
wird, und nur das sinnliche Bedürfniss der Befriedigung
des Hungers veranlasst solche tiefstehende Organisationen
zu einem triebartigen Bewegen, dem der bewusste Zweck
mangelt. Der Geschlechtstrieb fehlt noch oder ist nur in
Anfängen vorhanden. Auf einer weiteren Stufe zeigt der
Geschlechtstrieb sich schon entwickelt, aber die Art seiner
Befriedigung erinnert an. die der Thiere und nicht selten
beobachtet man hier ein zeitweiliges brunstartiges Hervor-
treten desselben. Die Befriedigung des Nahrungstriebs
bildet noch immer den Mittelpunkt aller psychischen Vor-
gänge ; statt eines bewussten mit einem vorgestellten Zweck
verbundenen Strebens besteht ein blosser Bewegungsdrang,
der nur durch äussere Anregung oder durch ein starkes sinn-
liches Bedürfniss zur Entäusserung kommt, und den höchstens
Dressur und gewohnheitsmässige Uebung zu mechanischen
Leistungen fähig machen. Der Blödsinnige verharrt in
träger Ruhe, da es ihm an Motiven zum Bewegen fehlt.
Auch seine ganze Haltung hat das charakteristische Ge-
präge des Schlaffen, Energielosen, das wesentlich dadurch
zu Stande kommt, dass die Streckmuskeln geringer inner-
virt sind als bei Vollsinnigen. Gang und Haltung bekommen
dadurch etwas Plumpes, Haltloses, Täppisches ; nicht selten
90 Psychische Entwicklungshemmungen.
finden sich auch Contracturen, Verbildungen der Extremi-
täten , Schwund einzelner Muskelgruppen, neben Schielen,
Stottern und andern Sinnesfehlern, in Folge angeborener
oder in frühem Lebensalter eingetretener Hirn- und Rücken-
markserkrankungen ; zuweilen werden auch auf eine gleiche
Ursache oder auf noch fortbestehende Krankheitsprocesse im
Centralorgan beziehbare partielle Convulsionen, veitstanz-
und epilepsieartige Zustände gefunden. Die Schädelbildung
kann eine ganz normale sein, häufig ist aber die Stirn
flach, oder es finden sich die Formen der Macro-, der
Microcephalie oder des Cretinenschädels.
So verschiedenartig die Stufen des Blödsinns sein kön-
nen, so besteht die trennende Schranke vom Schwachsinn
doch immer darin, dass die lückenhaften, spärlichen Vor-
stellungen sich nie vom sinnlichen Element losmachen kön-
nen, dass das Vermögen allgemeine Vorstellungen und
Begriffe, Abstraktionen vom sinnlich Concreten zu bilden,
vollständig mangelt. Die Reproduktion etwa gebildeter
Vorstellungen ist unvollkommen, nur auf äussere Anregung
oder auf ein sich erhebendes sinnliches Bedürfniss erfolgend.
Die ganze Vorstellungsreihe läuft dabei rein mechanisch
ab, wie sie usrprünglich gebildet wurde. Gemüthlicher
Regungen ist der vollkommen Blödsinnige nicht fähig, Mit-
gefühl, sociale Gefühle sind ihm versagt, nicht einmal das
Bedürfniss eines socialen Lebens ist ihm gegeben, er ge-
niesst nur dessen Wohlthaten ohne alles ethische Verständ-
niss für dessen Bedeutung. Nur nach einer Richtung ist
eine Reaktion möglich, nämlich wenn sein dürftiges Ich
eine Beeinträchtigung erfährt. Er reagirt darauf mit hef-
tigen Affekten des Zorns, die geradezu überwältigend sind,
und in einer weit über das Ziel hinausgehenden brutalen
Weise entäussert werden. Sie haben durchaus das Gepräge
von Wuthparoxysmen, in denen das Bewusstsein vollständig
schwindet, und deren sich das Individuum hinterher gar nicht
erinnert. Zuweilen kommen solche Paroxysmen auch ganz
spontan und in periodischer Aeusserungs weise zur Beobachtung«
Schwachsinn. 91
In der Mehrzahl der Fälle sind die criminellen Hand-
lungen der Blödsinnigen durch solche pathologische Affekte
vermittelt, sie begehen dann Todtschlag, Körperverletzungen,
zerstören Mobiliar in äusserst brutaler Weise.
Häufig sind es auch heftige sinnliche Begehren, die
ebensowohl durch eine Steigerung der natürlichen Triebe,
namentlich des Geschlechtstriebs, als durch den Mangel
aller sittlichen ästhetischen, contrastirenden Vorstellungen
unwiderstehlich werden.
Planmässiger, von Combination und Ueberlegung zeu-
gender Verbrechen ist der Blödsinnige nicht fähig. Die
Casuistik besteht in Sittlichkeits verbrechen, namentlich Un-
zucht mit Kindern und Nothzucht; häufig wird der öffent-
liche Anstand durch nicht genügend überwachte Blöd-
sinnige verletzt. Brandstiftungen sind nicht sowohl Akte
der Rachsucht und Bosheit als vielmehr Folge unbedachten
kindischen Spielens mit Feuer, kindischer Lust am Sehen
von Feuer ohne Bewüsstsein der Bedeutung der That und
ihrer Gefährlichkeit : nicht selten auch sind sie imitatorisch
entstanden, geweckt durch das Sehen von Feuersbrtinsten.
Der Schwachsinnige: Wir haben den Schwachsinn
als eine Mittelstufe zwischen dem Blöd- und Vollsinnigen
bezeichnet und gefunden, dass seine Merkmale gegenüber
dem Ersteren in der Möglichkeit der Bildung abstrakter
von dem sinnlichen Elemente losgelöster Vorstellungen
(Begriffe) bestehen, die aber nicht den Umfang, die Deut-
lichkeit und Reichhaltigkeit wie beim Letzteren besitzen.
Während gegenüber dem Blödsinnigen ein durchgreifender
qualitativer Unterschied in Inhalt und Artung des Seelen-
lebens sich so bemerklich macht, findet sich nur ein quan-
titativer gegenüber der Sphäre des Vollsinnigen und es ist
ersichtlich, wie mannigfach hier die Uebergänge sein müs-
sen, wie schwierig die Bestimmung der Gränze, wo der
pathologische Schwachsinn in die aus blosser Dummheit,
mangelhafter Erziehung resultirende Unwissenheit und Be-
schränktheit des Vollsinnigen übergeht.
92 Psychische Entwicklungshemmungen.
Deshalb sind Untersuchungen bezüglich der Leistungs-
fähigkeit vermuthlich Schwachsinniger, oft die schwierig-
sten gerichtsärztlichen Aufgaben, und eine theoretische
Darstellung muss darauf verzichten, alle die individuell so
verschiedenen Gradationen zu zeichnen und auf eine all-
gemeine mehr die tieferen Stufen berücksichtigende Dar-
stellung sich beschränken.
Schon die Sinnesthätigkeit weist Defekte nach gegen-
über der des Vollsinnigen. Die Aufnahme der Eindrücke
ist eine langsamere beim Schwachsinnigen, und viele Sin-
neswahrnehmungen entgehen ihm. Nothwendig ergibt sich
daraus ein geringerer ßeichthum an Vorstellungen und
auch die sinnlich aufgenommenen werden nicht so voll-
kommen verwerthet, wie beim Vollsinnigen, indem Associa-
tion und Reproduktion träger und lückenhaft ablaufen.
Die Bildung tibersinnlicher Begriffe und Urtheile leidet
damit Noth, und das Urtheil in übersinnlichen Dingen ist
einseitig, unklar und durch fremde Autorität stark beein-
flusst. Der Schwachsinnige ist leichtgläubig, wird leicht
düpirt, hat keine eigene Meinung, sondern stützt sich auf
die Anderer. Das innere Wesen, die feineren Beziehungen
der Dinge entgehen ihm, und ebenso unfähig ist er, falls
er wirklich einmal die Pointe der Sache erfasst hat, sie
mit dem richtigen Wort zu bezeichnen.
Sein Sprachschatz ist immer arm, sobald es sich um
übersinnliche Dinge handelt, während er in der ihm ad-
äquaten sinnlichen Sphäre sich genügend auszudrücken
vermag. Der dem Vollsinnigen innewohnende Drang, Grund
und Wesen der Dinge und der mit ihnen geschehenden
Veränderungen zu erforschen, fehlt ihm fast gänzlich, er
nimmt die Dinge, wie sie sind. Ein höheres geistiges
Interesse, ein zielvolles Streben ist ihm fremd; in der Be-
friedigung der gewöhnlichen materiellen Bedürfnisse des
Lebens geht sein ganzes Dasein auf, er hat keine Zeit
noch weniger Lust sich mit etwas Abstraktem zu beschäf-
tigen, das ihn langweilt und ihn unverhältnissmässige
Schwachsinn. 93
Anstrengung kostet. Dieselbe Unzulänglichkeit wie auf
intellektuellem zeigt sich auch auf ethischem Gebiet. Der
Schwachsinnige ist nothwendig Egoist und überschätzt
vielfach seine Person und Leistungen, wodurch er den Spott
der Anderen herausfordert und sich zur Zielscheibe ihres
Witzes macht, wie dies meist in der Gesellschaft der Fall ist.
Das Wohl und Wehe der Mitmenschen berührt ihn
nicht, nur Benachtheiligung der eigenen Persönlichkeit er-
zeugt stürmische Affekte, die dann leicht die Gränze der
Norm überschreiten. Seine freudigen Affekte gehen dann
wohl in tolle Ausgelassenheit über, seine depressiven in
Wuth oder in Verwirrung, die namentlich leicht aus dem
Affekt der Furcht erfolgt und in kopfloses Entsetzen aus-
artet. Der Schwachsinnige kann ein brauchbares Glied
der Gesellschaft sein, insofern er eine eingelernte gewohnte
Beschäftigung gut, ja wenn sie eine rein* mechanische ist,
noch besser als ein Vollsinniger verrichtet, eben weil er
seine ganze Aufmerksamkeit ihr zuwendet und durch Nichts
abgelenkt wird, aber diese Leistung verrichtet er maschi-
nenmässig, ohne im Stande zu sein, sie zu ändern, etwas
Neues zu combiniren und zu produciren.
Er hat keine eigenen und neuen Ideen, sondern zehrt
von dem dürftigen Vorrath an Kenntnissen und Erfah-
rungen, die er sich mühsam erworben hat. Nothwendig
fehlt ihm damit die Spontaneität, Aktivität, das plan- und
zielvolle Streben des Vollsinnigen; ein geringfügiges Hinder-
niss genügt, um ihn ausser Fassung zu bringen, indem er
es nicht zu überwältigen vermag, und bei seiner Unselbstän-
digkeit bedarf es oft blos eines einfachen Abrathens, um
den Erfolg seiner Willenäbestrebungen zu vereiteln und
diesen ein andres Ziel zu geben. Wegen dieser Leicht-
bestimmbarkeit sind aber solche Schwachsinnige auch durch
Drohung, Einschüchterung, Autorität Anderer zu den schwer-
sten Verbrechen zu bringen und werden nicht selten gefügige
Werkzeuge in der Hand perverser Verbrechernaturen.
Höhere ästhetische, moralische Urtheile und Begriffe
94 Psychische Entwicklungshemmungen.
sind kaum vorhanden, vielfach ebensowenig da als Ab-
straktionsvermögen und ein wirklich planvolles Streben.
An ihre Stelle treten blos mnemonisch erworbene und
automatisch reproducirte moralische Urtheile Anderer; fast
alle religiösen ästhetischen rechtlichen Begriffe sind somit
nur .Gedächtnissleistungen und Schulreminiscenzen.
Immerhin kann das Rechts- und Pflichtgefühl ziem-
lich gut entwickelt sein, nie ist es aber so tief auf ethische
und abstrakte Begriffe gebaut wie beim Vollsinnigen und
mehr eine halbbewusste Regung und Eingebung des Ge-
wissens. Schon der physiognomische Ausdruck verräth
in ausgeprägten Fällen, welch' Geistes Kind der Schwach-
sinnige ist.
Die Zurechnungsftthigkeit der Blödsinnigen ist auf-
gehoben, schon einfach aus dem Grund, weil übersinnliche
Begriffe, abstrakte Urtheile ästhetischen moralischen, recht-
lichen Inhalts hier nicht möglich sind. Eine Verkennung
und falsche Beurtheilung ist kaum möglich, leider aber
oft genug schon vorgekommen von Seiten von Aerzten,
die sich durch einzelne Fertigkeiten und intellektuelle
Leistungen blenden und zu unrichtigen Rückschlüssen auf
die Gesammtleistungsfähigkeit verleiten Hessen. Schwerer
ist die Beurtheilung des Defekts bei gewissen Schwach-
sinnigen. Es gibt deren, die im gewöhnlichen Lebens-
kreis ganz gut zurecht kommen und selbst im Stand sind,
in bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen auf eigenen
Füssen zu stehen. Kommen aber aussergewöhnliche Lebens-
lagen, oder versuchen sie in schwachsinniger Selbstüber-
schätzung sich einmal über ihre Sphäre zu erheben, so
erleiden sie jämmerlich Schiffbruch und dokumentiren zur
Genüge die Insuffizienz ihrer Leistungsfähigkeit.
Nicht alle Schwachsinnigen können als unzurechnungs-
fähig bezeichnet werden. In dem Mass als ihr Rechts-
bewusstsein entwickelt und ein wenn auch dürftiger Charakter
vorhanden ist, sind sie einer rechtlichen Verantwortlichkeit
fähig, wobei aber nicht zu vergessen ist, dass der Charakter
Taubstummheit. 95
schwach, die Ueberschauuag der rechtlichen Bedeutung der
That und ihrer möglichen Folgen beschränkt ist, die sitt-
lichen und rechtlichen Gefühle gering entwickelt sind, viel-
fach auch die sinnlichen Antriebe, namentlich der Ge-
schlechtstrieb, excessiv hervortreten, jedenfalls im Missver-
hältniss zu den schwachen sittlichen Gegenmotiven stehen»
Zudem sind die Associationen, überhaupt der ganze Vor-
stellungsgang träge und die Gegenmotive treten verlang-
samt und verspätet ein, so dass das Ich leicht vom An-
trieb überrumpelt und zur That gedrängt wird, bevor jene
Zeit haben sich Geltung zu verschaffen.
Wenn wir im Allgemeinen beim Schwachsinnigen eine
verminderte rechtliche Verantwortlichkeit annehmen kön-
nen, so dürfte diese vollends auf ein Minimum, wenn nicht
auf Null sinken, sobald auf dem Boden des Schwachsinns-
ein Affekt sich entwickelt und ein strafbares Handeln ver-
anlasst. Die schwachen sittlichen Correktive treten in
solchem Fall gar nicht oder zu spät ein.
Der Taubstumme. Vgl. Deutsches Strafgesetz § 58,
Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz § 188, Deutsche St.P.O.
§ 63, Abs. 2 und 3 § 298, Oesterr. St.P.O. § 164. Die
Oesterr. Entwürfe wollen durch den Zusatz (Entw. HL
§ 57): krankhafte Hemmung der Geistesthätigkeit — die
besonderen Bestimmungen über „ Taubstumme* entbehrlich
machen (Mot.).
Zur Ausbildung der geistigen Anlage ist die Laut-
sprache das wichtigste Förderungsmittel. Sie kann .aller-
dings durch Zeichen- und Schriftsprache einigermassen er-
setzt werden, aber die volle Klarheit des Gedankens und
Begriffs wird dadurch niemals erreichbar sein, abgesehen
von der erschwerten Gedankenmittheilung, die auf diese
Surrogate der Lautsprache verwiesen ist.
In dieser Lage befindet sich der Taubstumme, bei
welchem, bevor die Sprache erlernt oder der Sprachschatz,
gefestigt war, unheilbare Taubheit eingetreten ist und die
wichtigste Eingangspforte für die geistige Entwicklung ver-
96 Psychische Entwicklungshemmungen.
schlössen hat. Bleibt der Taubstumme sich selbst über-
lassen, so ist er funktionell dem Blödsinnigen gleichzusetzen,
wird er Gegenstand einer Erziehung durch Zeichen-, Lippen-,
Schriftsprache, so vermag er eine beachtenswerthe, der des
Vollsinnigen nahestehende Stufe der geistigen Entwicklung
zu erreichen.
Die Höhe der geistigen Entwicklung, welche der Taub-
stumme erreicht, ist eine sehr variable, je nach Art und
Dauer der Erziehung und nach der geistigen individuellen
Anlage. Es verdient Beachtung, dass die Ursache der
Taubstummheit häufig nicht im Ohr, sondern in Erkran-
kungen des Gehirns liegt, die geeignet sind die Fortent-
wicklung desselben zugleich organisch zu stören und dass
neben der Dürftigkeit und Erschwerung des geistigen Er-
werbs auch eine Schwäche der geistigen Anlage zugleich
mit dem Gehör- und Sprachdefekt bestehen kann.
Unter diesen Umständen ist es mit Bezug auf die
Frage der Zurechnungsfähigkeit Taubstummer geboten,
dass der Gesetzgeber auf deren Geistesfahigkeit Bedacht
nimmt. Das Deutsche St.G.B. § 58 bestimmt, dass ein
Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbar-
keit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche
Einsicht nicht besass, freizusprechen ist. Dieselben Ge-
sichtspunkte und Bedenken ergeben sich somit hier wie
beim Unmündigen, nicht minder muss die Beurtheilung des
Unterscheidungs Vermögens denselben Regeln, wie sie beim
Unmündigen und beim Schwachsinnigen geltend gemacht
wurden, folgen.
Die gesetzgeberische Bestimmung hat das Gute, dass
sie den Richter veranlasst, den Geisteszustand des Taub-
stummen in besondere Erwägung zu ziehen. Da die in-
tellektuelle Ausbildung bei diesen Unglücklichen sehr ver-
schiedene Stufen aufweist, kann der Fall nur ganz concret
beurtheilt werden. Bei dem Umstand, dass der Taub-
stumme niemals die volle Höhe der Geistesentwicklung des
Vollsinnigen erreicht, muss das Leiden als solches einen
Psychische Entartungen. 97
gewichtigen Milderungsgrund in foro abgeben, selbst wenn
das Unterscheidungsvermögen als genügend ausgebildet
befunden werden sollte. Die Verschuldung wird in dem
Masse sich vermindern, als die geistige Ausbildung gering
ist und allenfalls Anhaltspunkte für eine gleichzeitige Ver-
kümmerung der Hirnentwicklung sich ergeben. Die Ver-
antwortlichkeit eines ohne Unterricht aufgewachsenen oder
ohne Erfolg eines solchen theilhaftig gewesenen Taub-
stummen, ermittelt aus dem Kriterium des Unterschei-
dungsvermögens, ist Null und ein solcher dem Blödsinnigen
gleich zu erachten. Nie kann und soll in foro eine Prä-
sumption für die Zurechnungsföhigkeit eines Taubstummen
gehegt werden. Es ist nicht zu übersehen, dass trotz des
schon vorhandenen intellektuellen Moments des Unterschei-
dungsvermögens die zweite Grundbedingung der Zurechnungs-
fahigkeit — das Vermögen der Selbstbestimmung mangeln
kann, z. B. durch concurrirende Affekte, durch complicirende
Gemüthskrankheit. Die Ermittlung des Geisteszustands hat
beim Taubstummen mit der Schwierigkeit eines geistigen
Verkehrs zu kämpfen. Die Verwerthung der Zeichen-
sprache ist eine unsichere, bedarf eines Taubstummen-
lehrers als Dolmetsch (Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz
§ 188), sollte aber nicht vernachlässigt werden, selbst da
wo der Gebrauch der Schriftsprache möglich ist. Je con-
creter und klarer die Fragestellung ist, um so eher ist von
der Exploration ein befriedigender Erfolg zu gewärtigen.
n. Die psychischen Entartungen.
Neben den psychischen Entwicklungshemmungen und im
Uebergang von diesen zu den Geisteskrankheiten finden sich
individuell äusserst verschiedenartige Zustände krankhaft ge-
störter Geistesthätigkeit, die das gemeinsame Merkmal auf-
weisen, dass bei ihnen die höchsten geistigen Funktionen
verkümmert oder auch in perverser Erscheinungsweise sich
y. K rafft- Eb in g, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 7
98 Psychische Entartungen.
darstellen. Diese eigenartige Abweichung von der Norm
des Fühlens, Vorstellens und Strebens lässt sich als psy-
chische Entartung (in funktionellem Sinn) der psychischen
«Entwicklungshemmung einer- und der psychischen Krank-
heit andrerseits gegenüberstellen.
Diese psychischen Entartungen haben mit den Ent-
wicklungshemmungen das gemeinsam , dass die organische
Ursache der Entartung in der Zeit des sich noch ent-
wickelnden Gehirns zur Wirkung gelangt und der weiteren
Entwicklung des Seelenlebens eine krankhafte Richtung
vorzeichnet.
Aber diese schädigenden organischen Einflüsse sind
nicht so gewaltig, dass sie die weitere Entwicklung des
Geistes hemmen. Sie lassen allerdings nicht die intellek-
tuelle Seite desselben intakt, jedoch nicht sowohl im Sinn
eines sofort greifbaren Schwach- oder Blödsinns, als viel-
mehr im Sinn einer funktionellen Schwäche der höchsten
geistigen Centren, deren Leistung sich als Vernunft, ethische
Anschauung, höheres Streben kurz bezeichnen lässt.
Das formale Denken, das Schliessen und Urtheilen ist
bei diesen Menschen im Allgemeinen richtig und unver-
sehrt, aber die Bildung höherer sittlicher und vernünftiger
Grund- und Weltanschauungen, als Leitmotive eines ziel-
vollen Strebens gelingt nicht und damit erhebt sich das
Individuum nicht zur Höhe eines selbständigen Charakters
mit klarer Einsicht in den Werth, die Bedeutung und
Pflichten des individuellen Lebens in der Gesellschaft.
Die praktischen Folgen dieser Verkümmerung in den
höchsten geistigen Funktionen sind geistige Unselbständig-
keit bis zur Unfähigkeit, sich eine sociale Stellung zu er-
ringen und in derselben zu behaupten, Unfähigkeit, den
aus der individuellen Natur sich entwickelnden unsittlichen
Regungen und Leidenschaften zum eigenen und gesellschaft-
lichen Besten hinreichenden Widerstand zu leisten, Unfähig-
keit zu einem energievollen zielbewussten Denken und Stre-
ben, mit mangelhafter Einsicht in die Bedeutung und den
Allgemeine Kennzeichen. 99
Werth der Mittel z. B. des Geldes für die Erreichung
höherer Lebensziele.
Der auf der Oberfläche der individuellen Erscheinung
haftende Blick sieht in derartigen Existenzen den Vaga-
bunden, Verschwender, sittlichen Schwächling, der in das
Wesen derselben eindringende Beurtheiler erkennt in dieser
mangelhaften oder selbst unsittlichen Lebensführung die
nothwendigen Consequenzen einer funktionellen Schwäche
der höchsten geistigen Funktionen, deren Gradabstufungen
sich bis zu den ausgesprochenen Zuständen der Imbecillität
herab erstrecken und den Uebergang zu den Schwach-
sinnigen der vorigen Gruppe darstellen.
Von den eigentlichen Geisteskrankheiten als erwor-
benen Krankheitszuständen eines vollentwickelten und bisher
normal funktionirenden Gehirns unterscheiden sich diese
psychischen Entartungen ausser der in der Zeit des sich
erst entwickelnden Gehirns bereits zu Tage getretenen
und stabilen Störung dadurch, dass hier nicht sowohl die
intellektuelle Seite des Seelenlebens (Wahnideen, Sinnes-
täuschungen) als vielmehr die ethischen Beziehungen, das
Triebleben, überhaupt der Charakter vorwiegend eine Ab-
weichung von der Norm zeigen. Aber auch hier sind
die Uebergänge fliessend, indem viele dieser Entartungs-
zustände, als organische Belastungserscheinungen, die Grund-
lage bilden, auf welcher sich, oft langsam und unvermerkt,
aber auch plötzlich, Irresein in vorübergehender Erschei-
nungsweise oder auch als dauerndes und endliches Krank-
heitsbild entwickelt.
In diesen Zuständen von Entartung ist somit der in-
nerste Kern der geistigen Persönlichkeit und zwar noch
in der Zeit ihrer Entwicklung getroffen. Der Charakter,
d. h. die ganze habituelle Gefühls-, Anschauungs-, Denk-
und Handlungsweise nimmt eine andere, jedenfalls patho-
logische Richtung. „Non sentiunt, non agunt, non ratioc-
cinanturut caeterisanae mentis homines a (Zacchias). Unzählig
sind, je nach individueller Organisation und daraus sich er-
JOO Psychische Entartungen.
gebender vorherrschender Triebrichtung, Anschauungsweise,
die speciellen Aeusserungsweisen dieser Entartungszustände.
Sie können sich unter dem Bild der Excentricität und zwar
wieder in religiöser, politischer, artistischer, literarischer
Richtung, entäussern, aber ebenso gut in Form lasterhafter,
verbrecherischer Lebensführung, sittlicher und gemüthlicher
Verschrobenheit, socialer Unverträglichkeit und Unerträg-
lichkeit, häuslicher Tyrannei etc.
Die Bedeutung dieser organischen Belastungs- und
Entartungsphänomene in den höchsten Sphären des geistigen
Lebens ist keine geringe, insofern derartige Menschen in der
Gesellschaft viel häufiger vorkommen als die eigentlichen
Geisteskranken, als sie bei der Schwäche ihrer ethischen
und vernünftigen Leitmotive, ihren sinnlichen egoistischen
und damit* vielfach unsittlichen Antrieben leicht erliegen und
die Strafgesetze verletzen, wobei ihre Belastung und Entartung
ihnen in der Bemessung ihrer Verschuldung billigerweise
gutgeschrieben werden muss. Dazu kommt der Umstand,
dass diese Entartungszustände unendlich schwieriger zu er-
kennen und zu beurtheilen sind als die eigentlichen Geistes-
krankheiten, weil auch rein äussere Momente, wie z. B. fehler-
hafte Erziehung, analoge Defekt- und Entartungserschei-
nungen bedingen, weil der abnorme Geisteszustand sich
nicht scharf von einer bisher gesunden Lebensperiode ab-
hebt, Wahnideen und Sinnestäuschungen in der Regel fehlen,
die Charakter- und speciell ethische Verkümmerung als
einfache Immoralität ohne alle krankhafte Grundlage um
so leichter imponirt, als eine leidliche Intelligenz mit for=
mal richtigem Urtheilen und Schliessen ihr gegenüber steht
upd sie deckt.
Unmöglich können diese schweren Funktionsstörungen
in den höchsten Gebieten des geistigen Lebens bedeutungslos
für die Frage der Zurechnungsfähigkeit sein, deren Be-
dingungen ja gerade die Integrität dieser höchsten Funk-
tionsleistungen sind. Sie stellen, soweit sie Ausfalls- oder
Belastungs erscheinungen im geistigen Mechanismus bilden,
Allgemeine Kennzeichen. 101
gewichtige, die Schuldfrage mildernde Momente dar, die
eine den Menschen nicht abstrakt und wie er sein sollte,
sondern concret und wie er ist beurtheilende Justiz nicht
ignoriren darf. Aber diesen Zuständen gegenüber erweist
sich der einfache gesunde Menschenverstand zu ihrer Er-
kennung gänzlich ungenügend, selbst die ärztliche Wissen-
schaft vermag nur den concreten Fall bezüglich der Schwere
und des Umfangs der Entartungssymptome zu klären, die
allgemeine Diagnose auf das Bestehen einer krankhaften
Störung der Geistesthätigkeit zu machen, ohne das Gewicht
dieser Thatsachen für die Frage der Willensfreiheit oder
Zurechnungsfahigkeit entscheiden zu können. Diese schwie-
rigste aller Fragen muss dem Richter überlassen bleiben.
Für die Sicherheit der Rechtspflege ist es entschei-
dend, dass die ärztliche Wissenschaft den Nachweis einer
organischen Begründung der fehlenden oder perversen
Funktionen zu liefern vermag und damit den Unterschied
von der durch Erziehung und andere nicht organische und
darum zurechenbare Momente bedingten verkehrten und
verbrecherischen Lebensführung begründet.
Dann muss aber eine gerechte Justiz diese Resultate,
so unbequem sie auch sein mögen, anerkennen und die
Vagabunden, Verschwender, Excedenten, Querulanten, Ver-
brecher für das nehmen was sie sind, für Unglückliche,
deren Verschuldung mit anderem Mass gemessen werden
muss als die nicht krankhafter weil nicht belasteter Menschen.
Die entscheidenden Merkmale sind darin gegeben, dass
das abnorme perverse Fühlen, Denken und Streben sich
als ein durch organische Bedingungen gesetztes erweist,
als Ausdruck einer abnormen Beschaffenheit des Gehirns,
einer Hirnkrankheit. Es ifct fraglich, ob der Nachweis der-
selben jemals in allen Fällen auf dem Sektionstisch ge-
liefert werden wird. Zur Zeit entziehen sich die anato-
mischen Bedingungen der Entartung noch der Leichen-
diagnose, wenn von vereinzelten Befunden abgesehen wird.
Der Begriff der Entartung kann nur in funktioneller Auf-
102 Psychische Entartungen.
fassung bestehen. Der Beweis kann nur aus den Störungen
der Funktion in erster Linie, dann aus der ursächlichen
Begründung dieser Zustände gewonnen werden. Der kli-
nische funktionelle Beweis der Hirnkrankheit wird aber
gewonnen dadurch:
1. Dass vielfach bei solchen psychisch Entarteten Ueber-
bleibsel von ursächlichen, in der Entwicklungsperiode des
Gehirns eingetretenen Gehirnaffektionen nachweisbar sind
— Schielen, Stottern, krampfhaftes Zucken der Gesichts-
muskeln oder Lähmungen derselben, Pupillenveränderungen,
Lähmungen und Schwund von Muskelgruppen einzelner
Gliedmassen, Abnormitäten der Schädelentwicklung in Form
von Wasserkopf, zu kleinem oder verschobenem Schädel,
epileptische oder epilepsieartige Zufalle.
2. Diese Störungen lassen sich oft zurückführen auf
eine thatsächliche Hirnerkrankung, die mit Fieber, Con-
vulsionen etc. in früher Kindheit auftrat, besonders häufig
zur Zeit des Zahnens.
3. Insofern schädigende Einflüsse schon in frühen Pe-
rioden des Eilebens innerhalb des mütterlichen Organismus
das Gehirn nicht selten trafen, kann Miss wachs einzelner
Theile des Skelets und der Weichtheile bei solchen Ent-
arteten nachweisbar sein (sog. anatomische Degenerations-
zeichen), z. B. Disproportion der Entwicklung von Gehirn-
und Gesichtsschädel, ungleiche Entwicklung der Gesichts-
hälften, Anomalien der Entwicklung der Ohren, des Munds,
des Gaumens, der Zähne, Misswachs der Glieder, der Ge-
schlechtsorgane.
4. Das Gehirn erweist sich schlecht constituirt in so-
fern Reize, die bei der Mehrzahl der gut constituirten
Menschen wirkungslos bleiben, bei solchen Entarteten zur
Wirkung gelangen und eine ungewöhnliche heftige und aus-
gebreitete Reaktion hervorbringen.
Diese Resistenzschwäche des Gehirns zeigt sich viel-
fach besonders deutlich bei selbst leichten fieberhaften Er-
krankungen, ferner gegenüber Gemüthsbewegungen, Alkohol-
Allgemeine Kennzeichen. 103
genuss und gewissen Entwicklungszuständen des Körpers.
Solche belastete Menschen deliriren ungewöhnlich leicht bei
geringfügigen körperlichen Erkrankungen, sie gerathen bei
geringfügigen Gemütsbewegungen in Affekte von krank-
hafter Intensität und Dauer (s. u. pathologische Affekte),
sie reagiren ungewöhnlich intensiv und entschieden abnorm
auf Alkoholgenuss (s. u. pathologische Alkoholzustände) und
verfallen in der Zeit der geschlechtlichen Entwicklung oder
Rückbildung, in Schwangerschaft, Wochenbett etc. leicht
in Nervenkrankheiten oder selbst Geisteskrankheiten oder
schon früher vorhanden gewesene brechen zur Zeit dieser
physiologischen Lebensvorgänge wieder aus.
5. Auch abgesehen von ausgesprochenen dauernden
Nervenkrankheiten finden sich bei solchen Belasteten als
dauernde Anomalie vielfach grosse nervöse Erregbarkeit,
mannigfache abnorme Reaktionen auf klimatische Einwir-
kungen, besondere Nahrungsmittel, auf äussere psychische
Eindrücke (Idiosynkrasien).
Die meist angeborene funktionelle Schwäche der Ner-
vencentren disponirt solche nervöse Menschen zum Genuss
geistiger Getränke als eines vorübergehend die Nervosität
angenehm beeinflussenden Reiz- und Genussmittels und
unter dem deletären Einfluss des Alkoholgiftes entwickeln
sich dann auf dem Boden der organischen Belastung die
schwersten Zustände psychischer Entartung.
6. Die geistig-körperliche Entwicklung derartiger Indi-
viduen ist vielfach eine abnorm frühe oder verspätete.
7. Häufig ist der Geschlechtstrieb ein krankhafter in
sofern er a) ganz fehlt, womit dann in der Regel ein De-
fekt ethischer socialer Gefühle verbunden ist; b) indem er
abnorm stark bis zu zeitweisem brunstartigem Auftreten
sich zeigt, vielfach auch abnorm früh c) oder pervers. Hier
kann der Geschlechtstrieb wieder auf Personen des anderen
Geschlechts gerichtet sein, aber er drängt nicht zum Bei-
schlaf als der natürlichen Befriedigung, sondern zu irgend
welchen unzüchtigen Handlungen als Aequivalent des Bei-
104 Psychische Entartungen.
schlafs oder die geschlechtliche Brunst findet nicht im ge-
schlechtlichen Akt Ziel und Befriedigung, sondern erst in
der Tödtung und Verstümmlung des Opfers der Lüste
bis zum Genuss von Theilen der Leiche. Dahin gehören
auch seltene Fälle von Leichenschändung und gewisse von
Sodomie.
In anderen Fällen fehlt der Trieb zum anderen Ge-
schlecht in Folge einer angeborenen Verkehrung der Ge-
schlechtsempfindung. Die Individuen fühlen sich zu ge-
schlechtlichem Verkehr mit Personen ihres eigenen Ge-
schlechts hingezogen und verabscheuen geradezu den mit
solchen des anderen Geschlechts (sog. conträre Sexual-
empfindung).
8. Ueberaus mannigfach sind die Abnormitäten der
psychischen Funktionen bei diesen Entartungszuständen.
Wahnideen lind Sinnestäuschungen sind nie oder höchstens
gelegentlich affektartiger Zustände oder Uebergenusses
von Spirituosen auffindbar, die formalen Denkprocesse voll-
ziehen sich bei oberflächlicher Betrachtung normal und
ein greifbarer Schwachsinn wird in der Regel vermisst.
Damit erscheint für den oberflächlichen Beurtheiler
die geistige Sphäre unversehrt und die allerdings auffällige
unsittliche Lebensführung eine rein verbrecherische. Aber
diese Annahme ist eine grobe Täuschung.
Niemals ist die moralische Defektuosität eine isolirte
Erscheinung.
Immer geht sie mit anderweitigen Abnormitäten der
höheren geistigen Processe Hand in Hand. Im einen Fall
besteht sie im Mangel einer zu einer geordneten Lebens-
führung und sicheren Lebensstellung erforderlichen Er-
kenntniss der Mittel und Ziele, in einer auffalligen Willens-
und Charakterschwäche, Unfähigkeit egoistischen und un-
sittlichen Impulsen Widerstand zu leisten, selbst wenn der
Verstand so weit reicht, um die Einsicht in das dem eigenen
Interesse Zuwiderlaufende der Handlung zu erkennen.
In einem andern Fall überrascht die Verschrobenheit
Allgemeine Kennzeichen. 105
der Gefühle, Anschauungen, Neigungen, die Ueberspannt-
heit, Leidenschaftlichkeit der Reaktionsweise, die Einseitig-
keit gewisser Gedanken- und Willensrichtungen bei Stumpf-
heit für viel näher liegende sociale Fragen und Pflichten,
die Ungleichheit der geistigen Begabung bis zur partiellen
Genialität in artistischer Hinsicht bei wahrer Imbecillität
in Bezug auf ganz gewöhnliche Anlagen und Fähigkeiten,
die Unstätigkeit des Wesens, die Ungleichheit der Hand-
lungsweise in denselben Lagen zu verschiedenen Zeiten.
Es finden sich eben bei solchen Menschen, wie ein bedeu-
tender englischer Irrenarzt (Maudsley) hervorhebt, Eigen-
tümlichkeiten im Denken, Fühlen und Handeln, die bei
der ungeheueren Mehrzahl der übrigen Menschen nicht be-
obachtet werden. Die Gedankenverbindungen sind unge-
wöhnlich, die Gefühle abweichend, selbst pervers, die Hand-
lungen erfolgen auf Motive, auf die Andere nicht oder nicht
in gleicher Weise reagiren würden. Selten fehlt eine ab-
norme Gemüthsreizbarkeit, häufig besteht ein grundloser
Stimmungswechsel, ein beständiger Wechsel von depri-
mirten und exaltirten Stimmungslagen. Zu einem anhal-
tenden scharfen Denken sind solche Menschen unfähig, ihre
Ideenassociation ist vielfach eine ganz sonderbare, ihre
Fähigkeit, Eindrücke wiederzugeben, eine ungenaue.
Nicht selten geschieht es, dass solche Menschen ganz
unüberlegt handeln, d. h. ohne sich eines Motivs vor oder
nachher bewusst zu sein. Solche „impulsive" Handlungen,
oft ganz verkehrten, excentrischen, selbst unsittlichen Cha-
rakters, können sogar in bestimmten Zeitintervallen und in
genau derselben Weise wiederkehren.
Die Haltlosigkeit, Verschrobenheit der Gefühle und
Anschauungen, die geistige Unselbständigkeit dieser Leute,
tritt, gleichwie beim Schwachsinnigen, im ruhigen Geleise
des Alltagslebens vielleicht wenig hervor oder wird als
blosse Excentricität, Originalität gedeutet. Kommen der-
artige Individuen aber in Lebensconflikte, affektvolle Aus-
nahmsstellungen u. dgl., dann zeigt sich ihre Verschroben-
106 Psychische Entartungen.
heit in absurden Motiven, kopflosen Handlungen. Ein
treffliches Beispiel ist jener in Friedreich's Blättern 1879
mitgetheilte Fall des Richters, der seine Frau im Todes-
kampf nicht länger leiden zu sehen vermochte und erschoss.
9. Das zweifelhafte Krankheitsbild ist dadurch motivirt,
dass solche Individuen in der Regel von geistes- oder ner-
venkranken, charakterologisch abnormen oder trunksüch-
tigen Erzeugern abstammen oder dass schwere in der Kind-
heit überstand ene Kopfverletzungen oder Hirnkrankheiten
nachweisbar sind. In einzelnen dieser Fälle, wo die Ur-
sache der psychischen Entartung eine erworbene war, ge-
lang auch der Nachweis, dass die psychische Entartung
von der Zeit der zur Geltung gelangten Ursache herdatirte.
10. Die Geneigtheit derart Belasteter in ausgesprochene
Geisteskrankheit zu verfallen, ist eine äusserst grosse. Sehr
häufig geschieht dies in der Haft. Es besteht dann die
Gefahr, dass die wirkliche Geistesstörung für eine simulirte
gehalten wird, zumal da auf solch degenerativem Boden
psychische Erkrankung von dem gewöhnlichen Bild abzu-
weichen pflegt.
Der Nachweis einer Anzahl dieser diagnostischen Zeichen
mnss jeden Zweifel über das Bestehen eines psychischen
Entartungszustands beseitigen.
Bei der grossen individuellen Verschiedenheit der Be-
lastungs- und Entartungszeichen kann eine allgemeine Formel
für die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit nicht auf-
gestellt werden.
Bei blosser allgemeiner Verschrobenheit wird die
Annahme mildernder Umstände im weitgehendsten Mass
den Belastungsthatsachen gerecht werden. In Affekten
und anderen psychischen Ausnahmezuständen können die
Bedingungen der Zurechnungsfahigkeit jedenfalls gänz-
lich verloren gehen. Es ist dann die schwierige Auf-
gabe des Gerichtsarzts, nachzuweisen inwieweit die im-
pulsiven Antriebe, perversen Gelüste, leidenschaftlichen
Stimmungen, affektvollen Erregungen solcher Menschen mit
Das moralische Irresein. 107
krankhafter Stärke und organischer Nöthigung sich geltend
machten.
Da wo die Entartung temporär oder dauernd in aus-
gesprochene Geisteskrankheit tibergegangen ist, wird die Auf-
hebung der Zurechnungsfahigkeit keinem Zweifel begegnen.
Als grell hervortretende Erscheinungsweisen psychischer
Entartung verdienen das sog. moralische und impulsive
Irresein besondere Erwähnung.
1. Das moralische Irresein.
Es gibt Individuen; .die, trotzdem dass sie mitten in
dem Culturleben eines hochcivilisirten Volkes aufgewachsen
sind, dennoch die Früchte dieses Culturlebens nicht assimilirt
haben und zur Bildung sittlicher Gefühle, Vorstellungen,
TJrtheile nicht gelangt sind. In der Ungezügeltheit ihrer ^y
sinnlichen Triebe und egoistischen Gelüste stehen sie auf
annähernd gleicher Stufe mit Wilden. In der That sind
ihnen die Grundlagen, auf denen sich der moderne Cultur-
und Rechtsstaat aufbaut, unfassbar, Recht und Sitte unver-
ständlich und nichts anderes als lästige Schranken, die ihr
Egoismus fortwährend zu durchbrechen geneigt ist, miss-
achtend die natürlichsten und geheiligten Rechte des Ein-
zelnen wie der Gesellschaft.
Es gibt Fälle, wo der Defekt sittlicher Gefühle und
Anschauungen sich aus mangelnder oder schlechter Er-
ziehung erklärt, aber diesen stehen solche gegenüber, wo *-/
Erziehung und Beispiel tadellos waren und dennoch der
moralische Sinn sich nicht entwickelte. Auffallig für den
Psychologen ist, dass bei solchen Individuen vielfach schon
in sehr frühem Lebensalter die schlechte Gesinnung und
Bosheit hervortraten, zu einer Zeit wo von dem Einfluss
bösen Beispiels noch nicht die Rede sein konnte.
Das psychologische Räthsel findet seine Lösung in dem
Nachweis, dass in derartigen Fällen von ungewöhnlich früh
und grell zu Tage tretender Bösartigkeit der Gesinnung
108 Psychische Entartungen.
die Abstammung von irrsinnigen, nervenkranken oder trunk-
J süchtigen Eltern vorliegt und mit der Annahme, dass die
Unfähigkeit, das zu erwerben was integrirendes Moment
im geistigen Dasein eines der Cultur und Erziehung
des modernen Staats theilhaftig gewesenen Menschen sonst
ist, eine funktionelle Schwäche oder Ausfallserscheinung
eines inferior organisirten, degenerativen, belasteten Ge-
hirns darstellt.
Diese Annahme findet ihre Stütze darin, dass die
ethischen Gefühle und Urtheile die höchsten geistigen
Leistungen in der funktionellen Entwicklung des mensch-
J liehen Gehirns sind und bei gewissen organischen Er-
krankungen desselben oft lange schon geschwächt oder
vernichtet erscheinen, bevor greifbare Störungen der Intel-
ligenz auftreten.
Jedenfalls ist die ethische Leistung des Menschen eine
funktionelle Aeusserung seines Gehirns wie die des Ver-
standes und der Ausfall dieser Leistung trotz gebotener
Gelegenheit zu ihrer Erwerbung eine krankhafte Erschei-
nung gleichwie ein Sinnesmangel.
Der Mangel des moralischen Sinnes aus organischer
defekter Anlage hat im socialen Leben des Culturstaats
aber den gleichen praktischen Erfolg wie die mangelnde
Weckung des moralischen Sinns durch defekte Erziehung
oder wie die bewusste und willkürliche Aufgebung sittlicher
Principien. Der Betreffende entbehrt der sittlichen Correk-
tive seines Handelns, wird zum Verbrecher. Anders ist
/ es mit seiner Verschuldung. Der durch Defekte seiner
'■■ Hirnorganisation Unsittliche ist eine ganz andere Persön-
lichkeit als der durch eigene Schuld unsittlich Gewordene.
Jener ist nur dem Schein nach ein Verbrecher; er unter-
scheidet sich von dem wirklichen geradeso wie der Schwach-
sinnige von dem Dummen, welcher der Wohlthat einer
Schule nicht theilhaftig wurde oder aus Faulheit die ihm
gebotene Gelegenheit nicht benutzt hat.
Die Wahrheit, dass es sittlichen Defekt aus krank-
Das moralische Irresein. 109
hafter Organisation des Gehirns gebe, hat schon Regio-
montanus 1513 erkannt, insofern er behauptete, dass es
boshafte, unsittliche Menschen gebe, die ihre Bosheit nicht
aus sich selbst hätten und trotzdem von den Rechtsgelehrten
gehängt würden. Was der Naturforscher des 16. Jahr-
hunderts dem Einfluss der Gestirne (Geborensein im Zeichen
der Venus) zuschrieb, sucht eine fortgeschrittene Zeit natur-
wissenschaftlicher Aufklärung aus abnormen Organisations-
verhältnissen des Menschen zu erklären.
Ein Versuch in das Erscheinungsbild des krankhaft
moralisch Entarteten einzudringen, ermittelt zunächst ein
Fehlen moralischer Gefühle, Vorstellungen, Urtheile. Es
gibt leichtere Fälle (moralischer Schwachsinn), wo zwar
die sittlichen Urtheile und Anschauungen moralisch Voll-
sinniger dem Individuum geläufig und abstrakt reproducirbar
sind, aber sie bleiben von sittlichen Gefühlen unbetont und
damit todte, für das eigene Handeln werthlose Vorstellungs-
massen.
Als schwerere Fälle (moralischer Blödsinn) sind die-
jenigen anzusehen, wo nicht blos das ethische Gefühl
mangelt, sondern auch die Intelligenz die rechtlichen und
sittlichen Anschauungen Anderer nicht zu fassen vermag.
Ein solcher Defektmensch vermag Bedeutung und
Werth einer intendirten That nur aus ihrem Nutzen oder
Schaden für das eigene Interesse zu beurtheilen und schöpft
daraus Opportunitätsgründe für ihre sofortige Begehung
oder Verschiebung in gelegenerer Zeit.
Sitte und Gesetz sind solchen Menschen nur hem-
mende lästige Schranken für die Befriedigung egoistischer
Impulse, der Rechts- und Culturstaat erscheint ihrem sitt-
lich blöden Auge nur als ein Polizeistaat, dessen catego-
rischer Imperativ, wenn sie mit ihm in Conflikte gerathen,
sie nur als Vexationen empfinden. Sie lehnen sich gegen
ihn auf und gerathen in leidenschaftliche Erregungszustände.
Bei ihrer sittlichen Idiotie kennt dann ihre Brutalität und
Rücksichtslosigkeit keine Schranken.
HO Psychische Entartungen.
Der tiefeinschneidende Mangel des ethischen Sinnes
macht solche Individuen unempfindlich für die Interessen
und die Pflichten des socialen Lebens. Sie sind ebenso
unempfindlich für sittliche Werthschätzung durch Andere.
Eine nothwendige Consequenz ist der Mangel jeglicher
Gewissensregung und Reue. Die schwerste Verletzung
des Strafgesetzes erscheint ihnen nur als eine Uebertretung
einer polizeilichen Vorschrift. Solche Entartete sind un-
fähig sich im Rechts- und Culturstaat zu behaupten. Ihre
Hand ist gegen Jedermann. Sie verfallen nothwendig einer
Verbrecherlaufbahn, die, je nach wissenschaftlicher Er-
kenntniss, welche die Gesellschaft solchen Unglücklichen
gegenüber besitzt, mit dem Zucht- oder Irrenhause ab-
schliesst.
Sie finden dieses traurige Ende, nachdem sie schon
als Kinder durch ihre Faulheit, Lügenhaftigkeit, Gemein-
heit, monströse Grausamkeit gegen Altersgenossen, Thiere,
der Schrecken der Eltern und Lehrer, als junge Leute bei
ihrem Hang zu Unsittlichkeit, Prostitution, Vagabundiren,
Verschwenden, Betrügen und Stehlen die Schande der
Familien, die Plage der Gemeinden, der Polizei- und Justiz-
behörden gewesen waren.
Die wissenschaftliche Erfahrung vorgeschrittener ärzt-
licher Forschung lautet dahin, dass der Mangel sittlicher
Gefühle, wenn er auf psychologische äussere Momente
einer mangel- oder fehlerhaften Erziehung nicht zurück-
führbar ist, durch organische krankhafte innere Bedingungen
seine Erklärung findet.
Dieser Erkenntniss darf sich eine vorurtheilsfreie, ge-
rechte und von metaphysischen Anschauungen befreite
/Strafrechtspflege nicht mehr verschliessen. Sie muss in-
f dividualisiren, nicht blos das Verbrechen, sondern auch den
, Verbrecher würdigen. Sie darf nicht den Verbrecher aus
defekter, vielleicht nachzuholender Erziehung mit dem
Scheinverbrecher aus defekter und einer Ausgleichung un-
zugänglichen Hirnanlage verwechseln.
Das moralische Irresein. \\l
Erfüllt sie diese Forderung, so wird sie die kost-
spielige und mühsame Zucht und Erziehung des Strafhauses
nicht an moralisch Unheilbare verschwenden, durch Miss-
erfolge auf dem Gebiet des Strafvollzugs (bedingte Ent-
lassung, Entlassung auf Widerruf etc.) und leidige Rück-
falle nicht so häufig beunruhigt und abgeschreckt werden
und durch lebenslange Verwahrung von moralisch irrsin-
nigen Scheinverbrechern besser die vitalen und socialen
Interessen der Gesammtheit wahren.
Es ist für die Strafrechtspflege von äusserster Wich-
tigkeit, dass die ärztliche Wissenschaft, welche die Lehre
von einem moralischen Irresein aufstellt, auch im concreten
Fall in der Lage sei, sicher die organisch-krankhafte Be-
gründung eines moralischen Defekts nachzuweisen. Die
rein psychologische Analyse des Falls, bezw. der gesunde
Menschenverstand vermag diesen nur klinisch zu gewin-
nenden Nachweis nicht zu liefern, er kann höchstens Ver-
muthungen an die Hand geben.
Solche müssen aber dem Richter daraus erwachsen,
dass ein Individuum ungewöhnlich früh, nach Umständen
ohne Verführung bösartig und als ein socialer Rebell er-
schien, eine ungewöhnliche Bösartigkeit und Gefährlichkeit
zeigte, selbst den Einflüssen des Straf hauses incorrigibel
erschien, immer wieder rückfallig wurde, eine ausserordent-
liche Perversität und Gefühlsrohheit in der Begehung von
Unthaten bekundete, cynisch, reuelos als Angeschuldigter
sich erwies.
Jedenfalls sollte der schlechte Leumund nicht vorweg
als Beweis für die verbrecherische Gesinnung und Zurech-
nungsfähigkeit des Thäters genommen, sondern vielmehr
aus einem von Kindsbeinen auf bösen Leumund eher eine
Vermuthung im Sinn einer organisch belastenden Ursache
der schlechten Lebensführung geschöpft werden.
Aber alle die allgemein psychologischen Momente der
Mächtigkeit, Absurdität, Perversität, Monstrosität der ver-
brecherischen Antriebe, nicht minder die Unvorsichtigkeit,
112 Psychische Entartungen.
Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, mit der sie befriedigt,
der Cynismus, mit dem sie bekannt werden, die Kaltblütig-
keit und Reuelosigkeit solcher Menschen sind nicht ent-
scheidend, da sie auch beim Gewohnheitsverbrecher aus
defekter Erziehung und zurechenbarer Verkommenheit sich
finden können. Nur die ärztliche Expertise kann hier
Klarheit verschaffen. Leider wird sie viel zu selten an-
geordnet und aus der Monstrosität und Perversität des Ver-
brechers vorweg seine Zurechnungsfahigkeit vermuthet.
So urtheilt das empörte sittliche Gefühl der Volksmasse,
so darf aber nicht der kalt erwägende Verstand des Rechts-
gelehrten urtheilen. Für die gerichtsärztliche Expertise liegt
das Entscheidende der Aufgabe in der Zurückführung des
ethischen Defekts auf einen Zustand psychischer Ent-
artung. Jener bleibt vorläufig nur ein zweifelhaftes Sym-
ptom, solange dieser Nachweis nicht geliefert ist.
Die nächste Frage wird nach dem Vorhandensein
gleichzeitiger intellektueller Defekte gerichtet sein. Kann
moralisches Irresein als rein ethische Anomalie vorkommen,
ohne dass zugleich Intelligenzstörungen beständen?
Diese Annahme muss entschieden verneint werden. In
vielen Fällen besteht ein greifbarer intellektueller Schwach-
sinn; häufiger allerdings sind die niederen intellektuellen
Funktionen, die Fähigkeit des Wahrnehmens, Schliessens, Ur-
theilens unversehrt, aber nie fehlen Ausfallserscheinungen in
den höchsten geistigen Leistungen, die man der „Vernunft*
zuzuschreiben pflegt. Es fehlt die Einsicht in Zweck und
Bedeutung des individuellen Lebens, Einsicht sogar in die
Bedeutung der Mittel z. B. des Geldes, das solche geborene
Verschwender sinnlos vergeuden, ohne für die dringendsten
Lebensbedürfnisse vorzusprgen. Trotz aller Schlauheit und
Ausdauer, wenn es sich um Befriedigung ihrer unsittlichen
Impulse handelt, sind solche Entartete doch zu einem eigent-
lichen Lebensberuf, zu einer geordneten Thätigkeit unfähig.
Sie sind nicht blos unvernünftig, sondern auch unpraktisch,
nicht blos einsichtslos für das Unsittliche, sondern auch
Das moralische Irresein. H3
für das positiv Verkehrte, ihren materiellen Interessen
Schädliche ihres Thuns und Lassens. Arbeit, Broderwerb
sind ihnen Gräuel, Vagabundiren, Prostitution, Bettel,
Diebstahl ihr eigentlicher Beruf. Die trübsten Erfahrungen,
welche sie im Leben machen, bleiben intellectuell unver-
werthet, geschweige dass sie Gefühle der Reue als Anfang
eines sittlichen Erkenntnissprocesses erwecken könnten,
dem ihr sittlich blindes Auge verschlossen bleibt.
Trotz dem formell logischen Denken, trotz Beweisen
von instinktiver Schlauheit in ihren verbrecherischen Unter-
nehmungen überrascht doch wieder das vielfach auffallige
Ausserachtlassen der gewöhnlichsten Regeln der Klugheit.
Dieser nur aus intellektueller Beschränktheit erklärbare
Mangel an Voraussicht darf nicht als Kühnheit und Frech-
heit einer perversen Verbrechernatur vorweg gedeutet wer-
den. Bei vielen moralisch Irren zeigt ein tieferes Ein-
dringen, wie mangelhaft auch ihre intellectuell e Bildungs-
fähigkeit und Ausbildung, wie beschränkt ihr logisches Ur-
theilen, wie einseitig und verschroben ihr Ideengang ist.
Dazu kommt eine oft grell hervortretende formale
Störung ihres Vorstellens — eine Schwäche der Repro-
duktionstreue, die kaum Erlebtes in ganz entstellter Form
wiedergibt und solche Individuen zu (geborenen) Lügnern
wenigstens dem äusseren Schein nach macht.
Die weitere Forschung hat im Einzelfall jene Kenn-
zeichen zu ermitteln, die oben als für psychische Entartung
überhaupt sprechend, namhaft gemacht wurden. Ganz be-
sonders häufig und wichtig sind hier anatomische und funk-
tionelle Entartungsphänomene, Intoleranz gegen Alkohol
und demgemäss pathologische Alkoholreaktionszustände,
krankhafte Gemüthsreizbarkeit und pathologische Affekte,
Epilepsie und epilepsieartige Erscheinungen, hysterische
Symptome, sporadische Symptomencomplexe von Geistes-
störung, oft untermischt mit Simulationsversuchen, nament-
lich wenn solche Individuen der Freiheit beraubt werden.
Auch die unsittlichen Handlungen liefern manchen
v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 8
114 Psychische Entartungen.
Fingerzeig für das Pathologische der Gesammtpersönlich-
keit, insofern sie vielfach aus krankhaft gesteigerten, selbst
perversen natürlichen Trieben, mit impulsivem Charakter
und periodischer Wiederkehr auftreten. Die ätiologische
Erforschung des Falles ermittelt die 'Abstammung von irr-
sinnigen, trunksüchtigen, epileptischen, jedenfalls belasteten
Erzeugern, Irresein und andere Belastungserscheinungen
in der Blutsverwandtschaft und Nachkommenschaft, oder,
in seltenen Fällen, Kopfverletzungen und andere Hirnin-
sulte in frühen Jahren, von denen an der Charakter eine
schlimme Richtung nahm und die Entwicklung des mora-
lischen Sinnes zurückging.
Das Schwergewicht dieser psychiatrischen Thatsachen
wird keine spekulative Psychologie und Metaphysik zu er-
schüttern vermögen. Die Anerkennung der psychischen
Entartungszustände von Seiten der Strafrechtspflege kann
nicht ausbleiben.
Die Frage nach der rechtlichen Verantwortlichkeit
solcher Defektmenschen ist eine schwierige.
Im Allgemeinen kann eine solche für sie nicht ge-
läugnet werden, denn sie besitzen eine formale Kenntniss
des Rechts, sie zeigen Willkür des Handelns, insofern sie,
ausgenommen bei sog. impulsiven Akten, aus Opportunitäts-
gründen die Handlung begehen und unterlassen können.
Aber das Recht erscheint ihrem sittlich blöden Auge nur
als eine lästige Polizeivorschrift, der ganze Rechtsstaat nur
als ein vexatorischer Polizeistaat, das schwerste Verbrechen
höchstens als eine Uebertretung. Ihre Gegenmotive für
eine intendirte Handlung schöpfen sie nicht aus sittlichen
Vorstellungen, die gänzlich fehlen oder wenigstens uner-
regbar durch Gefühle sind, sondern aus Opportunitäts-
gründen der Befriedigung egoistischer Gelüste nach Mass-
gabe günstiger Umstände für das Gelingen der intendirten
Handlung.
Will der Richter solche der Selbstführung und Selbst-
controle aus Defekt der höchsten geistigen Funktionen bare
Wohin mit den moralisch Irren? H5
Menschen bestrafen, so könnte er es logischerweise nur
insoweit thun, als er sie als Uebertreter polizeilicher Vor-
schriften, nicht als Verbrecher trotz objektivem Thatbe-
stand eines schweren Verbrechens strafte. Das geht nicht an
nach dem Strafgesetz, aber auch nicht wegen der Interessen
der Gesellschaft, die dauernd vor solchen gemeingefähr-
lichen Entarteten durch lebenslängliche Internirung der-
selben geschützt werden muss, der nicht gedient ist, wenn
man die Straftaxen des Gesetzbuchs auf sie anwendet und
sie nach abgesessener Strafe auf die Gesellschaft wieder
loslässt. Die ärztliche Wissenschaft erweist die hohe Ge-
meingefährlichkeit derartiger Menschen, zugleich aber auch
die Incompetenz des Forums der Moral, indem sie den sitt-
lichen Defekt auf organische Bedingungen zurückfuhrt,
solche Unglückliche von den eigentlichen Verbrechern los-
löst, für sie neben dauernder Verwahrung eine humane
Behandlung fordert und eine Ehrenrettung an der mensch-
lichen Gesellschaft vollbringt, die sich schaudernd und be-
schämt von gewissen moralischen Scheinverbrechern aller
Zeiten abwendet.
Für die Entfernung aus der Gesellschaft und die Un-
terbringung dieser Entarteten, voraussichtlich auf Lebens-
dauer, muss durch asylartige Detentionsanstalten vorgesorgt
werden, die ein Zwischending bilden zwischen der modernen
Irren- und der Strafanstalt.
Die letztere ist eine Ungerechtigkeit, denn diese Ent-
arteten sind Verbrecher nur dem Scheine nach. Die Strafe
kann sie nicht bessern oder heilen, sondern ihren psychisch
abnormen Zustand nur verschlimmern und ihre Reaktions-
weise auf die Zuchtmittel des Strafhauses führt zu patho-
logischen Affekten, zu Geistesstörung, mindestens aber zu
endlosen Unbotmässigkeiten und disciplinarischen Mass-
regelungen, die die Beamten des Strafhauses von ihrem
eigentlichen Beruf, moralisch besserungs- und heilungsfähige
Verbrecher zu behandeln, abhalten und die Zwecke des
kostspieligen Strafhauses illusorisch machen. Aber auch
HG Psychische Entartungen.
für die Unterbringung in gewöhnlichen, immer mehr den
freien Verpflegsformen zustrebenden Irrenanstalten sind
solche Entartete absolut ungeeignet. Man verschone jene
mit solchen Individuen, wenn man nicht den wichtigen
humanitären Zweck des Irrenhauses, seine Ruhe und Sicher-
heit in Frage stellen will! Am Besten dürften für diese
Unglücklichen die sog. Verbrecherasyle oder Irrenabthei-
lungen der Gefängnisse (s. o.) sich eignen.
2. Das impulsive Irresein.
Bei belasteten psychisch entarteten Menschen können
plötzlich, ohne intellektuelles Motiv, Antriebe zu strafbaren
Handlungen auftreten, und mit solcher Stärke sich geltend
machen, dass die triebartige Handlung unmittelbar, ohne
dass eine Ueberlegung der Mittel und des Zwecks, der
Bedeutung der Handlung und ihrer Folgen möglich wäre,
erfolgt. Ein etwaiger Versuch des Kranken, dem blinden
organischen Drang Widerstand zu leisten, ruft heftige be-
klemmende Angst hervor und bildet einen weiteren Impuls
zur Begehung.
Kaum ist die That geschehen und die entlastende
Wirkung auf das Bewusstsein hervorgebracht, so beurtheilt
sie der Thäter nach ihrer ganzen Schwere. Er erschrickt,
bereut und findet einigermassen Beruhigung darin, dass er
seine That nicht gewollt, geplant hat, sondern zu ihr durch
einen unerklärlichen inneren Zwang gedrängt war. Die
That erscheint ihm als ein Verhängniss. Er zittert vor
dem Gedanken einer Wiederholung und sinnt auf Mittel,
Einsperrung, Binden u. s. w., um eine solche zu verhüten.
Meist gehen der Katastrophe Vorboten des Sturmes
in Form von Gemüthsbeklemmung, Gereiztheit, Gedrückt-
heit, Aufgeregtheit vorher und setzen derartige Unglück-
liche dann in den Stand Warnuhgsrufe zu geben, Vor-
kehrungen für die Sicherheit des eigenen oder fremden
Lebens noch zu treffen.
Das impulsive Irresein. H7
Ein logisches intellektuelles Motiv sucht der Kranke
wie der Beurtheiler vergebens. Die That entsprang nicht
der Sphäre des bewussten Seelenlebens, sondern der Tiefe
des unbewussten. Ihre auslösenden Bedingungen waren
mächtig und plötzlich sich geltend machende Stimmungen,
organische Gefühle, Triebe, die sich zur treibenden Vor-
stellung verdichteten. Dies« kann die Bedeutung einer
Zwangsvorstellung bekommen oder auch zur imperativen
Hallucination werden.
Die triebartige Handlung kann auf Mord, Selbstmord,
Brandstiftung, Befriedigung der Geschlechtslust gerichtet
sein. Ganz besonders häufig treten solche impulsive Vor-
gänge in physiologischen Lebensphasen solcher Menschen
auf, in der Pubertät, zur Zeit der Periode, in der Schwanger-
schaft, im Wochenbett. Die Thatsache eines impulsiven
Handlungsirreseins muss die Rechtspflege anerkennen. Ein
unverdächtiges und zutreffendes Beispiel für die Gewalt
derartiger Impulse stellt der Selbstmord dar, dessen uner-
wartete weil unmotivirte Ausführung bei solchen Entartungs-
zuständen dem Irrenarzt geläufig ist.
Die Justiz hat ein begreifliches Interesse daran, dass
die Lehre von einem impulsiven Handeln nicht an die
Stelle der früheren bedenklichen Lehre von den Mono-
manien („monomania instinctiva a ) trete.
Die heutige Wissenschaft bietet eine sichere Garantie
vor dieser Gefahr, indem sie ein impulsives Handeln nur
als Symptom eines Zustands krankhafter Störung der
Geistesthätigkeit kennt und im concreten Fall das Bestehen
eines solchen erweist, gerade wie sie den Mangel mora-
lischer Gefühle und Correktive nur dann als krankhaft
bezeichnet, wenn er Theilerscheinung eines psychopathischen
Zustands ist.
Die frühere Lehre der Monomanie beging den Grund-
fehler, dass sie die That zum Ausgangspunkt der Be-
urtheilung machte, aus ihrer Monstrosität, Unmotivirt-
heit Schlüsse zog, statt die That bis zu ihren Wur-
118 Geisteskrankheiten.
zeln zu verfolgen und als krankhaftes Symptom zu er-
weisen.
Nur dann wenn der impulsive Akt als Theilerscheinung
eines psychopathischen Zustands nachgewiesen ist, kann
die Justiz berechtigt und verpflichtet sein, die Zurechnungs-
fähigkeit des Handelnden in Betracht zu ziehen.
Die allgemeinen Kennzeichen psychischer Entartungs-
zustände wurden oben besprochen. Sie müssen die Grundlage
des ärztlichen Gutachtens sein. Die impulsive That kann
und darf nur die Bedeutung eines Einzelsymptoms haben.
Weitere überzeugende Gründe für das Pathologische
der That werden sich dann für den Richter aus ihrem
Mechanismus, aus der Perversion der zum Handeln treiben-
den organischen Gefühle, aus der Grausamkeit, Rücksichts-
losigkeit der Ausführungsweise, ihrer Wiederkehr unter
denselben äusseren oder inneren somatischen Bedingungen
ergeben.
DI. Die Geisteskrankheiten.
Unter den Zuständen krankhafter Störung der Geistes-
funktionen als Aufhebungsgründen der Zurechnungsfahig-
keit nehmen die Geisteskrankheiten im engern Sinn, d. h.
Krankheitszustände des entwickelten Gehirns, mit vorwal-
tenden psychischen Symptomen, mit zeitlich begränztem und
typischem, vorwiegend chronischem Verlauf, eine hervor-
ragende Stellung ein. Seitdem die Gesetzgebung davon
Abstand genommen hat, besondere Formen von Geistes-
krankheit namhaft zu machen, hat die Terminologie keinen
grossen Werth mehr für das Forum. Eine Eintheilung
der Geisteskrankheiten kommt eigentlich nur mehr in
sofern in Betracht, als ihre Darstellung einer solchen zur
Uebersicht bedarf.
Prägnante Formen geistiger Erkrankung sind die
Melancholie und die Manie, bei welchen in hervorragender
Die Zurechnungsfähigkeit hier aufgehoben. H9
Weise das Fühlen und Streben krankhaft afficirt sind, wes-
halb man sie auch als „Gemüthskrankheiten" bezeichnen
kann. Daran reiht sich der Wahnsinn, in welchem Wahn-
ideen und Sinnestäuschungen im Vordergrund des Krank-
heitsbilds stehen. Gelangen diese Zustände nicht zur
Heilung, so entstehen Zustände geistiger Schwäche (secun-
därer Schwachsinn — Blödsinn), die jedoch auch primär
unter dem Einfluss tieferer Erkrankungen der Hirnrinde
sich ausbilden können. Weitere wichtige Formen geistiger
Störung sind die Irreseinszustände, welche sich bei Epilepsie,
Hysterie und unter dem Einfluss der Ausschweifungen im
Trinken entwickeln.
Die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit bei ausge-
bildeter Geisteskrankheit kann bei der tiefen Störung der
geistigen Funktionen in diesen Zuständen und bei der
Solidarität der Processe des Seelenlebens keinem Zweifel
begegnen. Jedenfalls gibt es keine partielle Störung des
Geisteslebens und damit auch keine partielle Zurechnungs-
fähigkeit. Wo das Geistesleben nur partiell gestört scheint,
darf man sich durch diesen Schein nicht täuschen lassen.
In Wirklichkeit wird in solchen Fällen gerade nur ein
Bruchstück der allgemeinen Störung entäussert. Mit Recht
hat die Gesetzgebung davon Abstand genommen, das Ver-
langen zu stellen, dass die Willensunfreiheit speciell mit
Beziehung auf die vorliegende That nachzuweisen sei. Mag
es auch Geisteskranke geben, die bis zu einem gewissen
Grad sich noch selbst bestimmen können, so ist es in con-
creto unmöglich, diesen etwaigen Rest von Vermögen zu
taxiren und dem Irren zur Last zu schreiben. „Satis
furiosus ipso furore punitur. a
Eine ebenfalls aufgegebene Anschauung ist auch die,
dass nur dann eine aus einem Wahn hervorgegangene
That straflos sein solle, wenn die That, im Falle der Wahn
Wirklichkeit wäre, gesetzlich erlaubt sein würde. Nach
dieser Theorie wäre ein an Verfolgungswahn Leidender
straflos, wenn er in vermeintlicher Nothwehr gegen einen
120 Geisteskrankheiten.
Angriff auf sein Leben einen Andren tödtet, nicht aber
wenn er, blos um Ruhe vor vermeintlichen Beschimpfungen,
Chicanen etc. zu bekommen, zum Mörder würde oder ein
mit seinem Wahn gar nicht in Beziehung stehendes Ver-
brechen beginge.
Ein solches falsches Raisonnement beruht auf der
Verwechslung der moralischen Zurechnung mit der ju-
ridischen, psychologischen. Es muss der Criminaljustiz
ganz gleichgültig sein, ob eine aus einer Wahnidee erfol-
gende That moralisch zu rechtfertigen wäre, so bald nur
nachgewiesen ist, dass ihr Motiv eine Wahnidee und diese
Symptom einer Geisteskrankheit war. Es wäre übrigens
bei dem allseitig gestörten Geistesleben eines Irrsinnigen
misslich wenn nicht unmöglich jedesmal nachzuweisen, dass
seine That mit seinem Wahnkreis in Verbindung stehe.
Eines Tags wurde dem Verfasser ein früherer Pfleg-
ling wieder zugeführt, der bei der ersten Aufnahme an
Verfolgungswahn gelitten hatte. Er hatte auf offener
Strasse in ostentativer Weise durch Schmähung der Person
des Landesfürsten eine Majestätsbeleidigung begangen. Ein
logischer Zusammenhang dieser mit dem früheren Wahn-
kreis war nicht auffindbar, bis der Kranke mittheilte, er
habe sich der aus dem seiner Wohnung benachbarten Brau-
haus kommenden beschimpfenden Stimmen nicht mehr anders
zu erwehren gewusst, als indem er eine strafbare Hand-
lung beging und dadurch ins Gefängniss kam, wo er sicher
vor jenen Stimmen und vor der verfolgenden Nachbar-
schaft zu sein hoffte.
1. Die Melancholie.
Eine der wichtigsten Formen der Geistesstörung für
das Forum stellt die Melancholie dar, insofern Delirien
und Hallucinationen bei diesem ^Gemüthsirresein a gänz-
lich fehlen können (Melancholia sine delirio) oder erst spät
in das Krankheitsbild complicirend eintreten. Gleichwohl
Die Melancholie. 121
können aus krankhaften Aenderungen des Fühlens und
Vorstellens die schwersten Gewaltthaten entstehen, in deren
Begehung der Kranke trotz nach Umständen vorhandenem
Strafbarkeitsbewusstsein dennoch der Willensfreiheit völlig
verlustig war.
Wie es dem Laien überhaupt häufig begegnet, dass
er eine krankhafte Gemüths Verstimmung , wenn sie nur
einigermassen mit einem äusseren schmerzlichen Anlass
motivirt werden kann, mit einer noch physiologischen
verwechselt, so geschieht es in foro nicht selten, dass man
für blosen Affekt und Leidenschaft hält, was schwere, die Zu-
rechnung aufhebende Krankheit ist, zumal, da die äusseren
Erscheinungsweisen beider Zustände die gleichen sein kön-
nen, die That eine sozusagen kritische Bedeutung gehabt
hat und die Symptome der Krankheit vorläufig zurück-
treten liess, der Kranke äusserlich besonnen handelte, ver-
ständig spricht, die tiefe Störung in seinem Gemüthsleben
zu verbergen oder zu motiviren vermag.
Die Merkmale einer Melancholie sind eine schmerz-
liche Verstimmung und eine Erschwerung im Ablauf der
geistigen Funktionen als Ausdruck einer Gehirnerkrankung.
Die Unmotivirtheit oder nicht genügende Motivirung der
Verstimmung durch äussere Anlässe, die Hemmung der
geistigen Processe in jeder Richtung und in gesetzmässiger
Weise, begleitende körperliche Symptome gestörter Ernäh-
rung, Verdauung, Blutcirculation etc. weisen zunächst auf
das Krankhafte des Vorgangs hin.
Das Gefühlsleben dieser Kranken ist tief verändert.
Alle Vorgänge in der Aussenwelt wie im Innenleben wer-
den schmerzhaft empfunden, das Verhalten des Bewusst-
seins ist nach jeder Richtung ein schmerzliches. Damit
ergeben sich geänderte Beziehungen zur Aussenwelt in der
Gegenwart und der Vergangenheit. Der Kranke empfindet
Alles wehmüthig und schmerzlich und zieht sich deshalb
von den Menschen, von Beruf und Allem, was ihm sonst
lieb und werth war, zurück.
122 Geisteskrankheiten.
Mit der Zeit erlöschen alle seine gemüthlichen Be-
ziehungen. Er wird gemüthlos, gefühllos gegenüber seinen
höchsten Interessen, ja es kann ihm vorkommen als ob die
äussere Welt nur noch eine Scheinwelt sei.
Das Denken des Kranken dreht sich nur um schmerz-
liche Erinnerungen, trübe Anschauungen bezüglich der Zu-
kunft. Das Wollen ist tief herabgesetzt, der Kranke fühlt
sich leistungs- und entschliessungsunfähig durch die Hem-
mung in seinem geistigen Mechanismus und empfindet die
Hemmung seines Fühlens, Vorstellens, Strebens in pein-
licher Weise. Dazu kommt ein körperliches Gefühl der
Abgeschlagenheit, Unlust, Ermüdung, oft auch Schmerz-
haftigkeit in einzelnen Nervenbahnen. Unter dem Einfluss
all dieser hemmenden Gefühle kostet es den Kranken
enorme Anstrengung nur noch die gewöhnlichsten Pflichten
des Alltagslebens zu erfüllen. Er verweilt am liebsten im
Bett, in stiller brütender Resignation über seine Lage. Auf
Grund des Bewusstseins körperlicher und geistiger Leistungs-
unfähigkeit ist sein Selbstvertrauen und Selbstgefühl tief
herabgesetzt. Die Zukunft erscheint ihm hoffnungslos, er
fühlt sich unfähig, den nöthigen Unterhalt für die Seinigen
zu erwerben, erwartet Noth und Schande für sich und seine
Familie in der Zukunft. Auch die Religion gewährt ihm
keinen Trost mehr. Das Gebet bringt ihm keine Erleich-,
terung, Gott hat ihn verlassen. Ihm steht nicht blos leib-
licher Untergang sondern auch ewige Verdammung bevor.
Der Kranke fängt an über seine Lage zu grübeln. Er
vermag nicht zu erkennen, dass sie der Ausdruck einer
Hirnerkrankung ist, er sucht und findet den Grund seiner
Verstimmung in äusseren und psychologischen Momenten.
Sein herabgesetztes Selbstgefühl lässt ihm seine Lage in
früheren Fehlern, Sünden begründet erscheinen, daraus er-
klärt sich ihm die vermeintliche Missachtung der Menschen,
aus Vernachlässigung der Religion sein Verlassensein von
Gott. Ein peinliches Gefühl der Beklemmung in der Herz-
und Magengegend bis zu quälender Angst (Präcordialangst),
Die Melancholie. 123
wie sie nur ein von Furcht vor Entdeckung und von Ge-
wissensbissen gefolterter Verbrecher besitzt, martert ihn be-
ständig und sucht und findet Motivirung in früheren wenn
auch leichten Fehlern. Er hält sich wirklich für einen Ver-
brecher, dem endlich das Gewissen erwacht ist. Nun ist
es um seine Ruhe geschehen. Er irrt herum, lebt in qual-
vollen Erwartungsaffekten bevorstehender Entdeckung, Ver-
haftung, Hinrichtung. Der Schlaf flieht ihn gänzlich. Das
trostlose Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Gleichgültig-
keit gegen alle Lebensbeziehungen, der Unfähigkeit klar
zu denken, sich dem über ihn hereinbrechenden Verhäng-
niss zu entziehen, ruft Verzweiflungsaffekte hervor. Finstere
Gedanken, sich der trostlosen Lage durch Selbstmord zu
entziehen, dadurch die Welt von einem Scheusal zu be-
freien, Busse und Sühne für ein vermeintlich lasterhaftes
Leben zu finden, tauchen auf, vorläufig noch im Gegen-
gewicht gehalten durch die Furcht vor ewiger Strafe und
dem göttlichen Gericht. Der an der Zukunft verzweifelnde
Kranke empfindet den Drang, seinen Angehörigen Noth
und Schande zu ersparen, indem er sie mordet und sich
dann selbst aus der Welt »schafft. Er schaudert vor diesem
Gedanken zurück, aber dieser gewinnt immer mehr an Zug-
kraft. Er hat noch so viel Besonnenheit zu fliehen und
herumzuirren. Es ist ihm zu Muth, dass die äussere Welt
nur noch eine Schattenwelt sei, er allein zurückgeblieben.
Er kommt sich vor wie der ewige Jude in der Sage, der
nirgends Ruhe finden kann. Er fühlt sich namenlos ver-
lassen, allein zurückgeblieben mit seinem entsetzlichen
Jammer in der für ihn todten, abgestorbenen Welt. Die
Hemmung seines Denkens verursacht ihm trostlose Gefühle
der Langeweile, qualvoller geistiger Oede. Er fühlt den
Stillstand seiner Gedanken, den Anfang einer schrecklichen
Ewigkeit, in welcher Minuten Jahre bedeuten, er fühlt sich
machtlos diesem Bann und bösen Zauber gegenüber. In
seiner Verzweiflung steigt ihm der Gedanke auf, zu irgend
einer rettenden That sich aufzuraffen, durch irgend eine
124 Geisteskrankheiten.
Handlung, sei sie Mord, Selbstmord, Brandstiftung, den
Bann zu durchbrechen, sich die Ueberzeugung zu ver-
schaffen, dass er noch existirt, dass es noch eine reale
Welt gibt, den Versuch zu machen, die trostlose Oede zu
unterbrechen, sich den Beweis zu liefern, dass er überhaupt
noch etwas leisten, eine Aenderung der Situation schaffen
kann.
Einen sittlichen Gegenhalt vermag der in seinem Ge-
müth empfindungslose Kranke gegenüber solchen Gedanken
nicht zu gewinnen. Eine Steigerung des Affekts, des Angst-
vorgangs in seiner Brust macht ihn zum Mörder, Brand-
stifter. Er athmet erleichtert auf, denn die That hat den
lösenden Einfluss auf seinen qualvollen Bewusstseinszustand,
den er instinktiv anstrebte, gehabt. Er erscheint nun be-
sonnen, ruhig und bleibt es bis die Krankheit wieder ihren
Aufschwung nimmt.
Zu jeder Zeit können beim Melancholischen forensisch
weiter wichtige Complicationen auftreten und den Kranken
zu schweren Gewaltthaten fortreissen. Das sind zunächst
die sog. Zwangsvorstellungen und Zustände plötzlich auf-
tretender Präcordialangst.
Zwangsvorstellungen sind Ideen, die sich mit krank-
hafter Intensität und Dauer im Bewusstsein behaupten im
Gegensatz zum normalen Geistesleben, in welchem selbst
die erschütterndsten Vorstellungen nach kurzer Zeit durch
solche anderen Inhalts abgelöst werden und eine willkür-
liche Verdrängung jener möglich ist.
Unter diesen Bedingungen befindet sich der Melancho-
lische bei seinem tief gestörten und gehemmten Vor-
stellungsablauf nicht. Er vermag die irgendwie in seinem
Bewusstsein aufgetauchten lästigen Gedanken nicht abzu-
schütteln. Seine ohnedies schmerzliche Stimmung wird
dadurch gesteigert, lebhafte Angstgefühle begleiten den
Vorgang. Dazu kommt der peinliche Inhalt der Vorstel-
lung. Es ist ihm z. B. beim Anblick eines Messers der
Gedanke aufgetaucht, damit Weib und Kind zu erstechen,
Die Melancholie. 125
er hat eine Feuersbrunst gesehen oder von einem Mord
gelesen und er kann den Gedanken nicht los werden, sein
Haus anzuzünden, seinen Freund zu ermorden. Dieser
Gedanke macht ihn schaudern, sein sittliches Gefühl em-
pört sich dagegen. Er sucht sich zu zerstreuen. Bei seiner
nervösen Erregbarkeit rufen die entferntesten Beziehungen
den bösen Gedanken immer wieder hervor. Je länger und
stärker der Gedanke sich geltend macht, um so mächtiger
wird der Impuls, ihm Folge- zu leisten. Der Kranke flieht,
beraubt sich der Mittel die Unthat zu begehen, er sinnt
auf Selbstmord als äusserstes Mittel, das Verbrechen zu
vermeiden. Er irrt ruhelos umher, der Schlaf flieht ihn
und wenn er einschlummert, schreckt ihn der böse Gedanke
wieder auf. Die Klemme seines Bewusstseins wird uner-
träglich, er fühlt, dass er nur durch Ausführung des Im-
pulses Ruhe bekommen kann; noch vermag er dem Sturm
in seinem Innern einigermassen durch Gebet, Aufbietung
aller rechtlichen und sittlichen Motive zu begegnen — da
kommt ein Ausbruch von Verzweiflung, namenloser Angst
und die Unthat ist geschehen. Solche Zwangsvorstellungen
kommen gerade bei leichteren Fällen von Melancholie, bei
Nervenkranken mit 'psychischer Verstimmung, wenn eine
erbliche Veranlagung besteht, nicht so selten" vor und kön-
nen bis zur Katastrophe unerkannt bleiben.
Eine weitere Möglichkeit für Gewaltthaten bietet das
Auftreten von Angstanfällen beim Melancholischen. Zu
jeder Zeit und selbst beim ruhigsten und leichtesten Kran-
ken kann man sich solcher versehen. Eine verzehrende
innere Angst tiberfallt den Kranken, trübt seine Besin-
nung, ruft schreckliche Vorstellungen allgemeinen und
eigenen Untergangs hervor, nach Umständen selbst Sinnes-
täuschungen. Der Kranke flihlt sich getrieben, seiner qual-
vollen Angst und Spannung in irgend einer erleichternden
That Lösung zu verschaffen. Er versucht dies, indem er
sich den Kopf an den Wänden einrennen will, sich zum
Fenster hinausstürzt, sich die Augen aus den Augenhöhlen
126 Geisteskrankheiten.
herauswühlt, um sich sticht, haut, sein Haus in Brand
steckt u. s. w.
Mit der geschehenen instinktiv angestrebten That ist
die Lösung der psychischen Spannung erfolgt. Der Kranke
athmet auf wie von einer Todesgefahr befreit und so ent-
setzlich auch die befreiende That sein mag, er ist ruhig
und befriedigt darüber, dass er wieder existiren kann. Im
Verlauf des melancholischen Krankheitsbilds kommt es,
namentlich auf der Höhe afFektartiger Aufregungszustände,
leicht zu Sinnestäuschungen und Delirien. Der Kranke hört
z. B. Stimmen, die ihm drohendes Unheil verkünden, die
ihn zu Unthaten antreiben; die Personen der Umgebung er-
scheinen ihm in fratzenhafter Gestalt, als Teufel, Gespenster,
er sieht sich von Schergen, Teufeln umwogt, wird die Zu-
rüstungen zu seiner Hinrichtung, Höllenfahrt gewahr. Er folgt
dem Gebot der Stimmen, setzt sich verzweifelt zur Wehr.
Im Verlauf der Krankheit bilden sich auch Wahnideen
und damit entsteht die Möglichkeit einer tiefen Störung
des Bewusstseins der eigenen Persönlichkeit (melancholischer
Wahnsinn). Der aller menschlichen Gefühle verlustige, von
Gott verlassene Kranke kommt sich z. B. wie- ein Teufel,
ein Thier vor; im Gefühl seiner Un Würdigkeit erscheint
er sich als ein Sünder und Verbrecher, im Bewusstsein
seiner Leistungsunfahigkeit wähnt er sich ruinirt, ein Bettler
und zwar durch eigne Schuld. Sein eigenes Bewusstsein
drohender Gefahr überträgt sich auf die Lage der Ange-
hörigen. Er wähnt sie ebenfalls mit dem Tode bedroht,
hört, ihr Hülfegeschrei u. dgl. Selbstmord, um all dem
Jammer zu entgehen, die Welt von einem solchen Ver-
brecher zu befreien, Gewaltthaten gegen die feindlich ver-
kannte Umgebung sind die leicht möglichen Consequenzen
solcher Delirien. Die hohe Gemeingefährlichkeit der me-
lancholischen Kranken ergibt sich aus dem Vorstehenden
von selbst. Gewaltthaten können entstehen durch bis zur
Unerträglichkeit gesteigerte schmerzhafte Gefühle und
Zwangsvorstellungen, durch Angstaffekte, durch Wahn-
Die Melancholie. 127
ideen und Sinnestäuschungen. Bemerkenswerthe Fälle aus
der ersteren Kategorie sind diejenigen, wo der Kranke aus
den der Melancholie eigenthümlichen Entschlussunfähig-
keit, aus Feigheit, oder aus religiösen Motiven (um sich
noch mit dem Himmel zu versöhnen, bussfertig zu sterben)
das ihm unerträglich gewordene Leben durch eine straf-
bare todeswürdige Handlung zu verlieren sucht (indirecter
Selbstmord).
Die gleiche psychologische Bedeutung haben die Fälle
wo der Melancholische Andere dingt um ihn aus der Welt
zu schaffen, von Anderen begangener Verbrechen sich
fälschlich anklagt, Verbrechen begeht um ins Zuchthaus zu
kommen, nach dem er sich in seinem herabgesetzten Selbst-
gefühl sehnt.
Nicht minder wichtig sind die Mörder ihrer eigenen
Kinder — aus Liebe und Noth, d. h. um sie im vermeintlich
hoffnungslosen Kampf um's Dasein nicht untergehen zu
lassen.
Nur selten wird es sich hier um noch physiologischen
Affekt, in der Regel um Melancholie handeln, weshalb die
Untersuchung des Geisteszustands unerlässlich sein dürfte.
Die Handlungsweise in Fällen, wo schmerzliches Fühlen
oder Zwangsvorstellungen eine Gewaltthat herbeiführen,
kann Kaltblütigkeit, richtige Wahl der Mittel aufweisen,
ausser da wo ein heftiger Affekt im Augenblick der That
die Besonnenheit trübte. Da wo eine Zwangsvorstellung
eine That motivirte, tritt diese nicht unvermittelt ein, son-
dern erst nach langem und mächtigem Ringen mit dem
bösen Antrieb. Dadurch unterscheidet sich jener Vorgang
von der verbrecherischen mit Willkür ausgeführten That.
Nie verfolgt der Thäter egoistische Zwecke. Mit der
consumirten That ist ja der Zweck derselben erreicht, der
nie direkt auf dieselbe gerichtet ist, sondern die für ihn
nur das Mittel bildet. Nie fehlt die Ernüchterung und
psychische Befreiung, um derenwillen in der Regel die
That begangen wurde. Nie fehlt auch die Reue, da ja
128 Geisteskrankheiten.
das intellektive und ethische Bewusstsein mit der Realisi-
rung der keinen verbrecherischen sondern einen psycholo-
gischen Selbsterhaltungszweck erfüllenden That wieder zur
vollen Geltung kommt. Nicht minder ist beachtenswerth,
dass die That den Interessen, dem ganzen ethischen und
religiösen Bewusstsein entgegengesetzt ist und aller äusseren
Motive entbehrt.
Forensisch wird es sich zunächst darum handeln ob
ein Affekt oder ob Melancholie vorlag. Die äussere Beson-
nenheit und Ruhe, die solche Menschen bisher bewahrten,
so dass Niemand ihr schweres Leiden ahnte und ihre düstere
Stimmung, Reizbarkeit, Launen, Vernachlässigung früherer
Rücksichten und Pflichten im Sinn früherer schmerzlicher
Ereignisse erklärlich fand, darf nicht falsch gedeutet werden.
Nicht isolirte psychologische Kriterien, sondern nur der
klinische Nachweis der Krankheit sind hier entscheidend.
Viel wichtiger für die Beurtheilung ist der Zustand vor
der That als nach derselben, wo die Symptome der Melan-
cholie durch den gleichsam kritischen, mächtig erschüttern-
den Einfluss jener vorläufig verwischt sein können.
Anscheinend geringfügige Thatsachen vor der Hand-
lung können in ihrer Summation bedeutungsvoll werden:'
so das Aufgeben der» gewohnten Lebensweise, Charakter-
veränderung (Neigung zum Alkoholgenuss, zu religiösen
Hebungen), Gedanken an Selbstmord, bezügliche Vorbe-
reitungen, Testamentserrichtung, Mangel an Selbstvertrauen,
Schlaflosigkeit, Klagen über körperliches Krankheitsgefühl,
Störungen der Verdauung, Abmagerung, mit oft ausge-
sprochener hypochondrischer Verstimmung. Doppelt wichtig
sind solche Thatsachen, wenn sie bei erblich belasteten
Nervenkranken, bei in der Pubertätsperiode befindlichen In-
dividuen sich vorfinden. Hier kann die schmerzliche Ver-
stimmung als Heimweh erscheinen und der Drang zu einer
Gewaltthat aus dem schmerzlichen Fühlen, aus Zwangs-
vorstellungen, Sinnestäuschungen (Visionen der Heimath,
Stimmen rufender Verwandten etc.), Angstanfallen ent-
Die Melancholie. 129
stehen. Besonders häufig und aus dem Verlangen heim-
zukommen motivirt, ist hier Brandstiftung.
Die Zurechnungsfähigkeit ist selbst in diesen leichteren
Fällen von Melancholia (sine delirio) aufgehoben, weil die
sittlichen und rechtlichen Gegenmotive, wenn sie überhaupt
ins Bewusstsein noch eintreten, keine Zugkraft mehr haben,
durch das viel mächtigere schmerzliche Fühlen überwältigt
werden und der freie Fluss gegensätzlicher Vorstellungen
durch die Hemmung des Vorstellungsablaufs gestört ist.
Da wo eine Gewaltthat im Angstanfall eines Melancho-
lischen zu Stande kommt, ist das Handeln, entsprechend
der afFekt vollen Störung des Bewusstseins, nie ein plan-
volles, zweckmässiges, sondern ein blindes, gleichsam con-
vulsivisches. Der grässliche Bewusstseinszustand bedingt
einen gewissen Eclat, eine über jedes Ziel hinausschiessende
Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit. Zeit, Ort, Mittel,
Zeugen sind gleichgültig bei der Ausführung, das Objekt,
an dem der Drang nach Entlastung befriedigt wird, ist ein
zufälliges. Das Opfer wird oft nicht blos getödtet, sondern
gräulich verstümmelt. Wie wenig es dem Thäter um die
That als solche zu thun war, beweisen Fälle von Brand-
• Stiftung, wo er eifrig löschen half. Nach der That erfolgt
Reue, Selbstanzeige, zuweilen auch Selbstmord, wenn sie
eine grässliche war.
Die Zurechnungsfähigkeit ist hier aufgehoben. Die
Handlung ist eine rein zwangsmässige Entäusserung eines
unerträglich gewordenen Bewusstseinszustands , auf des-
sen Höhe selbst das Bewusstsein der Handlung verloren
gehen kann.
Auch bei Gewaltthaten aus Wahnideen und Sinnes-
täuschungen ist äussere Besonnenheit, Prämeditation mög-
lich, sofern kein mächtiger Affekt vorhanden war. Tritt
nach der That Ernüchterung und Einsicht für den Wahn
ein, so wird auch die Reue nicht fehlen. Die Zurech-
nungsfähigkeit fehlt hier, weil der Thäter aus pathologischen
Bedingungen handelte, deren Einfluss er sich nicht zu ent-
v. Krafft-Ebing, Crimlnalpsychologie. 2. Auflage. 9
130 Geisteskrankheiten.
ziehen, deren Unrichtigkeit er nicht zu erkennen vermochte,,
wenn auch das Bewusstsein der Handlung und ihrer Folgen
vorhanden war. Viele dieser Gewaltthaten haben die Be-
deutung einer vermeintlichen Nothwehr.
2. Die Manie (Tobsucht).
Unter diesem Namen versteht die Psychiatrie eine
Grundform psychischer Erkrankung, charakterisirt durch
einen krankhaft erleichterten beschleunigten Ablauf der
Vorgänge des geistigen Lebens, zugleich mit Steigerung
der Funktionen desselben, namentlich im Gebiet des Trieb-
lebens und der Gefühle. Vorherrschend pflegt dabei eine
heitere Stimmung zu sein. Durch diesen Symptomen-
complex stellt die Manie ein der Melancholie ziemlich
gegensätzliches Krankheitsbild dar. Die Manie bietet
mannigfache Gradstufen von leichteren Formen, in welchen
der Kranke eher den Eindruck eines ausgelassenen oder
weinwarmen Menschen macht als den eines Irrsinnigen
(maniakalische Exaltation) bis zu solchen, wo Sinnestäu-
schungen, Delirien (Grösse, Verfolgung) auftreten, das Be-
wusstsein erheblich getrübt ist, ein durch krankhafte Vor- •
gänge im Gehirn bedingter Drang zu ungezügelter Muskel-
bewegung sich geltend macht und in Zerstören, Toben
(„Tobsucht") seine Entäusserung findet. Während solche
Zustände von Tobsucht natürlich keine zweifelhaften mehr
sein können und etwaige criminelle Handlungen (Tödtung,
Brandstiftung, Nothzucht, Widerstand gegen die öffentliche
Gewalt u. dgl.) sofort ihre richtige Deutung finden, ist ea
anders bei jenen leichteren und dennoch, wie sich ergeben
wird, die Zurechnung völlig aufhebenden Zuständen mania-
kalischer Exaltation. Dem Laien erscheint der Kranke,
da er nicht delirirt, verständig; sein über gute Sitte und
Interessen Anderer sich hinaussetzendes Gebahren als sträf-
licher Leichtsinn, zumal da der Kranke es zu entschul-
digen versucht ; seine ausgelassene übermüthige Stimmung
Die Manie (Tobsucht). 131
wird auf Rechnung einer Angetrunkenheit gesetzt, und
so wandert der Vagabund, Dieb, Störer der öffentlichen
Ruhe und des Anstands vorläufig ins Untersuchungs-
gefängniss.
Die Nonchalance, Unbotmässigkeit in Haft und Ver-
hören wird für Frechheit gehalten und trägt dem Inhaf
tirten Ordnungsstrafen ein. Auffallig ist nur, däss diese
nichts fruchten, der Häftling nach wie vor auch ohne Ge-
tränke in seiner ausgelassenen Laune verharrt, wenig
schläft und die nächtliche Ruhe stört.
Das erfahrene Auge des Sachverständigen erkennt in
dem Spassmacher und Unruhestifter den maniäkalischen
Kranken.
Die Stimmung ist eine grundlos heitere und damit
krankhafte. Das Selbstgefühl des Kranken ist ein ge-
steigertes und daraus erklärt sich sein tibermüthiges Wesen.
Er ist leicht verletzlich und deshalb kam er mit den Or-
ganen des Gesetzes, mit den Leuten auf der Strasse und
im Wirthshaus in Conflikt, wie er sich im Gefängniss mit
Gefangnisswärtern, Mitgefangenen und Disciplin des Hauses
nicht verträgt.
Seine Laune, gelegentliche zornige Auftritte mit der
Umgebung abgerechnet, ist eine heitere und wird auch
durch seine Einsperrung nicht getrübt. Er ist nach wie
vor ein Spassmacher, neckt die Umgebung, deren komische
und schwache Seiten er gleich herausgefunden hat. Er ist
begehrlich, anmassend, herrisch, cynisch, übermüthig, ge-
sprächig, witzig, ironisch, unstet, zu Excessen aller Art
geneigt.
Bevor er inhaftirt wurde, hat er herumvagabundirt,
gestohlen, gezecht, mit Gästen und Wirthen sich nicht
vertragen, Personen des anderen Geschlechts gegenüber
sich Unziemliches erlaubt, die nächtliche Ruhe gestört, Be-
schädigungen in öffentlichen Anlagen begangen, Fenster
eingeschlagen, die Sicherheitsorgane verhöhnt, sich der
Verhaftung widersetzt. Vor dem Richter weiss er die in-
132 Geisteskrankheiten.
criminirenden Facta als harmlose Spässe hinzustellen oder,
in die Enge getrieben, setzt er sie auf Rechnung einer
Angetrunkenheit, der Provokation Seitens Dritter oder be-
hauptet, sich derselben nicht mehr zu erinnern.
Trotz aller Redegewandtheit und Beweise von Um-
sicht ist der Betreffende gleichwohl ein Geisteskranker.
Sein Gefühlsleben ist exaltirt, seine Triebe sind gestei-
gert, sein Gedankengang krankhaft beschleunigt, seine Hand-
lungen unüberlegt.
Es fehlt ihm die Besonnenheit. Seine Auffassung der
Beziehungen zur Aussenwelt ist eine verfälschte, insofern
sie ihm im rosigsten Licht erscheint, und sein krankhaft
gesteigertes Kraftgefühl ihn Schwierigkeiten, die seinem
Wollen und Vollbringen entgegenstehen, nicht mehr wahr-
nehmen lässt. Dadurch wird er kühn, unternehmungslustig.
Sein Gedankenablauf ist so gesteigert, dass ein ruhiges Be-
sinnen und Ueberlegen schon formal ihm nicht mehr mög-
lich wird, aber auch die hemmenden, controlir enden, sitt-
lichen und rechtlichen Motive der gesammten früheren
Lebenserfahrung und Erziehung treten bei der Störung des
Bewusstseins gar nicht mehr oder bei der Beschleunigung
seines Vorstellens verspätet, d. h. erst nach geschehener
Handlung ins Bewusstsein. Zudem sind seine sinnlichen
Triebe und Begierden durch die Hirnkrankheit abnorm ge-
steigert. Damit werden seine Handlungen zwangsmässig,
triebartig und nicht mehr zurechenbar.
Es gibt zahlreiche Fälle von maniakalischer Exaltation,
wo im Anfang oder gegen Ende des Krankheitsanfalls die
Anomalien des Fühlens und Vorstellens wenig ausgesprochen
sind, dafür aber das Triebleben vorwiegt und Impulse zur
Aneignung fremden Eigenthums, Drang zu geschlechtlicher
Befriedigung die einzig markanten Erscheinungen des Krank-
heitsbilds, wenigstens für den Laien, darstellen. Entspre-
chende Handlungen des Kranken werden dann leicht falsch
beurtheilt, wenn blos die Handlung und ihre unsittlichen
Motive und der Umstand, dass der Kranke seine Hand-
Manie in periodischer Wiederkehr. 133
hingen zu beschönigen und verständig zu reden weiss, in
Betracht gezogen werden.
Abgesehen von den obgeschilderten Anomalien der
Stimmung, dem Rededrang, dem auffälligen Abspringen
der Gedanken vom Thema, der Unerschöpflichkeit des
Redestroms, dem grossen Selbstgefühl, der Dreistigkeit, ja
selbst Frechheit des Benehmens, sind auch die Handlungen
derartiger Maniakalischer selbst für den aufmerksamen
Laien auffällig dadurch, dass sie rücksichtslos sind, mit
bezeichnender Hast und Unruhe ausgeführt, dass der Be-
treffende nicht naheliegende Vortheile, die er aus seiner
Unternehmung ziehen konnte, verfolgte, unbedacht und un-
besonnen handelte, so dass die Entdeckung nicht ausbleiben
konnte.
Dazu kommt weiter die Erwägung, dass die Strebungen
und das ganze Gebahren in grellem Widerspruch mit der
früheren gesunden Persönlichkeit stehen, dass die Unruhe
und Unstetigkeit bald zunimmt, bald abnimmt, der Schlaf
gering ist oder selbst ganz fehlt.
Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass solche
Krankheitszustände nicht selten periodisch, d. h. in an-
nähernd gleichen Zeiträumen wiederkehren, und dass dann
dieselben Triebrichtungen (z. B. zum Uebergenuss geistiger
Getränke — Dipsomanie) wiederkehren. Gerade hier können
die begleitenden Erscheinungen des maniakalischen Krank-
heitsbilds temporär sehr gering zu Tage treten. Die wieder-
holte Begehung strafbarer Handlungen, z. B. Diebstähle,
Unzuchtsvergehen in annähernd gleichen Zeitabschnitten,
unter gleichen Modalitäten und in gleicher Ausführungs-
weise können wichtige Fingerzeige werden.
Die strafbaren Handlungen Maniakalischer sind theils
durch Steigerung des Trieblebens (Unzuchtsvergehen, Weg-
nahme von Nahrungsmitteln, Genussmitteln, wie Spirituosen,
Tabak etc.), theils durch die gemüthliche Erregbarkeit und
das gesteigerte Selbstgefühl (Raufhändel, Widerstand gegen
die Sicherheitsorgane etc.), theils durch die übermüthige
134 Geisteskrankheiten .
Laune und den Drang nach Muskelbewegung (muthwillige
Zerstörung von fremdem Eigenthum, Störung der öffent-
lichen Ruhe, Vagabundiren u. dergl.) bedingt. Ausserdem
sind bei der Achtlosigkeit derartiger Kranker fahrlässige
Brandstiftungen und bei der Trübung ihres ethischen Be-
wusstseins Religionsstörungen, Verletzung des öffentlichen
Anstands, Zechprellereien u. dergl. möglich.
Da wo die Manie in Form periodisch wiederkehrender
Anfalle sich äussert, ist es nöthig, auch bei strafbaren Hand-
lungen, die in dem Zwischenraum zweier Anfalle begangen
wurden (intervallum lucidum), den Geisteszustand des Thä-
ters sorgfaltig zu prüfen.
Nur höchst selten und zwar bei noch nicht lange be-
standener und in seltenen Anfallen sich äussernder Krank-
heit werden die Bedingungen für die Annahme der Zu-
rechnungsfähigkeit in diesem Intervall sich finden. Es ist
wohl zu beachten, dass in diesen „lichten* Zwischenräumen
zwar die Krankheit äusserlich schweigt, aber gleichwohl
der krankhafte Zustand des Gehirns fortdauert, gerade so
wie der Wechselfieberkranke, wenn der Fieberanfall vor-
über ist, noch nicht als gesund betrachtet werden kann,
dass ferner das periodische Irresein fast ausschliesslich bei
belasteten Individuen (sog. Entartungszustände) vorkommt
und schon nach wenigen Anfallen die höheren Geistesfunk-
tionen (Schwachsinn) und der Charakter (Gemüthsreizbar-
keit, verminderte Zugkraft der sittlichen Energie) zu leiden
pflegen. Da zudem es vielfach unmöglich ist, das lucidum
intervallum zeitlich scharf von den letzten bemerkbaren und
den ersten wiederauftretenden Symptomen der Krankheit
abzugränzen und den Einfluss des vorgängigen oder fol-
genden Anfalls auf eine strafbare That auszuschliessen,
dürfte es misslich sein, lucida intervalla im Criminalforum
zur Geltung zu bringen und erst zu beweisen sein, dass
Jemand, der nicht lange Zeit vor und nach einer That
geistesgestört war, frei gehandelt habe. Endlich muss auf-
merksam gemacht werden, dass es ein periodisches Irre-
Wahnsinn, 135
sein, bestehend im Wechsel maniakalischer und melancho-
lischer Zeiten (circuläres Irresein), gibt und das melancho-
lische Stadium der Krankheit für ein lucides irrthümlich
gehalten werden könnte.
3. Wahnsinn (Verrücktheit).
Die Grunderscheinung in dieser häufigen und prak-
tisch wichtigen Form des Irreseins bilden Wahnideen
und Sinnestäuschungen. Dadurch ändern sich die Be-
ziehungen des Individuums zur Aussen weit (Wahnsinn),
ja die Persönlichkeit kann eine ganz andere werden (Ver-
rücktheit). Dieser krankhafte Vorgang stört an und für
sich nicht die Processe des Urtheilens und Schliessens.
Auch der Wahnsinn hat seine Logik, aber die Prämissen
sind falsche — gefälschte Sinnes Wahrnehmungen, Wahn-
ideen. Daneben können ganz richtige Wahrnehmungen
stattfinden, aber alle Vorgänge in der Aussenwelt haben
mehr weniger eine Beziehung zum krankhaften Ideen-
kreis, werden durch die Brille des Wahns wahrgenommen
und entsprechend verarbeitet. Die früheren Kenntnisse
und beruflichen Leistungen gehen nicht verloren, so dass
solche Kranke oft noch lange ihrem Berufe vorstehen; die
Beziehungen zu Familie und Gesellschaft erfahren im Sinne
der geänderten Beziehungen zur Aussenwelt tiefere Störungen.
Es kann in diesem eigenthümlichen Umwandlungsprocess
der Persönlichkeit das ganze bisherige gesunde Leben mit
seinen Eindrücken und Erfahrungen der Erinnerung des
Kranken erscheinen, wie wenn es ein Anderer erfahren,
wie wenn es der Kranke in einem Roman gelesen hätte.
Während solche Kranke noch lange das besitzen, was man
in landläufiger Weise mit „Verstand" bezeichnet und deni-
gemäss wahrnehmen, urtheilen und schliessen können, sind
ihre höheren geistigen Funktionen tief geschädigt. Ihre
Logik und Kritik liegt darnieder und das Zeugniss aller
bisherigen Lebenserfahrung ist wirkungslos gegenüber den
136 Geisteskrankheiten.
ihrem Bewusstsein sich aufdrängenden, wenn auch noch
so absurden Wahnideen; ihre früheren geistigen Interessen
sind verloren gegangen, ihr Gemüth und ethisches Fühlen
sind abgestumpft. Nur der Wahnkreis vermag noch ge-
müthliche Regungen hervorzurufen, die aber sehr affektvolle
werden können, und zu Handlungen anzuregen. Dass bei
solchen Kranken strafbare Handlungen nicht mehr zu-
gerechnet werden können, da sie durch falsche Auffassung
der Verhältnisse der Aussenwelt bedingt und vielfach von
einer der früheren gesunden Persönlichkeit ganz fremden
begangen werden, kann keinem Zweifel begegnen, auch
da nicht, wo ein direkter Zusammenhang der That mit dem
Wahnkreis nicht nachzuweisen ist. Die Schwierigkeit für
den Laien und zuweilen auch für den Sachverständigen
besteht nur darin zu erkennen, dass eine schwere, ja ge-
wöhnlich unheilbare Geisteskrankheit vorliegt.
Diese Schwierigkeit entsteht daraus, dass die Krank-
heit sich in der Regel ganz allmählig und oft schon in
frühen Jahren entwickelt und das sonderbare Benehmen
des Kranken noch als Charakteranomalie, Excentricität
gedeutet werden kann, zumal da der Kranke äusserlich
besonnen ist, nicht oder nur gelegentlich Gemüthsauf-
regungen zeigt, objektiv richtige Schlüsse und Urtheile
macht, berufliche Leistungen noch zu erfüllen vermag,
seine Wahnideen verheimlicht, aus solchen entspringende
Handlungen zu entschuldigen vermag, seine Wahnideen
an und für sich nicht immer den Stempel der Verrückt-
heit an sich tragen (Verfolgungswahn, Wahn ehelicher
Untreue). So geschieht es leicht, dass der Kranke für
einen Bösewicht, Rabulist, Lügner, Fanatiker gehalten
wird oder blos für einen verschrobenen, mit einer Schrulle
behafteten Menschen, oder dass man im besten Fall zwar
die jjfixe Idee a erkennt, aber durch das im Uebrigen be-
sonnene, anscheinend vernünftige Wesen, den Schein der
Vernunft für deren Wesen nimmt, solche Menschen für
gesund bis auf ihre fixe Idee hält und darauf die aller
VerfolgtiDgs Wahnsinn. 137
wissenschaftlichen Erfahrung widerstreitende Irrlehre einer
partiellen Zurechnungsfahigkeit gründet.
Täuschungen über den Zustand der Kranken sind um
so leichter möglich, als ihre Handlungen gerade so prä-
meditirt erfolgen können wie die Geistesgesunder und ihre
Motive, obwohl in Wahnideen wurzelnd, durchaus das Ge-
präge des Affekts, der Leidenschaft, des Fanatismus be-
sitzen können.
Für den richterlichen Laien wird der Schwerpunkt
der Beurtheilung des Falls in dem Nachweis von Wahn-
ideen und Sinnestäuschungen im Gegensatz zu den Hand-
lungen des Verbrechers, des Fanatikers, des Abergläubischen
liegen. Der ärztliche Sachverständige hat den Beweis zu
erbringen, dass diese Kriterien des Wahnsinns Theilsym-
ptome eines Krankheitszustands sind, der wieder zurück-
fuhrbar ist auf eine Hirnkrankheit.
Als praktisch wichtige Formendes Wahnsinns ergeben
sich der Verfolgungs- und der religiöse Wahnsinn.
a) Der Verfolgungswahnsinn.
Die Entstehung dieser Wahnsinnsform ist nur selten
eine plötzliche, meist eine langsame unvermerkte. Sie ent-
wickelt sich aus einer charakterologisch abnormen, ver-
schlossenen, reizbaren, leutscheuen Persönlichkeit, die Sym-
ptome von nervöser Erkrankung (Nervenschwäche, Hysterie,
Hypochondrie) nlfeist schon seit Jahren darbot.
Dem Auftreten der Wahnideen geht ein Monate bis
Jahre dauerndes Stadium voraus, in welchem die Kranken
sich im Verkehr mit der Aussenwelt blos zurückgesetzt
und missachtet fühlen. Später beziehen sie harmlose Sätze
in Zeitungen, Predigten u. dgl. in feindseliger Weise auf
sich, halten das zufällige Ausweichen der Leute in Lokalen
und auf der Strasse für ein absichtliches. Sie bemerken,
dass die Leute ihnen verächtliche oder drohende Geberden
machen, dass man vor ihnen ausspuckt, sie hören be-
138 Geisteskrankheiten.
leidigende oder lieblose Anspielungen aus den Gesprächen
der Umgebung. Auf der Höhe der Krankheit hören sie
Stimmen, die Verfolgungen, Complote enthüllen, den Kranken
in gemeinster Weise beschimpfen. Je nach besonderer ver-
anlassender Ursache der Krankheit (Onanie, Gebärmutter-
leiden, Magendarmcatarrh u. s. w.) bilden sich Wahnideen
der Vergiftung, schädlicher Beeinflussung mit geheimniss-
vollen Maschinen, mit Elektricität, Magnetismus, giftigen
Dunsten u. dgl. Körperliche Schmerzen, Betäubungs- und
Druckgefühle im Kopf, Verdauungsbeschwerden werden im
Sinn dieser Delirien gedeutet und zu ihrem Aufbau ver-
werthet. Die Urheber dieser Verfolgungen werden in
Familienangehörigen, Hausgenossen, Jesuiten, Socialdemo-
kraten, den Organen der Polizei u. dgl. gesucht und ge-
funden. Auf der Höhe der Krankheit werden fast alle
Wahrnehmungen und Sensationen im Sinne des Wahns
gedeutet.
Trotz dieser peinlichen Bewusstseinszustände ist die
Besonnenheit dieser Kranken oft noch lange erhalten. Nur
gelegentlich kommt es zu Affekten. Auffällig ist das noch
scheuere, misstrauische Wesen des Kranken, seine Gereizt-
heit gegen die Umgebung.
Im Anfang der Krankheit verhalten sich diese Un-
glücklichen beobachtend, passiv, defensiv gegen die Ver-
folgungen und Verfolger. Sie fliehen, wenn sie können,
treffen Schutzmassregeln zur Rettung ihres Lebens, ihrer
Ehre, Freiheit, versehen sich mit Waffen, (3-egengiften u. dgh
Eines Tags reisst ihnen die Geduld. Sie stossen Drohungen
gegen ihre vermeintlichen Feinde aus, wenden sich um
Schutz und Rechtshülfe an Staatsanwalt, Gerichte, Polizei.
Das sind Signale, dass der Kranke gemeingefährlich ge-
worden ist. Von Polizei und Gerichten in ihren vitalen
Interessen nicht geschützt, auf sich selbst angewiesen,
schreiten sie zur Selbsthülfe.
Neuerliche Schmerzen und Betäubungsgefühle bei der
Mahlzeit, eine verdächtige Geberde, ein Hüsteln der Um-
Verfolglingswahnsinn. 139
gebung u. dgl. können dem Kranken eine vermeintlich
drohende Lebensgefahr andeuten und ihn zu einem Handeln
drängen. Er fällt in vermeintlicher Nothwehr über den
eingebildeten Feind her und tödtet ihn. In anderen Fällen
ist es vorgekommen, dass solche Kranke ein Verbrechen
begingen, um im Gefangniss ein Asyl vor ihren Feinden
zu finden. Nicht selten sind auch criminelle Handlungen,
nur um vor Gericht Gehör zu erlangen und das schänd-
liche Complot gegen« den Kranken an die Oeffentlichkeit
zu bringen und durch Verurtheilung der Todfeinde Ruhe
zu bekommen. Die Handlungen dieser Kranken haben das
Gepräge unsittlicher und prämeditirter. Es handelt sich
um scheinbare Akte der Rache, Eifersucht, Leidenschaft.
Auffällig ist nur die Rücksichtslosigkeit des Angriffs*
am hellen Tag, auf offener Strasse, vor Zeugen, die Be-
friedigung über die gelungene That, die dem Kranken als
ein Akt durch Nothwehr gebotener und erlaubter Selbst-
hülfe erscheint.
Obwohl diese Wahnsinnsform nicht gerade schwer er-
kennbar ist, sind Verkennungen des Zustands und unge-
rechte Verurtheilungen nicht selten. Eine der bemerkens-
werthesten ist die in des Verf. Lehrb. d. ger. Psychopathol.
Beob. 34 mitgetheilte, wo ein Kranker wegen Mord seines
vermeintlichen Feindes zu lebenslänglichem Kerker ver-
urtheilt, bald nach dem Urtheil einen weiteren Mord an
einem Mitgefangenen, der ebenfalls für einen Verfolger
gehalten wurde, beging. Nun erst erschien sein Geistes-
zustand zweifelhaft und eine gerichtsärztliche Expertise con-
statirte den seit Jahren bestehenden Verfolgungswahnsinn!
Sicherheitsbehörden , Staatsanwälte , Untersuchungs-
richter sollten solche Kranke mit ihren Klagen nicht ein-
fach abweisen, sondern der Irrenanstalt übergeben, denn
sobald der Kranke droht oder klagt, ist er gemeingefähr-
lich geworden. Gar manche Unthat wäre dadurch ver-
meidbar. Aber auch das Leben der Gerichtspersonen kann
durch solche Kranke gefährdet sein, indem sie, da sie ihre
1 40 Geisteskran kheiten.
Klage bei Gericht nicht anbrachten, nun leicht wähnen,
dass auch die Gerichtsbeamten im Complot mit ihren
Feinden stehen und sich an Jenen vergreifen.
Als eine besondere und für das Forum sehr wichtige
Form des Verfolgungswahnsinns ist noch der als Queru-
lanten- oder Processkrämerwahnsinn bezeichnete zu
erwähnen.
Es handelt sich um Leute, die wegen irgend eines
Vergehens oder einer Civilklage vefurtheilt, sich nun im
Recht und das Gericht im Unrecht glauben, und in dem
schmerzlichen Affekt und der leidenschaftlichen Aufregung,
die diese vermeintliche Kränkung ihrer Rechte verursacht
hat, den Wahn der Verfolgung concipiren. Der aus diesem
Wahn hervorgehende Drang, ihr Recht hergestellt zu sehen,
steigert sich immer mehr, beherrscht ihr ganzes Fühlen,
Vorstellen und Streben, und was Anfangs noch Leiden-
schaft schien, wird immer mehr zur wirklichen psychischen
Krankheit, die keine Einsicht, Correktur, keine Rücksicht
und Vernunft mehr kennt. Mit einer wahnsinnig conse-
quenten Halsstarrigkeit, mit unverschämter Frechheit be-
streiten dann solche Menschen nicht blos die Gerechtigkeit,
sondern sogar die Rechtskraft der gegen sie ergangenen
Urtheile, rekurriren in unablässigen Beschwerden und Ein-
gaben an alle Behörden und Instanzen, ja werfen sich nicht
selten zu Rabulisten und Winkeladvokaten für Andere auf.
Ueberall abgewiesen, werden sie schliesslich insolent und
aggressiv gegen die Gerichtsbehörden, beschuldigen sie der
Partheilichkeit, Unredlichkeit, erlauben sich Amtsehren- und
Majestätsbeleidigungen, Vergewaltigungen an öffentlichen
Beamten, Dienern der bewaffneten Macht, ja selbst Mord
und Todtschlag.
Lange werden gewöhnlich solche Fälle von den Laien
verkannt, denn trotz aller Einsichtslosigkeit für das Thö-
richte und Unziemliche ihres Gebahrens gebieten solche
Kranke in der Regel über eine bewundernswerthe Dia-
lektik und Rechtskenntniss und sind gewandte scharfsinnige
Querulanten- Wahnsinn. 141
Sachwalter ihrer eigenen nur leider auf einer wahnsinnigen
Prämisse beruhenden Sache. Da sie natürlich, kaum be-
straft, desselben Vergehens — meist Amtsehrenbeleidigung
— sich wieder schuldig machen, erscheinen sie als ver-
stockte Bösewichter, bei denen Erschwerungs- und Straf-
schärfungsgründe vorliegen, während ihr unbeugsames Ver-
halten doch nur die nothwendige Consequenz eines Wahn-
sinnes ist. Werden sie endlich in Irrenanstalten internirt,
so setzen sie in rabulistischer, raisonnirender, querulirender
Weise den kleinen Krieg gegen Gesetz und Gesellschaft
fort, und wenn sich je die Thore der Anstalt ihnen öfrhen,
so haben sie ein neues Processobjekt, nämlich die angeb-
liche widerrechtliche Freiheitsberaubung durch die Aerzte
des Irrenhauses.
Die Erkennung des Geisteszustands dieser Querulanten
als eines krankhaften findet, zum Schaden der Justiz, die
viel Zeit und Mühe mit Irrsinnigen verliert und in ihrer
Würde verletzt wird, erfahrungsgemäss erst in vorgerückten
Stadien der Krankheit statt.
Bietet doch der angebliche Kranke dem Laien alle
Kriterien eines geistesgesunden Zustands — logisches Denken
und Urtheilen, überraschende Redegewandtheit, Kenntniss
der Gesetze bis auf die kleinsten Details des gerichtlichen
Verfahrens, leidenschaftliches unsittliches Gebahren u. s. w.
Anders erscheint der Fall dem sachverständigen Auge.
Das formell richtige Denken und Urtheilen erfolgt
nach falschen Prämissen, es fehlt die Möglichkeit, die
Falschheit der Vordersätze zu prüfen und zu erkennen,
weil eine krankhafte leidenschaftliche Erregung ein ruhiges
Ueberlegen hindert, eine mangelhafte Reproduktionstreue
die Thatsachen entstellt im Bewusstsein widerspiegelt und
eine verschrobene alogische Beziehung jener stattfindet.
Dazu finden sich bedenkliche ethische Defekte, trotz aller
Planmässigkeit und Umsicht in der Befriedigung des leiden-
schaftlichen Drangs Recht zu bekommen ein völliger Mangel
der vernünftigen Einsicht in die Erfolglosigkeit, Schädlich-
142 Geisteskrankheiten.
keit,. Widersinnigkeit des- Kampfes um das vermeintliche
Recht.
Dazu die Verbissenheit in Rede und Handlungen, die
krankhafte Rechthaberei, Rabulistik und Wortklauberei,
die Hast und der Zwang im ganzen Gebahren dieser
Kranken, ihre Schreibsucht mit charakteristischer Wort-
verdrehung und Unterstreichen von Kraftstellen, die Mass-
losigkeit der Ausdrucks weise , die aller Kritik und übler
Erfahrung gegenüber unerschütterliche Ueberzeugung vom
wahnhaften Recht und widerfahrenen Unrecht bis zu aus-
gesprochenem Verfolgungswahn, das krankhafte Misstrauen,
das erhöhte Selbstgefühl bis zu deutlichen Ueberschätzungs-
ideen, das Haschen nach Anlässen, um neue Objekte zum
Processiren aufzufinden.
Lässt eine derartige synthetische Erfassung des zweifel-
haften Krankheitszustands keinen Zweifel mehr zu, so ver-
dient noch ausserdem der Umstand Beachtung, dass eine
solche Processlust nicht von ungefähr entsteht, sondern
eine besondere psychische Prädisposition voraussetzt.
Die dem Querulanten Wahnsinn anheimfallenden Men-
schen sind durchweg belastete, meist erblich veranlagte
Menschen, ethisch defekt, geistig beschränkt, originär ver-
schroben, trotz allem Rechtsbewusstsein nie zu einer sitt-
lichen Auffassung des Rechts gelangend, jähzornig, sich
selbst überschätzend, brutale Rechthaber und unverträgliche
Egoisten. Bei vielen besteht schon in frühen Jahren eine
förmliche Processlust.
Nur auf Grund solcher Charakteranomalien und Be-
lastungserscheinungen ist es erklärlich, dass ein gering-
fügiger Rechtsstreit, in welchem derart Belastete unter-
legen sind, eine so schwere geistige Störung zur Folge
haben kann.
Unter allen Umständen ist beharrliches Queruliren vor
Gericht ein Moment, das dem Gerichtsbeamten den Ver-
dacht auf einen geisteskranken Zustand erwecken muss.
Endlose Processe, Vernichtung des Wohlstands der Familie,
Religiöser Wahnsinn. 143
Störungen der öffentlichen Ordnung, Untergrabung der Ach-
tung vor dem Gesetz und dessen Vertretern in gewissen Volks-
klassen, ungerechte Verurtheilungen, blutige Gewaltthaten,
denen selbst Richter zum Opfer fallen können, Hessen sich
vermeiden, wenn schon früh die Richter den Geisteszustand
solcher Processer untersuchen lassen würden und sich nicht
durch deren formale Logik und Dialektik düpiren und zu
nutzlosen, gefährlichen und ungerechten Massregelungen
dieser Unglücklichen bestimmen Hessen.
b) Der religiöse Wahnsinn.
Der überhandnehmende religiöse Indifferentismus hat
jene Zustände von religiösem Wahnsinn, die in vergangenen
Jahrhunderten eine Rolle spielten, selten gemacht. Es sind
heutzutage fast ausschliesslich geistig beschränkte, von
Kindsbeinen auf verschrobene, religiös unrichtig beein-
flusste, zuweilen auch epileptische Individuen, die dieser
Form des Wahnsinns anheimfallen. Neben der religiösen
Richtung des Gemüths findet sich in der Regel eine starke
Sinnlichkeit in geschlechtlicher Beziehung und geschlecht-
liche Excesse, namentlich Onanie, sind häufig die excitiren-
den Momente, welche religiöse Ecstasen, Hallucinationen
hervorrufen und damit den Grund zu Wahnideen (Messias,
Prophet, Mutter Gottes etc.) legen. Solche Kranke sind
höchst gemeingefährlich. Sie werden es durch ihren patho-
logischen Fanatismus, von Gott empfangene Befehle (Hallu-
cinationen), verrückte Auslegung von Bibelstellen. Reli-
gionsstörung, Aufregung und Fanatisirung beschränkter und
bigotter Mitglieder der Gesellschaft, Mord vermeintlich un-
würdiger oder irrgläubiger Priester, Tödtung von Ange-
hörigen, um sie der Freuden des Paradieses theilhaftig zu
machen, sie vor Sünden zu bewahren, in Nachahmung
Abrahams ein Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, sind
naheliegende und bis in die neueste Zeit in den Annalen
der Wissenschaft verzeichnete Unthaten solcher Wahn-
144 Geisteskrankheiten.
sinniger. Bei jeder Gewaltthat aus religiösen Motiven wird
ein einsichtsvoller Richter den Geisteszustand bedenklich
finden und untersuchen lassen. Die diagnostische Frage
wird sich darum drehen, ob blos religiöser Fanatismus, der
dann die Bedeutung eines mildernden Umstands verdienen
dürfte oder unzurechnungsfähig machender Wahnsinn vorliegt.
Entscheidend sind Wahnideen und Sinnestäuschungen. In
der Regel sind sie die greifbaren Motive der That. Die
Einsichtslosigkeit für deren Bedeutung, die Befriedigung
des Thäters über deren Gelingen, Fortdauer von Sinnes-
täuschungen, zeitweise wiederkehrende religiöse Exaltations-
zustände, die alogische urverrückte Auslegung von Stellen
der Bibel, Aeusserungen von Selbstkasteiung, Selbstver-
stümmelungen (besonders an den Geschlechtsorganen) bis
zu Versuchen der Selbstkreuzigung in majorem dei gloriam
werden die letzten Zweifel über die Deutung des Zustands
als eines krankhaften beseitigen.
4. Erworbene geistige Schwächezustände.
Sie sind theils Ausgänge nicht zur Heilung gelangter
Melancholien, Manien, Wahnsinnszustände, theils begleitende
Erscheinung von das Gehirn und seine Umhüllungen mit
Einschluss der Gehirnrinde befallenden und zum allmähligen
Schwund dieser führenden Ernährungs- und Blutlaufs-
störungen bis zu ausgesprochenen Formen der chronischen
Entzündung.
Als Ursachen ergeben sich irgendwie entstandene acute
Entzündungen der Gehirnhäute (z. B. nach Kopfverletzung,
Sonnenstich), Entartung der Blutgefässe im höheren Alter
und auf Grund von Ausschweifungen (namentlich im Trunk),
sowie heerdartige Gehirnerkrankungen, z. B. blutiger Schlag-
fluss.
Das Krankheitsbild ist in derartigen Fällen primärer
und organischer Hirnaffektion das eines fortschreitenden
Blödsinns mit Lähmungserscheinungen und durch zeitweise
Erworbene Schwächezustände. 145
Blutlaufsstörungen und Reizvorgänge im Gehirn bedingten
Aufregungszuständen.
Die Ausgangszustände der Gemüthskrankheiten und
Wahnsinnsformen sind solche sog. secundärer Verwirrtheit
oder Verrücktheit oder des erworbenen Schwach- bis Blöd-
sinns.
Die Zustände secundärer Verwirrtheit charakterisiren
sich durch Zerfall der bisherigen einheitlichen Persönlich-
keit, durch Verlust der höheren psychischen Leistungen
der Urtheilsbildung, der logischen Ideenverbindung, durch
Verblassen der Wahnideen, Zurücktreten der Sinnestäu-
schungen und Affekte.
Zeitweise noch aufdämmernde Wahnideen, Sinnes-
täuschungen, wiederkehrende Angstanfälle, maniakalische
Erregungen können hier noch strafbare Handlungen her-
beiführen. Die Erkennung der schweren geistigen Störung
begegnet in solchen Fällen keinen Schwierigkeiten. Anders
liegt die Sache da wo, oberflächlich betrachtet, nur gering-
fügige Schwächungen der höchsten geistigen Funktionen
Folgezustände einer überstandenen Geisteskrankheit oder
Begleiterscheinungen einer anderweitigen Hirnkrankheit sind.
Der anscheinend intakte Explorand ist doch nicht mehr
die frühere geistige Persönlichkeit. Er vermag sich, gleich
wie der originär Schwachsinnige zwar ganz gut in den alt-
gewohnten Bahnen des früheren Lebens und Berufs zurecht-
zufinden, aber es ist nicht mehr der geschickte, t strebsame
Arbeiter und Geschäftsmann von ehedem. Sein Urtheil ist
weniger klar und präcis, die Arbeit geht ihm nicht mehr
so leicht von der Hand. Auch seine Empfindungsweise ist
gegen früher verändert und stumpfer, seine Beziehungen
zur Welt und dem von ihm früher Hoch- und Werth-
gehaltenen sind matter, seine ethischen Gefühle, seine
ästhetischen Urtheile haben nicht mehr die frühere be-
stimmende Kraft und Wärme. Dafür ist er leichter be-
stimmbar in, seinem Urtheil und seinen Neigungen gewor-
den, von geringerer Energie und Ausdauer in seinen Be-
v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 10
146 Geisteskrankheiten.
strebungen, vielfach auch reizbarer, verletzlicher in seinen
Gefühlen und Stimmungen.
Von dieser leisen, oft nur durch Vergleichung der
jetzigen mit der früheren bekannten Persönlichkeit erkenn-
baren Abschwächung der psychischen Gesammtleistungs-
fähigkeit bis zu den extremen Graden des Blödsinns finden
sich unzählige Mittelstufen, charakterisirt durch mehr oder
weniger grosse Ideenarmuth, Trägheit des Vorstellens,
Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses, Energielosigkeit des-
Strebens bis zur Willenlosigkeit.
Sie haben im Allgemeinen grössere Bedeutung für da»
Civilforum, wo die bürgerliche Verfugungsfreiheit oft ange-
fochten wird, jedoch auch die Zurechnungsfahigkeit solcher
Individuen kommt dann und wann in Frage, insofern sie
bei ihrer Reizbarkeit und der Schwäche ihrer intellektuellen
und sittlichen Energien Gewaltthaten begehen, bei ihrer
Lenkbarkeit und psychischen Schwäche sich von perversen
Naturen zu Unterschlagungen, Diebstählen gebrauchen lassen,
bei ihrer Gedächtnissschwäche falsche Eide ablegen, bei
ihrem krankhaft gesteigerten oder durch sittliche Motive
nicht gehemmten Geschlechtstrieb Unzuchtsverbrechen oder
Verletzungen des öffentlichen Anstandes sich zu Schulden
kommen lassen u. s. w.
Eine Hauptsache ist auch hier, dass man nicht au»
einzelnen erhaltenen Leistungen und Urtheilen sich zu vor-
eiligen diagnostischen Schlüssen auf das Verhalten des, Ge-
sammtzustandes bestimmen lasse.
Besonders wichtige und häufig vorkommende Arten
dieser erworbenen geistigen Schwäche sind der Blödsinn
nach Apoplexie, nach Kopfverletzungen und die sog. Gehirn-
erweichung der Irren.
a) Die Dementia nach Apoplexie.
Nur selten stellt sich nach Schlaganfallen, die das Ge-
hirn betroffen haben, die volle frühere geistige Leistungs-
fähigkeit her. In der Regel bleiben mehr weniger beträcht-
Geistesschwäche nach Kopfverletzung. 147
liehe geistige Ausfallserscheinungen zurück und wenn das
Gehirn einem Marasmus und Schwund anheimfallt, kommt
es zu einem fortschreitenden Blödsinn. In leichteren Fällen
besteht ein massiger Grad von Schwachsinn, der sich in
grösserer Bestimmbarkeit, gemüthlicher Weichheit, Reiz-
barkeit, geistiger Schlaffheit, Abschwächung der intellek-
tuellen und ethischen Funktionen kund gibt. In schwereren
Fällen leidet das Gedächtniss, die Sprache, bleiben die Rela-
tionen zur Aussenwelt unklar bis zum Verkennen der Per-
sonen und dem Verlust des Bewusstseins von Zeit und Ort.
Nicht selten kommt es zeitweise zu ängstlichen Erregungs-
zuständen, Verfolgungsdelirien.
b) Geistige Schwächezustände nach Kopfverletzung.
Selbst nach geringfügigen Kopfverletzungen können
die geistigen Funktionen gestört werden. Glücklicherweise
ist dies nicht häufig der Fall und sind die Kopfverletzungen,
auf die in foro als die Geistesgesundheit schädigende That-
sachen in der Lebensgeschichte des Thäters hingewiesen
wird, meist ohne Bedeutung. Immerhin sind aber Kopf-
verletzungen keine so seltene Ursache von geistiger Infir-
mität oder Störung, namentlich wenn sie im Kindesalter
erfolgten, und der Richter wird gut thun, eine solche Kopf-
verletzung, wenn Vermuthungen dafür sprechen, dass sie
nicht ohne Folgen geblieben sei, nicht ohne Weiteres zu
ignoriren und wenigstens den Geisteszustand untersuchen
zu lassen. In den Fällen von Geistesstörung bei Ver-
brechern, welche Delbrück beobachtet hat, finden sich auf-
fallend häufig Kopfverletzungen, ganz besonders bei Ge-
wohnheitsdieben, und 'die Fälle sind in den Annalen der
gerichtlichen Medicin nicht selten, wo die Nichtberücksich-
tigung einer Geistesstörung nach Kopfverletzung ungerechte
Verurtheilung, sogar zum Tode herbeigeführt hat.
Besonders wichtige Folgen einer Kopfverletzung sind
Aenderung des Charakters, abnorme Gemüthsreizbarkeit
148 Geisteskrankheiten.
und Unfähigkeit früher gewohnte Mengen spirituöser Ge-
tränke zu ertragen (s. u. Zustände pathologischer Alkohol-
reaktion). Wo derartige Hirnsymptome nach einer Kopf-
verletzung sich entwickelt haben, muss bei einem Ange-
schuldigten der Geisteszustand jedenfalls untersucht werden.
Besonders wichtig und leicht verkennbar sind Zustände von
massigem aber forensich schwer ins Gewicht fallendem
Schwachsinn in Verbindung mit krankhafter Gemüthsreiz-
barkeit, ferner solche von vorwiegendem sittlichem Schwach-
sinn mit unsittlichen Neigungen und Trieben. Besonders
häufig sind dann bei solchem Irresein nach Kopfverletzungen
Affektverbrechen (Todtschlag, Raufhändel etc.). So ist
dem Verfasser der Fall eines Kranken bekannt, bei wel-
chem die ethisch- intellektuelle Störung nach einer schweren
Kopfverletzung sich in Diebstahl, Bettel, sexuellen und
Alkoholexcessen, Vagabundiren und Raufhändeln kundgab.
Der Kranke wurde nach zahlreichen Bestrafungen und poli-
zeilichen Massregelungen endlich als geisteskrank erkannt,
in die Irrenanstalt gebracht, in welcher er nach Jahren
starb. Die Sektion ergab eine chronische Entzündung der
Gehirnhäute.
c) Die Dementia paralytica.
Von hervorragendem Interresse unter den Zuständen
psychischer Schwäche ist endlich die der Laienwelt unter
der Bezeichnung der „Gehirnerweichung der Irren" be-
kannte Krankheit auch für das Forum, da an ihr Leidende
nicht selten mit dem Strafgesetz in Collision kommen, und
leider nur zu häufig ihr krankhafter Zustand verkannt wird.
Namentlich sind es die Prodromalperiode der Krankheit
und das in ihrem Verlaufe nicht seltene maniakalische Exal-
tationsstadium, wo dies möglich ist, während in dem Sta-
dium des Grössenwahnes sowie des finalen Blödsinns eine
Täuschung über den Zustand kaum mehr möglich sein wird.
Die Prodromalperiode dauert zuweilen ein bis mehrere
Dementia paralytica. 149
Jahre und äussert sich vielfach nur in einer ganz allmählig
sich vollziehenden Aenderung des Charakters, der Sitten
und Neigungen, ohne alles Auftreten von Wahnideen,
Sinnestäuschungen oder Affekten. Diese Umänderung des
Charakters betrifft zuweilen vorwiegend die ethische Seite.
Die früher geläufigen und Obersatze des ganzen Denkens
und Handelns gewesenen Begriffe von Anstand und Sittlich-
keit lockern sich, verschwinden gänzlich, es kommt zu Zu-
ständen deutlicher moral insanity. Die Kranken vernach-
lässigen ihre Geschäfte und ihr Aeusseres, ergeben sich
auch meist Alkoholexcessen , die sie schlecht ertragen,
treiben sich in Bordellen herum, halten sich Maitressen,
erlauben sich Verletzungen des öffentlichen Anstandes und
kommen dadurch in Conflikte mit der Polizei. Selten ahnt
schon jetzt der Laie, dass hinter der ganzen unsittlichen
Lebensführung nichts Anderes als eine schwere zum Tode
führende Krankheit steckt, obwohl dem Kundigen diese un-
motivirte, stetige und scharf ausgesprochene Umänderung
des ganzen Wesens und Charakters jedenfalls auffallen
muss. Nicht selten finden sich in diesem Stadium schon
deutliche Gedächtnissschwäche, namentlich für die Jüngst-
vergangenheit, Neigung zu Congestionen und Schwindel-
anfällcn, leichte Störungen der Sprache, Ungleichheit der
Pupillen; psychischerseits ausser der Gedächtnissschwäche,
die sich in Vergesslichkeit, Zerstreutheit kundgibt, Zeichen
eines hereinbrechenden psychischen Verfalls, als da sind:
Trägheit, Nachlässigkeit, leichtere Bestimmbarkeit neben
gemüthlicher Erregbarkeit und Weichheit. Auch das Stu-
dium der schriftlichen Arbeiten in dieser Periode ergibt
oft schon beachtungswerthe Erscheinungen. So findet sich
etwa, dass darin Worte und Buchstaben ausgelassen sind,
dass Datum- und Rechnungsfehler gemacht wurden, es finden
sich fehlende oder unrichtige Interpunktion, beginnende Aen-
derungen der Handschrift, grössere Flüchtigkeit der Schrift-
züge, schiefe Stellung der Buchstaben, Abweichungen von
der geraden Linie, Unsauberkeiten des Papiers — Alles
150 Geisteskrankheiten.
beachtenswerte Spuren getrübter geistiger Klarheit, Be-
sonnenheit und Aufmerksamkeit. Häufig entwickelt sich
im Verlauf einer solchen überhandnehmenden psychischen
Schwäche ein Zustand deutlicher maniakalischer Exaltation.
Die Kranken stürzen sich dann in gewagte Spekulationen,
kaufen, verkaufen, verschenken, sind in steter Unruhe und
Erregung. In der Regel geht damit ein gesteigerter Ge-
schlechtstrieb und eine grosse Neigung zu Alkohol excessen
einher, aus denen Eaufhändel, Körperverletzungen, In-
jurien etc. sich nur zu leicht ergeben. Der gesteigerte
Geschlechtstrieb führt zu Familien- und öffentlichen Skan-
dalen, Sittlichkeitsverbrechen und groben Verletzungen des
öffentlichen Anstandes. Besonders häufig begehen diese
Kranken Diebstähle, aber in so plumper einfältiger Weise,
dass der That die Entdeckung auf dem Fusse folgt. Die
Gedächtnissschwäche ist dabei zuweilen jetzt schon so gross,
dass sie auf frischer That ertappt, nach kurzer Zeit gar nicht
mehr wissen, wie sie zu dem gestohlenen Gegenstand ge-
kommen sind, pure die That ableugnen und dann natürlich
für verschmitzte Spitzbuben gehalten werden bis zu dem
Moment, wo im Gefängniss Tobsucht und Grössenwahn
ausbrechen und den Fall aufklären. Auch in den späteren
Stadien der Krankheit ist Diebstahl eine häufige Erschei-
nung. Meist liegt ihm dann ein universeller Grössenwahn
zu Grund, der Alles für. sein Eigenthum hält. Bewusst-
seinsstörung und Illusionen veranlassen dabei den Kranken,
oft ganz werthlosen Flitterkram zu stehlen, indem er ihn
für äusserst werthvolle Gegenstände hält.
In den Irrenanstalten ist es ganz gewöhnlich, dass der-
artige Kranke Abends alle Taschen mit allem möglichen
Kehricht und Unrath, den sie unter Tags gesammelt, voll
haben. In den späteren Stadien, wo die Dementia das
Krankheitsbild überwuchert hat, sind die criminellen Hand-
lungen hauptsächlich durch die schwere Bewusstseinsstörung
vermittelt. Die Kranken wissen nicht mehr Zeit und Ort,
Mein und Dein auseinander zu halten. Sie begeben sich
Trunksucht. 151
2. B. in fremde Häuser in der Meinung, es sei ihr eigenes,
und tragen daraus Gegenstände fort, sie gehen auf fremdes
Ackerfeld und ernten dort oder richten in triebartiger Ge-
schäftigkeit allerlei Beschädigungen an. Sie verschulden
ferner Feuersbrünste, indem sie z. B. die Kommode für
den Heerd halten und darein Feuer machen, oder achtlos
brennende Zündhölzchen wegwerfen.
Die Erkennung derartiger weitgediehener Fälle ist
nicht schwierig. Die grosse Bewusstseinsstörung , Ver-
gesslichkeit, Gleichgiltigkeit, Einsichtslosigkeit psychischer-
seits, die unverkennbaren Zeichen eines schweren Hirn-
leidens, wie sie sich durch die Bewegungs- und Sprach-
störungen verrathen, sichern die Diagnose.
Die erwähnten Eigentümlichkeiten des Bewusstseins-
^ustandes geben dem Mechanismus des Handelns derartiger
Kranker zudem ein ganz besonderes Gepräge. Ihre Hand-
lungen werden mit einer auffallenden Plumpheit, Brutalität,
Eücksichtslosigkeit, Ungeschicklichkeit und Planlosigkeit,
wie sie nur ein solcher Zustand von Demenz und Bewusst-
seinsstörung bedingen kann, in Scene gesetzt.
Gleichwohl ist es ein ganz gewöhnliches Vorkommen,
dass solche Kranke für wirkliche Diebe gehalten und be-
straft werden, indem man ihre Ungenirtheit für ungewöhn-
liche Frechheit, ihr Läugnen aus Gedächtnissschwäche für
Absicht und Simulation hält und ihre vorgeschrittene Geistes-
schwäche übersieht,
5. Das Irresein durch Ausschweifungen im Trunk (Trunk-
sucht. Alkoholismus chronicus).
• Der fortgesetzte Alkoholmissbrauch führt früher oder
später zu einer sittlichen, intellektuellen und körperlichen
Entartung beim Trunkenbold, deren tiefe organische Be-
deutung sich daraus ergibt, dass die Nachkommen solcher
Säufer in der Mehrzahl an Convulsionen bald nach der
Geburt zu Grund gehen oder nervenschwach und Träger
152 Geisteskrankheiten .
von Krankheitskeimen sind, die sich zu den schwersten
Nerven- und Geisteskrankheiten entwickeln. Die sociale
Bedeutung der Trunksucht lässt sich u. A. daraus ermessen,
dass in Deutschland z. B. etwa 50 °/ aller Verbrechen
unter dem Einfluss von Alkoholexcessen begangen werden.
Der Missbrauch des Alkohol ist ursprünglich ein Laster,
eine Leidenschaft, zu dem jedoch mannigfache sociale Miss-
stände (ungenügende Nahrung) angeborene und erworbene
nervöse Schwäche, geistige Verstimmungen etc. den Anlas»
geben. Mit der Zeit führt aber das Laster zur Gehirn-
krankheit (chronisch-entzündliche Pröcesse) und dadurch
wird die Zurechnungsfahigkeit in Frage gestellt. Nie sollte
der Untersuchungsrichter unterlassen sich zu informiren
ob der Angeschuldigte ein Säufer ist. Die ersten Zeichen
der Störung der Geistesfunktionen pflegen sich in der
ethischen Sphäre kundzugeben als bedenkliche Abnahme
der ethischen Gefühle und sittlichen Correktive. Der
Säufer verliert die Selbstachtung und wird gleichgiltig
gegen die Werthschätzung Seitens seiner Mitbürger. Sein
Pflichtgefühl erlischt gegenüber Gesellschaft, Familie, Be-
ruf, er wird ein brutaler cynischer Egoist (inhumanitas
ebriosa), er wird reizbar, jähzornig (ferocitas ebriosa) und
bietet Zeiten tiefer geistiger Verstimmung bis zum Lebens-
überdruss (morositas ebriosa), Gedächtniss, Intelligenz,
geistige Energie lassen nach, er vermag seinen sittlichen,
geistigen und materiellen Ruin zwar noch vorauszusehen,
aber trotzdem seinem Laster nicht zu entsagen. Ist der
Alkoholgenuss doch das einzige Mittel, das ihm vorüber-
gehend noch ein Aufraffen aus seiner geistigen, gemüth-
lichen und körperlichen Versunkenheit gewährt und er-
möglicht !
So bewegt sich der Trunkenbold auf der schiefen Ebene
seines geistigen, körperlichen und socialen Verfalls immer
weiter abwärts. Es stellen sich Kopfweh, Schwindel, epilep-
tische Zustände ein, die Sinne werden stumpf, es kommt
zu Sinnestäuschungen, zu Muskelschwäche, Zittern, Ent-
Trunksucht. 153
artung der Verdauungsorgane, der Leber, Nieren. Der
Unglückliche erträgt immer weniger den Alkohol, bekommt
davon epileptische Anfalle, Delirien, Wuthanfalle. Der Aus-
gangszustand ist körperliches Siechthum und Stumpfsinn.
Die sittliche und intellektuelle Schwäche dieser Trunk-
süchtigen, ihre krankhafte Gemüthsreizbarkeit führen zu
den verschiedensten Gewaltthaten und Gesetzesverletzungen
(Diebstahl, Unterschlagung, Meineid, Unzucht, Körperver-
- letzungen, Todtschlag, Brandstiftung etc.) und machen sie
in hohem Grad gemeingefährlich. Dazu kommt ein auf-
fallend häufig und früh bei Säufern sich findender Wahn
geschlechtlicher Untreue (Eifersuchtswahn), der sich oft
auf Sinnestäuschungen stützt und nicht selten zu Mord der
vermeintlich ehebrecherischen Gattin und ihres angeblichen
Zuhälters führt. Das Vorkommen dieser fixen Idee bei
Säufern verdient um so mehr alle Beachtung in foro, als
die That ganz den Charakter der Rachsucht, Leidenschaft
an sich trägt, ihr Motiv keine Unmöglichkeit enthält, oft
recht plausibel gemacht wird, und, in frühen Stadien der
Trunksucht wenigstens, die geistigen und körperlichen
Zeichen dieser im Gefangniss mit der Entziehung des
Alkohol rasch zurückzutreten pflegen.
Die Bedeutung und Gefährlichkeit der Trunksucht
wird noch dadurch gesteigert, dass jederzeit, besonders leicht
durch Excesse im Trinken oder durch Entbehrung des ge-
wohnten Nervenreizmittels transitorische Geistesstörung ein-
treten kann. Besonders häufig und wichtig sind Anfälle von
Delirium tremens, trunkfalliger Sinnestäuschung und Ver-
folgungswahn. Heftige Angst, krankhafte Hallucinationen,
feindliche Verkennung der Aussenwelt, schwere Störung
des Bewusstseins können hier die schlimmsten Gewaltthaten
herbeiführen.
Schon in frühen Stadien der Trunksucht muss der
sittlichen und intellektuellen Schwäche, sowie der krankhaften
Gemüthsreizbarkeit Rechnung getragen und auf mildernde
Umstände erkannt werden. Die vorgeschrittenen Stadien
154 Geisteskrankheiten.
sind dem Blödsinn, die episodischen Anfalle von Geistes-
störung dem Wahnsinn gleich zu erachten.
Die Gemeingefahrlichkeit und Unverbesserlichkeit der
sich selbst überlassenen Säufer nöthigt zu polizeilicher
Ueberwachung, in schweren Fällen zur Unterbringung in
Bewahranstalten oder am besten in Trinkerasylen, die hoffent-
lich mit der Zeit in allen Culturländern entstehen werden.
6. Das Irresein der Epileptischen.
Eine überaus, häufige Krankheit ist die Epilepsie und
die statistischen Forschungen ergeben, dass bei 62 °/ dieser
Kranken die geistigen Funktionen zeitweise oder dauernd
gestört sind. Die Bedeutung der Epilepsie für das Forum
ergibt sich damit von selbst und die hohe Procentzahl der
geistig gestörten Epileptiker rechtfertigt die schon im allge-
meinen Theil dieses Buchs gestellte Forderung, dass der
Untersuchungsrichter ein wachsames Augenmerk auf den
Geisteszustand Epileptischer habe und eine ärztliche Beob-
achtung und Untersuchung ihres Geisteszustands verfuge.
Die Forderung ist um so wichtiger als die Art der epilep-
tischen Delirien gerade zu den schwersten Verbrechen An-
lass gibt und ihre Erfüllung lässt hoffen, dass ungerechte
Verurtheilungen dieser höchst unglücklichen Kranken selten
sich ereignen werden. Dass sie unmöglich werden, ist vor-
erst nicht zu hoffen, da die Epilepsie häufig dem Kranken
wie seiner Umgebung unbekannt bleibt, weil die Anfälle
der Krankheit etwa nur zur Nachtzeit oder höchst selten ein-
treten, oder als scheinbar bedeutungslose Schwindel-, Angst-,
Ohnmachtanfälle u. dgl. die gewöhnlichen Anfälle des Leidens
vertreten.
Damit fehlt dann ein wichtiger Hinweis auf die Epi-
lepsie überhaupt und auf die Möglichkeit einer Gefahrdung
des geistigen Lebens. Für den Juristen ist die Thatsache
wichtig, dass verschiedenartige krampfhafte Anfälle mit
Verlust des Bewusstseins die Bedeutung epileptischer haben
Epileptisches Irresein. 155
können, dass die Störung der Geistesfunktionen nicht von
der Intensität und Zahl irgendwie gearteter Anfälle ab-
hängig ist. t
Die Störungen des Geisteslebens beim Epileptiker sind
theils dauernde, theils transitorische.
Die dauernden Störungen äussern sich in Form von
Aenderungen des Charakters im Sinn krankhafter Gemüths-
reizbarkeit, launenhafter Stimmung mit vorwaltender depri-
mirter oft auch hypochondrischer, in Egoismus, Abstumpfung
des Gemüths, Nachlass der ethischen Gefühle bis zu Zu-
ständen wahrer moral insanity mit unsittlichen selbst ver-
brecherischen Antrieben von oft ganz impulsivem Charakter,
in auffälliger Brutalität und Grausamkeit, Misstrauen gegen
die Aussenwelt bis zu Andeutungen von Verfolgungswahn.
Daneben können sich Züge von Bigotterie, krankhafter
Religiosität finden, die dem Charakter in gesunden Tagen
entschieden fremd waren. Neben diesen Charakteranomalien
und ethischen Defekten finden' sich Erscheinungen einer
intellektuellen Schwächung, die durch alle Stufen des
Schwachsinns bis zu völligem Blödsinn sich erstrecken kön-
nen. Einen . mächtigen jedoch vorübergehenden Einfluss
auf das Geistesleben des Epileptikers üben seine Anfälle
aus. Minuten bis Tage vor solchen können Zustände tiefer
geistiger Depression mit Verwirrung der Gedanken, grosser
Gemüthsreizbarkeit, Angst, schreckhaften Hallucinationen,
peinlichen Zwangsvorstellungen oder Verfolgungsdelirien
bestehen und, ähnlich wie beim Melancholischen und Wahn-
sinnigen, zu schrecklichen Gewaltthaten treiben. Analoge
geistige Störungen finden sich häufig im Anschluss an An-
fälle. Da solche häufig der Beobachtung entgehen, die
zur That treibenden psychischen Störungen ganz tran-
sitorische sind, begreift sich die Schwierigkeit der Erken-
nung und Beurtheilung derartiger krankhaft vermittelter
Gewaltthaten. Der Umstand, dass jederzeit bei Epilep-
tischen solche explosive Erscheinungen auftreten können,
nöthigt zur grössten Vorsicht und legt die Wahrscheinlich-
156 Geisteskrankheiten .
keit nahe, dass sie mit einem so leicht der Beobachtung
entgangenen Anfall des Leidens in Verbindung stehen.
Einer der bedeutendsten französischen ^Aerzte erklärt
geradezu „man kann annehmen, fast ohne Gefahr sich zu
täuschen, dass wenn ein Individuum plötzlich, ohne vor-
herige Geistesstörung, ohne bis dahin ein Zeichen von
Geisteskrankheit geboten zu haben, auch ohne leidenschaft-
lichen Antrieb und ohne durch Alkohol oder sonst eine das
Nervensystem heftig erregende Substanz vergiftet zu sein,
einen Mord begeht, dieses Individuum epileptisch ist, dass
es entweder einen gewöhnlichen Krampfanfall oder, was
häufig vorkommt, einen blossen epileptischen Schwindel-
anfall hatte. a
Um so mehr ist nach Trousseau's Erfahrungen dies zu
vermuthen, wenn ein Mord ohne Motiv, eigennützigen Zweck,
ohne Prämeditation, ohne Berücksichtigung von Zeit, Ort,
Mitteln begangen wurde.
An die Zustände der Epilepsie knüpft sich noch ein
weiteres forensisches Interesse, insofern als Vorläufer oder
Nachzügler epileptischer Anfälle, zuweilen auch ohne Zu-
sammenhang mit solchen, transitorische Irreseinszustände
beobachtet werden, die, wenn sie ohne Zusammenhang mit
gewöhnlichen Anfällen der Epilepsie sich einstellen, als
selbständige Anfälle 'eines transitorischen Irreseins im-
poniren und dann unrichtig als „Mania transitoria a u. dgl.
gedeutet werden.
Die heutige gerichtliche Medicin ist in der Lage, der-
artige transitorische Irreseinszustände aus ihren klinischen
Eigenthümlichkeiten als epileptische zu erkennen, auch wenn
sie als freistehende, gleichsam stellvertretende Erscheinungen
eines epileptischen Anfalls sich finden und der Umstand,
dass das Individuum epileptisch ist, vorläufig noch zweifel-
haft erscheint.
Ihre epileptische Bedeutung ergibt sich aus ihrem jähen
Ausbruch und Abschluss mit Vorläufern und Nachzüglern,
wie sie auch beim gewöhnlichen krampfhaften Anfall des
Epileptisches Irresein. 157
Epileptikers beobachtet werden, aus der schweren Bewusst-
seinsstörung des Kranken im Anfall, aus seinen schreck-
haften Delirien (der Verfolgung) und Hallucinationen, na-
mentlich wenn sie mit religiösen, heiteren abwechseln, mit
Angst, grosser Gereiztheit und zeitweisem Stupor sich finden.
Dazu kommt die lückenhafte bis vollkommen fehlende Erinne-
rung für die Erlebnisse des Anfalls, entsprechend der tiefen
Bewusstseinsstörung, jedoch ist zu beachten, dass unmittel-
bar nach dem Anfall die Erinnerung noch vorhanden sein
kann, um dann rasch und dauernd verloren zu gehen.
Auch die Handlungsweise der Kranken ist wichtig, in-
sofern sie, wenn auch anscheinend planmässig und combi-
nirt, doch eine traumhafte, impulsive ist, indem bei dem meist
gleichartigen Inhalt des Bewusstseins in solchen Anfällen
dieselben Handlungen (Diebstahl, Brandstiftung, Mordver-
such etc.) wiederkehren, entsprechend dem schrecklichen
Inhalt des Bewusstseins das Handeln vielfach das Gepräge
wilder Wuth, verzweifelter Gegenwehr, planlosen Vernich-
tungsdrangs bekommt und eine unglaubliche Brutalität und
Grausamkeit aufweist.
Unter den transitorischen Anfällen psychischer Störung
sind ganz besonders wichtig kurzdauernde Zustände geistiger
Umdämmerung bis zum völligen Verlust des Bewusstseins, in
Verbindung mit impulsiven Antrieben zu Diebstahl, zu öffent-
licher Gewalttätigkeit, Brandstiftung, Mord, Unzuchtsver-
gehen. Die rücksichtslose Handlungsweise, die häufige
Wiederkehr identischer Handlungen, die fehlende Erinne-
rung des Angeschuldigten sind geeignet, den Verdacht auf
temporär unfreien, speciell epileptischen Geisteszustand zu
lenken.
Nicht minder sind bemerkenswerth Dämmerzustände
mit heftiger Angst und tiefer geistiger Verworrenheit,
wobei, analog wie beim Melancholischen im Angstanfall,
schwere Gewaltthaten gegen die Umgebung erfolgen können.
Eine Weiterentwicklung solcher Anfalle stellen Dämmer-
zustände mit Delirien und schreckhaften Hallucinationen
158 Geisteskrankheiten.
dar, in welchen der Kranke der feindlich verkannten Aussen-
welt höchst gefährlich wird, tobt und sich verzweifelt seines
vermeintlich bedrohten Lebens wehrt. Eine Varietät dieses
hallucinatorischen Delirs ist das religiöse, in welchem der
Kranke sich im Himmel wähnt, mit göttlichen Personen im
hallucinatorischen Verkehr steht. Auch hier sind auf Grund
von Hallucinationen Gewaltthaten möglich.
Es ist bemerkenswerth, dass trotz der schweren gei-
stigen Verworrenheit der Kranke anscheinend planmässiger,
von Combination zeugender Handlungen fähig ist. Noch
mehr ist dies möglich in anfallsweisen Irreseinszuständen,
in welchen der Epileptiker in einem traumartigen Dämmer-
zustand analog dem Schlafwandler auf Grund von Delirien
und Zwangsvorstellungen complicirte Handlungen z. B.
Reisen vollbringt. Während die Dämmerzustände mit im-
pulsiven Akten oft nur Minuten, die mit Angst und De-
lirium meist nur Stunden bis Tage dauern, können diese
Traumzustände sich auf Wochen erstrecken. Vagabundiren,
Diebstahl, Schwindeleien, Desertion, selbst Mord sind in
diesen Zuständen mehrfach beobachtet und auch falsch be-
urtheilt worden. Ein klassisches Beispiel bietet der vor
Jahren in Berlin verhandelte Fall Holtzapfel (Mord meh-
rerer Personen in epileptischem Traumzustand), in welchem
ein Todesurtheil gefallt, aber auf dem Weg der Gnade
in Zuchthausstrafe umgewandelt wurde.
Diese Traumzustände sind um so wichtiger, weil die
Bewusstseinsstörung wenig augenfällig ist und (wie beim
Nachtwandler) durch ein oft recht planmässiges Handeln
verdeckt ist, ferner dadurch, dass diese Dämmer- und
Traumzustände unvermerkt eintreten können, sich zeitlich
nicht scharf von dem luciden Geisteszustand abheben und
somit ihr zeitlicher Umfang schwer zu bestimmen ist.
Alle diese Thatsachen machen die Frage des Geistes-
zustands Epileptischer zur Zeit einer strafbaren That zu
einer äusserst schwierigen. Die Epilepsie beweist an und
für sich nichts für die Unzurechnungsfähigkeit des an ihr
Epileptisches Irresein. 159
Leidenden, auch das Zusammentreffen einer strafbaren
That mit einem epileptischen Insult beweist nichts, da ein
nicht geringer Procentsatz der Epileptischen geistig intakt
bleibt und geistige Abnormitäten nicht immer dem epilep-
tischen. Anfall vorausgehen oder ihm folgen. Aber die
grösste Vorsicht ist hier nöthig und die Möglichkeit nie
ganz auszuschliessen, dass das schwere Nervenleiden dennoch
einen Einfluss auf die Begehung einer strafbaren That
ausgeübt hat, insofern es etwa die Entstehung von krank-
haften Stimmungen und Affekten begünstigte, Besonnenheit
und Bewusstsein trübte, die Zugkraft sittlicher und intellek-
tueller Gegenmotive schwächte.
Man bedenke nur, dass die psychischen Störungen
beim Epileptischen äusserst flüchtig sein und epileptische
(Schwindel-) Anfalle, die sie bedingten, der Beobachtung
gänzlich entgangen sein können.
Der vorsichtige Jurist wird deshalb gut thun, bei epi-
leptischen Angeschuldigten immer das Gutachten der ärzt-
lichen Sachverständigen einzuholen und anerkennen, dass
die gerichtlich medicinische Wissenschaft gerade diesen
Zuständen gegenüber eine ziemlich hohe Stufe der Sicher-
heit erreicht hat.
Unter allen Umständen wäre es human und klug, in
der Epilepsie an und für sich einen Milderungsgrund für
ein begangenes Verbrechen zu erkennen. Die Flüchtigkeit
und Häufigkeit schwerwiegender psychischer Störungen beim
Epileptischen, die nie ganz auszuschliessende Möglichkeit, .
dass eine strafbare That mit einem psychische Störung
herbeiführenden unbeobachteten epileptischen Insult in Be-
ziehung stand, vielleicht in einem Zustand geistiger Um-
dämmerung zu Stande kam, rechtfertigen diese Forderung.
Die Zustände epileptischen Blödsinns und transitorischer
Geistesstörung bieten der Zurechnungsfähigkeitsfrage keine
Schwierigkeiten.
160 Geisteskrankheiten.
7. Das Irresein der Hysterischen.
Auch die Hysterie, jene vielgestaltige Nervenkrankheit,
die vorzugsweise das weibliche Geschlecht im Alter der
Fortpflanzungsfähigkeit afficirt, bietet mannigfache Be-
ziehungen zur gerichtlichen Medicin, da sie nicht nur in
der Regel mit elementaren psychischen Störungen sich
verbindet, sondern auch in Zustände transi torischer oder
dauernder Seelenstörung übergeht und sich umwandelt.
Die elementaren Störungen der psychischen Funktionen
fehlen wohl nie im Verlaufe einer hysterischen Neurose. Sie
äussern sich theils in abnormer Gemüthsreizbarkeit, die als
üble Laune, Reizbarkeit, äusserlich wenig oder gar nicht
motivirte Verstimmung, in dem Herrschen von Affekten
und leidenschaftlichen Stimmungen, Unzufriedenheit, Zank-
sucht ihren klinischen Ausdruck findet, theils in äusserlich
ganz unmotivirtem Stimmungswechsel, zuweilen deutlich
ausgesprochenem Wechsel von Exaltation und Depression,
womit krankhafte Zu- und Abneigungen gegen Personen
und Objekte, auffallende Sympathien und Antipathien ge-
geben sein können.
Auch im Gebiet des Vorstellens finden sich mannig-
fache Störungen, wesentlich charakterisirt dadurch, dass die
Reproduktionstreue der Vorstellungen Noth leidet, der Vor-
stellungsgang vielfach ein abspringender wird, und oft dem
, gesunden Fühlen und Vorstellen ganz fremde, oft wunder-
liche und verkehrte Vorstellungen auftauchen und mit einer
krankhaften Prävalenz sich im Bewusstsein behaupten.
(Zwangsvorstellungen.) Im Gebiet des Strebens und Wollens
finden sich, neben krankhaft einseitig festgehaltenen Stre-
bungen, eine bezeichnende Willensschwäche und Energie-
losigkeit, die sich in Flüchtigkeit der Strebungen, Bevor-
zugung von absurden ungewöhnlichen Motiven, völliger
Gleichgiltigkeit gegen wichtige Lebensinteressen, vielfach
kundgibt.
Hysterisches Irresein. 161
Auffallende Erregung und selbst Perversion bietet oft
auch die geschlechtliche Sphäre.
Mit der fortschreitenden Steigerung dieser angedeuteten
Anomalien und dem Nachlass der Zugkraft sittlicher Mo-^
tive und Correktive kann es zu criminellen Handlungen
kommen, deren volle Verantwortlichkeit dann fraglich ist.
So führen die krankhafte Verstimmung, der pathologische
Egoismus und die grosse Reizbarkeit der Hysterischen
leicht zu Ehrenkränkungen, Verleumdungen, Denuncia-
tionen ; namentlich die Affekte derselben dauern länger als
bei Personen von gesundem Nervensystem, und nähern
sich oft mehr dem Bild einer Tobsucht als dem eines ge-
wöhnlichen Affekts.
Die grundlose Antipathie gegen gewisse Personen er-
zeugt leidenschaftliche Stimmungen gegen diese, welche
die Motive verbrecherischer Handlungen werden können,
ja selbst die natürlichen Gefühle der Mutterliebe können
sich in krankhafte Abneigung gegen die Kinder ver-
wandeln, und zu brutaler Misshandlung derselben fuhren.
Die übergrosse Einbildungskraft und mangelhafte Repro-
duktionstreue gibt Anlass zu falschen gerichtlichen Angaben
und falschem Eid; der Drang, sich interessant zu machen,
die schliesslich unbeherrschte Lust Aufsehen zu erregen,
führt zu Betrügereien, Intriguen, Simulation. Eine mo-
derne Form des frommen Betrugs, die fast nur auf dem
Boden des Hysterismus vorkommt, aber selten dem aufge-
klärten und energischen Untersuchungsrichter und Staats-
anwalt gegenüber Stich hält, sind die Muttergotteser-
scheinungen, aus denen die Spekulation dann Gnadenorte
schafft.
Sexuelle Erregung erzeugt oft geschlechtliche Ver-
irrungen, grundlose Beschuldigung männlicher Personen der
Umgebung, unzüchtige Handlungen sich gegen die Kranke
erlaubt zu haben, Eifersucht und Argwohn gegen den
Ehemann und damit Skandalprocesse und Ehescheidungs-
klagen. Aus Zwangsvorstellungen, perversen Gelüsten, die
v. Krafft-Ebing, Criminalpsychologie. 2. Auflage. 11
162 Geisteskrankheiten.
wieder aus abnormen Gemeingeftthlsempfindungen entstehen
können, ergeben sich Diebereien, Unterschlagungen etc.
Analog wie bei Epileptischen kommen auch hier im
Zusammenhang mit hysterischen Krampfanfällen oder auch
ohne solche transitorische Irresein szustände verschiedenster
Form hervor. Sie äussern sich als affektartige Zustände,
als delirante mit schreckhaftem oder religiösem und sexuellem
Delir bis zur Ecstase, als manieartige Aufregungen mit im-
pulsiven geschlechtlichen und Diebstahlshandlungen, dauern
Stunden bis Tage, gehen mit erheblicher Störung des Be-
wusstseins einher und werden demgemäss nur lückenhaft
oder gar nicht erinnert. Da schreckhafte Delirien und
Sinnestäuschungen hier seltener als bei den Epileptischen
vorkommen, ist ihre forensische Bedeutung keine sehr grosse,
jedoch sind Fälle von schweren in solchen Zuständen be-
gangenen Gewalttaten (Mord, Brandstiftung) in der Literatur
verzeichnet. Die erotischen Delirien können zu falschlicher
Beschuldigung verübter Unzucht, die manischen Erregungs-
zustände zu Diebstahl führen, die ecstatischen, insofern sie
mit Predigen etc. einhergehen, können die Menge des Volks
erregen, die öffentliche Ruhe stören und die Polizei zum
Einschreiten nöthigen, namentlich wenn sie epidemisch auf-
treten. Die Hysterie kann endlich auch ihren Ausgang in
chronisches Irresein (erotische, dämonomanische Verrückt-
heit, psychische Entartungszustände) nehmen. Am wich-
tigsten, weil nicht auf den ersten Blick erkennbar, sind
Zustände von folie raisonnante. Da sie nicht leicht zur
Bildung von offenbaren Wahnideen führen, rein formale
und affektive Störungen des Seelenlebens setzen, werden
sie gar leicht falsch beurtheilt, da die Kranken social und
ethisch durchaus den Eindruck böser, lügenhafter, schmäh-
süchtiger Weiber machen. Dennoch ist der Zustand nichts
Anderes als Krankheit. Es besteht hier ein durchaus krank-
haftes, in den Extremen sich beständig bewegendes Gefühls-
leben, wir vermissen nicht die Reizbarkeit und Leiden-
schaftlichkeit, die dem Hysterismus eigen ist, die Schmäh-
Hysterisches Irresein. 163
sucht, Lügenhaftigkeit, Verstellungskunst, den krankhaften
Egoismus, die Launenhaftigkeit, die grundlosen Antipathien,
Sympathien, Bizarrerien. Unter der Form von Laune,
Caprice zeigt sich ein deutlich markirter, ganz unmotivirter
beständiger Gefühls Wechsel; wir finden krankhafte Affekte,
krankhaft gesteigerte und vielfach unwiderstehliche Triebe,
namentlich im Gebiete des Geschlechtstriebes, die zu scham-
loser Prostitution, Onanie, zuweilen auch ganz verkehrtem
Gebahren wie Anlegen von Männerkleidern, Neigung nackt
im Zimmer herumzulaufen, sich mit unsaubern Dingen zu
salben, äussern. Der Vorstellungsgang ist abspringend,
bald abnorm verlangsamt, bald bis zur Gedankenjagd be-
schleunigt, von bizarren unvermittelten Vorstellungen ein-
genommen, die einen zwingenden Einfluss auf das Handeln
gewinnen können und in unüberlegten, bizarren Handlungen,
absurden Gelüsten ihren Ausdruck finden. Dabei er-
scheinen die Neigungen, Gewohnheiten, Strebungen in
grellem Contrast mit der früheren gesunden Persönlichkeit,
die total umgewandelt, entartet ist.
Das ganze Wollen und Streben solcher Kranker be-
kommt schliesslich einen triebartigen impulsiven, aller Re-
flexion und alles sittlichen Haltes baaren Charakter, wo-
durch nothwendig theils einfach unmoralische, theils ver-
kehrte und verbrecherische Handlungen (Dieberei, Schwin-
delei, Vagabundiren) entstehen müssen.
Eine gute Dosis Verstellungskunst, ein fast instinktiver
Hang zur Simulation, erschweren zudem die Diagnose sol-
cher Zerrbilder psychischer Existenz.
Die Zurechnungsfähigkeit im transitorischen und chro-
nischen Irresein der Hysterischen ist natürlich aufgehoben.
Schwierigkeit für die rechtliche Beurtheilung bereiten nur
die Fälle mit blossen elementaren Störungen. Blosse Ver-
stimmungen, Launen, Gelüste hysterischer Weiber dürfen
kein Entschuldigungsgrund für criminelle Handlungen wer-
den, doch ist nicht zu übersehen, dass die Hysterie eine
Neurose des gesammten Nervensystems ist, mannigfache
Iß4 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
Erschwerungen der normalen Aeusserung der psychischen
Energien, namentlich nach der sittlichen und Willensseite
sich finden, die Erregbarkeitsschwelle für gemüthliche Reize
bedeutend tiefer liegt, und Affekte leichter eintreten und
das schwache Ich überwältigen.
In der Regel dürfte in derartigen Fällen eine vermin-
derte rechtliche Verantwortlichkeit (mildernde Umstände)
anzuerkennen sein. —
Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Die praktisch-ärztliche und volksthümliche Anschauung
versteht unter Geisteskrankheit andauernde, meist Wochen
und selbst Jahre währende Zustände geistiger Störung, die
selbständige, von allgemeinen oder örtlichen krankhaften
Zuständen des übrigen Körpers, unabhängige Hirnerkran-
kungen darstellen.
Es gibt jedoch psychische Ausnahmszustände, in wel-
chen die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit ebenso
aufgehoben sind wie bei der Geisteskrankheit im engeren
Sinn, jedoch der Verlauf ein rascher, nach Umständen nur
Stunden betragender ist und die Störung der Geistesfunktionen
von mehr weniger deutlich zu Tage liegenden körperlichen
Vorgängen, wie z. B. Fieber, Congestionen zum Gehirn,
Vergiftung, aus bedingt ist. Während eine strengwissen-
schaftliche Auffassung diese Zustände von „transitorischem a
Irresein den chronischen Geistesstörungen anreiht, hat die
Gesetzgebung jene unter einem eigenen Terminus „der
Bewusstlosigkeitszustände" von dem Ganzen der übrigen
Störungen der Geistesthätigkeit abgegränzt. Der gesetz-
liche Begriff der Bewusstlosigkeit ist nicht gleich zu setzen
dem landläufigen, alltäglichen, in welchem ein Individuum
bewusstlos im Sinn einer Aufhebung der geistigen Thätig-
keit überhaupt und damit auch der Fähigkeit, Bewegungs-
akte zu vollbringen, gedacht wird. Die Bewusstlosigkeit
Verdunklung des Bewusstseins. 165
im Sinn des Strafgesetzbuchs deutet nur einen Zustand von
Verdunklung des Bewusstseins an und zwar bis zu dem
Grad, dass das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit und
der Aussenwelt getrübt bis aufgehoben ist. Das Individuum
ist sich als einer denkenden, empfindenden, handelnden
Person nicht mehr bewusst, aber es ist im Stand auf Grund
von inneren krankhaften Erregungsvorgängen (Delirien,
Hallucinationen) mit der Aussenwelt in Verkehr zu treten,
automatisch Handlungen zu verrichten, von denen das
Selbstbewusstsein nicht oder nur dämmerhaft Kunde be-
kommt und die demgemäss nur traumhaft oder gar nicht
erinnert werden.
Sie gehen nicht von der gesunden Persönlichkeit des
Individuums aus, der Bewegungsapparat dient den unbe-
wussten krankhaften psychischen Bewegungsmotiven rein
maschinenartig, die Bewegungsakte sind rein automatische.
Eine wichtige Thatsache ist jedoch, dass trotz aufgehobener
Besonnenheit, Unterscheidungs- , Urtheils- und Wahlfahig-
keit in diesen Zuständen ein anscheinend planmässiges über-
legtes Handeln möglich ist.
Dieser Anschein führt nur zu leicht Täuschungen über
den Bewusstseinszustand des Handelnden zur Zeit seiner
That herbei. Dazu kommt als erschwerendes Moment für
die Erkennung und Klarstellung dieser Zustände ihre Flüch-
tigkeit. Da zudem solche Bewusstlosigkeitszustände häufig
vorkommen, ebenso leicht vorgetäuscht werden können, ist
das forensische Interesse an ihnen kein geringes.
Zwei Umstände sind es, die vorweg Beachtung ver-
dienen und die Nachweisung jener Zustände erleichtern.
Zunächst wird ihre Flüchtigkeit dadurch compensirt,
dass sie Ausdruck oder Folge dauernder krankhafter Ver-
anlagungen oder wirklicher Krankheiten des centralen
Nervensystems sind oder wenigstens, wenn auch vorüber-
gehender, so doch greifbarer körperlicher allgemeiner
Störungen (Fieber, Menstruationsvorgänge etc.).
Ferner entspricht dem Grad, der Art und dem zeit-
166 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
liehen Umfang der krankhaften Bewusstlosigkeit eine Trü-
bung der Erinnerung bis zum völligen Mangel derselben.
Es ergibt sich daraus die Wichtigkeit einer richterlichen
Erhebung und Prüfung der Erinnerungsfähigkeit für die
Zeit der incriminirten That, der genauen Feststellung ihres
zeitlichen Umfangs sobald als möglich nach der Einlieferung.
Die Behauptung des Angeschuldigten, dass er seiner That
sich nicht erinnere , muss sofort den Verdacht auf einen
Bewusstlosigkeitszustand zur Zeit jener erwecken. Die
durch eingehende Vernehmung gewonnene Gewissheit, dass
die Amnesie keine erlogene ist, nähert jene Vermuthung
der Wahrscheinlichkeit und nöthigt zur Berufung des Ex-
perten. Der Nachweis einer wohlcharakterisirten Form
von Bewusstlosigkeit Seitens der Sachverständigen schafft
Gewissheit, die ihre volle wissenschaftliche Sicherheit da-
mit gewinnt, dass eine dauernde Disposition oder Krank-
heit des Nervensystems oder eine somatische Allgemein-
erkrankung als Grundlage jener transitorischen Störung
der Geistesfunktionen (Bewusstlosigkeit) erwiesen wird.
Die frühere Gesetzgebung nahm auf solche krank-
hafte Bewusstseinszustände Bedacht unter der Bezeichnung
„Sinnenverwirrung" x ), ein Ausdruck, dem bei seiner Un-
klarheit der Terminus der „Bewusstlosigkeit", wenn er
richtig aufgefasst wird, entschieden vorgezogen werden
muss, insofern er den Kern der Sache berührt und natur-
wissenschaftlich verständlich ist. Für die Mehrzahl der
unter diesen Begriff fallenden krankhaften Zustände wäre
übrigens der Terminus des transitorischen Irreseins klarer
und klinisch bezeichnender. Die Formen epileptischer und
hysterischer Bewusstlosigkeit wurden schon oben besprochen.
Es erübrigt noch die Besprechung
1. der abnormen Zustände des Schlaf lebens ;
2. der Zustände von Fieber- und Erschöpfungsdelir;
*) Oesterr. Strafgesetz § 2 c. „Sinnen Verwirrung, in welcher der
Thäter sich seiner Handlung nicht bewusst war."
Schlaftrunkenheit. 167
3. der von transitorischer Geistesstörung durch plötz-
liche und tiefe Störungen der Blutcirculation im Gehirn
(Mania transitoria und Raptus melanch.);
4. der Vergiftungszustände durch Alkohol und ander-
weitige Hirngifte;
5. der pathologischen Affektzustände durch originäre
und erworbene krankhafte Hirnzustände.
1. Die Traumzustände.
Dahin gehören die Schlaftrunkenheit (Somnolentia) und
jener eigenthümliche Zustand des Nervensystems, den man
als Schlafwandeln (Somnambulismus) bezeichnet.
a) Die Schlaftrunkenheit.
Sie ist jener eigenthümliche intermediäre Zustand zwi-
schen Schlafen und Wachen, der eintritt, sobald die mit
dem Erwachen gewöhnlich verbundene sofortige "Wieder-
kehr von Selbstbewusstsein und Besonnenheit verzögert
wird, so dass aus dem Traumleben mit herübergenommene
Vorstellungen und Sinnestäuschungen oder falsche Eindrücke
aus der noch nicht zum Bewusstsein gekommenen realen
Welt den traumartigen Bewusstseinszustand unterhalten.
Da aber in diesem intermediären Zustand schon mo-
torische Reaktionen auf diese traumhaften Vorstellungen
möglich sind, hat die Criminalpsychologie ein Interesse an
diesem Zustand, insofern Gewaltthaten von solchen Schlaf-
trunkenen an der traumartig verkannten Umgebung mög-
lich sind, und auch nicht allzu selten vorkommen.
So hat man Fälle beobachtet, wo Leute von einem
beängstigenden Traume gequält und darüber erwacht, in
vermeintlicher Nothwehr gegen eingedrungene Diebe und
Mörder ihre nebenanschlafenden Angehörigen oder Personen,
die sie aus tiefem Schlafe erweckten, feindlich verkennend
tödteten.
Ein erschütternder derartiger Fall findet sich in Bück-
168 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
nill und Tuke's Lehrbuch mitgetheilt. Ein Constabler hörte
aus einem Hause mitten in der Nacht den Angstruf „rettet
meine Kinder!* Er eilte ins Haus und traf eine Mutter
im Nachtkleid, in grösster Verwirrung und Aufregung.
Alles im Zimmer war in wirrem Durcheinander, zwei
kleine Kinder sassen in einer Ecke gekauert. Die Frau
rief beständig: „wo ist mein Säugling? Haben Sie ihn auf-
gefangen? Ich muss ihn zum Fenster hinausgeworfen haben."
Sie hatte das Kind durch eine Scheibe zum Fenster hinaus
auf die Strasse geworfen, ohne jenes zu eröffnen. Sie hatte
geträumt, ihre kleinen Jungen riefen ihr zu, dass das Haus
in Flammen stehe, und in der schlaftrunkenen Sinnesver-
wirrung hatte sie ihr kleinstes Kind zum Fenster hinaus-
geworfen, um es vor den Flammen zu retten.
Die Schlaftrunkenheit als solche ist ein ganz transi-
torischer, nur wenige Minuten dauernder Zustand; nur in
seltenen Fällen werden neue Sinnesdelirien aus einwirken-
den Sinnesreizen erzeugt, unterhalten die hieraus entstehende
Sinnesverwirrung und verzögern die Wiederkehr der Be
sonnenheit. Die Erinnerung an die Erlebnisse des schlaf-
trunkenen Zustandes ist immer nur eine summarische, die
in ihn fallenden Begebenheiten projiciren sich dem wieder-
erwachten Bewusstsein wie ein Traum.
Prädispositionen für die Entstehung der Schlaftrunken-
heit geben alle Umstände, welche den Schlaf besonders
tief machen, namentlich die ersten Stunden des Schlafes
und das jugendliche Alter, Zeiten, in denen der Schlaf
schon physiologisch ein besonders tiefer ist, ausserdem
grosse Strapazen, lange Entbehrung des Schlafes, voraus-
gegangener Genuss von geistigen Getränken, reichliche
Mahlzeit, heisse Schlafstube. Es gibt endlich Constitutionen,
die einen ungewöhnlich tiefen Schlaf haben, und Familien,
in denen mehrere Glieder zu Schlaftrunkenheit disponirt sind.
Veranlassende Ursachen sind böse, schwere Träume,
die den Schlafenden erwecken, oder plötzliches Erweckt-
werden durch Dritte.
Schlafwandeln. 169
Ueber die NichtZurechenbarkeit in solchem Zustande
begangener Thaten kann kein Zweifel bestehen; Schwierig-
keit bereitet nur die Ermitthing des Bewusstseinszustandes
zur Zeit derselben. Es ist hier wichtig zu erforschen, ob
beim Individuum oder seiner Familie schon ähnliche Zu-
stände vorgekommen sind, wie sein Schlaf und Erwachen
gewöhnlich waren, welche sonstige prädisponirende und
occasionelle Momente zusammenwirkten, um den Schlaf zu
einem besonders tiefen zu machen, welche äussere oder
innere Ursachen für die Unterbrechung des Schlafes sich
ergaben, ob die That wirklich in die Zeit des gewöhn-
lichen Schlafes fiel, wie lange dieser schon gedauert hatte,
wie lange der angeblich schlaftrunkene Zustand dauerte,
ob nicht zeitlich zwischen That und Erwachen Reden und
Handlungen fielen, die auf wiedergekehrtes Selbstbewusst-
sein und Apperception schliessen lassen.
Es ist selbstverständlich, dass die That zeitlich un-
mittelbar in den Moment des Erwachens oder Erweckt-
werdens fallen muss, dass sie keine prämeditirte sein, son-
dern nur den Charakter einer unbewussten, zufalligen an
sich tragen kann.
Wichtig ist endlich die genaue Prüfung, welchen Zeit-
abschnitt und welche Punkte die Erinnerung umfasst. Bei
wirklicher Schlaftrunkenheit kann die Erinnerung nur eine
summarische sein und nur den subjektiven Inhalt des Traum-
bewusstseins, nicht aber den objektiven Sachverhalt in sich
begreifen.
Daneben können auch die Vita anteacta, der Leumund,
die fehlende Causa facinoris, das Benehmen nach der That
verwerthet werden.
b) Der Zustand des Schlafwandelns.
Phänomenologisch besteht er darin, dass bei voll-
kommen aufgehobenem Selbstbewusstsein durch spontane
Thätigkeit des Gehirns, gleichwie im Traume, Vorstellungen
170 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
und Sinnesbilder producirt werden, deren Uebergang in
motorische Akte aber nicht gehemmt ist, so dass den Traum-
vorstellungen adäquate und zweckentsprechende Handlungen
möglich sind, während gleichzeitig die Sinneswahrnehmung
aufgehoben oder auf die dem Inhalt des Traumbewusstseins
entsprechenden Objekte eingeschränkt ist. Dieser Hand-
lungen ist sich das Ich nicht bewusst, sie sind rein auto-
matische Akte. Die Erinnerung für die Traumerlebnisse und
natürlich für alle realen Begebnisse fehlt ganz im wachen
Zustand, oder wirkliche Begebenheiten vermeint der Schlaf-
wandler nur geträumt zu haben. Meist ist die Erinnerung
an das in früheren Anfallen Geschehene auf die Zeit der
jeweiligen Anfalle beschränkt, ein eigenthümlicher Zustand
von Doppelleben und Doppelbewusstsein.
Die Literatur besitzt Fälle, wo in solchen Anfällen
criminelle Handlungen (Tödtung, Diebstahl, Schwängerung)
stattgefunden haben. Das Schlafwandeln ist eine Nerven-
krankheit, wahrscheinlich nur Theilerscheinung anderer
Nervenkrankheiten (Epilepsie, Hysterie). Es findet sich
vorwiegend im jugendlichen Alter, namentlich zur Zeit der
Pubertätsentwicklung. Die Anfälle bestehen nicht selten
Jahre lang, kehren zuweilen täglich und zu bestimmten
Stunden wieder, werden immer von Schlaf eingeleitet; zu-
weilen gehen ihnen leichte Convulsionen oder kataleptische
Starre der Muskeln voraus. Der Anfall geht in einen Zu-
stand von gewöhnlichem Schlafe wieder zurück oder wenn
er durch äussere oder innere Anregung unterbrochen wird,
geht er durch ein kürzeres oder längeres Stadium schlaf-
trunkenartiger Verworrenheit in den wachen Zustand über.
Die Traumvorstellungen können mehr oder weniger ge-
ordnet und einfache Reproduktionen gewohnter Vorstellungs-
gruppen des wachen Lebens sein, oder sie sind mangelhaft
associirt und verworren. Dem entsprechend ist der Nacht-
wandler zur Vornahme zweckmässiger Handlungen, zur
Fortsetzung und Besorgung gewohnter Geschäfte fähig oder
er dämmert planlos umher.
Schlafwandeln. 171
Die Constatirung der Krankheit hat in der Regel keine
Schwierigkeiten, da sie eine chronische Neurose ist, ander-
weitige Zeichen einer solchen, Prädispositionen zu Nerven-
krankheiten sich etwa finden und weitere Anfälle sich be-
obachten lassen. Dass eine criminelle That wirklich in
einem solchen Anfalle begangen wurde, muss aus einer
Reihe von Umständen erschlossen werden.
Wiqhtig kann es bei typischen Anfallen werden, ob
die That in die gewöhnliche Zeit derselben fallt. Das Zu-
standekommen einer zweckmässig combinirten That schliesst
das Schlafwandeln nicht aus. Bezüglich der That selbst
und ihrer näheren Umstände können sich wichtige Anhalts-
punkte ergeben, insofern z. B. zu ihrer Ausführung dem
wachen Leben unmögliche (Weg über's Dach etc.) Mittel
und Wege eingeschlagen wurden.
Auch hier kann schliesslich die genaue Ermittlung
wie sich die Erinnerung verhält, werthvolle Anhaltspunkte
ergeben.
Nie hat der Schlafwandler die Erinnerung für das,
was in die Zeit seines Anfalles fiel, als Erlebtes, höch-
stens als Geträumtes, in der Regel fehlt alle Erinnerung,
wie im tiefen Schlafe. Jedenfalls ist es unmöglich, dass
er sich an ein Faktum erinnere, das in die Zeit seines Zu-
standes fallt, während er zeitlich vor oder nachher statt-
gefundener Begebenheiten sich gar nicht erinnert oder sie
nur geträumt zu haben vorgibt. Im Anfalle selbst ist
gegenüber möglicher Simulation zu beachten, dass die
Sinneswahrnehmung aufgehoben ist, oder sich auf das, was
mit den das Traumbewusstsein erfüllenden Vorstellungen
zusammenhängt, beschränkt. Bemerkenswerth ist auch der
starre, verschlafene Ausdruck des Gesichts und der stiere
wie verglaste Blick.
172 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
2. Fieber- und Erschöpfungsdelirium.
Die Gehirnrinde, an welche die Funktion der geistigen
Vorgänge geknüpft ist, erweist sich als ein äusserst blut-
reiches und fein organisirtes Organ. Schwankungen des
Blutgehalts, Verunreinigung des Bluts mit fremdartigen
(giftigen) und dadurch reizenden Stoffen u. dgl. stören so-
fort den Ablauf der psychischen Processe, beeinflussen die
Stimmung, die Klarheit des Bewusstseins bis zur völligen
Bewusstlosigkeit und sind geeignet, Delirien und Sinnes-
täuschungen herbeizuführen.
Solche Störungen der Gehirnernährung treten besonders
leicht in fieberhaften Krankheiten ein und zwar auf der
Höhe derselben oder in der Periode der Entfieberung und
beginnenden Reconvalescenz. Es sind namentlich Krank-
heiten, die auf Blutvergiftung beruhen und mit hohem
Fieber (Scharlach, Blattern, Wechselfieber, Typhus, Py-
ämie), bei denen ^ Phantasmen* des Kranken bemerkt wird,
jedoch können auch Krank heitszustände mit massigem Fieber,
wenn sie nervöse Constitutionen oder Säufer befallen, sich
mit Delirien compliciren.
Das Delirium auf der Höhe und im Beginn der Krank-
heit beruht auf Blutvergiftung und Fieberhitze, während
das der beginnenden Reconvalescenz aus ungenügender
Hirnernährung (Blutverarmung, Herzschwäche und dadurch
bedingte Blutarmuth des Gehirns) sich erklären dürfte.
Dies gilt namentlich für Krankheiten wie Cholera, Brust-
fellentzündung etc., die bedeutende Säfte Verluste mit sich
bringen, sowie für Lungenentzündung, wo mit plötzlich auf-
hörendem Fieber die Triebkraft des Herzens ungenügend wird.
Forensisch bedeutsam sind diese Delirien, weil auf Grund
von Wahn, Sinnestäuschungen, Angst schwere Gewaltthaten
gegen die Umgebung möglich sind.
Ganz besonders wichtig ist die Thatsache, dass solche
delirante Zustände, ja selbst förmliche Tobanfälle zuweilen
Delirium. Mania transitoria. 173
im Verlauf eines Wechselfiebers an Stelle der gewöhnlichen
Fieberanfalle treten, so dass der Anschein eines selbstän-
digen Anfalls von Geistesstörung hervorgerufen wird. Auch
im Kindbettfieber hat man Delirium als Ursache der Er-
mordung des Kinds beobachtet.
Der Untersuchungsrichter wird in Gegenden, wo
Wechselfieber endemisch ist, wo gerade eine Typhus-
epidemie besteht, wo eine Wöchnerin einer Gewaltthat
gegen ihr Kind angeschuldigt ist, wo einer solchen ver-
dächtige Erscheinungen von Fieber vorausgegangen sind
oder das Individuum gerade eine schwere Krankheit durch-
gemacht hat, die Möglichkeit eines deliranten Zustands
zur Zeit der That zu berücksichtigen haben, um so mehr,
wenn die psychologischen Momente der That auffallig sind,
die Thatumstände auf ein mehr oder weniger bewusstloses
traumhaftes Handeln hinweisen und der Angeschuldigte
Erinnerungsdefekte bietet.
Die Zustände des Delirium sind rechtlich den Traum-
und Intoxicationszuständen, nach Umständen auch den
Geisteskrankheiten gleich zu stellen.
Erkrankt ein Gefangener fieberhaft und delirirt er,
so können etwaige compromittirende Aeusserungen, die der
bewusstlose Kranke in seinem Delir im Sinn einer Selbst-
anklage macht, niemals für den Indicienbeweis Verwerthung
finden, da die Delirien eines Kranken vielfach an die ihn
im gesunden Zustand beschäftigenden Erlebnisse anknüpfen
und kein Schuldbewusstsein involviren.
3. Die Mania transitoria.
Mit diesem Namen ist viel Missbrauch getrieben wor-
den, insofern man die verschiedenartigsten transitorischen
Störungen des Geisteslebens, namentlich solche auf epilep-
tischer Grundlage, damit bezeichnet hat. Es geht jedoch
nicht an wegen des Missbrauchs des Namens, was foren-
sisch eine Angelegenheit untergeordneten Ranges und nur
174 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
klinisch von Belang ist ; die Thatsache des Vorkommens
einer Mania transitoria zu läugnen oder gar wegen ihrer
„Gefährlichkeit* für das Forum zu ignoriren (Casper).
Die echte Mania transitoria lässt sich als eine 20 Mi-
nuten bis einige Stunden dauernde, plötzlich bei voller
geistiger Gesundheit eintretende und mit einem tiefen, meist
mehrstündigen Schlaf abschliessende transitorische Geistes-
störung bezeichnen, in welcher schwere Bewusstseinsstörung,
Ideenflucht, Bewegungsdrang bis zu völliger Tobsucht, De-
lirien und Sinnestäuschungen vorwiegend schreckhaften In-
halts psychisch die hervorragendsten Symptome sind, wäh-
rend körperlich ein heftiger Congestionszustand zum Ge-
hirn besteht. Auf der Höhe des Anfalls können sogar
Convulsionen und Zähneknirschen als Symptome mächtiger
Hirnreizung auftreten.
Das ganze Krankheitsbild macht den Eindruck einer
durch plötzliche und intensive aber rasch sich ausgleichende
Ueberfluthung des Gehirns mit Blut gesetzten Hirnerregung.
Dieser Annahme entspricht auch die nicht selten dem An-
fall vorausgehende Congestion, das Auftreten der Mania
transitoria bei vollsaftigen, jugendlichen, zu Congestionen
geneigten Individuen, namentlich dann, wenn heftige Ge-
müthsbewegungen, Excesse im Trinken, Sonnenhitze, Auf-
enthalt in einer dunstigen heissen Stube einwirkten. Bei
Frauen werden solche Anfälle fast ausschliesslich während
und nach der Entbindung, wo Schmerzen, Erschöpfung,
psychische Aufregung, Geburtsarbeit Congestionen zum
Gehirn hervorrufen, beobachtet.
Zweifellose Fälle von Mania transitoria kommen nur
im wachen Zustand vor. Im Schlaf auftretende sind min-
destens einer epileptischen Begründung höchst verdächtig.
Bemerkenswerth ist der Umstand, dass in der Regel ein
solcher Anfall transitorischer Manie nur einmal im Leben,
als eine ganz isolirte Erscheinung vorkommt.
Diese Krankheit kann den gesündesten Menschen be-
fallen und zum Mörder machen. Wenn sie auch glück-
Mania transitoria. 175
licherweise höchst selten ist, so verdient sie forensisch alle
Beachtung. Eine Gefahr für die Sicherheit der Rechts-
pflege ergibt sich nicht aus ihrer Annahme, denn wenn sie
auch eine flüchtige Erscheinung ist, so ergeben sich doch
aus der Eigentümlichkeit der geistigen Störung Indicien
und Thatumstände, an denen eine falschlich vorgeschützte
derartige Krankheit (vergl. den instruktiven Fall von
Schwartzer „Die transitorische Tobsucht* p. 168) noth-
wendig scheitern muss.
Diese Kriterien sind:
1. Eine vollständige Aufhebung der Erinnerung für
alle subjektiven und objektiven Begebnisse während der
ganzen Dauer des Anfalls. Dieser bildet eine Lücke in
der Continuität des Geisteslebens und diese Lücke ist zeit-
lich scharf begränzt. Wer einen solchen bewusstlosen Zu-
stand zur Zeit seiner That vorschützt, ist unsicher in der
zeitlichen Begränzung seines Erinnerungsdefekts und einem
bezüglichen Verhör nicht gewachsen. Er ist unsicher* und
befangen in der Vernehmung, während der wirklich krank
Gewesene jene Unbefangenheit besitzt, die nur wirkliche
Unbewusstheit verleihen kann. Es kann geschehen, dass
der Thäter noch schlafend am Thatorte betroffen wird.
2. Das Handeln des bewusstlosen Kranken schliesst
jede Prämeditation, Rücksicht auf Zeit und Ort aus, das
Objekt ist ein ganz zufälliges, die Handlungsweise eine
geräuschvolle, zerstörende, wuthartige, anscheinend grau-
same. Die Verteidigung des Angeschuldigten beschränkt
sich auf ein Nichtwissen der ihm zugeschriebenen That,
er hat weder versucht, die Spuren derselben zu tilgen,
noch den Verdacht auf einen Anderen zu lenken.
Die Aufgabe des Experten ist es, aus Dispositionen
und Gelegenheitsursachen den Krankheitszustand zu er-
klären. Eine Simulation ist bei dem streng gesetzmässigen
Ablauf und Zusammenhang der Symptome, sowie den deut-
lich in die Augen springenden körperlichen Zeichen einer
heftigen Hirncongestion aussichtslos.
176 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
4. Der melancholische Angstanfall (Raptus nielancholicus).
Auf S. 125 wurde die Thatsache erwähnt, dass beim
Melancholischen jederzeit Anfälle heftigster Angst bis zur
Trübung des Selbstbewusstseins eintreten und explosive
Gewaltakte herbeiführen können. Ganz dasselbe kann auch
bei nicht melancholisch Erkrankten, im Gegentheil vor und
nachher geistig Gesunden geschehen. Ein Raptus melancholi-
cus als freistehende Krankheitserscheinung wird zuweilen bei
Epileptikern, Hypochondern, Hysterischen, Säufern, bei
durch Onanie, Blutverluste, den Gebärakt Geschwächten
oder mit einer Erkrankung des Herzens (fettige Entartung)
Behafteten beobachtet.
Die in der Herzgegend gefühlte Angst ist eine heftige,
das Selbstbewusstsein geht verloren, der sinnlose Kranke
wird getrieben, seiner ängstlichen Spannung in zerstörenden
Bew^egungsakten Luft zu machen, er verfällt in blindes
Wüthen und Toben, dem im besten Fall die Einrichtung seines
Zimmers zum Objekt dient, ebenso leicht aber das Leben
der Umgebung zum Opfer wird. Der vom Angstanfall
getroffene Kranke ist blass, sein Puls unterdrückt, sein
Antlitz entsetzt, verfallen, sein Athmen beschleunigt bis
keuchend.
Nach Minuten bis einer halben Stunde löst sich die
ängstliche Spannung, der tobende Kranke wird erschöpft,
ruhig, kommt wie aus einem schrecklichen Traume zu sich
und fühlt sich erleichtert. Die Begebnisse des Anfalls stehen
traumhaft, summarisch in seinem Bewusstsein da oder die
Erinnerung fehlt selbst gänzlich.
Die Handlungsweise und die Thatumstände entsprechen
annähernd den bei der Mania transitoria angedeuteten. Be-
merkenswerth ist die Rücksichtslosigkeit und Wuth in der
Ausführung von Gewaltthaten und die kritische, lösende
Wirkung dieser auf den Angstzustand, so dass der aus
diesem zu sich kommende Thäter sich befriedigt und er-
Rapt. mel. Intoxikationszastände. 177
leichtert gleich nach der Thät fühlt, selbst wenn diese eine
ungeheuerliche gewesen ist.
Die Simulation eines solch gewaltigen und unter so
markanten körperlichen Symptomen ablaufenden Seelen-
sturms dürfte Niemand gelingen. Die Vorschützung eines
Anfalls begegnet denselben Schwierigkeiten wie bei der
Mania transitoria. Der sachverständige Nachweis eines
Raptus melancholicus findet in der ursächlichen Begründung
und Zurückführung auf erfahrungsgemäss wichtige Nerven-
krankheiten und körperliche Störungen überhaupt, in der
Berücksichtigung der Thatumstände, die das Gepräge einer
explosiven Gewaltthat bei tief gestörtem Bewusstsein an
sich tragen, sowie in den Defekten der Erinnerung für den
Zeitabschnitt des fraglichen Anfalls genügende Anhalts-
punkte.
5. Die Intoiikationszustände.
Hieher gehören die Wirkungen, welche der Genuss
von Spirituosen oder narkotischen (giftigen) Stoffen auf die
geistigen Funktionen ausübt und damit die rechtliche Ver-
antwortlichkeit in Frage stellt. Von der grössten Bedeu-
tung in foro sind die Wirkungen des absoluten oder rela-
tiven Uebergenusses von Alkohol auf das Gehirn.
a) Die Alkoholintoxikation. Gewöhnlicher Rausch und pathologische
Alkoholzustände.
Deutsch. StGB. § 51. Oesterr. St.G.B. § 2. lit. c. § 236. 523 ff. Oest.
StG.Entw. § 57.
Der vollentwickelte Rausch ist, wissenschaftlich be-
trachtet, nichts Anderes, als ein künstlich erzeugtes Irre-
sein und je nach Individualität des Trinkers, sowie nach
Quantität und Qualität des Spirituosen Getränks sind die
Formen und Symptome dieses Alkoholirreseins verschieden.
Am häufigsten unter allen Alkoholzuständen sind es
Fälle einfacher Berauschung, die zum Gegenstande foren-
v. Kr äfft- E bin g, Oriminalpsychologle. 2. Auflage. 12
178 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
sischer Beurtheilung werden, insofern sie zu Körperver-
letzungen, Todtschlag, Ehrenkränkungen, Majestätsbeleidi-
gungen und andern criminellen Handlungen führen.
Gewöhnlich spielen sich die Fälle einfacher Berau-
schung unter dem Bild einer maniakalischen Exaltation ab.
Der Gedankenfluss wird rascher, die Stimmung gehoben,
Gedächtniss und damit Combination und Reproduktion ge-
steigert. Ein deutlicher Bewegungsdrang gibt sich in Singen,
Schreien, Lachen, Tanzen, allerlei muthwilligen und viel-
fach zwecklosen Handlungen kund. Im weitern Verlaufe
verlieren sich eine Reihe ästhetischer Vorstellungen, mora-
lischer Urtheile, die hemmend und controlirend dem ge-
sunden Ich sonst zu Gebote stehen. — Der Betrunkene
plaudert seine eignen und anderen Geheimnisse aus, — in
vino veritas — er setzt sich über Sitte und Anstand hin-
weg, er wird cynisch, brutal, unduldsam, rechthaberisch,
aggressiv.
Zuletzt kommt es zu einem Zustand psychischer
Schwäche (zu Abnahme des Gedächtnisses, zu Mattigkeit,
Schläfrigkeit, Verworrenheit), es treten Hallucinationen
und Illusionen auf, und ein Zustand blödsinnigen Stupors
schliesst die Scene ab,
Die frühere Strafgesetzgebung hat sich vergebens be-
müht, sichere Anhaltspunkte für die Zurechnungsfähigkeit
des Berauschten zu gewinnen. Sie scheiterte in thesi und
praxi daran, dass die geistigen Zustände des Berauschten
äusserst mannigfache Grade darstellen und die Uebergänge
fliessende sind. Praktisch kommt dazu noch die Schwierig-
keit festzustellen, in welchem Stadium eines Rausches genau
die strafbare Handlung begangen wurde. Die Beurthei-
lung des psychischen Zustands eines Berauschten kann nur
eine ganz concrete sein. Insofern im Rausch, selbst da,
wo es sich nur um Zustände der Weinwarmheit oder leich-
ten Angetrunkenheit handelt, die ganze Summe ästhe-
tischer, ethischer, rechtlicher Hemmungsvorstellungen in ihrer
Wirksamkeit beeinträchtigt erscheint, muss der Rausch, selbst
Rausch. 179
leichten Grades, als mildernder Umstand anerkannt werden.
Oesterreich lässt in diesem Zustand die Strafe der Ueber-
tretung eintreten, da wo ausserhalb desselben die Handlung
als Verbrechen zugerechnet werden müsste.
Ein psychologischer Nonsens ist die Lehre von Savigny,
wornach ein Verbrechen im Rausch als prämeditirt möglich
gedacht wird, denn war es prämeditirt, so kann nur ein
weinwarmer, nicht aber die Zurechnungsfahigkeit aufheben-
der Rausch bestanden haben, war aber ein solcher im vollen
Sinn des Wortes vorhanden, so machte er jegliche ununter-
brochene Ausführung des etwa Prämeditirten , also den
Kausalzusammenhang zwischen Entschluss und That un-
möglich, wenn auch nicht geläugnet werden kann, dass der
Rausch oft schon längst vorhandene Antriebe zu strafbaren
Handlungen entfesselt, die im nüchternen Zustand noch
beherrscht wurden *).
Die neuere Gesetzgebung thut wohl daran, dass sie
die Zurechnungsfrage des Berauschten ganz unberührt lässt,
so dass ein solcher Zustand nur dann die Zurechnungsfähig-
keit aufzuheben geeignet ist, wenn er zur Bewusstlosigkeit
oder krankhaften Störung der Geistesthätigkeit geführt hat.
Es ergeben sich somit zwei Categorien von Alkohol-
reaktionszuständen, die eine, bei welcher das Bewusstsein
nicht geschwunden ist, die andere, bei welcher dies der Fall
ist. Das sicherste Kriterium zur Unterscheidung bietet
das Verhalten der Erinnerung.
Während bei Fällen einfacher Berauschung der Richter
auf Grund der Zeugenaussagen, der Berücksichtigung der
Quantität und Qualität des genossenen Getränks, der That-
umstände und allgemein psychologischen Kriterien den Fall
zu beurtheilen vermag, ist es anders bei dem zur Bewusst-
losigkeit gediehenen Rausch.
*) unhaltbar dürfte auch sein die im Oesterr. Strfgs. § 2 lit. c.
(„in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Be-
rauschung") enthaltene Annahme der Zurechnung des Verbrechens,
zu dessen Begehung der Thäter sich vollberauscht hatte!
180 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
Hier spielen wohl immer constitutionelle oder über-
haupt somatische, nicht rein psychologische Momente eine
Rolle, zu deren Würdigung nicht der Richter, sondern nur
der ärztliche Experte berufen und competent sein kann.
Die erwiesene Behauptung des Angeschuldigten, dass er
sich einer (im Rausch begangenen) strafbaren Handlung
nicht bewusst sei, sollte den Richter veranlassen, sich der
Beihülfe des Experten zu bedienen.
Die abnorme d. h. ungewöhnlich intensive und bis zur
Bewusstlosigkeit sich steigernde Wirkung des Alkohols
kann bedingt sein:
a) durch angeborene fehlerhafte Hirnorganisation, welche
das Gehirn widerstandsunfähig gegen die congestionirende
und toxische Wirkung der Spirituosen macht (Hirnaffek-
tionen in den ersten Lebensjahren, meist mit Hemmung
der geistigen Entwicklung). Häufig ist diese mangelhafte
Toleranz für Alkohol eine erblich bedingte (Belastungs-,
Degenerationszeichen s. o. S. 103 psychische Entartungs-
zustände) ;
b) die abnorm intensive Reaktionsweise auf Alkohol
ist eine erworbene durch überstandene Hirnerkrankungen,
Kopfverletzungen, Schwächung des Gehirns in Folge von
fortgesetzten Alkoholexcessen, bestehende Hirn- und Nerven-
krankheiten (Epilepsie);
c) die Reaktionsweise auf Alkohol ist eine ungewöhn-
lich intensive, weil mit einem Excess im Trinken zufallige,
die congestionirende Wirkung des Alkohol steigernde Um-
stände (Gemüthsbewegungen, körperliche Anstrengung, ge-
schlechtliche Aufregung, Sonnenhitze, Trinken bei nüch-
ternem Magen, Beimischung narkotischer Stoffe zum Ge-
tränk) zusammentrafen.
Am wichtigsten sind hiebei Affekte. Es ist nicht zu
übersehen, dass zwischen der Einwirkung von Alkohol
und Affekt ein längerer Zeitraum massiger, durch den Al-
kohol erzeugter Hirncongestion liegen kann, in welchem
sich der Betreffende noch leidlich besonnen zeigte, bis
Pathologische Alkoholzustände. 181
plötzlich durch das Plus eines einwirkenden Affekts ein
bewusstloser unfreier Zustand herbeigeführt wurde. Man
muss sich dann hüten, blos der Einwirkung des Affekts
zuzuschreiben , was gemischter Effekt jenes und des Al-
kohols war. Solche Fälle von combinirter Wirkung von
Rausch und Affekt sind in der Praxis äusserst häufig.
Es begreift sich, dass Menge des genossenen Getränks
und Wirkung vielfach in keinem Verhältniss zu einander
stehen, eben weil innere organische oder ausserge wohnliche
zufallige Bedingungen die Erregbarkeitsschwelle des Ge-
hirns für alkoholische Getränke tiefer setzten. Dieses
Missverhältniss zwischen constatirter Menge des Getränks
und Wirkung muss nebst der Erinnerungslosigkeit für den
Richter einen weiteren Fingerzeig für die pathologische
Begründung des alkoholischen Ausnahmezustands abgeben.
Leider wird Angesichts solcher Zustände von den
Richtern und Geschworenen häufig Bewusstlosigkeit im
gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht im rechtlich psycho-
logischen genommen, und die Bewusstlosigkeit des (sinnlos)
Betrunkenen nicht statuirt, weil der Betreffende noch mit
der Aussenwelt verkehrte, zusammenhängend sprach und
handelte, obwohl ein solches Verhalten (vgl. Traumzustände,
Mania transitoria) durchaus nicht die Möglichkeit aus-
schliesst, dass Jemand gleichzeitig des Selbstbewusstseins
beraubt war, resp. nicht wusste was er that. Die Ent-
scheidung dürfte auch hier im Verhalten des Erinnerungs-
vermögens, als des besten Reagens für die Ermittlung des
Standes des Selbstbewusstseins liegen.
Wohl zu beachten ist eine eigenthümliche momentane
Aufhellung des Bewusstseins bei solchen Zuständen z. B.
nach einer Gewaltthat, im Moment der Verhaftung, des
Verlassens der heissen Atmosphäre der Trinkstube etc.,
die dann eine momentane richtige Beantwortung einiger
gestellter Fragen, ein zweckmässiges Gebahren ermöglicht,
an die sich aber der Inkulpat nachträglich nicht erinnert.
Solche Thatsachen werden dann leicht im Beweisverfahren
182 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
einseitig für die Anschauung verwerthet, dass der Betref-
fende nicht sinnlos betrunken, bewusstlos gewesen sei, ob-
wohl doch der Mangel der Erinnerung dafür spricht. Es
erinnert dies an einen ähnlichen Zustand bei Epileptischen,
die nach einem Anfall anscheinend wieder bei sich sind,
vernünftig sprechen und handeln, und hinterher gar nicht
wissen, was sie in diesem scheinbar wieder besonnenen
Zustand gethan haben.
Mit der Geltendmachung des „bewusstlosen" Rauschs
ist die Reihe der Zustände von pathologischer Alkohol-
reaktion jedoch keineswegs erledigt. Es gibt solche, eben-
falls auf Grund innerer organischer Ursachen oder zu-
fälliger die Alkoholwirkung unterstützender Momente, bei
welchen das Symptomenbild durchaus nicht mehr dem eines
gewöhnlichen oder bewusstlosen Rauschs entspricht, sondern
vielmehr in Wesen und Verlauf sich als ein Ausbruch
transitorischer Geistesstörung darstellt. Da bei der Ent-
stehung dieser der Alkoholgenuss nur eine Mitursache bil-
dete, braucht die Quantität des genossenen Getränks keine
besonders grosse gewesen zu sein und kann die Geistes-
störung ohne vorausgehende Zeichen einer Berauschung
eingetreten sein.
Als praktisch wichtige Formen solcher transitorischen
Geistesstörung ergeben sich:
a) Anfälle gewöhnlicher Mania transitoria;
b) Zustände von angstvollem hallucinatorischem De-
lirium, die bis zu mehreren Tagen dauern können. Sie
scheinen nur bei dem Trunk habituell Ergebenen vorzu-
kommen;
c) Zustände von epileptischem hallucinatorischem De-
lirium. Der (relative) Alkoholexcess kann dabei von einem
gewöhnlichen Epileptischen begangen und Anlass eines
neuerlichen epileptischen Anfalls mit folgendem Delirium
sein oder die Epilepsie ist erst auf dem Boden der Trunk-
sucht entstanden.
Die schwersten Gewaltthaten kommen bei dieser Com-
Narkotische Vergiftungen. 183
bination von Trunksucht und Epilepsie zu Stande mit für
diese beiden Entartungszustände nahezu bezeichnendem
brutalem Zerstörungsdrang.
Für alle diese transitorischen Geistesstörungen unter
dem Einfluss des Alkohols ist eine tiefe Störung des Be-
wusstseins und ein völliger Erinnerungsdefekt Regel. •
Der Richter möge aus allen diesen Erfahrungsthat-
sachen ermessen, wie wenig die Zustände der Alkoholin-
toxikation einer generalisirenden Beurtheilung zugänglich
sind, wie fliessend die Uebergänge von der blossen Wein-
warmheit bis zur tiefsten Störung des Selbstbewusstseins,
wie häufig und mannigfach bestimmend hier constitutionelle
und somatische Bedingungen eingreifen und wie sehr es
nöthig ist, dass er, wenigstens überall da, wo sich Erinne-
rungsdefekte ergeben, den ärztlichen Sachverständigen zu
Rathe ziehe.
b) Vergiftungszustände des Gehirns. Narkotismus.
Es gibt zahlreiche ätherische (Oele, besonders Absynth,
Schwefeläther, Chloroform) Stoffe, narkotische Substanzen
(giftige Schwämme, Opium, Tollkirsche, Stechapfel, Bilsen-
kraut u. s. w.) und metallische Verbindungen (Blei), die,
in grösserer Dosis dem Organismus zugeführt, so lange sie
im Blut kreisen, die auf sie äusserst empfindlich reagirende
Hirnrinde in Erregung versetzen, Delirien und Hallucina-
tionen, Angst- und Wuthanfalle hervorrufen und dadurch
Anlass zu strafbaren Handlungen geben können.
Solche Zustände von Vergiftungsdelir dauern Stunden
bis Tage und gehen mit einer tiefen Störung des Bewusst-
seins einher.
Bei dem grossen Missbrauch, der heutzutage mit
Morphium getrieben wird, muss der Thatsache gedacht
werden, dass auch die plötzliche Entziehung dieses Genuss-
mittels bei daran Gewöhnten, ähnlich wie beim Säufer die
Entbehrung des Alkohol, den Ausbruch eines Delirium-
tremens-artigen Zustands hervorrufen kann.
Ig4 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
Hie und da scheint das Chloroform eigentümliche
Wirkungen, und zwar auf die Geschlechtssphäre auszu-
üben, indem es die Empfindungen des Beischlafs erzeugt.
So sind Fälle in der Literatur bekannt, wo Frauen den
chloroformirenden Arzt anklagten, ihren bewusstlosen Zu-
stand während der Narkose missbraucht zu haben, obwohl
die Untersuchung ergab, dass diese Beschuldigungen sich
rein auf Hallucinationen gründeten.
6. Die Affektzustände.
Physiologischer und pathologischer Affekt.
Deutsch. St.G.B. §§ 212. 213. Oesterr. St.G. § 2 lit. g. § 46 lit. d.
§ 264 lit. e. Oesterr. Entw. § 60. Schi. § 220.
Eine mächtig und plötzlich die Interessen der Persön-
lichkeit beeinflussende Vorstellung kann das ruhige Gleich-
gewicht der psychischen Funktionen erschüttern und damit
den inneren Kern der Persönlichkeit mächtig afficiren. In-
dem die afficirende Vorstellung lebhafte Gefühle hervor-
ruft und den Ablauf des Vorstellens bis zur völligen Ver-
wirrung stört, vermag der Affektvorgang die Besonnenheit
und Ruhe der Ueberlegung unmöglich zu machen und
stellt damit die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit in
Frage. Obwohl dieser Zustand des Affekts an und für sich
ein rein physiologischer ist, sieht sich der Gesetzgeber doch
veranlasst, die in der Hitze des Affektes beschlossenen
und ausgeführten Handlungen viel milder zu beurtheilen
und mit geringerer Strafe zu bedrohen als die überlegten,
so zu sagen mit kaltem Blut begangenen. Er unterscheidet
die im Affekt begangenen Verbrechen gegen das Leben
als der Ueberlegung ermangelnde Handlungen (Todtschlag)
von dem kaltblütig überlegten und ausgeführten Mord und
gewährt im Allgemeinen den im Affekt verübten strafbaren
Handlungen die Wohlthat mildernder Umstände.
Wie bei den Rauschzuständen sind auch beim Affekt-
vorgang fliessende Intensitäts- und Qualitätsunterschiede zu
Affektzustände. 185
bemerken von einer leichten Erregung des Gemüths bis
zum wildesten Affektsturm, in welchem das Selbst- und
Weltbewusstsein momentan untergeht.
Ausschlaggebend für die Mächtigkeit des Affekts sind
verschiedene Umstände. Zunächst die Art des Affekts.
Heitere Affekte erheben sich nicht leicht beim Er-
wachsenen zu bedeutender Höhe und finden eine rasche
Ausgleichung. Affekte der Angst, des Entsetzens fuhren
schon leichter zu einer Trübung des Selbstbewusstseins
(Sinnes Verwirrung) und zu kopflosen, selbst gefahrlichen
Handlungen. Am mächtigsten wirkt auf das psychische
Leben der Affekt des Zorns und Casper hat nicht Unrecht,
wenn er gewisse Höhezustände des zornigen Affekts dem
Wahnsinn vergleicht („ira furor brevis a ) und als „Wahn-
sinn der Zorntrunkenheit* bezeichnet.
Neben der Art des Affekts sind wichtig und ausschlag-
gebend die Individualität des Afficirten, Eigentümlich-
keiten des Temperaments, des Charakters. Sie sind meist
originäre, vielfach ererbte, aber auch zufällige Momente
können die psychische Afficirbarkeit beeinflussen. Als psy-
chologische Momente ergeben sich vorausgehende gemüth-
lich irritirende (Kummer, Sorgen, Eifersucht und andere
Leidenschaften) als somatische, schwächende Einflüsse auf
das Gehirnleben (schwere, die Ernährung herabsetzende
Krankheiten, Nahrungsmangel oft in Verbindung mit Al-
koholübergenuss, Blutverluste, Wochenbett, der Vorgang
der Menstruation).
Nicht minder wichtig für die Heftigkeit des Affekts
ist die Unerwartetheit sowie die Mächtigkeit der das Ge-
müthsleben afficirenden Vorstellungsgruppe.
Ganz besonders mächtig wirken Affekte, deren affi-
cirender Anlass eine Lebensbedrohung (Ueberschreitung der
Gränzen der Verteidigung im Stand der Nothwehr), eine
tiefe Verletzung sittlicher (Ehre) oder sexueller Gefühle
(unglückliche Liebe, Eifersucht) oder vitaler Interessen
(Verzweiflung über erfolglosen Kampf ums Dasein, Noth
186 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
der liebsten Angehörigen) bildet. Namentlich mächtig ist
der Affekt in oder bald nach der Geburt, da wo diese eine
uneheliche oder aussereheliche ist, und die mächtig das
Gemüth ergreifenden Vorstellungen der Schande durch ver-
lorene Geschlechtsehre u. s. w. (vergl. S. 43) mit der Mutter-
pflicht in Conflikt gerathen und nicht selten ihre tragische
Lösung in dem Mord des Kindes finden. Mit Recht stellt
die humane Strafgesetzgebung der Neuzeit diese Art des
Mords als ein besonderes Verbrechen hin und bestraft
es mild.
Neben der Intensität eines Affekts ist criminalpsycho-
logisch seine Dauer zu berücksichtigen. Es ist Regel,
dass der Affekt rasch seine Ausgleichung in einer Sekre-
tion (Weinen) oder in einer erleichternden That findet,
aber es gibt Individualitäten, bei welchen zwischen affi-
cirendem Ereigniss und That ein längerer Zwischenraum
treten kann, insofern der Affekt noch eine Zeitlang be-
herrscht wird, bis durch ein neues, vielleicht ganz gering-
fügiges psychisches Moment oder durch einen Versuch, den
Aerger wegzutrinken u. s. w., der glimmende Funke zur
lodernden Flamme angefacht wird und der letzte Rest von
Selbstbeherrschung verloren geht. Der psychische Zustand
in dieser Zwischenzeit erfordert dann eine genaue Unter-
suchung. Die Annahme, dass eine Handlung unmittelbar
dem afficirenden Vorgang folgen müsse, um als Affekthand-
lung anerkannt zu werden, sowie, dass ein Affektzustand
die Ueberlegung ausschliesse, ist psychologisch unhaltbar.
Fälle, in welchen ein Affekt eine ungewöhnlich lang-
same Ausgleichung findet, müssen den Verdacht einer pa-
thologischen Begründung erwecken, um so mehr, wenn der
Affekt besonders intensiv war und auf seiner Höhe Ä Be-
wusstlosigkeit" eintrat.
Mit diesen Kriterien ist die physiologische Gränze des
Affekts überschritten, der Affekt wird ein pathologischer.
Er wird es durch organische Bedingungen und entzieht sich
damit der Domäne und Beurtheilung des Richters. Um
Pathologische Affektzustände. 187
ein Verständniss für die Entstehung solcher pathologischer
Affektzustände zu gewinnen, ist es nöthig, die schon in
dem gewöhnlichen Affektvorgang zu Tage tretenden körper-
lichen Erscheinungen zu betrachten.
Der Anlass des Affekts ist eine psychische Erschüt-
terung. Die Folge dieser ist eine Veränderung der Gleich-
gewichtslage der Vorstellungen, wobei mächtige Impulse
zur Abwehr oder Ausgleichung hervorgerufen werden und
die Widerstandskraft sittlicher und rechtlicher, sonst zu
Gebot stehender Vorstellungen, geschwächt ist.
Neben dem psychischen Vorgang besteht aber ein
körperlicher — die Einwirkung der afficirenden Vorstel-
lungsgruppe auf die Circulation. Die Todtenblässe des
Erschreckten, die Schamröthe des Verlegenen, die Zornes-
röthe des Beleidigten sind sichtbare Zeichen wie mächtig
der Affektvorgang auch in die körperlichen Funktionen
eingreift. Die Circulation im Körper steht unter dem
regulatorischen Einfluss von Nerven (Gefässnerven). Auf
diese wirkt die afficirende Vorstellung und setzt, je nach
Art des Affekts, Blutarmuth (Gefässkrampf) oder Blutüber-
ftillung (Gefasslähmung) im Gehirn. Ueberschreitet diese
Wirkung ein gewisses mittleres Mass, so wird der Affekt-
vorgang ein abnorm intensiver und, indem die Circulations-
störung sich nur allmälig wieder ausgleicht, ein abnorm
langer. Der Affektvorgang bewirkt durch die begleitende
CirculatioDsstörung eine tiefere, weil organische Hirnerre-
gung, welche den Affekt abnorm intensiv und dauernd
macht und eine Hirnaffektion darstellt, die nicht mehr nach
dem Schema eines Affekts ablauft, weil, gleichwie bei ge-
wissen pathologischen Alkoholzuständen der Alkohol, hier
der Affekt nur den Anstoss zu einer selbständigen Hirn-
störung abgibt. Das Krankheitsbild entspricht in solchen
Fällen dem einer transitorischen Manie, eines acuten De-
liriums oder einer stuporartigen Hemmung der Geistes-
funktionen.
Hier handelt es sich dann nicht mehr um physiolo-
188 Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit.
gisehe, sondern um pathologische, weil delirante psychische
Zustände (Sinnenverwirrung, „Wahnsinn der Zorntrunken-
heit a ), die eine klinisch-ärztliche Beurtheilung nöthig machen.
Diese pathologischen Affekte sind um so leichter mög-
lich, je mehr durch organische constitutionelle Vorgänge
die regulatorischen GefiLssnerven des Gehirns dem Affekt-
vorgang gegenüber abnorm widerstandsunfähig sind oder
mit dem Affekt gleichzeitig die Circulation des Gehirns
beeinflussende Umstände (hohe äussere Temperatur, Alko-
holgenuss, körperliche Erregung, z. B. durch Tanz) zur
Geltung gelangen.
Die organischen Bedingungen dieser pathologischen
Affektzustände sind folgende:
1) Es gibt Menschen, bei denen von frühester Jugend
an eine solche Gemüthsreizbarkeit und Leidenschaftlichkeit
sich kundgibt, deren Affekte so wenig motivirt eintreten,
so heftig und ungewöhnlich verlaufen, dass man sich des
Eindrucks einer organischen Begründung dieser Gemüths-
anomalie nicht erwehren kann. Diese Vermuthung ge-
winnt um so mehr Raum, wenn man sieht, wie vergeblich
Erziehung und Cultur diesen vermeintlichen Charakterfehler
zu tilgen bemüht sind, wie häufig gegen alles bessere Wollen
und Wissen solcher Menschen ihr Ich im Affekt unterliegt
und die Forderungen des Sitten- und Strafgesetzes, ihre
Affekte zu beherrschen, ihnen unerfüllbar sind.
Die Erfahrung lehrt nun, dass solche Individuen viel-
fach zum Irresein disponirt sind, in der Ascendenz oder
sonstigen Blutsverwandtschaft geistesgestörte Verwandte
haben, durch allerlei Charakteranomalien, Bizarrerien und
Excentricitäten ihre psychopathische Abkunft verrathen,
ja wohl vorübergehend sogar in wirkliche Seelenstörung
verfallen.
2) Aehnliche Zustände krankhafter Gemüthsreizbarkeit
wie hier auf Grund erblicher psychopathischer Anlage, ent-
wickeln sich in Folge oder im Verlanfe der verschiedensten
Hirnkrankheiten. So hat man sie nach Kopfverletzungen,
Pathologische Affektzustände. 189
nach Schlagfluss und Hirnentzündung, nach Typhus, nach
Geisteskrankheiten entstehen sehen. Eine solche patho-
logische Gemüthsreizbarkeit findet sich ferner bei ange-
borenem und erworbenem Schwachsinn, bei Taubstummen,
bei den affektartigen Anfangsstadien, in den Remissionen
des Irreseins, im Verlaufe gewisser allgemeiner Neurosen,
namentlich der Epilepsie, sowie auch des Veitstanzes, der
Hysterie und Hypochondrie.
3) Aber auch verschiedene psychische und physische
schwächende Einflüsse auf das Nervensystem, andauernde
Affekte und Leidenschaften, Alkohol- und sexuelle Excesse,
chronische Krankheiten, die Schlaf, Ernährung und Blut-
mischung tief stören, können solche die physiologische
Gränze übersteigende Affekte herbeifuhren, denn immer ist
die jeweilige Reizbarkeit nur ein Produkt aller aufs Nerven-
system eingewirkt habenden Reize.
4) Vielfach wirken mehrere der angeführten Bedin-
gungen zusammen, um den Affekt zu einem pathologischen
zu machen, z. B. Affekt und Epilepsie, psychopathische An-
lage und Berauschung. Ganz besonders überwältigend ist
die Wirkung eines Affekts bei Schwachsinnigen, da hier
zur accessorischen Störung eine tiefe präexistirende des
psychischen Mechanismus kommt.
Man hat in früherer Zeit geglaubt, eine eigene Form
psychischer Krankheit (Excandescentia furibunda) aus sol-
chen Zuständen pathologischer Gemüthsreizbarkeit machen
zu müssen, obwohl sie nur eigenthümliche Reaktionsweisen
abnormer psychischer Anlagen oder Zustände sind.
Bei der Beurtheilung der zahlreichen, aus solchen
pathologischen Affekten erfolgenden Rechtsverletzungen
(Tödtung, Körperverletzung etc.) ist eine eingehende
Würdigung der angegebenen anthropologischen und klini-
schen Momente dringend nothwendig. Sie wird den psy-
chischen Stammbaum, die somatische und psychische Con-
stitution, den habituellen psychischen Tonus (Tempera-
ment), etwaige Aenderungen der gemüthlichen Erregbar-
190 Zustände krankhafter Bewusstlosigkeit.
keit durch Hirnkrankheiten und Nervenaffektionen, nament-
lich etwa latente oder früher bestandene Psychosen, vor-
zugsweise zu berücksichtigen haben. Indicien. für das
Gegebensein einer pathologischen Affektstufe müssen dem
Untersuchungsrichter vor Allem die Angabe des Inkul-
paten sein, dass er sich der Handlung nicht oder nur
lückenhaft erinnern könne; auch die Planlosigkeit, über
alles vernünftige Mass hinausgehende Rücksichtslosigkeit
und Grausamkeit des Thäters lassen nach Umständen
auf eine vorhanden gewesene Störung seines Bewusstseins
schliessen.
Die criminellen Handlungen im physiologischen Affekt
unterstehen der Domäne des Richters und fallen unter
die Milderungsgründe des Gesetzbuchs; für die im patho-
logischen Affekt verübten wird die Zurechnungsfähigkeit
fraglich, selbst aufgehoben erkannt werden müssen, wo die
Besinnung temporär geschwunden war und die Erinnerung
lückenhaft oder mangelhaft sich zeigte. Solche Zustände
fallen damit nothwendig unter den gesetzlichen Begriff
der Bewusstlosigkeit. —
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26 l. .
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