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Full text of "Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn"

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BIHDHG  LIST  APR  1    19U 


RÜNDZÜGE 


DER 


LEHRE  VOM  LICHTSINN 


'^ilUW 


VON 


EWALD  HERING  f 

PROFESSOR  m  LEIPZIG 


MIT  77  TEXTFIGUREN  UND  3  TAFELN 


BERLIN 

VERLAG  YQN  JULIUS ,SPRINGEi 
1920 


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Alle  Hechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten. 
Copyright  1920  by  Julius  Springer  in  Berlin. 


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Sonderabdruck  aus  dem  Handbuch  der  Augenheilkunde 
I.  Teil  XII.  Kapitel. 


I 


Inhaltsverzeichnis. 


Scitd 

I.  Abschnitt.    Vom  Wesen  der  Farben ^ j\ 

§    i .    Die  Farben  als  der  Stoff  der  Sehdinge -1 

§    2.    Die  Farben  als  Sehqualitäten 2 

§    3.    Die  Farben  als  sogenannte  Empfindungen 4 

§    4.    Die  Gedächtnisfarben 6 

§    5.    Herstellung  brauchbarer  Farbenfelder -12 

§    6.    Die  angenäherte  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge 13 

§    7.    Die  Farben  als  psychische  Korrelate  der  physischen  Regungen  der 

Sehsubstanz 20 

II.  Abschnitt.    Das  natürliche  Farbensystem 23 

§    8.    Grundsätze  für  die  Ordnung  der  Farben 23 

§    9,    Die  Reihe  der  tonfreien  Farben 25 

§  10.     Symbolische  Bezeichnung  der  tonfreien  Farben 33 

%  M.    Vergleichung  von  Farbenverschiedenheiten  untereinander  ....  35 

§  12.    Die  Reihe  der  Farbentöne 40 

§  13.    Die  Gegenfarben 48 

§  14.    Die  verhüllten  bunten  Farben 49   ' 

•  §  1 5.    Die  Helligkeit  der  bunten  Farben 57 

IlT.  Abschnitt.  Über  die  Beziehungen  zwischen  den  Unterschieden 
der  Lichtstärken  der  wirklichen  Dinge  und  den  ton- 
freien Helligkeitsunterschieden  der  Sehdinge 62 

§  16.    Messung  der  Lichtremission  tonfreier  Papiere 62 

§  1 7.    Deutlichkeit  des  Sehens  im  Verlaufe  eines  Tages 68 

§  18.    Einfluß  der  sukzessiven  Anpassung  des  Auges  auf  die  Deutlichkeit 

des  Sehens ^^ 

§  1 9.     Gleichen  Unterschieden  der  Lichtstärken  entsprechen  nicht  gleiche 

Helligkeitsunterschiede '.    .  74 

§  20.    Entsprechen  gleichen  Verhältnissen  der  Lichtstärken  der  wirklichen 

Dinge  gleichgroße  HeUigkeitsunterschiede  der  Sehdinge'?    ...  81 
§  21.     Grundlegendes    zum    Verständnis    der    Beziehung    zwischen    der 
HeUigkeit  der  tonfreien  Farbe  und  der  Lichtstärke  des  Netz- 
hautbildes   91 

IV.  Abschnitt.    Vom  somatischen  Korrelate  der  tonfreien  Farben,  100 
§  22.    Der  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  als  das  somatische  Korrelat  der 

Farben 4  00 

§  23.    Die  Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz 103 


IV  Inhaltsverzeichnis. 

Seit« 
§  24.    Die  Größe  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  als  das  somatische 

Korrelat  des  Gewichtes  der  Farbe 408 

§  25.     Die  Bedeutung  der  Empfangsstoffe  der  Netzhaut 142 

V.  Abschnitt.     Die     tonfreien    Wechselwirkungen     der    Sehfeld- 

stellen    H5 

§  26.     Vom  simultanen  Helligkeitskontraste 14  5 

§  27.  Ein  Apparat  zur  Untersuchung  des  simultanen  Helligkeitskontrastes  <2< 
§  28.  Eine  wichtige  Folgerung  aus  den  beschriebenen  Kontrastversuchen  1 25 
§  29.  Messende  Versuche  mittels  Vergleichung  umschlossener  Felder  .  126 
§  30.  Die  Simultananpassung  als  Ergebnis  des  Simultankontrastes  .  .  129 
§  31 .  Beobachtung  des  simultanen  HelHgkeitskontrastes  ohne  Vergleichs- 
feld   • 132 

§  32.     Vom  simultanen  Grenzkontrast    .    .    '. 135 

VI.  Abschnitt.    Das  falsche  Licht  im  Netzhautbilde -141 

§  33.    Die  Ursachen  der  Abirrung  des  Lichtes  im  Auge  ........  141 

§  34.    Einfluß  des  falschen  Lichtes  auf  die  DeutUchkeit  -des  Sehens    .    .  145 
§  35.    Herabsetzung   der   Deutlichkeit    bei    dem    Zusammenwirken    des 

falschen  Lichtes  und  des  verdunkelnden  Kontrastes 149 

§  36.  Die  scharfen  Umrisse  der  Seh  dinge  als  Ergebnis  der  Wechsel- 
wirkung der  Sehfeldstellen 151 

VII.  Abschnitt.    Zur  Theorie  der  Wechselwirkung  im  somatischen 

Sehfelde 159 

§  37.    Das  Gesetz  der  Induktion 159 

§  38.     Die  gegenseitige  Induktion  zweier  Elemente  der  Sehsubstanz   .    .     163 
§  39.    Die  Induktion  zwischen  einem  Element  und  dem  Gesamtfelde  der 

Sehsubstanz . 167 

§  40,    Der  Einfluß  der  Induktion  auf  die  Eigenhelligkeit  des  Sehorganes     169 
§  41.    Die  Beziehungen  zwischen  den  Helligkeiten  der  Sehdinge  und  der' 

Gesamtbeleuchtung  der  sichtbaren  Außendinge     .......     171 

^  42.  Graphische  Darstellung  der  Beziehungen  zwischen  der  Helligkeit 
der  Sehdinge  und  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  der  Außen- 
dinge  174 

§  43.  Die  Induktion  als  ein  Hilfsmittel  zur  Selbststeuerung  des  Stoff- 
wechsels der  Sehsubstanz 182 

§  44.     Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Stärke  der 

Gesamtbeleuchtung 183 

§  45,  Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamt- 
beleuchtung bei  Gleichheit  des  endogenen  und  exogenen  Gfe- 
samtinduktes  und  Ungleichheit  des  D-Reizes  der  beiden  Elemente  1 88 
§  4  6.  Verschiedenheit  der  Helligkeit  bei  gleicher  Lichtstärke  und  Gleich- 
heit der  Helligkeit  bei  verschiedener  Lichtstärke  zweier  Außen- 
dinge   ^92 

§47.  Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuch- 
tung bei  ungleichem  D -Reize  und  ungleichem  exogenen  Ge- 

samtindukt 198 

§  48.  Über  die  durch  örtliche  Änderungen  der  Netzhau tbelichtung  be- 
dingten HeUigkeitsänderungen. ■     202 


Inhaltsverzeichnis.  V 

Seite 
§  49.    Ableitung  des  Ergebnisses  der  messenden  Versuche  von  Hess  und 

Pretori  aus  der  Theorie  der  Induktion 207 

YIII.  Abschnitt.     Die  binokularen  tonfreien  Farben 211 

§  50.    Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben .  211 

§  51.    Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben  beim  Doppeltsehen   eines 

kleinen  Feldes  auf  andersfarbigem  Grunde 216 

§  52.    Einfluß   der  Grenzlinien    auf   die   binokulare   Mischung   tonfreier 

Farben 225 

§  53.    Binokulare  Deckung  zweier  kleiner  Felder  von  gleicher  Form,  aber 

ungleicher  Farbe  auf  beiderseits  gleichem  Grunde 23i 

§  54.    Die  binokulare  Farbenmischung  bei  binokularer  Deckung  inkon- 
gruenter Bilder 239 

§  55.    Der  »paradoxe  Versuch«  Fechners 254 

IX.  Abschnitt. 

§  56.    Die  Geschwindigkeit  der  Wertigkeitsänderung  der  Sehsubstanz  als 

physisches  Korrelat  der  tonfreien  Farben  und  Helligkeiten    .    .  257 

§  57.    Die  terminalen  Strahlungen 259 

§  58.    Anpassung  des  Auges  an  die  Jeweilige  Beleuchtung 261 

§  55.    Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder 264 

Die  Beziehungen   zwischen  der  bunten  Qualität  der  Farben  und 

der  Schwingungszahl  der  optischen  Strahlen 273 

§  60.    Die  Verteilung  der  Farben  im  Spektrum ' 273 

§  Gi.    Das  Interferenzspektrum  des  Himmelslichtes 275 

§  62.    Herstellung  und  Beobachtung  monochromatisch  beleuchteter  Felder  279 

§  63.    Von  den  optischen  Valenzen  der  spektralen  Strahlungen   ....  281 

§  64.    Über  binäre  Strahlgemische 284 

§  65.    Die  Sehsubstanz.     Die  Valenzen  als  auf  das  Sehorgan  wirkende 

Kräfte 290 


Hering.   Lichtsinn. 


I.  Abschnitt. 

Vom  Wesen  der  Farben. 

§  i.  Die  Farben  als  der  Stoff  der  Sehdinge.  Wenn  wir  im 
beleuchteten  Räume  die  Augen  aufschlagen,  sehen  wir  vor  uns  eine  Mannig- 
faltigkeit räumlich  ausgedehnter  Gebilde,  die  sich  durch  die  Verschiedenheit 
ihrer  Farbe  voneinander  abgrenzen  oder  abheben,  wobei  das  Wort  Farbe 
im  weitesten  Sinne  genommen  und  auch  Schwarz,  Grau,  Weiß,  überhaupt 
jedes  Dunkel  und  jedes  Hell  darunter  verstanden  ist.  Die  Farben  sind  es, 
welche  die  Umrisse  jener  Gebilde  ausfüllen,  sie  sind  der  Stoff,  aus  dem  das 
unserem  Auge  Erscheinende  sich  vor  uns  aufbaut;  unsere  Sehwelt  besteht 
lediglich  aus  verschieden  gestalteten  Farben,  und  die  Dinge,  so  wie  wir  sie 
sehen,  d.  h.  die  Sehdinge,  sind  nichts  anderes  als  Farben  verchiedener 
Art  und  Form. 

Die  ganze  Sehwelt  mit  ihrem  Inhalt  ist  ein  Geschöpf  unseres  inneren 
Auges,  wie  wir  das  nervöse  Sehorgan  (Netzhaut,  Sehnerv  und  die  bezüg- 
lichen Hirnteile]  nennen  können,  im  Gegensatze  zu  dem  dioptrischen  Appa- 
rat als  dem  äußeren  Auge.  Das  schöpferische  Vermögen  unseres  inneren 
Auges  schafft  jene  Farbengebilde  unter  dem  Zwange  der  Anregungen,  welche 
es  durch  die  von  den  wirklichen  Außendingen  in  unser  Auge  geschickten 
Strahlungen  erhält.  Die  im  Neuroepithel  der  Doppelnetzhaut,  als  dem 
Empfangsorgane  (Empfänger)  des  inneren  Auges,  von  den  wirklichen 
Dingen  entworfenen  Bilder  einerseits,  und  andererseits  der  ganze  Reichtum 
von  Erfahrungen,  welche  wir  über  unsere  Außenwelt  gesammelt  und  welche 
dauernde  Spuren  in  der  nervösen  Substanz  des  inneren  Auges  zurück- 
gelassen haben,  bestimmen  die  Thätigkeit  des  unsere  jeweilige  Sehwelt  auf- 
bauenden inneren  Auges. 

Die  strenge  Unterscheidung  zwischen  den  Sehdingen  als  Farbengebüden 
und  den  wirklichen  Dingen,  zwischen  der  aus  Farben  aufgebauten  Seh- 
welt und  der  wirklichen  Welt  ist  eine  unerlässliche  Vorbedingung  für  das 
Verständnis  des  Sehaktes  und  seiner  Gesetze.  Inwiefern  den  Dingen,  die 
wir  uns  auf  Grund  unserer  gesamten  sinnlichen  Erfahrungen  als  die  wirk- 

Hering,  Lichtsinn.  ^ 


2  Lehre  vom  Lichtsinn. 

liehen  denken  und  als  solche  zu  bezeichnen  pflegen,  abgesehen  von  diesem 
ihren  Vorhandensein  in  unserem  Denken  ein  von  dem  letzteren  unabhängiges 
Bestehen  zukommt,  ist  eine  Frage,  von  deren  Beantwortung  die  begrifT- 
liche  Unterscheidung  der  Sehdinge  von  den  wirklichen  Dingen  und  eines 
Sehraumes  von  einem  wirklichen  Räume  ganz  unabhängig  ist. 

Von  den  Formen,  in  welchen  die  Farben  uns  im  Sehraume  erscheinen, 
also  von  den  räumlichen  Eigenschaften  der  Farben,  handelt  die  Lehre  vom 
Raumsinne  des  Auges,  von  den  Farben  selbst  aber  als  den  verschiedenen 
Qualitäten  des  Inhaltes  oder  Stoffes  der  Sehdinge  handelt  die  Lehre  vom 
Lichtsinne,  welche  uns  hier  zu  beschäftigen  hat. 

§  2.  Die  Farben  als  Sehqualitäten.  Der  Ungelehrte  nimmt  das 
Grün  eines  Baumblattes  ohne  weiteres  für  eine  Eigenschaft  des  Blattes.  Der 
physikalisch  Unterrichtete  weiß  jedoch,  dass  er  dasselbe  Blatt  in  einer 
ganz  anderen  Farbe  sehen  könnte,  wenn  es  nicht  vom  gewöhnlichen  Tages- 
lichte, sondern  von  einer  andersartigen  Lichtquelle  beleuchtet  wäre  und 
daher  auch  eine  andersgeartete  Strahlung  in  sein  Auge  zurückwerfen  würde. 
Weil  ihm  die  Farbe  an  die  Beschaffenheit  des  ins  Auge  gelangenden  Lichtes 
gebunden  scheint,  betrachtet  er  das  Grün  als  eine  Eigenschaft  nicht  des 
Blattes,  sondern  der  vom  Blatte  zurückgeworfenen  Strahlung,  und  nennt 
die  letztere  grün. 

Der  physiologisch  Unterrichtete  geht  weiter.  Er  weiß,  dass  er  das- 
selbe Blatt,  welches  er,  v/enn  es  sich  auf  dem  mittlen  Teile  seiner  Netz- 
haut abbildet,  grün  sieht,  auch  gelb  bezw.  grau  sehen  kann,  wenn  sein 
Bild  auf  hinreichend  excentrische  Netzhautstellen  fällt;  und  schon  aus  dieser 
einzigen  Thatsache  würde  er  schließen  können,  dass  das  Grün  nicht  eigent- 
lich an  die  vom  Blatte  ins  Auge  geschickte  Strahlung  gebunden  ist,  son- 
dern vielmehr  an  unser  Sehorgan,  welches  das  Vermögen  besitzt,  uns  Grün 
oder  Gelb  oder  Grau  sehen  zu  lassen,  je  nachdem  die  von  dem  Blatte 
kommende  Strahlung  diese  oder  jene  Netzhautstelle  trifft.  Er  weiß  ferner, 
dass,  wenn  er  einen  Punkt  des  auf  weißes  Papier  gelegten  Blattes  einige 
Zeit  un verrückten  Blickes  betrachtet  und  dann  das  Blatt  wegnimmt,  auf 
dem  Papiere  ein  rotes  bezw.  blaurotes  Blatt,  das  sogenannte  Nachbild  des 
Blattes,  erscheinen  kann,  obwohl  die  bezügliche  Stelle  des  Papieres  ganz 
dieselbe  Strahlung  in  sein  Auge  schickt,  wie  das  übrige  weiß  erscheinende 
Papier.  Es  ist  ihm  ferner  bekannt,  dass  er  nach  längerem  Fixieren  des 
Blattes  ein  rotes  Nachbild  desselben  auch  dann  noch  sehen  kann,  wenn 
er  sein  Auge  schließt  und  verdeckt,  dass  also  die  Farbe  nicht  bloß  während 
der  Wirkung  eines  Lichtes  auf  die  Netzhaut,  sondern  auch  bei  Mangel 
jeder  Strahlung  von  unserem  inneren  Auge  erzeugt  werden  kann.  Mit  dem- 
selben Rechte  also,  mit  welchem  dem  Laien  das  Grün  als  eine  Eigenschaft 
des  Blattes,   dem  Physiker   als  eine  Eigenschaft   der  von  dem  Blatte  aus- 


§  2.    Die  Farben  als  Sehqualitäten.  3 

gehenden  Strahlung  gilt,  darf  es  dem  Physiologen  als  eine  Eigenschaft  des 
von  dieser  Strahlung  im  Sehorgan  hervorgerufenen  physiologischen  Vor- 
ganges gelten,  und  er  könnte  von  einer  grünen  Regung  der  nervösen  Sub- 
stanz sprechen,  wie  der  Physiker  von  grünen  Strahlen  und  der  Laie  von 
grünen  Außendingen  spricht. 

Für  den  Psychologen  endlich  ist  das  Grün  weder  eine  Eigenschaft  des 
Blattes,  noch  der  Strahlung,  noch  der  Regung  des  inneren  Auges,  sondern 
vielmehr  ein  psychisches  Phänomen,  ein  Bewusstseinsinhalt  bestimmter  Qua- 
lität. Er  lässt  dasselbe  zwar  verbunden  sein  mit  einem  bestimmten  ner- 
vösen Prozess,  aber  er  unterscheidet  zwischen  diesem  als  dem  hinzu  ge- 
dachten physischen  Korrelate  des  psychischen  Phänomens  und  dem  Phä- 
nomen selbst.  Wenn  er  von  einem  grünen  Blatte,  von  einer  grünen 
Strahlung,  einer  grünen  Regung  des  inneren  Auges  spricht,  so  ist  er  sich 
bewusst,  dass  er  dies  nur  etwa  mit  demselben  Rechte  thun  darf,  mit  wel- 
chem man  von  einem  Weinstock,  einer  Weintraube,  einer  Weinflasche 
spricht.  Wie  das  Getränk  Wein  kein  gemeinsamer  Bestandteil  des  Stockes, 
der  Traube,  der  Flasche  ist,  so  ist  auch  das  Grün  keine  gemeinsame  Eigen- 
schaft des  Blattes,  der  Strahlung  und  der  nervösen  Regung.  Wir  pflegen 
eben  Dingen  oder  Vorgängen,  welche  in  einem  genetischen  oder  auch  nur 
ganz  äußerlichen  Zusammenhange  stehen,  sehr  häufig  dasselbe  Beiwort  zu 
geben. 

Wir  haben  demnach  streng  zu  unterscheiden  zwischen  den  Farben 
als  Sehqualitäten  oder  sogenannten  psychischen  Phänomenen  und  den 
näheren  oder  entfernteren  physischen  Bedingungen  oder  Veranlassungen 
dieser  Phänomene,  und  wir  dürfen  nie  vergessen,  dass  das  Auftreten  einer 
Farbe  zunächst  geknüpft  erscheint  an  bestimmte  Regungen  des  inneren 
Auges,  welche  ihrerseits  durch  ins  äußere  Auge  fallende  Strahlungen  ver- 
anlasst, aber  auch  ohne  solche  aus  ganz  anderen,  inneren  Ursachen  er- 
weckt werden  können. 

So  oft  ich  im  folgenden  von  Schwarz,  Weiß,  Grün  u.  s.w.,  überhaupt  von 
Farben  schlechtweg  spreche,  meine  ich  damit  lediglich  die  bezügliche  Seh- 
qualität, nicht  aber  eine  Strahlung  oder  einen  Farbstoff.  Ich  werde  jedoch 
kein  Bedenken  tragen,  von  weißem  Papier,  rotem  Glase  u.  s.  w.  zu  sprechen, 
womit  immer  gesagt  sein  soll,  dass  es  sich  um  ein  Papier  bezw.  ein  Glas 
handelt,  welches  unter  den  gewöhnlichsten  Bedingungen  des  Sehens 
weiß  bezw.  rot  erscheint.  Solche  Zugeständnisse  darf  man  dem  Sprach- 
gebrauche wohl  machen.  Auch  von  roten  oder  blauen  Strahlungen  darf 
man  sprechen,  wenn  man  darunter  solche  versteht,  die,  ins  Auge  gelangt, 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  Rot  oder  Blau  hervorrufen,  wenn  sie  uns 
auch  in  anderen  Fällen  ganz  andere  Farben  veranlassen  können.  Aber 
so  weit  sollte  man  nicht  gehen,  wie  der  große  Meister  der  physiolo- 
gischen Optik  Helmholtz,  die  optischen  Strahlungen  selbst   als  Farben  zu 


4  Lehre  vom  Lichtsinn. 

bezeichnen  und  z.  B.  von  einfachen  oder  zusammengesetzten  Farben  da 
zu  sprechen,  wo  es  sich  nur  um  einfache  oder  zusammengesetzte  Strah- 
lungen handelt  (1  und  2).  Mit  demselben  Rechte  könnte  man  die  Farb- 
stoffe Ultramarinblau  und  Chromgelb  als  einfache  Farben  und  ihre  grün 
erscheinende  Mischung  als  eine  zusammengesetzte  Farbe  bezeichnen.  Der- 
artiges mag  in  einem  Lehrbuch  der  Physik  bezw.  der  koloristischen 
Technik  am  Platze  sein,  wäre  aber  unzweckmäßig  in  einem  Werke  über 
den  Farbensinn. 

Da  Helligkeit  ebenso  wie  Dunkelheit  eine  Eigenschaft  der  Farben 
und  nicht  der  Strahlungen  oder  der  wirklichen  Dinge  ist,  so  werde  ich  auch 
nicht,  wie  man  noch  vielfach  thut,  die  Intensität  oder  Energie  der  Strah- 
lungen als  Helligkeit  bezeichnen,  sondern  ganz  ausschließlich  nur  den 
Farben,  als  den  Sehqualitäten,  Helligkeit  oder  Dunkelheit  zu- 
schreiben; wenn  ich  aber  von  Lichtstärke  spreche,  hierunter  ganz 
ausschließlich  die  Energie  der  Strahlung  verstehen,  indem  ich 
dabei  das  Wort  Licht  in  rein  physikalischem  Sinne  nehme.  Nach  seinem 
ursprünglichen  Sinne  bezeichnet  dasselbe  freilich  das  Sinnesphänomen  und 
nicht  das  physikalische  Agens,  welches  die  häufigste,  wenn  auch  keines- 
wegs die  einzige  Veranlassung  des  Phänomens  ist. 

Schwarz,  Grau,  Weiß,  welche  ich  oben  ebenfalls  als  Farben  bezeichnet 
habe,  werden  gewöhnlich  als  farblose  Gesichtsempfmdungen  von  den  Far- 
ben im  engeren  Sinne  unterschieden.  Wenn  wir  jedoch  die  letzteren,  näm- 
[lich  Rot,  Gelb,  Grün,  Blau  und  ihre  Zwischenfarben,  also  alle  Farben  von 
bestimmtem  »Farbenton«  (Helmholtz)  als  bunte  oder  getönte  Farben, 
Weiß  und  Schwarz  aber  samt  ihren  grauen  Zwischenstufen  als  ton- 
freie oder  ungetönte  Farben  bezeichnen,  so  könnten  wir  hier  das  AVort 
Empfindung  entbehren  imd  alle  Qualitäten  des  Gesichtssinnes  mit  dem 
einen  Worte  Farbe  umfassen.  Im  allgemeinen  werde  ich  dies  im  folgen- 
den auch  thun  und  nur  da,  wo  dem  an  die  übliche  Terminologie  ge- 
wöhnten Leser  ein  Missverständnis  erwachsen  könnte,  das  Wort  Empfin- 
dung gebrauchen. 

§  3.  Die  Farben  als  sogenannte  Empfindungen.  Es  steht  nicht 
im  Einklang  mit  dem  ursprünglichen  Sinne  des  Wortes  Empfindung,  wenn 
man  die  Farben  als  Empfindungen  bezeichnet.  Jenem  Sinne  entspricht  es 
wohl,  zu  sagen,  man  empfinde  Schmerz,  Wollust,  Wärme,  Kälte,  nicht 
aber,  zu  sagen,  man  empfinde  Weiß,  Rot  oder  Schwarz.  Empfindungen 
sind  im  Sinne  unserer  Sprache  etwas,  was  man  in  oder  an  seinem  Leibe 
spürt,  die  Farben  aber  erscheinen  stets  außerhalb  unseres  Leibes  und 
insbesondere  außerhalb  unseres  Auges.  Wenn  wir  unsere  eigene  Hand 
sehen,  so  erscheint  uns  ihre  Fleischfarbe  allerdings  an  einem  Teile  unseres 
Leibes,   doch   aber  außer  unserem  Auge,  und  wir  sagen  nicht,    dass  wir 


§  3.    Die  Farben  als  sogenannte  Empfindungen.  5 

ihre  Farbe  empfinden,  sondern  dass  wir  sie  sehen.  Denn  die  Hand 
ist  für  den  sie  Sehenden  auch  nur  ein  Teil  seiner  Sehwelt,  den  er  jedoch, 
weil  die  Bewegungen  der  Hand  unter  seiner  unmittelbaren  Herrschaft  stehen, 
zu  seinem  leiblichen  Ich  rechnet.  Für  den  Neugeborenen  aber,  dem  das 
erste  Mal  seine  Hand  ins  Gesichtsfeld  kommt,  spielt  dieselbe  als  Sehding 
zunächst  dieselbe  Rolle  wie  die  Hand  eines  anderen,  neben  ihm  liegenden 
Kindes,  und  er  befindet  sich  zu  seiner  Hand  in  einem  ähnlichen  Verhält- 
nis, wie  der  junge  Hund  zu  seinem  Schwänze,  wenn  er  ihn  einmal  zufällig 
sieht  und  nach  demselben  als  nach  etwas  nicht  zu  ihm  selbst  Gehörigem 
schnappt. 

Soll  ich  aber  im  Anschluss  an  den  Sprachgebrauch  der  Gelehrten  die 
Farben  Empfindungen  nennen,  so  muss  ich  auch,  wenn  ich  eine  Kirsche 
sehe,  sagen  dürfen,  dass  ich  eine  rote  rundliche  Empfindung  habe,  und  dass 
der  Ort  dieser  meiner  Empfindung  außerhalb  meines  Leibes  auf  dem  gleich- 
zeitig vor  mir  erscheinenden  Baume  ist,  welcher  hier  auch  nur  als  Sehding 
in  Betracht  kommt  (3,  S.  345).  Den  physischen  Vorgang,  welchen  die  von 
der  Kirsche  in  mein  Auge  gesandte  Strahlung  in  der  nervösen  Substanz 
desselben  veranlasst,  denke  ich  mir  allerdings  in  meinem  Körper.  Aber 
dieser  Vorgang  ist  eben  keine  Farbe;  man  kann  ihn  als  das  physiologische 
Korrelat  der  Farbe  bezeichnen,  aber  nicht  selbst  Farbe  nennen,  und  welche 
Vorstellungen  immer  man  sich  von  diesem  Vorgange  machen  möge,  keinen- 
falls  wird  selbst  der  Unkundigste  sich  denselben  rot  und  rundlich  denken 
wie  die  Kirsche. 

Man  hat  freilich  auch  den  durch  eine  Strahlung  veranlassten  physio- 
logischen Prozess  in  der  Netzhaut  bezw.  im  Sehnerven  und  Gehirn  als  Em- 
pfindung bezeichnet  und  z.  B.,  wie  dies  noch  Helmholtz  that,  von  einer 
Leitung  der  Empfindung  durch  den  Sehnerven  zum  Gehirn  gesprochen,  wie 
man  jetzt  von  einer  Leitung  der  Erregung  spricht.  Wenn  man  sich  einmal 
darüber  geeinigt  hätte,  könnte  man  freilich  den  Erregungsvorgang  oder, 
wie  ich  es  vorhin  nannte,  die  physische  Regung  unseres  inneren  Auges 
Empfindung  nennen;  dann  dürfte  man  aber  nicht  gleichzeitig  auch  das 
Sinnesphänomen,  hier  also  die  Farbe,  als  Empfindung  bezeichnen,  wenn 
man  Missverständnisse  und  Unklarheiten  ausschließen  will. 

Um  die  für  uns  im  Dunkel  liegende  Entstehungsweise  der  Gesichtswahr- 
nehmungen hat  sich  ein  ganzer  Kreis  von  Hypothesen  gebildet.  So  sollte  z.  B. 
die  auf  die  Netzhaut  fallende  Strahlung  in  uns  ein  Etwas  veranlassen,  von  dem 
man  nicht  recht  zu  sagen  wusste,  ob  es  ein  Physisches  oder  ein  Psychisches 
oder  beides  zugleich  sei.  Dieses  Etwas  sollte  ursprünglich  nicht  raumhaft  sein, 
sondern  erst  infolge  der  Erfahrung  räumliche  Eigenschaften  gewinnen.  Ursprüng- 
lich in  den  Augen  oder  im  Gehirn  sitzend  sollte  dieses  Etwas  dann  in  den 
Außenraum  hinaus  projiziert  werden.  Solange  es  noch  in  unserm  Körper  bezw. 
im  Auge  w'ar,  oder  solange  es  noch  keine  räumlichen  Eigenschaften  hatte,  sollte 
es  »reine«  Empfindung,  war  es  bereits  draußen,   sollte  es  Vorstellung  beziehungs- 


6  Lehre  vom  Lichtsinn. 

weise  Wahrnehmung  sein.  Das  sind  Meinungen;  Thatsache  aber  ist,  dass  uns, 
soweit  unsere  Erinnerung  zurückreicht,  die  Farben  nie  innerhalb  unseres  Auges 
erschienen,  dessen  Bekanntschaft  der  Mensch  überhaupt  erst  verhältnismäßig 
spät  macht;  Thatsache  ist  ferner,  dass  unsere  Außendinge,  insoweit  wir  sie 
sehen,  lediglich  aus  Farben  bestehen ;  daher  man  also  entweder  aufhören 
müsste,  die  Farben  als  Empfindungen  zu  bezeichnen,  oder  wenn  man  dies  thut, 
auch  zugeben  müsste,  dass  sie  Empfindungen  sind,  welche  ihren  Ort  außerhalb 
unseres  Leibes  haben. 

Will  man  die  Farben  entweder  wegen  ihrer  räumlichen  Eigenschaften  oder 
weil  sie  ihren  Ort  vor  uns,  nicht  in  uns  und  insbesondere  nicht  dort  haben, 
wo  wir  unser  Auge  fühlen  oder  uns  dasselbe  denken,  Vorstellungen  nennen, 
so  ist  dies  ebenfalls  Sache  der  Übereinkunft.  Zweckmäßiger  aber  scheint  es 
mir,  das  Wort  Vorstellung  auf  die  nicht  in  sinnhcher  Frische  und  Unmittelbarkeit 
erscheinenden,  sondern  nur  gedächtnismäßig  reproduzierten  Farben  und  Sehdinge 
zu  beschränken. 

Offenbar  bestand  in  der  Psychologie  ein  Bedürfnis,  für  die  Farben,  aus 
denen  die  Sehdinge  bestehen,  eine  Art  Urzustand  anzunehmen,  in  welchem  sie 
noch  nicht  durch  die  umbildende  Hand  der  Erfahrung  gegangen  sind,  und  diesem 
Rohstoffe  einen  anderen  Namen  zu  geben,  als  dem  psychisch  weiter  verarbeiteten ; 
daher  man  jenen  als  reine  Empfindung,  diesen  als  Vorstellung  oder  W^ahrnehmung 
bezeichnete.  Da  ich  mir  aber  unter  einer  Farbe,  die  keinerlei  räumliche  Eigen- 
schaften und  also  auch  keinerlei  Ausdehnung  hätte,  nichts  Brauchbares  zu  denken 
vermag,  so  weiß  ich  auch  mit  den  »reinen«  Gesichtsempfindungen,  wenn  sie 
ganz  unräumliche  sein  sollen,   nichts  anzufangen. 

§  4.  Die  Gedächtnis  färben.  Das,  was  wir  in  einem  gegebenen 
Augenblicke  sehen,  ist  keineswegs  nur  bedingt  durch  die  Art  und  Stärke 
der  ins  Auge  fallenden  Strahlungen  und  den  jeweiligen  Zustand  des  gesamten 
Netzhautapparates,  vielmehr  sind  diese  nur  die  sozusagen  primären  Ent- 
stehungsfaktoren der  durch  die  Strahlungen  veranlassten  Farben.  Zu  ihnen 
gesellen  sich  die  durch  allerlei  Nebenumstände  geweckten  Reproduktionen 
des  früher  Erfahrenen,  welche  als  sekundäre  und  gleichsam  accidentelle 
Faktoren  das  jeweilige  Sehen  mit  bestimmen. 

Denn  wie  der  Klang,  welchen  das  Anschlagen  einer  Klaviersaite  erzeugt, 
nicht  bloß  von  der  Art  des  Anschlags  und  von  der  Stimmung  der  Saite, 
sondern  auch  von  der  elektiven  Resonanz  der  übrigen  Saiten  und  überhaupt 
aller  in  der  Nähe  befindlichen  resonierenden  Teile  abhängt,  so  sind  auch 
die  Regungen,  welche  durch  eine  ins  Auge  fallende  Strahlung  in  der  ner- 
vösen Substanz  herbeigeführt  werden,  nicht  bloß  durch  die  Art  und  Stärke 
der  Strahlung,  die  angeborene  Beschaffenheit  und  den  jeweiligen  Zustand 
der  zunächst  betroffenen  Teile  bedingt,  sondern  auch  durch  die  angeborene 
oder  erworbene  Beschaffenheit  aller  mit  den  primär  erregten  in  funktioneller 
Verbindung  stehenden  Teile  des  inneren  Auges  (3,  S.  565—69). 

Der  Laie  ist,  wie  schon  gesagt,  überzeugt,  dass  die  Außendinge  be- 
stimmte Farben   besitzen,    dass   der  Schnee   weiß,   der  Ruß   schwarz,   das 


§  4.    Die  Gedächtnisfarben.  7 

Gold  gelb  sei.  Er  schreibt  diesen  Farben  ein  vom  Auge  unabhängiges 
Bestehen  zu,  bezeichnet  sie  als  die  wirklichen  Farben  der  bezüglichen 
Dinge  und  unterscheidet  sie  von  den  zufälligen  Farben,  welche  dieselben 
Dinge  unter  ungewöhnlichen  Umständen,  z.  B.  bei  unzureichender  oder  von 
der  gewöhnlichen  Tagesbeleuchtung  stark  abweichender  Beleuchtung  zeigen 
können.  Das  Rot  der  Berggipfel  beim  Alpenglühen,  die  Leichenblässe  eines 
von  Natriumlicht  beleuchteten  Gesichts,  die  bunten  Flecke  des  Fußbodens, 
auf  welche  das  durch  bunte  Fensterscheiben  gehende  Sonnenlicht  fällt,  sind 
solche  zufällige  Farben,  die  wir  auf  die  jeweilige  Art  der  Beleuchtung  be- 
ziehen und  nicht  für  Eigenschaften  der  betroffenen  Dinge  nehmen.  Wer 
jedoch  gelernt  hat,  dass  der  Schnee  seine  weiße,  das  Gold  seine  gelbe  Farbe 
den  von  ihnen  zurückgeworfenen  Strahlen  des  Tageslichtes  zu  danken  hat, 
kommt  wohl  gar  zu  der  Ansicht,  die  wirkliche  Farbe  der  Außendinge  sei 
eigentlich  schwarz,  weil  ihm  irrigerweise  Schwarz  nur  soviel  als  ein  voll- 
ständiges Fehlen  der  Lichtstrahlen  bedeutet.  So  oft  er  aber  z.  B.  an  den 
Schnee  denkt,  stellt  er  sich  denselben  doch  wieder  weiß  vor;  und  so  ergeht 
es  allen,  mögen  sie  viel  oder  gar  nicht  über  das  Wesen  der  Farben  nach- 
gedacht haben.  Auch  der  Mineralog,  für  welchen  der  Schnee  aus  einer 
Anhäufung  kleiner  farblos  durchsichtiger  Wasserkrystalle  besteht,  der 
Chemiker,  für  den  diese  Krystalle  wieder  aus  zahllosen  Molekeln  und  Atomen 
aufgebaut  sind,  ein  Physiker,  der  keine  Molekeln  und  Atome,  sondern  nur 
Energien  gelten  lässt:  sie  alle  verbinden  zwangsweise  mit  der  Vorstellung 
des  Schnees  die  weiße  Farbe. 

Denn  die  Farbe,  in  welcher  wir  ein  Außending  überwiegend  oft  gesehen 
haben,  prägt  sich  unserem  Gedächtnis  unauslöschlich  ein  und  wird  zu  einer 
festen  Eigenschaft  des  Erinnerungsbildes.  Was  der  Laie  die  wirkliche  Farbe 
eines  Dinges  nennt,  ist  eine  in  seinem  Gedächtnis  gleichsam  fest  gewordene 
Farbe  desselben;  ich  möchte  sie  die  Gedächtnisfarbe  des  Dinges  nennen. 
Damit  scheint  mir  ausgedrückt,  in  welcher  Weise  diese  sogenannte  wirk- 
liche Farbe  entsteht,  und  wie  sie  notwendig  von  allerlei  individuellen  Zu- 
fälligkeiten des  von  uns  Erlebten  einerseits  und  von  der  Beschaffenheit 
unseres  Sehorganes  andererseits  abhängt.  Für  den  Farbenblinden  z.  B.  muss 
die  »wirkliche«  Farbe  eines  Außendinges  in  vielen  Fällen  eine  ganz  andere 
sein  als  für  den  Menschen  mit  normalem  Farbensinn.  Auch  wird  die  Ge- 
dächtnisfarbe eines  Dinges  nicht  eine  ganz  bestimmte  sein  müssen,  sondern 
sie  wird  ihrer  Entstehung  gemäß  eine  gewisse  Schwankungsbreite  haben 
können. 

Wie  die  Gedächtnisfarbe  eines  Dinges  immer  mit  aufwacht,  wenn  durch 
ein  beliebiges  anderes  Merkmal  desselben  oder  auch  nur  durch  das  Wort, 
mit  welchem  wir  das  Ding  bezeichnen,  ein  Erinnerungsbild  desselben  geweckt 
wird,  so  wird  sie  ganz  besonders  wachgerufen,  wenn  wir  das  bezügliche 
Ding  wieder  sehen  oder  auch  nur  zu  sehen  meinen,   und   sie  ist  dann  für 


g  Lehre  vom  Lichtsinn. 

die  Art  unseres  Sehens  mit  bestimmend.  Alle  Dinge,  die  uns  bereits  aus 
Erfahrung  bekannt  sind,  oder  die  wir  für  etwas  uns  nach  seiner  Farbe 
schon  Bekanntes  halten,  sehen  wir  durch  die  Brille  der  Gedächtnisfarben 
und  deshalb  vielfach  anders,  als  wir  sie  ohne  dieselbe  sehen  würden.  Bei 
der  gewöhnlichen  Flüchtigkeit  des  Sehens  kann  sogar  die  Gedächtnisfarbe 
eines  eben  sichtbaren  Dinges  an  die  Stelle  einer  ganz  anderen  Farbe  treten, 
welche  wir  gesehen  hätten,  wenn  jeder  Anlass  zur  Reproduktion  einer 
Gedächtnisfarbe  ausgeschlossen  wäre,  immer  vorausgesetzt,  dass  wir  der 
Farbe  nicht  besondere  Aufmerksamkeit  zuwenden.  Große  Fertigkeit  besitzen 
wir,  die  sogenannte  wirkliche  Farbe  eines  Dinges  von  den  zufälligen  Farben 
desselben  zu  scheiden.  So  sondern  sich  für  uns  jene  fein  abgestuften 
Schatten  auf  der  Oberfläche  eines  Körpers,  welche  uiis  die  Wahrnehmung 
seiner  Form,  seines  Reliefs,  seiner  Entfernung  mit  vermitteln  helfen,  als 
etwas  Accidentelles  von  der  Farbe  der  schattentragenden  Fläche,  und  wir 
meinen  außer  dem  Dunkel  des  Schattens  und  durch  ihn  hindurch  die  »wirk- 
liche« Farbe  der  Fläche  zu  sehen.  Die  an  glatten  Flächen  auftretenden 
Glanzfarben  trennen  sich  in  der  Wahrnehmung  gewissermaßen  von  den 
»wirklichen«  Farben  der  Fläche.  Eine  beschattete  Stelle  eines  ebenen  weißen 
Blattes  erscheint  uns  anders  als  ein  grauer  Fleck  auf  dem  Papier,  welcher 
genau  dieselbe  Strahlung  aussendet,  wie  die  schattige  Stelle ;  ein  heller  Fleck 
auf  unserem  Rocke  ganz  anders  als  eine  zufällig  stärker  beleuchtete  Stelle 
desselben,  und  zwar  auch  dann,  wenn  die  bezügliche  Strahlung  beidenfalls 
dieselbe  ist.  Dies  alles  lässt  sich  leicht  sehen,  aber  schwer  beschreiben 
(4,  §  24). 

Hänge  ich  z.  B.  an  einen  Coconfaden  ein  Papierschnitzel  so  auf,  dass 
es  mittels  einer  passend  angebrachten  kleinen  Glühlampe  einen  schwachen 
Schatten  auf  mein  Schreibpapier  wirft,  so  sehe  ich  den  Schatten  als  ein 
zufällig  auf  dem  Weiß  liegendes  Dunkel.  Ziehe  ich  aber  um  den  Kern- 
schatten einen  breiten  schwarzen  Strich,  der  den  Halbschatten  vollkommen 
deckt,  so  sehe  ich  innerhalb  des  schwarzen  Umrisses  eine  graue  Stelle  genau 
so,  wie  wenn  hier  das  weiße  Papier  mit  Tusche  grau  gefärbt  oder  ein 
Stück  grauen  Papiers  mit  schwarzem  Rande  auf  das  weiße  Papier  geklebt 
wäre.  Durch  die  Verdeckung  des  Halbschattens  hat  die  dunklere  Stelle 
ein  wesentliches  Kennzeichen  des  Schattens  verloren.  Verschiebe  ich  nun 
entweder  das  schattenwerfende  Schnitzel  oder  das  Papier  ein  wenig,  so 
verschiebt  sich  entsprechend  der  Schatten  etwas  gegen  die  schwarze  Um- 
randung, und  dieselbe  Stelle,  die  mir  eben  noch  als  ein  graufarbiger 
Fleck  erschien,  giebt  mir  sofort  wieder  den  Eindruck  eines  beschatteten 
Weiß.  Es  handelt  sich  dabei  um  ein  wesentlich  verschiedenes  Sehen 
und  nicht  etwa  nur  um  unser  Wissen  von  der  Verschiedenheit  der  äußeren 
Umstände. 

Durch  ein  Loch  im  Fensterladen  eines  durch  andere  Fenster  beleuch- 


§  4.    Die  Gedächtnisfarben.  9 

teten  Zimmers  fällt  das  Sonnenlicht  auf  eine  begrenzte  Stelle  meines 
schwarzen  Rockes:  ich  sehe  einen  grauen  Fleck  auf  demselben  und  will 
ihn  abstauben.  Sobald  ich  aber  die  Stelle  etwas  genauer  betrachte,  sehe 
ich  keinen  Staubfleck  mehr,  sondern  nur  ein  dem  Schwarz  des  Rockes 
aufliegendes  Licht  und  bin  selbst  bei  indirektem  Sehen  kaum  im  stände, 
mir  den  ersten  Eindruck  wieder  herzustellen.  Oder  ich  gehe  unter  einem 
dichten  Laubdache  einen  Weg,  auf  dem  an  beschränkter  Stelle  durch  eine 
Lücke  des  Blätterdaches  direktes  Sonnenlicht  fällt:  im  ersten  Augenblicke 
meine  ich  eine  durch  verschütteten  Kalk  weiß  gefärbte  Stelle  zu  sehen; 
sobald  ich  aber  genauer  aufmerke,  sehe  ich  kein  Weiß  mehr,  sondern  nur 
ein  auf  dem  graubraunen  Boden  liegendes  Licht. 

Man  nehme  am  Fenster  stehend  in  die  eine  Hand  ein  weißes,  in  die 
andere  ein  graues  Papier  und  halte  dieselben  bei  kleinem  gegenseitigen 
Abstand  zunächst  horizontal  nebeneinander.  Beide  Papiere  sollen  steif,  ganz 
eben,  matt  und  undurchsichtig  sein.  Neigt  man  nun  das  graue  Papier  dem 
Fenster  zu,  das  weiße  von  demselben  ab,  so  wird  sehr  bald  das  Netzhaut- 
bild des  grauen  lichtstärker  sein  als  das  des  weißen,  aber  obgleich  man 
die  Helligkeitsänderungen  bemerkt,  sieht  man  doch  das  jetzt  lichtstärkere 
»wirklich«  graue  Papier  noch  grau  und  das  jetzt  lichtschwächere  »wirklich« 
weiße  noch  weiß.  Betrachtet  man  jedoch  die  Papiere  nur  mit  einem  Auge 
durch  eine  irgendwie  fixierte  Röhre,  so  gelingt  es  leicht,  ihre  Farben  in 
einer  und  derselben  Ebene  zu  sehen,  falls  ihre  beiden  Bilder  unmittelbar 
und  ohne  Beschattung  des  einen  aneinander  grenzen,  und  von  jedem  Papier 
nur  noch  ein  Segment  sichtbar  ist.  Jetzt  sieht  man  das  graue  Papier  heller 
und  das  weiße  dunkler,  wie  es  einer  Verschiedenheit  der  beiden  Licht- 
stärken entspricht.  Die  in  beiden  Fällen  verschiedene  Lokalisierungsweise 
der  Farbenflächen  wirkt  hier  also  mitbestimmend  auf  die  gesehene  Farbe. 
Neigen  wir  ein  graues  oder  weißes  Papier  abwechselnd  dem  Fenster  zu 
oder  von  ihm  ab,  so  nehmen  wir  den  sichtbar  eintretenden  Zuwuchs  an 
Weißlichkeit  (Helligkeit)  oder  Schwärzlichkeit  (Dunkelheit)  der  Fläche  als 
ein  bloßes  Accidens  zu  ihrer  »wirklichen«  Farbe;  das  weiße  wie  das  graue 
Blatt  behält  für  uns  die  Farbe  »die  es  wirklich  hat«,  wenn  es  auch  zufällig 
heller  oder  dunkler  aussieht.  Wir  sehen  also  hier  nicht  die  »wirkliche« 
Farbe  der  Fläche  sich  ändern,  wie  dies  der  Fall  ist,  wenn  auf  der  Fläche 
aus  irgendwelchem  Grunde  ein  »Fleck«  entsteht,  sondern  die  der  Fläche  zu- 
gehörige Farbe  scheint  uns  fort  zu  bestehen,  obwohl  wir  ihre  Änderung  that- 
sächlich  bemerken.  In  vielen  Fällen  wird  sogar  ein  zufälliger  Weißlichkeits- 
oder  Schwärzlichkeits- Zuwuchs  einer  Fläche  als  etwas  von  ihrer  »wirk- 
lichen« Farbe  völlig  Gesondertes  gesehen:  so  z.  B.  wenn  ein  Schatten  über 
eine  Fläche  läuft  oder  ein  bewegter  spiegelnder  Körper  einen  sich  bewe- 
genden Lichtfleck  auf  der  Fläche  erzeugt. 

So  sehen  wir  auch  einen  schlecht  beleuchteten  Winkel  eines  im  übrigen 


10  Lehre  vom  Lichtsinn. 

gut  beleuchteten  Zimmers  bedeckt  oder  erfüllt  von  einem  Schwärzlichen, 
hinter  welchem  wir  das  im  Winkel  Befindliche  in  seiner  wirklichen  Farbe 
zu  sehen  meinen.  Analoges  gilt  von  allem,  was  sich  im  Hintergrunde  eines 
nur  einseitig  durch  Fenster  beleuchteten  Zimmers  befindet.  Wenn  es  vollends 
im  Zimmer  zu  dämmern  beginnt,  legt  sich  ein  zunehmendes  Halbdunkel 
zwischen  uns  und  die  entfernteren  Dinge,  durch  welches  hindurch  wir  die- 
selben wie  durch  einen  grauen  Nebel  sehen. 

Das  im  Hintergrunde  eines  Zimmers  Befindliche  ist  schlechter  beleuchtet 
als  das  in  der  Nähe  des  Fensters  Liegende;  dementsprechend  müsste  für 
uns,  wie  man  meinen  könnte,  die  Farbe  eines  Dinges  um  so  schwärzlicher 
sein,  je  weiter  es  vom  Fenster  abliegt.  Dies  ist  auch  in  deutlichster  Weise 
der  Fall,  wenn  wir  z.  B.  zwei  ganz  gleiche  weiße  Blätter  in  zureichend 
verschiedener  Entfernung  vom  Fenster  hintereinander  und  parallel  zu  dessen 
Fläche  so  aufstellen,  dass  wir  durch  eine  dicht  an  ein  Auge  gehaltene  Röhre 
von  beiden  Papieren  nur  je  ein  halbkreisförmiges  Stück  und  zwar  beide  in 
derselben  Ebene  sehen;  das  eine  erscheint  dann  weiß,  das  andere  grau. 
Betrachten  wir  aber  die  Papiere  aus  ganz  demselben  Standpunkte  binokular 
ohne  Röhre,  so  sehen  wir  beide  weiß. 

Besonders  belehrend  ist  folgender  Versuch:  Stelle  ich  mich  mit  dem 
Rücken  an  ein  Fenster,  halte  vor  mich  ein  Stück  matten  dunkelgrauen 
Papieres  in  vertikaler  Lage  und  betrachte  mit  beiden  Augen  abwechselnd 
dieses  Papier  und  die  dahinter  liegende  weißgetünchte  Zimmerwand,  so 
erscheint  mir  letztere  weiß,  ersteres  dunkelgrau,  obwohl  es  wegen  seiner 
günstigeren  Beleuchtung  viel  lichtstärker  ist,  als  die  Wand.  Nun  fixiere 
ich,  ohne  die  Lage  des  Papieres  oder  meines  Kopfes  irgendwie  geändert 
zu  haben,  mit  nur  einem  Auge  den  oberen  Rand  des  grauen  Papieres  und 
bemühe  mich  die  Farben  des  Papieres  und  der  Wand  in  einer  Ebene  zu 
sehen:  jetzt  erscheint  mir  allerdings  die  Wand  dunlder  als  das  Papier. 
Sobald  ich  aber  wieder  nur  die  Wand  betrachte,  ohne  gleichzeitig  das 
Papier  besonders  zu  beachten  oder  umgekehrt,  sehe  ich  wieder  die  Wand 
weiß,  das  Papier  dunkelgrau.  Es  lässt  sich  so  einrichten,  dass  das  graue 
Papier  bei  einer  bestimmten  Lage  genau  dieselbe  Lichtstärke  hat,  wie  die 
von  ihm  teilweise  verdeckte  Wand,  was  in  der  eben  beschriebenen  Weise 
mit  Hilfe  einer  Röhre  leicht  festgestellt  werden  kann.  Trotzdem  sehe  ich 
ohne  Röhre  bei  abwechselnder  binokularer  Betrachtung  der  Wand  und  des 
Papieres  beide  ganz  verschieden,  das  näher  erscheinende  Papier  grau,  die 
ferner  erscheinende  Wand  weiß.  Wenn  ich  aber  den  Rand  des  Papieres  mit 
nur  einem  Auge  fest  fixiere,  und  es  mir  gelingt,  die  Farbe  der  Wand  in 
derselben  Ebene  zu  sehen  wie  die  des  Papieres,  werden  beide  Farben 
ganz  gleich. 

Mit  der  verschiedenen  Lokalisierung  geht  also  auch  hier  trotz  ganz 
gleicher  Lichtstärke  der  beiden  Flächen  und  unveränderter  Stimmung  des 


§  4.    Die  Gedächtnisfarben.  11 

Auges  ein  verschiedenes  Farbensehen  einher.  Bei  alldem  handelt  es  sich 
nicht  etwa  um  irgendwelche  Erwägung  der  Beleuchtungsbedingungen,  unter 
welchen  die  gesehenen  Dinge  sich  eben  befinden,  sondern  darum,  dass 
der  nervöse  Apparat  des  Sehorganes  im  einen  Falle  anders  auf  genau 
dieselbe  Strahlung  reagiert,  als  im  anderen,  weil  durch  Nebenumstände, 
und  zwar  meist  ebenfalls  optische,  beidenfalls  verschiedene  Reproduktionen 
geweckt  werden. 

Dementsprechend  werden  die  tonfreien  Sehqualitäten  auch  verschieden 
bezeichnet,  je  nachdem  sie  als  Eigenschaften  der  Außendinge  und  als  deren 
> wirkliche«  Farbe  genommen  werden,  oder  aber  als  etwas  unabhängig 
von  der  letzteren  Bestehendes  und  für  sie  nur  Accidentelles.  Ersterenfalls 
nennt  man  sie  gewöhnlich  weiß,  grau,  schwarz,  letzterenfalls  hell  oder 
dunkel,  Licht  oder  Schatten  bezw.  Finsternis.  Im  allgemeinen  giebt  sich 
der  Mensch  gar  keine  besondere  Rechenschaft  von  der  Farbe  die  er  eben 
sieht,  er  macht  die  Farben  gar  nicht  zum  Gegenstand  besonderer  Beachtung, 
sondern  er  benutzt  sie  nur  als  Zeichen,  an  denen  er  die  Dinge  wieder 
erkennt,  und  hierbei  stellt  sich  ihm  sofort  auch  die  Gedächtnisfarbe  der 
wiedererkannten  Dinge  ein.  Es  giebt  Kleiderstoffe,  die  im  Tageslicht  blau, 
im  Gas-  oder  elektrischen  Glühlicht  aber  blaugrün  aussehen,  und  es  kommt 
vor,  dass  der  Träger  eines  derartigen  Stoffes  es  sonderbar  findet,  wenn 
man  denselben  bei  künstlichem  Lichte  blaugrün  nennt,  da  er  selbst  dies 
noch  gar  nicht  bemerkt  hat;  ja  manche  sehen  ihn  auch  dann  noch  blau, 
wenn  man  ihnen  bereits  gesagt  hat,  dass  er  blaugrün  aussieht,  obwohl  sie 
durchaus  farbentüchtige  Augen  haben.  Hierher  gehört  auch  die  That- 
sache,  dass,  wenn  man  jemand  nach  der  Farbe  fragt,  die  er  nachts  bei 
geschlossenen  oder  geöffneten  Augen  sieht,  man  fast  ausnahmslos  die 
Antwort  bekommt,  dass  ihm  da  alles  schwarz  erscheine.  Dabei  handelt  es 
sich  nicht  um  eine  Gedächtnisfarbe,  sondern  darum,  dass  der  Gefragte  sich 
überhaupt  noch  nie  davon  Rechenschaft  gegeben  hat,  was  er  unter  den 
erwähnten  Umständen  sieht,  vielmehr  von  vornherein  überzeugt  ist,  dass, 
wo  keinerlei  Licht  ist,  nur  Schwarz  gesehen  werden  könne. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Thatsachen,  an  welchen  sich  der  Einfluss  der  Er- 
fahrung und  der  Gedächtnisfarben  insbesondere,  sowie  der  jeweiligen  Art  der 
Lokalisierung  auf  das  Farbensehen  darlegen  ließe,  ist  außerordentlich  groß  und 
harrt  noch  einer  umfassenden  Darstellung.  Dies  gilt  besonders  von  dem  Ein- 
flüsse der  Art  des  räumhchen  Sehens  der  Farben  auf  die  letzteren.  Denn  ebenso 
wie  die  Farben  mitbestimmend  werden  können  für  die  Lokahsierung  nach  der 
Dimension  der  Tiefe  (Abschattung  und  Luftperspektive),  ebenso  kann  umgekehrt 
die  Art  der  Lokalisierung  mitbestimmend  werden  für  die  Farben  selbst.  Hierbei 
kommt  mit  in  Betracht,  daß  die  Farben,  wie  schon  angedeutet  wurde,  nicht 
nur  flächenhaft,  sondern  auch  raumhaft,  d.  h.  als  einen  Raum  nach  allen  drei 
Dimensionen  erfüllend  gesehen  werden  können.  Schlagende  Beispiele  liefert  hier- 
für ein  durchsichtiger  farbiger  Glaswürfel,   ein  mit  durchsichtiger  farbiger  Flüssig- 


12  Lehre  vom  Lichtsinn. 

keit  gefülltes  Glas  oder  ein  Strahlkegel,  welchen  man  mit  Hilfe  einer  Sammellinse 
in  ein  trübes  oder  ein  klares,  aber  fluoreszierendes  Medium  wirft. 

Einige  in  die  Reihe  der  oben  besprochenen  gehörige  Erschei- 
nungen sind  irrtümlich  als  Erscheinungen  des  Simultankontrastes 
aufgefasst  worden,  mit  denen  sie  nichts  zu  thun  haben,  worauf  später 
zurückzukommen  sein  wird.  Hier  galt  es  nur,  an  einigen  Beispielen  zu  zeigen, 
wie  notwendig  es  ist,  bei  der  Untersuchung  des  Lichtsinnes  alles,  was  die  Farben 
unbeabsichtigter  Weise  zu  beeinflussen  und  insbesondere  die  Sicherheit  der  Ver- 
gleichung  zweier  Farben  zu  stören  vermag,  überall  wo  es  erforderlich  scheint, 
soweit  als  möglich  auszuschließen. 

§  5.  Herstellung  brauchbarer  Farbenfelder.  Eine  ganz  sichere 
Vergleichung  zweier  Farben  ist  nur  möglich,  falls  die  Nebenumstände, 
welche  außer  der  Art  und  Stärke  der  beiden  Strahlungen  und  der  je- 
weiligen Empfindlichkeit  der  bezüglichen  Teile  des  Sehorganes  auf  die 
Sehweise  von  Einfluss  sein  können,  wenn  auch  nicht  ausgeschlossen,  so 
doch  für  beide  Farben  ganz  gleichwertige  sind.  Beide  Farben  sollen  also, 
abgesehen  von  ihrem  Nebeneinander,  in  ganz  analoger  Weise  lokalisiert 
erscheinen,  und  jede  der  beiden  Farben  soll  so  völlig  homogen  sein,  dass 
sie  an  sich  selbst  keinerlei  Verschiedenheiten  zeigt  und  gar  nicht  als  einem 
bestimmten  Außendinge  angehörig,  sondern  nur  als  ein  unabhängig  von 
einem  bestimmten  Träger  für  sich  bestehendes  ebenes  oder  raumfüllendes 
Quäle  gesehen  wird.  So  lässt  sich  z.  B.  jede  Hälfte  des  Gesichtsfeldes 
eines  Fernrohres  in  so  gleichmäßiger  Weise  mit  je  einer  tonfrei  oder  bunt 
wirkenden  Strahlung  erleuchten,  dass  die  beiden  zu  vergleichenden  Farben 
allen  soeben  gestellten  Anforderungen  entsprechen. 

Benutzt  man  zur  Herstellung  eines  Farbenfeldes  Papier,  so  soll  das- 
selbe ganz  eben  sein,  keinen  Glanz  haben  und  kein  sogenanntes  Korn  zeigen. 
Man  macht  das  Papier  dadurch  eben,  dass  man  es  nach  vorausgegangener 
Befeuchtung  über  eine  passend  zugeschnittene  Glasplatte  spannt.  Zeigt  es 
dann  bei  der  gewünschten  Sehweite  noch  ein  Korn,  so  bringt  man  es  in 
größere  Entfernung  und  stellt  vor  ihm  in  der  gewünschten  Sehw^eite  einen 
ebenen  Papierschirm  mit  passend  geformter  Öffnung  auf,  für  welche  man, 
eventuell  mit  Hilfe  einer  passenden  Glashnse,  das  Auge  akkommodiert:  dann 
wird  bei  passender  Entfernung  des  durch  die  Öffnung  hindurch  sichtbaren 
Papiers  das  Korn  desselben  untermerklich,  und  man  sieht  bei  zweckmäßiger 
Beleuchtung  eine  Farbenfläche  von  idealer  Gleichartigkeit  in  der  Ebene  des 
gelochten  Schirmes. 

Dasselbe  Ziel  erreicht  man  mit  Hilfe  des  Farbenkreisels  (vgl.  §  16). 
Infolge  der  raschen  Rotation  des  Papiers  verschwinden  für  das  Auge  alle 
Unebenheiten  und  sonstige  kleine  Unregelmäßigkeiten,  und  nichts  erinnert 
mehr  daran,  dass  wir  ein  bestimmtes  Papier  vor  uns  haben;  der  Unter- 
schied zwischen  der  rotierenden  und  der  unbewegten  Papierscheibe  ist  oft 


§  6.    Die  angenäherte  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge.  13 

höchst  überraschend.  Alle  zu  solchen  Versuchen  benutzten  Papiere  sollen 
so  matt  als  möglich  sein;  glänzende  Papiere  sind  nur  unter  ganz  beson- 
deren Umständen  brauchbar. 

Schöne  Farbenfelder  erhält  man  ferner  durch  bunte  Gläser  und  Gelatine- 
platten oder  mit  farbiger  Flüssigkeit  gefüllte  Glasgefäße,  welche  aus  Spiegel- 
glasplatten zusammengesetzt  sind.  Dieselben  werden  hinter  einem  Schirm 
mit  rundem  oder  quadratischem  Ausschnitt  angebracht,  und  man  blickt 
durch  letzteren  auf  einen  hinter  den  farbigen  Medien  befindlichen  gut  be- 
leuchteten, ganz  ebenen  weißen  Schirm  oder  einen  Spiegel,  welcher  einen 
größeren  Teil  der  klaren  oder  ganz  gleichmäßig  bewölkten  Himmelsfläche 
spiegelt.  Bei  sorgsamer  Ausführung  erhält  man  ein  durchaus  gleichartiges 
Farben  feld. 

Endlich  lassen  sich,  insoweit  es  sich  um  bunte  Farben  handelt,  die 
einzelnen  Strahlungen  des  Spektrums  zur  Herstellung  in  sich  ganz  gleich- 
artiger Farbenfelder  verwenden.  Entfernt  man  das  Okular  aus  dem  Fernrohr 
eines  gewöhnlichen  Spektralapparates,  setzt  in  die  Gegend  des  Spektrums 
eine  Metallplatte  mit  einem  feinen  Spalte,  dessen  Schneiden  in  die  Ebene 
des  Spektrums  zu  liegen  kommen,  und  bringt  das  Auge  dem  Spalte  mög- 
lichst nahe,  so  sieht  man  die  Fläche  des  Prismas  in  derjenigen  Farbe 
leuchten,  welche  dem  in  den  Spalt  fallenden  Streifen  des  Spektrums  eben 
entspricht.  Durch  Drehung  des  GoUimators  oder  auch  durch  seitliche 
Verschiebung  des  erwähnten  Okularspaltes  kann  man  sich  alle  einzelnen 
Farben  des  Spektrums  nacheinander  in  den  feinsten  Abstufungen  zur  An- 
schauung bringen.  Dem  Farbenfelde  giebt  man  eine  kreisrunde  Form  da- 
durch, dass  man  ein  Diaphragma  mit  passender  Öffnung  nahe  der  Vorder- 
fläche des  Prismas  anbringt.  Man  erhält  jedoch  auf  diese  Weise  nur  ein 
kleines  Farbenfeld,  kann  dasselbe  aber,  wenn  nötig,  mit  Hilfe  eines  ent- 
sprechenden Linsensystems  vergrößern. 

Der  von  mir  benutzte  Apparat  gestattet  die  Herstellung  eines  Farbenfeldes, 
welches  auf  eine  Sehweite  von  30  cm  bezogen  einen  Durchmesser  von  10  cm 
hat,  was  einem  Gesichtswinkel  von  etwa   19°  entspricht. 

§  6.  Die  angenäherte  Farben b'e ständigkeit  der  Seh- 
dinge. Nicht  um  ein  Schauen  der  Strahlungen  als  solcher  handelt  es 
sich  beim  Sehen,  sondern  um  das  durch  diese  Strahlungen  vermittelte 
Schauen  der  Außendinge;  das  Auge  hat  uns  nicht  über  die  jeweilige  Inten- 
sität oder  Qualität  des  von  den  Außendingen  kommenden  Lichtes,  sondern 
über  diese  Dinge  selbst  zu  unterrichten.  Dies  vermag  es  freilich  nur  bei 
einer  zureichenden  Beleuchtung  derselben;  die  fortwährende  Änderung  dieser 
Beleuchtung  aber  ist  dazu  nicht  nur  nicht  erforderlich,  sondern  dieselbe 
würde  vielmehr  dem  Auge  die  Erfüllung  seiner  wesentlichen  Aufgabe  in 
hohem  Grade  erschweren   oder  ganz   unmöglich  machen,   wenn  sie   nicht 


14  Lehre  vom  Lichtsinn. 

durch  ausgleichende  Einrichtungen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unschädUch 
gemacht  würde.  Diese  ermöglichen  es,  dass  wenigstens  innerhalb  gewisser 
Grenzen  der  Beleuchtungsänderung  die  Außendinge  ein  ziemlich  unverändertes 
Aussehen  bewahren,  die  weißen  weiß,  die  grauen  grau,  die  schwarzen 
schwarz  bleiben,  so  dass  wir  sie  auch  an  der  Farbe^  die  sie  uns  hervor- 
rufen, wiederzuerkennen  vermögen  (5,  S.  335 — 38). 

Wir  schreiben,  wie  schon  erörtert  wurde,  den  Außendingen  ganz  be- 
stimmte Farben  zu,  der  Kreide  die  weiße,  dem  Schwefel  die  gelbe,  der 
Kohle  die  schwarze  Farbe;  wir  sprechen  von  weißem  Papier  und  von  den 
schwarzen  Buchstaben  einer  Schrift.  Die  Farbe  ist  uns  ein  wesentliches 
Attribut,  eine  ständige  Eigenschaft  dieser  Dinge. 

Bedenken  wir  dem  gegenüber  die  großen  alltäglich  wiederkehrenden 
quantitativen  und  qualitativen  Verschiedenheiten  der  natürlichen  oder  künst- 
lichen Beleuchtungen,  bei  denen  ein  deutliches  Sehen  möglich  ist,  so  muss 
es  eigentlich  überraschen,  dass  wir  überhaupt  die  Farben  als  den  Dingen 
adhärierende  und  nicht  als  bloß  accidentelle  und  daher  einem  fortwährenden 
Wechsel  unterworfene  Eigenschaften  nehmen,  wie  z.  B.  ihre  Kälte,  Kühle, 
Wärme  oder  Hitze. 

Das  Papier  eines  Buches  sehen  wir  bei  jeder  zum  Lesen  bequemen 
Beleuchtung  weiß  und  die  Buchstaben  schwarz,  ebenso  morgens,  wie  mittags 
oder  abends,  und  gleichviel  ob  wir  bei  blauem  oder  grauem  Himmel  oder 
unter  dem  grünen  Laubdache  eines  Waldes,  ob  wir  bei  Tageslicht,  Gas- 
licht, elektrischem  Bogen-  oder  Glühlicht  lesen.  Die  meisten  bemerken  selbst 
große  Verschiedenheiten  zweier  Beleuchtungen  erst  dann,  wenn  dieselben 
nebeneinander  oder  rasch  nacheinander  zur  Wirkung  kommen. 

Ich  habe  das  Intensitätsverhältnis  festgestellt,  welches  bei  Tagesbe- 
leuchtung zwischen  dem  vom  >weißen«  Papier  und  dem  von  den  »schwarzen« 
Buchstaben  einer  guten  Druckschrift  zurückgeworfenen  Lichte  besteht,  und 
dasselbe  günstigen  Falles  beiläufig  gleich  4  5:1  gefunden.  Dies  bedeutet 
also,  dass  von  der  Flächeneinheit  des  unbedruckten  Grundes  nur  15  mal 
soviel  Licht  zurückgeworfen  wurde,  als  von  der  Flächeneinheit  der  Buch- 
staben. Andererseits  verglich  ich  einige  Male  die  Intensität  der  Beleuchtung 
meines  Arbeitstisches  am  frühen  Morgen,  w^enn  dieselbe  zum  ganz  bequemen 
Lesen  eben  zureichend  war,  mit  der  Beleuchtung  desselben  Tisches  am 
Mittag  eines  hellen  Tages  bei  weißwolkigem  Himmel  und  fand  das  Ver- 
hältnis beiläufig  gleich  1  :  50.  Somit  waren  bei  der  Mittagsbeleuchtung 
die  schwarzen  Buchstaben  etwa  dreimal  lichtstärker  als  bei  der  Morgen- 
beleuchtung das  weiße  Papier,  und  die  Lichtstärke  des  letzteren  betrug  des 
Morgens  nur  etwa  1/3  der  Lichtstärke,  welche  die  Buchstaben  des  Mittags 
hatten.  Trotz  alledem  aber  erschienen  bei  der  einen  und  bei  der  anderen 
Beleuchtung  die  Buchstaben  schwarz  und  das  Papier  w^eiß.  Wäre  die 
Farbe  oder,  wie  man  hier  auch  sagen  kann,  die  Helligkeit  des  Papiers  und 


§  6.    Die  angenäherte  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge.  JL5 

die  Dunkelheit  der  Buchstaben  nicht  innerhalb  weiter  Grenzen  unabhängig 
von  der  Stärke  der  Beleuchtung,  so  hätten  mir  dieselben  Buchstaben,  welche 
ich  des  Morgens  schwarz  sah,  des  Mittags  weiß  und  sogar  noch  viel  heller 
erscheinen  müssen  als  des  Morgens  das  weiße  Papier,  oder  es  hätte  mir 
umgekehrt  das  »weiße«  Papier  des  Morgens  tiefer  schwarz  erscheinen 
müssen,  als  des  Mittags  die  Buchstaben. 

Derartige  Thatsachen  kommen  im  Laufe  eines  jeden  Tages  zahllos  zur 
Beobachtung,  aber  eben  weil  sie  alltäglich  sind,  werden  sie  als  selbstver- 
ständlich hingenommen.  Es  sei  deshalb  noch  folgendes  Beispiel  für  die 
weitgehende  Unabhängigkeit  der  Farbe  von  der  allgemeinen  Beleuchtung 
angeführt,  welches  alle,  denen  ich  es  vorgeführt  habe,  in  hohem  Grade 
überrascht  hat,  obwohl  es  um  nichts  merkwürdiger  ist,  als  das  soeben  be- 
sprochene Beispiel  des  weißen  Papiers  und  der  schwarzen  Buchstaben. 

Die    eine    Kathetenfläche    des    rechtwinkligen    Holzprismas    in    einem 
BouGUER'schen  Photometer  (Fig.  1)    bedecke   ich  mit   einem  ganz   ebenen, 
nicht  glänzenden  braunen,    die  andere   mit   einem  ebensolchen  ultramarin- 
blauen Papier,  welche  beide  sorgfältig 
für   den   Versuch   ausgewählt  worden  ^^^'  ^' 

sind.  Das  braune  Papier  beleuchte 
ich  mittels  eines  Spiegels  durch  das 
Licht  der  weißen  Himmelsfläche,  das 
andere  durch  eine  gewöhnliche  Gas- 
flamme oder  eine  Edisonlampe,  wie 
dies  die  Figur  veranschaulicht.  Durch 
das  vertikale  Rohr  des  Photometers 
betrachtet,  erscheint  bei  passend  ge- 
wählter    Intensität     des     künstlichen 

Lichtes  das  »blaue«  Papier  genau  ebenso  wie  das  »braune«,  d.  h.  ebenfalls 
braun,  weil  in  solchem  Lichte  die  blauwirkenden  Strahlen  von  den  gelb- 
wirkenden völlig  übertönt  werden.  Schließe  ich  aber  die  Fensterladen,  be- 
leuchte das  ganze  Zimmer  mit  Gas-  oder  Edisonlampen  und  nehme  beide 
Papiere  aus  dem  Apparat,  so  erscheint  mir  sofort  das  »blaue«  Papier,  ob- 
wohl es  nach  wie  vor  von  demselben  künstlichen  Lichte  beleuchtet  ist  und 
noch  immer  dasselbe  Strahlgemisch  in  mein  Auge  schickt,  nicht  mehr  braun, 
sondern  wieder  blau,  wie  bei  Tagesbeleuchtung,  wenngleich  dunkler,  während 
das  »braune«  Papier  nach  wie  vor  braun  aussieht.  Hierbei  ist  ganz  gleich- 
gültig, ob  der  Beobachter  die  »wirkliche«  Farbe  der  Papiere  kennt  oder  nicht. 

Der  Versuch  zeigt,  dass  für  unser  Auge  ein  bei  Tagesbeleuchtung  blau 
erscheinendes  Papier  auch  bei  der  ganz  andersartigen  künstlichen  Beleuch- 
tung blau  bleiben  kann,  obwohl  es  jetzt  ein  Strahlgemisch  zurückwirft, 
welches  wir  bei  Tage  auch  nicht  entfernt  blau,  sondern  vielmehr  braun 
sehen.     Hatten  wir  an  dem  mit  schwarzen  Buchstaben  bedruckten  weißen 


Iß  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Papier  ein  Beispi^  für  die  weitgehende  Unabhängigkeit  der  ton  freien  Farhen 
der  Sehdinge  von  der  Intensität  der  allgemeinen  Beleuchtung,  so  haben 
wir  hier  ein  Beispiel  für  die  weitgehende  Unabhängigkeit  einer  bunten  Farbe 
eines  Sehdinges  von  der  Qualität  der  allgemeinen  Beleuchtung. 

Wenn  wir  im  erwähnten  Photometer  die  eine  Hälfte  eines  bedruckten 
Papiers  mit  50mal  stärkerem  Tageslichte  beleuchten,  als  die  andere,  so 
sehen  wir  die  erstere  weiß  mit  schwarzen  Buchstaben,  die  letztere  schwarz 
und  ohne  oder  mit  kaum  erkennbaren  Buchstaben ;  sobald  aber  das  ganze 
Gesichtsfeld  entweder  mit  dem  starken  oder  mit  dem  schwachen  Lichte 
beleuchtet  ist,    erscheint  beiderseits  das  Papier  weiß,   die  Schrift  schwarz. 

Die  angenäherte  Konstanz  der  Farben  der  Sehdinge  trotz  großen  quan- 
titativen oder  qualitativen  Änderungen  der  allgemeinen  Beleuchtung  des 
Gesichtsfeldes  ist  eine  der  merkwürdigsten  und  wichtigsten  Thatsachen  im 
Gebiete  der  physiologischen  Optik.  Ohne  diese  angenäherte  Konstanz  würde 
uns  ein  Stück  Kreide  an  einem  trüben  Tage  dieselbe  Farbe  zeigen,  wie  ein 
Stück  Kohle  an  einem  sonnigen  Tage,  und  im  Laufe  eines  Tages  würde  es 
alle  möglichen  zwischen  schwarz  und  weiß  liegenden  Farben  annehmen 
müssen.  Ebenso  würde  eine  unter  grünem  Laubdache  gesehene  weiße  Blume 
dieselbe  Farbe  zeigen,  wie  ein  grünes  Baumblatt  unter  freiem  Himmel,  und 
ein  bei  Tageslicht  weißer  Zwirnknäuel  müsste  bei  Gaslicht  die  Farbe  einer 
Orange  zeigen.  Wenn  sich  in  dieser  Weise  die  Farben  der  Außendinge  den 
Änderungen  der  Beleuchtung  entsprechend  fortwährend  ändern  würden,  so 
w^ürde  es  gar  nicht  dazu  kommen,  dass  die  einzelnen  Dinge  be- 
stimmte Farben  für  uns  haben,  welche  wir  als  wesentliche 
Eigenschaften  derselben  auffassen  und  als  ihre  wirklichen 
Farben  bezeichnen,  vielmehr  würden  wir  der  Kreide  oder  der  Kohle 
das  Weiß  bezw.  Schwarz  ebensowenig  als  ein  ständiges  Attribut  beilegen, 
wie  dem  Eisen  das  Kalt  oder  Warm,  welches  uns  von  demselben  je  nach 
seiner  wechselnden  Temperatur  erzeugt  und  von  uns  als  eine  nur  zufällige 
Eigenschaft  desselben  genommen  wird.  Die  Gedächtnisfarben  würden 
also  gar  nicht  entstehen  können  (5,  S.  338). 

Dann  könnte  uns  zwar  die  jeweilige  Farbe,  in  der  uns  ein 
bestimmtes  Ding  erscheint,  zu  einem  Merkmal  für  die  Intensität 
oder  Qualität  seiner  Beleuchtung  werden,  nicht  aber  zu  einem 
Merkmal  des  Dinges  selbst.  Nur  weil  innerhalb  der  zu  einem  bequemen 
Sehen  brauchbaren  Beleuchtungen  der  Ruß  stets  schwarz,  das  Mehl  stets 
weiß  aussieht,  werden  diese  Farben  für  uns  zu  einem  ständigen  Merkmal 
jener  Dinge.  Auf  die  Beleuchtung  selbst  aber  pflegen  wir  gar  nicht  zu 
achten,  so  lange  dieselbe  ein  deutliches  Sehen  gestattet  und  nicht  zu  schwach 
oder  aber  blendend  ist. 

Indem  wir  vorerst  von  den  qualitativen  Änderungen  der  allgemeinen 
Beleuchtung  und  den  bunten  Farben   ganz   absehen,   wollen   wir  uns  nun 


§  6.    Die  angenäherte  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge.  17 

fragen,  wie  die  angenäherte  Konstanz  der  tonfreien  Farben  der  Seh- 
dinge trotz  der  fortwährend  sich  ändernden  Stärke  der  Beleuchtung  er- 
müghcht  wird. 

Schon  das  äußere  Auge  besitzt  in  der  Iris  eine  Anpassungsvorrichtung. 
Jede  Verkleinerung  oder  Vergrößerung  der  Pupillenfläche  bedingt  eine  direkt 
proportionale  Verminderung  oder  Vermehrung  des  zur  Netzhaut  gelangenden 
Lichtes,  bedeutet  also  für  das  innere  Auge  dasselbe,  wie  eine  gleichgroße 
Abnahme  oder  Zunahme  der  Beleuchtungsstärke  der  Außendinge.  Da  nun 
die  Pupille  sich  verkleinert,  wenn  die  Stärke  der  Beleuchtung  wächst,  und 
sich  vergrößert,  wenn  letztere  abnimmt,  so  folgt,  dass  die  bleibende  Änderung 
der  Lichtstärke  des  Netzhautbildes  kleiner  sein  wird,  als  die  vorher- 
gegangene  Änderung  der  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes.  Indessen  findet 
ein  derartiger  teilweiser  Ausgleich  der  Beleuchtungsänderungen  durch  die 
Pupille  nicht  entfernt  so  ausgiebig  statt,  dass  sich  schon  hieraus  das  an- 
genäherte Gleichbleiben  der  tonfreien  Farben  innerhalb  der  Grenzen  der 
zum  deutlichen  Sehen  brauchbaren  Beleuchtungsstärken  ableiten  ließe. 

Vielmehr  ist  das  wesentliche  Mittel,  die  Farben  der  Sehdinge  trotz  dem 
Wechsel  der  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  angenähert  konstant  zu  er- 
halten, in  den  Änderungen  der  Empfindlichkeit  des  Auges  gegenüber  dem 
Lichte  gegeben ,  wodurch  sich  das  Sehorgan  jeder  innerhalb  gewisser 
Grenzen  bleibenden  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  seiner  Netzhaut  derart 
anzupassen  vermag,  dass  selbst  große  Änderungen  der  Beleuchtung,  wenn 
sie  nicht  allzuschnell  erfolgen,  nur  verhältnismäßig  geringe  Änderungen  der 
Farben  der  Dinge  herbeiführen. 

Diese  Selbststeuerung  der  Lichtempfindlichkeit  wird  durch  zwei  ver- 
schiedene Einrichtungen  vermittelt,  einerseits  durch  die  Wechselwirkung  der 
somatischen  Sehfeldstellen  (vgl.  §  7  u.  21),  andererseits  dadurch,  dass  das 
innere  Auge  sich  durch  eine  allmähliche  Änderung  seines  Zustandes  mit  jeder 
andauernden  Gesamtbeleuchtung,  sei  dieselbe  schwach  oder  stark,  in  eine  Art 
Gleichgewicht  zu  bringen  vermag,  vermöge  dessen  die  Durchschnittshellig- 
keit im  Sehfelde  immer  wieder  ungefähr  dieselbe  wird.  Inwieweit  dies 
durch  Änderungen  der  Aufnahmsfähigkeit  des  Empfangsorganes  und  inwie- 
weit es  durch  eine  anhaltende  Zustandsänderung  der  Sehsubstanz  (vgl.  §  7) 
selbst  ermöglicht  werden  kann,  wird  später  zu  erörtern  sein. 

AüBERT  (6)  hat  zuerst  die  allmähliche  Anpassung  der  Lichtempfind- 
lichkeit an  die  Beleuchtungsstärke  eingehender  untersucht  und  Adaptation 
benannt.  Ich  habe  dieselbe  als  successive  oder  Dauer-Anpassung  bezeichnet 
zum  Unterschiede  von  der  durch  die  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  ver- 
mittelten Anpassung. 

Diese  Wechselwirkung  besteht  darin,  dass  die  jeweilige  Regung  jedes 
einzelnen  somatischen  Sehfeldelementes  (vgl.  §  7)  mitbestimmend  ist  für 
die  Lichtempfindlichkeit  der  übrigen,  und  dass  umgekehrt  auch  seine  eigene 

Hering,  Lichtsinn.  2 


j^g  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Lichtempfindlichkeit  von  den  gleichzeitigen  Regungen  der  übrigen  Elemente 
mit  abhängt.  So  kommt  es,  dass  die  durch  das  Licht  in  einem  Sehfeld- 
elemente hervorgerufene  Änderung  schon  während  ihrer  Entstehung  und  in 
dem  Maße,  als  sie  unter  dem  Einflüsse  des  Reizes  sich  entwickelt,  um- 
stimmend auf  das  übrige  somatische  Sehfeld  wirkt  und  dessen  Lichtempfind- 
lichkeit mindert.  Auf  diese  Weise  wird  die  Lichtempfindlichkeit  einer  Seh- 
feldstelle zu  einer  Funktion  der  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  und 
insbesondere  um  so  kleiner,  je  stärker  diese  Beleuchtung  ist. 

Die  durch  diese  Wechselwirkung  bedingte  Anpassung  der  Lichtempfind- 
lichkeit vollzieht  sich  also  nahezu  gleichzeitig  mit  der  Änderung  der  Be- 
leuchtung, weshalb  ich  sie  als  simultane  oder  Moment- Anpassung  benannt 
habe,  während  die  successive  Anpassung  das  Fortbestehen  einer  stärkeren 
bezw.  schwächeren  Beleuchtung  zur  Voraussetzung  hat,  daher  man  diese 
Art  der  Anpassung  auch  als  Ermüdung  bezw.  Erholung  bezeichnet  hat. 

Wir  können  somit  sagen,  dass  das  Sehorgan  sich  der  verschiedenen 
Stärke  der  im  Außenraume  herrschenden  Beleuchtung  in  dreifacher  Weise 
anzupassen  vermag,  und  können  eine  Anpassung  des  äußeren  Auges 
mittels  der  Änderungen  der  Pupillenweite  und  eine  Anpassung  des 
inneren  Auges  unterscheiden.  Die  letztere  aber  erfolgt  in  doppelter 
Weise,  erstens  durch  die  Wechselwirkung  der  somatischen  Sehfeldstellen 
aufeinander  und  zweitens  durch  die  Zustandsänderungen,  welche  das  innere 
Auge  infolge  andauernd  stärker  oder  schwächer  gewordener  Gesamt- 
belichtung der  Netzhaut  erfährt  (Adaptation  nach  Aubert). 

Da  Aübert's  bezügliche  Untersuchungen  sich  darauf  beschränkten,  die 
allmähliche  Steigerung  der  Lichtempfindlichkeit  nach  dem  Übertritt  aus 
einem  beleuchteten  in  ein  gänzlich  lichtloses  Dunkel-Zimmer  festzustellen, 
so  gewöhnte  man  sich,  unter  Adaptation  nur  die  Zunahme  der  Lichtempfind- 
lichkeit im  Finstern  zu  verstehen,  obwohl  sicher  schon  Aubert  den  Begriff 
der  Adaptation  weitergefasst  wissen  wollte.  Ich  habe  deshalb  seinerzeit 
der  Dunkeladaptation  die  Helladaptation  gegenübergestellt.  Ausgehend 
von  der  maximalen  Lichtempfindlichkeit,  welche  das  Auge  während  einer 
finsteren  Nacht  annimmt,  kann  man  von  einer  bis  zu  Mittag  wachsenden 
Helladaptation,  und  ausgehend  von  der  kleinen  Lichtempfindlichkeit,  welche 
sich  bei  maximaler  Tagesbeleuchtung  eingestellt  hat,  von  einer  bis  in  die 
Nacht  hinein  zunehmenden  Dunkeladaptation  sprechen. 

Handelt  es  sich  nicht  um  den  Vorgang  der  Anpassung,  sondern  um 
den  Zustand,  in  welchem  sich  das  Auge  infolge  einer  successiven  Anpas- 
sung eben  befindet,  so  verstehe  ich  unter  einem  helladaptierten  Auge  ein 
solches,  welches  für  irgendeine  zum  deutlichen  Sehen  der  Außendinge 
brauchbare  Beleuchtungsstärke  angepasst  ist,  gleichviel  wie  stark  oder 
schwach  die  letztere  im  übrigen  ist;  unter  einem  dunkeladaptierten  Auge 
aber  eines,  das  für  eine  zum  deutlichen  Sehen,  wie  z.  B.   zum  bequemen 


§  6.    Die  angenäherte  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge.  19 

Lesen,  unzureichende  Beleuchtung  angepasst  ist,  wobei  es  zwar  noch 
Außendinge  zu  unterscheiden,  aber  nicht  mit  der  Deuthchkeit  zu  sehen  ver- 
mag, wie  ein  für  eine  brauchbare,  stärkere  Beleuchtung  angepasstes. 

In  der  letzten  Zeit  ist  das  Wort  Adaptation  vielfach  in  einem  so  engen  Sinne 
gebraucht  worden,  dass  es  sich  zur  Bezeichnung  dessen,  was  ich  hier  als  An- 
passung des  Auges  für  die  jeweilige  Beleuchtung  benannt  habe,  gar  nicht  mehr 
eignen  würde.  Man  hat  gesagt,  der  dem  stäbchenlosen  centralen  Netzhautgebiete 
entsprechende  Teil  des  somatischen  Sehfeldes  besitze  überhaupt  kein  Adaptations- 
vermögen. Indem  man  auf  diese  Weise  den  für  das  Sehen  wichtigsten  Teil  des 
Sehfeldes  ausschloss,  ließ  man  die  Adaptation  nur  noch  für  das  indirekte  Sehen 
gelten,  und  schließlich  bedeuteten  für  einzelne  Autoren  die  verschiedenen  Adap- 
tationszustände  nur  noch  einen  verschiedenen  Gehalt  der  Stäbchen  an  Sehpurpur, 
d.  h.  man  glaubte,  abgesehen  von  der  Pupille,  aus  den  Änderungen  des  Purpur- 
gehaltes der  Stäbchen  die  ganze  Anpassung  des  Auges  an  die  Beleuchtungsstärke 
des  Gesichtsfeldes  erklären  zu  können. 

Durch  das  Zusammenwirken  der  besprochenen  Regulierungsvorrichtungen 
oder  Selbststeuerungen  werden  die  Farbenänderungen  im  Sehfelde  in  viel 
engeren  Grenzen  gehalten  als  wie  solche  den  Intensitätsänderungen  der  Be- 
leuchtung gezogen  sind;  die  Farbe,  in  der  uns  ein  Außending  erscheint, 
bekommt  abgesehen  von  den  Grenzfällen  eine  gewisse  Ständigkeit  und  wird 
in  unserem  Gedächtnis  zu  einem  bleibenden,  integrierenden  Bestandteil  des 
Dinges.  Haben  sich  auf  diese  Weise  die  Gedächtnisfarben  der  Dinge  ge- 
bildet, so  werden  sie  weiterhin  ihrerseits  von  Einfluss  auf  die  Art  unseres 
Sehens,  und  zu  den  soeben  beschriebenen  physiologischen  Faktoren,  welche 
neben  den  eben  wirkenden  Strahlungen  die  Farbe  der  Sehdinge  bestimmen, 
gesellt  sich  also  noch  einer,  den  man  nach  der  üblichen  Terminologie  als 
einen  »psychologischen«  insofern  bezeichnen  könnte,  als  er  auf  bereits  ge- 
sammelten, in  der  nervösen  Substanz  fixierten  individuellen  Erfahrungen 
beruht,  während  die  erwähnten  physiologischen  Regulierungs- 
vorrichtungen schon  beim  Erwerb  dieser  Erfahrungen  in  Funk- 
tion sind  und  diese  Erfahrungen  erst  mit  ermöglichen. 

Was  ich  in  §  4  über  den  Einfluss  der  Gedächtnisfarben  mitgeteilt 
habe,  könnte  zu  der  Ansicht  verführen,  dass  die  angenäherte  Konstanz  der 
Farben,  die  ich  soeben  auf  physiologische  Regulierungsvorrichtungen  oder 
Anpassungen  zurückgeführt  habe,  überhaupt  nur  das  Ergebnis  einer  »psycho- 
logischen« Anpassung  an  die  verschiedenen  Beleuchtungen  des  Außenraumes 
sei.  W^enn  wir  z.  B.  den  unbedruckten  Saum  eines  im  Hintergrunde  des 
Zimmers  hängenden  Kupferstiches  nicht  dunkelgrau  sondern  weiß  sehen, 
obwohl  seine  Lichtstärke  vielleicht  kleiner  ist  als  diejenige  eines  in  der 
Nähe  des  Fensters  befindlichen  und  uns  dunkelgrau  erscheinenden  Papieres, 
und  wenn  wir  also  im  stände  sind,  die  mit  der  Entfernung  vom  Fenster 
zunehmende  Schattigkeit  oder  Abnahme  der  Beleuchtungsstärke  bei  der  Art 
unseres  Sehens  gleichsam   mit  einzurechnen,    so   könnte  man  meinen,    dasg 

2* 


20  Lehre  vom  Lichtsinn. 

wir  auch  im  stände  seien,  die  im  Laufe  eines  Tages  eintretenden  Zu-  oder 
Abnahmen  der  Gesamtbeleuchtung  mit  einzurechnen  und  die  »wirklichen« 
Farben  der  Dinge  danach  »abzuschätzen«. 

Helmholtz  war  solcher  Ansicht,  und  dieselbe  ist  in  seiner  Schule  die 
herrschende.  Je  Jnach  der  Art  und  Stärke  der  wirklichen  oder  auch  ver- 
meintlichen allgemeinen  Beleuchtung  sollen  wir  einen  verschiedenen  Maßstab 
an  unsere  Lichtempfmdungen  legen  und  danach  die  Farben  der  Außendinge 
bemessen.  Die  Farbe,  in  welcher  wir  ein  Ding  sehen,  soll  also,  gleichen 
»Ermüdungszustand«  des  Sehorganes  vorausgesetzt,  ein  Ergebnis  dieser 
Bemessung  und  deshalb  bei  gleicher  »Intensität  oder  Qualität  der  Licht- 
empfmdung«  eine  verschiedene,  bei  verschiedener  »Empfmdungs-Intensität 
oder  Qualität«  die  gleiche  sein  können.  Nicht  die  Art  und  das  Ausmaß 
der  physischen  Regungen  der  Sehsubstanz  des  inneren  Auges  soll  hier  das 
Bestimmende  für  die  im  Sehfeld  erscheinenden  Farben  sein,  sondern  ein 
unbewusster  Schluss,  welchen  wir  aus  der  Intensität  der  allgemeinen  Be- 
leuchtung auf  die  »Körperfarben«  ziehen. 

Da  wir  jedoch  nur  auf  Grund  der  Farben,  in  welchen  wir  die 
Dinge  sehen,  zur  Kenntnis  der  Beleuchtungsintensität  als  des  angeblichen 
Maßstabes  unserer  Abschätzungen  kommen  könnten,  andererseits  aber 
eben  diese  Farben  erst  das  Ergebnis  dieser  Abschätzungen  sein  sollen, 
so  bewegt  sich  die  soeben  geschilderte  Auffassung  in  einem  unfruchtbaren 
Zirkel. 

Dass  die  Art,  in  welcher  wir  die  Außendinge  sehen,  in  zuweilen  über- 
wältigender Weise  durch  unsere  Erfahrung  mitbestimmt  wird,  ist  freilich 
richtig;  aber  man  darf  nicht  diejenigen  angeborenen  Funktionen  des 
Sehorganes,  auf  Grund  deren  diese  Erfahrungen  erst  erworben 
worden  sind,  selbst  wieder  als  ein  Produkt  der  Erfahrung  hin- 
stellen. Dies  thut  man  aber,  wie  noch  weiter  gezeigt  werden  wird,  wenn 
man  insbesondere  die  auf  der  Simultananpassung  beruhenden  Thatsachen 
aus  einem  erworbenen,  auf  unbewussten  Schlüssen  und  Urteilen  beruhenden 
»psychologischen«  Anpassungsvermögen  zu  erklären  versucht. 

§  7.  Die  Farben  als  psychische  Korrelate  der  physischen 
Regungen  der  Sehsubstanz.  In  einem  für  Ärzte  geschriebenen  Werke 
braucht  nifht  weiter  auseinandergesetzt  zu  werden,  warum  wir  annehmen, 
dass  das  Sehen,  als  ein  psychisches  Geschehen^  stets  begleitet  ist  von 
einem  physischen  Geschehen  in  der  nervösen  Substanz  des  inneren  Auges, 
und  dass  jeder  Farbe  eine  bestimmte  Regung  des  letzteren  entspricht,  welche 
wir  als  das  somatische  Korrelat  der  Farbe  bezeichnen  können.  Alles 
Sehen  ist  also  für  den  Physiologen  gleichsam  der  psychische  Ausdruck  der 
Regungen  in  der  Sehsubstanz  des  inneren  Auges^  wenn  wir  unter  dieser, 
wie  ich  dies  seinerzeit  gethan,  den  physischen  Träger  derjenigen  Vorgänge 


§  7.   Die  Farben  als  psychische  Korrelate  der  Regungen  der  Sehsubstanz.      21 

verstehen,  mit  welchen  die  Farben  als  psychische  Phänomene  unmittel- 
bar gegeben  sind  (4,  §  25)^). 

Den  einzelnen  Elementen  des  psychischen  Sehfeldes  als  der  Ge- 
samtheit der  jeweiligen  aus  den  Farben  bestehenden  Sehdinge  entsprechen 
die  korrelativen  nervösen  Elemente  des  inneren  Auges,  welche  wir  in  ihrer 
Gesamtheit  als  das  somatische  Sehfeld  benennen  können;  den  ein- 
zelnen Elementen  dieses  somatischen  Sehfeldes  entsprechen  die  zugeordneten 
Elemente  der  Stäbchen-  und  Zapfenschicht  als  der  Trägerin  des  Netzhaut- 
bildes; den  einzelnen  Elementen  des  jeweiligen  Netzhautbildes  entsprechen 
die  Einzelteile  des  Gesichtsfeldes  oder  Gesichtsraumes,  wie  ich  den 
jeweihgen  Komplex  der  sichtbaren  wirklichen  Dinge  im  Gegensatze  zum 
psychischen  Sehfeld  oder  Sehraum  genannt  habe.  So  ergiebt  sich  also 
eine  Kette  von  Relationen,  an  deren  einem  Ende  das  Farbengebilde  oder 
Sehding,  am  anderen  das  wirkliche  Außending  steht.  Wir  haben  die  Auf- 
gabe, die  Gesetze  aller  dieser  Relationen  oder  funktionellen  Zusammenhänge 
möglichst  festzustellen;  mit  anderen  Worten:  wir  haben  für  all  die  ver- 
schiedenen Sehqualitäten  oder  Farben  die  äußeren  und  inneren  Bedingungen 
aufzusuchen,  unter  denen  sie  zur  Erscheinung  kommen. 

Der  Zusammenhang  zwischen  den  Außendingen  und  ihrem  Netzhaut- 
bilde ist  uns  Dank  der  hochentwickelten  Dioptrik  des  Auges  in  allen  Einzel- 
heiten ziemlich  genau  bekannt.  Über  die  Beziehungen  zwischen  dem  Netz- 
hautbilde als  einem  Komplexe  räumlich  verteilter  Lichtenergien  und  den 
Vorgängen  in  der  Stäbchen-  und  Zapfenschicht  als  dem  Empfangsorgane 
oder  Empfänger  des  inneren  Auges  haben  uns  die  Entdeckungen  des  Seh- 
purpurs, der  Netzhautströme  und  der  morphologischen  Änderungen  in  der 
Netzhaut  durch  Licht  viel  wichtiges  gelehrt;  doch  über  den  Zusammenhang 
zwischen  diesen  Vorgängen  und  den  Regungen  der  Sehsubstanz  giebt  es 
nur  Vermutungen.  Was  endlich  die  Relationen  zwischen  diesen  Regungen 
und  den  jeweiligen  Farben  des  Sehfeldes  betrifft,  so  sind  sie,  weil  es  sich 
hier  nicht  mehr  um  Beziehungen  zwischen  Physischem  und  Physischem, 
sondern  zwischen  Physischem  und  Psychischem  handelt,  ganz  anderer 
Art  und  einer  Feststellung  um  so  schwerer  zugänglich,  als  uns  nur  das 
eine  Glied  dieser  Beziehung,  nämlich  die  ins  Bewusstsein  getretene  Farbe 
bekannt  ist,  während  wir  über  das  andere  Glied,  nämlich  über  die  sogen, 
psychophysischen  Vorgänge  in  der  Sehsubstanz,  mit  denen  die  Erscheinung 
der  Farbe  unmittelbar  verknüpft  ist,  nur  Hypothesen  machen  können. 

Ohne  hier  dem  großen  Rätsel  des  Zusammenhanges  zwischen  »Leib  und 
Seele«  näher  treten  zu  wollen,  darf  ich  doch  daran  erinnern,  dass  diese  »psycho- 
physischen«  Prozesse  nicht  als  das  Endglied  der  nervösen  Regungen   anzusehen 


i)  Später  hat  W.  Kühne  den  Sehpurpur  und  andere  lichtempfindliche  Stoffe 
des  Sehepithels  der  Netzhaut  als  Sehstoffe  bezeichnet,  was  dann  zu  einer  Ver- 
wechslung dieser  Stoffe  mit  der  Sehsubstanz  im  oben  definierten  Sinne  geführt  hat. 


22  Lehre  vom  Lichtsinn. 

sind,  welche  sich  an  die  Reizung  der  Netzhaut  anschheßen.  Man  dürfte  sich 
nicht  vorstellen,  dass  mit  ihnen  das  somatische  Geschehen  ein  Ende  finde,  und 
dafür  ein  psychisches  Geschehen  beginne,  welches  dann  seinerseits  wieder  soma- 
tische, z.  B.  motorische  Vorgänge  veranlassen  könne,  hi  die  Kette  »materieller« 
Hirnprozesse  lässt  sich,  vom  Standpunkte  der  Physiologie,  nicht  ein  »immaterielles« 
GHed  eingeschoben  denken.  Deshalb  sollte  man  auch  nicht  jene  psychophysischen 
Prozesse  als  die  »terminalen«  bezeichnen  und  sagen,  dass  sich  dieselben  »in 
Empfindungen  umsetzen«.  Denn  ein  physischer  Prozess  kann  sich  wohl  in  einen 
anderen  physischen,  nicht  aber  in  einen  psychischen  umsetzen.  Eine  ununter- 
brochene Reihe  somatischer  Vorgänge  verbindet  z.  B.  die  durch  ein  starkes  Licht 
in  der  Netzhaut  bewirkte  Änderung  mit  den  Muskelkontraktionen,  durch  welche 
die  schützende  Hand  vor  das  geblendete  Auge  geführt  wird;  dass  mit  all  dem 
ein  psychisches  Geschehen,  ein  Empfinden  und  Wollen  einhergeht,  darf  den 
Physiologen  in  dieser  Annahme  nicht  beirren. 

An  die  vom  Lichte  in  den  peripheren  Endgliedern  des  nervösen  Netzhaut- 
apparates veranlassten  Regungen  knüpfen  sich  weiterhin  unter  Vermittelung  des 
Sehnerven  die  Regungen  des  Gehirnes,  und  wie  schon  in  dem  verwickelten 
Nervensystem  der  Netzhaut  »ein  Schlag  tausend  Verbindungen  schlägt«,  so  noch 
viel  mehr  im  Gehirn.  Wo  aber  schließlich  in  unserem  Nervensystem  diese 
somatischen  Regungen  als  eigentlich  terminale  ausklingen,  davon  erfahren  wir 
nur  dann  etwas,  wenn  der  motorische  oder  sekretorische  Apparat  irgendwie 
und  irgendwo  davon  in  merkliche  Mitleidenschaft  versetzt  wird. 

Es  sei  hier  ein  Gleichnis  gestattet.  Von  dem  vor  einem  Spiegel  befind- 
lichen Dinge  erstrecken  sich  keine  wirklichen  Strahlungen  bis  zu  dem  hinter 
dem  Spiegel  erscheinenden  Bilde  des  Dinges,  keine  Kette  physischer  Vorgänge 
verbindet  das  Ding  mit  seinem  Spiegelbilde  und  die  »terminalen  Prozesse«, 
in  welchen  die  von  dem  Dinge  ausgehende  strahlende  Energie  als  solche  ihr 
Ende  findet,  liegen  diesseits  des  Spiegels.  Und  wie  sich  diese  Energie  nicht 
hinter  dem  Spiegel  in  das  dort  erscheinende  Bild  umsetzt,  ebensowenig  setzt 
sich  die  somatische  Regung  unserer  Sehsubstanz  irgendwie  um  in  psychische 
Regung.  Solches  anzunehmen  scheint  mir  nicht  besser,  als  die  gespiegelten 
Dinge  hinter  dem  Spiegel  zu  suchen. 

W^ohl  dürfen  wir  ferner  das  Nervensystem  insbesondere  als  den  Träger  der 
Vorgänge  betrachten,  welche  wir  uns  als  die  somatischen  Begleiter  des  psychischen 
Lebens  denken,  aber  voreilig  wäre  es,  nur  die  Hirnrinde  als  den  Ort  der  »psycho- 
physischen Prozesse«  gelten  zu  lassen  und  alles  übrige  und  hier  insbesondere  die 
Netzhaut  auszuschließen.  Denn  dass  Einer  auch  nach  Verlust  der  Netzhäute 
noch  optische  Empfindungen  haben  kann,  schließt  nicht  aus,  dass  unter  nor- 
malen Umständen  auch  die  Regungen  der  Netzhaut  zum  somatischen  Korrelat 
der  Gesichtsempfindungen  gehören  und  also  psychophysisch  mitfungieren. 

Aus  dem  oben  Gesagten  erklärt  sich,  dass  man  sich  bisher  bei  der 
Untersuchung  des  Lichtsinnes  im  wesentlichen  darauf  beschränken  musste, 
die  Regeln  festzustellen,  nach  welchen  die  jeweiligen  Farben  im  Sehfelde 
abhängen  von  der  Beschaffenheit  sowie  von  der  räumlichen  und  zeitlichen 
Verteilung  der  die  Netzhaut  treffenden  Strahlungen,  und  aus  diesen  Regeln 
einige  Wahrscheinhchkeitsschlüsse  auf  die  Bedeutung  der  bisher  bekannt 
gewordenen  Änderungen  zu  machen,  welche  im  Sehepithel  durch  das  Licht 
herbeigeführt  werden.     Gegeben  sind  uns   also   bei  der  Aufsuchung  jener 


§  8.     Grundsätze  für  die  Ordnung  der  Farben.  23 

Regeln  einerseits  die  Farben  als  Sehqualitäten  im  oben  (§  2)  definierten 
Sinne,  andererseits  die  von  den  Physikern  angenommenen  Ätherschwingungen 
oder  Strahlungen,  insoweit  dieselben  optisch  wirksam  sind.  Wir  haben 
es  dabei,  abgesehen  von  besonderen  und  fast  ausschließhch  künstlich 
herbeigeführten  Fällen  nicht  mit  einfachen  (homogenen),  sondern  mit  zu- 
sammengesetzten Strahlungen  oder  Strahlgemischen  zu  thun.  Jedes 
solche  Strahlgemisch  lässt  sich  in  gewissem  Sinne  als  aus  einer  Anzahl  ein- 
facher, durch  ihre  Schwingungszahl  bestimmter  Strahlungen  zusammen- 
gesetzt auffassen,  deren  Einzelenergien  in  bestimmtem  Verhältnis  zu  einander 
stehen.  Dieser  Mannigfaltigkeit  der  Strahlgemische,  in  welcher  die  einfache 
oder  homogene  Strahlung  als  besonderer  Fall  erscheint,  steht  nun  die 
Mannigfaltigkeit  der  Farben  gegenüber,  und  es  erwächst  uns  also  zunächst 
die  Aufgabe,  welche  die  Physik  betreffs  der  hier  in  Betracht  kommenden 
optischen  Strahlungen  bereits  erfüllt  hat,  auch  für  die  Mannigfaltigkeit  der 
Farben  zu  erfüllen  und  festzustellen,  ob  und  welche  Variablen  sich  in  der- 
selben feststellen  lassen.  Daher  gilt  es,  die  Farben  oder  Sehqualitäten  auf 
alle  ihre  unterscheidbaren  Eigenschaften  genau  zu  untersuchen,  um  sie  nach 
diesen  ihren  Merkmalen,  ihren  gegenseitigen  Ähnlichkeiten  und  Verschieden- 
heiten ordnen  zu  können,  wie  der  Physiker  die  verschiedenen  Strahlungen 
längst  nach  ihren  Variablen  geordnet  hat.  Erst  dann  wird  es  möglich 
sein,  die  Regeln  oder  Gesetze  festzustellen,  nach  welchen  die  einzelnen 
Variablen  der  Farben  von  den  einzelnen  Variablen  der  Strahlgemische  ab- 
hängig sind.  Wie  sich  für  die  Physik  aus  der  vergleichenden  Untersuchung 
der  verschiedenen  Strahlungen  die  Eigenschaften  ergeben  haben,  bezüglich 
welcher  sie  untereinander  vergleichbar  und  mit  Hilfe  deren  die  einzelnen 
Strahlungen  eindeutig  definierbar  sind,  so  ergeben  sich  aus  der  vergleichenden 
Untersuchung  der  Farben  die  Merkmale,  bezüglich  deren  eine  Vergleichung 
bezw.  Unterscheidung  und  eine  Definition  der  einzelnen  Farben  möglich  ist. 

Seit  ich  vor  mehr  als  30  Jahren  (4,  §  38),  insbesondere  gegenüber  der 
von  Helmholtz  gegebenen  Darstellung,  eine  ohne  Rücksicht  auf  die  jeweiligen 
Entstehungsbedingungen  der  Farben  durchzuführende,  lediglich  auf  die  Eigen- 
schaften der  Farben  selbst  gegründete  Analyse  und  Ordnung  derselben  als  eine 
unentbehrliche  Grundlage  der  Lehre  von  den  Gesichtsempfindungen  hingestellt 
habe,  hat  diese  Auffassung  trotz  anfänglichem  Einspruch  seitens  verdienter 
Autoritäten  ziemlich  allgemeine  Geltung  gewonnen;  aber  ihre  prinzipielle  Aner- 
kennung hat  nicht  verhüten  können,  dass  sie  bei  der  Erörterung  der  Einzelheiten 
immer  wieder  außer  acht  gelassen  wird. 

II.  Absclinitt. 
Das  natürliche  Farbensystem. 

§  8.  Grundsätze  für  die  Ordnung  der  Farben.  Wenn  es  gilt, 
die   große  Mannigfaltigkeit   der  Farben    zu  ordnen,   um   eine  systematische 


24  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Übersicht  über  dieselben  und  Bezeichnungen  für  sie  derart  zu  gewinnen, 
dass  für  jede  einzelne  in  möglichst  bestimmter  Weise  ein  dem  Leser  ver- 
ständhcher  Ausdruck  gegeben  wird,  welcher  ihm  ermöglicht,  sich  eben 
diese  Farbe  mit  einiger  Genauigkeit  innerlich  zu  reproduzieren,  so  ist  er- 
forderlich, dass  wir  zunächst  ganz  und  gar  von  den  Ursachen  und  Be- 
dingungen ihrer  Entstehung  absehen.  Nur  die  Farben  selbst  dürfen  das 
für  ihre  systematische  Gruppierung  Maßgebende  sein,  nicht  aber  z.  B.  die 
physikalische  BeschafTenheit  der  Strahlungen  in  qualitativer  (Schwingungs- 
dauer) oder  quantitativer  (Schwingungsamplitude)  Hinsicht.  Denn  es  kann, 
wie  schon  gesagt,  genau  dieselbe  Strahlung  je  nach  den  Umständen  uns 
bald  diese,  bald  jene  Farbe  erwecken,  und  andererseits  kann  unter  der 
Wirkung  ganz  verschiedener  Strahlungen  genau  dieselbe  Farbe  gesehen 
werden,  wofür  später  noch  zahlreiche  Beispiele  anzuführen  sein  werden. 
Da  der  Sehende  meist  nicht  genauer  auf  die  Farben  als  solche,  sondern 
nur  auf  die  Dinge  achtet,  welche  ihm  als  Träger  der  Farbe  erscheinen,  so 
fehlt  den  Meisten  die  unerlässliche  Vorbedingung  für  ein  entgegenkommendes 
Verständnis  einer  systematischen  Farbenanalyse,  nämlich  die  auf  eigene, 
besonders  geübte  Beobachtung  sich  gründende  Erfahrung.  So  kommt  es 
z.  B.,  dass  es  Vielen  nicht  möglich  ist,  genauer  anzugeben,  in  welcher  Be- 
ziehung zwei  einander  nahe  stehende  Farben  voneinander  verschieden  sind, 
auch  wenn  deren  Ungleichheit  deutlich  bemerkt  wird.  Die  Methoden,  mit 
Hilfe  deren  eine  gegebene  Farbe  nach  allen  hier  in  Betracht  kommenden 
Beziehungen  stetig  abgeändert  oder  durch  eine  zusammenhängende  Reihe 
von  Übergängen  in  eine  beliebige  andere  Farbe  übergeführt  werden  kann, 
sind  nur  Wenigen  geläufig  oder  überhaupt  zugänglich.  Denn  es  handelt  sich 
bei  der  Analyse  der  Farben  nicht,  wie  missverständlich  gesagt  worden  ist, 
um  »innere  Anschauung«  oder  »innere  Beobachtung«,  sondern  im  Gegenteil 
darum,  dass  man  sich  Gelegenheit  schafft,  die  Farben,  sei  es  einzeln,  sei 
es  zu  mehreren  nebeneinander  vor  sich  zu  sehen  und  ebenso  zum  Gegen- 
stande »äußerer«  Beobachtung  und  Vergleichung  zu  machen,  wie  andere 
Außenobjekte  der  Beobachtung  z.  B.  die  Form  der  Sehdinge. 

Da  alle  Einteilungsgründe  für  die  Mannigfaltigkeit  der  Farben  lediglich  den 
letzteren  selbst  zu  entnehmen  sind,  so  dürfen  wir  auch  nicht,  wie  dies  z.  B. 
noch  Helmholtz  gethan  hat,  »einfache«  und  »zusammengesetzte«  Farben  in 
dem  Sinne  unterscheiden,  dass  wir  unter  ersteren  diejenigen  verstehen,  welche 
durch  die  verschiedenen  Arten  homogener  Strahlungen  erweckt  werden,  unter 
»zusammengesetzten«  aber  diejenigen  »Farbenempfmdungen«,  welche  uns  ent- 
stehen, »wenn  eine  und  dieselbe  Stelle  der  Netzhaut  gleichzeitig  von  Licht 
zweier  oder  mehrerer  verschiedener  Grade  der  Schwängungsdauer  getroffen 
wird«  (2,  S.  275  u.  3H).  Wenn  einerseits  jeder  Wellenlänge  bezw.  Schwingungs- 
dauer der  Strahlung  eine  ganz  bestimmte  Fai'be  entspräche,  wie  dies  freilich  in 
den  Lehrbüchern  der  Physik  meist  angenommen  wird,  und  wenn  andererseits 
durch  zusammengesetzte  Strahlungen  nie  Farben  hervorgerufen  würden,  welche 
auch   durch   einfache   Strahlungen  veranlasst  werden   können,    so   ließe   sich  die 


§  9.     Die  Reihe  der  tonfreien  Farben.  25 

Einteilung  der  Farben  in  die  durch  einfache  und  die  durch  zusammengesetzte 
Strahlungen  hervorgerufenen  wenigstens  einigermaßen  rechtfertigen.  Diese  Voraus- 
setzungen treffen  aber  auch  nicht  entfernt  zu. 

Wie  schon  eingangs  erwähnt  wurde,  lassen  sich  die  Farben  in  zwei 
große  Gruppen  scheiden.  Rot,  Gelb,  Grün,  Blau  und  die  Übergänge  zwischen 
je  zweien  dieser  Sehqualitäten  nannte  Helmholtz  Farben  töne.  Gleichviel  ob 
eine  Farbe  einen  dieser  Töne  in  ausgesprochener  Weise  oder  nur  andeutungs- 
weise zeigt,  immer  können  wir  dieselbe  als  eine  getönte  oder  bunte 
Farbe  von  jenen  Farben  unterscheiden,  welche  keine  Spur  eines  Farben- 
tones zeigen.  So  erhalten  wir  also  einerseits  die  Gruppe  der  getönten  oder 
bunten  Farben,  andererseits  die  Gruppe  der  tonfreien  F^'arben,  welche 
sämtliche  schwarze,  graue  und  weiße  Farben  umfasst.  Man  hat  diese  beiden 
Gruppen  seither  als  farbige  und  farblose  Gesichtsempfmdungen  unterschieden. 

Die  Lehre  von  den  tonfreien  Farben  hat  man  im  engeren  Sinne  als 
die  Lehre  vom  Lichtsinne,  die  Lehre  von  den  bunten  Farben  als  die 
Lehre  vom  Farbensinne  bezeichnet. 

Ich  beginne  mit  der  Betrachtung  der  tonfreien  Farben. 

§  9.  Die  Reihe  der  tonfreien  Farben.  Sämtliche  tonfreien  Farben 
lassen  sich  in  einer  Reihe  derart  angeordnet  denken,  dass  an  den  einen 
Endpunkt  das  reinste  zur  Anschauung  zu  bringende  Schwarz,  an  den  andern 
das  reinste  uns  vorkommende  Weiß  zu  liegen  käme,  während  dazwischen 
alle  möglichen  Dunkelheits-  bezw.  Helhgkeitsstufen  das  Schwarz,  Grau- 
schwarz, Schwarzgrau,  Grau,  Weißgrau,  Grauweiß  und  Weiß  sich  in  stetiger 
Folge  aneinander  reihen.  Nach  ihren  beiden  Endfarben  kann  man  diese 
tonfreie  Reihe  auch  als  die  schwarz-weiße  Farbenreihe  benennen. 

Man  lege  auf  ein  Fensterbrett  das  schönste  mattweiße  Papier,  welches 
man  herstellen  kann,  und  auf  das  Papier  ein  auf  der  einen  Seite  versilbertes 
Deckgläschen,  welches  eine  ganz  reine  Spiegelfläche  darbietet.  Stellt  man 
sich  dann  so  vor  das  Fenster,  dass  sich  in  dem  Deckglase  eine  gleichmäßig 
helle  Stelle  des  Himmels  für  das  Auge  spiegelt,  so  sieht  man  auf  dem 
Papiere  ein  kleines  quadratisches  Feld,  dessen  Weiß  noch  außerordentlich 
viel  reiner  erscheint  als  das  des  Papieres,  welches  man  jetzt  als  ein  ins 
Grau  spielendes  Weiß  bezeichnen  wird.  Man  hat  hier  den  Vorteil,  dass, 
besonders  bei  nicht  genauer  Akkommodation,  das  vom  Deckglase  gespiegelte 
Weiß  in  der  Ebene  des  Papieres  und  als  ein  Bestandteil  dieser  Ebene 
erscheint,  worauf,  wie  wir  sahen,  bei  der  Vergleichung  zweier  Farben  viel 
ankommt. 

Schlägt  man  mit  einem  Locheisen  in  ein  weißes  Kartenpapier  ein  Loch 
mit  ganz  scharfem,  weder  aufgeworfenen  noch  eingedrückten  Rande,  legt 
auf  ein  Fensterbrett  einen  größeren  Spiegel  und  hält  das  Papier  so  zwischen 
Auge  und  Spiegel,  dass  es  den  Rahmen  desselben  ganz  verdeckt  und  mög- 


26 


Lehre  vom  Lichtsinii 


liehst  gut  beleuchtet  ist,  so  sieht  man  das  vom  gespiegelten  Himmelslicht 
erleuchtete  Loch  ebenfalls  als  ein  kleines  Feld  von  schönster  Reinheit  des 
Weiß  in  der  mehr  graulichweiß  erscheinenden  Ebene  des  Papieres. 

Es  ist  bei  diesen  Versuchen  gleichgültig,  ob  die  gespiegelte  Stelle  des 
Himmels  blau  oder  gleichmäßig  bewölkt  ist;  man  erkennt  in  dem  kleinen  weißen 
Felde  das  Blau  nicht.  Selbst  ein  »tiefblauer«  Himmel  giebt  unter  den  genannten 
Umständen  ein  Weiß  von  überraschender  Reinheit. 

Will  man  sich  auch  noch  alle  Zwischenfarben  zwischen  dem  an  der 
Stelle  des  Deckglases  oder  Loches  erscheinenden  reinen  Weiß  und  dem 
schon  etwas  graulichen  Weiß  des  Papieres  zur  Anschauung  bringen,  so 
nimmt  man  das  in  §  1 6  beschriebene  kleine  Polariphotometer  vor  das  Auge, 
nachdem  man  den  Nicol  desselben  zunächst  auf  0°  eingestellt  hat.  Man 
sieht  jetzt  das  kleine  rein  weiße  Feld  fast  ebenso  wie  zuvor;  dreht  man 
aber  den  Nicol,  so  verliert  das  Weiß  mehr  und  mehr  von  seiner  anfäng- 
lichen Reinheit,  bis  es  schließHch  unterschiedslos  in  dem  minder  reinen 
Weiß  des  Papiers  verschwindet.  Dass  daneben  ein  zweites  Bild  des  kleinen 
Feldes  sichtbar  ist,  welches  umgekehrt  bei  der  Drehung  des  Nicol  immer 
reiner  weiß  wird,  ist  hier  gleichgültig.  Wer  sich  gewöhnt  hat,  alle  Farben, 
welche  man  als  weiß  zu  bezeichnen  pflegt,  zusammenzuwerfen,  ihnen  allen 
dieselbe  Qualität  zuzuschreiben  und  nur  verschiedene  »Intensitätsstufen« 
dieser  Qualität  gelten  zu  lassen,  wird  sich  auf  die  beschriebene  Weise  an- 
schaulich machen  können,  dass  die  verschiedenen  Stufen  der  Reinheit  des 
Weiß  sich  auch  als  verschiedene  Qualitäten  auffassen  lassen,  und  verstehen, 
was  unter  verschiedener  Qualität  der  weißen  Farben  gemeint  ist. 

In  anderer,  von  der  oben  beschriebenen  grundsätzlich  verschiedenen 
Weise  kann  man  sich  die  Abwandlung  eines  gegebenen  Weiß  einerseits  nach 
reineren  Stufen  des  Weiß,  andererseits  nach  dem  Grau  hin  veranschaulichen, 
wenn  man  durch  ein  in  der  Mitte  eines  größeren  weißen  Kartenblattes 
befindhches  Loch  von  \ — 2  cm  Durchmesser  nach  einem,  dem  ersteren 
ganz  gleichen,  z.  B.  auf  dem  Fensterbrett  horizontal  liegenden  Kartenblatt 
von  oben  hinabblickt.  Hält  man  das  gelochte  Blatt  zunächst  ebenfalls 
horizontal  und  so,  dass  es  das  darunter  liegende  nicht  beschattet,  so  er- 
scheint das  Loch  als  ein  kleines  Feld  von  genau  oder  sehr  angenähert  dem- 
selben Weiß  wie  seine  Umgebung.  Dreht  man  aber  das  gelochte  Blatt 
langsam  um  eine  horizontale  Achse  mit  seinem  dem  Fenster  zugewandten 
Rande  nach  unten,  so  wird  die  Farbe  des  kleinen  Lochfeldes,  dessen 
Lichtstärke  dabei  ganz  ungeändert  bleibt,  immer  graulicher  und 
schließlich  sogar  schwärzlichgrau;  dreht  man  dagegen  das  gelochte  Blatt  in 
der  entgegengesetzten  Richtung,  so  wird  die  Farbe  des  kleinen  Feldes  immer 
reiner  weiß.  Der  ganze  Farbenwechsel  des  Loches  ist  dabei  auffallend 
groß,  und  man  kann  sich  auf  diese  Weise  alle  Zwischenfarben  zwischen 
einem  ziemlich    dunklen  Grau   und  einem   relativ  sehr  hellen  reinen  Weiß 


§  9.     Die  Reihe  der  toiifreien  Farben.  27 

nacheinander  vorführen.  Auf  die  Änderungen,  welche  bei  diesem  Versuche 
die  Farbe  des  gelochten  Blattes  selbst  erfährt,  kommt  hier  nichts  an,  es 
handelt  sich  nur  um  die  Änderung  der  Farbe  des  dem  Loche  entsprechenden 
kleinen  Feldes. 

Eine  ganz  ähnliche  Abwandlung  eines  Weiß  nach  einem  reineren  Weiß 
bezw.  nach  einem  Grau  hin  lässt  sich  erzielen,  wenn  man  das  gelochte 
Blatt  horizontal  an  einem  Stativ  befestigt,  welches  z.  B.  auf  einem  Sessel 
steht,  während  man  ein  zweites  ganz  gleiches  aber  ungelochtes  Blatt  so 
unter  das  gelochte  hält  oder  halten  lässt,  dass  es  von  letzterem  nicht  be- 
schattet wird.  Hat  das  untere  Blatt  dabei  zunächst  ebenfalls  die  horizontale 
Lage,  so  erscheint  das  Lochfeld  nahezu  oder  ganz  gleich  der  übrigen  Fläche 
des  gelochten  Blattes.  Lässt  man  aber  das  untere  Blatt  langsam  in  ganz 
ähnlicher  Weise  drehen,  wie  beim  vorigen  Versuche  das  obere,  so  sieht 
man  das  Weiß  des  Lochfeldes  je  nach  der  Richtung  der  Drehung  entweder 
immer  reiner  weiß  oder  immer  graulicher  und  schheßlich  sogar  schwarz- 
grau werden. 

Hierbei  wird  die  Änderung  der  Farbe  des  kleinen  Feldes  durch 
Veränderungen  der  Stärke  der  von  dem  unteren  beweglichen  Blatte  aus- 
gesandten Strahlung  herbeigeführt,  bei  dem  vorhergehenden  Versuche  aber 
blieb  diese  Strahlstärke  ganz  unverändert  und  die  Farben- 
änderung des  kleinen  Feldes  wurde  lediglich  durch  Änderung 
der  Strahlstärke  des  oberen  beweglichen  Blattes  bewirkt.  Nach 
einer  noch  vielfach  üblichen  unzutreffenden  Auffassung  des  Sachverhaltes 
würde  die  Farbenänderung  des  Loches  bei  dem  einen  Versuche  als  eine 
objektive,  bei  dem  anderen  als  eine  subjektive  zu  bezeichnen  sein.  Hier 
kommt  es  zunächst  nur  darauf  an,  sich  zu  veranschaulichen,  wie  ganz 
dieselbe  Abwandlung  der  Farbe  eines  weißen  Feldes  durch  zw^ei  grundver- 
schiedene Mittel  erzielt  werden  kann,  und  dass  die  Farbenänderungen  bei 
beiden  Versuchsweisen  mit  genau  demselben  unausweichlichen  Zwange  er- 
folgen, daher  es  ganz  gleichgültig  ist,  ob  der  Beobachter  sich  über  die 
physikalischen  Bedingungen  des  Versuches  klar  ist  oder  nicht.  Der  Physiker 
sieht  bei  dem  erstbeschriebenen  Versuche  trotz  seiner  Überzeugung  von  der 
unveränderten  Lichtstärke  des  kleinen  Feldes  die  Farbenänderungen  desselben 
ebenso  wie  das  unerfahrene  Kind,  und  alle  Reflexionen  und  Urteile  über 
den  Zusammenhang  der  Erscheinungen  ändern  hier  nichts  Wesentliches  an 
dem,  was  bei  dem  Versuche  gesehen  wird. 

Aus  den  beiden  hier  nebeneinander  gestellten  Versuchen  geht  zugleich 
hervor,  wie  einseitig  man  verfährt,  wenn  man  das  Grau  als  ein  Weiß  von 
geringer  Strahlstärke,  als  ein  »lichtschwaches  Weiß«  (2,  S.  324)  definiert. 
Von  zwei  nebeneinander  in  derselben  Ebene  erscheinenden  Feldern  wird 
bei  gleicher  Empfindlichkeit  der  bezüglichen  Teile  des  somatischen  Sehfeldes 
das   lichtschwächere    allerdings    minder   rein   weiß   bezw.   grau   erscheinen. 


23  Lehre  vom'  Lichtsinn. 

wenn  das  lichtstärkere  weiß  erscheint;  aber  bei  genau  derselben  Strahl- 
stärke kann  ein  kleines  Feld  auch  bei  Ausschluss  jeder  »Ermüdung«  der 
bezüglichen  Sehstelle  je  nach  den  Nebenumständen  bald  weiß,  bald  grau, 
bald  sogar  schwarz  gesehen  werden.  Die  Strahlstärke  des  Feldes  ist 
eben  nur  einer  der  verschiedenen  Faktoren,  welche  die  Farbe 
desselben  bestimmen. 

Wir  haben  soeben  gesehen,  dass  es  eine  ganze  Reihe  stetig  ineinander 
übergehender  Farben  giebt,  für  welche  wir  den  Sammelnamen  Weiß  be- 
nutzen ;  beginnend  mit  dem  reinsten  Weiß,  welches  wir  uns  zur  Anschauung 
bringen  können,  erstreckt  sich  diese  Reihe  durch  immer  weniger  reine  und 
dem  Grau  ähnlicher  werdende  Farben  bis  in  jene  Gegend  der  tonfreien 
Farbenreihe,  welche  wir  bereits  nicht  mehr  als  weiß,  sondern  als  grauweiß, 
weißgrau  oder  hellgrau  bezeichnen.  Es  ist  selbstverständlich  innerhalb 
gewisser  Grenzen  der  Willkür  anheimgegeben,  welche  Farben  wir  hierbei 
noch  als  weiß  und  welche  wir  bereits  als  graulich  benennen  wollen. 

Ein  gegebenes  grauweißes  Feld  lässt  sich  nun  in  ganz  analogen  Ver- 
suchen, wie  ich  sie  soeben  für  das  Weiß  beschrieben  habe,  durch  immer 
minder  weißliche  Stufen  hindurch  in  Farben  überführen,  für  welche  die 
Bezeichnung  weißlichgrau  nicht  mehr,  und  die  Bezeichnung  schwärzlichgrau 
noch  nicht  passend,  vielmehr  die  Bezeichnung  grau  schlechtweg  am  an- 
gemessensten erscheint.  Wieder  bilden  diese  Farben  eine  ganze  Reihe, 
welche  weiterhin  in  die  schon  deutlich  schwärzlichen  Stufen  des  Grau 
übergeht,  bis  wir  zur  Reihe  jener  Farben  gelangen,  welche  wir  unbedenklich 
bereits  als  schwarz  bezeichnen.  An  das  Ende  der  ganzen  Reihe  gehört 
dann  das  reinste  Schwarz,  welches  wir  uns  anschaulich  zu  machen  ver- 
mögen. 

Solch  tiefes  Schwarz  sehen  wir  z.  B,,  wenn  wir  in  ein  mattschwarzes 
steifes  Blatt  oder  in  eine  mit  schwarzem  Samt  oder  Wollpapier  überzogene 
Papptafel  ein  Loch  von  mehreren  Gentimetern  Durchmesser  schlagen,  das 
Blatt  oder  die  Pappe  als  festschließenden  Deckel  eines  tiefen,  mit  schwarzem 
Samt  ausgeschlagenen  Kastens  benutzen  und  denselben  in  einem  gut  be- 
leuchteten Zimmer  aufstellen.  Das  Loch  eines  solchen  Dunkelkastens, 
wie  ich  ihn  im  Folgenden  kurz  nennen  will,  erscheint  dann,  besonders  auf 
den  ersten  Blick,  in  einem  tiefen,  ganz  auffallend  reineren  Schwarz,  als 
das  schwarze  Papier  oder  der  schwärzeste  Samt,  auch  wenn  letzterer  so 
gebürstet  und  mit  seinen  Fasern  gegen  das  Fenster  so  orientiert  ist,  dass 
er  möglichst  wenig  Licht  zurückwirft.  Im  Vergleich  mit  dem  Schwarz  des 
Loches  erscheint  der  Samt  selbst  unter  den  günstigsten  Umständen  noch 
mit  einem  deutlichen  Stich  ins  Grau.  Ist  das  Loch  nicht  zu  groß,  so  kann 
man  sich  mit  Hilfe  des  Polariphotometers  in  der  oben  beschriebenen  Weise 
auch  noch  die  ganze  Reihe  von  Zwisehenfarben  zwischen  dem  tiefen  Schwarz 
des  Loches  und  dem  minder  reinen  Samtschwarz  zur  Anschauung  bringen. 


§  9.    Die  Reihe  der  tonfreien  Farben.  29 

Bei   alledem   habe  ich  vorausgesetzt,   dass   man   den  Samt  aus   einer  Ent- 
fernung betrachtet,  welche  die  Wahrnehmung  seiner  Fasern  ausschließt. 

Das  Schwarz  ist  ebenso  eine  Sehqualität  wie  jede  andere  Farbe,  und 
wenn  man  die  letzteren  Empfindungen  nennt,  so  muss  man  auch  das 
Schwarz  als  eine  Empfindung  gelten  lassen.  »Wir  unterscheiden,«  sagte 
schon  Helmholtz,  »die  Empfindung  des  Schwarz  deutlich  von  dem  Mangel 
aller  Empfindung.«  »Hinter  unserem  Rücken«  sehen  wir  kein  Schwarz, 
sondern  sehen  wir  überhaupt  nicht.  Dass  wir  aber  ein  tiefes  Schwarz 
nur  dann  sehen,  wenn  das  Gesichtsfeld  im  übrigen  gut  beleuchtet  ist,  hat 
Helmholtz  dabei  nicht  erwähnt. 

Es  giebt  freilich  keine  schwarzwirkenden  Strahlungen,  wie  es  weiß- 
oder  rotwirkende  giebt;  wenn  man  aber  nur  diejenigen  Phänomene  des 
Gesichtssinnes  als  »Empfindungen«  gelten  lassen  wollte,  welche  unter  der 
unmittelbaren  Wirkung  der  Lichtstrahlen  entstehen,  so  dürfte,  wie  wir 
sehen  werden,  eine  große  Mannigfaltigkeit  von  Gesichtserscheinungen,  welche 
man  jetzt  unbedenklich  als  Empfindungen  zu  bezeichnen  pflegt,  diesen  Namen 
nicht  mehr  führen.  Alle  Farben  sind  für  den  Physiologen  Erscheinungen, 
nach  deren  physiologischem  Korrelat  er  zu  suchen  hat,  das  Schwarz  ebenso 
wie  das  Weiß  oder  das  Rot. 

Man  sollte  auch  nicht,  wie  dies  noch  Helmholtz  that,  sagen:  »einen 
Körper,  der  kein  Licht  reflektiert,  wenn  solches  auf  ihn  fällt,  nennen  wir 
schwarz. «  Denn  ganz  abgesehen  davon,  dass  wir  uns  einen  solchen  Körper 
zwar  denken  können,  dass  aber  bis  jetzt  keiner  aufzeigbar  ist,  so  könnte 
jene  Bemerkung  ein  grobes  Missverständnis  herbeiführen,  weil  ein  Körper 
eine  relativ  große  Lichtmenge  in  unser  Auge  schicken  und  doch  schwarz 
erscheinen  kann. 

Man  betrachte  eine  mit  aller  Sorgfalt  berußte  Fläche,  das  Prototyp 
einer  schwarzen  Fläche  für  den  Physiker,  durch  eine  mit  schwarzem  Samt 
ausgekleidete  Röhre  mit  kleiner  unterer  Öffnung  bei  guter  Beleuchtung,  und 
man  wird  das  durch  das  offene  Ende  der  Röhre  sichtbare  Feld  grau  oder 
sogar  weißlichgrau  sehen,  und  zwar  schon  beim  ersten  Hineinschauen.  Nach 
längerem  Augenschluss  kann  es  sogar  weiß  gesehen  werden.  Der  Physiker 
mag  dasjenige  schwarz  nennen,  was  seines  Wissens  möglichst  wenig  Licht 
zurückwirft,  für  den  Sinnesphysiologen  aber  ist  nur  das  schwarz,  was  er 
schwarz  sieht,  mag  es  viel  oder  wenig  Licht  ins  Auge  schicken. 

Bei  geschlossenem  und  vor  jedem  Lichteinfall  geschützten  Auge,  sowie 
in  einem  ganz  lichtlosen  Dunkelzimmer  sieht  man  kein  auch  nur  ange- 
nähert reines  Schwarz.  Man  stelle  sich  in  einem  gut  beleuchteten  Zimmer 
vor  den  oben  erwähnten  Dunkelkasten,  schließe  und  verdecke  die  Augen 
so  lange,  bis  jede  Spur  der  meistens,  wenn  auch  nur  undeutlich,  zurück- 
bleibenden Nachbilder  verschwunden  ist,  und  gebe  sich  Rechenschaft  von 
dem,  was  man  jetzt  sieht.     Dann  öffne  man  die  Augen  und  richte  sie  auf 


30  Lehre  vom  Lichtsinn. 

das  Loch  des  Dunkelkastens,  so  wird  man  den  großen  Unterschied  zwischen 
der  Farbe  des  Sehfeldes  bei  geschlossenem  Auge  und  dem  viel  tieferen 
Schwarz  des  Loches  leicht  erkennen. 

Ein  tiefes  Schwarz  entsteht  nur,  wenn  gleichzeitig  andere  und  insbe- 
sondere benachbarte  Teile  des  Sehfeldes  weiß  oder  grau  erscheinen,  und 
daher  um  so  mehr,  je  stärker  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  das  Gesichts- 
feld beleuchtet  ist. 

Wenn  man  in  einer  mondscheinlosen  Winternacht  bei  eben  erst  be- 
ginnender Morgendämmerung  erwacht,  so  bemerkt  man  unter  den  noch 
kaum  unterscheidbaren  Teilen  des  Sehfeldes  keineswegs  auch  schwarze, 
sondern  alles  erscheint  zunächst  in  einem  stellenweise  etwas  weißlicheren, 
stellenweise  etwas  schwärzlicheren  Grau.  Erst  in  dem  Maße  als  die  Be- 
leuchtung wächst  und  einzelne  Teile  des  Sehfeldes  eine  immer  deutlichere 
Weißlichkeit  gewinnen,  werden  gleichzeitig  andere  immer  schwärzlicher, 
bis  endlich  sowohl  Weiß  als  Schwarz  reiner  hervortreten.  Selbst  die  tiefste 
Nacht  ist  für  uns  nicht  schwarz,  sondern  grau,  und  erst  der  aufgehende 
Tag  scheidet  für  unser  Auge  Licht  und  Finsternis  und  zeigt  uns  neben 
dem  Hell  das  Dunkel,  neben  dem  Weiß  das  Schwarz.  Die  herrschende 
Ansicht,  nach  welcher  mit  wachsender  Lichtstärke  eines  Außen- 
dinges und  seines  Netzhautbildes  notwendig  auch  die  »Stärke« 
der  entsprechenden  »Lichtempfindung«,  das  soll  heißen,  die 
Helligkeit  oder  Weißlichkeit  der  korrelativen  Stelle  des  Sehfeldes 
wachsen  müsse,  gehört  zu  jenen  Vorurteilen,  welche  dem  Ver- 
ständnis der  Thatsachen  des  Gesichtssinnes  ganz  besonders  hin- 
derlich sind.  — 

Alle  grauen  Farben  sind  untereinander  insofern  verwandt,  als  sie 
gleichzeitig  an  Schwarz  und  an  Weiß  erinnern;  ein  dunkles  Grau  erscheint 
dem  Schwarz  ähnlicher  als  dem  Weiß,  ein  helles  Grau  dem  letzteren  ähn- 
licher als  dem  Schwarz,  ein  zwischen  diesen  beiden  Grau  liegendes  kann 
zweifelhaft  lassen,  ob  es  dem  Weiß  oder  dem  Schwarz  ähnlicher  ist.  In 
diesem  Sinne  können  wir  sagen,  jedes  Grau  sei  zugleich  weißlich  und 
schwärzlich,  bald  mehr  das  eine,  bald  mehr  das  andere,  oder  im  beson- 
deren Falle,  es  sei  beides  in  ungefähr  gleichem  Maße.  Sehen  wir  zwei 
verschieden  reine  Schwarz  nebeneinander,  so  erinnert  das  minder  reine 
mehr  oder  weniger  an  Grau  und  also  mittelbar  an  Weiß,  und  Analoges 
gilt  von  zwei  verschieden  reinen  weißen  Farben.  Gehen  wir  vom  schwar- 
zen Ende  der  tonfreien  Farbenreihe  nach  dem  Weiß  hin,  so  sehen  wir 
die  Schwärzlichkeit  der  Farbe  immer  mehr  abnehmen,  bis  im  reinsten 
Weiß  die  letzte  Spur  von  Schwärzlichkeit  verschwindet.  Durchlaufen  wir 
die  Reihe  umgekehrt  vom  weißen  nach  dem  schwarzen  Ende  hin,  so  sehen 
wir  ebenso  die  Weißlichkeit  der  Farbe  stetig  abnehmen  und  schließlich  ver- 
schwinden. 


§  9.    Die  Reihe  der  tonfreien  Farben.  31 

Wir  finden  also  in  der  ganzen  Reihe  nur  zwei  variable  Merkmale  oder 
Eigenschaften,  nämlich  die  Schwärze  und  die  Weiße.  Habe  ich  zwei  verschie- 
dene tonfreie  Farben  vor  mir,  so  vermag  ich  ihre  Verschiedenheit  dadurch  zu 
kennzeichnen,  dass  ich  sage,  die  eine  sei  etwas  bezw.  viel  schwärzlicher  als 
die  andere,  oder  die  eine  sei  etwas  bezw.  viel  weißlicher  als  die  andere. 
Freilich  hat  jedes  bestimmte  tonfreie  Grau  seine  Qualität  für  sich  und  ist 
weder  weiß  noch  schwarz;  es  handelt  sich  aber  hier  nur  um  die  ver- 
schiedenen Grade  der  Ähnlichkeit  mit  dem  reinsten  Schwarz  einerseits, 
dem  reinsten  Weiß  andererseits.  So  kann  man  auch,  wenn  man  durch 
einen  Punkt  einer  vertikalen  Ebene  beliebig  viele  gerade  Linien  gelegt  denkt, 
sagen,  die  Richtung  einer  um  20"  von  der  Vertikalen  abweichenden  Ge- 
raden sei  der  vertikalen  Richtung  ähnlicher  als  der  horizontalen,  und  die 
Richtung  einer  um  45*^  geneigten  Geraden  sei  der  horizontalen  ebenso  ähn- 
lich oder  verwandt  wie  der  vertikalen,  sie  habe  ebensoviel  vom  Charakter 
der  einen  wie  der  anderen,  ebensoviel  Horizontalität  wie  Vertikalität.  Der 
Einwand,  dass  eine  Richtung  doch  nicht  zugleich  vertikal  und  horizontal 
sein  könne,  dass  sie  stets  einfach  und  nicht  aus  zwei  Richtungen  zusam- 
mengesetzt sei,  wäre  hier  ebensowenig  am  Platze  wie  der,  dass  ein  Grau 
nicht  zugleich  weiß  und  schwarz  sein  könile,  und  dass  es  eine  einfache 
und  keine  zusammengesetzte  Empfindung  sei. 

Wenn  man,  wie  dies  auch  jetzt  noch  vielfach  geschieht,  die  qualita- 
tive Verschiedenheit  der  tonfreien  Farben  nicht  gelten  lassen  und  hier  nur 
verschiedene  Intensitätsstufen  einer  einzigen  Qualität,  d.  h.  der  »weißen 
Empfindung«,  annehmen  will,  so  kann  man  nur  von  stärkerem  und  schwä- 
cheren Weiß  sprechen  und  muss  jedes  Schwarz,  welches  noch  nicht  das 
allerreinste  und  allerdunkelste  ist,  als  ein  schwächstes  Weiß  bezeichnen. 
Wer  sich  so  ausdrückt,  denkt  dabei  gar  nicht  eigentlich  an  das,  was  er 
sieht,  sondern  an  ein  sogenanntes  weißes  Strahlgemisch,  das  zu  schwach 
ist,  um  mehr  zu  bewirken  als  eine  minimale  Aufhellung  d.  i.  Weißung 
jenes  absoluten  Schwarz,  welches  er  sich  entweder  als  die  eigentliche  Grund- 
farbe des  Gesichtsfeldes  bezw.  des  ganzen  Weltraumes,  oder  aber  als 
die,  einem  absoluten  Ruhezustande  des  inneren  Auges  entsprechende 
Farbe  des  Sehfeldes  vorstellt.  W^äre  eine  solche  Auffassung  überhaupt 
zulässig,  so  würde  sich  doch  eine  qualitative  Verschiedenheit  der  einzelnen 
tonfreien  Farben  insofern  ergeben,  als  das,  einer  absoluten  Strahlenlosigkeit 
des  Gesichtsfeldes  oder  aber  einer  absoluten  Ruhe  des  inneren  Auges  ver- 
meintlich entsprechende  Schwarz  doch  nur  in  dem  Maße  in  der  Anschau- 
ung zurücktreten  könnte,  als  die  »Intensität  der  Empfindung«  sich  steigert 
und  also  das  Weiß  hervortritt. 

Die  Auffassung  der  verschiedenen  tonfreien  Farben  als  bloßer  Inten- 
sitätsstufen einer  und  derselben  Sinnesqualität  hat  sich  einerseits  daraus 
entwickelt,  dass  die  helleren  Farben  im  allgemeinen  aufdringlicher  sind  als 


32  Lehre  vom  Lichtsinn. 

die  dunkleren,  was  später  zu  erörtern  sein  wird,  andererseits  aus  der  be- 
grifflichen Vermengung  der  Farbe  mit  dem  physikalischen  Agens,  durch 
welches  ihr  Erscheinen  zumeist  veranlasst  wird.  Alle  Energien  der  Außen- 
welt, welche,  auf  unsere  Sinnesorgane  wirkend,  die  bezüghchen  Sinnes- 
qualitäten in  unser  Bewusstsein  treten  lassen,  hat  die  Wissenschaft  in  ihrer 
Kindheit  mit  demselben  Namen  belegt,  welchen  bereits  jene  Sinnesqualitäten 
führten.  Eine  Flüssigkeit,  welche  sauer  schmeckt,  nannte  man  eine  Säure ; 
das  Agens,  welches  uns  Wärmegefühl  erzeugt,  nannte  man  Wärme,  und 
die  Strahlungen,  welche,  auf  unser  Auge  wirkend,  Licht  und  Farben  des 
Sehfeldes  veranlassen,  nannte  man  Licht.  Die  Geschichte  der  Physik  ist 
zugleich  eine  Geschichte  des  Kampfes  mit  den  Vorurteilen,  welche  aus  dieser 
sprachlichen  Identifizierung  der  Sinnesqualitäten  mit  ihren  physikalischen 
Ursachen  entsprangen.  Zu  diesen  Vorurteilen  gehörte  auch  dieses,  dass 
alle  jene  Verschiedenheiten  der  Farbe,  welche  durch  bloße  Intensitäts- 
verschiedenheiten der  auf  das  Auge  wirkenden  Strahlung  bedingt  sind, 
ebenfalls  bloße  Intensitätsverschiedenheiten  einer  und  derselben  Empfin- 
dungsqualität seien. 

Diese  Auffassung  fand  weitere  Nahrung  in  folgendem  Umstände:  So- 
bald die  ins  Auge  fallende  Strahlung  eine  gewisse,  von  dem  jeweiligen 
Zustande  des  Sehorgans  mit  abhängige  Intensitätsgrenze  überschreitet,  er- 
zeugt sie  lästige  oder  sogar  schmerzhafte  Empfindungen,  welche  jedoch, 
da  sie  neben  der  eigentlichen  optischen  Sinnesqualität  bestehen  und  nicht 
Merkmale  dieser  selbst  sind,  auch  nicht  als  Eigenschaften  der  eben  gesehenen 
Farbe  bezw.  der  die  Farbe  tragenden  Raumgebilde  und  also  überhaupt  nicht 
als  etwas  außer  uns  Vorhandenes  aufgefasst  werden.  Diese  Empfindungen 
nun  werden  mit  wachsender  Intensität  der  Strahlung  ebenfalls  immer  stärker, 
d.  h.  lästiger,  schmerzlicher  und  ausgebreiteter,  was  wir  ganz  unmittelbar 
und  ohne  jede  Kenntnis  des  zu  Grunde  liegenden  physikalischen  Vorganges 
auf  die  zunehmende  Stärke  eines  auf  uns  wirkenden  äußeren  Reizes  be- 
ziehen. Die  Farben  an  sich  aber  werden,  da  wir  sie  lediglich  als  Eigen- 
schaften des  im  Sehfelde  Unterscheidbaren  nehmen,  von  dem  Unbefangenen 
gar  nicht  als  die  Folgen  eines  ihn  treffenden  äußeren  Reizes  aufgefasst. 
Ein  Mensch,  der  von  Strahlungen  oder  Ätherwellen  noch  nichts  weiß, 
nimmt  auch  eine  Flamme,  solange  er  sie  nur  sieht,  nicht  als  etwas  auf 
ihn  Wirkendes,  sondern  lediglich  als  etwas  im  Außenraum  Vorhan- 
denes; ist  er  jedoch  der  Flamme  so  nahe,  dass  sie  ihm  Wärmegefühl 
erzeugt,  so  nimmt  er  dieses  Gefühl  als  eine  Wirkung  der  Flamme  und 
also  die  letztere  als  etwas  auf  seine  Haut  Wirkendes;  und  das  Analoge  gilt, 
wenn  ihn  die  Flamme  blendet  und  sein  Auge  belästigt.  Solange  eine 
Strahlung  nur  Farbe,  also  nur  eine  optische  Sinnesqualität  z.  B.  Weiß 
erzeugt,  ist  letzteres  für  den  nicht  weiter  Unterrichteten  nur  ein  Bestand- 
teil seiner  optischen  Außenwelt,  nicht  aber  ein  Agens,  eine  Kraft,  ein  Reiz, 


§  10.    Symbolische  Bezeichnung  der  tonfreien  Farben.  33 

die  auf  ihn  wirken  und  seinen  Empfindungszustand  mehr  oder  weniger 
ändern. 

Es  scheint  mir  daher  unrichtig,  wenn  Helmholtz  (2,  S.  441 — 443)  die 
»Empfindung  der  HelHgkeit«  auf  den  »Lichtschmerz«  zurückführen  will,  welcher, 
wie  er  meint,  »wohl  ausnahmslos  eine  gleichzeitig  vorhandene  Lichtempfindung 
begleitet«.  Auf  diese  Weise  lässt  sich  seine  Ansicht,  nach  welcher  die  ver- 
schiedenen Helligkeitsgrade  der  tonfreien  Farben  bloße  Intensitätsstufen  einer  und 
derselben  Sinnesquahtät  sein  sollen,  gegenüber  der  seinerzeit  von  mir  entwickelten 
Auffassung  nicht  rechtfertigen. 

§  10.  Symbolische  Bezeichnung  der  ton  freien  Farben. 
In  dem  Maße  als  sich  die  Beschaffenheit  einer  tonfreien  Farbe  der  Be- 
schaffenheit des  reinen  Weiß  nähert,  entfernt  sie  sich  zugleich  von  der 
des  reinen  Schwarz,  je  größer  ihre  Ähnlichkeit  mit  dem  ersteren  ist, 
desto  kleiner  ihre  Ähnlichkeit  mit  dem  letzteren.  Daher  ist  jede  tonfreie 
Farbe  charakterisiert  durch  das  Verhältnis,  in  welchem  diese  beiden  Ähn- 
lichkeiten zueinander  stehen,  und  wenn  wir  die  Größe  ihrer  Ähnlichkeit 
mit  dem  reinen  Schwarz,  d.  i.  ihre  Schwärzlichkeit  oder  Schwärze,  durch 
das  Zeichen  S,  die  Größe  ihrer  Ähnlichkeit  mit  dem  reinen  Weiß,  d.  i.  ihre 
Weißlichkeit  oder  Weiße,  durch  das  Zeichen  W  ausdrücken,  so  ist  das  Ver- 

W  S 

hältnis  -^  oder  — —  ein  Symbol  für  die  Qualität   der  bezüglichen  Farbe. 

Dass  hier  diese  Symbole  keinen  »Bruch«  und  also  in  keiner  Weise  eine 
Größe  bezeichnen,  sondern  lediglich  ein  Verhältnis,  braucht  wohl  kaum 

W  S 

besonders  bemerkt  zu  werden;  die  Symbole  -—-  und  -r—  sind  daher  durch- 
aus gleichbedeutend.  Nicht  als  ob  wir  beim  Sehen  der  Farbe  die  beiden 
Glieder  dieses  Verhältnisses  sondern  und  die  gesonderten  untereinander  ver- 
gleichen würden:  wir  sehen  vielmehr  nur  eine  bestimmte  Qualität,  ohne 
uns  dabei  des  Verhältnisses  ihrer  Ähnlichkeiten  mit  dem  reinen  Weiß  und 
Schwarz  besonders  bewusst  zu  werden.  Gleichwohl  leitet  uns  dieses  Ver- 
hältnis bei  der  Wahl  der  Bezeichnung  für  die  verschiedenen  tonfreien  Farben; 
wir  nennen  ein  Grau  schwärzlich,  wenn  es  dem  Schwarz  ähnlicher  oder 
näher  verwandt  erscheint  als  dem  Weiß,  und  weißlich,  wenn  das  Gegenteil 
der  Fall  ist. 

Wie  wir  ferner  bildHch  sagen  können:  je  näher  eine  Farbe  dem  reinen 
Weiß  steht,  desto  ferner  steht  sie  dem  reinen  Schwarz,  so  können  wir  uns 
auch  auf  der  Strecke  5  iv  (Fig.  2),  wenn  wir  deren  Endpunkt  s  als  Symbol 
des  allerdings  nur  gedachten  und  nie  mit  Sicherheit  anschaulich  zu  machenden 
absoluten  Schwarz,  den  Endpunkt  w  als  Symbol  des  ebenfalls  nur  gedachten 
absoluten  Weiß  nehmen,  sämtliche  tonfreie  Farben  derart  angeordnet  denken, 
dass  mit  dem  Abstände  von  s  die  Schwärzlichkeit  der  Farben  stetig  ab-, 
die  Weißhchkeit  stetig  zunimmt,  und  zwar  beides  derart,  dass  gleichen 

Hering,  Lichtsinn.  3 


34 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Zuwüchsen  der  Weißlichkeit  bezw.  der  Schwärzlichkeit  gleich- 
große Lagenunterschiede  auf  der  Strecke  s  w  entsprechen. 
Wie  nun  jedem  Orte  innerhalb  der  Strecke  sw  ein  bestimmtes  Verhältnis 


Fig.  2. 


^^/ 


^U 


ti 


rv 


seiner  beiden  Abstände  von  ä  einerseits  und  von  w  andererseits  entspricht, 
so  auch  jeder  tonfreien  Farbe  ein  bestimmtes  Verhältnis  zwischen  ihrer 
Weißlichkeit  und  ihrer  SchwärzHchkeit.  Wenn  also  die  Weißlichkeit  der 
durch  die  Strecke  sw  repräsentierten  Farben  proportional  ihrem  Abstände 
von  s,  ihre  Schwärzlichkeit  proportional  ihrem  Abstände  von  %o  wächst,  so  ließe 
sich  die  Qualität  jeder  einzelnen  Farbe  durch  das  Verhältnis  dieser  beiden 
Abstände  ausdrücken.    Die  im  Punkte  d  (Fig.  2)  liegende  Farbe  z.  B.  wäre 


sd 


wd 


durch  das  Streckenverhältnis  — ,  oder  — r  gekennzeichnet,  vi^elches  zugleich 

wd  sd 

das  Verhältnis    der  dem   Punkte  d  entsprechenden  Ordinaten    der    beiden 
parallelen  Geraden  sw^  und  s^  w  ist. 

Wollten  wir  einseitig  verfahren  und  nur  die  Weißlichkeit  der  Farbe  zur 
Grundlage  ihrer  Bezeichnung  machen,  so  zeigt  uns  die  soeben  erörterte  schema- 
tische Anordnung  der  tonfreien  Farben  die  theoretische  Möglichkeit,  die  Qua- 
lität jeder  beliebigen  tonfreien  Farbe  auch  durch  eine  Zahl  zu  bezeichnen.  Geben 
wir  nämlich  dem  Abstände  des  absoluten  Weiß  vom  absoluten  Schwarz,  welcher 
Abstand  also  dem  denkbaren  Maximum  der  Verschiedenheit  zweier  tonfreien 
Farben  entspricht^  beispielsweise  den  Wert  2,  so  entspricht  dem  Werte  \  das 
in  der  Mitte  der  schematischen  Farbenreihe  liegende  Grau  [m  Fig.  2),  welches 
dem  absoluten  Schwarz  ebenso  ähnlich  ist,  wie  dem  absoluten  Weiß  bezw.  von 
beiden  gleichstark  verschieden  ist;  dem  Werte  0,33  ..  .  ein  Dunkelgrau  (c^Fig.  2), 
dessen  Weiße  sich  zur  Schwärze  verhält  wie  1:2;  dem  Werte  1,33  ..  .  ein 
Hellgrau,  dessen  Weiße  sich  zur  Schwärze  verhält  wie  2:1  u.  s.  f.  Der 
numerische  Ausdruck  für  die  Weißlichkeit  einer  tonfreien  Farbe  F  ergäbe 
sich    also    aus    dem    ihr    entsprechenden    Verhältnis    W:  S    nach    der    Formel 

F 


Der  wesentliche   Unterschied   dieser   Art,    die    Weißlichkeit   oder   Helligkeit 
einer  tonfreien  Farbe   numerisch   definiert    zu   denken,    von   derjenigen,    welche 


§  n.    Vergleichung  von  Farbenverschiedenheiten  untereinander.  35 

sich  aus  der  Auffassung  dieser  Farben  als  bloßer  Intensitätsstufen  einer  und  der- 
selben Sehqualität  ergiebt,  liegt  darin,  dass  wir  für  die  Größe  der  Farbenver- 
schiedenheit zwischen  dem  Nullpunkt  und  dem  Maximum  der  Weißlichkeit  oder 
Helligkeit  einen  endlichen  Wert  einsetzen  und  mit  demselben  das  absolute 
Weiß  bezeichnen,  während  diesem  nur  gedachten  Weiß,  wenn  es  als  Intensitäts- 
stufe und  daher  als  das  absolute  Maximum  der  Intensität  angenommen  wird,  der 
Wert  oo  zukommen  würde. 

Zwischen  0  und  \  liegt  dieselbe  Menge  numerisch  ausdrückbarer  Ver- 
hältnisse wie  zwischen  \  und  oo,  denn  jedem  diesseits  \  gelegenen  entspricht 
jenseits  \  das  umgekehrte  Verhältnis.  So  liegen  auch  auf  der  ideellen  Farben- 
linie (Fig.  2)  zwischen  dem  absoluten  Schwarz  [s]  und  dem  mittleren  Grau  {m) 
ebensoviel  verschiedene  Farben,  wie  zwischen  letzterem  und  dem  absoluten 
Weiß  [w). 

Die  tonfreie  oder  schwarz-weiße  Farbenreihe  ist  vergleichbar  der  Gesamtheit 
aller  Gemische,  welche  sich  aus  zwei,  in  jedem  beliebigen  Verhältnis  mischbaren 
Dingen  herstellen  lassen:  beide  stellen  eine  eindimensionale  Mannigfaltigkeit  dar, 
und  in  der  Mannigfaltigkeit  der  tonfreien  Farben  sind  in  solchem  Sinne  reines 
Weiß  und  Schwarz  die  beiden  Variablen  oder  Mischelemente.  Ich  habe  jedoch 
Leser  gefunden,  welche  von  einem  Gemisch  verlangten,  dass  jeder  seiner  Bestand- 
teile als  solcher  im  Gemisch  fortbestehe  bezw.  aufzeigbar  sei.  Nun  ist  freilich 
richtig,  dass  jemand,  der  nie  ein  Schwarz  oder  W^eiß  gesehen  hätte,  auch  in  einem 
Grau  nie  etwas  Schwärzliches  oder  Weißliches  finden  würde,  während  er  in 
einem  Gemisch  von  Linsen  und  Bohnen  beide  finden  würde,  auch  wenn  er  sie 
nie  gesondert  gesehen  hätte.  Jedes  Gleichnis  hinkt,  aber  es  ist  das  gesunde 
Bein,   auf  welchem  es  fußt,  nicht  das  kranke. 

§  11.  Vergleichung  von  Farbenverschiedenheiten  unter- 
einander. Auf  einer  in  der  beschriebenen  Weise  geordneten  ideellen  Farben- 
reihe oder  Farbenhnie  würde  der  gegenseitige  Abstand  zweier  Farben  zu- 
gleich ein  Maß  ebensowohl  für  die  Verschiedenheit  wie  für  die  Ähnlichkeit 
derselben  sein,  denn  die  Größe  ihrer  Verschiedenheit  wäre  direkt  propor- 
tional, die  Grüße  ihrer  Ähnlichkeit  umgekehrt  proportional  ihrem  gegen- 
seitigen Abstände;  Farbenpaare  von  gleichgroßer  Verschiedenheit  ihrer  beiden 
Einzelfarben,  kurz  gesagt  äquidifferente  Farbenpaare,  gleichviel  welcher 
Teilstrecke  der  Farbenreihe  sie  angehören,  ob  der  schwarzen,  der  grauen 
oder  der  weißen,  würden  Farbenpaare  von  gleichgroßem  Abstand  ihrer 
beiden  Einzelfarben  in  der  Farbenreihe  sein ;  einer  doppelt  so  großen  Ver- 
schiedenheit entspräche  ein  doppelt  so  großer  Abstand  der  bezügUchen  Orte 
in  der  Reihe  u.  s.  w.  Man  brauchte  also  nur  den  gegenseitigen  Abstand 
zweier  beliebig  gewählter  Farben  der  Reihe  als  Maßeinheit  zu  nehmen,  um 
für  die  Verschiedenheit  zweier  beliebiger  anderer  Farben  ein  durch  Zahlen 
ausdrückbares  Maß  zu  erhalten. 

Da  das  für  die  Endpunkte  einer  solchen  schematischen  Farbenreihe 
angenommene  absolute  Weiß  und  Schwarz  nicht  aufzeigbar  und  nur 
Gedankendinge  sind;  da  ferner  eine  und  dieselbe  Strahlung  je  nach  den 
Nebenumständen  in   sehr  verschiedenen  tonfreien  Farben  gesehen  werden 

3* 


36  Lehre  vom  Lichtsinn. 

kann,  und  wir  nicht  im  stände  sind,  diese  Nebenumstände  derart  konstant 
zu  erhalten,  dass  mit  der  bestimmten  Strahlung  auch  immer  dieselbe  Farbe 
wiederkehren  müsste:  so  wäre  es  schon  aus  diesen  beiden  Gründen  un- 
möglich, die  oben  angenommene  ideelle  Farbenreihe  z.  B.  durch  eine  ent- 
sprechende Reihe  tonfreier  Pigmente  für  das  Auge  in  korrekter  Weise  zu 
verwirklichen,  und  zwar  auch  dann  unmöglich,  wenn  für  eine  ganz  kon- 
stante Beleuchtung  derselben  gesorgt  wäre.  Die*  Bedeutung  einer 
solchen  nur  gedachten  Reihe  der  tonfreien  Farben  liegt  also 
nur  darin,  dass  man  sich  an  derselben  klar  machen  kann,  in- 
wiefern man  an  die  Verschiedenheit  zweier  tonfreien  Farben 
eine  Art  Maß  anzulegen  vermag. 

Haben  wir  z.  B.  im  Sehfelde  drei  tonfreie  Farben  f^^^  f^^  f^  nebenein- 
ander vor  uns,  von  denen  f^  weißlicher  als  Z*^,  aber  minder  weißlich  als  f^ 
ist,  und  finden  wir  die  Verschiedenheit  von  f^  und  f^  entschieden  größer 
als  die  von  /^  und  /"p,  so  vermögen  wir  gleichwohl  nicht  zu  sagen,  um 
wieviel  diese  Verschiedenheit  größer  ist  als  die  andere.  Wohl  aber  kann 
der  Fall  eintreten,  dass  es  uns  nicht  möglich  ist,  mit  Bestimmtheit  zu 
sagen,  die  eine  Verschiedenheit  sei  größer  als  die  andere,  dass  wir  also 
beide  beiläufig  gleich  finden. 

Angenommen  nun,  man  hätte  eine  sehr  große  Anzahl  kleiner  Täfelchen 
zur  Verfügung,  deren  tonfreie  Farben  sich  in  äußerst  feinen  Abstufungen 
von  einem  möglichst  dunklen  Schwarz  bis  zu  einem  möglichst  hellen  Weiß 
erstrecken,  und  man  hätte  zunächst  z.  B.  zwei  graue,  ganz  deutlich,  aber 
nicht  allzusehr  verschiedene  Täfelchen  ^  und  (q  nebeneinander  gelegt,  von 
welchen  ^  das  lichtstärkere  wäre,  so  könnte  man  ein  drittes  noch  licht- 
stärkeres Täfelchen  /^  aussuchen,  welches  neben  f^^  gelegt  von  diesem  bei- 
läufig ebenso  verschieden  erscheint,  wie  f^  von  /J,,  sodann  ein  viertes  aber- 
mals lichtstärkeres  /*^,  welches  neben  f^  gelegt  wieder  von  diesem  ebenso  stark 
abzustechen  scheint,  wie  /^  von  Z'^,  und  so  fort,  solange  man  noch  passende, 
immer  lichtstärkere  Täfelchen  fände.  In  analoger  Weise  könnte  man  auf 
der  anderen  Seite  von  /J^  immer  lichtschwächere  Täfelchen  Z"^,  /),  f\  .... 
anreihen,  bis  zum  lichtschwächsten  noch  eben  passenden,  welches  zu  finden 
wäre.  Würde  der  Grund,  auf  welchem  man  die  Täfelchen  geordnet  hat, 
überall  ganz  gleich  sein,  die  Beleuchtung  ganz  konstant  bleiben,  und  auch 
die  Stimmung  des  Auges  während  des  ganzen  Versuches  sich  nicht  wesent- 
lich ändern,  würden  endlich  die  Täfelchen  behufs  der  Vermeidung  des  Grenz- 
kontrastes fs.  u.)  nicht  dicht  aneinander  gelegt,  sondern  je  ein  schmaler 
und  überall  gleichbreiter  Streifen  des  Grundes  zwischen  ihnen  freigelassen, 
so  würde  sich  auf  diese  Weise  eine  w^enigstens  einigermaßen  beständige 
Stufenreihe  tonfreier  Farben  herstellen  lassen,  auf  welcher  die  Verschieden- 
heit je  zweier  Nachbarfarben  überall  angenähert  gleichgroß  erscheint. 

Nimmt  man  die  Größe  (den  Grad)  dieser  Verschiedenheit  als  Maßeinheit 


%  i^.    Vergleichung  von  Farbenverschiedenheiten  untereinander.  37 

und  setzt  sie  ^=  i,  so  würde  die  Verschiedenheit  zweier  Farben,  welche 
eine  dritte  zwischen  sich  hätten,  =2,  die  Verschiedenheit  zweier  Farben, 
welche  zwei  andere  zwischen  sich  hätten,  =  3  zu  setzen  sein  u.  s.  w. 
Kurzum  die  Größe  der  Verschiedenheit  je  zweier  beliebiger  auf  einer  solchen 
Farbenskala  vertretenen  Farben  wäre  der  Zahl  der  Stufen,  welche  von  der 
einen  zur  anderen  führt,  proportional  zu  setzen. 

Ferner  könnte  man  die  Verschiedenheit  zweier  Nachbarfarben  der  Skala 
gleichsam  hälften,  wenn  man  ein  Täfelchen  fände  oder  herstellte,  welches 
zwischen  sie  gelegt,  von  beiden  in  gleichem  Grade  verschieden  erscheint. 
Eine  so  auf  den  halben  Wert  gebrachte  Verschiedenheit  könnte  man  aber- 
mals hälften  u.  s.  w.,  bis  die  Verschiedenheit  der  bezüghchen  Täfelchen  nur 
noch  eben  merklich  und  also  unter  den  gegebenen  Bedingungen  nicht  weiter 
teilbar  wäre. 

In  dieser  Weise  wäre  also  eine  Art  Messung  der  Verschiedenheit  zweier 
tonfreien  Farben  auf  Grund  einer  bestimmten,  als  Maßeinheit  gewählten 
Verschiedenheitsgröße  durchführbar;  mit  welchem  Grade  von  Sicherheit  oder 
vielmehr  Unsicherheit,  kann  hier  dahingestellt  bleiben.  Immer  aber 
würde  es  sich  dabei  nur  um  eine  messende  Vergleichung  von 
Farbenverschiedenheiten,  nicht  aber  um  eine  Messung  der  Far- 
ben selbst  handeln;  wir  könnten  die  Größe  oder  den  Grad  der  Verschieden- 
heit zweier  Farben  durch  eine  Zahl  ausdrücken,  für  die  Weißlichkeit  und 
Schwärzlichkeit  der  einzelnen  Farbe  aber  hätten  wir  keinen  zahlenmäßigen 
Ausdruck  gewonnen. 

Ein  solcher  wäre  wie  schon  oben  erwähnt  nur  denkbar,  wenn  wir  die 
Farbenskala  entweder  bis  zum  absoluten  Schwarz  oder  bis  zum  absoluten 
Weiß  fortzusetzen  vermöchten.  Aber  diese  beiden  Farben  sind  wie  gesagt 
nur  Gedankendinge,  und  wieviel  äquidifferente  Farbenstufen  immer  wir  unter 
Benutzung  aller  hier  denkbaren  Kunstgriffe  unserer  Skala  an  beiden  Seiten 
noch  anzureihen  vermöchten,  nie  könnten  wir  behaupten,  dass  wir  mit  dem 
dunkelsten  Schwarz,  welches  wir  hergestellt  hätten,  das  dunkelste,  für  die 
Anschauung  überhaupt  mögliche,  geschweige  denn  das,  nur  denkbare,  ab- 
solute Schwarz  erreicht  hätten,  und  ebensowenig  würde  selbst  das  hellste 
von  uns  erzielte  Weiß  als  das  hellste  überhaupt  mögliche  oder  gar  als  das 
absolute  Weiß  gelten  müssen. 

Unserer  Farbenskala  würden  also  die  beiden  Endstrecken  und  damit 
einerseits  der  Nullpunkt  der  Weißlichkeit,  andererseits  der  Nullpunkt  der 
Schwärzlichkeit  fehlen,  und  wir  könnten  also  auch  nicht  für  eine  in  unserer 
Farbenskala  vertretene  Farbe  die  Zahl  der  als  Maßeinheiten  genommenen 
äquidifferenten  Farbenstufen,  welche  zwischen  sie  und  das  absolute  Schwarz 
zu  liegen  kämen,  als  Maß  für  ihre  Weißlichkeit  oder  Helligkeit,  und  ebenso- 
wenig die  Zahl  der  Farbenstufen,  welche  sie  vom  absoluten  Weiß  trennen, 
als  Maß  für  ihre  Schwärzlichkeit  oder  Dunkelheit  benutzen. 


38  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Aber  auch  wenn  wir  dies  könnten,  würden  wir  abermals  nur  einer 
Farben  Verschiedenheit  Ausdruck  geben,  nämhch  der  Verschiedenheit 
zwischen  der  bezüglichen  Farbe  und  dem  absoluten  Schwarz  bezw.  Weiß. 
Keineswegs  aber  dürfte  man  die  Farbe  selbst  als  eine  Grüße  nehmen  und 
meinen,  die  fragliche  Zahl  sei  ein  Ausdruck  für  diese  Grüße,  Wie  der  Ort 
eines  Punktes  auf  einer  Geraden  selbst  keine  Grüße  hat,  sondern  nur  sein 
Abstand  von  einem  zweiten  Orte  auf  der  Geraden  quantitativ  bestimmbar 
ist,  so  hat  auch  die  Farbe  als  eine  bloße  Qualität  keine  Grüße  oder  Inten- 
sität, und  nur  ihre  Verschiedenheit  von  einer  anderen  Farbe  lässt  sich  quan- 
titativ auffassen. 

Da  jede  im  Sehfeld  oder  Sehraum  erscheinende  Farbe  eine  Fläche  oder  einen 
Raum  füllt  und  wären  dieselben  auch  noch  so  klein,  so  kann  man  allerdings 
von  der  extensiven  Größe  einer  Farbe  sprechen;  aber  das  Quantitative  liegt  hier 
in  der  räumlichen  Ausdehnung,  während  die  Farbe  nur  eine  Qualität  des  bezüg- 
lichen Flächen-  oder  Raumteiles  ist :  die  Farben  sind  sozusagen  die  Qualitäten 
des  Sehfeldes  oder  Sehraumes,  kurz,  die  optischen  Raumqualitäten. 

Wenn  ich  von  zwei  tonfreien  Farben  sage,  die  eine  sei  weißlicher  als 
die  andere,  so  nehme  ich  die  Weißlichkeit  der  Farbe  allerdings  als  etwas 
Quantitatives,  wie  ich  den  Ort  als  etwas  Quantitatives  nehme,  wenn  ich  von 
zwei  Orten  sage,  der  eine  sei  weiter  nach  rechts  als  der  andere.  Ersteren- 
falls  liegt  das  Quantitative  in  der  mehr  oder  weniger  großen  Ähnlichkeit  mit 
reinem  Weiß  bezw.  in  der  Verschiedenheit  von  reinem  Schwarz,  letzterenfalls 
in  dem  mehr  oder  minder  großen  Abstände  von  meiner  Medianebene  oder 
sonst  welcher  Ebene,  auf  welche  ich  das  Links  oder  Rechts  beziehe.  Was 
Fechner  und  Helmholtz  als  »Intensität  einer  Lichtempfindung«  bezeichnet 
haben,  entspricht  eben  der  Weißlichkeit  derselben.  Aber  so  unzutreffend 
es  wäre,  von  zwei  verschieden  weit  nach  rechts  liegenden  Punkten  zu  sagen, 
der  eine  sei  intensiver  als  der  andere,  so  unzutreffend  ist  es,  der  weißlicheren 
von  zwei  Farben  eine  grüßere  Intensität  zuzuschreiben. 

Ebenso  wie  ich  die  eine  von  zwei  tonfreien  Farben  als  die  weißlichere 
bezeichnen  kann,  kann  ich  die  andere  als  die  schwärzlichere  bezeichnen. 
Letzterenfalls  halte  ich  mich  an  die  mehr  oder  minder  große  Ähnlichkeit 
der  Farben  mit  dem  Weiß,  anderenfalls  an  die  Ähnlichkeit  mit  Schwarz. 
Das  Merkmal  der  Schwärze  ist  deutlicher  in  der  einen,  das  der  W^eiße  deut- 
licher in  der  anderen  gegeben,  und  dem  entspricht  ihre  qualitative  Ver- 
schiedenheit. Gebrauche  ich  statt  der  Worte  Weißlichkeit  und  Schwärzlich- 
keit die  Worte  Helligkeit  und  Dunkelheit  und  bezeichne  die  weißliche  Farbe 
als  die  hellere,  so  liegt  das  Missverständnis,  dass  es  sich  dabei  um  eine 
Intensitätsverschiedenheit  der  beiden  Empfindungen  handle,  um  so  näher, 
als  sehr  gewühnlich  das  Wort  Helligkeit  promiscue  sowohl  für  die  Weißlich- 
keit der  »Empfindung«  als  auch  für  die  Intensität  der  sie  veranlassenden 
Strahlung  benutzt  worden  ist.    Deshalb  ist  es  unzweckmäßig,  die  Intensität 


%  M.    Vergleichung  von  Farbenverschiedenheiten  untereinander.  39 

einer  optischen  Strahlung  als  deren  Helligkeit  zu  bezeichnen,  vielmehr  sollte 
man  dieses  Wort  nur  auf  die,  durch  die  Strahlung  veranlasste  Farbe  an- 
wenden. 

Der  erste,  der  eine  Skala  äquidifferenter  Farbenstufen  herzustellen  versuchte, 
war  Plateau  (7,  S.  468).  Zu  einem  weiß-  und  einem  schwarzpigmentierten 
Quadrate  suchte  er  dasjenige  mittelgraue,  welches  für  das  Auge  von  beiden 
gleichstark  verschieden  erschien,  sodann  ein  hellgraues,  welches  von  dem  weißen, 
und  ein  dunkelgraues,  welches  von  dem  schwarzen  ebenso  stark  abstach  wie 
von  dem  mittelgrauen.  So  erhielt  er  eine  Skala  von  fünf  beiläufig  äquidifferenten 
Farben.  Indem  er  absah  von  »der  kleinen  Lichtmenge«,  welche  von  dem  schwarzen 
Quadrate  reflektiert  wurde,  und  »von  der  schwachen  Lichtempfindung,  welche 
die  Augen  selbst  im  vollständigsten  Dunkel  wahrnehmen«,  setzte  er  die  »Inten- 
sität« der  dem  schwarzen  Quadrat  entsprechende  Empfindung  =  0  und  die  In- 
tensität der  dem  nächstliegenden  dunkelgrauen  Quadrate  entsprechenden  Empfin- 
dung =  \  und  kam  so  zu  dem  Ergebnis,  »dass  die  Intensitäten  der  den  fünf 
Farben  entsprechenden  Empfindungen,  vom  Schwarz  bis  zum  Weiß,  sich  zuein- 
ander verhalten  wie  0,  1,  2,  3,  4«,  und  dass  also  z.  B.  das  hellgrau  erscheinende 
Quadrat  eine  »Empfindung  hervorbringt,  deren  Intensität  gleich  ist  drei  Vierteln 
der  weißen  Empfindung«.  Er  meint  also,  dass  wenn  statt  des  schwarz  bemalten 
Quadrates  »ein  ganz  lichtleerer  Raum  genommen  würde«  und  »die  schwache 
Lichtempfindung«,  welche  nicht  von  physikalischen,  sondern  von  »physiologischen 
Aktionen  herrührt«,  beseitigt  werden  könnte,  das  dann  gesehene  Schwarz  dem 
wahren  Nullpunkt  der  Empfindung  entsprechen  und  das  Versuchsergebnis  dann 
noch   »ein  wenig  genauer«   sein  würde. 

Als  der  erste  Versuch  einer  messenden  Vergleichung  von  Farbenverschieden- 
heiten schien  mir  die  Untersuchung  Plateau's  hier  besonders  erwähnenswert; 
denn  thatsächlich  handelt  es  sich  dabei  um  die  Messung  von  Farbenverschieden- 
heiten, nicht  wie  Plateau  meint,  um  eine  Messung  der  Farben  (»Empfindungs- 
intensitäten«) selbst. 

Übrigens  bezweckte  Plateau  bei  seinen  Versuchen  nicht,  wie  wir  im  obigen, 
eine  Untersuchung  der  P'arben  und  ihrer  Verschiedenheiten  als  solcher,  und  die 
Herstellung  seiner  Farbenskala  war  ihm  nicht  Selbstzweck,  vielmehr  sollte  ihm 
dieselbe  nur  dazu  dienen,  ein  Gesetz  für  die  Abhängigkeit  der  »Intensität  der 
Lichtempfindung«  von  der  Intensität  der  sie  erzeugenden  Strahlung  zu  finden, 
worauf  später  zurückzukommen  sein  wird. 

Plateau  hat  auch  bereits  den  Vorschlag  gemacht,  die  zu  den  fraghchen 
Untersuchungen  nötigen  tonfreien  Farben  nicht  mit  Pigmenten,  sondern  mit  Hilfe 
des  Farbenkreisels  herzustellen.  Auf  seine  Anregung  hat  sodann  Delboeuf  (8) 
diese  Methode  benutzt,  um  auf  einer  Kreisfläche  drei  konzentrische  Ringe  von 
verschiedener  Farbe  derart  herzustellen,  dass  die  Farbe  des  mittleren  Ringes  von 
der  Farbe  des  ihn  umschließenden  Ringes  ebenso  stark  abwich,  wie  von  der 
Farbe  des  von  ihm  umschlossenen  Ringes.  Auch  diese  Versuche  bezweckten 
nur  die  Auffindung  eines  Gesetzes  der  Beziehung  zwischen  den  Lichtintensitäten 
und  den  »Empfindungsintensitäten«.  Dasselbe  gilt  von  den  mit  drei  nebenein- 
ander rotierenden  Kreiseln  ausgeführten  Untersuchungen  von  A.  Lehmann  und 
H.  Neiglick  (9). 

Zu  demselben  Zwecke  experimentierte  Ebbinghaus  (1  0,  S.  1  008)  wieder  mit 
tonfreien  Pigmenten.  Er  stellte  sich  eine  Stufenreihe  von  sieben  äquidifferenten 
Farben  auf  Papierscheiben  her,  und  indem  er  sich  die  Mannigfaltigkeit  der  ton- 


40  Lehre  vom  Lichtsinn. 

freien  Farben  auf  einer  Geraden  angeordnet  und  jede  einzelne  Farbe,  wie  ich 
dies  seinerzeit  gethan  hatte  (4,  §  22),  durch  einen  bestimmten  Ort  auf  dieser 
Geraden  sjmboUsiert  dachte,  bezeichnete  er  seine  Farbenskala  als  eine  Reihe 
>äquidistanter  Helligkeiten«  und  sagt  ganz  im  Sinne  dieser  Auffassung:  »die 
Anschauung  der  Helligkeitsdistanzen  verhält  sich  zu  derjenigen  der  einzelnen 
Helligkeiten  sehr  ähnlich  wie  die  Anschauung  einer  räumlichen  Strecke  zu  der- 
jenigen der  einzelnen  Orte.«  Doch  hat  er  später  wieder  von  den  einzelnen 
tonfreien  Farben  als  von  verschiedenen  »Empfindungsstärken«  gesprochen  und 
das,  was  ich  qualitative  Verschiedenheiten  nannte,  als  »Stärkeverschiedenheiten 
der  Empfindungen«  bezeichnet,  weil  seiner  Ansicht  nach  »kein  Anlass  vorliegt, 
diesen  Sprachgebrauch  anzutasten«   (i1,  S.  50  6). 

Als  eine  Reihe  äquidifferenter  Helligkeiten  wollte  schon  Fechner  (4  2,  \.  Teil, 
S.  158)  die  Skala  der  Sterngrößen  angesehen  wissen,  welche  die  Astronomen 
lediglich  auf  Grund  des  Aussehens  der  Sterne  schon  lange  vor  der  photometrischen 
Untersuchung  ihrer  Lichtstärken  unterschieden  haben.  Aber  obwohl  der  Gesichts- 
winkel der  Fixsterne  gleich  Null  gesetzt  werden  kann,  erscheinen  dieselben  doch 
nicht  bloß  verschieden  hell,  sondern  auch  verschieden  groß  und  zwar  auch  dann, 
wenn  das  Auge  auf  natürliche  oder  künsthche  Weise  für  parallele  Strahlen  mög- 
lichst gut  eingestellt  ist.  Hiermit  steht  auch  das  von  den  Astronomen  gewählte 
Wort  Sterngröße  in  Einklang.  Wenn  dem  Auge  alle  Fixsterne  von  ganz  gleicher 
Größe  oder  vielmehr  Kleinheit  und  nur  verschieden  hell  erscheinen  würden,  was 
thatsächlich  nicht  der  Fall  ist,  so  würde  man  wahrscheinlich  gar  nicht  von  ver- 
schiedener Größe  der  Sterne  gesprochen  haben.  Bei  der  Unterscheidung  der 
Sterngrößen  kommt  also  nicht  bloß  der  Lichtsinn,  sondern  auch  der  Raumsinn 
des  Auges  in  Frage,  und  jedenfalls  ist  bisher  nicht  bewiesen  worden,  dass  die- 
selbe ausschließlich  mit  Hilfe  des  Lichtsinns  erfolge. 

Wie  es  sich  erklärt,  dass  mit  der  Lichtstärke  der  Sterne  außer  ihrer  Hellig- 
keit auch  ihre  scheinbare  Flächengröße  wächst,  wird  später  erörtert  werden. 

§  12.  Die  Reihe  der  Farbentöne.  Jede  bunte  Farbe  kann  bei 
gleicher  Qualität  ihres  bunten  Merkmals,  das  ich  im  Einklang  mit  Helmholtz 
als  ihren  Ton  bezeichne,  mehr  oder  weniger  weißlich,  graulich  oder 
schwärzlich,  gleichsam  durch  Weiß,  Grau  oder  Schwarz  in  verschiedenem 
Grade  verschleiert  oder  verhüllt  sein.  Bunte  Farben,  welche  solche  Ver- 
hüllung nicht  ohne  weiteres  bemerken  lassen,  will  ich  freie  Bunt  färben 
(couleurs  franches)  nennen;  diejenigen  aber,  welche  neben  ihrem  Farbenton 
eine  mehr  oder  riiinder  deutliche  Weißlichkeit,  Graulichkeit  oder  Schwärz- 
lichkeit zeigen,  mögen  verhüllte  heißen. 

Die  möglichst  freien  Buntfarben  werden  gewöhnlich  als  gesättigte 
Farben  bezeichnet.  Da  aber  seit  Helmholtz  unter  Sättigung  auch  eine 
Eigenschaft  der  bezüglichen  Strahlungen  verstanden  worden  ist,  da 
Helmholtz  ferner  zum  Kriterium  einer  gesättigten  Farbe  nur  das  Fehlen 
einer  deutlichen  Weißlichkeit  oder  Graulichkeit,  nicht  aber  auch  das  Fehlen 
einer  deutlichen  Schwärzlichkeit  gemacht  hat,  so  werde  ich  zur  Vermeidung 
von  Missverständnissen  das  Wort  »gesättigt«  gar  nicht  gebrauchen.  Die 
klarste  Definition  eines  Wortes  nutzt  erfahrungsgemäß  wenig,  wenn  dasselbe 
dem    Leser    bereits    in    einer    anderen    Bedeutung   geläufig   geworden    ist; 


§  12.    Die  Reihe  der  Farbentöne.  41 

unwillkürlich  verbindet  er  immer  wieder  mit  dem  Worte  die  alten  Vor- 
stellungen. 

Die  bunten  Farben,  mögen  sie  mehr  oder  weniger  frei  sein,  lassen 
sich  nach  ihrem  Farbentone  auf  einer  in  sich  zurücklaufenden  Reihe,  einem 
sogenannten  Farbenzirkel,  derart  geordnet  denken,  dass  die  Verschieden- 
heit des  Tones  je  zweier  unmittelbar  benachbarter  minimal,  die  Ähnlichkeit 
maximal  ist,  so  dass  die  Farbentöne  überall  stetig  ineinander  übergehen. 

Nehmen  wir  auf  einem  solchen  Farbenzirkel  eine  beliebige  Farbe  als 
Ausgangspunkt,  z.  B.  ein  Rot  ähnlich  demjenigen,  mit  welchem  ein  Spektrum 
am  langwelligen  Ende  gewöhnlich  beginnt,  so  sehen  wir  die  in  der  einen 
Richtung  sich  anreihenden  roten  Farben  immer  deutlicher  gelblich  werden, 
während  die  Rötlichkeit  der  Farbe  entsprechend  zurücktritt,  bis  wir  durch 
Orange  und  Goldgelb  hindurch  zu  einem  Gelb  gelangen,  welches  keine  Spur 
mehr  von  der  noch  im  Orange  so  deutlichen  Röte  zeigt.  An  dieses  Gelb 
schließen  sich  andere  gelbe  Farben  an,  welche  mehr  und  mehr  ins  Grün 
spielen  (Schwefelgelb,  Kanariengelb);  weiterhin  tritt  (wie  im  Saftgrün)  hinter 
der  immer  deutlicher  werdenden  Grünlichkeit  die  Gelblichkeit  mehr  und 
mehr  zurück  und  wir  gelangen  endlich  zu  einem  Grün,  welches  völlig  gelb- 
frei erscheint.  Diesem  Grün  folgen  grüne  Farben^  die  bereits  ins  Blau 
spielen  (Wassergrün),  weiter  wird  die  Bläulichkeit  der  Farben  immer  stärker, 
die  Grünlichkeit  immer  schwächer  (Wasserblau),  bis  wir  ein  Blau  erreichen, 
welches  gar  keine  Grünlichkeit  mehr  zeigt.  An  dieses  Blau  schließen  sich 
blaue  Farben  von  mehr  und  mehr  wachsender  Rötlichkeit  und  entsprechend 
abnehmender  Bläulichkeit  an  (Blauviolett,  Rotviolett,  Purpurrot),  bis  in  einem 
bestimmten  Rot  die  letzte  Spur  von  Bläulichkeit  verschwindet.  Diesem  Rot 
folgen  sodann  spurweis  gelblich  werdende  rote  Töne,  bis  wir  wieder  jenes 
Rot  erreichen,  von  dem  wir  ausgingen. 

Wie  schon  aus  dieser  Beschreibung  hervorgeht,  finden  sich  in  der  zu 
einem  Zirkel  geschlossenen  Farbentonreihe  vier  ausgezeichnete  Stellen: 
erstens  die  Stelle  desjenigen  Gelb,  welches  keine  Spur  von  Rötlichkeit  mehr 
zeigt,  andererseits  aber  auch  noch  keine  Spur  von  Grün  erkennen  lässt; 
zweitens  die  Stelle  desjenigen  Blau,  von  dem  dasselbe  gilt.  Diese  beiden 
Farbentöne  mögen  als  Urgelb  und  Urblau  bezeichnet  werden.  Ebenso 
können  wir  drittens  dasjenige  Rot  und  viertens  dasjenige  Grün,  welche 
weder  irgend  bläulich  noch  irgend  gelblich  sind,  als  Urrot  und  Urgrün 
benennen. 

Sämtliche  Farbentöne  lassen  sich  auf  dem  Zirkel  so  ordnen,  dass  die 
genannten  Urfarbentöne  denselben  in  seine  vier  Quadranten  teilen,  wie 
dies  Taf.  I  anschaulich  machen  soll.  Dieselbe  stellt  in  der  unteren  Figur 
einen  Farbenzirkel  dar,  auf  welchem  allerdings  nur  eine  sehr  beschränkte 
Zahl  von  bunten,  leider  zum  Teil  stark  verhüllten  Farben  wiedergegeben 
ist,   diese  jedoch  in  der,  einem  idealen  Farbenzirkel  entsprechenden  Folge 


42  Lehre  vom  Lichtsinn. 

der  Farbentöne  ^).  Man  sieht  sofort,  dass  allen  auf  der  linken  Hälfte  dieses 
Zirkels  liegenden  Farben  eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Gelblichkeit  oder 
Gilbe,  allen  auf  der  rechten  Hälfte  gelegenen  eine  mehr  oder  minder  deut- 
liche Bläue  gemeinsam  ist,  während  alle  der  oberen  Hälfte  angehörenden 
in  verschiedenem  Maße  der  Deutlichkeit  grünlich  oder  grün,  alle  Farben 
der  unteren  Hälfte  aber  rötlich  oder  rot  sind.  Wir  unterscheiden  dement- 
sprechend eine  gelbhaltige  und  eine  blauhaltige,  und  ebenso  eine 
rothaltige  und  eine  grünhaltige  Hälfte  des  Farbenzirkels. 

Jeder  Quadrant  eines  solchen  aus  möglichst  vielen  und  gleich  freien 
Farbentönen  bestehenden  Zirkels  wird  gebildet  von  den  zwischen  je  zwei 
Urfarben  liegenden  Zwischentönen.  Greifen  wir  irgendeine  solche 
Zwischenfarbe,  z.  B.  ein  beliebiges  Orange  heraus  und  suchen  uns  klar 
zu  machen,  welche  Ähnlichkeiten  und  welche  Unterschiede  zwischen  dem 
Tone  dieses  Orange  und  den  nach  beiden  Seiten  angrenzenden  Farben- 
tönen bestehen.  Ähnlich  sind  alle  Farbentöne  dieser  kleinen  Strecke  in- 
sofern, als  sie  erstens  alle  rötlich  und  zweitens  alle  gelblich  sind,  und  zwar 
nimmt,  wenn  wir  die  Farben  in  der  einen  Richtung  durchmustern,  die  Röte 
zu  und  die  Gilbe  ab,  während  in  der  entgegengesetzten  Richtung  die  Gilbe 
zu-  und  die  Röte  abnimmt.  Was  die  einzelnen  Farbentöne  dieser  Strecke 
unterscheidet,  ist  also  lediglich  das  verschiedene  Verhältnis 
der  Deutlichkeit  ihrer  Röte  zur  Deutlichkeit  ihrer  Gilbe. 

Ganz  anders  verhält  es  sich,  wenn  wir  eine  Urfarbe,  z.  B.  das  Urgelb, 
mit  den  sich  beiderseits  anreihenden  Farbentönen  vergleichen.  Da  finden 
wir,  dass  die  Gilbe,  welche  im  Urgelb  am  ausgesprochensten  ist,  nach 
beiden  Richtungen  hin  abnimmt,  und  dass  dafür  in  der  einen  Richtung 
eine  immer  deutlicher  hervortretende  Röte,  in  der  anderen  Richtung  eine 
zunehmende  Grüne  bemerkbar  ist.  Die  nach  der  einen  Seite  an  das  Urgelb 
grenzenden  Farben  zeigen  also  neben  ihrer  Gilbe  eine  Eigenschaft,  von 
welcher  in  den  nach  der  anderen  Seite  angrenzenden  keine  Spur  bemerk- 
lich ist;  denn  jene  spielen  ins  Grüne,  diese  ins  Rote,  und  das  Urgelb  bildet 
den  Wendepunkt,  vor  welchem  die  Grünlichkeit  aufhört  und  hinter  welchem 
die  Rötlichkeit  beginnt.  Nur  eine  bunte  Eigenschaft,  die  Gilbe,  ist  allen 
Farben  dieser  kleinen  Strecke  gemeinsam,  während  den  Farben  einer  zwischen 
zwei  Urfarben  liegenden  Strecke  stets  zwei  bunte  Merkmale  gemeinsam 
sind,  deren  eines  in  demselben  Maße  an  Deutlichkeit  gewinnt,  als  das 
andere  verliert. 

Denkt  man  sich  den  beschriebenen  Farbezirkel  derart  gehälft  et,  dass 
die  Teilungslinie  nicht  durch  zwei  Urfarben,  sondern  zwei  beliebige  einander 


1)  Die  das  Urrot  und  Urgrün  vertretenden  Farbentöne  der  Figur  haben  bei 
Tageslicht  für  mein  Auge  noch  einen  Stich  ins  Gelb.  Eine  größere  Freiheit  der 
Farben  wäre  nur  erreichbar  gewesen,  wenn  man  auf  Lichtbeständigkeit  der  Pig- 
mente verzichtet  hätte. 


Graefe-Saemisch ,  Handbuch,  2.  A . , I.Teil ,XII. Kap. 


Tafeil.    ^^ 


zu  S.4^2. 


h:r=  0,15:0,25 


Verlag  v.WUlielmljigeliTiaim  Inleipzig. 


I.itLAnst  vE.AJiirikB  Jeipzig 


§  12.    Die  Reihe  der  Farbentöne.  43 

gegenüberliegende  Zwischenfarben  geht,  z.  B.  durch  ein  bestimmtes  Violett 
und  ein  bestimmtes  Grün-Gelb,  und  vergleicht  die  Farbentöne  je  einer 
Hälfte  untereinander,  so  findet  man  kein  allen  diesen  Tönen  gemeinsames 
buntes  Merkmal.  Nahe  dem  einen  Ende  der  einen  Hälfte  sehen  wir  dann 
rotviolette  oder  Purpurtöne,  nahe  dem  anderen  Ende  grüngelbe  Töne,  und 
die  ersteren  haben  mit  den  letzteren  nichts  gemeinsames  in  ihren  bunten 
Eigenschaften.  In  der  anderen  Hälfte  finden  wir  nahe  dem  einen  Ende 
derselben  blauviolette  Töne,  nahe  dem  anderen  Ende  gelbgrüne,  und  aber- 
mals zeigen  die  letzteren  keine  Verwandtschaft  oder  Ähnlichkeit  mit  den 
ersteren.  Wir  mögen  den  Zirkel  hälften  wie  wir  wollen,  immer  stoßen 
wir,  wenn  die  Teilungslinie  nicht  durch  zwei  Urfarben  geht,  auf  Farben, 
welche  mit  gewissen  anderen  Farben  derselben  Hälfte  keinerlei  buntes 
Merkmal  gemeinsam  und  daher  mit  denselben  keinerlei  Ähnlichkeit  des 
Farbentones  haben.  Auf  diese  Weise  erkennen  wir  abermals,  dass  eine 
rationelle  Einteilung  des  Farbenzirkels  oder  Gruppierung  der  Farbentöne 
auf  Grund  ihrer  inneren  Verwandtschaft  nur  mit  Hilfe  der  genannten  vier 
Urfarben  möglich  wird. 

Wenn  wir  eine  Farbe  sehen,  deren  Ton  einem  der  vier  Urfarbentöne 
sehr  nahe  steht,  so  können  wir  zweifelhaft  sein,  ob  ihr  Ton  dem  der  be- 
züglichen Urfarbe  genau  entspricht  oder  nicht.  Haben  wir  aber  eine  ganze 
Reihe  nach  ihrer  Verwandtschaft  geordneter  z.  B.  roter  Farbentöne  derart 
vor  uns,  dass  am  einen  Ende  der  Reihe  ein  ganz  deutlich  bläuliches,  am 
anderen  Ende  ein  ganz  deutlich  gelbliches  Rot  liegt  und  dazwischen  alle 
durch  das  Urrot  hindurch  gehenden  Übergangstöne,  so  kommen  wir, 
wenn  wir  die  Reihe  langsam  z.  B.  vom  bläulich -roten  Ende  her  durch- 
mustern, stets  zu  einem  Rot,  welches  insofern  einen  Wendepunkt  in  der 
Reihe  bildet,  als  hier  jede  Bläulichkeit  aufhört  und  weiterhin  die  Gelblich- 
keit beginnt.  Durchläuft  unser  Blick  die  Reihe  vom  anderen  Ende  her,  so 
kommt  es  sehr  gewöhnfich  vor,  dass  das,  dem  Wendepunkte  entsprechende 
Rot,  in  welchem  die  Gelblichkeit  eben  aufhört,  dem  gelblichroten  Ende  der 
Reihe  etwas  näher  liegt,  als  die  bei  der  ersten  Art  der  Durchmusterung 
für  das  Urrot  gefundene  Stelle.  Dies  ist  eine  Folge  des  successiven  Farben- 
kontrastes; das  Auge,  welches  soeben  gelbliches  Rot  gesehen  hat,  sieht  in- 
folge des  Kontrastes  dort  bläuliches  Rot,  wo  ihm  Urrot  oder  gelbliches  Rot 
erscheinen  würde,  wenn  es  zuvor  Bläulichrot  gesehen  hätte.  Überhaupt 
hängt  es  von  der  jeweiligen  chromatischen  Stimmung  des  Auges,  über 
welche  später  zu  sprechen  sein  wird,  wesentlich  mit  ab,  welche  Farbe  von 
einer  bestimmten  Strahlung  hervorgerufen  wird,  daher  es  schon  deshalb  un- 
möglich wäre,  für  jede  Urfarbe  ein  ganz  bestimmtes  Pigment  oder  eine 
ganz  bestimmte  Strahlung  als  diejenigen  zu  bezeichnen,  durch  welche  diese 
Urfarbe  unter  allen  Umständen  hervorgerufen  werden  müsse. 

Dazu  kommen  noch,  sofern  es  sich  um  zusammengesetzte  Strahlungen 


44 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


handelt,  die  Verschiedenheiten  des  Tageslichtes,  von  welchem  das  bezüg- 
hche  Pigment  beleuchtet  wird,  und  endlich  die  individuellen  Verschieden- 
heiten des  Farbensinnes.  Jede  Farbe  und  also  auch  eine  Urfarbe  ist,  wie 
wir  schon  sahen,  nicht  an  eine  bestimmte  Strahlung,  sondern  an  eine  be- 
stimmte Regung  unseres  inneren  Auges  gebunden,  und  nur,  wenn  die 
Stimmung  des  letzteren  wieder  genau  dieselbe  ist,  wird  auch  eine  be- 
stimmte Strahlung  wieder  genau  dieselbe  Art  der  Regung  und  dement- 
sprechend genau  dieselbe  Farbe  erwecken. 

Denken  wir  uns  die  Reihe  der  Farbentöne,  welche  im  idealen  Farben- 
zirkel zwischen  zwei  Urfarben  z.  B.  Urgelb  und  Urrot  liegen,  auf  einer 
Geraden  (RG  Fig.  3)  angeordnet,  an  deren  beiden  Endpunkten  die  beiden 
so  können  wir  die  verschiedenen  Grade  der  Ähnlichkeit^ 

welche  die  einzelnen  Zwischen- 
Fig.  3. 

Gt 


Urfarben  liegen. 


farbentöne  mit  denen  der  beiden 
Urfarben  haben,  durch  das  bei- 
stehende Schema  (Fig.  3)  dar- 
stellen. Das  Viereck  EB^  G^  G 
sei  durch  die  Diagonale  i?i  G  in 
eine  untere  rote  [BB^  G)  und 
eine  obere  gelbe  [GG^B^  Hälfte 
geteilt.  Zu  jedem  Punkte  der 
Geraden  BG,  z.  B.  zum  Punkte  r, 
gehört  eine  Ordinate  [rg\  welche  einesteils  im  roten,  anderenteils  im  gelben 
Teile  des  farbigen  Vierecks  liegt;  das  Verhältnis  dieser  beiden  Ordinatenteile 
ist  für  jeden  Punkt  der  Geraden  ein  anderes  und  drückt  das  für  den  bezüg- 
lichen Farbenton  charakteristische  Deutlichkeitsverhältnis  der  Röte  zur  Gilbe 
aus.  Wir  sehen  den  gelben  Ordinatenteil  in  dem  Maße  wachsen  und  den 
roten  abnehmen,  in  welchem  die  Ähnlichkeit  der  bezüglichen  Farbe  mit  dem 
Urgelb  wächst  und  die  Ähnlichkeit  mit  dem  Urrot  abnimmt. 

Eine  derartige  schematische  Darstellung  der  Ähnlichkeits  -  oder  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse der  Farbentöne  lässt  sich  auf  den  ganzen  Farben- 
zirkel anwenden,  wie  dies  die  obere  Figur  auf  Taf.  I  zeigt.  Zugleich  giebt 
dieses  Schema  eine  passende  Unterlage  für  die  Bezeichnung  der  Zwischen- 
farbentöne. Es  genügt,  dies  an  einem  Quadranten  des  Farbenzirkels  zu 
erläutern : 

Sämtliche  zugleich  dem  Urrot  und  dem  Urgelb  verwandten  Farbentöne 
lassen  sich  als  rot-gelbe  oder  gelb-rote  bezeichnen,  womit  zunächst  über  das 
Verhältnis  ihrer  Röte  zur  Gilbe  nichts  ausgesagt  sein  soll.  Sind  diese 
beiden  Merkmale  in  dem  Farbentone  beiläufig  gleich  deutlich,  so  könnte 
man  ihn  unter  Benutzung  des  Gleichheitszeichens  rot  =  gelb  oder  gelb  =  rot 
nennen.  Überwiegt  die  Röte  offenbar  die  Gilbe,  so  bezeichnet  der  Sprach- 
gebrauch die  Farbe  als  gelbrot  und  im  umgekehrten  Falle  als  rotgelb,  was 


§  12.    Die  Reihe  der  Farbentöne.  45 

sich  auch  durch  gelb  <^  rot,  bezw.  rot  <^  gelb  ausdrücken  ließe.  Hat  end- 
lich der  überwiegend  rötliche  Farbenton  nur  einen  deutlichen  Stich  ins 
Gelbe,  so  nennt  man  ihn  gelblichrot  (gelb  <[  <[  rot),  und  ist  der  Ton  ganz 
überwiegend  gelblich  und  spielt  nur  ins  Rot,  so  heißt  er  rütlichgelb 
(rot  <  <Z  gelb). 

Auch  könnte  man,  wie  dies  einst  H.  Spencer  vorgeschlagen  hat,  die 
einzelnen  Farbentöne  des  Farbenzirkels  in  analoger  Weise  benennen,  wie 
die  Himmelsrichtungen  auf  der  Windrose,  indem  man  an  die  Stelle  der 
vier  Haupt-Himmelsrichtungen  die  vier  Urfarbentöne  setzt. 

Immer  aber  handelt  es  sich  bei  diesen  Farbenbezeichnungen  nur  um 
das,  w^as  man  eben  an  der  Farbe  sieht,  nicht  um  das  Strahlgemisch  oder 
das  Pigment,  von  denen  die  bezügliche  Farbe  veranlasst  wurde  und  an 
welches  man  vielleicht  dabei  denkt. 

Man  hat  bestritten,  dass  den  von  mir  als  Urfarben  bezeichneten  Farben- 
tönen eine  ausgezeichnete  Stellung  in  der  Farbenreihe  zukomme,  und  behauptet, 
dass  man  mit  demselben  Rechte  jeden  anderen  Farbenton  eine  Urfarbe  nennen 
könne;  nur  zufällige,  gar  nicht  im  Wesen  der  Farben  begründete  Umstände 
hätten  dahin  geführt,  vier  Farbentöne  bezw.  Gruppen  einander  nahestehender 
Farbentöne  mit  besonderen  Worten  (Rot,  Gelb,  Grün,  Blau)  zu  bezeichnen. 
Es  lässt  sich  mit  dem,  der  solches  behauptet,  nur  unter  der  Voraussetzung 
sprechen,  dass  derselbe  ebenso  sieht,  wie  wir  selbst,  dass  also  die  Qualitäten 
seines  Gesichtssinnes  dieselben  sind,  wie  die  des  unserigen,  und  dass  Unterschiede 
und  Ähnlichkeiten,  die  wir  zwischen  den  einzelnen  Sinnesphänomenen  finden, 
auch  für  den  anderen  vorhanden  sind.  Es  mag  sein,  dass  für  einige  von  denen, 
die  mir  nicht  zugestimmt  haben,  das  Bunte  in  den  Phänomenen  des  Gesichts- 
sinnes angeborenermaßen  weniger  entwickelt  ist,  wie  es  ja  auch  bei  gewissen 
Augenleiden  vorkommt,  dass  das  Bunte  immer  weniger  und  schließlich  gar  nicht 
mehr  gesehen  wird,  sondern  nur  noch  Weiß,  Grau  und  Schwarz.  Zum  Teil 
mögen  auch  lang  eingewurzelte  Vorstellungen  und  Meinungen  zu  einem  Hindernis 
des  Verständnisses  dessen  geworden  sein,  was  ich  meine.  Aber  auf  solche 
Ursachen  lassen  sich  keineswegs  alle  Einwendungen  zurückführen,  die  man  mir 
gemacht  hat.  Denn  dieselben  sind  zu  einem  großen  Teile  derart,  dass  sie  das 
Wesentliche  meiner  Auffassung  gar  nicht  treffen,  sondern  nur  die  zufällig  ge- 
wählte Art  der  Darstellung.  So  habe  ich  gesagt,  man  könne  die  Zwischenfarben, 
z.  B.  Orange,  als  zusammengesetzte  oder  gemischte  bezeichnen  zum  Unterschiede 
von  den  Urfarben  als  einfachen  Farben.  Dagegen  wurde  eingewendet,  dass  es 
zusammengesetzte  Gesichtsempfindungen  nicht  gebe,  und  dass  Orange  eine  ebenso 
einfache  Empfindung  sei  wie  Rot  oder  Gelb.  Mir  scheint  es  hier  völlig  gleich- 
gültig zu  sein,  ob  man  von  zusammengesetzten  Empfindungen  sprechen  will  oder 
nicht,  und  ob  man  die  Phänomene  des  Gesichtssinnes  überhaupt  Empfindungen 
nennen  will.  Es  handelt  sich  lediglich  darum,  dass  diesen  Phänomenen  gewisse 
Merkmale  oder  Eigenschaften  zukommen,  dass  bestimmte  Merkmale  oder  Eigen- 
schaften ganzen  Gruppen  dieser  Phänomene  gemeinsam  sind,  wenn  auch  den 
einzelnen  Gliedern  einer  Gruppe  in  verschiedenem  Maße  der  Deutlichkeit,  und 
dass  eben  hierauf  die  mehr  oder  minder  große  Ähnlichkeit  der  einzelnen  Glieder 
einer  Gruppe  beruht.  So  charakterisiert  eine  gewisse  Röte  und  eine  gewisse 
Bläue  alle  zwischen  dem  Urrot  und  dem  Urblau  liegenden  Töne  des  Farbenzirkels. 


46  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Ob  ich  nun  die  Röte  und  Bläue  des  Violett  als  Bestandteile  oder  Komponenten, 
oder  ob  ich  sie  als  Merkmale  oder  Eigenschaften  des  Violett  bezeichne,  scheint 
mir  hier  gleichgültig.  Wesentlich  aber  scheint  mir,  dass  man  Violett  und  Orange 
nicht  in  demselben  Sinne  als  Merkmale  des  Urrot  nehmen  kann,  wie  Gelb  und 
Rot  als  Merkmale  des  Orange,  oder  Blau  und  Rot  als  solche  des  Violett,  obwohl 
das  Rot  in  der  Farbenreihe  ganz  ebenso  zwischen  Orange  und  Violett  steht,  wie 
Orange  zwischen  Rot  und  Gelb  oder  Violett  zwischen  Rot  und  Blau. 

Die  später  zu  besprechende  Thatsache,  dass  man  durch  Mischung  eines 
blauen  Farbstoffes  mit  einem  gelben  ein  grünaussehendes  Gemisch  erhält, 
kann  den,  der  eine  strenge  begriffliche  Scheidung  zwischen  der  Farbe  als 
Sinnesqualität  und  dem  als  Träger  der  Farbe  erscheinenden  Farbstoffe  noch 
nicht  vorgenommen  hat,  vielleicht  verführen,  einem  Grün  zugleich  Gilbe 
und  Bläue  zuzuschreiben,  obwohl  die  Beobachtung  lehrt,  dass  ein  ganz 
gleichartiges  grünes  Farbenfeld  nie  in  deutlicher  Weise  zugleich  gelblich 
und  bläulich  aussieht.  Man  kann  wohl  zweifelhaft  sein,  ob  man  ein  gegebenes 
Grün  für  Urgrün  nehmen  dürfe  oder  ob  es  nicht  doch  vielleicht  spurweise 
gelblich  oder  bläulich  sei.  Niemand  aber  wird  behaupten  wollen,  dass  ein 
Grün  in  deutlicher  Weise  zugleich  gelblich  und  bläulich  sein  könne,  wie  ein 
Violett  zugleich  bläuUch  und  rötlich  erscheint,  und  niemand  wird  versuchen, 
ein  Grün  als  Blaugelb  oder  Gelbblau  in  demselben  Sinne  zu  bezeichnen, 
wie  man  ein  Violett  unbedenklich  als  Rotblau  oder  Blaurot  bezeichnet. 

Aber  möge  man  der  hier  vertretenen  Auffassung  zustimmen  oder  nicht, 
so  ist  doch  unbestreitbar,  dass  sie  uns  das  Mittel  giebt,  die  verschiedenen 
Farbentöne  verständlich  zu  benennen.  Dies  wird  eben  nur  dadurch  mög- 
lich, dass  in  den  bunten  Farben  vier  variable  Eigenschaften  angenommen 
werden,  nämlich  die  Röte,  Gilbe,  Grüne  und  Bläue,  und  so  die  entsprechen- 
den vier  Farbentöne  zur  Grundlage  der  Nomenklatur  gemacht  werden. 
Sobald  man  nur  drei  Variable,  z.  B.  Rot,  Grün  und  Violett,  gelten  lässt 
und  auf  diese  eine  Nomenklatur  zu  gründen  versucht,  überzeugt  man  sich 
sofort  von  der  Unbrauchbarkeit  des  Verfahrens.  Man  muss  dann  z.  B. 
Gelb  als  ein  Rotgrün  oder  Grünrot,  Blau  als  ein  Violettgrün  oder  Grünviolelt 
bezeichnen.  Dass  man  dadurch  dem  Uneingeweihten  ganz  unverständlich 
würde,  wäre  zwar  störend,  aber  in  theoretischer  Hinsicht  gleichgültig.  Nicht 
gleichgültig  aber  wäre,  dass  bei  solcher  Bezeichnungsweise  die  Namen  der 
Farben  gar  nicht  zum  Ausdruck  bringen,  in  welcher  Art  und  in  welchem 
Grade  die  letzteren  unter  sich  verwandt  erscheinen. 

Übrigens  wird  später  dargelegt  werden,  dass  den  vier  Variabein  des 
Farbentones,  welche  ich  angenommen  habe,  auch  vier  physiologische  Variable 
entsprechen,  womit  dann  die  Einwände  gegen  meine  Auffassung  auch  denen 
gegenüber  ihre  Erledigung  finden  werden,  welche  die  F'arben  nicht  nach 
ihrer  Beschaffenheit,  sondern  auf  Grund  korrelativer  physiologischer  Prozesse 
ordnen  wollten. 


§  4  2.    Die  Reihe  der  Farbentöne.  47 

Schon  AuBERT  (6,  S.  186)  sagte  im  Jahre  1865:  »Wollen  wir  uns  über 
die  Farbenempfindungen  verständigen,  so  genügen  als  Ilauptbezeichnungen  die 
Worte  Schwarz,  Weiß,  Rot,  Gelb,  Grün  und  Blau,  die  ich  daher  als  Prinzipal- 
empfindungen oder  Prinzipalfarben  bezeichnen  möchte.«  »Die  Zusammensetzungen 
und  sonstigen  Modifikationen  jener  Worte  genügen,  um  alle  unsere  Farben- 
empfindungen auszudrücken  oder  wenigstens  auf  die  Prinzipalempfindungen  in 
verständlicher  Weise  zu  beziehen.«  Auch  E.  Mach  (13,  S.  321),  auf  dessen  Unter- 
suchungen zurückzukommen  sein  wird,  nahm  Rot,  Gelb,  Grün,  Blau  als  »Grund- 
farbenempfindungen« an,  »da  man  nur  in  diesen  bei  der  bloßen  Betrachtung 
keine  anderen  Farben  erkennt«  ^). 

Helmholtz  stand  einer  lediglich  auf  die  Eigenschaften  der  Farben  selbst 
gegründeten  Analyse  derselben  durchaus  ablehnend  gegenüber.  »Welch  trügerisches 
Mittel,«  wandte  er  mir  ein  (2,  S.  380),  »die  angebhche  innere  Anschauung  in 
solchen  Dingen  ist,  zeigt  am  besten  das  Beispiel  von  zwei  solchen  Autoritäten, 
wie  Goethe  und  Sir  D.  Brewster,  die  beide  glaubten,  im  Grün  das  Blau  und 
Gelb  zu  sehen,  aus  denen  sie  es,  getäuscht  durch  die  Erfahrungen  an  Maler- 
farben, gemischt  glaubten.«  Was  sich  Helmholtz  hier  unter  »innerer  An- 
schauung« gedacht  hat,  ist  mir  nicht  verständlich.  Wenn  ich  offenen  Auges 
zw^ei  vor  mir  erscheinende  Farben  vergleiche,  so  geschieht  dies  mittels  einer 
»äußeren  Anschauung«  und  auf  Grund  solcher  Vergleichungen  beruht  eben  die 
Analyse   der  Farben    als   Sehqualitäten.     Der   h'rtum  Goethe's    und  Brewster's 


V  v.  Kries  hat  neuerdings  irrtümlicherweise  von  einer  »Vierfarbentheorie« 
Aubert's  gesprochen  (Handb.  d.  Physiol.  von  Nagel,  III.  Bd.,  S.  146).  Aber  dieser 
um  die  Lehre  vom  Licht-  und  Farbensinn  so  verdiente  Forscher  hat  nie  irgend- 
welche Farbentheorie  entwickelt;  er  hat  lediglich  einen  »Einteilungsgrund«  für  die 
Mannigfaltigkeit  der  Farben  gesucht,  »um  sich  verständigen  zu  können«,  und  dem- 
entsprechend »besonders  hervorragende  oder  sich  oft  wiederholende  Empfindungen 
zur  Basis  genommen«,  wie  man  dies  »seit  den  ältesten  Zeiten«  gethan  habe.  Erst 
später  habe  man  »die  Ursachen  als  Einteilungsgrund  benutzt  oder  die  Verschieden- 
heit der  zuleitenden  Organe  oder  Nerven«.  Bei  der  Erklärung  der  Thatsachen, 
insbesondere  der  Nachbilder  und  des  Kontrastes,  hat  sich  Aubert  »im  ganzen  der 
BRÜCKE-HELMHOLTz'schen  Auffassung  angeschlossen«  (6,  S.  389).  Die  YouNo'sche 
Dreifarbentheorie  hat  er  eingehend  und  durchaus  nicht  ablehnend  diskutiert;  von 
einer  eigenen  Theorie  ist  aber  in  Aubert's  Schriften  nichts  zu  finden.  Der  Aus- 
druck »Vierfarbentheorie«  ist  zuerst  von  mir  gebraucht  worden,  als  Donders  einer 
von  mir  entwickelten  Theorie  eine  andere,  ebenfalls  auf  der  Annahme  von  vier 
bunten  Urfarben  (Rot,  Gelb,  Grün,  Blau)  beruhende  entgegengestellt  hatte.  Dürfte 
man  die  von  Aubert  benutzte  Nomenklatur  als  eine  Vierfarbentheorie  bezeichnen, 
so  wäre  auch  nicht  Aubert,  sondern  die  Sprache  als  Autor  derselben  zu  nennen, 
denn  dieselbe  hat  Rot,  Gelb,  Grün  und  Blau  längst  als  die  Hauptfarben  aus  der 
Mannigfaltigkeit  der  bunten  Farben  herausgehoben.  Später  hat  Aubert  der  von 
mir  entwickelten  Theorie,  welche  ich  insbesondere  als  die  Theorie  der  Gegen- 
farben bezeichnet  habe,  in  allen  irgend  wesentlichen  Punkten  ausdrücklich  zu- 
gestimmt und  dieselbe  seiner  Darstellung  der  Lehre  vom  Licht-  und  Farbensinn 
in  der  ersten  Auflage  dieses  Handbuches  zu  Grunde  gelegt.  Eine  Rechtfertigung 
seines  früheren  Standpunktes  lag  für  ihn  in  der  Meinung,  dass  die  Theorie  der 
Gegenfarben  und  die  YouNO-HELMHOLTz'sche  Dreifarbentheorie  »sehr  wohl  mit 
einigen  Modifikationen  nebeneinander  bestehen  könnten,  wenn  man  den  Er- 
regungs Vorgang  streng  unterscheide  vom  Empfin dungs Vorgang « ,  und  für 
ersteren  die  Dreifarbentheorie,  für  letzteren  die  von  mir  entwickelte  gelten  ließe. 
Nachher  ist  auch  Donders  für  eine  solche  Fusion  der  YouNc'schen  Theorie  und 
seiner  eigenen  Vierfarbentheorie  eingetreten. 


48  Lehre  vom  Lichtsinn. 

lässt  sich  ebenso  gut  als  ein  weiterer  Beweis  dafür  anführen,  dass  man  den 
Mitteln  und  Methoden,  durch  welche  man  sich  eine  Farbe  zur  Anschauung  ge- 
bracht hat,  keinen  Einfluss  auf  die  Beurteilung  der  Farben  als  solcher  gestatten 
darf.  Eine  beherzigenswerte  Mahnung  giebt  uns  der  Irrtum  Goethe's  aller- 
dings. Er  zeigt,  einen  wie  großen  Einfluss  hier  vorgefasste  Meinungen  und 
durch  dieselben  geweckte  Associationen  auf  unser  Urteil  nehmen  können;  und 
wenn  es  mir  nicht  gelungen  wäre,  auch  noch  auf  einem  ganz  anderen  als  dem 
oben  eingeschlagenen  Wege,  zu  zeigen,  dass  Weiß,  Schwarz,  Gelb,  Blau,  Rot 
und  Grün  die  Variabein  des  Lichtsinnes  sind,  so  würde  ich  als  Physiologe 
seinerzeit  Bedenken  getragen  haben,  dies  mit  solcher  Bestimmtheit  anzunehmen, 
wie  ich  es  gethan  habe. 

§  13.  Die  Gegenfarben.  Der  Farbenzirkel  zeigt  uns,  wie  jede  der 
vier  bunten  Urfarben  durch  eine  Reihe  stetig  ineinander  übergehender  Zwischen- 
töne  verbunden  ist,  daher  wir  eine  rot-gelbe,  gelb-grüne,  grün-blaue  und  blau- 
rote Reihe  von  bunten  Zwischen  färben  oder  -tönen  unterscheiden.  Dagegen 
giebt  es  keine  Reihe  von  rot-grünen  oder  gelb-blauen  Zwischentünen,  und  also 
keine  Farbe,  deren  Ton  gleichzeitig  dem  Urrot  und  Urgrün,  oder  gleichzeitig 
dem  Urgelb  und  Urblau  ähnlich  oder  verwandt  erscheint.  Keine  Farbe  ist 
deutlicherweise  rötlich  und  grünlich,  keine  gelbhch  und  bläulich  zugleich, 
Röte  und  Grüne  schheßen  sich  ebenso  aus  wie  Gilb^  und  Bläue.  Von  einer 
Farbe,  welche  etwas  Rotes  an  sich  hat,  können  wir  zu  einer  Farbe,  die 
mehr  oder  weniger  grünlich  ist,  durch  eine  stetige,  bunte  Farbenfolge  nur 
auf  dem  Umwege  über  das  Urgelb  oder  das  Urblau  gelangen,  und  von  einer 
irgendwie  gelblichen  zu  einer  bläulichen  Farbe  führt  eine  stetige  Reihe  von 
Farbentönen  nur  über  das  Urrot  oder  über  das  Urgrün. 

Die  erwähnten  vier  Reihen  von  Zwischentönen  verhalten  sich  ähnlich 
wie  die  schwarz-weiße  Farbenreihe,  auf  welcher  wir  ebenfalls  vom  Schwarz 
zum  Weiß  durch  eine  stetige  Reihe  von  Zwischenfarben  gelangen  können, 
deren  jede  einerseits  dem  Schwarz,  andererseits  dem  Weiß  mehr  oder 
weniger  verwandt  erscheint.  Zwischen  Rot  und  Grün  aber,  oder  zwischen 
Gelb  und  Blau  giebt  es  keine  analoge  Farbenreihe.  Ein  freies  Rot  lässt 
sich  durch  stetig  zunehmende  Verhüllung  mit  einer  tonfreien  Farbe,  z.  B. 
mit  einem  Grau,  in  dieses  überführen,  und  dieses  Grau  wieder  durch  stetige 
Abnahme  der  Verhüllung  in  freies  Grün,  und  Analoges  gilt  von  Gelb  und 
Blau;  aber  es  handelt  sich  hierbei  abermals  nicht  um  eine  Farbenreihe,  in 
welcher  jedes  Glied  etwas  von  der  bunten  Qualität  der  beiden  Endglieder 
Rot  und  Grün  bezw.  Gelb  und  Blau  an  sich  hat.  Denn  von  der  freien 
roten  Farbe  ausgehend  sehen  wir  die  Röte  der  Farbe  immer  mehr  schwinden, 
ohne  dass  sich  gleichzeitig  eine  entsprechend  wachsende  Grünlichkeit  zeigt, 
vielmehr  muss  erst  die  Röte  im  Grau  gänzlich  verschwunden  sein,  ehe 
jenseits  dieses  Grau  die  Grünlichkeit  beginnen  kann. 

Da  also  Röte  und  Grüne,  bezw.  Gilbe  und  Bläue  in  keiner  Farbe  gleich- 
zeitig deutlich  sind,  sich  vielmehr  gegenseitig  auszuschheßen  scheinen,  habe 


§  U.    Die  verhüllten  bunten  Farben.  49 

ich  dieselben  als  Gegenfarben  bezeichnet.  Hiermit  soll  zunächst  lediglich 
die  Art  ihres  Vorkommens  gekennzeichnet  sein  ohne  jede  Beziehung  auf 
irgendwelche  Erklärung. 

Es  werden  später  einige  besondere  Umstände  zu  besprechen  sein,  unter 
welchen  man  meinen  kann,  eine  Farbe  zu  sehen,  welche  gleichzeitig  rötlich 
und  grünlich  oder  gelblich  und  bläulich  ist;  vorerst  möge  es  bei  der  soeben 
aufgestellten  Regel  sein  Bewenden  haben. 

Zwei  Zwischenfarbentüne,  welche  zwei  einander  gegenüber  liegenden 
Quadranten  des  Farbenzirkels  angehören,  z.  B.  dem  rot-gelben  und  dem 
grün-blauen,  sind  in  doppelter  Beziehung  gegenfarbig;  gehören  sie  jedoch 
zwei  nebeneinander  liegenden  Quadranten  an,  wie  z.  B.  dem  rot-gelben  und 
dem  grün-gelben,  so  sind  sie  nur  in  einer  Beziehung  gegenfarbig. 

Es  erscheint  von  vornherein  höchst  auffällig,  dass  es  z.  B.  zwischen 
Rot  und  Grün  nicht  ebenso  eine  Reihe  bunter  Zwischenfarben  giebt,  wie 
zwischen  Rot  und  Gelb  oder  zwischen  Rot  und  Blau,  dass  es  also  keine 
Farben  giebt,  welche  uns  in  ähnlicher  Weise  zugleich  rötlich  und  grünlich 
erscheinen,  wie  das  Orange  zugleich  rötlich  und  gelblich  oder  das  Grau 
zugleich  weißlich  und  schwärzlich.  Wir  dürfen  daraus  schließen,  dass  im 
inneren  Auge  ein  physiologischer  Prozess,  dessen  psychisches  Korrelat  von 
gleichzeitig  deutlicher  Röte  und  Grüne  bezw.  Gilbe  und  Bläue  wäre,  ent- 
weder überhaupt  nicht  oder  nur  unter  ganz  besonderen,  ungewöhnlichen 
Bedingungen  möglich  ist. 

§  i4.  Die  verhüllten  bunten  Farben.  Wenn  eine  bunte  Farbe 
in  deutlicher  Weise  weißlich,  graulich  oder  schwärzlich  erscheint,  nenne  ich 
sie,  wie  schon  gesagt,  eine  verhüllte  Farbe.  So  oft  zwei  Farben  zwar 
denselben  Farbenton  zeigen,  doch  aber  verschieden  erscheinen,  beruht  dies 
darauf,  dass  ihre  Verhüllung  entweder  nur  verschiedenen  Grades  oder  ver- 
schiedener Art  oder  beides  zugleich  ist.  Da  die  Verhüllung  der  bunten 
Farbe  mit  jeder  beliebigen,  der  schwarz-weißen  Farbenreihe  angehörigen 
Farbe  und  in  allen  denkbaren  Graden  bis  zum  fast  völligen  Verschwinden 
des  Farbentones  möglich  ist,  so  entspricht  jedem  einzelnen  Farbentone  eine 
Mannigfaltigkeit  verhüllter  Farben,  welche  viel  größer  und  höherer  Ordnung 
ist,  als  die  Mannigfaltigkeit  der  Farbentöne  selbst. 

Man  kann  sagen,  es  lasse  sich  an  jeder  deutlich  verhüllten  bunten  Farbe 
ein  bunter  und  ein  schwarz  -  weißer  Bestandteil  unterscheiden,  und  das 
Deutlichkeitsverhältnis  dieser  beiden  Bestandteile  oder  Merkmale  entspreche 
dem  Verhüllungsgrade  der  bunten  Farbe.  Je  ähnlicher  letztere  dem  Weiß, 
Schwarz  oder  einem  beliebigen  Grau  ist,  desto  größer  ist,  so  lässt  sich 
bildlich  sagen,  ihr  schwarz-weißer,  desto  kleiner  ihr  bunter  Bestandteil. 
Es  handelt  sich  also  auch  hier  wieder  nur  um  einen  Ausdruck  für  das 
Ausmaß  der  Ähnlichkeit,   welchen  z.  B.  ein   gegebenes   Grau -Rot  einerseits 

Hering,  Lichtsinn.  4 


50  Lehre  vom  Lichtsinn. 

mit   dem    freien   Rot    gleichen   Tones,    andererseits    mit    dem    bezüglichen 
Grau  hat. 

Denkt  man  sich  an  die  eine  Ecke  r  (Fig.  4)  eines  Dreieckes  ein  ganz 
freies  Rot  von  bestimmtem  Tone,  an  die  zweite  Ecke  w  ein  ganz  reines 
Weiß  und  an  die  dritte  s  ein  ganz  reines  Schwarz  gestellt,  so  kann  man 
sich  auf  der  von  r  zn  w  führenden  Linie  alle  möglichen  Stufen  des  Über- 
ganges von  jenem   freien  Rot   zum   reinen  Weiß,  und   auf  der  die  Ecken 

r  und  s  verbindenden  Linie  alle  Übergänge  zwischen 
Fig.  4.  dem  freien  Rot  und  dem  reinen  Schwarz  angeordnet 

denken.  Mit  wachsender  Entfernung  vom  freien 
Rot  würden  also  die  so  angeordneten  Farben  einer- 
seits immer  mehr  durch  Weiß,  andererseits  durch 
Schwarz  verhüllt  erscheinen,  bis  schließlich  im 
reinen  Weiß  oder  Schwarz  die  letzte  Spur  von 
Röte  verschwände.  Zugleich  ließe  sich  bei  ent- 
sprechender Anordnung  der  Farben  der  Ort  (z.  B.  q) 
eines  bestimmten  weißverhüllten  Rot  durch  das 
Verhältnis  [rq  :  qw)  seiner  Abstände  einerseits  vom 
freien  Rot  und  andererseits  vom  reinen  Weiß  charakterisieren. 

Auf  der  dritten  Seite  [sw)  des  Dreieckes  kann  man  sich  ferner  die 
ganze  Reihe  der  schwarz-weißen  Farben  so  angeordnet  denken,  wie  dies  in 
§40  erörtert  wurde.  Dann  entspricht  jedem  Punkte  dieser  Seite  ein  be- 
stimmtes Weiß,  Grau  oder  Schwarz,  und  auf  jeder  Geraden  (z.  B.  rg)^  welche 
ein  bestimmtes  Schwarz- Weiß  mit  dem  Orte  des  freien  Rot  verbindet,  lassen 
sich  alle  Übergänge  zwischen  dem  letzteren  und  dem  ersteren,  also  alle 
Grade  der  Verhüllung  mit  eben  diesem  Schwarz- Weiß  f^)  in  stetiger  Folge 
untergebracht  denken.  Würden  dann  auch  auf  dieser  Geraden  die  ver- 
hüllten Farben  so  geordnet  sein,  dass  der  Ort  jeder  einzelnen  durch  das 
Verhältnis  [ry :  yg)  seiner  Abstände  von  dem  Orte  des  freien  Rot  und  dem 
Orte  des  bestimmten  Schwarz-Weiß  [g]  den  Verhüllungsgrad  der  Farbe  aus- 
drückt, so  würden  auf  jeder  zur  Seite  ws  parallelen  Geraden,  z.  B.  auf  ^(j 
Farben  von  gleich  starker  Verhüllung  zu  liegen  kommen,  in  denen  allen 
das  Verhältnis  der  bunten  Komponente  der  Farbe  zur  schwarz -weißen 
dasselbe  wäre. 

Ein  solches  Verhüllungsdreieck,  wie  ich  es  nenne,  würde  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  der,  einem  bestimmten  Farbentone  entsprechenden  ver- 
hüllten Farben  in  erschöpfender  Weise  darbieten.  Freilich  ließe  sich,  selbst 
unter  der  Voraussetzung  einer  ganz  bestimmten  Beleuchtung  und  Augen- 
stimmung, nur  ein  sehr  beschränkter  Teil  des  Dreieckes  durch  Pigmente 
darstellen,  u.  a.  schon  deshalb,  weil  weder  ein  ganz  freies  Rot  noch  ein 
ganz  reines  Weiß  oder  Schwarz  zur  Anschauung  gebracht  werden  könnte. 
Aber  es  ist  wichtig,  sich  wenigstens  teilweise  die  hier  summarisch  erörterte 


§  4  4.    Die  verhüllten  bunten  Farben.  51 

Verhüllungsreihe  irgendwie  zu  veranschaulichen,  und  ich  darf  hier  um  so 
mehr  etwas  ausführlich  sein,  als  gerade  in  betreff  der  verhüllten  Farben  die 
in  physikalischer  Hinsicht  so  ausgezeichnete  Darstellung  von  Helmholtz 
so  manches  schuldig  bleibt,  was  aus  dem  Gesichtspunkte  einer  reinlichen 
Scheidung  der  Farben  als  Sehqualitäten  von  den  optischen  Stralilungen  und 
deren  Intensitäten  und  »Qualitäten«  verlangt  werden  darf. 

Die  Verhüllung  einer  bunten  Farbe  mit  Weiß  oder  Grau  oder  Schwarz 
nannte  AuBERT  (6,  S.  108)  Nuancierung^  und  auch  ich  habe  seinerzeit  dieses 
Wort  in  diesem  Sinne  gebraucht.  Leider  hat  Aubert,  verführt  durch  Grass- 
mann's  Darstellung,  außer  den  »Farbennuancen«  auch  noch  »Farbenintensitäten« 
unterschieden,  was  sich  gar  nicht  folgerichtig  durchführen  lässt,  insbesondere 
nicht  betreffs  der  »Nuancierung«   mit  Schwarz. 

Um  einer,  durch  die  hier  von  mir  gewählte  Bezeichnungsweise  be- 
günstigten einseitigen  Auffassung  der  verhüllten  Farben  zu  begegnen,  ist 
es  zweckmäßig  zu  bedenken,  dass  der  Begriff  der  Verhüllung  sich  nicht  nur 
auf  das  bunte  Merkmal  (die  bunte  Komponente)  der  Farbe,  sondern  auch  auf 
ihr  schwarz-weißes  Merkmal  (die  schwarz-w^eiße  Komponente)  anwenden  lässt. 
Denken  wir  uns  z.  B.  eine  deutlich  ins  Graue  spielende  rote  Farbe.  Eine 
solche  lässt  sich  auch  auffassen  als  ein  bestimmtes  Grau,  welches  mehr 
oder  weniger  mit  Rot  verhüllt  ist;  sie  lässt  sich  ferner  auffassen  als  ein 
mit  einem  bestimmten  Schwarz -Rot  verhülltes  Weiß  oder  umgekehrt  als 
ein  mit  Weiß  verhülltes  Schw^arz-Rot.  Endlich  lässt  sie  sich  auffassen  als 
mit  einem  bestimmten  Weiß-Rot  verhülltes  Schwarz  oder  als  mit  Schwarz 
verhülltes  Weiß-Rot.  Macht  man  sich  dies  in  jeder  Hinsicht  klar  und  übt 
man  sich  darin,  eine  solche  wechselnde  Auffassung  auf  die  einzelnen  ver- 
hüllten Farben,  die  man  vor  sich  hat,  bezw.  auf  die  verschiedenen  Ver- 
hüllungsreihen derselben  anzuwenden,  benutzt  man  ferner  zur  Verhüllung 
einer  und  derselben  bunten  Farbe  ganz  verschiedene  Methoden,  welche  bald 
diese  bald  jene  Komponente  der  Farbe  vorwiegend  zu  variieren  gestatten,  so 
wird  man  schließlich  lernen,  bei  der  Betrachtung  der  Farben  von  der  Art  ihrer 
Herstellung  ganz  abzusehen,  sich  lediglich  an  die  gegebenen  Farben  selbst 
zu  halten  und  nicht  immer  wieder  die  jeweilige  Beschaffenheit  der  eben 
vorliegenden  Strahlungen  zur  Charakterisierung  der  Farben  mit  herbei- 
zuziehen. 

So  wenig  sich  der  Freiheitsgrad  einer  bunten  Farbe  genauer  bestimmen 
lässt,  so  wenig  lässt  sich  von  einer  uns  als  besonders  frei  erscheinenden 
Farbe  behaupten,  dass  ihre  Freiheit  eine  absolute  sei.  Nur  wenn  wir  zwei 
Farben  gleichen  Tones,  aber  zureichend  verschiedener  Freiheit  vor  uns 
haben,  können  wir  mit  Sicherheit  angeben,  welche  die  freiere  ist.  Die  durch 
annähernd  oder  vollkommen  homogene  Strahlungen  veranlassten  Farben  sind 
bei  passend  gewählter  Energie  der  Strahlung  besonders  frei,  womit  nicht 
gesagt  sein  soll,  dass  die  mittels  gewisser  farbiger  Gläser  oder  Flüssigkeiten 

4* 


52  Lehre  vom  Lichtsinn. 

hergestellten  Farbenfelder  nicht  unter  günstigen  Umständen  denselben  Grad 
von  Freiheit  erreichen  könnten.  Erleuchtet  man  aber  z.  B.  das  Gesichtsfeld 
eines  Fernrohres  in  später  zu  besprechender  Weise  mit  einem  homogenen 
Lichte  und  steigert  oder  mindert  dann  für  die  eine  Hälfte  des  zunächst 
in  schöner  freier  Farbe  erscheinenden  Feldes  die  Intensität  der  Strahlung, 
so  zeigt  sich  die  Farbe  der  einen  Hälfte  freier  als  die  der  anderen,  und 
zwar  je  nach  den  Umständen  bald  die  stärker  bald  die  schwächer  be- 
leuchtete. Hat  man  zunächst  nur  die  eine  Hälfte  des  Feldes  homogen 
erleuchtet  und  macht  dann  in  der  anderen  Hälfte  die  Gegenfarbe  sichtbar, 
so  steigert  sich  sofort  die  Freiheit  der  Farbe  der  ersten  Hälfte  in  auf- 
fallender Weise. 

Die  Verhüllung  einer  einzeln  gesehenen  bunten  Farbe  muss  schon  eine 
relativ  beträchtliche  sein,  wenn  sie  uns  sofort  als  solche  zum  ßewusstsein 
kommen  soll.  Übung  fällt  hier  sehr  ins  Gewicht;  aber  auch  der  Geübteste 
vermag  wohl  von  zwei  nebeneinander  erscheinenden  Farben  gleichen  Tones 
und  gleicher  Art  der  Verhüllung  leicht  anzugeben,  welche  von  beiden  die 
freiere  sei,  aber  bei  Farben  verschiedenen  Tones  oder  verschiedener  Art  der 
verhüllenden  schwarz- weißen  Farbe  ist  ihm  dies  oft  unmöglich.  Erscheinen 
zwei  bunte  Farben  äußerst  wenig  verschieden,  so  vermag  er  zuweilen  nicht 
zu  sagen,  ob  die  merkliche  Verschiedenheit  auf  verschieden  großer  Freiheit 
oder  auf  verschiedener  Art  der  verhüllenden  schwarz-weißen  Farbe  beruht, 
worauf  schon  Aubert  hingewiesen  hat. 

Wenn  ich  also  von  freien  Farben  spreche,  so  gilt  der  Begriff  der  Frei- 
heit nur  relativ.  Nach  meiner  Ansicht  ist  jede  uns  wirklich  vorkommende 
Farbe  mehr  oder  weniger  verhüllt,  aber  erst  wenn  die  Verhüllung  eine  ganz 
deutliche  ist,  nenne  ich  die  Farbe  eine  verhüllte. 

Verhüllung  bunter  Farben  mit  Schwarz.  Hier  ist  zuerst  an  das 
zu  erinnern,  was  in  §  9  über  die  Entstehungsbedingungen  des  Schwarz 
gesagt  worden  ist.  Wie  ein  tieferes  Schwarz  überhaupt  nur  dann  im  Seh- 
felde erscheint,  wenn  gleichzeitig  an  anderen  Stellen  des  letzteren  helle 
Farben  gesehen  werden,  so  gilt  dies  auch  von  den  ins  Schwarz  gehenden 
bunten  Farben.  Blickt  man  durch  eine  dicht  an's  Auge  gesetzte  innen 
samtschwarze  Röhre  mit  enger  unterer  Öffnung  auf  eine  schön  buntfarbige 
z.  B.  blaue  Fläche  und  schwächt  dann  die  Beleuchtung  der  letzteren  all- 
mählich ab,  so  wird  doch  die  Öffnung  nie  schwarzblau  erscheinen,  mag  man 
die  Lichtstärke  der  Fläche  auch  noch  soweit  herabsetzen.  Der  Versuch 
lässt  sich  am  bequemsten  in  einem  Zimmer  anstellen,  welches  nur  durch 
ein  großes  stellbares  Diaphragma  Licht  empfängt.  Man  thut  zur  Vermeidung 
von  Nachbildern  gut,  nicht  während  der  ganzen  Dauer  der  allmählichen 
Verfinsterung  der  Fläche  durch  die  Röhre  zu  blicken,  sondern  nur  mit 
längeren  Zwischenpausen  die  einzelnen  Stufen  der  Änderung  zu  beobachten, 
welche  die  blaue  Farbe  dabei  zeigt.    Je  strahlschwächer  die  Fläche  geworden 


§  14.    Die  verhüllten  bunten  Farben.  53 

ist,  desto  mehr  verliert  ihre  Farbe  an  Freiheit,  und  wenn  die  Bläue  schon 
fast  oder  ganz  geschwunden  ist,  erscheint  die  weißlich  oder  graulich  ge- 
wordene Öffnung  doch  noch  deutlich  heller  als  das  übrige  Sehfeld,  bis  sie 
schließlich  mit  dem  Dunkel  des  letzteren  verschwimmt,  ohne  jemals  schwarz- 
blau oder  blauschwarz  geworden  zu  sein.  Alle  anderen  buntfarbigen  Felder 
verhalten  sich  ähnlich,  und  nur  darin  sind  sie  verschieden,  dass  das  Bunte 
bei  dem  einen  früher,  bei  dem  anderen  später  bis  zur  Unkenntlichkeit  ver- 
bleicht. Gewisse  bunte  Farben  sind  bis  kurz  vor  dem  völligen  Verschwinden 
des  Feldes  noch  an  ihrem  Ton  erkennbar,  andere  werden  schon  verhältnis- 
mäßig bald  tonfrei.  Hierauf  wird  später  ausführlich  zurückzukommen  sein. 
Übrigens  vermag  keine  Beschreibung  die  eigene  Beobachtung  dieser  Er- 
scheinungen zu  ersetzen. 

So  kann  man  sich  leicht  überzeugen,  dass  man  keine,  wenn  auch 
anfangs  möglichst  freie  bunte  Farbe  durch  bloße  Abschwächung  der  sie 
erzeugenden  Strahlung  nach  dem  Schwarz  hin  abzuwandeln  vermag,  so 
lange  gleichzeitig  das  übrige  Gesichtsfeld  verfinstert  ist.  Dies  gilt  auch  von 
solchen  Farbenfeldern,  welche  durch  eine  homogene  Strahlung  erzeugt 
wurden.  In  §  5  wurde  kurz  erörtert,  wie  man  sich  jede  einzelne  Farbe 
des  Spektrums  gesondert  zur  Anschauung  bringen  kann.  Durch  Verengung 
des  Spaltes,  welcher  die  bezügliche  Strahlung  liefert,  kann  man  die  Stärke 
der  letzteren  bis  zum  Verschwinden  herabsetzen  und  sich  überzeugen, 
dass  man  auch  auf  diese  Weise  bei  Abschluss  jeden  anderweiten  Lichtes 
nie  ein  Schwarzblau,  Schwarzgrün,  Schwarzrot,  Braun  (s.  u.)  zu  sehen 
vermag,   welche  Farben   uns  im   beleuchteten  Räume   doch    oft  genug  be- 


gegnen. 


Sollen  also  schwarzverhüllte  Farben  im  Sehfelde  erscheinen,  so  darf 
dasselbe  nicht  im  übrigen  dunkel  sein.  Dementsprechend  gelingt  die  Ab- 
wandlung jeder  bunten  Farbe  nach  dem  Schwarz  hin  schon  in  folgender 
einfacher  Weise.  Man  schlägt  in  ein  steifes  weißes  Papier  ein  Loch  von 
einigen  Gentimetern  im  Durchmesser  und  hält  es  in  der  Nähe  des  Fensters 
derart  gegen  das  einfallende  Licht,  dass  es  besonders  günstig  beleuchtet 
ist.  Durch  das  Loch  blickt  man  von  oben  auf  die  darunter  befindliche, 
zunächst  ebenso  gegen  das  Fenster  orientierte  möglichst  freifarbige  Fläche, 
welche  um  eine  horizontale,  parallel  zur  Fensterebene  liegende  Achse  ge- 
dreht werden  kann,  was  man  im  Notfall  aus  freier  Hand  thut.  In  dem 
Maße,  als  dabei  die  Fläche  vom  Fenster  ab-  und  dem  Zimmer  zugewendet 
wird,  nimmt  die  Stärke  der  von  ihr  zurückgeworfenen  Strahlung  ab,  wobei 
man  das  Loch  immer  schwärzlicher  werden  sieht.  Warum  bei  derartigen 
Versuchen  die  benutzte  Pigmentfläche  ganz  matt  und  durchaus  eben,  und 
das  Auge  für  die  Entfernung  des  Loches  und  nicht  der  Pigmentfläche 
akkommodiert  sein  soll,  wurde  in  §  5  erörtert.  Um  die  Verdunklung  der- 
selben  möglichst   weit  treiben   zu   können,   bleibt    man  etwas   ferner  vom 


54 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Fig.  5.- 


Fenster  und  hält  das  von  den  Seiten  kommende  Licht  durch  kleine  schwarze 
Schirme  von  der  Pigmentfläche  ab. 

Sehr  bequem  ist  für  derartige  Versuche  die  in  Fig.  5  im  Vertikal  durch- 
schnitt skizzierte  Vorrichtung,  d.  i.  ein  Kasten,  welcher  nach  dem  Fenster  hin 
offen  ist,  so  dass  das  Himmelslicht  auf  eine  in  ihm  befindliche,  um  eine  hori- 
zontale Achse  drehbare  Glastafel  fallen  kann,  welche  mit  dem  farbigen  z.  B. 

orangefarbenen  Papier  überzogen  ist.  Auf 
der  oberen  Wand  des  Kastens  liegt  ein 
steifes,  undurchsichtiges,  oben  mit  mattem 
weißen  Papier  überzogenes  Blatt  mit  einem 
runden  Loch,  auf  welches,  wenn  nötig, 
eine  Dunkelröhre  aufgesetzt  werden  kann, 
wie  dies  Fig.  5  zeigt.  Ist  die  Röhre  ent- 
fernt und  liegt  die  Glasplatte  so,  wie  in 
der  Figur,  so  sieht  man  von  oben  her  ein 
kreisrundes  orangefarbenes  Feld  in  der 
Ebene  des  weißen  Papieres.  Dreht  man 
jetzt  die  Glasplatte  zurück,  so  verhüllt  sich 
das  Orange  zunehmend  mit  Schwarz,  wird 
zunächst  hellbraun,  dann  dunkelbraun  und 
schließlich  bräunlichschwarz.  Setzt  man 
dann,    ohne  im  übrigen 


irgend 


etwas  zu 


einem  weißen 


Hintergrunde 


ändern,  die  Dunkelröhre  auf,  so  sieht  man 
durch  dieselbe  sofort  wieder  ein  leuchtendes 
Orange,  welches  sich  ebenso  schnell  aber- 
mals in  Braunschwarz  verwandelt,  wenn 
die  Dunkelröhre  wieder  entfernt  wird:  ein 
selbst  den  Kenner  immer  von  neuem  über- 
raschendes Schauspiel. 

Sehr  leicht  lassen  sich  bunte  Farben 
mit  Hilfe   des   Farbenkreisels  beliebig  mit 
Schwarz  verhüllen,  wenn  man  den  Kreisel 
in    einem    gut    beleuchteten    Zimmer    vor 
aufstellt  und   einen  immer  größeren  Teil  einer 


auf  den  Kreisel  gebrachten  bunten  Scheibe  mit  Sektoren  eines  tiefschwarzen 
Papieres  verdeckt.  Die  so  erzielten  Übergangsfarben  zwischen  bunter  Farbe 
und  Schwarz  sind  um  so  schöner,  je  freier  bei  ruhender  Scheibe  die  bunte 
Farbe  des  einen  und  je  dunkler  die  schw^arze  Farbe  des  anderen  Scheiben- 
sektors erscheint.  Die  Fülle  überraschend  schöner  dunkler  Farben,  die  man 
sich  auf  diese  Weise  zur  Anschauung  bringen  kann,  ist  unerschöpflich. 

Auch  die  durch  spektrale  homogene  Strahlungen  erzeugten  Farbenfelder 
lassen  sich  schwärzen,  wenn  ihre  unmittelbare  Umgebung  gut  beleuchtet  ist 


§  14.    Die  verhüllten  bunten  Farben.  55 

und  z.  B.  weiß  erscheint.  Man  erreicht  das  u.  a.  leicht  mit  Hilfe  eines  zu 
diesem  Zwecke  eingerichteten  LuMMEn'schen  Würfels.  Ein  kleines  buntes 
Feld  erscheint  dabei  umgeben  von  einem  breiten  w^eißen  Ringe;  schwächt 
man  die  homogene  Strahlung,  welche  das  kleine  Feld  erleuchtet,  mehr  und 
mehr  ab,  während  das  Weiß  des  umgebenden  Ringes  unverändert  bleibt, 
so  wird  ein  Blau  des  kleinen  Feldes  schwarzblau,  ein  Grün  schwarzgrün 
u.  s.  w.  Man  erhält  auf  diese  Weise  schwarzverhüllte  Spektralfarben,  die 
man,  wie  oben  erörtert  wurde,  trotz  aller  Abschwächung  der  bezüglichen 
Strahlung  nie  erzielen  kann,  solange  die  ganze  Umgebung  des  bunten  Feldes 
verfinstert  ist. 

Auch  ohne  jede  Änderung  der  Strahlung  lässt  sich  ein  buntes 
Feld,  lediglich  durch  Beleuchtung  seiner  Umgebung,  mit  Schwarz  verhüllen. 
Man  kann  diese  Verhüllung  in  jedem  beliebigen  Grade  herbeiführen,  wenn 
man  z.  B.  zwei  durch  eine  Thüre  verbundene  Zimmer  zur  Verfügung  hat, 
deren  eines,  das  Beobachtungszimmer,  weiße  W^ände  hat  und  sich  beliebig 
verfinstern  lässt.  Macht  man  in  die  ebenfalls  weißgestrichene  oder  mit 
weißem  Papier  beklebte  Thüre  ein  Loch,  hinter  welchem  sich  ein  farbiges 
Glas  befindet,  und  beleuchtet  das  Loch  mittels  eines  im  anderen  Zimmer 
stehenden  weißen  Schirmes  nur  soweit,  dass  es  eben  anfängt  in  einer  schön 
freien  Farbe  zu  erscheinen,  so  kann  man  durch  stufenweise  wachsende 
Erleuchtung  des  Beobachtungszimmers  diese  Farbe  entsprechend  stufenweise 
schwärzen  und  schließlich  bei  voller  Beleuchtung  des  Zimmers  in  fast  reines 
Schwarz  verwandeln,  und  zwar  dies  alles  so  schnell,  dass  eine  irgend  er- 
hebliche Successivanpassung  des  Auges  an  die  jeweilige  Gesamtbeleuchtung 
sich  nicht  entwickeln  kann.  Im  folgenden  soll  diese  Versuchsmethode  als 
die  Zweizimmermethode  bezeichnet  werden. 

Erleuchtet  man  die  eine  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  eines  kleinen  Fern- 
rohres mit  einem  homogenen  Lichte  in  passender  mäßiger  Stärke,  und  sieht 
man  das  Halbfeld  z.  B.  als  ein  freies  Orange,  so  verwandelt  sich  dasselbe 
sofort  in  Braun  d.  i.  ein  mit  Schwarz  verhülltes  Orange,  wenn  man  auf  der 
anderen  Hälfte  ein  helles  Weiß  erscheinen  lässt. 

Jede  deutlich  gelbhaltige  Farbe,  sei  sie  durch  eine  homogene  oder 
zusammengesetzte  Strahlung  bewirkt,  lässt  sich  durch  Schwärzung  in  ein 
Braun  verwandeln.  Je  näher  dabei  die  schwarz -weiße  Komponente  der 
Farbe  dem  absoluten  Schwarz  liegt,  desto  schöner  ist  das  Braun.  Ein 
orangefarbenes  Feld  wird  durch  entsprechende  Verhüllung  mit  Schwarz 
kastanienbraun,  noch  rötlichere  Farbentöne  (Feuerrot)  geben  Rotbraun, 
grünlichgelbe  Farbentöne  Olivenbraun,  d.  i.  ein  grünliches  Braun. 

In  schlagender  Weise  zeigen  die  letzterwähnten  Versuche,  wie  unzu- 
reichend es  ist,  die  schwarzverhüllten  Farben ,  wie  z.B.  das  Braun,  als 
> lichtschwache  Farben«  zu  bezeichnen.  Unter  solchen  Farben  verstand 
Helmholtz  die  durch  Strahlungen  von  geringer  Energie  erzeugten.     Ein  in 


B6 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


oben  beschriebener  Weise  durch  die  Dunkelrühre  gesehenes  gelbes  Pigment- 
feld kann  durch  bloße  Abschwächung  der  Beleuchtung  nie  in  Braun  ver- 
wandelt werden;  es  wird  dabei  vielmehr  immer  weißlicher,  verliert  weiterhin 
-seine  Gilbe  vollständig  und  unterscheidet  sich  dann  von  seiner  Umgebung 
nur  noch  durch  seine  etwas  größere  Weißlichkeit.  Das  für  das  Braun 
charakteristische  Merkmal,  nämlich  die  Schwärze,  kommt  auf  diese  Weise 
nie  neben  dem  gelben  Merkmal  (dem  Farbenton)  deutlich  zum  Vorschein. 
Hierauf  wird  an  anderer  Stelle  zurückzukommen  sein. 

Gewöhnlich  werden  nur  solche  bunte  Farben  als  schwärzlich  bezeichnet, 
welche  schon  sehr  stark  mit  Schwarz  verhüllt  sind,  deren  Ähnlichkeit  mit 
dem  reinen  Schwarz  daher  sofort  auffällt:  die  weniger  mit  Schwarz  oder 
Schwarzgrau  verhüllten  pflegt  man  dunkelfarbig  zu  nennen.  Dass  die 
Sprache  für  die  braunen  Farben  ein  uraltes  Wort  besitzt,  steht  im  Einklang 
mit  der  großen  Häufigkeit  der  braunen  Farben  in  der  Natur. 

Es  sei  hier  wieder  daran  erinnert,  dass  man  bei  den  im  obigen  und  im 
folgenden  beschriebenen  Versuchen  soweit  möglich  alle  diejenigen  Vorsichts- 
maßregeln treffen  soll,  welche  in  §  5  erwähnt  und  insbesondere  als  Mittel  zur 
AusschHeßung  der  Gedächtnisfarben  bezeichnet  worden  sind.  Obgleich  diese 
Versuche  den  mitgeteilten  Erfolg  auch  dann  haben,  wenn  man  jene  Maßregeln 
vernachlässigt,  so  ist  derselbe  doch  bei  Einhaltung  derselben  zuweilen  noch 
schlagender  und  überdies  besser  vor  allerlei  Einwendungen  geschützt,  welchen 
eine  von  der  gewohnten  abweichenden  Auffassung  ausgesetzt  zu  sein  pflegt. 

Verhüllung  bunter  Farben  mit  Weiß.  Zur  Herstellung  verschie- 
dener Stufen   der  Farbenreihe,  welche   von    einer  freien   bunten  Farbe  zu 

einem  ton  freien  Weiß  führt,  eignet 
Fig.  6.  sich  insbesondere  die  Methode  der 

Zuspiegelung.  Die  horizontale  Ober- 
fläche des  in  Fig.  6  skizzierten 
Apparates  sei  mit  schwarzem  Samt 
überzogen.  Auf  die  eine  Seite 
der  vertikalen,  auf  der  Mittellinie 
dieser  Fläche  stehenden  unbelegten 
Spiegelglasplatte  legt  man  in  die 
Nähe  derselben  das  mit  buntem 
Papier  überkleidete  2  cm  breite  und 
4  cm  lange  Täfelchen,  dessen  Farbe 
mit  Weiß  verhüllt  werden  soll,  und 
zwar  mit  der  Langseite  paraflel  zur  Glasplatte  in  \  cm  Abstand  von  der- 
selben; auf  die  andere  Seite  ein  mit  grauem  Papier  überkleidetes  Täfelchen 
von  ganz  gleicher  Form  und  zwar  so,  dass  sein  Spiegelbild  sich  für  den 
auf  derselben  Seite  befindlichen  Beobachter  mit  dem  direkt  gesehenen  bunten 
Täfelchen   möglichst  genau   deckt.     Die  Farbe  des  letzteren  erscheint  jetzt 


§  15.    Die  Helligkeit  der  bunten  Farben.  57 

weißlicher,  und  um  sie  mit  der  zuvor  gesehenen  vergleichen  zu  künnen, 
legt  man  ein  zweites  ganz  gleiches  buntes  Täfelchen  rechts  oder  links  neben 
das  erste.  Dies  ist  besser,  als  wenn  man  das  gespiegelte  graue  Täfelchen 
so  legt,  dass  sein  Spiegelbild  das  bunte  nur  teilweise  deckt.  Schon  aus 
größerer  Entfernung  sieht  man  die  Farbe  des  einen  bunten  Täfelchens  etwas 
weißlich,  und  je  mehr  man  sich  dem  Apparat  nähert  und  je  kleiner  also 
der  Winkel  zwischen  der  Blicklinie  und  der  Glasplatte  wird,  desto  mehr 
verhüllt  sich  die  Farbe  mit  Weiß,  und  noch  stärker  wird  diese  Verhüllung, 
wenn  man  das  graue  Täfelchen  mit  einem  weißen  vertauscht. 

Andere  Methoden  zur  Erzielung  weißverhüllter  Farben  werden  später 
gelegentlich  zur  Sprache  kommen.  Dahin  gehört  das  Weißlichwerden  ge- 
wisser bunter  Farben  bei  starken  Steigerungen  der  Energie  der  korrelativen 
Strahlung,  ferner  das  Weißlichwerden  einer  Spektralfarbe,  wenn  der  bezüg- 
lichen Strahlung  eine  gegenfarbig  auf  die  Netzhaut  wirkende  zugemischt  wird, 
die  Entstehung  weißverhüllter  Farben  infolge  gewisser  Daueranpassungen 
u.  s.  w.  Hier  kam  es  nur  darauf  an,  den  Leser  auf  eine  möglichst  einfache 
Methode  aufmerksam  zu  machen,  die  ihm  ermöglicht,  sich  eine  Fülle  weiß- 
verhüllter Farben  verschiedenen  Tones  mühelos  zur  Anschauung  zu  bringen. 

Die  merklich  weißverhüllten  Farben  werden  häufig  als  helle,  z.  B.  als 
hellblau,  hellgrün  bezeichnet.  Bläulichrote  stark  mit  Weiß  verhüllte  Farben 
werden  rosa  genannt. 

Verhüllung  bunter  Farben  mit  Grau.  Zur  Veranschaulichung 
bunter,  mit  einem  beliebigen  Grau  verhüllter  Farben  eignet  sich  der  Farben- 
kreisel (vgl.  §  16).  Die  geschlitzte  Scheibe  eines  bunten  Papieres  von 
möglichst  freier  Farbe  wird  mit  einer  schwarzen  und  einer  weißen  Scheibe 
kombiniert.  Da  den  freiliegenden  Sektoren  dieser  drei  ineinandergesteckten 
Scheiben  jedes  beliebige  Verhältnis  gegeben  werden  kann,  so  lässt  sich  auf 
diese  Weise  eine  unerschöpfliche  Menge  von  Farben  vorführen,  welche, in 
verschiedenem  Grade  mit  diesem  oder  jenem  Grau  verhüllt  sind. 

Absichtlich  habe  ich  in  diesem  Paragraphen  noch  keine  Rücksicht  darauf 
genommen,  dass  bei  den  beschriebenen  Verhüllungsmethoden  einer  bunten  Farbe 
in  gewissen  Fällen  eine  unbeabsichtigte  Änderung  des  Tones  derselben  eintreten 
kann;  hiervon  wird  an  einer  anderen  Stelle  zu  sprechen  sein. 

§  15.  Die  Helligkeit  der  bunten  P'arben.  In  der  Reihe  der 
tonfreien  Farben  bestimmt  sich  die  Helligkeit  bezw.  Dunkelheit  der  Farbe 
lediglich  durch  das  Verhältnis  zwischen  ihrer  Weiße  und  ihrer  Schwärze. 
Nicht  so  einfach  verhält  es  sich  bei  den  bunten  Farben,  deren  Helligkeit 
oder  Dunkelheit  nicht  nur  durch  die  Art  ihrer  schwarz-weißen  Komponente, 
sondern  auch  durch  die  bunte  Komponente  mitbestimmt  ist. 

Sehr  gewöhnlich  werden  bunte  Farben,  welche  an  Schwarz  erinnern, 
dunkel  genannt,,  man   spricht   von   dunkelrot,   dunkelblau  u.  s.  w.,   wo   es 


58  Lehre  vom  Lichtsinn. 

sich  um  ein  mit  Schwarz  oder  Schwarzgrau  verhülltes  Rot  oder  Blau 
handelt.  Von  zwei  freien  Farben  gleichen  Tones  nennt  man  die  eine 
heller,  die  andere  minderhell  oder  dunkel,  ohne  sich  genauere  Rechenschaft 
davon  zu  geben,  wodurch  sich  eigentlich  die  eine  Farbe  von  der  anderen 
unterscheidet.  Thatsächlich  beruht  jede  Helligkeitsverschiedenheit  zweier 
Farben  gleichen  Tones  auf  einer  qualitativen  Verschiedenheit  derselben  in- 
sofern, als  entweder  die  eine  Farbe  freier  ist  als  die  andere,  oder  als  bei 
gleicher  Freiheit  die  eine  mehr  an  Schwarz  bezw.  Weiß  erinnert  als  die 
andere,  oder  dass  beide  Verschiedenheiten  zugleich  gegeben  sind. 

Wer  die  im  vorhergehenden  Paragraphen  besprochenen  Methoden  zur 
Verhüllung  der  bunten  Farben  eingehender  zur  Anwendung  bringt,  kommt 
zur  Erkenntnis,  dass  eine  bunte  Farbe  ohne  Änderung  ihres  Tones  in  sehr 
verschiedener  W^eise  heller  werden  kann;  ein  Schwarzrot  z.  B.  dadurch, 
dass  das  verhüllende  Schwarz  immer  mehr  zurück-,  und  das  Bunte  der 
Farbe  entsprechend  hervortritt,  oder  dadurch,  dass  an  die  Stelle  des  ver- 
hüllenden Schwarz  ein  Schwarzgrau,  Grau  oder  Weißgrau  tritt,  ohne  dass 
dabei  die  Freiheit  des  Rot  sich  zu  ändern  braucht. 

Da  mit  wachsender  Stärke  der  veranlassenden  Strahlung  unter  sonst 
gleichbleibenden  Umständen  die  Farbe  heller  wird,  so  vermengte  sich  un- 
absichtlich die  Vorstellung  einer  zunehmenden  Strahlungsintensität  mit  der 
Vorstellung  wachsender  Farbenhelligkeit^  und  da  die  erstere  eine  nur  quan- 
titative Änderung  ist,  gewöhnte  man  sich,  auch  die  letztere  als  eine  solche 
zu  nehmen,  und  versäumte  die  Untersuchung  der  mit  jeder  Helligkeitsänderung 
gegebenen  qualitativen  Änderung  der  Farbe. 

Nehmen  wir  ein  mit  einem  Grau  von  beiläufig  mittler  Helligkeit  ver- 
hülltes Blau  an  und  denken  uns  sodann  bei  ganz  unveränderter  Deutlich- 
keit der  Bläue  und  also  gleichbleibendem  Verhüllungsgrade  an  die  Stelle  der 
mittelgrauen  Komponente  eine  weißgraue  gesetzt,  so  wird  die  Farbe  jetzt 
heller  sein;  dagegen  würde  sie  dunkler  sein,  wenn  ihre  mittelgraue  Kom- 
ponente durch  eine  schwarzgraue  ersetzt  worden  wäre.  Wie  aber  wird  sich 
die  Helligkeit  der  Farbe  verhalten,  wenn  wir  uns  bei"  unveränderter  grauer 
Komponente  und  gleichem  Verhüllungsgrade  an  die  Stelle  der  blauen  Kom- 
ponente eine  andere  bunte,  z.  B.  eine  gelbe,  gesetzt  denken?  Würde  bei 
solchem  Tausch  die  Helligkeit  der  Farbe  unverändert  bleiben? 

Dies  würde  nur  dann  der  Fall  sein  müssen,  wenn  der  Farbenton  als 
solcher  keinen  Einfluss  auf  die  Helligkeit  der  Farbe  hätte,  und  also  die 
Helligkeit  einer  bunten  Farbe  lediglich  von  dem  Verhüllungsgrade  und  der 
Art  der  schwarz-weißen  Komponente  der  Farbe  abhängig  wäre. 

Hiergegen  aber  spricht  schon  die  Erfahrung,  dass  ein  freies  oder  wie 
man  zu  sagen  pflegt,  »schönes,  sattes«  Blau  stets  dunkler  ist  als  ein  freies 
Gelb.  Man  suche  sich  z.  B.  aus  seiner  Sammlung  bunter  Papiere  alle  bei- 
läufig urblauen  und  urgelben  und  aus  diesen  wieder  das  »schönste«   blaue 


§  15.    Die  Helligkeit  der  bunten  Farben.  59 

und  gelbe  heraus,  überziehe  damit  je  ein  kleines  Glastäfelchen  und  lege 
dieselben  nebeneinander,  so  wird  das  blaue  dunkler  erscheinen  als  das 
gelbe.  Findet  man  zu  einem  möglichst  freien  Urblau  ein  Urgelb,  von  dem 
man  nicht  zu  sagen  weiß,  ob  es  heller  oder  dunkler  ist  als  das  Blau,  so 
wird  ein  Farbentüchtiger  auch  bei  nur  einiger  Übung  in  der  Farbenanalyse 
bemerken,  dass  das  Gelb  minder  frei  ist,  als  das  Blau,  dass  es  mehr  oder 
weniger  graulich  oder  schwärzlich  ist.  Hat  er  dagegen  neben  einem  mög- 
lichst freien  Gelb  ein  Blau  vor  sich,  das  ihm  nicht  entschieden  dunkler 
erscheint  als  das  Gelb,  so  wird  er  sehen,  dass  es  weißlich  ist.  Oder  man 
stelle  auf  ein  niedriges  Tischchen  vor  dem  Fenster  ein  Stativ  mit  horizon- 
talem Arm,  welcher  ein  steifes  graues  Blatt  (etwa  20X20  cm)  so  hält, 
dass  es  horizontal  und  etwa  50  cm  über  dem  Tischchen  liegt.  In  der 
Mitte  dieses  Blattes  befinde  sich  ein  Loch  von  2 — 3  cm  Durchmesser. 
Ferner  seien  zwischen  dem  Loche  und  der  Tischplatte  zwei  kleine,  um  je 
eine  horizontal  und  parallel  zur  Fensterfläche  laufende  Achse  drehbare 
Glastafeln,  deren  eine  mit  dem  blauen,  die  andere  mit  dem  gelben  Papier 
überzogen  ist,  so  übereinander  angebracht,  dass  man  von  oben  herabschauend 
das  Loch  als  ein  halb  blaues  und  halb  gelbes  Farbenfeld  in  der  Fläche  des 
grauen  Papieres  sieht  (vgl.  §  5).  Liegt  die  eine  Glasplatte  so  weit  über 
der  anderen,  dass  sie  letztere  nicht  beschattet,  so  lässt  sich  die  Stärke  des 
von  jeder  Platte  ins  Auge  geschickten  Lichtes  durch  Drehung  derselben  um 
ihre  horizontale  Achse  innerhalb  weiter  Grenzen  variieren.  Sind  zunächst 
beide  Platten  horizontal,  so  erscheint  die  blaue  Hälfte  des  Farbenfeldes 
dunkler  als  die  gelbe.  Dreht  man  jetzt  die  gelb  überzogene  Platte  vom 
Lichte  ab,  so  wird  die  gelbe  Hälfte  des  Farbenfeldes  dunkler  und  man 
kann  sie  soweit  dunkler  machen,  dass  man  nicht  mehr  zu  sagen  weiß, 
welche  Hälfte  des  Farbenfeldes  die  dunklere  ist:  dann  wird  man  aber  auch 
zugleich  sehen,  dass  das  Gelb  der  einen  Hälfte  viel  weniger  frei  erscheint 
als  das  Blau  der  anderen.  Es  lässt  sich  übrigens  so  einrichten,  dass  der 
Beobachter  gar  nicht  weiß,  was  unter  dem  Loche  vorgeht.  So  oft  die 
Platte  gedreht  wird,  soll  man  wegblicken  und  überhaupt  das  Loch  nie 
irgend  länger  fixieren. 

Man  überbrücke  das  horizontal  liegende  Loch  eines  am  Fenster 
stehenden  Dunkelkastens  (vgl;  §  16)  mit  zwei  1,5  cm  breiten  Glasstreifen  in 
solchem  Abstände  voneinander ,  dass  bei  Betrachtung  derselben  durch  das 
Polariphotometer  (s.  §  1 6)  das  ordinäre  Bild  des  einen  Streifens  dicht  neben 
dem  extraordinären  des  anderen  erscheint.  Der  mittlere  Teil  des  einen 
Glasstreifens  sei  mit  einem  ebenfalls  1 ,5  cm  breiten  und  3  cm  langen  Stück 
des  blauen,  der  mittlere  Teil  des  anderen  mit  einem  ebenso  großen  Stück 
des  gelben  Papiers  beklebt.  Dann  sieht  man  durch  das  Polariphotometer 
ein  quadratisches,  halb  blaues,  halb  gelbes  Farbenfeld.  Ist  der  Nicol  auf 
45°  eingestellt  und  also  das  Verhältnis  der  Lichtstärken  der  beiden  Pigment- 


ßO  Lehre  vom  Lichtsinn. 

flächen  dasselbe,  wie  bei  Betrachtung  mit  freiem  Auge,  so  erscheint  die 
blaue  Hälfte  des  Farbenfeldes  dunkler  als  die  gelbe;  durch  Drehung  des 
Nicol  lässt  sich  dann  die  Lichtstärke  des  blauen  Bildes  steigern,  die  des 
gelben  schwächen.  Sobald  man  unsicher  wird,  welche  der  beiden  Farben 
die  hellere  ist,  wird  man  zugleich  bemerken,  dass  das  Blau  jetzt  entweder 
freier  erscheint,  als  das  Gelb,  oder  wenn  dies  nicht  auffallend  wäre,  dass 
es  weißlich  erscheint  im  Vergleich  zum  Gelb,  welches  daneben  ins  Grau 
spielt.  Auch  hier  soll  man  jede  längere  Betrachtung  des  Farbenfeldes  ver- 
meiden und  nur  nach  größeren  Pausen  schnell  die  Farben  vergleichen.  Bei 
diesem  Versuche  liegen  die  Farbenfelder  in  dunkler,  bei  dem  vorher- 
gehenden lagen  sie  in  heller  Umgebung. 

Schon  aus  den  soeben  besprochenen  Thatsachen  scheint  mir  hervor- 
zugehen, dass  zwei  Farben  verschiedenen  Tones,  auch  wenn  sie  ganz  gleich 
frei  wären,  nicht  notwendig  auch  gleiche  Helligkeit  zeigen  müssten.  Ich 
meine,  dass  es  sich  hier  um  etwas  handelt,  was  im  Wesen  der  verschie- 
denen Farbentöne  und  insbesondere  der  vier  bunten  Urfarben  begründet  und 
nicht  auf  irgendwelche  nur  accidentelle  Umstände  zurückzuführen  ist.  Wie 
das  Weiß  an  sich  eine  helle,  das  Schwarz  eine  dunkle  Sehqualität  ist,  so 
ist,  meine  ich,  auch  das  Gelb  an  sich  eine  helle,  das  Blau  an  sich  eine 
dunkle  Sehqualität.  Auch  ein  schönes,  d.  h.  möglichst  freies  Urrot  finde 
ich  heller,  als  das  freieste  Urgrün,  welches  ich  mir  herzustellen  vermag; 
doch  ist  mir  der  Helligkeitsunterschied  hier  viel  weniger  auffallend,  als  bei 
freiem  Gelb  und  Blau. 

Auf  Grund  des  Gesagten  und  anderer,  später  zu  besprechender  That- 
sachen und  Erwägungen  finde  ich  w^ahrscheinlich ,  dass  wir  drei  qualitativ 
verschiedene  Hell  zu  unterscheiden  haben,  das  Weiß,  das  Gelb  und  das 
Rot,  und  ebenso  drei  Dunkel  verschiedener  Art,  das  Schwarz,  das  Blau 
und  das  Grün.  Dementsprechend  habe  ich  seinerzeit  dem  Gelb  und  Rot 
ein  Eigenhell,  dem  Blau  und  Grün  ein  Eigendunkel  zugeschrieben. 
Helligkeit  ist  hiernach  eine  den  drei  Urqualitäten  des  Gesichtssinnes  Weiß, 
Gelb  und  Rot,  Dunkelheit  eine  den  drei  Urqualitäten  Schwarz,  Blau  und 
Grün  inhärente  Eigenschaft.  Könnte  aus  irgendeiner  gegebenen  blauen 
Farbe  ohne  jede  anderweite  Änderung  nur  die  Bläue  schwinden,  so  würde 
die  Farbe  heller  werden,  und  könnte  aus  einer  gegebenen  gelben  Farbe  nur 
die  Gilbe  schwinden,  so  würde  sie  dunkler  werden,  und  beidenfalls  würde 
nur  der  schwarz-weiße  Bestandteil  übrig  bleiben,  der  jeder  uns  wirklich 
vorkommenden  und  auch  der  relativ  freiesten  bunten  Farbe  noch  eigen  ist. 
Einer  absolut  frei  gedachten  bunten  Urfarbe  dürften  wir  ebensowenig  je 
nach  den  Umständen  verschiedene  Grade  der  Dunkelheit  oder  Helligkeit  zu- 
schreiben, wie  dem  absolut  frei  gedachten  Schwarz  oder  Weiß.  Ein  zu- 
nächst absolut  freies  Schwarz  lässt  sich  mehr  oder  weniger  mit  Weiß 
verhüllt  und  also  ins  Grau  spielend  denken,  aber  das  Schwarz  an  und  für 


§  15.    Die  Helligkeit  der  bunten  Farben.  61 

sich  könnte  nicht  das  eine  Mal  heller,  das  andere  Mal  dunkler  sein,  und 
dasselbe  gilt  vom  absolut  frei  gedachten  Urblau  oder  Urgrün.  Ein  zunächst 
absolut  frei  gedachtes  Weiß  lässt  sich  in  verschiedenem  Maße  mit  Schwarz 
verhüllt  denken,  aber  an  und  für  sich  könnte  es  nicht  bald  heller,  bald 
dunkler  sein,  und  dasselbe  gilt  vom  absolut  frei  gedachten  Urgelb  und 
Urrot. 

Die  Helligkeit  oder  Dunkelheit  einer  bunten  Farbe  ist  nach  dieser 
Auffassung  das  Ergebnis  des  Eigenhell  und  Eigendunkel  der  einzelnen  Ur- 
farben,  welche  als  die  Urkomponenten  jener  Farbe  gemäß  dem  verschiedenen 
Verhältnis  ihrer  Deutlichkeit  die  Qualität  der  Farbe  bestimmen.  Jeder  uns 
wirklich  vorkommenden  Farbe  ist  ein  bestimmtes  Hell-Dunkel  eigen,  und  je 
nachdem  uns  das  Hell  oder  das  Dunkel  derselben  deutlicher  ist,  nennen  wir 
sie  eine  helle  oder  eine  dunkle.  Für  die  schwarz-weißen  Farben  ist  dies  von 
vornherein  klar:  je  nachdem  uns  ihre  schwarze  oder  ihre  weiße  Komponente 
deutlicher  ist,  bezeichnen  wur  die  Farbe  als  eine  helle  oder  eine  dunkle. 

Eine  bunte  Farbe  lässt  sich  im  allgemeinen  als  aus  vier  Urkomponenten 
bestehend  auffassen,  zwei  bunten  und  den  beiden  tonfreien  (Weiß  und 
Schwarz);  nur  den  Farben  vom  Tone  einer  Urfarbe  ist  nur  eine  bunte 
Urkomponente  eigen.  In  jeder  rot-gelben  Farbe,  z.  B.  Orange,  hätten  wir 
somit  drei  helle  Urkomponenten  (Rot,  Gelb,  Weiß)  und  eine  dunkle  (Schwarz) 
zu  unterscheiden,  in  jeder  grün-blauen  aber  drei  dunkle  (Grün,  Blau,  Schwarz) 
und  eine  helle  (Weiß).  Die  rot-blauen  und  grün-gelben  Farben  aber  würden 
zwei  helle  und  zwei  dunkle  Urkomponenten  haben. 

Aus  dem  Gesagten  ergeben  sich  u.  a.  folgende  Regeln: 

Wenn  zwei  Farben  gleichen  Tones  und  gleicher  Freiheit  verschieden 
hell  sind,  so  ist  dies  in  der  Verschiedenheit  ihrer  schwarz-weißen  Komponente 
begründet. 

Zwei  Farben  von  verschiedenem  Ton  können  trotz  gleicher  Freiheit 
und  gleicher  Art  ihrer  schwarz -weißen  Komponente  verschieden  hell  sein. 

Bei  gleicher  Art  der  schwarz-weißen  Komponente  ist  eine  gelbe,  rote 
oder  gelb-rote  Farbe  um  so  heller,  eine  blaue,  grüne  oder  blau-grüne  um 
so  dunkler,  je  deutlicher  das  Bunte  der  Farbe  im  Vergleich  zur  schwarz- 
weißen  Komponente  ist. 

In  der  kurzen  Skizze  einer  Theorie  des  Lichtsinnes,  welche  ich  im 
Jahre  1874  veröffentlicht  habe,  war  angenommen,  dass  bunte  Farben, 
gleichviel  welchen  Tones,  bei  ganz  gleichem  Grade  der  Verhüllung  und 
ganz  gleicher  Art  ihrer  schwarz-weißen  Komponente  gleichhell  erscheinen 
würden.  Ich  bin  jedoch  bald  von  dieser  Ansicht  zurückgekommen,  wie  ich 
auch  im  Jahre  1886  gelegentlich  (14,  S.  18  und  19)  bereits  mitgeteilt  habe. 
Franz  Hillebrand,  welcher  nachher  mit  mir  über  die  vorliegende  Frage 
arbeitete,  hat  das,  was  ich  hier  das  Eigenhell  oder  Eigendunkel  der  Farben- 
töne genannt  habe,  als  specifische  Helligkeit  derselben  bezeichnet  (15). 


62  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Irrtümlich  ist  die  Angabe  von  Helmholtz  (2,  S.  378),  nach  welcher  ich 
»die  Empfindung  der  Helligkeit  mit  der  Weißempfindung  identifiziert«  und  be- 
hauptet haben  soll,  >mit  der  reinen  Blau-  oder  Gelbempfindung  sei  keine  Em- 
pfindung von  Helligkeit  verbunden«.  Diese  Angabe  ist  mir  um  so  unverständ- 
licher, als  ich  in  der  erwähnten  Skizze  über  den  Einfluss,  welchen  die  bunte 
Komponente  einer  Farbe  auf  deren  Helligkeit  hat,  in  ganz  besonders  ausführ- 
licher und  ein  derartiges  Missverständnis  völlig  ausschließender  Weise  ge- 
sprochen habe. 

III.  Absclmitt. 

Über  die  Beziehungen  zwischen 

den  Unterschieden  der  Lichtstärken  der  wirklichen  Dinge  und  den 

tonfreien  Helligkeitsunterschieden  der  Sehdinge. 

§  16.  Messung  der  Lichtremission  tonfreier  Papiere.  Im 
vorigen  Abschnitte  haben  uns  nur  die  Farben  oder  Sehqualitäten  als  solche 
ohne  Rücksicht  auf  die  äußeren  oder  inneren  Ursachen  ihres  Eintretens 
beschäftigt  und  wir  nahmen  die  optischen  Strahlungen  nur  zu  Hilfe,  um 
uns  das  Objekt  unserer  Untersuchung,  nämlich  die  einzelnen  Farben  oder 
Farbenreihen  zur  Anschauung  zu  bringen.  Nunmehr  kommen  wir  zur 
Erörterung  der  Regeln  oder  Gesetze,  nach  welchen  die  Farben  von  den 
das  Auge  treffenden  Strahlungen  abhängen,  und  zwar  sollen  zunächst  in 
diesem  Abschnitte  nur  die  schwarz-weißen  Farben  in  ihrer  Abhängigkeit 
von  der  Stärke  der  bezüglichen  Strahlungen  in  Betracht  gezogen  werden. 
Für  einen  Teil  der  hier  zu  besprechenden  Thatsachen  ist  die  Feststellung 
des  Intensitätsverhältnisses  der  Strahlungen  notwendig,  welche  von  den 
beobachteten  Flächen  ins  Auge  geschickt  werden,  daher  zunächst  einige 
dazu  dienende  Methoden  zu  erörtern  sind. 

Von  verhältnismäßig  seltenen  Ausnahmen  abgesehen  geben  die  Außen- 
dinge unserem  Auge  nur  zurückgeworfenes  Licht,  welches  sie  von  der  be- 
leuchteten Himmelsfläche  oder  von  den  beleuchteten  Zimmerwänden  u.  s.  w. 
oder  endUch  unmittelbar  von  der  Sonne  oder  künstlichen  Lichtquellen  em- 
pfangen haben  und  zu  einem  mehr  oder  w^eniger  großen  Teile  regelmäßig 
oder  unregelmäßig  reflektieren.  Bei  unveränderter  Lage  unseres  Auges 
und  des  beleuchteten  Außendinges  einerseits,  unveränderter  Form,  Lage 
und  Art  der  Beleuchtungsquellen  andererseits  ist  die  Lichtmenge,  welche 
ein  Flächenelement  von  dem  empfangenen  Lichte  uns  zusendet,  proportional 
zur  Intensität  der  Beleuchtung.  Dies  bedeutet  zugleich,  dass  die  Unter- 
schiede der  Lichtstärken  je  zweier  Teile  des  Gesichtsfeldes  proportional  mit 
der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  wachsen  und  abnehmen. 

Eine  Fläche,  welche  bei  beliebiger  Richtung  des  auffallenden  Lichtes  nur 
vollkommen  zerstreutes  Licht  zurückgeben  würde,  könnten  wir  eine  absolut 
matte  nennen.    Die  beleuchteten  Papierflächen,  mit  denen  wir  unsere  Unter- 


§  4  6.    Messung  der  Lichtremission  tonfreier  Papiere.  63 

siichungen  vielfach  anstellen  werden,  zeigen  jedoch  meist  noch  einen  in 
Betracht  kommenden  Rest  von  regelmäßiger  Reflexion.  Als  matte  Flächen 
im  besten  Sinne  des  Wortes  sind  eine  gut  berußte  oder  eine  mit  dem 
Rauche  brennenden  Magnesiums  geweißte  Fläche  zu  bezeichnen;  doch  sind 
dieselben  so  empfindlich  gegen  jede  Berührung,  dass  sie  nur  in  ganz  be- 
sonderen Fällen  brauchbar  sind. 

Die  möglichst  matten  Papierflächen,  mit  denen  wir  es  zu  thun  haben 
werden,  sind  entweder  solche,  welche  von  allen  leuchtenden  homogenen 
Strahlungen  angenähert  denselben  Bruchteil  zurückgeben,  so  dass  das 
remittierte  Strahlgemisch  fast  dieselbe  Zusammensetzung  hat,  wie  das  auf- 
fallende ;  oder  sie  besitzen  für  die  verschiedenen  Strahlenarten  ein  verschie- 
denes Remissionsvermögen.  Ersteres  gilt  mit  mehr  oder  weniger  großer 
Annäherung  von  den  bei  Tageslicht  weiß,  grau  und  schwarz  erscheinenden, 
letzteres  von  den  bunten  Papieren. 

Das  Remissionsvermögen  einer  Fläche  ist  zu  unterscheiden  von 
der  für  unser  Auge  in  Betracht  kommenden  Lichtstärke  derselben,  d.  i. 
die  von  der  Flächeneinheit  in  der  Richtung  nach  unserer  Pupille  ausge- 
sandte Lichtmenge.  Die  letztere  steigt  und  fällt  wie  gesagt  proportional 
mit  der  Beleuchtung  der  Fläche,  während  das  Remissionsvermögen,  welches 
sich  nach  dem  Verhältnis  des  remittierten  zum  auffallenden  Lichte  bemisst, 
dabei  unverändert  bleibt.  Das  Remissionsvermögen  ist  ferner  streng  zu 
unterscheiden  von  der  Helligkeit  der  Fläche ;  denn  diese  ist  nach 
unserer  Definition  eine  Eigenschaft  der  Farbe,  welche  durch  das  von 
der  Fläche  auf  unsere  Netzhaut  geschickte  Licht  in  unserem  Sehfelde  ver- 
anlasst wird. 

Für  unsere  Untersuchungen  an  ebenen  tonfreien  Papieren  ist  die 
Kenntnis  der  Lichtstärke  der  gesehenen  Fläche  (im  soeben  definierten  Sinne) 
meist  nicht  erforderlich,  sondern  nur  die  Kenntnis  des  Verhältnisses, 
in  welchem  die  Lichtstärken  zweier  oder  mehrerer  Teile  einer  ebenen  Fläche 
zueinander  stehen,  z.  B.  zweier  in  derselben  Ebene  liegender  und  von  der- 
selben Lichtquelle  möglichst  gleichstark  beleuchteter  tonfreier  (weißer,  grauer 
oder  schwarzer)  Papiere,  wenn  unsere  Gesichtslinie  beiläufig  rechtwinklig 
zu  deren  Ebene  liegt.  Deshalb  bedürfen  wir  auch  nicht  der  Kenntnis  des 
Remissionsvermögens  selbst,  sondern  nur  des  Verhältnisses  zwischen 
den  Remissionsvermögen  der  verschiedenen  Papiere. 

Dementsprechend  setzen  wir  das  Remissionsvermögen  desjenigen  von 
den  benutzten  Papieren,  welches  den  größten  Bruchteil  des  empfangenen 
Lichtes  zurückwirft  und  also  das  größte  Remissionsvermögen  hat,  gleich 
360,  benutzen  dieses  unter  gewöhnlichen  Umständen  weiß  erscheinende 
Papier  als  Normalpapier  und  bemessen  hiernach  das  Remissions  vermögen 
der  übrigen  weißen,  grauen  oder  schwarzen  Papiere.  Einem  Papiere,  welches 
unter  genau  denselben  Versuchsbedingungen  nur  halb  soviel  Licht  als  wie 


64 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


das  Normalpapier  in  der  Richtung  nach  unserer  Pupille  hin  zurückschickt, 
schreiben  wir  also  das  Remissions  vermögen  180  zu  u.  s.  w. 

Zur  Bestimmung  dieses  relativen  Remissionsvermügens  bedienen  wir 
uns  entweder  des  Farbenkreisels  oder  eines  Polariphotometers. 

Die  Messung  am  Kreisel  erfolgt  nach  einem  im  wesentlichen  schon 
von  Adolf  Fick  (16)  angegebenen  Verfahren. 

Wenn  man  am  Farbenkreisel  eine  weiße  Kreisscheibe,  an  deren  Peri- 
pherie ein  von  zwei  Radien  und  einem  Parallelkreise  begrenzter  Ringsektor 
ausgeschnitten  ist  (vgl.  Fig.  7),  vor  einem  völlig  lichtlosen  Hintergrunde 
schnell  genug  rotieren  lässt,  so  erscheint  die  Scheibe  von  einem  dunkleren 


Fig.  7. 


Fig.  8. 


Ringe  umsäumt.  Die  Farbe  desselben  ist  nach  dem  TALBOx'schen  Gesetz 
gleich  der  Farbe  einer  Fläche,  deren  Lichtstärke  sich  zur  Lichtstärke  der 
weißen  Scheibe  ebenso  verhält,  wie  die  Bogenlänge  des  vom  peripheren 
Ringe  der  letzteren  noch  vorhandenen  Sektors  zum  ganzen  Ringe  (von  360°). 

Fertigen  wir  also  die  w^eiße  Scheibe  aus 
unserem  Normalpapier,  legen  auf  dieselbe 
eine  kleinere  Scheibe  des  zu  untersuchenden 
Papiers,  von  welcher  die  erstere  mit  Aus- 
schluss des  freibleibenden  Ringsektors  ver- 
deckt wird  (vgl.  Fig.  8),  und  geben  diesem 
Sektor  eine  solche  Bogenlänge,  dass  während 
des  Rotierens  Ring  und  Scheibe  genau  dieselbe 
Farbe  zeigen,  so  drückt  uns  die  nach  Graden 
bemessene  Bogenlänge  des  Ringsektors  das 
relative  Remissionsvermögen  oder,  wie  ich 
es  kurz  nennen  will,  den  Kreisel  wert 
(K  W)  des  untersuchten  Papieres  aus. 
Um  die  passende  Bogenlänge  des  Ringsektors  der  Normalscheibe  zu 
finden,  benützt  man  zunächst  eine  solche  mit  zu  kleinem  Ringsektor,  so 
dass  beim  Rotieren  der  periphere  Ring  dunkler  erscheint  als  die  aufliegende 
Scheibe  des  zu  untersuchenden'  Papiers.  Unter  die  Normalscheibe  legt  man 
sodann  eine  zweite  mit  gleichgroßem  oder  etwas  kleinerem  Ringsektor  so, 
dass  der  hintere  Ringsektor  zunächst  vom  vorderen  verdeckt  wird,   durch 


§  16.    Messung  der  Lichtremission  tonfreier  Papiere. 


65 


Verschieben   der  beiden  Scheiben   gegeneinander    aber    mit    einem   immer 

bis  während  des  Rotierens 


größeren  Teile  sichtbar  gemacht  werden  kann, 


Ring  und  Scheibe  dieselbe  Farbe  zeigen. 


Zur  Herstellung  eines  möglichst 


lichtfreien  Hintergrundes  für  die  rotierenden  Scheiben  dient  nach  dem  Vor- 
gänge Adolf  Fick's  (16)  ein  länglicher  Kasten  von  quadratischem  Querschnitt 
oder  ein  Rohr,  von  beispielsweise  80  cm  Länge  und  30  cm  Querdurch- 
messer, welche  abgesehen  von  einer,  an  der  einen  Querfläche  befindlichen 
Öffnung  gänzlich  geschlossen  und  innen  mit  schwarzem  Sammet  ausgekleidet 
sind.  Aus  der  relativ  kleinen  Öffnung  kehrt  nahezu  gar  kein  Licht  zurück. 
Fig.  8  zeigt  einen  vor  der  Öffnung  eines  solchen  Dunkelkastens  aufge- 
stellten Kreisel  mit  der  zu  eichenden  Scheibe  und  dem  die  letztere  über- 
ragenden Sektor  des  weißen  Normalpapieres.  Hat  man  auf  diese  Weise 
den  Kreiselwert  eines  grauen  Papiers  bestimmt,  so  kann  man  nach  einer 
zweiten  einfacheren  Methode  mit  Hilfe  dieses  geeichten  und  des  Normal- 
papiers den  Kreiselwert  jedes  anderen  Papieres  feststellen.  Erscheint  das- 
selbe, auf  den  Kreisel  gebracht,  heller  als  das  geeichte,  so  fertigt  man 
aus  dem  letzteren  und  aus  dem  Normalpapier  je  eine  größere  Scheibe, 
durchschneidet  (nach  dem  Vorgange  Masson's) 
beide  vom  Zentrum  bis  zur  Peripherie  ent-  '       ^^^-  ^• 

lang  einem  Radius  und  steckt  die  so  ge- 
schlitzten Scheiben  derart  ineinander,  dass 
von  jeder  nur  ein  Sektor  sichtbar  ist,  während 
ihre  peripheren  Ränder  sich  decken.  Auf 
diese  Doppelscheibe  legt  man  eine  kleinere 
Scheibe  des  zu  untersuchenden  Papiers,  wie 
dies  Fig.  9  zeigt.  Während  des  Rotierens 
erscheint  nun  diese  Innenscheibe  von  einem 
entweder  helleren  oder  dunkleren  Ringe  um- 
geben. Durch  passende  Änderung  des  Sek- 
torenverhältnisses der  großen  Scheiben  aber 
kann  man  es  dahin  bringen,  dass  Ring  und  Innenscheibe  ganz  gleich 
erscheinen.  Der  Kreiselwert  [K  W)  der  Innenscheibe  ist  dann  leicht  zu 
berechnen. 

Beispiel:  Zur  Gleichung  zwischen  Ring  und  Innenscheibe  sei  erforderlich  ein 

Sektor  von   i  5  0  ^  des  Normalpapiers   und  ein  Sektor    von    210°    des    geeichten 

grauen  Papiers.     KW  des  letzteren  betrage   81,  K  TFdes  ersteren  beträgt  360. 

210X81 

Demnach  ist  K  TFdes  Papiers  der  Innenscheibe  =  1  50  H =  1  97,25. 

^  360 

Ist  das  zu  untersuchende  Papier  dunkler  als  das  bereits  geeichte,  so 
muss  man  die  Scheiben^  welche  den  Außenring  geben  sollen,  aus  dem  zu 
untersuchenden  und  dem  Normalpapier  anfertigen,  die  kleinere  Innenscheibe 
aber  aus  dem  geeichten. 

Hering,  Lichtsinn.  5 


66 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Übrigens  Ihut  man  gut,  sich  nicht  mit  der  Eichung  eines  einzigen 
Papiers  nach  der  ersterwähnten  Methode  zu  begnügen,  sondern  aus  der 
Reihe  der  zur  Verfügung  stehenden  tonfreien  Papiere  mehrere  nach  dieser 
Methode  zu  eichen  und  die  Ergebnisse  dieser  Messungen  mit  Hilfe  der 
zweiten  Methode  zu  kontrollieren,  überhaupt  durch  zweckmäßige  Kombination 
beider  Methoden  die  unvermeidlichen  Fehler  der  Einzelmessungen  möglichst 

zu  eliminieren. 

Fig.  iO. 


Als  Kreisel  kann  jede  zureichend  schnell  rotierende  Achse  dienen,  die 
über  das  eine  Achsenlager  hinausragt,  hier  mit  einem  Schraubengewinde 
versehen  ist  und  nahe  dem  freien  Ende  eine  kleine  ebene  Metallmanschette 
trägt.  Die  mit  einem  passenden  centralen  Loche  versehenen  Scheiben 
werden  auf  das  Endstück  der  Achse  geschoben  und  mittels  einer  Schrauben- 
mutter an  die  Manschette  angepresst.  Zweckmäßig  ist  es,  den  Apparat  so 
einzurichten,  dass  die  Scheiben  ebensowohl  in  horizontaler  als  in  vertikaler 
Lage  rotieren  können.  Fig.  1 0  zeigt  einen  von  mir  benutzten  Farbenkreisel 
mit  zwei  Scheiben,  der  in  beiden  Lagen  verwendbar  ist  und  ebensowohl 
mit  der  Hand  als  durch  einen  Motor  in  Gang  gesetzt  werden  kann. 

Die  Drehungsgeschwindigkeit  muss  mindestens  so  groß  sein,  dass  auch  bei 
beliebig  indirektem  Sehen  und  rasch  hin-  und  herbewegtem  Auge  an  der  Scheibe 


§  16.    Messung  der  Lichtremission  tonfreier  Papiere.  67 

keinerlei  Flimmern  bemerkbar  ist.  Die  hierzu  nötige  Geschwindigkeit  ist  sehr 
verschieden  je  nach  der  absoluten  Lichtstärke  der  Papiere,  dem  Unterschiede 
bezw.  Verhältnisse  dieser  Lichtstärken,  der  Lichtstärke  ihrer  Umgebung,  dem 
Größenverhältnis  der  Sektoren,  dem  Anpassungszustande  des  Auges  und  wohl 
auch  der  Individualität  des  Auges,  daher  sich  eine  bestimmte  Zahl  nicht  angeben 
lässt.  Wenn  sich  an  dem  gegebenen  Kreisel  die  erforderliche  Drehungsgeschwin- 
digkeit, die  bei  starker  Beleuchtung  über  60  Drehungen  in  der  Sekunde  hinaus- 
gehen kann,  nicht  erreichen  lässt,  kann  man  jeden  Sektor  durch  zwei  von  z.  B. 
halber  Größe  ersetzen,  so  dass  bei  jeder  Umdrehung  ein  mehrmaliger  Sektoren- 
wechsel erfolgt.     Hierzu  braucht  man  also  die  doppelte  Scheibenzahl. 

Der  Kreisel  darf  vom  Beobachter  erst  dann  betrachtet  werden,  wenn  er 
die  nötige  Drehungsgeschwindigkeit  bereits  erreicht  hat,  daher  es  zweckmäßig 
ist,  ihn  in  der  Zeit  von  einer  Beobachtung  zur  anderen  durch  einen  vorgesetzten 
grauen  Schirm  zu  verdecken. 

Hinter  bezw.  unter  den  MAssoN'schen  Scheiben  muss  sich  stets  eine  unge- 
schlitzte Scheibe  aus  nicht  zu  dünnem  Papier  befinden,  und  die  Drehung  muss 
in  der  Richtung  erfolgen,  bei  welcher  der  Luftwiderstand  die  Scheiben  nicht 
aufblättert,  sondern  vielmehr  aneinander  drückt.  Ist  also  der  Kreisel  nur  in 
einer  Richtung  drehbar,  so  müssen  die  Scheiben  dementsprechend  ineinander 
geschoben  sein. 

Wenn  das  Normalpapier  oder  die  untersuchten  Papiere  eine  noch  in  Be- 
tracht kommende  Lichtmenge  durchlassen,  so  ist  ihr  Kreiselwert  mit  von  ihrer 
Unterlage  abhängig  und  man  benutzt  sie  dann  nur  in  wenigstens  doppelter  Lage. 

Die  kleinen  Scheiben  werden  zweckmäßiger  Weise  mit  einer  Maschine  aus- 
geschnitten (gestanzt),  weil  sonst  ihr  Umriss  während  der  Drehung  keine  scharfe 
Linie  bildet.  Das  Loch  der  großen  Scheibe  wird  mittels  eines  Locheisens  aus- 
geschlagen. Zum  Schlitzen  der  Scheiben  dient  eine  horizontale  Metallscheibe  mit 
centralem  cylindrischen  Zapfen  vom  Durchmesser  des  Loches  der  Scheibe.  Nach- 
dem letztere  aufgelegt  ist,  wird  über  den  Zapfen  ein  kleiner  Hohlcjlinder  ge- 
schoben, welcher  seitlich  von  seiner  unteren  Öffnung  ein  kurzes  horizontales 
Lineal  trägt,  dessen  eine,  abgeschrägte  Kante  einem  Radius  der  Scheibe  ent- 
spricht. Das  entlang  dieser  Kante  geführte  Messer  schlitzt  die  Scheibe  genau 
radial. 

Mit  dem  Polariphotometer ,  wie  ich  es  nennen  will,  lässt  sich  die 
relative  Lichtstärke  oder  der  Kreisel  wert  einer  ganz  ebenen  und  homogenen 
tonfreien  Papierfläche  in  folgender  Weise  messen: 

Man  denke  sich  den  erwähnten  Dunkelkasten  auf  dem  Fußboden 
stehend,  so  dass  die  mit  der  Öfi'nung  versehene  Fläche  oben  liegt.  Auf 
letztere  legt  man  ein  ganz  ebenes  Stück  des  Normalpapieres  derart,  dass 
ein  Teil  der  lichtlosen  Öffnung  von  dem  geradlinig  begrenzten  Papiere  ver- 
deckt wird.  Durch  ein  über  der  Öffnung  aufgestelltes  doppelbrechendes 
Prisma  erscheint  das  Papier  ( W)  doppelt,  wie  es  Fig.  i  1  darstellt,  in  welcher 
das  nur  von  unterbrochenen  Linien  begrenzte  Rechteck  e  beispielsweise  das 
extraordinäre,  das  Rechteck  o  das  ordinäre  Bild  bedeuten  möge.  Dem 
Streifen  w  entspricht  also  jetzt  die  halbe  Lichtstärke  des  Normalpapiers. 
Man  schiebt  nun  von  der  anderen  Seite  her  ein  ebenfalls  geradlinig  be- 
grenztes Stück  des  zu  eichenden  Papieres  P  soweit  über  die  Öffnung,  dass 


68 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


¥ 


rv^ 


r 


p 


die  Grenzlinie  seines  ordinären  Bildes  (o)  die  des  extraordinären  Bildes  [e] 
des  Normalpapieres  eben  berührt.  Der  Streifen  ^  dieses  Bildes  hat  die 
halbe  Lichtstärke  des  untersuchten  Papieres.    Ein  über  dem  doppelbrechenden 

Prisma  befindlicher  Nicol   sei  zu- 
Fig.  11.  nächst  so  orientiert,    dass   er  die 

extraordinären  Bilder  und  also 
auch  den  Streifen  w  vollständis^ 
auslöscht,  die  ordinären  Bilder 
aber  und  also  den  Streifen  j)  in 
der  maximalen  Lichtstärke  sehen 
lässt.  Wird  der  Nicol  aus  dieser 
Lage  soweit  gedreht,  bis  der 
dabei  zunehmend  heller  werdende 
Streifen  lö  dem  sich  zunehmend 
Q  a  verdunkelnden     Streifen    p    ganz 

gleich  erscheint,  und  ist  cp  der 
hierzu  erforderliche  Drehungswinkel,  so  ist  der  Kreiselwert  des  untersuchten 
Papieres  =  360  tg'^  cp. 

Nach  dieser  Methode  lässt  sich  auch  mit  Hilfe  jedes  bereits  geeichten 
Papieres  statt  des  Normalpapieres  der  Kreiselwert  eines  beliebigen  Papieres 
bestimmen,  wenn  statt  des  Kreiselwertes  360  des  Normalpapieres  der  des 
geeichten  in  die  Formel  eingesetzt  wird. 

Beide  Papiere  sollen  ganz  eben  sein  und  in  derselben  Ebene  liegen,  und 
die  durch  die  Achse  des  Photometers  gehende  Gesichtslinie  soll  senkrecht  auf 
dieser  Ebene  stehen.  Um  das  Auge  vor  anderweitem  Lichteinfall  zu  schützen, 
wird  über  den  oberen  Randteil  des  den  Nicol  enthaltenden  Rohres  ein  hohler, 
luftgefüllter  Kautschukring  geschoben,  welcher  sich  Uchtdicht  und  so  fest  an  die 
Umgebung  des  Augapfels  anschmiegt,  dass  das  Rohr  während  der  Drehung  in 
dem  Ringe  gleitet.  Insoweit  das  von  den  Papieren  zurückgeworfene  Licht  nicht 
völlig  frei  von  polarisiertem  ist,   ergiebt  sich  ein  Messungsfehler. 

Als  Normalpapier  leistet  ein  mattes  Barjtpapier  gute  Dienste.  Lichtlose 
schwarze  Papiere  giebt  es  nicht,  auch  die  lichtschwächsten  haben  noch  einen 
erheblichen  Kreiselwert.  Ich  fand  denselben  im  Mindestfalle  gleich  6.  Das  mit 
schwarzem  Wollstaub  belegte  Tapetenpapier  (Wollpapier)  hat  zwar  zuweilen  einen 
noch  etwas  geringeren  Kreiselwert,  reißt  aber  leicht  bei  großer  Drehungsge- 
schwindigkeit, weil  es  relativ  schwer  und  meist  aus  schlechtem  Papier  hergestellt 
ist;  doch  ist  es  nicht  so  empfindlich  wie  ein  ganz  mattes  schwarzes  Papier, 
welches  sehr  leicht  glänzende  Flecken  bekommt.  Eine  mittels  einer  Gasflamme 
hergestellte  Rußfläche  fand  ich  bei  gleicher  Beleuchtung  bestenfalls  nur  sehr 
wenig  lichtschwächer  als  das  Wollpapier. 


§  17.  Deutlichkeit  des  Sehens  im  Verlaufe  eines  Tages. 
Wenn  innerhalb  der  Grenzen  brauchbarer  Beleuchtung  die  in  §  6  erörterte 
Farbenbeständigkeit    der   Sehdinge    eine    genaue    wäre,    so   würden    unter 


§  17.    Deutlichkeit  des  Sehens  im  Verlaufe  eines  Tages.  69 

sonst  gleichen  Umständen  bei  Änderungen  der  Beleuchtungsstärke  auch 
alle  Farben  unterschiede  oder,  wie  wir  hier  auch  sagen  können,  alle 
Helligkeitsunterschiede  unverändert  bleiben.  In  der  That  lehrt  die  Er- 
fahrung, dass  trotz  der  täglichen  sehr  großen  Intensitätsänderungen  der 
Beleuchtung,  die  sich  im  allgemeinen  sehr  langsam  vollziehen,  die  Hellig- 
keitsunterschiede der  Sehdinge  sich  nur  wenig  ändern,  weil  das  Auge  mit 
seinen  Anpassungen  den  Änderungen  der  Beleuchtung  folgt.  Insoweit  aber 
doch  bei  Änderungen  der  Beleuchtung  eines  im  übrigen  (in  sich  und  in 
bezug  auf  den  Ort  des  Auges)  unveränderten  Gesichtsfeldes  eine  Zu-  oder 
Abnahme  der  Helligkeitsunterschiede  eintritt,  müssen  auch  Änderungen  der 
bezüglichen  Helligkeiten  selbst  erfolgen,  sei  es  dass  von  je  zwei  Farben  die 
eine  weißlicher  d.  i.  heller,  oder  schwärzlicher  d.  i.  dunkler  wird,  während 
die  andere  unverändert  bleibt,  oder  dass  beide  sich  in  derselben  Richtung, 
aber  in  verschiedenem  Maße  ändern,  oder  endlich,  dass  die  eine  heller  und 
die  andere  dunkler  wird  als  zuvor.  Alle  diese  Fälle  kommen  bei  Ände- 
rungen der  Gesamtbeleuchtung  eines  im  übrigen  unveränderten  Gesichts- 
feldes thatsächlich  vor. 

Gleiches  Außending,  gleiche  Schärfe  seines  Netzhautbildes  und  gleiche 
Aufmerksamkeit  vorausgesetzt  ist  die  Deutlichkeit  des  Sehens  grüßer  oder 
kleiner,  je  nachdem  die  Farbenverschiedenheiten,  d.  h.  also  bei  tonfreien 
Farben  ausschließlich  die  Helligkeits Verschiedenheiten  der  korrelativen  Seh- 
dinge grüßer  oder  kleiner  sind.  Nicht  auf  die  Helligkeiten  bezw.  Dunkel- 
heiten an  sich,  sondern  lediglich  auf  ihre  Verschiedenheiten  kommt  es  hierbei 
an.  Was  am  meisten  von  seiner  Umgebung  absticht,  fällt  auch  zumeist 
ins  Auge.  Eine  Schrift  ist  unter  sonst  gleichen  Umständen  um  so  deut- 
licher, je  dunkler  sie  im  Vergleich  zum  Papier  erscheint;  Buchstaben,  welche 
grau  auf  weißem  Grunde  oder  schwarz  auf  grauem  Grunde  erscheinen,  sind 
minder  bequem  zu  lesen  als  die  schwarz  auf  Weiß  erscheinenden.  Wenn 
wir  bei  einer  »guten«  Beleuchtung  deutlicher  sehen  als  bei  einer  zu  schwachen, 
so  beruht  dies  nicht,  wie  das  gewühnlich  angenommen  wird, 
darauf,  dass  ersterenfalls  alle  Dinge  heller  erscheinen,  son- 
dern darauf,  dass  alle  Farbenverschiedenheiten  jetzt  grüßer 
sind  als  bei  der  zu  schwachen  Beleuchtung. 

Ist  eine  Schrift  mangelhaft  beleuchtet,  so  liest  sie  sich  schwierig,  auch 
wenn  sie  relativ  groß  ist,  weil  die  Farbenverschiedenheit  zwischen  Buch- 
staben und  Grund  zu  klein  ist.  Das  Sehen  der  Schrift  bei  schwacher  Be- 
leuchtung ermüdet  an  sich  nicht,  wohl  aber  das  Lesen  derselben;  es  handelt 
sich  nicht  um  eine  Ermüdung  des  Auges,  sondern  des  Gehirns;  die  An- 
spannung der  Aufmerksamkeit  ist  das  Ermüdende,  nicht  der  Lichtreiz.  Wir 
gehen  in  solchem  Falle  mit  der  Schrift  näher  ans  Fenster,  nicht  um  feinere 
Einzelheiten  an  den  Buchstaben  sehen  zu  künnen,  was  nur  bei  zu  kleiner 
Schrift  nütig  wäre,   sondern  um   die  Buchstaben   leichter  vom  Grunde   zu 


70  Lehre  vom  Lichtsinn. 

unterscheiden.  Wenn  man  ein  beschriebenes  oder  bedrucktes  Blatt  zur 
einen  Hälfte  gut,  zur  anderen  schlecht  beleuchtet,  so  sieht  man,  dass  die 
Farbenverschiedenheit  zwischen  Buchstaben  und  Grund  auf  der  ersteren 
Hälfte  größer  ist  als  auf  der  letzteren. 

Die  günstigste  Beleuchtung  ist  also  nicht  bloß  dann  von  Vorteil,  wenn 
es  sich  um  die  Wahrnehmung  feiner  Einzelheiten  handelt,  sondern  auch, 
wenn  uns  auf  letztere  gar  nichts  ankommt.  Für  die  feinen  Einzelheiten 
ist  die  bessere  Beleuchtung  allerdings  absolut  unentbehrlich,  für  das  übrige 
aber  nur  relativ.  Schon  ehe  bei  abnehmendem  Tageslicht  die  zarten  Haar- 
striche der  Buchstaben  untermerklich  werden,  beginnt  beim  Lesen  eine  gewisse 
Anstrengung. 

Der  Grüße  der  Verschiedenheit  zweier  tonfreier  Farben  entspricht  auf 
der  theoretischen  Farbenlinie  (vgl.  §11)  ihr  gegenseitiger  Abstand.  Die 
Grüße  dieser  Farbenabstände  ist  also  unter  sonst  gleichen  Umständen  das 
bestimmende  für  die  Deutlichkeit  des  Sehens;  auf  welchen  Orten  jener 
Farbenlinie  die  bezüglichen  Farben  liegen,  ob  näher  dem  schwarzen  oder 
dem  weißen  Ende  derselben,  ist  bei  gleichem  Abstand  der  Farben  für  die 
Deutlichkeit  unwesentlich.  Ein  dunkles  Gebilde  kann  auf  einem  dunklen 
Grunde  deutlicher  gesehen  werden,  als  ein  helles  von  ganz  gleicher  Form 
und  Grüße  auf  einem  hellen  Grunde,  wenn  nur  ersterenfalls  der  Abstand 
zwischen  der  Farbe  des  Dinges  und  der  des  Grundes,  d.i.  hier  also  der 
Dunkelheitsunterschied,  grüßer  ist  als  letzterenfalls  der  Helligkeitsunterschied. 

Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  dass  die  Grüße  der  Farbenverschieden- 
heiten unter  sonst  gleichbleibenden  Umständen  von  der  Stärke  der  Beleuch- 
tung abhängig  ist.  Wenn  wir  bei  noch  ganz  finsterer  Nacht  erwachen, 
unterscheiden  wir  zunächst  von  den  Außendingen  gar  nichts,  sondern  sehen 
das  ganze  Sehfeld  lediglich  erfüllt  von  jenen  schwachen,  mehr  oder  minder 
unstetigen,  wolkigen  oder  fleckigen  Farben,  welche  man  als  das  Eigen- 
grau  (Eigenhell  oder  Eigendunkel)  des  längere  Zeit  verfinstert  gewesenen 
Auges  bezeichnen  kann.  Warten  wir  nun  den  Tagesanbruch  ab,  so  tauchen 
allmählich  einzelne  grüßere  Teile  des  Gesichtsfeldes  mit  noch  ganz  ver- 
waschenen Umrissen  aus  jenem  Eigengrau  wie  aus  einem  Nebel  auf.  Ob- 
wohl schon  jetzt  kein  Teil  des  Gesichtsfeldes  ganz  lichtlos  ist,  sondern  alle 
Außendinge  bereits  mehr  oder  weniger  Licht  ins  Auge  schicken,  so  sehen 
wir  doch  trotz  der  hochgesteigerten  Lichtempfindlichkeit  des  lange  verfinstert 
gewesenen  Auges  die  lichtschwächsten  Teile  des  Gesichtsfeldes  keineswegs 
an  Helligkeit  zunehmen,  sondern  vielmehr  um  so  dunkler  hervor- 
treten, je  heller  die  lichtstärkeren  werden.  Das  mit  der  zuneh- 
menden Beleuchtung  bemerkliche  Wachsen  der  Farbenverschiedenheiten  der 
sichtbaren  Dinge  ist  also  keineswegs  dadurch  bedingt,  dass  die  Helligkeiten 
aller  dieser  Dinge  zunehmen  —  nur  aber  die  der  lichtschwächeren  lang- 
samer als   die   der  lichtstärkeren  — ,   sondern   während   die  Helligkeit   der 


§  \1.    Deutlichkeit  des  Sehens  im  Verlaufe  eines  Tages.  71 

relativ  lichtstarken  über  das  anfängliche  Eigenhell  des  Auges  immer  mehr 
hinauswächst,  sinkt  die  der  relativ  sehr  hchtschwachen  unter  jenes  Eigen- 
hell hinab,  so  dass  sie  mit  zunehmender  Beleuchtung  immer 
dunkler,  schwärzlicher  und  schließlich  tiefschwarz  erscheinen 
können,  obwohl  ihre  geringe  Lichtstärke  mit  der  zunehmenden 
Beleuchtung  ebenfalls  gewachsen  ist. 

Während  also  beim  Beginn  der  Morgendämmerung  die  Farben  aller 
Teile  des  Sehfeldes  auf  einer  relativ  kleinen,  zur  grauen  Mittelstrecke  der 
theoretischen  Farbenlinie  gehörigen  Strecke  zusammengedrängt  sind,  dehnt 
sich  die  Strecke  der  gesehenen  Farben  bei  zunehmender  Beleuchtung  des 
Gesichtsfeldes  nach  beiden  Seiten  hin,  nicht  nur  in  den  Bezirk  der  w^eißen, 
sondern  auch  den  der  schwarzen  Farben,  immer  weiter  aus,  und  damit 
wächst  zugleich  die  Größe  aller  Farbenverschiedenheiten  der  Sehdinge.  An 
jeder  großen  Druckschrift  kann  man  unter  den  beschriebenen  Umständen 
bemerken,  wie  die  Farbenverschiedenheit  zwischen  den  Buchstaben  und  dem 
Papier  mit  abnehmender  Dämmerung  zusehends  wächst,  die  Buchstaben 
schwärzer  werden  und  das  Papier  weißer. 

Mit  diesem  Wachsen  aller  Helligkeitsverschiedenheiten  ist  nun  auch 
die  wachsende  Deutlichkeit  des  Sehens  gegeben.  Auf  einem  Felde,  welches 
anfangs  überall  beiläufig  dieselbe  Farbe  (dieselbe  Helligkeit  bezw.  Dunkel- 
heit) zeigte,  treten  jetzt  immer  zahlreichere,  anfangs  nur  eben  merkliche, 
später  immer  deutlichere  Verschiedenheiten  hervor,  d.  h.  man  sieht  immer 
mehr  Einzelheiten;  in  den  dunklen  Bezirken  eines  Kupferstiches  z.  B.  zeigen 
sich  immer  schwärzere,  in  den  hellen  Bezirken  immer  weißere  Einzelheiten, 
immer  deutlichere  Abstufungen  der  Helligkeit  bezw.  Dunkelheit. 

W^enn  dann  mit  zunehmender  Sonnenhöhe  die  Beleuchtung  stärker 
und  stärker  wird,  so  werden  die  dadurch  bedingten  Zunahmen  der  Farben- 
unterschiede immer  weniger  merklich,  und  ohne  besonders  darauf  gerichtete 
Aufmerksamkeit  kann  man  leicht  zu  der  Meinung  kommen,  dass,  wenn  ein- 
mal die  Beleuchtung  eine  gewisse  mäßige  Stärke  erreicht  hat,  das  weitere 
Wachsen  derselben  eine  Zunahme  der  Farbenunterschiede  nicht  mehr  mit 
sich  bringe.  Demgegenüber  braucht  nur  daran  erinnert  zu  werden,  dass 
man  eine  z.  B.  zum  Lesen  oder  Schreiben  völlig  bequeme  Beleuchtungs- 
stärke nicht  mehr  zureichend  findet,  sobald  man  sich  mit  feineren  Dingen 
und  zarteren  Helligkeitsabstufungen  beschäftigen  will,  als  wie  solche  beim 
Lesen  oder  Schreiben  in  Betracht  kommen.  Man  beseitigt  dann  wohl  einen 
Fenstervorhang  oder  rückt  näher  an  das  Fenster.  Dass  man  nun  besser 
sieht,  verdankt  man,  abgesehen  von  dem  leicht  auszuschließenden  Einflüsse 
einer  etwaigen  Pupillenverengung,  der  Vergrößerung  der  Farben  unter- 
schied e.  Dieselbe  beruht  vorwiegend  darauf,  dass  die  lichtstärkeren  Teile 
des  Gesichtsfeldes  jetzt  weißer  erscheinen,  während,  was  man  übersehen 
hat,  die  lichtschwachen  teils  unverändert,  teils  schwärzlicher  erscheinen  als 


72  Lehre  vom  Lichtsinn. 

zuvor.  Die  äußerst  feine  Schraffierung  eines  Kupferstiches  oder  einer  Photo- 
typie  kann  bei  einer  im  übrigen  ganz  bequemen  Beleuchtung  unmerklich 
sein,  bei  gesteigerter  Beleuchtung  aber  deutlich  werden,  weil  der  unter- 
merkliche Farbenunterschied  zwischen  Linien  und  Grund  sich  zu  einem 
merklichen  vergrößert  hat.  An  feinen,  sogenannten  schwarzen  Linien  auf 
weißem  Grunde  kann  man  bei  darauf  gerichteter  Aufmerksamkeit  sehen, 
dass  dieselben  bei  schwächerer  Beleuchtung  eigentlich  grau  und  erst  bei 
guter  Beleuchtung  schwarz  erscheinen. 

Alle  diese,  infolge  wachsender  Farbenverschiedenheiten  eintretenden 
Zunahmen  der  Deutlichkeit  des  Sehens  erfolgen  allerdings  auf  Kosten  der 
Konstanz  der  Farben  der  Sehdinge.  Da  aber  dabei,  soweit  es  sich 
nur  um  das  Gebiet  der  brauchbaren  Beleuchtungen  handelt, 
alles  Weiße  nur  noch  weißer,  das  Schwarze  nur  noch  schwärzer 
wird  und  alles  Graue  grau  bleibt,  wenn  es  sich  auch  in  ein 
weißlicheres  oder  schwärzlicheres  Grau  verwandeln  kann,  so 
bewahren  die  Außendinge  dabei  doch  wenigstens  im  wesent- 
lichen ihre  Farben,  wie  es  dem  in  §  6  erörterten  Satze  von  der 
angenäherten  Farbenbeständigkeit  der  Sehdinge  entspricht. 

§  18.  Einfluss  der  successiven  Anpassung  des  Auges  auf  die 
Deutlichkeit  des  Sehens.  Betritt  man  nach  längerem  Aufenthalte  in 
einem  gut  beleuchteten  Räume  einen  nur  schwach  beleuchteten,  oder  setzt 
man  die  Beleuchtung  des  ersteren  schnell  und  erheblich  herab,  so  unter- 
scheidet man  zunächst  weniger,  bezw.  gar  nichts.  Sehr  bald  aber  wächst 
das  Unterscheidungsvermögen  wieder,  anfangs  schnell,  dann  immer  lang- 
samer, bis  es  die  ihm  durch  das  Ausmaß  der  jetzt  herrschenden  Beleuchtung 
gezogene  Grenze  erreicht  hat.  Gleichwohl  bleibt,  wenn  die  Herabsetzung 
der  Beleuchtung  eine  erheblichere  war,  die  Deutlichkeit  des  Sehens  auch 
dann  noch  ganz  merklich  hinter  derjenigen  zurück,  welche  bei  der  stärkeren 
Beleuchtung  bestand. 

Kehrt  man  jetzt  aus  dem  schwach  beleuchteten  Räume  in  den  stark 
beleuchteten  zurück  oder  verstärkt  die  Beleuchtung  des  ersteren  wieder,  so 
fühlt  man  sich  mehr  oder  weniger  geblendet  und  unterscheidet  zunächst 
abermals  weniger,  bis  die  Deutlichkeit  des  Sehens  allmählich  wieder  ihr 
anfängliches  Maß  erreicht. 

Jede  schnelle  und  größere  Änderung  der  Beleuchtungsstärke  des  Gesichts- 
feldes bedingt  also  zunächst  eine  sehr  merkliche  Herabsetzung  der  Deutlich- 
keit des  Sehens;  erst  wenn  das  Auge  sich  an  die  neue  Beleuchtung  gewöhnt 
und  sich  derselben  vollständig  angepasst  hat,  leistet  es  in  bezug  auf  die 
Deutlichkeit  des  Sehens  das  31aximum  dessen,  was  ihm  bei  der  gegebenen 
Beleuchtung  möglich  ist. 

Die  angeführten  Thatsachen  lehren  zugleich,  dass  das  längere  Zeit  im 


§  18.   Einfluss  d.  successiven  Anpassung  auf  d.  Deutlichkeit  d.  Sehens.       73 

schwächer  beleuchteten  Räume  gewesene  Auge  im  stärker  beleuchteten 
trotz  der  größeren  Lichtstärke  aller  Außendinge  anfangs  sogar  weniger 
leistet,  als  zuvor  bei  der  schwachen  Beleuchtung,  und  dass  umgekehrt  das 
für  ein  stark  beleuchtetes  Gesichtsfeld  adaptierte  Auge  für  das  schwach 
beleuchtete  solange  fast  unbrauchbar  ist,  bis  es  sich  für  letzteres  wieder 
angepasst  hat.  Die  verschiedenen  Grade  der  allgemeinen  Be- 
leuchtung erfordern  also  verschiedene  Anpassungszustände  des 
Auges,  und  umgekehrt  entspricht  jedem  Anpassungszustande 
eine  besondere  für  diesen  Anpassungszustand  optimale  Beleuch- 
tungsstärke, wenn  das  Auge  das  unter  den  gegebenen  Verhält- 
nissen mögliche  Maximum  der  Deutlichkeit  des  Sehens  er- 
reichen soll. 

Dieses  Maximum  ist  bei  verschiedenen  Anpassungszuständen  und  den 
zugehörigen  optimalen  Beleuchtungsstärken  ein  verschiedenes  und  also  im 
allgemeinen  ein  nur  relatives.  Ein  für  schwache  Beleuchtung  angepasstes 
Auge  erreicht  bei  keiner  und  also  auch  nicht  bei  der  zugehörigen  optimalen 
Beleuchtungsstärke  so  hohe  Deutlichkeitsgrade  des  Sehens  wie  ein  für 
stärkere  Beleuchtung  angepasstes.  Nur  bei  einem  bestimmten  Ausmaß  der 
Beleuchtung,  welches  man  als  das  absolute  Optimum  der  Dauer- 
beleuchtung bezeichnen  kann,  erreicht  nach  erfolgter  Anpassung  die 
Deutlichkeit  des  Sehens  ihr  absolutes  Maximum.  Für  verschiedene 
Augen  aber  ist  jenes  absolute  Optimum  ein  verschiedenes,  weil  individuelle 
Eigentümlichkeiten  für  dasselbe  mitbestimmend  sind.  Jeder  wird  aus  eigener 
Erfahrung  wissen,  dass  es  für  sein  Auge  ein  Ausmaß  der  Dauerbeleuchtung 
giebt,  bei  welchem  er  am  deutlichsten  sieht,  die  Dinge  am  mühelosesten 
unterscheidet  und  am  meisten  Einzelheiten  an  denselben  wahrnimmt,  und 
dass  jede  erheblich  unter  diesem  Optimum  zurückbleibende  oder  über  das- 
selbe hinausgehende  Dauerbeleuchtung  die  Deutlichkeit  des  Sehens  merklich 
beeinträchtigt. 

Die  vollständige  Anpassung  des  Auges  an  eine  gegebene  Stärke  der 
allgemeinen  Beleuchtung  bedingt  also,  bei  gleicher  Schärfe  des  Netzhaut- 
bildes, an  sich  noch  nicht  die  von  dem  bezüglichen  Auge  überhaupt  erreich- 
bare größte  Deutlichkeit  des  Sehens,  denn  diese  ist  zugleich  an  die  absolut 
optimale  Beleuchtungsstärke  gebunden ;  vielmehr  ist  der  Zustand  vollständiger 
Anpassung  an  eine  gegebene  Beleuchtung  dadurch  charakterisiert,  dass  das 
Auge  dabei  andauernd  mit  der  relativ  größten,  ihm  bei  der  gegebenen 
Beleuchtung  möglichen  Deutlichkeit  sieht. 

Würde  das  Auge  bei  einer  schnelleren  Änderung  der  Beleuchtungsstärke 
sofort  mit  der  dem  neuen  Beleuchtungsstande  entsprechenden  relativ  maxi- 
malen Deutlichkeit  sehen,  so  würden  wir  hierin  keinen  Anlass  finden,  von 
einer  successiven  Anpassung  des  Auges  zu  sprechen;  hierzu  zwingt  uns 
jedoch  die  Thatsache,  dass  das  Auge  nach  eingetretenem  Beleuchtungswechsel 


74  Lehre  vom  Lichtsinn. 

eine  gewisse  Zeit,  die  Anpassungszeit  braucht,  ehe  das  relative  Maximum 
der  Deutlichkeit  des  Sehens  erreicht  wird.  Es  weist  dies  darauf  hin,  dass 
sich  während  dieser  Anpassungszeit  innere  Änderungen  des  Auges  vollziehen, 
durch  welche  dasselbe  erst  für  die  neue  Beleuchtungsstärke  eingerichtet 
wird.  Wenn  freilich  die  Zu-  oder  Abnahme  der  Beleuchtung  so  langsam 
vor  sich  geht,  dass  diese  inneren,  die  successive  Anpassung  ausmachenden 
Änderungen  mit  denen  der  Beleuchtung  gleichen  Schritt  zu  halten  vermögen, 
so  kann  es  scheinen,  als  wäre  das  Auge  ein  ohne  weiteres  für  sehr  ver- 
schiedene Beleuchtungsstärken  eingerichtetes  Organ. 

Wir  können  innerhalb  gewisser  Grenzen  der  Beleuchtungsstärke  soviel 
Stufen  der  successiven  Anpassung  unterscheiden,  wie  Stufen  der  Beleuchtung. 
Der  stärkeren  allgemeinen  Beleuchtung  und  der  zugehörigen  höheren  An- 
passungsstufe entspricht  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  auch  ein  höheres 
Maß  der  Deutlichkeit  des  Sehens.  Wächst  aber  die  Beleuchtungsstärke  über 
jene  Grenze  hinaus  und  vermag  das  Auge  mit  seiner  Anpassung  nicht  weiter 
zu  folgen,  so  nimmt  auch  die  Deutlichkeit  des  Sehens  nicht  mehr  zu  und 
weiterhin  sogar  wieder  ab. 

§  19.  Gleichen  Unterschieden  der  Lichtstärken  entsprechen 
nicht  gleiche  Helligkeitsunterschiede.  Es  giebt  eine  ganze  Litteratur 
über  die  Frage,  nach  welchem  Gesetze  die  »Intensität  der  Empfindung«  mit 
der  Lichtstärke  der  korrelativen  Stelle  des  Gesichtsfeldes  bezw.  ihres  Netz- 
hautbildes wachse.  Man  setzte  dabei  als  selbstverständlich  voraus,  dass 
eine  Zunahme  der  Lichtstärke  ganz  allgemein  auch  eine  Zunahme  der  Hellig- 
keit bedinge,  während  doch,  wie  bereits  in  §  17  gezeigt  worden  ist,  oft 
genug  trotz  einer  Zunahme  der  Lichtstärke  ein  Dunkler  werden  der  bezüg- 
lichen Sehfeldstelle  eintritt.  Man  setzte  zweitens  voraus,  dass  die  Helligkeit 
als  eine  Intensitätsgröße  betrachtet  werden  könne,  während  sie  sich  doch, 
wie  in  §  10  dargelegt  wurde,  ebensowenig  als  eine  Größe  nehmen  lässt, 
wie  ein  Ort  auf  einer  Geraden.  Nur  Helligkeits-  bezw.  Dunkelheitsunter- 
schiede  lassen  eine  vergleichende  Größenbestimmung  und  also  ein  an- 
genähertes Maß  zu,  wie  sich  auch  Lageverschiedenheiten  zweier  Orte 
messen  lassen. 

Schon  diese  Andeutungen  genügen,  ganz  abgesehen  von  vielem  anderen, 
was  noch  zur  Sprache  kommen  wird,  um  darzuthun,  dass  die  eingangs 
erwähnte  Frage  falsch  gestellt  ist.  Wohl  aber  darf  man  fragen, 
nach  welchen  Regeln  oder  Gesetzen  die  Größe  oder  Deutlichkeit  des  Unter- 
schiedes zweier  tonfreien  Farben  oder,  wie  man  hier  auch  sagen  kann, 
ihr  Helligkeits-  oder  Dunkelheitsunterschied  abhängig  sei  von  der  Größe  des 
Unterschiedes  der  beiden  korrelativen  Lichtstärken  im  Gesichtsfelde  bezw. 
im  Netzhautbilde. 

Zunächst  ließe  sich  denken,  dass  gleichgroßen  Unterschieden  der  Licht- 


§   19. 


Lichtstärkenunterschied  und  Helligkeitsunterschied. 


75 


stärken  auch  gleichgroße  Unterschiede  der  Helligkeit  entsprechen.  Obgleich 
leicht  darzuthun  ist,  dass  diese  Annahme  falsch  wäre,  scheint  es  mir  doch 
nicht  überflüssig,  die  Mangelhaftigkeit  der  gewöhnlich  gegen  dieselbe  ange- 
führten Beweise  darzulegen.  Dabei  sollen  zunächst  insbesondere  solche 
Helligkeitsunterschiede  in  Betracht  gezogen  werden,  welche  für  uns  zwischen 
zwei  nebeneinander  und  nicht  bloß  nacheinander  gesehene  Helligkeiten  be- 
stehen. 

Man  stelle  in  zunächst  verfinstertem  Zimmer  auf  einen  Tisch  nahe 
dessen  Rande  einen  schmalen  weißen  Schirm  [w  w)^  ferner  nahe  dem  gegen- 
überliegenden Rande  eine  Reihe  von  fünf  oder  mehr  brennenden  Kerzen 
[F^  bis  Fr,)    von   der  halben   Höhe    des   Schirmes,    und    endlich    zwischen 


Fig.  12. 


Schirm  und  Kerzen  einen  mattschwarzen  vertikalen  Stab  auf,  wie  es  Fig.  12 
zeigt.  Ob  die  Kerzenflammen  von  gleicher  Lichtstärke  sind  oder  nicht,  ist 
hier  gleichgültig.  Verdeckt  man  alle  Kerzen  außer  der  mittleren  (F^)^  so 
sieht  man  auf  dem  weißen  Schirm  einen  schwarzgrauen  oder,  wenn  die 
Wand  und  alles  im  Zimmer  befindliche  schwarz  ist,  einen  schwarzen 
Schatten  des  Stabes.  Sobald  man  jetzt  eine  zweite  Kerzenflamme  frei 
macht  und  den  Schirm  mitbeleuchten  lässt,  verliert  der  Schatten  sehr  auf- 
fallend an  Schwärze,  auch  wird  der  weiße  Grund  deutlich  heller;  aber  der 
Farbenunterschied  zwischen  dem  Schatten  und  seiner  Umgebung  ist  jetzt 
bedeutend  kleiner  als  anfangs,  obwohl  die  Schattenstelle  und  ihre  Umgebung 
einen  gleichgroßen  Zuwuchs  an  Lichtstärke  erfahren  haben  und  also  die 
Differenz  ihrer  Lichtstärken  die  gleiche  geblieben  ist.  Das  beschriebene 
Verhalten  wiederholt  sich  in  schwächerem  Maße,  wenn  man  eine  dritte 
Flamme  freigiebt,  in  noch  schwächerem,  wenn  auch  das  Licht  der  vierten 


7ß  Lehre  vom  Lichtsinn, 

Flamme  zugelassen  wird  u.  s.  w.  Der  Unterschied  des  Schaltens  von  seiner 
Umgebung  wird  also  dabei  immer  geringer.  Wenn  man  schließlich  einen 
Fensterladen  öffnet  und  das  volle  Tageslicht  auf  den  Schirm  fallen  lässt, 
verschwindet  der  Schatten  gänzlich,  obwohl  auch  jetzt  noch  der  Unterschied 
zwischen  der  Lichtstärke  des  Schattenortes  und  seiner  Umgebung  derselbe 
ist,  wie  bei  Beginn  des  Versuches,  wo  nur  eine  Flamme  den  Schirm  be- 
leuchtete. Durch  Wiederverschluss  des  Fensterladens  und  folgCAveise  Aus- 
schaltung der  einzelnen  Flammen  lässt  sich  der  Versuch  in  umgekehrter 
Richtung  wiederholen  und  der  wieder  w^achsende  Unterschied  des  Schattens 
von  seiner  Umgebung  beobachten. 

Der  Versuch  zeigt  also,  dass  hier  bei  gleichbleibendem  Unterschiede 
der  Lichtstärke  zweier  Teile  der  Schirmfläche  die  Farbenverschiedenheit 
derselben  um  so  kleiner  ist,  je  grüßer  die  beiden  Lichtstärken  sind.  Jede 
neuhinzukommende  Lichtquelle  erteilt  der  Schattenstelle  für  das  Auge  einen 
größeren  Helligkeitszuwuchs  als  der  umgebenden  Schirmfläche.  Dement- 
sprechend holt  die  in  größeren  Sprüngen  wachsende  Helligkeit  der 
Schattenstelle  die  in  kleineren  Sprüngen  wachsende  der  Umgebung  schließ- 
hch  ein,  und  beide  werden  gleich,  während  die  Sprünge,  welche  dabei  die 
Lichtstärken  machten,  auf  der  Schattenstelle  stets  dieselben  waren  wie 
auf  deren  Umgebung. 

Wenn  eine  bei  hellem  Tage  angezündete  Straßenlaterne  keine  Schatten 
erzeugt,  w^enn  die  Sterne  tagsüber  auch  bei  klarstem  Himmel  unsichtbar 
sind,  obwohl  sich  ihr  Licht  zum  Lichte  der  »Himmelsfläche«  bei  Tage 
ebenso  addiert  wie  während  der  Abend-  oder  Nachtdämmerung,  und  also 
der  Intensitätsunterschied  zwischen  dem  Lichte  eines  Sternortes  und  dem 
Lichte  seiner  Umgebung  derselbe  bleibt:  so  beweisen  diese  und  analoge 
Thatsachen  zwar  ebenso  wie  der  beschriebene  Versuch,  dass  hier  gleich- 
großen Differenzen  der  Lichtstärken  zweier  Außendinge  nicht  auch  gleich- 
große Helligkeitsverschiedenheiten  der  bezüglichen  Sehdinge  entsprechen, 
aber  alle  solche  Thatsachen  schließen  nicht  ohne  weiteres  die  Möglichkeit 
aus,  dass  letzteres  doch  der  Fall  sein  würde,  wenn  die  hier  unvermeidlich 
gewesenen  Änderungen  des  Anpassungszustandes  der  Augen  ausgeschlossen 
wären. 

Zu  diesen  Änderungen  gehört  zunächst  das  Pupillenspiel.  Wenn  z.  B. 
der  Durchmesser  der  Pupillen  bei  der  Betrachtung  des  lichtstarken  Tag- 
himmels nur  2,  bei  Betrachtung  des  Nachthimmels  aber  6  mm  betrüge,  und 
die  Pupillenfläche  also  letzterenfalls  9  mal  größer  wäre  als  ersterenfalls,  so 
würde  bei  Nacht  im  Netzhautbilde  die  Differenz  zwischen  den  Lichtstärken 
eines  Sternortes  und  seiner  Umgebung  9  mal  so  groß  sein  als  bei  Tage, 
auch  wenn  sie  am  Himmel  selbst,  photometrisch  genommen,  bei  Nacht 
nicht  größer  wäre  als  bei  Tage.  Denn  durch  die  Erweiterung  der  Pupille 
wird  zwar  das  Verhältnis  der  Lichtstärken   zweier   Teile   des  Netzhaut- 


§  19.    Lichtstärkenunterschied  und  Helligkeitsunterschied.  77 

bildes  nicht  geändert,  wohl  aber  ihre  Differenz  proportional  mit  der  Zu- 
nahme der  Pupillenfläche  vergrößert.  Einem  9  mal  größeren  Unterschiede 
der  Lichtstärken  müsste  aber  nach  der  oben  zurückgewiesenen  Hypothese 
ein  entsprechend  größerer  Helligkeitsunterschied  entsprechen.  Somit  könnte 
ein  bei  kleiner  Pupille  untermerklicher  Unterschied  bei  großer  Pupille  sehr 
merklich  werden. 

Wenn  nun  auch  zweifellos  die  Unsichtbarkeit  eines  Sternes  am  Tag- 
himmel  im  wesentlichen  nicht  darauf  beruht,  dass  dabei  die  Pupille  viel 
enger  ist  als  bei  Nacht,  so  zeigt  doch  dieser  Fall  besonders  deutlich,  wie 
notwendig  es  bei  allen  hier  in  Betracht  kommenden  Beobachtungen  eigent- 
lich wäre,  den  Einfluss  der  durch  die  veränderte  Lichtstärke  des  Gesichts- 
feldes bedingten  Pupillenänderung  auszuschließen.  Thut  man  dies,  indem 
man  dicht  vor  das  Auge  ein  kleines  Diaphragma  setzt,  dessen  Öffnung 
kleiner  ist,  als  unter  den  gegebenen  Umständen  der  Durchmesser  der  Pupille 
werden  kann,  so  ändert  sich  freilich  an  den  besprochenen  Erscheinungen 
nichts  hier  wesentliches. 

Viel  stärker  fällt,  um  zunächst  bei  den  Sternen  zu  bleiben,  folgendes 
ins  Gewicht:  Wer  wie  Fechner,  Helmholtz  und  ihre  Nachfolger  (vgl.  die 
Lehr-  und  Handbücher  der  Physiologie)  annimmt,  dass  bei  gleichem  Reize 
die  Stärke  der  »Erregung«  des  Auges  seiner  »Erregbarkeit«  beiläufig  pro- 
portional ist,  hat  zu  bedenken,  dass  dann  die  Änderungen  der  Erregbarkeit 
auf  die  Unterschiede  der  Erregungsstärken  einen  ganz  analogen  Einfluss 
haben  w^ürden,  wie  die  Änderungen  der  Pupille  auf  die  Unterschiede  der 
Lichtstärken  im  Netzhautbilde,  d.  h.  einer  z.  B.  10 mal  größeren  Erregbarkeit 
würden,  wenn  alles  übrige  gleichbleibt,  10 mal  größere  Unterschiede  der 
Erregungsstärken  entsprechen.  Setzen  wir  einmal  die  Erregbarkeit  bei 
Tage  =1,  die  Lichtstärke  der  Himmelsfläche  =200  und  den  Zuwuchs 
an  Lichtstärke,  welcher  durch  einen  bestimmten  Stern  für  seinen  Ort  an 
der  Himmelsfläche  bedingt  ist,  =:  1 ,  so  würden  die  beiden,  den  Lichtstärken 
200  und  201  entsprechenden  Erregungsstärken  ebenfalls  =  200  und  201, 
und  ihr  Unterschied  =  1  zu  setzen  sein.  Wäre  dann  die  Dämmerung 
soweit  fortgeschritten,  dass  die  Lichtstärke  der  Himmelsfläche  nur  noch  =  5, 
die  Erregbarkeit  aber  unterdessen  10  mal  größer  geworden  wäre,  so  wäre 
die  der  Himmelsfläche  entsprechende  Erregung  =50,  die  dem  Sternorte 
entsprechende  =60  und  der  Unterschied  beider  =  10,  also  lOmal  größer 
als  bei  Tage.  Dann  wäre  aber  die  Annahme  die  nächstliegende,  dass  dem 
größeren  Erregungsunterschied  auch  ein  größerer  Helligkeitsunterschied  ent- 
spricht, und  dass  die  Unsichtbarkeit  der  Sterne  bei  Tage  auf  dem  zu  kleinen 
absoluten  Unterschiede  der  beiden  bezüglichen  »Erregungen«  beruht. 

Es  war  also  kein  glücklicher  Griff,  wenn  Feconer  (12,  L  S.  142)  die 
Unsichtbarkeit  der  Sterne  bei  Tage  als  einen  guten  Beweis  dafür  anführte, 
dass   für  die  Helligkeitsunterschiede  im  Sehfelde  nicht   die  Unterschiede, 


78  Lehre  vom  Lichtsinn. 

sondern   die  Verhältnisse   der  bezüghchen  Erregungsstärken   das  Maß- 
gebende seien. 

Was  soeben  an  einem  extremen  Beispiele  erörtert  wurde,  gilt  mehr  oder 
minder  auch  von  den  anderen  oben  erw^ähnten  Thatsachen.  Denn  bei  allen 
kommt  infolge  veränderter  Gesamtbeleuchtung  eine  Veränderung  des  An- 
passungszustandes und  der  »Erregbarkeit«  in  Betracht.  Je  länger  z.  B.  bei 
dem  Versuche  mit  dem  schattenwerfenden  Stabe  die  Zeit  zwischen  dem 
Freigeben  der  einen  und  der  nächstfolgenden  Flamme  ist,  desto  besser  wird 
sich  unterdessen  das  Auge  für  die  bereits  gesteigerte  Beleuchtung  successiv 
angepasst  haben,  so  dass  jede  neu  hinzukommende  Flamme  das  Auge  in 
einem  anderen  Anpassungszustande  findet,  als  die  vorhergehende.  Sind  die 
Zwischenzeiten  zu  kurz,  als  dass  solche  Successivanpassung  wesentlich  in 
Betracht  kommen  kann,  so  wird  doch  die  allgemeine  Steigerung  der  Be- 
leuchtung, wie  sie  durch  jede  neue  Kerzenflamme  bedingt  ist,  von  der  ent- 
sprechenden simultanen,  auf  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  beruhenden 
Anpassung  begleitet  sein  und  die  Lichtempfindlichkeit  dadurch  sofort  weiter 
herabgesetzt  werden. 

Gleichviel  wie  man  sich  diese  thatsächlich  eintretenden  Änderungen 
der  Lichtempfindlichkeit  erklären  will,  es  bleibt  sicher,  dass,  wer  die  Art 
der  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  denen  der  Lichtstärke 
untersuchen  will,  in  erster  Linie,  soweit  irgend  möglich,  dafür  zu  sorgen 
hat,  dass  das  Sinnesorgan,  dessen  Reaktionen  auf  die  verschie- 
denen Lichtstärken  zu  vergleichen  sind,  sich  nicht  in  der  Zeit 
von  einer  Reaktion  zur  anderen  irgend  wesentlich  verändert 
hat,  sondern  dass  sämtliche  zur  Anwendung  kommenden  Lichtstärken  das 
Organ  in  demselben  Zustande  treffen.  Thut  er  dies  nicht,  so  gleicht  er 
einem  Manne,  welcher  Messungen  mit  einem  Thermometer  machen  will, 
dessen  lockere  Skala  sich  gegen  die  Quecksilbersäule  in  nicht  kontrollierter 
oder  gar  nicht  kontrollierbarer  Weise  in  der  Zeit  von  einer  Ablesung  zur 
anderen  verschiebt. 

Alle  Beobachtungen  also,  bei  denen  sich  die  Gesamtbeleuch- 
tung in  der  Zeit  von  einer  Beobachtung  zur  anderen  geändert 
hat,  sind  zur  Entscheidung  der  hier  besprochenen  Frage  nicht 
einwandsfrei  bezw.  gar  nicht  verwendbar.  Bei  den  folgenden  Be- 
obachtungen oder  Versuchen  sind  nun  die  eben  erwähnten  Einwendungen 
ausgeschlossen. 

Hinter  der  Flamme  eines  Bunsenbrenners  befinde  sich  ein  zur  rechten 
Hälfte  weißer,  zur  linken  Hälfte  schwarzer  Kartonstreifen:  sobald  man  nach 
der  Flamme  blickt,  sieht  man  dieselbe,  soweit  sie  vor  dem  schwarzen 
Grunde  erscheint,  hell,  während  sie  vor  dem  weißen  Grunde  kaum  oder 
gar  nicht  sichtbar  ist. 

Hinter   die   große  Flamme   einer  Spiritus-Dochtlampe   bringe   man  ein 


§  11'.     Lichlstärkenunterschied  und  Helligkeitsunterschied.  79 

steifes  weißes  oder  graues  Papier,  auf  welches  ein  schmales  Stück  belegten 
Spiegelglases  geklebt  ist;  die  Ebene  des  Papieres  mit  dem  Spiegel  sei  so 
gewählt,  dass  sich  in  letzterem  für  das  Auge  des  Beobachters  ein  Stück 
des  gleichmäßig  hellen  Himmels  spiegelt:  soweit  die  Flamme  vor  dem 
Spiegel  liegt,  ist  sie  unsichtbar,  vor  dem  grauen  oder  weißen  Papier  aber 
erscheint  sie  leuchtend. 

Hätte  man  vollends  bei  diesen  Versuchen  vor  jeder  Beobachtung 
zwischen  sich  und  die  Flamme  einen  geichmäßig  grauen  Schirm  zureichend 
lange  gehalten  und  die  Augen  schon  vor  der  Entfernung  des  Schirmes 
passend  gerichtet,  so  würden  selbst  für  einen  peinlichen  Kritiker  die  oben 
erhobenen  Bedenken  beseitigt  sein. 

Eine  kleine  möglichst  dünne  unbelegte  Spiegelglasplatte  (z.  B.  ein  ge- 
schliffenes Deckglas)  sei  so  gegen  ein  Fenster  geneigt,  dass  sich  in  ihr  für 
den  Beobachter  ein  Teil  der  gleichmäßig  hellen  Himmelsfläche  spiegelt,  wenn 
er  auf  ein  hinter  bezw.  unter  dem  Glase  in  passender  Entfernung  befind- 
liches und  zureichend  beleuchtetes  bedrucktes  Blatt  blickt.  Auf  dem  Teile  des 
Blattes,  wo  sich  das  gespiegelte  Himmelslicht  zu  dem  von  dem  Papier  und 
seinen  Buchstaben  kommenden  Lichte  addiert,  sieht  der  Beobachter  die 
Buchstaben  weniger  von  dem  weißen  Grunde  abstechen,  sie  sind  ihm  minder 
deutlich,  und  w^enn  die  Schrift  zureichend  klein  bezw.  das  zugespiegelte 
Licht  zureichend  stark  ist,  gar  nicht  mehr  lesbar.  Da  wie  gesagt  bei 
gleicher  Schärfe  des  Netzhautbildes  sowie  gleicher  Form  und  Grüße  der 
Buchstaben  die  Deutlichkeit  einer  Schrift  lediglich  von  der  Grüße  des  Unter- 
schiedes der  Farbe  abhängt,  in  welcher  einerseits  die  Buchstaben,  anderer- 
seits deren  Umgebung  erscheinen,  so  haben  wir  in  der  größeren  oder 
geringeren  Deutlichkeit  der  Schrift  zugleich  ein  Merkmal  für  den  grüßeren 
oder  kleineren  Betrag  dieses  Unterschiedes. 

Die  Methode  der  Lichtzuspiegelung  eignet  sich  überhaupt  ganz  vorzüg- 
lich zur  Untersuchung  der  Beziehungen  zwischen  den  Intensitätsverschieden- 
heiten des  Lichtes  und  den  korrelativen  Helligkeitsunterschieden  im  Seh- 
felde. Lässt  man  einen  weißen  Papierschirm  sich  an  einer  unbelegten  Spiegel- 
glasplatte spiegeln,  so  kann  man  durch  Verstärkung  oder  Abschwächung 
der  den  Schirm  beleuchtenden  Lichtquelle  oder  durch  Änderung  des  Winkels, 
welchen  die  Schirmfläche  mit  der  Einfallsrichtung  des  sie  treffenden  Himmels- 
lichtes bildet,  die  Mengen  des  dem  Auge  zugespiegelten  Lichtes  in  fein  ab- 
gestufter Weise  abändern;  andererseits  kann  man  durch  passende  Einrich- 
tungen ganz  unabhängig  von  der  Menge  des  zugespiegelten  Lichtes  die 
Beleuchtung  der  durch  die  Glasplatte  beobachteten  Schrift,  Photographie, 
oder  was  sonst  benutzt  wird,  verstärken  oder  abschwächen.  Dass  man 
beim  Blicken  durch  die  Glasplatte  eigentlich  zwei,  ein  wenig  gegeneinander 
verschobene  Bilder  der  gespiegelten  Fläche  erhält,  ist  für  die  meisten  hier 
in  Betracht  kommenden  Versuche  ganz  unwesentlich. 


80 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Man  überklebe  die  eine  Hälfte  einer  Glastafel  mit  einer  Skala  tonfreier 
Papiere,  die  andere  Hälfte  teils  mit  tiefschwarzem,  teils  mit  unmittelbar 
angrenzendem  schwarzgrauen  Papier  in  der  Weise,  wie  es  Fig.  13  zeigt, 
und  stelle  auf  die  Grenzlinie  [GG]  der  beiden  Hälften  ein  vertikales  unbelegtes 
Spiegelglas  von   der  Größe   der  ersterwähnten  Glastafel.     Blickt  man  dann 

durch  das  Spiegelglas  auf 
die  Skala,  so  sieht  man  im 
allgemeinen  den  von  dem 
Spiegelglase  entfernteren 
Teil  der  Skala,  auf  welchen 
das  Spiegelbild  des  schwarz- 
grauen  Papieres  fallt,  heller 
als  den  dem  Spiegelglase 
näheren     Teil,     und     der 

Helligkeitsunterschied 
beider  Teile  einer  Stufe  ist 
um  so  deutlicher  (größer), 
je  lichtschwächer  die  be- 
zügliche Stufe  ist.  Bei 
gleichbleibendem  Standort 
des  Körpers  vor  dem  Appa- 
rate sind  diese  Helligkeits- 
unterschiede um  so  größer, 
je  höher  sich  die  Augen 
über  der  Ebene  der  Skala 
befinden,  und  wenn  man  den  immer  aufrecht  gehaltenen  Kopf  durch 
zunehmende  Kniebeugung  abwärts  bewegt,  so  w^erden  die  Helligkeitsunter- 
schiede immer  kleiner  und  zuerst  auf  der  lichtstärksten  Stufe  der  Skala, 
dann  auf  der  nächst  unteren  u.  s.  f.  unmerklich,  obwohl  der  Lichtstärken- 
unterschied auf  allen  Stufen  der  Skala  derselbe  ist,  von  einem  kleinen  hier 
nicht  in  Betracht  kommenden  Fehler  abgesehen. 

Will  man  diesen  kleinen  Fehler  vermeiden  und  zugleich  in  strengster  Weise 
für  immer  gleichen  Anpassungszustand  der  Augen  sorgen,  so  befestigt  man  die 
Spiegelglasplatte  an  einem  Träger  derart,  dass  ihr  unterer  Rand  das  Papier 
nicht  berührt,  sondern  einige  Millimeter  über  demselben  liegt.  Sodann  schiebt 
man  zwei  ganz  gleiche,  große  und  steife  graue  Blätter  von  links  und  rechts  her 
über  die  Papierfläche,  bis  ihre  parallelen  Ränder  in  dem  Punkte  zusammentreffen, 
auf  den  man  bei  der  nachher  anzustellenden  Beobachtung  den  BHck  richten  will. 
Nachdem  man  dann  längere  Zeit  hindurch  die  graue  Fläche  der  Blätter  zwang- 
los betrachtet  hat,  fixiert  man  jenen  Punkt  und  zieht  sofort  die  beiden  Blätter 
mit  mäßiger  Geschwindigkeit  nach  rechts  und  links  zur  Seite.  Dann  ist  man 
sicher,  dass  die  Netzhautstelle,  mit  der  man  beobachtet,  vor  jeder  Einzel- 
beobachtung immer  wieder  unter  derselben  Lichtwirkung  gestanden  hat.  Durch 
quere  Verschiebung  der  unteren  Glasplatte  lässt  sich  dann  auch  vor  jeder  Einzel- 


§  20.    Lichtstärkenverhältnis  und  Helligkeitsunterschied.  81 

beobachtung    bei   unveränderter  Kopflage    eine    andere  Stufe  der  Skala  an  den- 
selben Beobachtungsort  bringen. 

Wo  immer  ein  Spiegelbild  auf  einer  teils  lichtschwächeren,  teils  licht- 
stärkeren Fläche  gesehen  wird,  tritt  es  auf  der  ersteren  deutlicher  hervor 
als  auf  der  letzteren,  auch  wenn  die  durch  das  Spiegelbild  bedingten  Licht- 
zuwüchse auf  beiden  Teilen  der  Fläche  ganz  gleich  groß  sind.  Jede  Spiegel- 
glasscheibe eines  Schaufensters,  jeder  Flügel  eines  nach  innen  geöffneten 
Fensters  giebt  Gelegenheit  dies  zu  bestätigen. 

Das  Ergebnis  aller  derartigen  Versuche  ist  also,  dass  auch  bei  unver- 
ändertem Anpassungszustande  des  Auges  gleichen  Unterschieden  der  Licht- 
stärken nicht  auch  gleich  deutliche  Helligkeitsunterschiede  entsprechen, 
sondern  dass  die  letzteren  um  so  weniger  auffällig  sind,  je  größer  bei 
gleichbleibenden  Unterschieden  die  Lichtstärken  sind. 

Neuerdings  hat  Petri^x  auf  Grund  einer  sorgfältigen,  mit  Sv.  Johansson 
ausgeführten  Untersuchung  angegeben  (17,  S.  86),  »dass  die  Größe  des  eben 
merklichen  Unterschiedes  bei  derjenigen  Intensität  der  Reize,  welche  ein  weißes, 
von  diffusem  Tageslichte  voll  beleuchtetes  Papier  besitzt,  etwa  dieselbe  ist,  wie 
bei  einer  3 3 mal  geringeren  Intensität«.  Es  muss  besonders  hervorgehoben 
werden,  dass  bei  dieser  Untersuchung  dafür  gesorgt  war,  das  Auge  vor  jeder 
Einzelbeobachtung  wieder  möglichst  genau  in  denselben  Anpassungszustand  zu 
bringen.  Hätte  das  angegebene,  in  durchaus  zuverlässiger  Weise,  aber  unter 
besonderen ,  ungewöhnlichen  Umständen  gewonnene  Ergebnis  eine  allgemeine 
Gültigkeit,  so  müsste  z.  B.  bei  dem  soeben  besprochenen  Spiegelungsversuch  der 
durch  das  zugespiegelte  Licht  erzeugte  Helligkeitsunterschied  auf  den  licht- 
schwächsten Stufen  der  Skala  ebenso  deutlich  sein,  wie  auf  den  lichtstärksten, 
und  auch  auf  beiden  gleichzeitig  eben  merklich  bezw.  eben  unmerklich  werden, 
was  jedoch  nicht  entfernt  der  Fall  ist.  Petrin  und  Johansson  vermehrten  oder 
verminderten  auf  einer  sehr  kleinen  runden  Stelle  (von  nur  50'  Gesichtswinkel) 
einer  großen  gleichmäßig  grauen  Fläche  ganz  plötzlich  und  nur  für  Ys  Sekunde 
die  Lichtstärke  und  zwar  auf  der  einen  Hälfte  der  Stelle  stärker  als  auf  der 
anderen,  so  dass  also  die  Lichtstärken  beider  Hälften  verschieden  wurden.  Der 
kleinste  dabei  noch  merkliche  Unterschied  dieser  beiden  Lichtstärken  wurde  be- 
stimmt. Sie  fanden  ihn  beiläufig  ebenso  groß,  wenn  die  Lichtstärken  der  beiden 
etwas  verschiedenen  Hälften  des  kleinen  Kreisfeldes  der  Lichtstärke  eines  weißen 
Papieres  ganz  nahe  kamen,  wie  wenn  sie  3 3  mal  geringer  waren  und  also  der 
eines  schwarz  erscheinenden  Papieres  beiläufig  entsprachen.  Wie  dieses  Ergebnis 
aus  den  besonderen  Versuchsbedingungen  zu  erklären  ist,  wird  sich  weiterhin 
herausstellen. 

§  20.  Entsprechen  gleichen  Verhältnissen  der  Lichtstärken 
der  wirklichen  Dinge  gleichgroße  Helligkeitsunterschiede  der 
Seh  dinge?  Eine  zweite  naheliegende  Hypothese  über  die  Beziehungen 
zwischen  den  Unterschieden  der  Lichtstärken  und  den  Unterschieden  der 
korrelativen  Farben  (Helligkeiten)  ist  die,  dass  gleichgroßem  Unterschiede 
der    letzteren    dasselbe    Verhältnis    der    Lichtstärken    entspreche.      Nahe 

Hering,  Lichtsinn.  6 


g2  Lehre  vom  Lichtsinn. 

liegend  ist  diese  Annahme,  weil  bei  Änderungen  der  allgemeinen  Beleuchtung 
zwar  die  Unterschiede  der  Lichtstärken  der  Einzelteile  des  Gesichtsfeldes 
sich  proportional  der  Zu-  oder  Abnahme  der  Beleuchtungsstärke  ändern, 
die  Verhältnisse  der  Lichtstärken  aber  dieselben  bleiben,  und  man  es 
zweckmäßig  linden  kann,  wenn  auf  diese  Weise  die  Deutlichkeit  des 
Sehens,  wenigstens  innerhalb  weiter  Grenzen,  von  den  Intensitätsänderungen 
der  allgemeinen  Beleuchtung  unabhängig  gemacht  wäre. 

Fechner  war  der  Ansicht,  dass  dieser  Hypothese,  abgesehen  von  mini- 
malen oder  übermäßig  großen  Lichtstärken  allgemeine  Gültigkeit  zukomme. 
Die  in  §  1  7  besprochenen  Thatsachen  haben  uns  jedoch  schon  gezeigt,  wie 
mit  der  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  die  Deutlichkeit  des  Sehens 
zu-  und  abnehmen  kann,  und  dass  also  hierbei  demselben  Verhältnis  je 
zweier  Lichtstärken  nicht  immer  derselbe  Unterschied  der  beiden  kor- 
relativen Helligkeiten  entspricht.  Wir  haben  ferner  in  §  18  erfahren, 
welch  großen  Einfluss  der  jeweilige  Anpassungszustand  des  Auges  auf 
die  Deutlichkeit  des  Sehens  hat.  Demnach  ist  jetzt  zu  prüfen ,  in- 
wieweit die  erwähnte  Annahme  für  den  Fall  unveränderter  Beleuchtung 
des  Gesichtsfeldes  und  bei  unverändertem  Anpassungszustande  des  Auges 
Geltung  hat. 

Haben  wir  ein  Gesichtsfeld  mit  konstanter  Beleuchtung  vor  uns  und 
lassen  innerhalb  eines  engeren  Bezirkes  unseren  Blick  umherwandern,  so 
bleibt  (abgesehen  von  ganz  besonderen  Fällen)  der  allgemeine  Anpassungs- 
zustand des  Auges  unverändert.  Wenn  also  dabei  die  zu  vergleichenden 
Helligkeitsunterschiede  bezw.  Lichtstärkenpaare  gleichzeitig  in  einem 
solchen  Bezirke  gegeben  sind  und  wir  unseren  Blick  abwechselnd  bald  dem 
einen,  bald  dem  anderen  Paare  zuwenden,  so  ist  der  Forderung  einer 
unveränderten  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  und  eines  gleichbleibenden 
allgemeinen  Anpassungszustandes  des  Gesamtauges  genügt.  Dann  lässt  sich 
nur  noch  verlangen,  dass  auch  der  besondere  somatische  Sehfeldbezirk, 
mit  welchem  man  beobachtet,  sich  vor  jeder  Einzelbeobachtung  wieder 
genau  in  demselben  Zustande  befinde.  Man  erreicht  auch  dies,  wenn  man 
zureichende  Pausen  zwischen  die  einzelnen  Beobachtungen  einschiebt  und 
während  der  Pausen  den  Blick  auf  einer  ganz  gleichartigen,  vorübergehend 
vor  das  Beobachtungsfeld  gebrachten  Fläche  von  passender  Lichtstärke 
ruhen  lässt  (vgl.  §  26). 

Schon  in  §  1 1  (S.  39)  wurde  erwähnt,  dass  zuerst  Plateau  versucht 
hat,  eine  Stufenreihe  tonfreier  Pigmentfarben  herzustellen,  in  welcher  je 
zwei  Nachbarstufen  beiläufig  gleich  stark  voneinander  abstachen  und  also 
gleichgroßen  Helligkeitsunterschied  zeigten.  Ähnliche  Versuche  hat  später 
Ebbinghaüs  (10,  S.  1006)  mit  besonderer  Sorgfalt  angestellt  und  zugleich  die 
Verhältnisse  der  Lichtstärken  bestimmt,  welche  zwischen  je  zwei  Nachbar- 
stufen seiner  achtstufigen  Reihe  bestanden.     Die  verschieden   pigmentierten 


§  20.    Lichtstärkenverhältnis  und  Helligkeitsunterschied.  83 

Papiere  ^)  kamen  als  Scheiben  von  2  cm  Durchmesser  auf  einem  möglichst 
lichtschwachen  Grunde  und  »bei  diffuser  Tagesbeleuchtung«  zur  Anwendung. 
Die  lichtstärkste  Scheibe  war,  wie  er  angiebt,  beiläufig  100  mal  lichtstärker 
als  die  lichtschwächste  2).  Als  Quotienten  der  beiden  Lichtstärken  je  zweier 
Nachbarstufen  der  Reihe  ergaben  sich,  von  der  lichtschwächsten  bis  zur 
lichtstärksten  fortschreitend,  folgende:  2.25;  2.M;  2.05;  1.77;  1.72; 
1.68;    1.98. 

Wüsste  man,  zwischen  welchen  Grenzen  die  Verhältnisse  der  Licht- 
stärken innerhalb  der  Reihe  sich  hätten  abändern  lassen,  ohne  dass  der 
Eindruck  der  Gleichwertigkeit  der  sieben  Helligkeitsunterschiede  verloren 
gegangen  wäre,  so  würde  der  Wert  obiger  Versuchsergebnisse  noch  wesent- 
lich größer  sein.  Aber  auch  ohne  dies  darf  man  aus  denselben  schließen, 
dass  unter  den  gegebenen  Bedingungen  gleichen  Helligkeitsunterschieden  mit 
viel  größerer  Annäherung  gleiche  Verhältnisse  der  Lichtstärken  ent- 
sprachen als  gleiche  Unterschiede  derselben. 

Denselben  Schluss  durfte  man  aus  den  Versuchsreihen  Delboeuf's  (8)  und 
den  sehr  sorgfältigen  Versuchen  von  Lehmann  und  Neiglick  (9)  ziehen,  bei 
welchen  es  galt,  zwischen  zwei  gegebenen  mehr  oder  minder  stark  ver- 
schiedenen Helligkeiten  die  mittle  Helligkeit  herzustellen  und  zugleich  die 
Verhältnisse  zwischen  den  drei  bezüglichen  Lichtstärken  zu  bestimmen. 
Die  solcher  mittlen  Helligkeit  entsprechende  Lichtstärke  lag  stets  der  mittlen 
Proportionalen  der  beiden  anderen  Lichtstärken  näher  als  dem  arith- 
metischen Mittel  derselben,  obwohl  die  Versuchsbedingungen  sehr  ver- 
schiedene waren. 

Schon  Fechner  hatte  die  von  den  Astronomen  ganz  unabhängig  von 
jeder  Messung  der  Lichtstärken  aufgestellte  Reihe  der  Sterngrößen  als  eine 
Skala  äquidifferenter  Helligkeiten  angenommen  und  aus  den  späteren  photo- 
metrischen Bestimmungen  der  Lichtstärken  der  einzelnen  Sterngrößen  ab- 
zuleiten versucht,  dass  zwischen  je  zwei  Nachbarstufen  in  der  Skala  der 
Sterngrößen  immer  wieder  dasselbe  Verhältnis  der  Lichtstärken  bestehe. 
Leider  aber  lässt  sich  bei  der  Schätzung  der  Sterngrößen  der  Einfluss  des 
Raumsinns  nicht  sicher  ausschließen,  wie  dies  schon  in  §  1 1  erörtert  wurde. 

Allen  diesen  Thatsachen  stehen  jedoch  andere  gegenüber,  aus  denen 
ein  gewaltiger  Einfluss  der  absoluten  Größe  eines  Lichlslärkenpaares  auf 
die  Deutlichkeit  seines  Helligkeitsunterschiedes  hervorgeht,  und  zwar  bei 
unveränderter  Pupille  und  gleichem  Stande  der  successiven  Adaptation. 

i)  Nach  einigen  Proben  zu  urteilen,  welche  ich  der  Güte  des  Herrn  Kollegen 
Ebbinghaus  verdanke,  waren  diese  Papiere  von  einer  kaum  zu  übertreffenden 
Vollkommenheit.  Dagegen  ließen  die  auf  meine  Veranlassung  fabrikmäßig  her- 
gestellten Serien  grauer  Papiere  leider  viel  zu  wünschen  übrig.  Zu  besonderen 
Zwecken  musste  ich  Helligkeitsskalen  auf  photographischem  Wege  herstellen  lassen. 

2)  Das  Remissionsvermögen  des  schwärzesten  Papieres,  welches  mir  zur 
Verfügung  stand,  verhielt  sich  zu  dem  des  weißesten  nur  wie  4 :  72. 

6* 


84  Lehre  vom  Lichtsinn. 

In  besonders  auffallender  Weise  zeigen  dies  folgende  Beobachtungen, 
welche  den  Helligkeitsunterschied  zwischen  einer  »weißen«  Papierfläche  und 
einer  darauf  befindlichen  » schwarzen «  Schrift  oder  Zeichnung  betreffen. 
Das  Verhältnis  der  beiden  hier  in  Betracht  kommenden  Lichtstärken,  des 
Papieres  einerseits  und  der  Buchstaben  andererseits,  durfte,  wie  in  §  6,  S.  1 4 
erwähnt  wurde,  beiläufig  gleich  15:1  geschätzt  werden.  Jedenfalls  bleibt 
das  Verhältnis  bei  allen  Beleuchtungsstärken  der  Papierfläche  dasselbe,  so- 
fern der  weiße  Grund  und  die  »schwarzen«  Buchstaben  oder  Striche  gleich 
matt  sind.  Es  müsste  deshalb,  wenn  ihre  Helligkeitsunterschiede  lediglich 
vom  Verhältnis  ihrer  Lichtstärken  abhingen,  auch  die  Deutlichkeit  der  Buch- 
staben oder  Striche  wenigstens  innerhalb  weiter  Grenzen  der  Beleuchtungs- 
stärke dieselbe  bleiben.     Dies  ist  jedoch  keineswegs  der  Fall. 

Wenn  man  ein  kleines  fein  schraffiertes  oder  mit  Perlschrift  bedrucktes 
Blatt  in  der  Mitte  knickt  und  so  vor  sich  hält,  dass  die  eine  Hälfte  einem 
Fenster  zugekehrt  ist,  dann  ist  diese  Hälfte  hchtstärker  als  die  andere, 
und  man  kann  das  Verhältnis  der  Lichtstärken  beider  Hälften  innerhalb 
weiter  Grenzen  abändern,  je  nachdem  man  den  Knickungswinkel  größer 
oder  kleiner  wählt,  oder  bei  gleichem  Winkel  die  Lage  der  Flächen  zur 
Einfallsrichtung  des  Lichtes  ändert,  oder  sich  mit  dem  Blatte  vom  Fenster 
entfernt  bezw.  demselben  nähert.  Vergleicht  man  nach  Befestigung  des 
Papieres  in  der  gewählten  Lage  die  eine  Hälfte  der  Schrift  mit  der  anderen, 
so  bemerkt  man  bei  irgend  erheblicher  Differenz  der  Lichtstärken  beider 
Hälften,  dass  die  auf  der  lichtstärkeren  sichtbare  Schraffierung  auf  der 
lichtschwächeren  unsichtbar  ist,  bezw.  dass,  wenn  die  Perlschrift  auf  der 
ersteren  eben  noch  lesbar  ist,  dies  auf  der  anderen  Hälfte  nicht  mehr  der 
Fall  ist.  Analoges  beobachtet  man,  wenn  man  die  eine  Hälfte  des  nicht 
geknickten  Blattes  auf  irgend  eine  Weise  beschattet. 

Noch  besser  ist  es,  einen  schmalen  Streifen  des  bedruckten  oder  fein 
schraffierten  hinreichend  steifen  und  nicht  glänzenden  Blattes  über  das  licht- 
freie Loch  eines  Dunkelkastens  (vgl.  §  16,  S.  65)  zu  brücken  und  durch 
ein  dazu  geeignetes  Polariphotometer  zu  betrachten.  Die  getrennt  neben- 
einander erscheinenden  Bilder,  welche  man  dabei  von  dem  einfachen  Ob- 
jekte erhalten  kann,  bieten  den  Vorteil,  dass  sie  abgesehen  von  der  ver- 
schiedenen Lichtstärke  ganz  identisch  sind,  daher  man  korrespondierende 
Stellen  derselben  in  bezug  auf  die  Deutlichkeit  der  Schrift  oder  der  Schraffie- 
rung miteinander  vergleichen  kann.  Zu  diesen  Beobachtungen  musste  ich 
jedoch  ein  Polariphotometer  benutzen,  in  welchem  das  doppelte  Bild  nicht 
wie  in  dem  früher  beschriebenen  (§  1 6,  S.  67)  durch  ein  doppeltbrechendes 
Prisma,  sondern  durch  einen  großen  Kalkspat  (von  nahezu  75  mm  Länge 
und  40  mm  Seitenlänge  seiner  Endflächen)  erzeugt  wurde;  denn  das  doppelt- 
brechende Prisma  gab  nicht  zwei  bei  gleicher  Lichtstärke  gleichscharfe 
Bilder. 


§  20.  Lichtstärkenverhältnis  und  Helligkeitsunterschied.  85 

War  der  Streifen  in  der  Nähe  des  Fensters  von  dem  hellen  weißlichen 
Himmel  beleuchtet,  so  sah  ich  eine  äußerst  feine  Schraffierung  auf  dem 
helleren  Bilde  noch  deutlich,  auf  dem  dunkleren  aber  nicht  mehr,  wenn 
der  Nicol  auf  30°  stand,  was  einem  Verhältnis  der  Lichtstärken  beider 
Bilder  gleich  ^'3  entspricht.  Aber  auch  bei  einem  Verhältnis  gleich  1/2 
gelang  es  mir  günstigenfalls  noch,  feinste  Einzelheiten  des  lichtstärkeren 
Bildes  zu  sehen,  die  im  lichtschwächeren  unkenntlich  waren.  Eine  sichere 
Grenze  lässt  sich  hier,  wie  bei  solchen  Grenzfällen  überhaupt,  nicht 
angeben. 

Beleuchtet  man  eine  kleine  Stelle  einer  schon  gut  beleuchteten  feineren 
Druckschrift  oder  dergl.  mit  Hilfe  eines  kleinen  Spiegelchens  noch  stärker 
oder  wirft  man  auf  die  Stelle  mittels  einer  Konvexlinse  den  Zerstreuungs- 
kreis einer  kleinen  Lichtquelle  und  entfernt  dann  das  Auge  so  weit,  dass 
die  Schrift  trotz  bester  Akkommodation  im  allgemeinen  eben  unleserlich 
wird,  so  ist  sie  auf  der  stärker  beleuchteten  Stelle  noch  lesbar. 

Absolut  größeren  Lichtstärken  entsprach  also  bei  diesen  Versuchen,  trotz 
ganz  gleich  bleibendem  Verhältnis  derselben  sowie  gleicher  Pupillenweite 
und  gleicher  Gesamtanpassung  des  Auges,  eine  größere  Deutlichkeit  der 
Helligkeitsunterschiede;  im  letzterwähnten  Falle  sogar  schon  dann,  wenn 
die  Lichtstärken  im  einen  Bilde  nur  dreimal  bezw.  sogar  nur  doppelt  so 
groß  waren,  als  im  anderen. 

Analoge  Ergebnisse  erhält  man  an  Diapositiven,  welche  ein  sehr  feines 
Detail  zeigen.  Hält  man  ein  solches  Diapositiv  in  passendem  Abstände  vor 
eine  gut  beleuchtete  halb  w^eiße  halb  graue  Fläche  von  z.  B.  Ys  der  Licht- 
stärke der  weißen,  oder  bringt  man  dicht  unter  die  eine  Hälfte  ein  dunkel- 
graues, unter  die  andere  ein  hellgraues  oder  ganz  ungefärbtes  Glas  und 
hält  das  Ganze  vor  eine  gleichmäßig  weiße  Fläche,  so  erkennt  man  auf 
der  heller  erscheinenden  Hälfte  des  Diapositivs  noch  feinere  Einzelheiten 
als  auf  der  anderen  Hälfte.  Um  einen  sicheren  Vergleich  zu  haben,  sucht 
man  sich  eine  bestimmte  besonders  geeignete  Stelle  des  Bildes  aus  und 
schiebt  dieselbe  bei  der  einen  Beobachtung  vor  den  weißen,  bei  der  nächsten 
vor  den  grauen  Hintergrund,  bezw.  schiebt  man  bald  das  dunklere,  bald 
das  hellere  Glas  unter  die  Stelle,  während  jetzt  der  Hintergrund  ganz  gleich- 
mäßig weiß  ist. 

Um  bei  allen  solchen  Versuchen  ganz  streng  der  Forderung  zu  genügen, 
dass  das  Auge  unmittelbar  vor  jeder  Beobachtung  sich  wieder  in  demselben 
Anpassungszustande  befinde,  kann  man  das  Sehobjekt  zwischen  je  zwei 
Einzelbeobachtungen  immer  wieder  durch  graue  Schirme  verdecken,  auf 
welchen  der  Blick  während  der  zureichend  langen  Pausen  der  Beobachtung 
zwanglos  zu  ruhen  hat.  Dass  die  Gesamtbeleuchtung  während  einer 
Beobachtungreihe  dieselbe  bleiben  soll ,  bedarf  kaum  wieder  der  Er- 
wähnung. 


86  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Fechner  giebt  (12,  I.  T.  S.  1  40)  an,  dass  ihm  »benachbarte  Wolkennuancen, 
die  nur  einen  spurweisen  Unterschied  für  das  Auge  darbieten«,  durch  graue 
Gläser,  die  nur  Y7  des  Lichtes  durchließen,  »mindestens  noch  ebenso  merkHch 
waren,  als  bei  freiem  Auge«.  Derartige  Versuche  sind  seitdem  öfters  angestellt 
worden,  teils  mit  analogem,  teils  mit  abweichendem  Ergebnis  (z.  B.  von  Helm- 
HOLTz).  Für  unseren  Zweck  sind  sie  unbrauchbar,  weil  dabei  die  Gesamt- 
beleuchtung der  Netzhaut  bedeutend  verändert  wird.  Fechner  bemerkt  selbst 
(12,  I.  T.  S.  144),  dass  er  »bei  Vornahme  oder  Wegnahme  der  Gläser  ein 
momentanes  Undeutlicherwerden  des  Unterschiedes  erfuhr,  was  jedoch  beidesfaJis 
schnell  vorüberging«.  Die  Zeit,  welche  nach  jedem  Beleuchtungswechsel  ver- 
fließen musste,  ehe  Fechner  den  fraglichen  Unterschied  wieder  bemerkte,  war 
eben  diejenige,  welche  das  Auge  brauchte,  um  sich  der  neuen  Beleuchtung  wieder 
zureichend  anzupassen. 

Dabei  will  ich  bemerken,  dass  mir  die  Helligkeitsunterschiede  auf  sehr  licht- 
starken weißen  Wolken  beim  Sehen  durch  ein  passendes  graues,  dicht  vor  das 
Auge  gehaltenes  Glas  deutlicher  sein  können  als  bei  freiem  Auge.  Die  optimale 
Beleuchtungsstärke  des  Gesichtsfeldes  (s.  §  18)  ist  letzterenfalls  für  mich  bereits 
überschritten.  Man  muss  bedenken,  dass  schon  eine  »graue«  Wolke  sehr  viel 
lichtstärker  ist  als  gleichzeitig  ein  in  der  Nähe  des  Fensters  befindliches  »weißes« 
Papier. 

Viel  besser,  doch  auch  nur  in  begrenzter  Weise,  stimmen  die  folgenden 
Beobachtungen  zu  der  hier  geprüften  Hypothese. 

Es  ist  schon  vielfach  untersucht  worden,  inwieweit  einem  nur  eben- 
merklichen Unterschiede  zweier  tonfreier  Farben  oder  Helligkeiten  ein  kon- 
stantes Verhältnis  der  beiden  korrelativen  Lichtstärken  entspricht.  Da  jedoch 
bei  diesen  Versuchen  nicht  dafür  gesorgt  war,  dass  der  Anpassungszustand 
unmittelbar  vor  jeder  Einzelbeobachtung  immer  wieder  derselbe  und  die 
Gesamtbeleuchtung  des  Auges  während  der  ganzen  Beobachtungsreihe  un- 
verändert war^),  so  sind  die  Ergebnisse  dieser  Versuche  für  die  uns  hier 
beschäftigende  Frage  nicht  ohne  weiteres  verwertbar.  Die  folgenden  Versuche 
aber  genügen  der  soeben  gestellten  Forderung  und  unterscheiden  sich 
von  jenen  älteren  insbesondere  dadurch,  dass  die  benutzten 
Lichtstärkenpaare  nicht  nacheinander,  sondern  nebeneinander 
im  Gesichtsfelde  gegeben  sind.  Dies  gestattet  eine  viel  raschere  und 
bequemere  Übersicht  über  die  beiläufigen  Grenzen,  innerhalb  deren  bei  der 
gewählten  Beleuchtung  der  Objekte  gleichen  Verhältnissen  ihrer  Lichtstärken 
gleich  merkliche  Helligkeitsverschiedenheiten  im  Sehfelde  entsprechen. 

Eine  4  cm  breite  und  1 8  cm  lange  Glasplatte  trägt  auf  ihrem  mittlen 
Teile  eine  z.  B.  sechsstufige  Skala  tonfreier  Farben,  bestehend  aus  ganz 
matten  15  mm  breiten  Papierstreifen,  einem  schwarzen  (Kreiselwert  6)  am 
einen,  einem  weißen  (Kreiselwert  360)  am  anderen  Ende  und  dazwischen 
vier  nach  ihrer  Lichtstärke  passend  abgestuften  grauen.  Die  Glasplatte  ist 
an   beiden  Seiten   scharf  abgeschliffen  und  ebenso  scharf  sind  die  Papier- 


1)  Eine  Ausnahme  machen  die  oben  (S.  81)  erwähnten  Versuche  von  Petren. 


§  20.  Lichtstärkenverhältnis  und  Helligkeitsunterschied.  87 

streifen  seitlich  abgeschnitten,  was  für  den  Versuch  von  besonderer  Wichtig- 
keit ist. 

Diese  möglichst  gut  vom  Himmelslicht  beleuchtete  Skala  wird  über  das 
Dunkelloch  eines  großen  Dunkelkastens  gebrückt  und  durch  das  mit  seiner 
Mitte  stets  senkrecht  über  die  Beobachtungsstelle  gebrachte  Polariphotometer 
betrachtet.  Dieses  ist  zur  Skala  so  orientiert,  dass  das  extraordinäre  Bild 
derselben  in  rechtwinklig  zum  Längsrande  der  Skala  gehender  Richtung 
verschoben  erscheint  und  zwar  z.  B.  um  die  Hälfte  der  Skalenbreite.  Hierbei 
decken  sich  also  die  beiden  Bilder  zur  Hälfte  und  man  sieht  drei  Skalen 
von  halber  Breite,  eine  mittlere  hellste  und  zwei  seitliche  minder  helle. 
Die  mittlere  hat  dieselbe  Lichtstärke  für  das  Auge,  wie  sie  die  bei  Null- 
stellung des  Nicol  einfach  gesehene  Skala  hat.  Die  Lichtstärken  aller  ein- 
zelnen Stufen  einer  seitlichen  Skala  haben  zu  den  Lichtstärken  der  ihnen 
entsprechenden  Stufen  der  mittleren  Skala  dasselbe  Verhältnis. 

Wäre  es  nun  richtig,  dass  der  Helligkeitsunterschied  je  zweier  Farben, 
bei  gleichem  Verhältnis  der  korrelativen  Lichtstärken  innerhalb  weiter 
Grenzen  unabhängig  von  der  absoluten  Größe  dieser  Lichtstärken  ist,  so 
müsste  der  Helligkeitsunterschied  zwischen  je  einer  Stufe  der  mittlen  Skala 
und  der  entsprechenden  unmittelbar  angrenzenden  Stufe  einer  seitlichen 
Skala  überall  gleich  groß  sein.  Solange  diese  Unterschiede  noch  leicht 
merklich  sind,  lässt  sich  meist  nur  sagen,  dass  sie  auf  den  dunkelsten 
Stufen  minder  auffallend  sind,  als  auf  den  übrigen.  Bringe  ich  aber  zwischen 
je  zwei  Beobachtungen  den  Nicol  seiner  Nullstellung  immer  näher,  so  wird 
auf  der  einen  Seite  der  Unterschied  zuerst  auf  der  dunkelsten  und  dann  auch 
auf  der  nächstfolgenden  Stufe  (Y20  der  Lichtstärke  des  Weiß),  zuweüen 
auch  noch  auf  der  zweitfolgenden  (1/9  der  Lichtstärke  des  Weiß)  unbemerk- 
bar, während  er  auf  den  übrigen  noch  merklich  ist.  Für  die  letzteren 
wage  ich  auf  Grund  meiner  mehr  beiläufig  angestellten  Beobachtungen 
vorerst  nicht  zu  sagen,  ob  der  Unterschied  auf  allen  gleichzeitig  unter- 
merklich wird  oder  vielleicht  auf  der  letzten  weißen  Stufe  etwas  eher  als 
auf  einer  minder  hellen.  Auf  einer  siebenstufigen,  photographisch  her- 
gestellten Skala,  deren  Endweiß  nur  15  mal  lichtstärker  war,  als  ihr  End- 
schwarz, verschwand  auf  den  5  helleren  Stufen  der  Unterschied  gleichzeitig, 
nur  auf  den  zwei  dunkelsten  etwas  früher. 

Ein  analoges  Ergebnis  liefert  folgender  Versuch.  Eine  beiläufig  6  cm 
breite  Skala  tonfreier,  15  mm  breiter  Papierstreifen  ist  auf  eine  kleine, 
die  Skala  oben  und  unten  überragende  Holzplatte  geklebt,  aus  deren  Längs- 
mittelteil ein  daumenbreiter  Streifen  (von  der  Länge  der  Skala)  ausgeschnitten 
ist.  Über  diese  Längslücke  laufen  die  Papierstreifen  frei  und  ganz  eben 
hinweg  und  jeder  hat  in  seiner  Mitte  ein  haarscharf  ausgeschlagenes  Loch 
von  2  mm  oder  4  mm  Durchmesser.  Die  Löcher  sind  fast  absolut  lichtlos, 
wenn  die  Skala  über  der  Öffnung  eines  tiefen  Dunkelkastens  (s.  §  1 6,  S.  65) 


88 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


liegt.  Durch  das  über  der  Skala  befindliche  Polariphotometer  betrachtet 
erscheinen  die  beiden  Bilder  der  Skala  genau  rechtwinklig  zum  Rande  der 
Skala  gegeneinander  verschoben  und  decken  sich  zum  größeren  Teile.  Man 
sieht  also  eine  breite  hellere  Skala  zwischen  zwei  schmäleren  lichtschwäche- 
ren, welche  letzteren  für  das  Folgende  nicht  weiter  in  Betracht  kommen. 
Auf  jeder  Stufe  der  ersteren  erscheinen,  als  doppeltes  Bild  des  bezüglichen 
Loches,  zwei  kleine  runde  dunkle  Flecke.  Ist  der  Nicol  auf  45°  eingestellt, 
so  hat  jedes  der  beiden  Lochbilder  die  halbe  Lichtstärke  seiner  Umgebung, 
dreht  man  ihn  aus  dieser  Lage  zurück,   so  wird  die  Lichtstärke  des  einen 

Lochbildes    vermehrt,    die  des  anderen   vermindert. 
^^S-^'*-  Bei   einer  gewissen  Annäherung  an  die  Nullstellung 

sieht  man  bereits,  dass  die  Lochbilder  der  einen 
Reihe  auf  den  dunkelsten  Stufen  der  Mittelskala 
minder  deutlich  sind,  als  auf  den  übrigen,  obwohl 
das  Verhältnis  zwischen  der  Lichtstärke  eines  Loch- 
bildes zur  Lichtstärke  seiner  Umgebung  auf  allen 
Stufen  der  Skala  dasselbe  ist.  Bei  weiterer  Annähe- 
rung an  die  Nullstellung  verschwand  stets  zuerst 
das  bezügliche  Lochbild  auf  der  dunkelsten  Stufe, 
sodann  auch  das  auf  der  nächsten  Stufe  (1/33  der 
Lichtstärke  des  Weiß),  während  die  übrigen  noch 
merklich  blieben.  Von  letzteren  gilt  wieder  das  beim 
vorigen  Versuche  Gesagte. 

Ganz  ähnliche  Ergebnisse  erhielt  ich  nach  fol- 
gender Methode.  Eine  von  tiefem  Schwarz  (Kreisel- 
wert 6)  bis  zum  besten  Weiß  (Kreiselwert  360) 
gehende,  wieder  sechsstufige  Skala  tonfreier  Papiere 
ist  auf  einer  Glasplatte  tadellos  aufgeklebt.  Vor 
dieser  vertikal  stehenden  und  in  vertikaler  Richtung 
verschiebbaren  Skala  steht  in  passendem  Abstände 
ein  vertikaler  mattschwarzer  Stab  aus  Holz  oder 
Metall,  dessen  Länge  und  Dicke  sich  nach  den  Dimen- 
sionen der  Skala  zu  richten  hat.  Eine  sehr  schmale, 
ebenfalls  lotrechte  Lichtquelle  erzeugt  auf  der,  von  einer  zweiten  viel  stärkeren 
Lichtquelle  gleichmäßig  beleuchteten  Skala  einen  durch  alle  Stufen  derselben 
verlaufenden  schmalen  Schatten  (vgl.  Fig.  1 4)  i).  Durch  Verkürzung  oder 
Verlängerung  der  schmalen  Lichtquelle  kann  die  Deutlichkeit  des  Schattens 
gemindert  oder  gemehrt  werden.  Hat  man  auf  diese  Weise  den  Schatten  auf 
irgend  einer  Stufe  der  Skala  eben  merklich  gemacht,  so  kann  man  zugleich 

i)  Die  Figur  U  ist  zwar  auf  photographischem  Wege  hergestellt,  kann  aber, 
wie  kaum  gesagt  zu  werden  braucht,  die  Verhältnisse  der  Lichtstärken  des  Originals 
nicht  genau  wiedergeben  und  soll  nur  zur  Erläuterung  der  Methode  dienen. 


§  20.   Lichtstärkenverhältnis  und  Helhgkeits unterschied.  89 

feststellen,  ob  und  inwieweit  er  auf  den  anderen  Stufen  sichtbar  ist.  Das 
Verhältnis  der  Lichtstärke  der  Schattenstelle  zur  Lichtstärke  ihrer  Umgebung 
ist  bei  sorgfältiger  Einrichtung  des  Versuchs  auf  allen  Stufen  der  Skala  das- 
selbe, aber  die  absoluten  Lichtstärken  sind  auf  jeder  Stufe  andere.  Um  sicher 
zu  sein,  dass  der  Teil  der  Skala,  auf  welchem  man  den  Schatten  eben  sieht 
oder  sucht,  stets  in  genau  derselben  Weise  beleuchtet  wird,  kann  man  die 
einzelnen  Stufen  durch  vertikale  Verschiebung  der  Skala  immer  an  genau 
denselben  Ort  bringen.  Ist  die  schmale  Lichtquelle  in  allen  ihren  Teilen 
gleich  lichtstark  und  der  Skala  zureichend  fern,  so  ist  diese  Vorsichts- 
maßregel überflüssig.  Als  die  kleinere  Lichtquelle  diente  mir  entweder  ein 
mit  Mattglas  gedeckter  schmaler  Spalt  in  einem  Fensterladen,  der  sich 
durch  einen  Schieber  beliebig  verkürzen  ließ,  oder  ein  im  elektrischen  Strome 
glühender  vertikaler  Platindraht,  von  welchem  eine  beliebig  lange  Strecke 
durch  ein  vertikal  verschiebbares  Schirmchen  abgeblendet  werden  konnte. 
Als  die  starke  Lichtquelle  diente  das  durch  ein  bzw.  zwei  Fenster  in  das 
weißgetünchte  Zimmer  fallende  Himmelslicht. 

Auch  hier  war  der  Schatten,  wenn  er  infolge  zunehmender  Verkleinerung 
der  kleinen  Lichtquelle  bereits  überall  nur  wenig  von  seiner  Umgebung  ab- 
stach, auf  den  schwarzen  und  schwarzgrauen  Stufen  der  Skala  entschieden 
minder  deutlich  als  auf  den  übrigen,  und  verschwand  auf  jenen  bereits, 
wenn  er  auf  den  übrigen  noch  schwach  merklich  war. 

Um  einige  denkbare  Fehlerquellen  auszuschließen,  habe  ich  die  Skala  auch 
horizontal  gestellt,  so  dass  der  Schatten  stets  nur  auf  eine  Stufe  der  Skala 
fiel  und  durch  Horizontalverschiebung  der  letzteren  auf  jede  beliebige  Stufe  ge- 
bracht werden  konnte,  ohne  seinen  Ort  zu  ändern.  Der  gleichzeitig  vom  Fenster 
erzeugte  sehr  diffuse  Schatten  lag  dabei  auf  einer  anderen  Stufe  und  kam  nicht 
weiter  in  Betracht.  Das  Versuchsergebnis  war  hierbei  dasselbe  wie  bei  verti- 
kaler Skala. 

Schon  längst  hat  man  zu  dem  gleichen  Zwecke  ebenmerkliche  Schatten  ver- 
wendet (vgl.  insbesondere  die  Litteratur  bei  Fechner  <2,  I.  Teil,  S.  Ml — 'ISI), 
aber  in  einer  ganz  anderen  Weise.  Es  wurden  dabei  zwei  Kerzenflammen  be- 
nutzt ;  die  eine,  um  dui'ch  Änderung  ihres  Abstandes  von  einer  weißen  Fläche  deren 
Lichtstärke  zu  variieren,  die  andere  entferntere,  um  den  Schatten  zu  erzeugen. 
Diese  Versuche  konnten  nicht  in  einem  beliebig  stark  beleuchteten  Zimmer  an- 
gestellt werden,  sondern  nur  in  einem  Dunkelzimmer,  und  man  änderte  dabei 
durch  die  Verschiebung  der  näheren  Flamme  immer  wieder  die  Lichtstärke  der 
weißen  Fläche  und  damit  auch  die  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  und  den 
Anpassungszustand  des  Auges.   — 

Die  obigen  Beobachtungen  zerfallen  in  mehrere  Gruppen.  In  der  ersten 
handelte  es  sich  um  die  Wahrnehmung  sehr  schmaler  lichtschwacher  Felder 
(Striche,  Buchstaben)  auf  einem  viel  lichtstärkeren  Grunde,  in  der  letzten 
um  die  Unterscheidung  größerer  Flecke  oder  Streifen  auf  einem  Grunde 
von  verhältnismäßig  wenig  verschiedener  Lichtstärke.  In  der  ersten 
Gruppe  ergab  sich  bei  gleichbleibendem  Verhältnis  der  Lichtstärken  ein  so 


90  Lehre  vom  Lichtsinn. 

bedeutender  Einfluss  der  Grüße  der  letzteren  auf  die  Deutlichkeit  der  Hellig- 
keitsunterschiede,  dass  zuweilen  schon  die  bloße  Verdoppelung  bezw. 
Halbierung  aller  Lichtstärken  genügte,  um  vorher  unmerkliche  Einzelheiten 
merklich,  bezw.  merklich  gewesene  unmerklich  zu  machen,  und  zwar  bei 
einer  Größe  dieser  Lichtstärken,  wie  sie  beim  gewöhnlichen  Sehen  einer 
gut  beleuchteten  Schrift  oder  Zeichnung  in  Betracht  kommen.  In  der  letzten 
Gruppe  zeigte  sich  die  Ebenmerklichkeit  eines  Unterschiedes  zweier  Licht- 
stärken bei  gleichbleibendem  Verhältnis  derselben  innerhalb  eines  weiteren 
Gebietes  der  Lichtstärken  von  deren  absoluter  Größe  unabhängig.  Dies 
könnte  freilich  zum  Teil  der  unvollkommenen  Homogenität  der  benutzten 
Papierflächen  zu  danken  sein.  Ein  äußerst  schwacher  Schatten,  der  auf 
einer  am  Kreisel  rotierenden  Papierfläche  noch  sichtbar  ist,  kann  unkennt- 
lich werden,  sobald  die  Scheibe  stillsteht  und  das  Korn  des  Papieres  merk- 
lich wird.  Ich  habe  deshalb  die  Skalen  auch  auf  rotierenden  Kreiselscheiben 
hergestellt,  doch  waren  die  Ergebnisse  im  wesentlichen  dieselben. 

Dass  die  Beobachtungen  an  sehr  feinen  Feldern  (Perlschriften,  Schraffie- 
rungen) zu  einem  ganz  andern  Ergebnis  führen,  als  die  Beobachtungen 
an  größeren  Feldern,  wird  sich  später  erklären.  Zunächst  galt  es  nur, 
in  möglichst  einfacher  Weise  die  fragliche  Hypothese  an  verschiedenen 
Stichproben  aus  der  unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit  der  Thatsachen  zu 
prüfen. 

Das  übereinstimmende  Ergebnis  aller  in  diesem  Paragraph  angeführten 
Thatsachen  ist,  dass  der  Satz,  nach  welchem  gleichen  Verhältnissen  der 
Lichtstärken  gleichgroße  Unterschiede  der  korrelativen  Helligkeiten  ent- 
sprechen sollten,  sich  bald  gar  nicht,  bald  nur  innerhalb  verhältnismäßig 
enger  Grenzen  der  jeweils  gegebenen  Lichtstärken  bestätigen  ließ,  wenn 
man  die  Änderungen  des  Sehorganes,  wie  sie  durch  allgemeine  Simultan- 
und  Successivanpassung  herbeigeführt  werden,  soviel  als  möglich  ausschloss. 
Doch  ist  nachdrücklich  zu  betonen,  dass  dieser  Satz  immerhin  der  Wahrheit 
sehr  viel  näher  kommt,  als  die  im  vorigen  Paragraph  besprochene  Annahme, 
nach  welcher  gleichen  Unterschieden  der  Lichtstärken  gleiche  Helligkeits- 
unterschiede entsprechen  würden. 

Absichtlich  habe  ich  überall  das  Hauptgewicht  nicht  auf  die  bloße 
Ebenmerklichkeit  der  Helligkeitsunterschiede,  sondern  auf  ihre  mehr  oder 
weniger  große  Deutlichkeit  überhaupt  gelegt,  denn  auf  letztere  kommt  es 
beim  gewöhnlichen  Sehen  im  wesentlichen  an ;  die  Ebenmerklichkeit  ist  nur 
der  besondere  Fall  des  Minimums  der  Deutlichkeit. 

Auch  habe  ich  vorerst  noch  keine  Rücksicht  darauf  genommen,  dass 
unter  sonst  gleichbleibenden  Umständen  die  Deutlichkeit  bezw.  Ebenmerk- 
lichkeit auch  von  der  benützten  Netzhautstelle,  sowie  davon  abhängig  ist, 
ob  und  wie  sich  das  Bild  auf  der  Netzhaut  bewegt,  entweder  infolge  von 
Augenbewegung  oder  einer  Bewegung  des  bezüglichen  Außenobjektes. 


§  21.   Zur  Theorie  der  Beziehung  zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit.      91 

Der  Thatsache,  dass  die  DeutHchkeit  des  Sehens  sowohl  dann  abnehmen 
kann,  wenn  die  Lichtstärken  über  ein  gewisses  Maß  hinaus-,  als  wenn  sie  unter 
ein  gewisses  Maß  hinabgehen,  hat  sich  selbstverständlich  auch  Fechner  nicht 
verschlossen.  Aber  gerade  deshalb  müsse  es,  so  meinte  er  (8,  I.  Teil,  S.  146), 
schon  aus  mathematischen  Gründen  ein  gewisses  Intervall  geben,  wo  die  Deut- 
lichkeit unverändert  bleibt.  »Nur  dass  sich  die  große  Ausdehnung  eines  solchen 
Intervalles  nicht  nach  bloß  mathematischem  Gesichtspunkte  voraussehen  ließ.« 
Diese  »große  Ausdehnung«  aber  schrumpft  sehr  zusammen,  wenn  man  die  von 
Fechner  nicht  beachteten  Fehlerquellen  zu  vermeiden  lernt. 

Für  Fechner  war  der  Satz,  nach  welchem  gleichen  Verhältnissen  je  zweier 
Lichtstärken  gleichgroße  Helligkeitsunterschiede  entsprechen  sollten,  ein  notwen- 
diger Folgesatz  seines  psjchophysischen  Grundgesetzes,  welches  ganz  allgemein 
für  alle  Beziehungen  zwischen  Physischem  und  Psychischem  gelten  sollte,  und 
also  auch  für  die  Beziehungen  zwischen  den  Größen  der  im  inneren  Auge  durch 
das  Licht  bewirkten  »Erregungen«,  die  den  Reizen  direkt  proportional  sein  sollten, 
und  den  »Empfmdungsstärken«,  als  welche  er  die  Helligkeiten  auffasste.  Jenes 
Grundgesetz  selbst  aber  war  nach  seiner  Ansicht  ebensowenig  erklärbar,  wie 
damals  nach  allgemeiner  Ansicht  das  Gravitationsgesetz  Newton 's,  mit  welchem 
es  Fechner  in  Parallele  stellte.  Nur  so  konnte  es  kommen,  dass  man  es 
weiterhin  als  etwas  SelbstverständUches  hinnahm,  so  oft  man  fand,  dass  Licht- 
stärkenpaaren von  gleichem  Verhältnis  beiläufig  gleiche  Helligkeitsunterschiede 
entsprachen,  und  nur  insoweit  nach  einer  Erklärung  suchte,  als  solches  nicht 
der  Fall  war. 

§  21.  Grundlegendes  zum  Verständnis  der  Beziehung  zwi- 
schen der  Helligkeit  der  tonfreien  Farbe  und  der  Lichtstärke 
des  Netzhautbildes.  Angeregt  durch  E.  H.  Weber's  Untersuchungen 
ȟber  die  kleinsten  Verschiedenheiten  der  Gewichte,  die  wir  mit  den  Tast- 
sinn, der  Länge  der  Linien,  die  wir  mit  dem  Gesicht,  und  der  Töne,  die 
wir  mit  dem  Gehöre  unterscheiden  können«  (18,  S.  546),  stellte  Fechner 
(12,  L  T.  S.  546)  den  Satz  auf,  »dass  die  Größe  des  Reizzuwuchses  gerade 
im  Verhältnisse  der  Größe  des  schon  zugewachsenen  Reizes  ferner  wachsen 
muss,  um  noch  dasselbe  für  das  Wachstum  der  Empfindung  zu  leisten«, 
oder  »dass  gleiche  relative  Reizzuwüchse  gleichen  Empfindungszuwüchsen 
entsprechen«,  und  nannte  diesen  Satz,  obwohl  ihn  Weber  nie  ausgesprochen 
hat,    das  WEBER'sche   Gesetz  i).     Angewendet  auf  die  Lichtempfindungen 


1)  E.H.Weber  glaubte  aus  seinen  Untersuchungen  schließen  zu  dürfen,  dass 
für  die  Unterscheidbarkeit  zweier  abwechselnd  gehobener  oder  auf  die  Hand  ge- 
setzter Gewichte,  sowie  zweier  nacheinander  betrachteter  Linien  nicht  der  Unter- 
schied, sondern  das  Verhältnis  derselben  maßgebend  sei.  Dass  gleichen  Ver- 
hältnissen zweier  Gewichte  oder  Linien  unabhängig  von  deren  Größe  gleichgroße 
Unterschiede  der  korrelativen  Empfindungen  entsprechen  sollen,  hat  er  nie  be- 
hauptet. Es  wäre  dies  auch,  wie  sich  betreffs  der  Linien  unmittelbar  versteht, 
eine  paradoxe  Behauptung  gewesen,  da  wir  offenbar  nicht  einmal  ein  ungleich- 
seitiges Dreieck  im  richtigen  Verhältnis  seiner  drei  Seiten  sehen  könnten,  wenn 
die  Längen  seiner  Seiten  für  die  optische  Wahrnehmung  dasselbe  Verhältnis  hätten, 
wie  die  Logarithmen  ihrer  wirklichen  Längen.  Für  die  Gewichte  liegt  die  Para- 
doxie  nicht  so  offen  zu  Tage,  ist  aber  im  Grunde  dieselbe  (5). 


92  Lehre  vom  Lichtsinn. 

besagte  dies  im  Sinne  J'echner's,  dass  gleichen  Verhältnissen  der  Reiz- 
stärken gleichgroße  Unterschiede  der  »Intensitäten«  der  korrelativen  Licht- 
empfindungen entsprächen,  oder  anders  ausgedrückt,  dass  die  »Intensi- 
tät der  Lichtempfmdung«  proportional  dem  Logarithmus  der  Reizstärke 
wüchse. 

Wenn  jedoch,  wie  in  §  9 — 1 1  dargelegt  wurde,  die  tonfreien  Farben 
nicht  als  bloße  Intensitätsstufen  einer  und  derselben  Empfindungsqualität, 
sondern  als  unter  sich  qualitativ  verschieden  zu  gelten  haben,  so  wird  da- 
durch für  die  Beziehungen  zwischen  den  Lichtstärken  des  Netzhautbildes 
und  den  korrelativen  Helligkeiten  im  psychischen  Sehfelde  eine  gänzlich 
veränderte  Grundlage  geschaffen.  Die  Möglichkeit  aber,  diese  Beziehungen 
zwischen  den  Farben  als  Qualitäten  und  den  Lichtstärken  als  Quantitäten 
rechnerisch  darzustellen,  ist  deshalb  gegeben,  weil  sich,  wie  in  §  10  ge- 
zeigt wurde,  die  Qualität  jeder  tonfreien  Farbe  durch  ein  bestimmtes  Ver- 
hältnis zweier  Variabein  ausdrücken  lässt,  aus  denen,  als  ihren  Kompo- 
nenten, die  Farbe  gleichsam  zusammengesetzt  ist.  Auf  diese  Weise  wird  die 
Qualität  der  tonfreien  Farbe  auf  eine  quantitative  Beziehung  zwischen  zwei 
Variabein  zurückgeführt  und  die  rechnerische  Behandlung  des  hier  vorlie- 
genden Problems  ermöglicht. 

Dachten  wir  uns  alle  tonfreien  Farben  auf  einer  endlichen  Geraden 
als  der  ideellen  Farbenlinie  nach  ihrer  Helligkeit  bezw.  Dunkelheit  so  ge- 
ordnet, dass  an  den  einen  Endpunkt  das  absolute  Schwarz,  an  den  anderen 
das  absolute  Weiß  zu  liegen  kam,  und  gleichen  Abständen  oder  Lageunter- 
schieden zweier  Farben  gleich  große  Verschiedenheiten  derselben  ent- 
sprachen, so  war  durch  das  Verhältnis  der  beiden  Komponenten  W  und  S 
einer  Farbe  zugleich  deren  Ort  auf  der  Farbenlinie  bestimmt  (vgl.  Fig.  2, 
S.  34).  Als  dieser  Ort  galt  uns  der  Punkt,  dessen  Abstand  vom  schwarzen 
Ende  der  Farbenlinie  sich  zum  Abstände  vom  weißen  Ende  ebenso  verhielt 
wie  W:S. 

Bis  dahin  erschien  die  Farbe  nur  durch  dieses  Verhältnis  charakterisiert. 
Wenn  wir  jedoch  in  einseitiger  Weise  nur  die  Weißlichkeit  oder  Helligkeit 
der  tonfreien  Farbe  in  Betracht  zogen,  so  konnten  wir  den  Abstand  ihres 
Ortes  vom  schwarzen  Endpunkte  der  Farbenlinie  als  ein  Maß  der  Hellig- 
keit der  Farbe  benutzen,  sofern  wir  diesen  Abstand  auf  die  gewählte  Länge 
der  ganzen  Farbenlinie  bezogen,  d.  h.  als  den  entsprechenden  Bruchteil 
dieser  Linie  nahmen.  Betrüge  also  z.  B.,  wie  in  Fig.  2  (S.  34),  der  Abstand 
des  Ortes  h  vom  schwarzen  Endpunkt  der  Farbenlinie  Vs  der  ganzen  Länge 
derselben  und  würden  wir  diese  Länge  ganz  beliebig  =  1  setzen,  so  wäre 
die  Helligkeit  der  dem  Punkt  h  entsprechenden  Farbe  ebenfalls  =  2/3. 
Setzen  wir  die  Länge  der  Farbenlinie  =100,  so  ließe  sich  die  Helligkeit 
jeder  Farbe  in  Prozenten  angeben.  Allgemein  gesagt:  Ist  W  der  Abstand 
des  Farbenortes  vom   schwarzen,   S   sein  Abstand  vom  weißen  Endpunkt 


§  21.    Zur  Theorie  der  Beziehung  zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit,      93 

der  Farbenlinie,  und  also  die  ganze  Länge  der  letzteren  =  W-\-Sj  so  ist 

W 
die  Weißlichkeit  oder  Helligkeit  der  bezüglichen  Farbe  =  -= — -  i). 

rV  -j—  o 

Die  Helligkeit  (bezw.  Dunkelheit)  einer  tonfreien  Farbe  lässt  sich  also 
auf  Grund  des  Verhältnisses  ihrer  Komponenten  ohne  Rücksicht  auf 
die  absolute  Grüße  der  letzteren  eindeutig  bezeichnen.  Bei  gleichem 
Verhältnis  der  Komponenten  kann  aber  die  Grüße  derselben  sehr  ver- 
schieden gedacht  werden,  und  es  erhebt  sich  die  Frage,  ob  einer  Farbe 
bei  unverändertem  Verhältnis  ihrer  Komponenten  und  also  unveränderter 
Qualität,  bald  diese  bald  jene  Grüße  der  Komponenten  eigen  sein  kann. 
Diese  Frage  wird  später  aus  einem  andern  Gesichtspunkte  nochmals  zu  er- 
heben sein,  wenn  wir  von  den  somatischen  Korrelaten  der  Farben  d.  h. 
von  den  physiologischen  Vorgängen  zu  handeln  haben  werden,  an  welche 
die  Farben  als  psychische  Phänomene  geknüpft  sind  (vgl.  §  24).  Hier 
müge  es  genügen,  darauf  hinzuweisen,  dass  sowohl  psychologische  als  psy- 
chophysiologische Überlegungen  dazu  nütigen,  einer  und  derselben  Farbe 
eine  verschieden  große  psychische  Bedeutung  zuzuerkennen,  je  nachdem  bei 
gleichem  Verhältnis  ihrer  Komponenten  der  Wert  der  letzteren  grüßer  oder 
kleiner  ist.  Ein  und  dieselbe  Farbe  kann,  wie  ich  einst  gesagt  habe  (4, 
§  29),    ein   sehr  verschiedenes  psychisches  Gewicht  haben.     Je  nachdem 


^ )  Wie  ich  erfahren  habe,  ist  diese  Art  der  Bezeichnung  der  Helligkeit  einigen 
Lesern  des  §  4  0  nicht  recht  verständlich  geworden.  Es  sei  mir  deshalb  gestattet, 
das  eigentlich  sehr  einfache  Prinzip  dieser  Bezeichnungsweise  an  einem,  dem 
praktischen  Leben  entnommenen  Beispiele  zu  erläutern. 

Messing  ist  ein  Gemisch  aus  Kupfer  [K)  und  Zink  {Z)  und  hat  je  nach  dem 
Verhältnis,  in  dem  dieselben  gemischt  sind,  eine  verschiedene  Qualität  (»Rot- 
messinge, »Gelbmessing«,  *Weißmessing«].  Zur  Bezeichnung  dieser  Qualität  kann 
man  entweder  das  Mischungsverhältnis  [K:Z)  benutzen  oder  aber  angeben,  wel- 
cher Bruchteil  des  Messings  aus  Kupfer,  bezw.  welcher  Bruchteil  aus  Zink  besteht, 
und  auf  diese  Weise  sozusagen  den  Grad  der  Kupfrigkeit  bezw.  der  Zinkigkeit  des 
Messings  ausdrücken.     Verhielte   sich  z.  B.  in  dem  Gemisch   K.Z=^Z:l,    oder 

TT'  q  q 

anders  gesagt,   wäre  ^  =  -—  ,  so  wäre  die  Kupfrigkeit  des  Gemisches  =  0,3 

Zi  1  3  -j-  7 

7 
und  seine  Zinkigkeit  =  0,7.    Ob  ich  den  einen  oder  anderen  Ausdruck  zur 

°  3  +  7  ' 

Bezeichnung  der  Qualität  wähle,   ist   gleichgültig  und   lediglich  Sache    der  Ver- 
einbarung. 

So  lässt  sich  denn  auch  die  Qualität  einer  tonfreien  Farbe,  in  der  sich 
die  weiße  zur  schwarzen  Komponente  wie   3  :  7  verhält,  durch  dieses  Verhältnis 

1-^  =  —  oder  7^  =  — )    ausdrücken.    Man  kann  aber  auch  den  Grad  der  Weiß- 

I      W               3     \ 
lichkeit  U— ö  =  ^ ^1  '    ^-  i-  ^^®  HelHgkeit,   zur  Bezeichnung  der  Farbe   be- 
nutzen,  darf  jedoch  dabei  nicht  vergessen,  dass  sich  dieselbe  Farbe  ebenso  gut 

durch  den  Grad  ihrer  Schwärzhchkeit  (  ,.  .    .^^  =  — ■ — |  ,    d.  i.    ihre    Dunkelheit, 

\Ä+  TF        3  -}-7/  '  ' 

bezeichnen  ließe. 


94  Lehre  vom  Lichtsinn. 

ihr  Gewicht  groß  oder  klein  ist,  sind  auch  ihre  Komponenten  entsprechend 
groß  oder  klein;  denn  das  Gewicht  einer  Farbe  ist  die  Summe  der  Ge- 
wichte der  Komponenten.  Während  vom  Verhältnis  der  Komponen- 
ten die  Qualität  der  Farbe  abhängt,  wird  die  Energie,  mit  wel- 
cher sie  sich  in  unser  Bewusstsein  drängt,  kurz  gesagt  die  Auf- 
oder Eindringlichkeit  der  Farbe  durch  das  Gewicht  derselben 
bestimmt.  Wollen  wir  also  eine  im  psychischen  Sehfelde  gegebene  ton- 
freie  Farbe  erschöpfend  bezeichnen,  so  dürfen  wir  uns  nicht  mit  der  An- 
gabe   des   Verhältnisses    ihrer    beiden    Komponenten    begnügen.     So    wäre 

W      3 
durch  die  Gleichung  -~  =  —  wohl  die  Qualität  bezw.  die  daraus  ableitbare 
^  S       2 

Helligkeitlr-— — ^=  0,61  der  Farbe  bestimmt,  noch  nicht  aber  ihr  Gewicht, 

Tr=  6 
während  durch  die  Doppelgleichung  — die  bezügliche  Farbe  in  jeder 

Beziehung  charakterisiert  ist.    Denn  wir  ersehen  aus  dieser  Doppelgleichung 

nicht  nur  die  Qualität  und  die  Helligkeit  I  —  0,6i  der  Farbe,  sondern 

auch  ihr  Gewicht  (6  +  4  =  10).  Überall,  wo  es  nicht  bloß  auf  die  Qualität 
und  die  Helligkeit  bezw.  Dunkelheit  einer  Farbe  ankommt,  müssen  wir  uns 
zu  ihrer  Bezeichnung  einer  solchen  Doppelgleichung  bedienen.  — 

Mögen  unsere  Augen  offen  oder  geschlossen  sein,  möge  unser  Gesichts- 
feld in  tiefster  Finsternis  liegen  oder  beliebige  Strahlungen  auf  unsere  Netz- 
haut schicken,  immer  haben  alle  Stellen  unseres  psychischen  Sehfeldes,  so- 
bald wir  überhaupt  auf  dasselbe  achten,  irgendwelche  Farbe;  denn  aus 
Farben  besteht  unser  Sehfeld  und  ohne  Farben  giebt  es  kein  solches. 

Die  Farben,  welche  bei  gänzlich  verfinsterten  Augen  unser  Sehfeld 
bilden,  nannten  wir  die  Eigenfarben  desselben,  und  es  wurde  schon  er- 
wähnt, dass  an  verschiedenen  Stellen  des  Sehfeldes  die  Eigenfarbe  gleich- 
zeitig eine  verschiedene  und  an  derselben  Stelle  eine  mit  der  Zeit  mehr 
oder  weniger  schnell  wechselnde  sein  kann.  Gleichviel  nun,  welche  Eigen- 
farbe eine  Sehfeldstelle  eben  hat,  es  tritt,  sobald  die  Netzhaut  vom  Lichte 
der  Außenwelt  getroffen  wird,  an  die  Stelle  dieser  sozusagen  autonomen 
Farbe  im  allgemeinen  eine  andere,  allonome  Farbe.  Unter  der  Wir- 
kung des  Lichtes  ändert  sich  also  das  Verhältnis  W:  S  an  der  bezüg- 
lichen Stelle  des  psychischen  Sehfeldes,  was  rein  theoretisch  betrachtet  ent- 
weder durch  einseitige  Änderung  des  Wertes  der  weißen  Komponente  bei 
gleichbleibender  schwarzer,  oder  durch  Änderung  der  letzteren  bei  gleich- 
bleibender weißer,  oder  endlich  durch  gleichzeitige  Änderung  beider  Kom- 
ponentenwerte möglich  wäre.  Welcher  von  diesen  Fällen  der  Wirklichkeit 
entspricht,  wird  später  zu  erörtern  sein.  Hier  sei  zunächst  die  denkbar 
einfachste  Annahme   sremacht,   dass  infolsre   der  Bestrahlung   der  Netzhaut 


§21.    Zur  Theorie  der  Beziehung  zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit.      95 


nur  die  weiße  Komponente  der  Farbe  ihren  Wert  ändert  und  zwar  der- 
art, dass  der  Zuwuchs,  den  sie  dabei  erhält,  unter  sonst  gleichbleibenden 
Umständen  der  wirkenden  Lichtstärke  direkt  proportional  ist,  während  die 
schwarze  Komponente  dabei  unverändert  bleibt.  Ob  dies  in  Wirklichkeit 
vorkommen  kann,  bleibt  zunächst  ganz  unberücksichtigt;  denn  es  gilt  hier 
nur  zu  zeigen,  wie  aus  der  im  Obigen  entwickelten  Auffassung  des  Wesens 
der  tonfreien  Farben  sich  das  verständlich  machen  lässt,  was  einst  Fechner 
aus  seinem  psychophysichen  Grundgesetze  zu  erklären  versuchte. 

Auf  der  Geraden  LL  (Fig.  1 5)  als  Abscissenachse  möge  die  Größe  der  je- 
weiligen weißen  Komponente  der  Farbe  durch  eine  nach  oben,  die  der 
schwarzen  durch  eine  nach  unten  gerichtete  Ordinate  ausgedrückt  werden. 


Fig.  ^ö. 


Die  beiden  dem  Punkte  0,  als  dem  Nullpunkte  des  Koordinatensystemes, 
entsprechenden  Ordinaten  w  und  s  seien  zunächst  gleichgroß,  womit  zu- 
gleich gesagt  ist,  dass  als  die  unmittelbar  vor  der  Bestrahlung  bestehende 
Eigenfarbe  das  mittle  Grau  von  der  Helligkeit  0,5  angenommen  ist.  Auf 
der  Abscissenachse  sind  die  Lichtstärken  eingetragen,  und  es  ist  als  Einheit 
der  Lichtstärke  diejenige  genommen,  durch  welche  die  weiße  Komponente 
einen  ihrem  anfänglichen  Werte  w  gleichen  Zuwuchs  erfährt  und  also  auf 
den  Wert  '^w  gebracht  wird.     Die  jetzt  erscheinende  allonome  Farbe  wäre 

'iw 
also   durch   2i^:s,   ihre  HeUigkeit   durch 


und  ihr   Gewicht   durch 


s  -\-'iw 

tw  -\-  s  ausgedrückt.    Kurzum  es  würde  durch  ein  Licht  /  die  weiße  Kom- 
ponente  auf  den  Wert  w  -{-  Iw  ^=  w[l-\'  \)  gebracht  werden,  so  dass  die 
nunmehr    erscheinende    Farbe    durch    w(l  -{-  1 ) :  ** ,    ihre  Helligkeit    durch 
w(l-^  1 


w[l-\-  \)-{-s 


,  und  ihr  Gewicht  durch  w[l-\-  \) -\- s  auszudrücken  wäre. 


96 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


In  Fig.  15  wäre   uns   also  unter  den  angenommenen  Bedingungen  für 
jede  beliebige  Lichtstärke  durch  das  Verhältnis  der  oberen  Koordinate  zur 
unteren   die  Qualität    der  Farbe   und    mittelbar   ihre   Helligkeit,    durch   die 
Summe  beider  Ordinalen  aber  das  Gewicht  der  Farbe  gegeben.     Der  ent- 
sprechende Ort  der 
Farbe    auf    einer 
ideellen     Farben- 
linie    wäre     der- 
jenige ,    dessen 
Abstand   vom 
schwarzen     End- 
punkte   sich   zum 

Abstand  vom 
weißen  Endpunkte 
ebenso  verhält,  wie 
die  obere  Koordi- 
nate des  bezüg- 
lichen Abscissen- 
punktes  zur  un- 
teren. 

Somit  macht 
die  Figur  15  zu- 
gleich anschau- 
lich, dass  das  Ge- 
wicht der  Farbe 
linear      mit      der 

Lichtstärke 
wüchse,  und  zwar 
wären  seine  Zu- 
wüchse hier  gleich 
den  durch  die 
Lichtstärke  be- 
dingten Zuwüch- 
sen zur  weißen 
Komponente  der 
Farbe. 

Statt  wie  im 
Obigen    von    dem 

mittlen  Grau  als  Eigenfarbe  auszugehen,  könnten  wir  eine  beliebige  dunklere 
Farbe  als  die  unmittelbar  vor  der  Bestrahlung  vorhandene  Eigenfarbe  wählen, 
und  müssten  dann  den  Ordinalen  des  Nullpunktes  ein  entsprechend  anderes 
Verhältnis  geben. 


§  21.  Zur  Theorie  der  Beziehung  zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit.       97 

In  welcher  Weise  nun  die  Helligkeit  der  Farbe  von  der  eben  wirken- 
den Lichtstärke  abhängig  wäre,  möge  die  Fig.  16  veranschaulichen.  In 
derselben  bedeutet  die  Gerade  SW  die  ideelle  Farbenlinie,  auf  welcher  alle 
tonfreien  Farben  derart  angeordnet  sind,  dass  gleichen  Lageverschieden- 
heiten zweier  Farben  gleiche  Helligkeitsunterschiede  derselben  entsprechen. 
Punkt  S  ist  hiernach  der  Ort  des  absoluten  Schwarz  von  der  Helligkeit  0, 
Punkt  JV  der  Ort  des  absoluten  Weiß  von  der  maximalen  Helligkeit  1. 
Punkt  S  ist  zugleich  der  Nullpunkt  eines  Koordinatensystems,  auf  dessen 
Abscissenachse  LL  wir  uns  wieder  die  Lichtstärken  abgetragen  denken, 
während  die  entsprechenden  Farben-  oder  Helligkeitsorte  in  die  Farben- 
linie als  Ordinatenachse  einzutragen  sind.  Aus  dem  Abstände  eines  solchen 
Farbenortes  vom  Fußpunkt  S  der  Farbenlinie  ergiebt  sich  die  zum  bezüg- 
lichen Abscissenpunkte  gehörige  Ordinate.  Als  Lichteinheit  ist  wieder  die- 
jenige Lichtstärke  genommen,  welche  unter  den  gegebenen  Bedingungen 
der  vor  der  Bestrahlung  bestehenden  weißen  Komponente  W  der  Eigen- 
farbe einen  dieser  Komponente  gleichgroßen  Zuwuchs  erteilt  i). 

Die  obere  Kurve  veranschaulicht  die  Beziehungen  zwischen  den  Unter- 
schieden der  Lichtstärken  und  den  Helligkeitsunterschieden  der  korrelativen 
Farben  für  den  Fall,  w^o  die  vor  jeder  Bestrahlung  vorhandene  Eigenfarbe 
immer  wieder  das  Mittelgrau  und  also   W=S  ist,   die  untere  Kurve   für 

W       1 

den  Fall,  wo  die  Eigenfarbe  eine  dunklere  und  zwar  -— =  — ,  und  also  die 

o  z 

1  I 

Helligkeit  derselben   =  -; =  —  ist.     Jede  Kurve  ist  em   Teilstück   des 

^  1-1-2       3 

einen   Zweiges  einer  gleichseitigen  Hyperbel,    deren   eine  Asymptote  irTF 

dem  Ordinatenwert  1    d.  h.  dem  der  maximalen  Helligkeit  entspricht. 

Man  ersieht  aus  beiden  Kurven,  wie  gleichen  Unterschieden  der  Licht- 
stärken um  so  kleinere  Helligkeitsunterschiede  der  bezüglichen  Farben  ent- 
sprechen, je  größer  die  beiden  Lichtstärken  sind,  wie  die  Helligkeit  anfangs 
schneller  und  dann  immer  langsamer  mit  der  Lichtstärke  wächst  und  sich 
asymptotisch  der  Helligkeit  1   nähert. 

Da  bei  Änderungen  der  Stärke  der  allgemeinen  Beleuchtung  zwar  die 
Unterschiede  der  Lichtstärken  im  Netzhautbilde  sich  ändern,  die  Verhält- 
nisse derselben  aber  unter  sonst  gleichbleibenden  Umständen  unverändert 
bleiben  (vgl.  §  20),  so  möge  auch  die  Art,  in  welcher  die  Helligkeitsunter- 
schiede der  Farben  von  der  Stärke  der  allgemeinen  Beleuchtung  des  Ge- 
sichtsfeldes unter  den  hier  gemachten  Voraussetzungen  abhängig  sein  würden, 
für  die  beiden  soeben  besprochenen  Fälle  durch  die  entsprechenden  Kurven 
anschaulich  gemacht  werden. 


i;  Welche  Länge  man  der  Farbenlinie  {SW)  relativ  zur  gewählten   Einheit 
der  Abscissenwerte  giebt,  ist  gleichgültig. 

Hering,  Lichtsinn.  7 


98 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


In  Fig.  1 7  sind  auf  der  Abscissenachse  LL  die  Lichtstärken  jetzt  der- 
art abgetragen,  dass  nicht  gleichen  Unterschieden,  sondern  gleichen 
Verhältnissen  derselben  gleichgroße  Strecken  entsprechen,  wobei 
ganz  willkürlich  die  Lichtstärke  1  als  der  Ausgangspunkt  für  die  Abmes- 
sungen nach  rechts  und  links  genommen  ist.  Als  jeweilige  Ordinate  gilt 
wieder  der  Abstand  des  Ortes  der  bezüglichen  Farbe  vom  Endpunkte  S 
der  Farbenlinie.  Der  Nullpunkt  des  Koordinationssystems  ist  jetzt  nach  links 
in  unendliche  Ferne  gerückt. 

Fig.  M. 


fßi* 


Eine  auf  diese  Weise  gewonnene  Kurve  hat,  wie  sich  von  vornherein 
versteht,  zwei  parallele  Asymptoten,  erstens  wieder  die  Gerade  TTTF,  deren 
Abstand  von  der  Abscissenachse  der  maximalen  Helligkeit  1  entspricht, 
und  zweitens  diejenige  Gerade,  deren  Abstand  von  der  Abscissenachse  der 
bei  der  Lichtstärke  0  bestehenden  Eigen  färbe  entspricht.  Für  die  obere 
Kurve  ist  die  Helligkeit  der  letzteren,  wie  schon  gesagt,  gleich  V2>  für 
die  untere  gleich  1/3  angenommen. 

Je  steiler  ein  Kurvenstück  verläuft,  desto  größer  ist  bei 
gleichem  Verhältnis  zweier  Lichtstärken  der  Helligkeitsunter- 
schied der  beiden  zugehörigen  Farben.  Man  sieht,  wie  der,  einem 
konstanten   Lichtstärkenverhältnis   entsprechende  Helligkeitsunterschied  bei 


§  2i.    Zur  Theorie  der  Beziehung  zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit.      99 

den  kleinsten  Lichtstärken  minimal  ist,  mit  der  Zunahme  der  absoluten 
Lichtstärken  anfangs  langsam,  dann  immer  schneller  und  in  einem  bestimm- 
ten Bereiche  der  Lichtstärken  am  schnellsten  wächst,  um  über  diesen  Be- 
reich hinaus  erst  schnell  und  dann  immer  langsamer  wieder  abzunehmen. 
Die  Kurven  zeigen  ferner,  wie  in  demjenigen  Bereiche  der  Licht- 
stärken, wo  einem  konstant  bleibenden  Verhältnisse  derselben 
die  grüßten  Helligkeitsunterschiede  entsprechen,  diese  Unter- 
schiede nahezu  unabhängig  sind  von  der  absoluten  Lichtstärke, 
so  dass  hier  mit  größter  Annäherung  gleichen  Verhältnissen  der 
Lichtstärken  auch  äquidifferente  Farbenpaare  und  also  gleiche 
Helligkeitsunterschiede  entsprechen. 

Denken  wir  uns,  die  Netzhaut  empfange  das  Bild  zweier  aneinander- 
grenzender  Flächen  des  Außenraumes,  deren  beide  Lichtstärken  bei  den  ver- 
schiedensten Stärken  ihrer  gemeinsamen  Beleuchtung  dasselbe  Verhältnis 
behalten;  denken  wir  ferner,  wir  würden  diese  Flächen  bei  den  verschie- 
denen Beleuchtungen  immer  wieder  mit  denselben  Netzhautteilen  betrachten, 
und  die  Eigenfarbe  der  korrelativen  Sehfeldstellen  wäre  vor  jeder  Einzel- 
betrachtung der  Fläche  immer  wieder  dieselbe.  Auf  Grund  der  Kurven 
wäre  dann  zu  erwarten,  dass  ein  Helligkeitsunterschied  der  beiden  Flächen 
bei  minimalen  Beleuchtungen  derselben  nicht  merklich  sein,  bei  entsprechend 
stärkeren  aber  deutlich  und  immer  deutlicher  werden  würde,  dass  er  ferner 
innerhalb  eines  bestimmten  Bereiches  der  Beleuchtungsstärken  sein  Maxi- 
mum erreichen  und  innerhalb  dieses  Bereiches  konstant  bleiben  würde,  bis 
bei  noch  stärkeren  Beleuchtungen  die  Größe  und  Deutlichkeit  des  Hellig- 
keitsunterschiedes wieder  abnehmen  müsste. 

In  Wirklichkeit  liegen  freilich  die  Dinge  nicht  so  einfach,  wie  hier  aus 
methodischen  Rücksichten  vorerst  angenommen  wurde.  Wir  werden  sehen, 
dass  die  Farbe  einer  Sehfeldstelle  selbst  unter  sonst  ganz  gleichbleibenden 
Umständen  keineswegs  nur  von  der  Belichtungsstärke  der  bezüglichen  Netz- 
hautstelle, sondern  auch  von  der  gleichzeitigen  Belichtung  der  übrigen  Netz- 
haut abhängig  ist,  und  dass  unter  dem  Einflüsse  der  Belichtung  nicht  nur 
die  weiße,  sondern  sofort  auch  die  schwarze  Komponente  der  Farbe  ihren 
Wert  ändern  kann.  Aber  das  Gesetz,  nach  welchem  die  Helligkeitsunter- 
schiede von  den  Unterschieden  der  Lichtstärken  abhängen,  bleibt  dabei, 
wie  sich  später  zeigen  wird,  wenigstens  in  seinen  Grundzügen  dasselbe,  und 
immer  ergiebt  sich  ein  bald  weiteres,  bald  engeres  Gebiet  der  Lichtstärken, 
innerhalb  dessen  gleichen  Verhältnissen  der  Lichtstärken  angenähert  gleiche 
Helligkeitsunterschiede  der  korrelativen  Farben  (äquidifferente  Farbenpaare) 
entsprechen,  ein  Gebiet  also,  für  welches  das  WEBER'sche  Gesetz  praktisch 
genommen  gültig  sein  würde. 

Hier  sollte  nur  gezeigt  werden,  dass  meine  Auffassung  des  Wesens 
der  tonfreien  Farben  einen   ganz   anderen   Weg  zum  Verständnis  der  von 

7* 


:^QQ  Lehre  vom  Lichtsinn. 

F^CHNER  jenem   Gesetze  untergeordneten   Thatsachen    eröffnet,    als    es   der 
von  ihm  selbst  eingeschlagene  war. 

Die  im  Vorhergehenden  gemachte  Annahme,  dass  die  weiße  Komponente 
der  tonfreien  Farbe  unter  der  Wirkung  des  Lichtes  einen  der  Stärke  desselben 
direkt  proportionalen  Zuwuchs  erfährt,  steht  in  Analogie  mit  der,  insbesondere 
von  Fechner  vertretenen  und  noch  herrschenden  Annahme,  nach  welcher  während 
der  Lichtwirkung  zu  einer  stetigen,  durch  einen  innern  Reiz  bewirkten  »Er- 
regung« des  Sehorganes  ein  der  Lichtstärke  proportionaler  Zuwuchs  hinzugefügt 
werden  soll.  Das  psychische  Korrelat  dieser  Erregung  aber,  nämlich  die  »Inten- 
sität oder  HelHgkeit  der  Lichtempfmdung«,  sollte  nach  Fechner  der  Stärke  jener 
Erregung  nicht  proportional  sein,  sondern  nur  logarithmisch  mit  derselben  wachsen. 
Unter  den  hier  von  mir  vorläufig  gemachten  Voraussetzungen  aber 
bestände  bei  sonst  ganz  gleichbleibenden  Umständen  eine  durchgängige 
direkte  Proportionalität  zwischen  der  physiologischen  und  der 
psychischen  Wirkung  des  Lichtes,  welche  letztere  allerdings  nur  die  weiße 
Komponente  der  tonfreien  Farbe  betreffen  würde,  während  dabei  die  schwarze, 
wie  vorläufig  angenommen  wurde,  einen  konstanten  Wert  behalten  könnte. 

Wer  die  Konsequenzen  des  FECHNER'schen  Gesetzes  kennt,  wird  schon  be- 
merkt haben,  dass  nach  der  hier  entwickelten  Auffassung  die  negativen  Licht- 
empfindungen Fechner's  nicht  existieren. 


IV.  Abschnitt. 

Vom  somatischen  Korrelate  der  tonfreien  Farben. 

§22.  Der  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  als  das  somatische 
Korrelat  der  Farben.  Ich  gehe,  wie  schon  in  §  7  betont  wurde,  von 
der  Voraussetzung  aus,  dass  jeder  Farbe  in  gesetzmäßiger  Weise  ein  ganz 
bestimmter  Vorgang  in  der  nervösen  Substanz  des  Sinnesorganes  entspricht. 
Denn  ohne  die  Annahme  einer  solchen  gesetzmäßigen  Beziehung  wäre  es 
müßig,  die  Sinnesphänomene  zum  Gegenstande  physiologischer  Erwägungen 
zu  machen. 

Bezeichnen  wir  diejenigen  Teile  des  inneren  Auges,  an  deren  Zustände 
die  Farben  des  psychischen  Sehfeldes  unmittelbar  geknüpft  sind,  als  die 
Sehsubstanz,  so  dürfen  wir  sagen,  es  entspreche  jeder  Farbe  eine  ganz 
bestimmte  Regung  des  bezüglichen  Teiles  dieser  Substanz  derart,  dass  Farbe 
und  Regung  unabänderlich  an  einander  gebunden  sind.  Hiernach  findet 
das  stoffliche  Geschehen  in  der  Sehsubstanz  seinen  psychischen  Ausdruck 
durch  die  jeweiligen  Farben  des  Sehfeldes,  und  letztere  finden  ihren  phy- 
sischen Ausdruck  durch  gleichzeitig  in  der  Sehsubstanz  ablaufende  Vorgänge ; 
der  Mannigfaltigkeit  der  einen  entspricht  bis  ins  Einzelne  die  Mannigfaltig- 
keit der  anderen. 

Die  Physiker  haben  die  optischen  Strahlungen  mit  den  Namen  derjenigen 
Farben  belegt,  welche  uns  unter  gewöhnlichen  Umständen  durch  diese  Strah- 
lungen erweckt  werden;    mit  größerem  Rechte  dürften  wir,  wie  schon  eingangs 


§  22.   Vom  somatischen  Korrelate  der  tonfreien  Farben.  101 

bemerkt  wurde,  die,  den  verschiedenen  Farben  korrelativen  Regungen  der  Seh- 
substanz nach  diesen  Farben  benennen.  Denn  während  uns  eine  und  dieselbe 
Strahlung  unter  verschiedenen  Nebenbedingungen  sehr  verschiedene  Farben  er- 
wecken kann,  entspricht  jeder  bestimmten  optischen  Regung  der  nervösen  Sub- 
stanz nur  eine  ganz  bestimmte  Farbe.  Es  erscheint  in  der  That  der  Kürze 
wegen  nicht  unzweckmäßig,  von  einer  schwarzen,  grauen,  roten  Regung  der 
Sehsubstanz  zu  sprechen.  Die  bezügliche  Regung  wird  auf  diese  Weise  ganz 
eindeutig  bezeichnet,  und  ein  Missverständnis  ist  hier  nicht  zu  fürchten. 

Im  Sinne  der  soeben  entwickelten  Auffassung  haben  wir  für  die  Reihe 
der  schwarz-weißen  oder  tonfreien  Farben  eine  entsprechende  Reihe  unter 
einander  verwandter  Regungen  der  Sehsubstanz  anzunehmen.  Wie  sich  die 
Mannigfaltigkeit  jener  Farben  als  eine  solche  mit  nur  zwei  Variablen  be- 
trachten heß,  durch  deren  gegenseitiges  Verhältnis  die  einzelne  Farbe  be- 
stimmt wird,  so  werden  wir  auch  für  die  Mannigfaltigkeit  der  korrelativen 
Prozesse  in  der  Sehsubstanz  zwei  dem  Schwarz  und  W^eiß  entsprechende 
Variable  anzunehmen  haben,  von  deren  gegenseitigem  Verhältnis,  wie  dort 
die  Beschaffenheit  der  F^arbe,  so  hier  die  Beschaffenheit  der  korrelativen 
physischen  Regung  abhängt. 

Das  Wesen  des  Lebens  liegt  in  physischer  Hinsicht  im  Stoffwechsel  der 
lebendigen  Substanz,  bei  welchem  einerseits  Stoffe  entstehen,  welche  von 
der  lebendigen  Substanz  als  etwas  ihr  fremd  gewordenes  ausgesondert  werden, 
andererseits  aber  und  zwar  gleichzeitig  Stoffe  aufgenommen,  von  der  leben- . 
digen  Substanz  angeeignet  und  zu  Bestandteilen  ihrer  selbst  gemacht  werden. 
Den  letzteren  Vorgang  hat  man  unter  Erweiterung  eines  alten  aus  der 
Pflanzenphysiologie  stammenden  Begriffs  als  Assimilation  benannt,  und 
nach  diesem  Vorbilde  habe  ich  seinerzeit  für  den  erstgenannten  Vorgang 
die  seitdem  gebräuchHch  gewordene  Bezeichnung  Dissimilation  gewählt 
(i,  §  27). 

»Indem  wir,  so  sagte  ich,  diese  beiden  Vorgänge  begrifflich  trennen, 
dürfen  wir  uns  doch  nicht  dazu  verführen  lassen,  sie  als  zwei  wirklich  nur 
nebeneinander  laufende  Prozesse  aufzufassen,  und  uns  die  lebendige  Sub- 
stanz etwa  wie  eine  innerlich  ruhende  Masse  vorzustellen,  welche  nur  von 
der  einen  Seite  her  verbraucht  und  von  der  anderen  Seite  her  wieder  auf- 
gebaut wird.  Wir  haben  uns  vielmehr  Assimilation  und  Dissimilation  als 
zwei  innig  ineinander  verflochtene  Prozesse  zu  denken,  welche  den,  seinem 
eigentlichen  Wesen  nach  unbekannten  Stoffwechsel  der  lebendigen  Substanz 
ausmachen  und  in  allen  kleinsten  Teilen  der  letzteren  zugleich  stattfinden, 
daher  diese  Substanz  nichts  Stetiges  oder  Ruhendes,  sondern  ein  immer 
mehr  oder  minder  innerlich  Bewegtes,  sich  Regendes  darstellt«   (19,  S.  35). 

Nimmt  man  nun  an,  dass  dieser  Stoffwechsel  der  lebendigen  Sehsub- 
stanz das  somatische  Korrelat  der  Farben  des  Sehfeldes  ist,  so  eröffnet  sich 
die  Möglichkeit,  eine  Fülle  bis  dahin  zusammenhangslos  nebeneinander  ver- 
zeichneter Thatsachen  unter  einen  einheitlichen,  umfassenden  Gesichtspunkt 


102  Lehre  vom  Lichtsinn. 

zu  bringen,  aus  dem  ihre  gegenseitige  Beziehung  und  ihr  innerer  Zusam- 
menhang ersichtlich  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verständlich  wird. 
So  viel  leistet  für  heute  diese  Annahme,  dass  es  in  methodischer  Hinsicht 
fast  gleichgültig  erscheint_,  inwieweit  sie  der  Wahrheit  nahe  kommt.  Denn 
in  ihrem  Lichte  tritt  an  die  Stelle  des  Konglomerates  vereinzelt  festgestellter 
Thatsachen  ein  organisch  gegliedertes  und  in  sich  geregeltes  Getriebe,  in 
dem  die  Bedeutung  des  einzelnen  Gliedes  aus  seinem  Zusammenhange  mit 
den  übrigen  klar  wird.  Deshalb  ist  auch  der  methodische  Wert  der  An- 
nahme nicht  an  ihre  Richtigkeit  gebunden,  und  wenn  Manche  meinen  Ver- 
such einer  Theorie  des  Lichtsinns  nur  deshalb  von  vornherein  ablehnten, 
weil  sie  über  das  Wesen  des  Lebens,  über  die  psychophysischen  Prozesse 
und  über  die  Beziehungen  zwichen  Leib  und  Seele  anders  dachten  als  ich, 
so  ließen  sie  außer  acht,  dass  der  Wert  einer  Hypothese  von  dem  abhängt, 
was  sie  leistet,  nicht  aber  von  den  Vorstellungen,  die  sich  der  Einzelne 
vom  wahren  Wesen  des  von  der  Hypothese  umfassten  Geschehens  macht. 

Beschränken  wir  uns  wieder  zunächst  auf  die  tonfreien  Farben,  so 
finden  wir  in  der  Dissimilation  und  Assimilation  der  Sehsubstanz  zwei 
Variable  ihres  Stoffwechsels,  die  sich  als  die  somatischen  Korrelate  der 
beiden  Variabein  Weiß  und  Schwarz  betrachten  lassen.  Mit  demselben 
Rechte  oder  Unrechte,  mit  dem  wir  irgend  ein  gegebenes  Grau  in  eine 
weiße  und  eine  schwarze  Komponente  zerlegt  denken  konnten,  lässt  sich 
der  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  als  aus  den  genannten  beiden  Teilpro- 
zessen bestehend  denken.  Hier  wie  dort  handelt  es  sich  um  die  begriff- 
liche Spaltung  eines  zunächst  einheitlich  Gegebenen,  welches  je  nach  dem 
Überwiegen  der  einen  oder  der  anderen  seiner  beiden  gedachten  Kompo- 
nenten nach  zwei  entgegengesetzten  Richtungen  zu  variieren  vermag.  Wie 
in  den  verschiedenen  tonfreien  Farben  das  Verhältnis  der  Deutlichkeit  der 
Weiße  und  Schwärze  {W:  S)  ein  verschiedenes  ist,  so  im  korrelativen  Stoff- 
wechsel das  Verhältnis  zwischen  der  Größe  der  Dissimilation  und  der  gleich- 
zeitigen Assimilation  (Z) :  ^).  Sind  beide  gleich  groß,  so  entspricht  dieser 
Stoffwechselweise  das  mittle  Grau,  in  welchem  die  Schwärze  und  Weiße 
gleich  deutlich  oder  gleich  undeutlich  sind.  Ist  die  Dissimilation  größer 
als  die  Assimilation,  so  ist  in  demselben  Verhältnis  in  der  korrelativen 
Farbe  die  Weiße  deutlicher  als  die  Schwärze,  und  gilt  für  den  Stoffwechsel 
der  Sehsubstanz  das  Umgekehrte,  so  gilt  es  auch  für  die  korrelative 
Farbe. 

Der  Gesamtheit  aller  jener  denkbaren  Verhältnisse  zwischen  Ä  und  D, 
in  denen  Ä  größer  ist  als  D,  entspricht  die  vom  reinsten  Schwarz  bis  zu 
dem  oben  erwähnten  Mittelgrau  reichende  Hälfte  der  tonfreien  Farbenreihe, 
und  der  Gesamtheit  aller  Verhältnisse,  in  denen  D  größer  als  A,  die  von 
jenem  Mittelgrau  bis  zum  reinsten  Weiß  sich  erstreckende  andere  Hälfte 
der  Farbenreihe. 


§  23.    Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz.  103 

Auf  der  ideellen  Farbenlinie,  auf  der  wir  uns  sämtliche  tonfreie  Farben 
systematisch  geordnet  dachten  (vgl.  §  1 0  u.  11),  entsprach  jeder  einzelnen 
Farbe  ein  bestimmter  Ort,  und  das  Verhältnis  der  beiden  Abstände  dieses 
Ortes  vom  schwarzen  und  weißen  Endpunkt  der  Linie  war  uns  ein  Aus- 
druck für  das  Verhältnis  der  Deutlichkeit  der  beiden  Komponenten  der  Farbe. 
Die  Helligkeit  oder  den  Weißlichkeitsgrad  der  Farbe  aber  konnten  wir  aus- 
drücken durch  das  Verhältnis  ihres  Abstandes  vom  schwarzen  Endpunkte 
der  Farbenlinie  zu  der  willkürlich  gewählten  Länge  derselben,  d.  h.  durch 

W 
— —  •     Dieses  Verhältnis  aber  ist  nach  dem  oben  Gesagten  zugleich  das 

Verhältnis,  welches  im  korrelativen  Stoffwechsel  zwischen  der  Größe  der 
Dissimilation  und  der  Gesamtgröße  des  Stoffwechsels  als  der  Summe  der 
gleichzeitigen  Dissimilation  und  Assimilation  besteht,  d.  h.  es  ist 

W  D 


In  dieser  einfachen  Weise  lassen  sich  nach  meiner  Auffassung  die  Be- 
ziehungen zwischen  der  Qualität  bezw.  Helligkeit  einer  tonfreien  Farbe  und 
dem  korrelativen  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  zum  Ausdruck  bringen. 

§  23.  Die  Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  der  Sehsub- 
stanz. Wenn  eine  lebendige  Substanz  nur  unter  dem  Einfluss  ihrer  zu- 
nächst als  konstant  angenommenen  Lebensbedingungen  steht,  denen  sie  voll- 
ständig angepasst  ist,  und  wenn  alle  nur  gelegentlichen  und  vorübergehen- 
den Reize  ausgeschlossen  sind,  so  bezeichne  ich  ihren  Stoffwechsel  bezw. 
ihre  Dissimilation  und  Assimilation  als  autonome.  Denn  obgleich  sich 
auch  jene  Lebensbedingungen  als  den  Stoffwechsel  mitbedingende  konstante 
Reize  auffassen  lassen,  empfiehlt  sich  doch  die  übliche  Unterscheidung  der- 
selben von  den  nur  gelegentlich  oder  wenigstens  inkonstant  wirkenden 
Reizen  im  engeren  Sinne,  denen  freilich  streng  genommen  auch  jede 
Änderung  einer  bis  dahin  konstant  gewesenen  Lebensbedingung  beizu- 
zählen ist.  Sobald  aber  der  Stoffwechsel  der  lebendigen  Substanz  mit  unter 
der  Einwirkung  eines  gelegentlichen  Reizes  steht,  nenne  ich  ihn  allonom. 

Im  Sinne  dieser  Auffassung  ist  der  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  ein 
allonomer,  so  oft  Licht  ins  Auge  fällt,  und  ein  autonomer,  so  oft  die  Augen 
der  Einwirkung  des  Lichts  vollkommen  entzogen  sind,  und  auch  sogenannte 
inadäquate  (mechanische,  chemische,  elektrische)  Reize  nicht  in  Betracht 
kommen. 

Die  psychischen  Korrelate  dieses  autonomen  Stoffwechsels  sind  alle 
Farben,  jedes  Hell  und  jedes  Dunkel,  die  wir  bei  Ausschluss  des  Lichts 
und  anderer  gelegentlicher  Reize  sehen,  insbesondere  das  sogenannte  Eigen- 
licht  des   Auges,    und  die   bei   Verfinsterung    desselben    sichtbaren   Nach- 


104  Lehre  vom  Lichtsinn. 

bilder.  Alle  diese  Farben  lassen  sich  als  autonome  bezeichnen,  zum  Unter- 
schied von  den  allonomen  Farben,  welche  unter  der  Mitwirkung  des  Lichts 
entstehen. 

Der  Begriff  der  autonomen  bezw.  allonomen  Farbe  deckt  sich  keineswegs 
mit  dem  der  »subjektiven«  bezw.  »objektiven«  Farbe,  denn  als  subjektive  Farben 
gelten  der  naiven  Auffassung  außer  den  autonomen  auch  alle  diejenigen,  welche 
nicht  den  sogenannten  wirklichen  Farben  der  Außendinge  oder  der  bezüglichen 
Lichtstrahlen  entsprechen,  sondern  die  vermeintUche  Folge  einer  »optischen 
Täuschung«  über  diese  »objektive«  Farbe  sind,  wie  z.  B.  bei  offenem  Auge  gesehene 
Kontrastfarben. 

Für  die  Mannigfaltigkeit  der  allonomen  Farben  konnte  man  ohne  wei- 
teres die  ins  Auge  fallenden  Strahlungen  verantwortlich  machen,  für  die 
Mannigfaltigkeit  der  autonomen  bietet  sich  keine  so  bequeme  Erklärung. 
Auch  die  Art  der  Abhängigkeit  der  ersteren  vom  Lichte  lässt  sich  nur  ver- 
stehen, Avenn  man  sie  nicht  als  ein  bloßes  Produkt  der  einfallenden  Strah- 
lung, sondern  als  das  psychische  Abbild  der  durch  das  Licht  mitbestimmten 
Lebensregungen  der  Sehsubstanz  betrachtet,  von  deren  jeweiliger  Stimmung 
die  erscheinende  Farbe  nicht  weniger  abhängig  ist,  als  vom  eben  einwir- 
kenden Lichte. 

Diejenige  Beschaffenheit  der  Sehsubstanz,  welche  sie  nach  hinreichend 
langem  Schutze  des  Auges  vor  jedem  Licht  angenommen  hat,  und  wobei 
ihre  autonome  Dissimilation  und  Assimilation  durchschnittlich  gleich  groß 
sind,  wenn  sie  auch  infolge  kleiner  Inkonstanz  der  Lebensbedingungen 
zwischen  engen  Grenzen  um  den  Punkt  genauen  Gleichgewichts  hin-  und 
herschwanken,  bezeichne  ich  als  die  mittelwertige  Beschaffenheit. 
Denken  wir  uns  nun,  es  werde  jetzt  infolge  einer  Belichtung  ,der  Netzhaut 
das  Verhältnis  zwischen  Dissimilation  und  Assimilation  zu  Gunsten  der 
ersteren  geändert,  so  wird  dabei  die  Sehsubstanz  eine  Änderung  erfahren, 
insofern  dabei  ihr  chemischer  Aufbau,  oder  wie  sonst  man  es  nennen 
will,  geändert  wird.  Diese  absteigende  Änderung,  wie  ich  sie  genannt 
habe,  wird  um  so  schneller  erfolgen,  je  größer  der  Oberschuss  der  Dissi- 
milation über  die  Assimilation  (D  —  A)  ist,  und  wird  um  so  größer  werden, 
je  länger  ein  solcher  Überschuss  besteht.  Dabei  durchläuft  die  Substanz 
eine  Reihe  von  Beschaffenheiten,  w^ eiche  ich  als  unterwertige  bezeichnet 
habe.  Wird  dann  der  durch  die  Belichtung  der  Netzhaut  für  die  Sehsub- 
stanz gegebene  Reiz  zur  Steigerung  der  Dissimilation  (D-Reiz)  durch  Ver- 
finsterung der  Augen  wieder  beseitigt,  so  bleibt  die  Substanz  zunächst  als 
eine  unterwertige  zurück,  und  ihre  Unterwertigkeit  ist  um  so  größer, 
je  größer  zuvor  der  D-Oberschuss  war  und  je  länger  ein  solcher  bestand. 

Jede  lebendige  Substanz  besitzt  das  Vermögen,  aus  einem  solchen  durch 
D-Reize  herbeigeführten  Zustand  der  Unterwertigkeit  nach  Aufhören  des 
Reizes  in  den  der  Mittelwertigkeit  zurückzukehren,  wenn  nur  ihre  Lebens- 


§  23.    Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz,  105 

bedingungen  fortbestehen.  Diese  Rückkehr  (restitutio  in  integrum)  ermög- 
licht sie  durch  eine  gesteigerte  Assimilation,  und  wir  dürfen  annehmen, 
dass  diese  Steigerung  der  autonomen  Assimilation  um  so  bedeutender  ist, 
je  unterwertiger  die  Substanz  unter  dem  Einfluss  des  D-Reizes  geworden 
war.  An  die  Stelle  des  während  der  Reizung  bestandenen  D-Überschusses 
tritt  jetzt  ein  A-Überschuss  (A  —  D),  der  eine  aufsteigende  Änderung 
der  Substanz  mit  sich  bringt,  wobei  letztere  die  erwähnte  Reihe 
der  unterwertigen  Beschaffenheiten  in  umgekehrter  Richtung 
wieder  durchläuft,  um  so  in  den  Zustand  der  Mittel  Wertigkeit  zurück- 
zukehren. Je  mehr  sie  sich  dieser  Beschaffenheit  wieder  nähert,  desto 
kleiner  wird  der  jeweilige  A-Oberschuss,  desto  kleiner  die  Geschwindigkeit 
der  aufsteigenden  Änderung,  bis  schließlich  Assimilation  und  Dissimilation 
wieder  gleich  sind  und  die  Substanz  wieder  mittelwertig  ist. 

Je  mehr  sich  die  Sehsubstanz  unter  dem  Einflüsse  eines  D-Reizes  ab- 
steigend verändert  und  also  unter  wertig  wird,  desto  kleiner  wird  ihre 
Eignung  oder  Disposition  d  zur  Dissimilation,  desto  größer  ihre  Dispo- 
sition a  zur  Assimilation,  und  wenn  alle  ihre  Lebensbedingungen  derart 
geblieben  sind,  dass  sie  der  geänderten  Disposition  (Stimmung)  durch  ein 
entsprechend  geändertes  Ausmaß  der  autonomen  Dissimilation  bezw.  Assi- 
milation voll  genügen  kann,  so  findet  durch  die  jeweilige  Größe  der  letzteren 
diese  Disposition  ungestörten  Ausdruck.  Dasselbe  Zeichen  ö  lässt  sich  dann 
ebensowohl  für  die  Größe  der  jeweiligen  D-Disposition  als  für  die  entspre- 
chende Größe  der  autonomen  Dissimilation  gebrauchen,  und  das  Analoge 
gilt  für  das  Zeichen  a.  Jede  Stufe  der  Unter  Wertigkeit  ist  also  durch  ein 
bestimmtes  Verhältnis  zwischen  ö  und  a  d.  h.  der  autonomen  D-  und  A- 
Disposition  charakterisiert.  Im  Zustande  der  Mittel  Wertigkeit  ist  ö  =  a^  und 
wenn  wir  für  diesen  Zustand  beide  gleich  \  setzen,  so  lässt  sich  jede  Stufe 

der  Unterwertigkeit  durch  einen  echten  Bruch  —  ausdrücken,  weil  jetzt  (5  <[  1 , 

und  a  ^  I  sein  muss. 

Mit  dem  Satze,  dass  mit  zunehmender  Unterwertigkeit  die  Disposition 
der  Sehsubstanz  zur  iVssimilierung  größer,  zur  Dissimilation  aber  kleiner 
wird,  ist  noch  nichts  über  das  Gesetz  ausgesagt,  nach  w^elchem  die  eine 
zunimmt,  wenn  die  andere  abnimmt.  Ich  habe  die  nächstliegende  und  ein- 
fachste Annahme  gemacht,  dass  die  Disposition  zur  Assimilation  mit  der 
Unterwertigkeit  um  eben  soviel  wächst,  als  die  Disposition  zur  Dissimilation 
abnimmt,  und  dass  also  die  Summe  ihrer  beiden  Werte  eine  konstante  ist. 
Setzen  wir  diese  Konstante  gleich  2,  so  ist  a  ==  2  —  ö  und  d  =  2  —  a. 
Wer  das  Bedürfnis  fühlt,  mit  dem  Begriffe  der  Assimilation  und  Dissimi- 
lation schon  heute  bestimmtere  physikalisch-chemische  Vorstellungen  zu 
verbinden,  wird  diese  Annahme  wohl  auch  naheliegend  finden.  Übrigens 
aber  würde  eine  andere  Annahme  am  Wesen  meiner  Theorie  nichts  ändern. 


106  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Die  mit  der  Wertigkeit  wechselnde  D-  bezw.  A-Disposition  der  Seh- 
substanz lässt  sich  auch  als  deren  D-  bezw.  A-Erregbarkeit  bezeichnen,  und 
die  hier  als  konstant  angenommenen  Lebensbedingungen,  unter  denen  die 
Substanz  dissimiliert  und  assimiliert,  lassen  sich  als  ein  konstanter,  auf  die- 
selbe wirkender  innerer  Reiz  auffassen.  Setzt  man  diesen  gleich  1 ,  so 
ergiebt  sich  ebenfalls,  dass  D-Erregbarkeit  und  autonome  Dissimilation 
gleich  zu  setzen  sind,  und  ebenso  A-Erregbarkeit  und  autonome  Assimilation. 

Von  der  D-Erregbarkeit  der  Sehsubstanz  ist  das  wechselnde  Vermögen  des 
Empfangsapparates  der  Netzhaut  zur  Umsetzung  von  Lichtenergie  in  einen  D-Reiz 
zu  unterscheiden,  kurz  gesagt,  die  Anspruchsfähigkeit  oder  Empfänglichkeit  des 
Sehorgans  für  das  Licht  (vgl.   §  25). 

Jedem  Grade  der  Unterwertigkeit  ist  also  im  Vergleich  mit  dem  Zu- 
stande der  Mittelwertigkeit  eine  in  bestimmtem  Maße  geminderte  D-Erreg- 
barkeit und  autonome  Dissimilation  [d)  und  eine  in  bestimmtem  Maße  ge- 
steigerte A-Erregbarkeit  und  autonome  Assimilation  (a)  eigen,  und  durch 
das  Verhältnis  ö  :  a  dieser  beiden  Erregbarkeiten  ist  der  Grad  der  Unter- 
wertigkeit ebenfalls  gekennzeichnet.  Sobald  nun  auf  die  Sehsubstanz  ein 
D-Reiz  (r)  wirkt,  so  gesellt  sich  zur  autonomen  Dissimilation  ein  allo- 
nomer  Zuwuchs,  dessen  Größe  einerseits  dem  Reiz,  andererseits  der  D-Er- 
regbarkeit proportional  und  also  =  dr  gesetzt  werden  möge.  Somit  würde 
sich  für  jedes  Zeitelement  die  ganze  während  der  Wirkung  eines  D-Reizes 
stattfindende  Dissimilation  aus  der  Gleichung  D  =  ö  -\-  ör  =  d  {'\  -^  r)  er- 
geben, wenn  der  Stoffwechsel  jedes  Elementes  der  Sehsubstanz  ganz  un- 
abhängig wäre  von  dem  seiner  Umgebung,  was  freihch,  wie  wir  sehen 
werden,  keineswegs  der  Fall  ist. 

Da,  wie  wir  annahmen,  die  Sehsubstanz  ihre  Assimilation  autonomer 
Weise  um  so  mehr  verstärkt,  je  unterwertiger  sie  infolge  der  Wirkung  eines 
D-Reizes  geworden  ist,  und  da  also  der  Grad  der  eben  bestehenden  Unter- 
wertigkeit durch  eine  bestimmte  Größe  der  autonomen  Assimilation  charak- 
terisiert ist,  so  wird  sich  die  Steigerung  der  Assimilation  schon  während 
der  Dauer  eines  Lichtreizes  in  dem  Maße  geltend  machen,  als  sich  dabei 
die  Unterwertigkeit  entwickelt.  Dies  bedeutet  eine  entsprechende  Verklei- 
nerung des  durch  den  Reiz  bedingten  D-Überschusses  und  also  auch  der 
Geschwindigkeit  der  absteigenden  Änderung.  So  wird  also  die  durch 
den  Lichtreiz  gesetzte  Alteration  selbst  zu  einem  Hemmnis 
ihres  weiteren  Fortschreitens,  und  dies  um  so  mehr,  als  sich  mit 
der  zunehmenden  Unterwertigkeit  gleichzeitig  die  D-Erregbarkeit  und  mit 
ihr  der  durch  den  D-Reiz  bedingte  Zuwuchs  der  Dissimilation  verkleinert. 
Hierdurch  wird  der  D-Überschuss  noch  mehr  vermindert  und  die  abstei- 
gende Änderung  noch  mehr  verlangsamt.  Wir  haben  also  hier  ein  Beispiel 
für  jenes  Vermögen  der  lebendigen  Substanz,  welches  ich  seinerzeit  als  das 
der  inneren  Selbststeuerung   oder  Selbstregulierung  ihres  Stoffwechsels 


§  23.    Successive  Anpassung  der  Sehsubstanz.  107 

bezeichnet  habe.  Heute  ist  der  Begriff  der  Selbststeuerung  des  Stoffwech- 
sels jedem  Biologen  geläufig  geworden. 

Die  successive  Anpassung  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz 
an  einen  konstant  wirkenden  D-Reiz.  Die  soeben  erörterte  Einrich- 
tung, vermöge  deren  die  durch  einen  andauernden  D-Reiz  bedingte  ab- 
steigende Änderung  der  Sehsubstanz  sich  in  dem  Maße,  als  sie  sich  ent- 
wickelt, selbst  verlangsamt,  muss  schließlich  zum  völligen  Aufhören  einer 
weiteren  Änderung  führen.  Indem  nämlich  mit  zunehmender  Unterwertig- 
keit der  Substanz  die  Dissimilation  immer  kleiner,  die  Assimilation  immer 
größer  wird,  kommt  es  schließlich  dahin,  dass  (5(1+  r)  =  a  wird,  womit 
gesagt  ist,  dass  jetzt  Assimilation  und  Dissimilation  gleichgroß  sind  und 
gleichgroß  bleiben,  solange  der  D-Reiz  unverändert  fortwirkt. 
Sobald  dieser  Zustand  eines  allonomen  Gleichgewichts  erreicht  ist, 
hat  sich  also  der  Stoffwechsel  und  die  Sehsubstanz  dem  stetig  fortwirkenden 
D-Reize  vollkommen  adaptiert.  Die  autonome  Assimilation  ist  jetzt 
^  1  und  die  Dissimilation  ebenfalls.  Hierdurch  unterscheidet  sich  der  Zu- 
stand des  allonomen,  unter  der  Wirkung  eines  konstanten  D- Reizes  be- 
stehenden Gleichgewichts,  von  dem  des  autonomen  Gleichgewichts,  bei 
dem  «  =  (5  ==  1   ist. 

Je  stärker  der  stetig  wirkende  D-Reiz  ist,  um  so  unterwertiger  wird 
die  Sehsubstanz  werden  müssen,  ehe  diese  vollständige  Anpassung  an  den 
Reiz  eintritt.  Immer  aber  wird  dabei  wieder  D  =  A  und  die  er- 
scheinende Farbe  das  Mittelgrau  sein. 

Würde  nach  erfolgter  vollständiger  Anpassung  an  den  Reiz  r  an  die 
Stelle  desselben  ein  schwächerer,  aber  weiterhin  wieder  ganz  konstant 
bleibender  Reiz  treten,  so  würde,  wie  leicht  zu  übersehen  ist,  sofort  eine 
aufsteigende  Änderung  der  Sehsubstanz  beginnen,  die  Unterwertigkeit  der- 
selben sich  mindern,  ihre  A-Erregbarkeit  abnehmen,  ihre  D-Erregbarkeit 
zunehmen^  und  dies  alles  so  lange,  bis  abermals  D  ==  A  geworden  wäre. 
Wieder  wäre  jetzt  die  Substanz  und  ihr  Stoffwechsel  an  den  Reiz  voll- 
ständig angepasst,  aber  entsprechend  der  geringeren  Stärke  des  D-Reizes 
wäre  jetzt  die  vollständig  angepasste  Sehsubstanz  nicht  so  stark  unterwertig, 
wie  sie  es  bei  der  vollständigen  Anpassung  an  den  stärkeren  Reiz  war. 

Der  vollständigen  Anpassung  der  Sehsubstanz  an  einen  stetig  wirken- 
den D-Reiz  entspricht  also  eine  um  so  tiefere  Stufe  der  Wertigkeit  der 
Substanz,  je  stärker  jener  Reiz  ist;  die  dem  Zustande  vollständiger  An- 
passung korrelative  Farbe  aber  ist  immer  wieder  das  genaue  Mittelgrau. 

Wollte  man  die  unter  dem  Einfluss  eines  anhaltend  wirkenden  D-Reizes 
erfolgende  Abnahme  der  D-Erregbarkeit  und  der  Helligkeit  der  Farbe  als  die 
Folge  einer  sogenannten  »Ermüdung«  bezeichnen,  so  müsste  man  bedenken, 
dass  die  durch  diese  »Ermüdung«  bedingte  Abnahme  der  Helligkeit  nie  weiter 
gehen  könnte,   als  bis  zum  erwähnten  Mittelgrau,    und  nie  dazu  führen  könnte, 


108  Lehre  vom  Lichtsinn. 

dass    der   fragliche   Reiz    als    dunkleres   Grau   oder   gar   als  Schwarz  empfunden 
würde. 

Die  vollständige  Anpassung  der  Sehsubstanz  an  einen  stetig  wirkenden 
D-Reiz  zeigt  uns,  wie  ausgiebig  dieselbe  sich  vermöge  der  Selbstregulierung 
ihres  Stoffwechsels  vor  einer  zu  weit  gehenden  Alteration  zu  schützen  ver- 
mag, wenn  nur  die  Bedingungen  für  eine  zureichende  Assimilierung  fort- 
bestehen. Es  wird  später  dargelegt  werden,  inwieweit  die  bereits  früher 
kurz  geschilderten  und  dort  auf  eine  Successiv-  oder  Daueranpassung  des 
Sehorgans  zurückgeführten  Thatsachen  sich  aus  der  soeben  theoretisch  ent- 
wickelten Anpassung  der  Sehsubstanz  an  dauernde  D-Reize  erklären  lassen. 
Doch  kann  dies  erst  dann  versucht  werden,  wenn  wir  den  Einfluss  der 
Wechselwirkung  der  somatischen  Sehfeldstellen  auf  deren  Stoffwechsel 
kennen  gelernt  haben.  Es  schien  mir  methodisch  zweckmäßig,  dem  Leser 
zunächst  ein  theoretisches  Bild  von  dem  Verhalten  einer  Sehsubstanz  zu 
geben,  deren  Stoffwechsel  an  jeder  Stelle  unabhängig  wäre  von  dem  Stoff- 
wechsel ihrer  Umgebung. 

§  24.  Die  Größe  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  als  das 
somatische  Korrelat  des  Gewichtes  der  Farbe.  Im  Vorhergehenden 
wurde  im  wesentlichen  nur  das  jeweilige  Verhältnis  zwischen  den  beiden 
Teilprozessen  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  in  Betracht  gezogen,  nicht 
aber  auch  die  Größe  der  Assimilation  und  Dissimilation,  welche  bei  dem- 
selben Verhältnis  sehr  verschieden  gedacht  werden  kann.  Soll  aber  der 
Stoffwechsel  (Jer  Sehsubstanz  das  somatische  Korrelat  der  Farbe  als  des 
psychischen  P^iänomens  sein,  so  muss  es  auch  für  die  Größe  des  Stoff- 
wechsels ein  psychisches  Korrelat  geben. 

Dass  bei  demselben  Verhältnisse  zwischen  Dissimilation  und  Assimilation 
die  Größe  beider  eine  sehr  verschiedene  sein  kann,  ist  nicht  nur  von  vorn- 
herein denkbar,  sondern  ergiebt  sich  auch,  wie  schon  aus  dem  im  vorigen 
Paragraph  Erörterten  hervorgeht,  als  eine  notwendige  Folge  des  Grundge- 
dankens unserer  Hypothese.  Die  Erwägung  nun,  dass  auch  der  Größe  des 
jeweiligen  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  eine  psychische  Bedeutung  zu- 
kommen müsse,  eröffnete  mir  seinerzeit  die  Möglichkeit,  ein  Thatsachen- 
gebiet,  das  mir  bis  dahin  einer  physiologischen  Auffassung  ganz  unzugäng- 
lich schien,  einer  solchen  zu  unterwerfen.  Die  Verschiedenheit  der  Größe 
des  Stoffwechsels  bei  sonst  gleicher  Beschaffenheit  desselben  lieferte  mir  näm- 
lich den  Schlüssel  für  ein  Rätsel,  welches  für  mich  darin  lag,  dass  eine 
und  dieselbe  Farbe  oder  Helligkeit  sich  mit  so  verschiedener  Energie  in 
unser  Bewusstsein  zu  drängen  vermag,  je  nachdem  sie  einen  Teil  des  cen- 
tralen oder  des  peripheren  Sehfeldes  bildet,  je  nachdem  sie  uns  ferner 
bei  offenem  oder  gedecktem  Auge  erscheint  u.  a.  m.  Von  dem  leuchtenden 
Weiß  und  den  schönen  bunten  Farben  der  Nachbilder,  welche  man,  sei  es 


§  24.    Größe  des  Stoffwechsels  und  Gewicht  der  Farbe.  109 

von  nur  momentanen  oder  länger  auf  derselben  Stelle  verharrenden  Netz- 
hautbildern im  nachher  verflnsterten  Auge  erhalten  kann,  wissen  die  meisten 
Menschen  nichts,  obwohl  sie  dieselben  sehen,  wenn  man  ihre  Aufmerksamkeit 
darauf  gelenkt  hat.  Man  hat  zur  Erklärung  dieser  Thatsache  darauf  hin- 
gewiesen, dass  wir,  um  mit  Helmholtz  zu  sprechen  (1,  S.  432),  »erst  lernen 
müssen,  unseren  einzelnen  Empfindungen  die  Aufmerksamkeit  zuzuwenden, 
und  dies  für  gewöhnlich  nur  für  die  Empfindungen  lernen,  die  uns  als 
Mittel  zur  Erkenntnis  der  Außenwelt  dienen.  Nur  zu  diesem  Zwecke  haben 
die  Sinnesempfindungen  eine  Wichtigkeit  für  uns  im  gewöhnlichen  Leben, 
die  subjektiven  Empfindungen  sind  meist  nur  für  die  wissenschaftliche 
Untersuchung  interessant«.  Diese  Bemerkungen  enthalten  freilich  viel  Rich- 
tiges, aber  sie  passen  nicht  auf  die  Farben  des  peripheren  Sehfeldes,  denn 
diese  sind  keine  »subjektiven«,  sondern  ebenso  »objektive«  wie  die  des 
centralen.  Auch  wäre  es  gewiss  für  den  Neugeborenen,  der  so  unendlich 
viel  zu  erlernen  hat,  sehr  ersprießhch,  wenn  von  vornherein  dafür  gesorgt 
wäre,  dass  das  zur  weiteren  Erforschung  seiner  Außenwelt  besonders  ge- 
eignete centrale  Netzhautbild  sich  ihm  vorwiegend  aufdrängte,  und  er  nicht 
erst  lernen  müsste,  es  aus  der  Fülle  des  gleichzeitig  Erscheinenden  heraus- 
zufinden und  seine  Aufmerksamkeit  auf  ihm  zu  sammeln;  wenn  ferner  die 
allonomen  Empfindungen  des  ofi'enen  beleuchteten  Auges  entsprechend  ihrer 
Bedeutung  für  seinen  Verkehr  mit  der  Außenwelt  ihm  ganz  von  selbst  leichter 
und  deutlicher  ins  Bewusstsein  treten  würden  als  die  autonomen  Licht-  und 
Farbenerscheinungen  des  verfinsterten  Auges,  obwohl  dieselben  an  Helligkeit 
und  Mannigfaltigkeit  so  manchen  Farben  des  ofi'enen  Auges  nicht  nachstehen. 
Dass  die  Nachbilder,  das  gewöhnliche  Eigenlicht  und  andere  bei  ver- 
finstertem Auge  auftretende  Phänomene  so  vielen  Menschen  unbekannt  blei- 
ben, hat  man  auch  aus  einer  zu  geringen  »Intensität«  d.  h.  hier  Helligkeit 
derselben  zu  erklären  versucht.  Aber  die  tonfreien  Farben  solcher  Nach- 
bilder gehören,  ebenso  wie  die  bei  belichteten  Augen  gesehenen,  beiden 
Hälften  der  tonfreien  Farbenlinie  und  keineswegs  nur  der  dunkleren  Hälfte 
derselben  an,  und  ihre  Helligkeit  ist  zuweilen  eine  sehr  bedeutende.  Auch 
dass  die  Farben  des  peripheren  Sehfeldes  durchschnittlich  viel  weniger  ins 
Bewusstsein  oder  richtiger  gesagt  ins  bewusste  Gedächtnis  gelangen,  als  wie 
die  des  centralen,  kann  nicht  darauf  beruhen,  dass  sie  weniger  »intensive« 
d.  h.  hier  weniger  helle  Gesichtsempfindungen  wären  als  die  letzteren,  denn 
bei  Tage  ist  die  durchschnittliche  Helligkeit  der  Farben  selbst  in  der  Nähe 
der  Sehfeldgrenze  nicht  kleiner,  und  sie  sind  nicht  schwärzlicher  als  in  der 
Sehfeldmitte.  Ebenso  können  die  Grenzen  des  Sehfeldes  nicht  dadurch 
bedingt  sein,  dass  die  »Intensität«  der  Lichtempfindungen  hier  auf  ihren, 
angeblich  dem  tiefsten  Schwarz  entsprechenden  Nullpunkt  sinkt;  denn  an 
der  Grenze  des  Sehfelds  und  über  sie  hinaus  wird  nicht  schwarz,  sondern 
überhaupt  nicht  gesehen. 


1\Q  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Die  soeben  besprochenen  Thatsachen  sowie  viele  andere  später  zu 
erörternde  erklären  sich,  wie  ich  meine,  aus  einem  Satze,  welchen  ich 
schon  im  Jahre  1874  (4,  §  29)  ausgesprochen  und  als  ein  »psychophy- 
sisches  Grundgesetz«  bezeichnet  habe.  Auf  den  Gesichtssinn  ange- 
wendet besagt  jener  Satz,  dass  die  Eindringlichkeit  oder  Auffällig- 
keit, welche  einer  Sehqualität  oder  Farbe  zukommt,  unter 
sonst  gleichen  —  gleich  günstigen  oder  gleich  ungünstigen  — 
Bedingungen  zukommt,  von  der  Grüße  des  korrelativen  Stoff- 
wechsels in  der  Sehsubstanz  abhängig  ist. 

Die  Größe  dieses  Stoffwechsels  bestimmt  hiernach  das,  was  ich  da- 
mals als  das  Gewicht  der  Farbe  bezeichnet  habe,  und  diesem  Gewichte 
entspricht  unter  sonst  gleichbleibenden  Umständen  die  Energie,  mit  der  sich 
die  Farbe  unserem  Bewusstsein  aufdrängt.  Ich  sage:  unter  sonst  gleichblei- 
benden Umständen,  denn  das  Gewicht  der  Farbe  kann  nur  eine  der  mannig- 
fachen Bedingungen  sein,  von  deren  Gunst  oder  Ungunst  die  Stellung  ab- 
hängt, die  eine  Farbe  des  Sehfeldes  jeweils  in  unserem  Bewusstsein  ein- 
nimmt. 

Alle  Farben,  welche  wir  normaler  Weise  bei  geschlossenen  und  vor 
Licht  geschützten  Augen  oder  auch  offenen  Auges  im  lichtlosen  Räume 
sehen,  die  grauen,  weißen  und  bunten  Farben  der  unter  solchen  Umständen 
erscheinenden  Nachbilder  sind  ihrer  Qualität  nach  dieselben,  wie  die  bei  offenen 
Augen  unter  der  Wirkung  des  Lichtes  entstandenen,  aber  ihr  Gewicht  und 
das  Maß  des  korrelativen  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  ist  letzterenfalls 
ein  größeres,  und  auch  bei  belichtetem  Auge  kann  dieselbe  Farbe,  je  nach 
den  Bedingungen  ihres  Entstehens,  ein  verschiedenes  Gewicht  haben,  worauf 
noch  öfters  zurückzukommen  sein  wird. 

Für  die  Einheit  der  Sehsubstanz  bemisst  sich  die  Größe  des  Stoff- 
wechsels nach  der  Menge  des  in  der  Zeiteinheit  von  ihr  aufgenommenen 
und  abgegebenen  Stoffes.  Je  größer  die  einer  Flächeneinheit  des  somati- 
schen Sehfeldes  entsprechende  Menge  der  Sehsubstanz  ist,  desto  größer  ist 
unter  sonst  gleichen  Umständen  der  Stoffwechsel.  Der  größere  Reichtum 
des  centralen,  somatischen  Sehfeldes  an  Sehsubstanz,  im  Vergleich  mit  dem 
peripheren  Sehfelde,  bedingt  also  in  ersterem  einen  durchschnittlich  größeren 
Stoffwechsel  und  entsprechend  größeres  Gewicht  der  Farbe.  Dabei  kann 
im  excentrischen  Sehfelde  der  Stoffwechsel  im  Einzelfalle  größer  und  die 
Farbe  gewichtiger  sein  als  im  centralen,  weil,  wie  gesagt,  die  Stoffwechsel- 
größe überdies  abhängig  ist  von  der  Stärke  der  wirkenden  D-Reize. 

Aber  noch  ein  dritter  Faktor  ist  für  die  Größe  des  Stoffwechsels  mit 
bestimmend,  nämlich  die  im  Vorhergehenden  zunächst  als  völlig  konstant 
angenommenen  Stoffwechselbedingungen.  Wenn  z.  B.  die  normaler  Weise 
stets  zureichende  Versorgung  der  Sehsubstanz  mit  dem  zur  Assimilierung 
nötigen  Ersatzmaterial  eine  Störung  erfährt  und  deshalb  andauernd  gemindert 


§  24.    Größe  des  Stoffwechsels  und  Gewicht  der  Farbe.  Hl 

ist,  so  wird  auch  die  Assimilation  nicht  mehr  in  der  normalen  Weise 
stattfinden,  und  die  Wertigkeit  der  Sehsubstanz  so  lange  abnehmen,  bis 
wieder  das  durchschnittliche  Gleichgewicht  zwischen  geminderter  Assimi- 
lation und  der  infolge  schwacher  Assimilation  ebenfalls  geminderten 
Dissimilation  hergestellt  ist.  Ebenso  wie  eine  mangelhafte  Zufuhr  von 
A- Material,  könnte  irgend  welche  andere  Beeinträchtigung  der  normalen 
Assimilation  zu  einer  Herabsetzung  der  Größe  des  Stoffwechsels  und  des 
Gewichts  der  korrelativen  Farbe  führen.  Dies  wird  sich  an  der  Grenze  des 
somatischen  Sehfeldes,  wo  wegen  der  geringen  Menge  von  Sehsubstanz  die 
Stoffwechselgrüße  und  das  Gewicht  der  Farbe  ohnedies  schon  entsprechend 
kleiner  sind,  am  ehesten  bemerklich  machen,  und  zwar  durch  eine  nach  Maß- 
gabe der  Störung  mehr  oder  weniger  deutliche  Einengung  der  Sehfeldgrenze. 

Hiernach  erscheint  die  normale  Lage  der  nach  den  üblichen  Methoden 
bestimmten  Sehfeldgrenzen  als  wesentlich  mit  abhängig  von  der  Ungestört- 
heit der  übrigen  Assimilationsbedingungen  und  insbesondere  auch  von  der 
normalen  Zufuhr  der  Assimilationsstoffe. 

Für  die  Qualität  der  Farbe,  welche  von  einem  bestimmten,  durch 
Licht  verursachten  D-Reiz  an  einer  Stelle  des  Sehfelds  herbeigeführt  wird, 
ist  die  dieser  Stelle  eigene  Menge  der  Sehsubstanz  gleichgültig.  Denn  der 
D-Zuwuchs,  welchen  dieser  Reiz  r  in  der  Sehsubstanz  erzeugt,  ist  stets 
proportional  der  autonomen  Dissimilation  (5,  die  Größe  der  Dissimilation 
also  gleich  ^  -|-  ^r  und  die  entstehende  Farbe  dem  Verhältnis  d  -\-  ör  \  a 
entsprechend.  Die  Werte  von  d  und  of,  d.  h.  hier  die  der  autonomen 
Dissimilation  und  Assimilation  aber  sind  notwendig  proportional  der  Menge 
der  Sehsubstanz,  welche  der  bezüglichen  Stelle  des  somatischen  Sehfeldes 
eigentümlich  ist.  So  oft  also  an  zwei  somatischen  Sehfeldstellen  das  Verhält- 
nis zwischen  ihrer  autonomen  Dissimilation  und  Assimilation  das  gleiche  ist, 
bewirkt  derselbe  D-Reiz  an  beiden  Stellen  dieselbe  Farbe  i),  gleichviel,  ob  die 
Menge  der  Sehsubstanz  an  beiden  Stellen  gleich  oder  beliebig  verschieden  ist. 

Schon  im  §  9  (Seite  31)  wurde  darauf  hingewiesen,  wie  die  im  all- 
gemeinen größere  Aufdringlichkeit  der  helleren  Farben  die  Ansicht  begünstigt 
hat,  dass  die  verschiedenen  tonfreien  Farben  nur  verschiedene  Intensitäts- 
stufen einer  und  derselben  Sehqualität  seien.  Diese  größere  Aufdringlich- 
keit erklärt  sich  also  nach  meiner  Auffassung  daraus,  dass  unter  sonst 
gleichen  Umständen  alle  übermittelhellen  Farben  ein  um  so  größeres  Ge- 
wicht haben,  je  heller  sie  sind,  was  im  VH.  Abschnitt  noch  weiter  zu  be- 
legen sein  wird.  Für  den  nach  meiner  Ansicht  auf  die  Farbe  nicht  an- 
wendbaren Begriff  der  Intensität  bietet  also  das  Gewicht  der  Farben  in 
gewissem  Sinne  einen  Ersatz. 


\)  In  §29  meiner  Mitteilungen  >zur  Lehre  vom  Lichtsinne«  (4)  habe  ich  das, 
was  ich  unter  Gewicht  einer  Empfindung  verstehe,  in  einer  meines  Erachtens  zu- 
reichend   verständlichen    Weise    auseinandergesetzt.      Unter    ausdrücklicher 


X12  Lehre  vom  Lichtsinn. 

§  25.  Die  Bedeutung  der  Empfangstoffe  der  Netzhaut.  Im 
Anschluss  an  Boll's  Entdeckung  des  Sehpurpurs  und  seine  eigenen  Unter- 
suchungen über  die  »Chemie  des  Sehepithels«  und  die  »photochemische 
Zersetzung  in  der  sehenden  Netzhaut«  entwickelte  W.  Kühne  eine  »opto- 
chemische  Hypothese«  (20,  S.  326).  Er  erachtete  das  Sehepithel  als  Träger 
photochemisch  zersetzlicher  Stoffe,  welche  er  als  Sehstoffe  bezeichnete, 
deren  Zersetzung  direkt  oder  indirekt  den  eigentlichen  Reiz  für  die  nervöse 
Substanz  bedingen  sollte.  Um  der  immer  wiederkehrenden  Verwechslung 
dieser  Sehstoffe  mit  der  Sehsubstanz  vorzubeugen,  will  ich  dieselben  als 
Empfangstoffe  der  Netzhaut  benennen.  Dass  der  Sehpurpur  ein  solcher 
Empfangstoff  sei,  nahm  Küdne  zwar  als  höchst  w^ahrscheinlich,  doch  nicht 
als  zwingend  bewiesen  an,  fand  aber  die  Annahme  noch  überdies  vorhan- 
dener farbloser  Empfangstoffe  »unbedingt«  erforderlich.  Als  ich  meine 
Mitteilungen  »zur  Lehre  vom  Lichtsinne«  veröffentlichte,  war  der  Sehpurpur 
noch  unbekannt,  und  ich  musste  mich  damals  begnügen,  mich  denen  anzu- 
schließen (4,  §  27),  welche  im  Gegensatze  zu  Herschel,  Melloni  und  See- 
beck die  Wirkung  des  Lichtes  auf  die  nervöse  Substanz  des  Auges  als  eine 
chemische  ansahen.  Erst  Boll's  und  Kühne's  Entdeckungen  schufen^  mir 
eine  Grundlage  zu  einer  weiteren  Differenzierung  der  bis  dahin  nur  sum- 
marisch behandelten  Anpassung  des  inneren  Auges  und  die  Möglichkeit, 
neben  der  Anpassung  der  Sehsubstanz  als  einer  im  strengen  Sinne  nervösen 
Substanz  eine  besondere  Anpassung  des  Empfängers  der  Netzhaut  d.  h.  der 
Stäbchen-  und  Zapfenschicht  in  Betracht  zu  ziehen.  Denn  wenn  die  Seh- 
zellen besondere  Stoffe  enthalten,  welche  vermöge  einer  teilweisen  Zersetzung 
durch  Licht  dasselbe  erst  zu  einem  Reize  für  die  nervöse  Substanz  machen, 
der  als  ein  Dissimilationsreiz  den  Stoffwechsel  der  Sehsubstanz  beeinflusst. 


Berufung  auf  diese  Erörterung  wies  ich  in  §  27  darauf  hin,  »dass  psychophysische 
Prozesse  von  sehr  verschiedener  Größe  dieselbe  Empfindung  geben  können,  weil 
es  überall  (wo  es  sich  wie  damals  in  §  27  nur  um  die  Art  der  Empfindung  han- 
delt) nicht  auf  die  absolute  Größe  dieser  Prozesse,  sondern  lediglich  auf  ihr  gegen- 
seitiges Verhältnis  ankommt«.  Gleichwohl  fand  ich  einst  in  einer  Abhandlung 
über  die  Gesichtsempfindungen  die  Bemerkung,  dass  durch  meine  oben  citierte 
Behauptung  das  eigentliche  Wesen  des  von  mir  vertretenen  Prinzips,  nach  wel- 
chem, um  Mach's  Worte  zu  benützen  (13,  L  S.  320),  »gleichen  psychischen  Prozessen 
gleiche  physische  und  ungleichen,  ungleiche  entsprechen  sollen«  geradezu  auf- 
gehoben werde.  Der  Autor  dieses  Einwandes  hat  denselben  später  wiederholt 
und  endlich  neuerdings  wieder  bemerkt,  dass  nach  meiner  Ansicht  »die  Empfin- 
dung nur  von  dem  Verhältnis  abhängen  solle,  in  dem  die  beiden  Prozesse  (D  und 
A)  jeweils  verwirklicht  sind,  während  es  auf  die  Intensität  beider  nicht  ankommen 
soll«.  Schließlich  ist  mir  auch  von  anderer  Seite  dieser  vermeinthche  Verstoß 
gegen  die  Logik  vorgehalten  worden. 

Nun  denke  man  sich  einen  Metallgießer,  der  einem  Kunden  zwei  Stücke 
Messing  von  gleicher  Legierung,  aber  verschiedenem  Gewicht  vorlegt  und  ihm 
versichert,  beide  Stücke  seien  »dasselbe«  Messing:  Was  würde  dieser  Mann  sagen, 
falls  der  Kunde  ihm  einwendete,  diese  Behauptung  enthalte  einen  offenbaren  Wider- 
spruch, denn  das  eine  Stück  wiege  zwei,  das  andere  nur  ein  Pfund. 


§  25.    Größe  des  Stoffwechsels  und  Gewicht  der  Farbe.  113 

so  wird  neben  dem  specifischen  Absorptionsvermögen  jener  Stoffe  auch 
deren  jeweilige  Menge  für  den  optischen  Reizwert  des  Lichtes  mitbestim- 
mend sein.  Würde  bei  einer  anhaltend  konstanten  und  relativ  starken  Be- 
lichtung einer  Netzhautstelle  mehr  von  dem  Empfangstoffe  verbraucht  als 
gleichzeitig  gebildet,  so  müsste  der  Gehalt  der  Sehzeilen  an  diesem  Stoffe 
abnehmen  und  also  ein  zur  absorbierten  Lichtmenge  proportionaler  Reiz- 
wert des  Lichtes  solange  herabgesetzt  werden,  bis  der  Verbrauch  dem 
gleichzeitigen  Ersätze  wieder  gleich  geworden  wäre.  Auf  diese  Weise  könnte 
die  Sehsubstanz  vor  einer  zu  lange  währenden  übermäßigen  Reizung  ge- 
schützt werden.  Wenn  aber  dann  an  die  Stelle  der  starken  Belichtung 
eine  andauernd  schwache  träte,  so  würde  fortan  weniger  von  dem  Empfang- 
stoffe zersetzt  als  gebildet,  seine  Menge  würde  wieder  zunehmen  und  der 
Reizwert  des  Lichtes  sich  solange  steigern,  bis  wieder  das  Gleichgewicht 
zwischen  Verbrauch  und  Ersatz  des  Empfangstoffes  hergestellt  wäre. 

Wegen  der  fortwährenden  Bewegungen  des  Auges  wechselt  die  Be- 
leuchtung der  einzelnen  Netzhautstellen  auch  dann  unaufhörlich,  wenn  die 
Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  eine  konstante  ist.  Doch  ist  dabei 
für  alle  Netzhautstellen  der  Durchschnittswert  ihrer  wechselnden  Beleuch- 
tung beiläufig  derselbe,  und  zwar  ist  er  proportional  zur  jeweiligen  Stärke 
der  konstanten  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes.  Infolge  des  beschrie- 
benen Anpassungsvermögens  des  Empfangsorganes  würde  nun  trotz  großen 
Verschiedenheiten  der  Gesamtbeleuchtung  der  Reizwert  jenes  Durchschnitts- 
wertes der  Netzhautbeleuchtung  für  die  Sehsubstanz  schließlich  immer 
wieder  derselbe  werden,  weil  das  Empfangsorgan  sich  für  die  eben  herr- 
schende Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  vollständig  adaptiert  hätte. 

So  würde  es  sich  verhalten,  wenn  die  Produktion  des  Empfangstoffes 
eine  quantitativ  konstante  wäre.  Es  würde  dann  zwar  der  jeweilige  Ge- 
halt der  Sehzellen  an  solchem  Stoffe  ein  sehr  verschiedener  und  zwar  bei 
anhaltend  starker  Beleuchtung  ein  kleiner,  bei  anhaltend  schwacher  ein 
großer  sein,  aber  die  Größe  des  Verbrauches  wäre  nach  jedesmaliger 
Anpassung  des  Empfängers  an  die  Beleuchtung  immer  wieder  dieselbe. 
Anders  würde  es  sich  verhalten,  wenn  die  Produktion  der  Empfangstoffe, 
je  nachdem  die  Netzhaut  belichtet  oder  verfinstert  ist,  eine  quantitativ  ver- 
schiedene wäre,  was  große  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat.  Denn  es  ist 
nicht  anzunehmen,  dass  während  der  Nachtruhe,  wobei  das  Auge  stunden- 
lang ganz  verfinstert  sein  kann,  die  Bildung  der  Empfangstoffe  ungeschwächt 
fortdauere  und  dieselben  sich  proportional  zur  Dauer  der  Verfinsterung  im 
Sehepithel  anhäufen.  Wer  noch  einen  besonderen  Beweis  dafür  verlangen 
sollte,  dass  letzteres  nicht  der  Fall  ist,  der  könnte  auf  die  später  zu  be- 
sprechenden Versuche  Aubert's  und  Anderer  über  den  zeitlichen  Verlauf  der 
Dunkeladaptation  verwiesen  werden.  Wenn  aber  die  Empfangstoffe  sich  nur 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze  anhäuften,  während  ihre  Produktion  gleichwohl 

Hering,  Lichtsinn.  8 


•^1^  Lehre  vom  Lichtsinn. 

ungeschwächt  weiter  ginge,  so  müssten  sie,  sobald  eine  bestimmte  Grenze 
erreicht  ist,  im  verfinsterten  Auge  irgendwie  in  demselben  Maße  immer 
wieder  zerstört  oder  abgeführt  werden,  in  welchem  sie  produziert  werden. 
Es  liegt  keinerlei  Grund  vor,  dies  anzunehmen.  Vielmehr  wird  jeder,  der 
sich  die  unerschöpfliche  Mannigfaltigkeit  von  Selbstregulierungen  der  Le- 
bensprozesse und  anderer  physikalisch-chemischer  Prozesse  vergegenwär- 
tigt, mit  mir  wahrscheinlich  finden,  dass  bei  anhaltender  Finsternis  die 
weitere  Bildung  und  Anhäufung  der  Empfangstoffe  früher  oder  später  auf- 
hört, sei  es  dass  ihre  Anhäufung  selbst  irgendwie  zu  einem  Hindernis  für 
ihre  weitere  Produktion  wird,  sei  es  dass  ein  während  der  Belichtung  be- 
stehender Anreiz  zu  ihrer  Bildung  infolge  der  Verfinsterung  des  Auges  in 
Wegfall  kommt.  Auch  wird  später  eine  Thatsache  zu  besprechen  sein, 
welche  es  wahrscheinlich  macht,  dass  sich  im  Sehorgan  infolge  der  Be- 
lichtung eine  funktionelle  Hyperämie  entwickelt,  wie  solche  von  vielen  nicht 
stetig  fungierenden  Organen  bekannt  ist,  und  dass  diese  Hyperämie  eben- 
falls auf  nervösem  Wege  eingeleitet  wird.  Dies  würde  in  Einklang  sein  mit 
der  Annahme,  dass  die  Bildung  der  Empfangstoffe  mit  in  Abhängigkeit  steht 
von  der  Belichtung  der  Netzhaut. 

Ebensowenig  wie  der  Stand  des  Wassers  in  einem  Gefäße,  welches 
einen  gleichzeitigen  Zu-  und  Abfluss  hat,  uns  Aufschluss  über  die  in  der 
Zeiteinheit  zu-  und  abfließende  Wassermenge  giebt,  ebensowenig  können 
wir  aus  dem  jeweiligen  Gehalt  des  Sehepithels  an  Empfangstoff  das  Aus- 
maß des  eben  stattfindenden  Verbrauches  des  letzteren  ableiten,  und  wie  trotz 
einem  niedrigen  Wasserstande  ein  starker  Wasserzufluss  deshalb  stattfinden 
kann,  weil  gleichzeitig  ein  ebensjD  starker  Abfluss  besteht,  kann  mit  einem 
sehr  kleinen  Gehalt  an  Empfangstoff  eine  relativ  starke  Produktion  des- 
selben verbunden  sein,  wenn  die  Stärke  der  Belichtung  einen,  der  Produk- 
tion gleich  starken  Verbrauch  desselben  bewirkt. 

Ich  habe  den  Eindruck  erhalten,  als  ob  diejenigen,  welche  wegen  der 
schwächeren  Rotfärbung  der  Netzhaut  belichtet  gewesener  Augen  annehmen,  dass 
bei  Tage  weniger  Sehpurpur  verbraucht  werde  als  während  der  Dämmerung, 
nicht  beachtet  hätten,  dass  ein  geminderter  Purpurgehalt  des  Seh- 
epithels an  und  für  sich  gar  nichts  für  einen  geminderten  Ver- 
brauch desselben  beweist.  An  anderer  Stelle  wird  hierauf  zurückzu- 
kommen sein. 

Schon  Kühne  sprach  von  einem  »Sehen  ohne  Sehpurpur«,  weil  er  in  der 
Netzhaut  von  Fröschen  und  Kaninchen,  welche  vor  dem  Tode  längere  Zeit  in  un- 
gewöhnlich lichtstarker  Umgebung  gelebt  hatten,  keinen  Sehpurpur  sehen  konnte. 
Er  hat  wohl  nicht  bedacht,  dass  jede  zureichend  verdünnte  Lösung  eines  Farb- 
stoffes farblos  erscheint,  und  dass,  wenn  man  den  Purpurgehalt  des  für  starke 
Dämmerung  angepassten  Empfangsorganes  =  \  setzt,  derselbe  bei  einer  hundert- 
mal stärkeren  Beleuchtung  weniger  als  Yjoq  zu  betragen  brauchte,  damit  beiden- 
falls  dieselbe  Lichtmenge  absorbiert,  gleichviel  Sehpurpur  zersetzt  und  die  nervöse 
Substanz  der  Netzhaut  gleichstark  gereizt  würde. 


§  26.    Vom  simultanen  Helligkeitskontraste.  115 

Der  Reiz  wert  einer  das  Auge  treffenden  tonfrei  wirkenden  Strahlung 
hängt  also  erstens  von  der  Größe  der  Pupille,  zweitens  wahrscheinlich  vom 
Gehalt  der  belichteten  Netzhautstelle  an  Empfangstoff  ab.  Der  Reiz  er  folg 
der  Strahlung  aber,  d.  h.  der  Zuwuchs,  den  die  Dissimilation  der  Seh- 
substanz erfährt,  ist  nach  unserer  Annahme  einerseits  diesem  Reizwerte, 
andererseits  der  jeweiligen  D-Erregbarkeit  (ö)  der  Sehsubstanz  direkt  pro- 
portional. Durch  drei  ganz  verschiedene  Mittel  zugleich  könnte  somit  dieser 
D-Zuwuchs  an  die  jeweilige  Stärke  der  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes 
successiv  angepasst  werden,  nämlich  durch  entsprechende  Änderung  erstens 
der  Pupille,  zweitens  der  Menge  eines  Empfangstoffes  und  drittens  der 
D-Erregbarkeit  der  Sehsubstanz.  Hierauf  also  würde  die  successive  An- 
passung des  Sehorganes  an  die  Beleuchtung  beruhen. 

V.  Abschnitt. 

Die  tonfreien  Wechselwirkungen  der  Sehfeldstellen. 

§  26.  Vom  simultanen  Helligkeitskontraste  ^).  Wenn  ein 
kleines  graues  Feld,  z.  B.  ein  Papierschnitzel,  auf  einem  weißen  Papier 
dunkler  grau,  auf  einem  schwarzen  heller  grau  erscheint,  als  auf  einem 
gleichgrauen  Papier,  oder  wenn  es  auf  rotem  Papier  grünlich,  auf  gelbem 
bläulich  aussieht,  so  pflegt  man  solche  sogenannte  Kontrasterscheinungen 
als  Täuschungen  über  die  »wirkliche«  Farbe  des  Schnitzels  zu  bezeichnen, 
während  man  diejenige  Farbe,  die  es  auf  gleichgrauem  Grunde  zeigt,  als 
seine  wirkliche  Farbe  gelten  lässt. 

Die  genauere  Beschreibung  und  die  verschiedenen  Erklärungen  der- 
artiger sogenannter  optischer  Täuschungen  bildeten  lange  Zeit  den  aus- 
schließlichen Inhalt  der  Abhandlungen  über  den  Simultankontrast.  Diese 
Erklärungen  aber  gründeten  sich  teils  auf  die  ältere  Annahme  [Johannes 
Müller  (23),  J.  Plateau  (24),  bezw.  Th.  Fechner  (25)J,  dass  die  Farbe, 
welche  infolge  der  Bestrahlung  einer  Netzhautstelle  gesehen  wird,  nicht 
allein  von  der  Art  und  Stärke  dieser  Bestrahlung,  sondern  vermöge  einer 
physiologischen  Wechselwirkung  der  Netzhautstellen  auch  von  der  Art  und 
Stärke  der  gleichzeitigen  Bestrahlung  der  Umgebung  jener  Netzhautstelle 
abhänge;  teils  auf  eine  neuere,  insbesondere  von  Helmholtz  vertretene  An- 
nahme, dass  es  sich  bei  solchen  Kontrasterscheinungen  nur  um  Urteils- 
täuschungen handele,  während  die  »Empfindung«  selbst  dabei  gar  nicht 
beeinflusst  werde. 

Den  Gedanken,  dass  die  Erscheinungen  des  Simultankontrastes  nicht 
bloß  auf  »optische  Täuschungen«  hinauslaufen,  sondern  der  Ausdruck  einer 


1)  Zusammenstellungen  der  Litteratur  finden  sich  besonders  bei  J.  Plateau  (21 

und  A.   TSCHERMAK  (22). 

8* 


11Q  Lehre  vom  Lichtsinn. 

wesentlichen  Lebenseigenschaft  des  Sehorganes  sind,  finde  ich  besonders 
bei  Plateau  und  E.  Mach  betont  (13,  I),  doch  haben  dieselben  diesen  Ge- 
danken in  anderer  Weise  durchgeführt,  als  wie  ich  es  im  Folgenden  ver- 
suchen werde. 

Die  wichtigsten  Folgen  jener  Wechselwirkungen  äußern  sich  gar  nicht 
in  Kontrasterscheinungen,  d.  h.  in  dem  vermeintlichen  Falschsehen  der 
»wirklichen«  Farben  der  Außendinge.  Vielmehr  beruht  gerade  das  soge- 
nannte richtige  Sehen  dieser  Farben  sehr  wesentlich  mit  auf  diesen  Wechsel- 
wirkungen, und  es  ist  noch  viel  wichtiger,  die  letzteren  da  zu 
erforschen,  wo  wir  gar  nichts  von  ihnen  zu  bemerken  meinen, 
als  da,  wo  sie  uns  als  Kontrasterscheinungen  auffallen.  Der 
Wechselwirkung  der  somatischen  Sehfeldstellen  verdanken 
wir  zu  einem  wesentlichen  Teile  sowohl  unsere  Sehschärfe  (vgl. 
VL  Abschnitt)  als  auch  die  Möglichkeit,  die  Außendinge  an  ihrer 
Farbe  wieder  zu  erkennen  (vgl.  §  6).  Da  überhaupt  die  genauere  Be- 
kanntschaft mit  den  Folgen  dieser  Wechselwirkungen  eine  der  wesentlich- 
sten Grundlagen  für  das  Verständnis  der  Art  unseres  Sehens  ist,  so  werde 
ich  dieselben  um  so  mehr  etwas  eingehender  erörtern ,  als  sie  in  den 
Lehr-  und  Handbüchern  nur  als  optische  Täuschungen  behandelt  zu  werden 
pflegen. 

Zuerst  mögen  diejenigen  Folgen  der  Wechselwirkung  besprochen  wer- 
den, welche  durchaus  den  Eindruck  von  Störungen  einer  »richtigen«  Wahr- 
nehmung der  Außendinge  machen,  und  zwar  will  ich  mich  hier  wieder  auf 
das  Gebiet  der  tonfreien  Farben  beschränken,  wo  sich  die  Wechselwirkung 
durch  den  sogenannten  Helligkeitskontrast  verrät. 

Die  beiden  kleinen  grauen  Kreisfelder  der  Fig.  1 ,  Taf.  H  sind  bei  gleicher 
Beleuchtung  von  gleicher  Lichtstärke;  dennoch  erscheint  das  auf  weißem 
Grunde  liegende  auffallend  schwärzlicher  als  das  vom  Schwarz  umgebene. 
Schlägt  man  in  ein  beliebiges  Papier  zwei  runde  Löcher,  welche  nach  Größe 
und  Abstand  den  beiden  Kreisfeldern  entsprechen,  und  legt  das  Papier  so 
auf  die  Figur,  dass  von  derselben  nur  die  beiden  Kreisfelder  sichtbar  blei- 
ben, so  erscheinen  dieselben  in  gleicher  Farbe,  wie  es  der  Gleichheit  ihrer 
Lichtstärken  entspricht. 

In  Fig.  2,  Taf.  H  haben  die  beiden  grauen  Kreisfelder  dieselbe  Licht- 
stärke wie  in  Fig.  i ,  Taf.  H,  sie  erscheinen  jedoch  in  der  ersteren  weniger 
untereinander  verschieden  als  in  der  letzteren,  wo  die  Verschiedenheit  der 
beiden  umschließenden  Felder  eine  viel  größere  ist  als  in  Fig.  2;  denn  es 
gilt  die  Begel,  dass  gleich  lichtstarke  umschlossene  Felder  um  so  ver- 
schiedener erscheinen,  je  größer  der  Unterschied  der  Lichtstärke  der. beiden 
sie  umschließenden  Felder  ist. 

Die  kleinen  Kreisfelder  in  Fig.  4,  Taf.  H  sind  ebenfalls  sämtlich  von 
gleichem    Remissionsvermögen    und    daher    bei    gleicher   Beleuchtung    von 


Graefe-Saemiseh,  Handbuch,  2.  Aufl.,  I.  Teil,  III.  Band,  Kap.  XII.  Tafel  II. 

Zu  Seite  110 


"WM 


äSUk 

w 


Fiff.  1, 


Fig.  2. 


Fig.  3. 


Verlag  von  Wilhelm  Engelmann  in  Leipzig. 


§  26.    Vom  simultanen  Helligkeitskontraste.  117 

derselben  Lichtstärke.  Man  sieht  hier,  wie  in  der  Richtung  von  unten  nach 
oben  die  Schwärzlichkeit,  in  der  entgegengesetzten  Richtung  die  Weißlich- 
keit der  Kreisfelder  zunehmend  größer  wird,  und  wie  auffallend  der  Hellig- 
keitsunterschied zwischen  dem  untersten  und  dem  obersten  Kreisfelde  ist. 
Während  in  den  soeben  erwähnten  Figuren  die  beiden  zu  vergleichen- 
den grauen  Felder  erheblich  von  einander  entfernt  sind,  berühren  sich  in 
Fig.  3,  Taf.  II  die  beiden  umschlossenen,  hier  hakenförmigen  und  ebenfalls 
gleich  lichtstarken  Felder  mit  ihren  Spitzen ;  gleichwohl  erscheinen  sie  eben- 
falls sehr  verschieden. 

Man  kann  sich  die  kleinen  grauen  Felder  in  beliebiger  Form  aus  mattem 
grauen  Papier  herstellen  und  sie  auf  einen  möglichst  großen,  zur  einen  Hälfte 
weißen  oder  hellgrauen,  zur  anderen  schwarzen  oder  dunkelgrauen  Grund  legen; 
doch  hat  dies  den  störenden  Übelstand,  dass  sie  bei  seitlicher  Beleuchtung  einen 
helleren  bezw.  dunkleren  Saum  zeigen  und  nicht  als  integrierende  Bestandteile 
der  übrigen  Fläche,  sondern  als  gesonderte  Objekte  erscheinen.  Es  ist  deshalb 
zweckmäßig,  durch  passende  Brillengläser  dafür  zu  sorgen,  dass  man  nicht  für 
die  Entfernung  der  Felder  akkommodieren  kann.  Dadurch  werden  ihre  Um- 
risse verwaschen,  und  zugleich  verschwindet  das  etwa  vorhandene  Korn  der 
Papiere. 

Die  Figuren  auf  Taf.  11  zeigen  bereits,  in  wie  hohem  Grade  die  Hellig- 
keit eines  kleinen  Feldes  mit  abhängt  von  der  Helligkeit  seiner  Umgebung; 
doch  lässt  sich  sogar  ein  kleines  weißes  Feld  ohne  Änderung 
seiner  Lichtstärke  durch  bloße  Änderung  der  Lichtstärke  der 
gesamten  Umgebung  in  ein  schwarzes,  und  umgekehrt  ein 
schwarzes  in  ein  weißes  verwandeln.  Man  schlage  in  der  Mitte 
eines  ganz  undurchscheinenden  weißen  Kartenpapieres  von  etwa  30  cm  im 
Geviert  ein  rundes  Loch  von  beiläufig  8  mm  Durchmesser  und  halte  es  vor 
sich,  während  man  bei  hellem  Tage  mit  dem  Rücken  am  Fenster  steht 
und  nach  einer  5 — 6  m  entfernten  und  dementsprechend  schlechter  be- 
leuchteten weißen  Wand  oder  einen  an  der  Wand  befestigten  weißen  Schirm 
blickt,  von  denen  also  nur  ein  kleiner  Teil  durch  das  Loch  sichtbar  ist. 
Hält  man  zugleich  dicht  an  das  Auge  eine  beiläufig  25  cm  lange,  mit  schwar- 
zem Samt  oder  Wollpapier  ausgekleidete  Röhre,  welche  am  anderen  Ende 
eine  ebenfalls  mit  Samt  belegte  Manschette  trägt,  und  drückt  das  Karten- 
papier im  Umkreise  des  Loches  dicht  an  diese  Manschette,  so  erscheint 
das  Loch  weiß;  sobald  man  aber  die  Röhre  entfernt,  erscheint  es  schwarz. 
Dieser  Farbenwechsel  ist  ein  außerordentlich  überraschender.  Der  Einfluss 
der  Pupillenänderung  lässt  sich  durch  ein  in  der  Nähe  des  Augenendes  der 
Röhre  eingesetztes  Diaphragma  ausschUeßen,  dessen  Öffnung  nur  2  mm  im 
Durchmesser  hat. 

Überhaupt  lässt  sich  sagen,  dass  bei  Tage  ein  kleines  Feld  bei  passen- 
der konstanter  Lichtstärke  jede  zwischen  einem  nicht  allzutiefen  Schwarz 
und  einem  ziemlich  reinen  Weiß  liegende   tonfreie  Farbe   annehmen   kann, 


118  Lehre  vom  Lichtsinn. 

je  nachdem  seine  Umgebung  mehr  oder  weniger  lichtstark  ist.  Mit  wach- 
sender Lichtstärke  der  Umgebung  ändert  sich  in  der  Farbe  des  kleinen 
Feldes  das  Verhältnis  der  Schwärze  zur  Weiße  immer  mehr  zu  Gunsten 
der  Schwärze,  mit  abnehmender  Lichtstärke  der  Umgebung  zu  Gunsten 
der  Weiße. 

Die  soeben  besprochenen  Thatsachen  pflegt  man  zwar  meistens  als 
Erscheinungen  des  simultanen  Helligkeitskontrastes  zu  bezeichnen,  bei  der 
gewöhnlichen  Art  des  Sehens  aber,  wobei  der  Blick  zwanglos  umher  springt, 
hat  dieser  Kontrast  eine  doppelte  Ursache.  Erstens  wird  ein  Netzhautbild 
von  gleichbleibender  Lichtstärke,  wenn  es  infolge  einer  Augenbewegung  auf 
Netzhautstellen  geschoben  wird,  welche  soeben  schwächer  belichtet  waren, 
weißlicher  oder  minder  schwärzlich  gesehen,  als  wenn  es  auf  Netzhautstellen 
übertritt,  welche  zuvor  stärker  belichtet  waren:  die  unter  diese  Regel  fallen- 
den Erscheinungen  gehören  zu  denen  des  successiven  Kontrastes  oder,  wie 
ich  kürzer  sagen  will,  des  Nachkontrastes.  Zweitens  wird  ein  auf  der- 
selben Netzhautstelle  verharrendes  Bild,  wenn  es  von  einem  lichtschwächeren 
umschlossen  ist,  weißlicher  oder  minder  schwärzlich  gesehen,  als  wenn  es 
von  einem  lichtstärkeren  umgeben  ist:  die  hierher  gehörigen  Erscheinungen 
sind  solche  des  reinen  Nebenkontrastes  d.  h.  des  simultanen  Helligkeits- 
kontrastes im  engeren  Sinne. 

Die  oben  besprochenen  Kontrasterscheinungen  sind  also,  wenn  man 
wie  gewöhnlich  mit  bewegtem  Blicke  beobachtet,  teils  durch  Nachkontrast, 
teils  durch  Nebenkontrast  bedingt;  sie  sind  Erscheinungen  des  gemischten 
Kontrastes. 

Zunächst  gilt  es,  den  Nebenkontrast,  welcher  uns  jetzt  allein  beschäf- 
tigen soll,  streng  gesondert  vom  Nachkontraste  zu  untersuchen,  wie  dies 
besonders  Helmholtz  wenigstens  teilweise  durchführte  (s.  I,  S.  392).  Streng 
lässt  sich  dem  dadurch  entsprechen,  dass  die  ganze  Fläche,  auf  der  sich 
die  Kontrasterscheinung  zeigen  soll,  erst  dann  sichtbar  gemacht  wird,  wenn 
die  Augen  bereits  eine  feste  Lage  angenommen  haben,  welche  dann  wäh- 
rend der  im  allgemeinen  nur  kurz  (1 — 2  Sekunden)  zu  bemessenden  Be- 
obachtungszeit unverändert  beizubehalten  ist.  Ein  länger  fortgesetztes  Be- 
obachten mit  festgehaltenem  Blicke  vermag  das  Ergebnis  wesentlich  zu 
ändern. 

Man  schiebe  über  die  Figur  \  (Taf.  H)  von  rechts  und  links  je  ein 
graues  Blatt  bis  an  die  Grenzlinie  zwischen  dem  Schwarz  und  Weiß,  so 
dass  diese  unter  sich  ganz  gleichen  Deckblätter  längs  der  Grenzlinie  zu- 
sammenstoßen, und  mache  am  Rande  des  einen  Deckblattes  einen  kleinen 
Ausschnitt  an  der  Stelle,  unter  der  sich  die  auf  der  Grenzlinie  der  Figur 
angebrachte  schwarze  Marke  befindet.  Fixiert  man  einige  Zeit  mit  einem 
oder  beiden  Augen  die  letztere  und  zieht  sodann  bei  unveränderter  Augen- 
stellung die  beiden  Deckblätter  mit  mäßiger  Geschwindigkeit  nach  rechts 


§  26.     Vom  simultanen  Helligkeitskontraste. 


119 


und  links  zur  Seite,  so  sieht  man  sofort  die  beiden  grauen  Kreisfelder  in 
verschiedener  Farbe,  wenn  auch  nicht  in  demselben  Maße,  wie  bei  gewöhn- 
licher Betrachtung.  Auf  diese  Weise  ist  dafür  gesorgt,  dass  die  Netzhaut- 
stellen, auf  welche  die  Bilder  der  Kreisfelder  fallen,  zuvor  hinreichend  lange 
in  ganz  gleicher  Weise  belichtet  waren,  und  ein  Nachkontrast  infolge  von 
Augenbewegungen  ist  ausgeschlossen.  Im  Folgenden  wird  stets  eine 
vor  Einmischung  des  Nachkontrastes  möglichst  schützende 
Versuchsweise  vorausgesetzt. 

Der  Blickpunkt  ist  mitten  zwischen  die  zu  vergleichenden  Felder  zu 
verlegen,  damit  sich  die  letzteren  auf  möglichst  gleichwertigen  Netzhaut- 
stellen abbilden. 

AuBERT  imd  E.  Mach  haben  bei  einzelnen  Versuchen  den  Einfluss  der  Blick- 
bewegung dadurch  ausgeschlossen,   dass  sie  die  Beobachtungsfläche  nur  momentan 


Fig.  -1 8. 


Fig.  t9. 


durch  einen  starken  elektrischen  Funken  beleuchteten.  Ich  selbst  habe  vielfach 
einen  sogenannten  Momentverschluss  der  Photographen  benutzt,  nachdem  ich 
für  besonders  starke  Beleuchtung  der  Beobachtungsfläche  gesorgt  hatte.  Beide 
Methoden  gestatten  jedoch  nur  eine  sehr  begrenzte  Verwendung.  Vorzügliche 
Dienste  leistet  die  folgende,  auch  nur  in  besonderen  Fällen  anwendbare  Methode: 
Man  befestigt  die  Kontrastfigur  auf  einem  schwarzen  Karton,  durchsticht  beide 
an  dem  zur  Fixierung  bestimmten  Punkte  mit  einer  feinen  Nadel  und  beleuchtet 
das  Loch  von  hinten  durch  eine  sehr  schwache  Lichtquelle.  Empfängt  nun  die 
Kontrastfigur  ihre  Beleuchtung  ausschließlich  durch  eine  Öffnung  im  Fenster- 
laden oder  durch  eine  Lampe,  die  sich  leicht  verdecken  lassen,  so  fixiert  man 
zunächst  bei  Ausschluss  der  Beleuchtung  das  allein  leuchtende  Loch  und  giebt 
dann  plötzlich  die  Beleuchtung  wieder  frei.  Andere  Methoden  zur  Ausschheßung 
des  Nachkontrastes  werden  gelegentlich  zur  Sprache  kommen. 

Der  zweiten  wichtigen  Bedingung,  dass  die  kleinen  Felder  als  integrie- 
rende Teile  der  übrigen  Fläche  erscheinen,  lässt  sich  in  einzelnen  Fällen 
mit   Hilfe    des  Farbenkreisels    genügen.      Fig.  i8  ist   ein   möghchst  treues 


120 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Abbild!)  einer  rotierenden  Kreiselscheibe,  auf  welcher  der  schmale  grau- 
weiße Ring  in  der  äußeren  schwarzen  Zone  und  der  dunkler  graue  in  der 
inneren  weißen  Zone  von  gleichem  Kreiselwert  sind.  Fi^.  \  9  stellt  die  ent- 
sprechende unbewegte  Kreiselscheibe  dar. 


^o* 


Um  den  Nachkontrast  auszuschließen,  bringt  man  vor  der  Scheibe  einen,  von 
einem  Träger  gehaltenen  feinen  Draht  an,  dessen  Spitze,  wenn  man  sie  mit  einem  Auge 
fixiert,  einen  Punkt  der  Grenzlinie  der  weißen  und  schwarzen  Zone  deckt,  und 
hält  hinter  diesen  Draht  ein  steifes  graues  Blatt  so  lange,  bis  der  Kreisel  die 
nötige  Geschwindigkeit  erreicht  hat.  Dann  zieht  man  das  Blatt  weg,  während 
man  das  Drahtende  weiter  fixiert. 

Eine  zweckmäßige  Herstellungsweise  solcher  Kreiselscheiben  ist  folgende: 
Auf  eine  größere  schwarze  Scheibe  wird  eine  kleinere  weiße  gelegt,  nachdem 
aus  beiden  je  zwei  Fenster  in  Form  eines  schmalen  Ringsektors  von  90°  aus- 
geschnitten sind,    wie  dies  Fig.  4  9  zeigt.     Unter  der  größeren  schwarzen  Scheibe 


Fig.  20. 


Fig.  21 


Hegt  eine  gleichgroße  weiße  und  zwischen  dieser  und  der  schwarzen  noch  eine 
große  schwarze  von  der  in  Fig.  20  dargestellten  Form.  Durch  passende  Lagerung 
der  letzteren  kann  man  die  weiß  erscheinenden  Ringsektoren  der  erstgenannten 
Scheibe  beliebig  verkleinern.  Ebenso  lassen  sich  die  schwarz  erscheinenden 
Ringsektoren  der  kleinen  weißen  Scheibe  durch  eine  untergelegte  kleine  weiße 
Scheibe  von  der  Form  der  Fig.  2  \  beliebig  kürzen.  Man  kann  in  dieser  Weise 
sowohl  auf  der  weißen  als  auf  der  schwarzen  Zone  der  rotierenden  Scheibe 
graue  Ringe  von  einer  innerhalb  gewisser  Grenzen  beliebigen  Helligkeit  herstellen 
und  zu  jedem  Grau  des  Ringes  der  weißen  Zone  einen  ihm  gleichscheinenden 
für  die  schwarze  Zone  finden.  Als  ich  z.  B.  an  einem  hellen  Tage  die  schwarzen 
Ringsektoren  in  der  weißen  Zone  mit  90°  eingestellt  hatte,  musste  ich  die 
weißen  in  der  schwarzen  Zone  bis  auf  9°  reduzieren,  um  für  das  unbewegte 
Auge  gleiche  Helligkeit  beider  Ringe  zu  erzielen.  Hierbei  war  der  Kreiselwert 
des  einen  Ringes  beiläufig  siebenmal  größer  als  der  des  anderen. 


4)  Über  das  Photographieren  rotierender  Kreiselscheiben  vergleiche  E.  Mach 
(<3,  L  S.  306),  welcher  dasselbe  zuerst  vorgenommen  hat. 


§  27.    Untersuchung  des  simultanen  Helligkeitskontrastes. 


121 


§  27.    Ein  Apparat  zur  Untersuchung  des  simultanen  Hellig- 
keitskontrastes.     Um    sowohl    die   Lichtstärken   zweier  miteinander  zu 
vergleichender  umschlossener  Felder  als  auch  die  Lichtstärken  der  sie  um- 
schließenden Flächen  innerhalb  ziemlich  weiter 
Grenzen   leicht   verändern   zu  können ,   habe  Fig.  22. 

ich  mich  vielfach  einer  schon  wiederholt  er- 
wähnten Methode  bedient,  die  sich  kurz  als 
die  Lochmethode  bezeichnen  lässt.  Fig.  22 
stellt  schematisch  einen  Vertikalschnitt  durch 
einen  Apparat  dar,  welcher  eine  vielseitige 
Anwendung  dieser  Methode  gestattet. 

Man  denke  sich  einen  offenen ,  innen 
mattgeschwärzten  Kasten  von  60  cm  Länge, 
36  cm  Breite  und  24  cm  Tiefe,  der  auf  die 
eine  kürzere  Seitenwand  gestellt  ist.  Die 
dabei  nach  oben  liegende  Wand  ist  durch 
einen  Rahmen  [rr  Fig.  23)  ersetzt,  auf  dem 
gewöhnlich  ein  halb  mit  mattschwarzem,  halb 
mit  mattweißem  Papier  bedeckter  steifer,  auf 
seiner  Unterseite  geschwärzter  Karton  liegt. 
In  der  Nähe  der  Grenzlinie  der  schwarzen 
und  der  weißen  Hälfte  ist  jederseits  ein  rundes 
Loch  von  beiläufig  12  mm  Durchmesser  ge- 
schlagen, wie  dies  Fig.  23  versinnlicht.  Diese  Löcher  sind  im  Karton  ein 
klein  wenig  grüßer  als  in  dem  aufliegenden  weißen  und  schwarzen  Papier. 
Aus  letzteren  müssen  sie  mit  einem  sehr  scharfen  Locheisen  so  ausge- 
schlagen werden,  dass  ihr  Rand  weder  eingedrückt  noch  aufgeworfen  ist. 
Der  Beobachter  steht  hinter  dem  in 
passender  Höhe  aufgestellten  Kasten 
und  blickt  von  oben  auf  denselben 
herab,  so  dass  für  ihn  die  schwarze 
und  weiße  Hälfte  der  oberen  Fläche 
nach  rechts  und  links  liegen.  Etwas 
oberhalb  der  Unterfläche  des  Kastens 
befindet  sich  in  demselben  rechts  und 
links  je  eine,  an  einer  horizontalen 
Achse    befestigte    dünne    Metallplatte, 

auf  welche  mit  weißem  oder  grauem  Papier  überzogene  Glastafeln  auf- 
gelegt werden.  Das  Abgleiten  derselben  bei  schräger  Stellung  der  sie 
tragenden  Metallplatte  ist  durch  vorspringende  Ränder  der  letzteren  ver- 
hindert. Diese  beiden  Tragplatten  berühren  sich  fast  in  der  Mitte  des 
Kastens.     Wenn  nötig  können  sie  durch  einen  kleinen  Riegel  an  der  Unter- 


Fig.  23. 


122 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


fläche  so  verkoppelt  werden,  dass  sie  gemeinschaftlich  wie  eine  einfache 
Platte  von  doppelter  Größe  um  die  horizontale  Achse  drehbar  sind.  Damit 
der  Beobachter  die  Lage  der  Platten  ändern  kann,  ohne  sich  bücken  zu 
müssen,  trägt  die  Achse  einer  jeden  außen  eine  Rolle,  welche  mittels  Schnur- 
lauf durch  eine  zweite,   am  oberen  Teile  des  Kastens  befindliche  Rolle  be- 


wegt   werden    kann,    wie 
Kastens  veranschaulicht. 


dies   die  in  Fig.  24   skizzierte   Seitenfläche   des 


'&• 


Fig.  25. 


Fig.  24. 


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o 
T 

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>. 


Von  den  auf  den  Tragplatten  liegenden  Tafeln  empfangen  die  beiden 
Löcher  für  den  Beobachter  ihr  Licht,  so  dass  sie  ihm,  besonders  bei  un- 
vollkommener Akkommodation,  als  graue  bezw.  weiße  oder  schwarze  runde 
Flecke  auf  der  oberen  schwarzen  bezw.  weißen  Fläche  erscheinen.  Die 
Stärke  der  Beleuchtung  jedes  Loches  lässt  sich  durch  Änderung  der  Neigung 
der  entsprechenden  unteren  Tafel  zur  Einfallsrichtung  des  Himmelslichtes 
innerhalb  weiter  Grenzen  variieren. 

Befindet  sich  die  Nasenwurzel  in  passender  Höhe  senkrecht  über  dem 
Mittelpunkte    der    oberen  Fläche    des  Apparates,    und   fixiert   man  diesen 


§  27.    Untersuchung  des  simultanen  Helligkeitskontrastes.  123 

Punkt,  so  ist  bei  zureichendem  Abstände  der  beiden  Löcher  von  einander 
für  beide  Augen  das  rechtseitige  Loch  ausschließlich  von  der  rechtseitigen, 
das  linke  ausschließlich  von  der  linkseitigen  unteren  Tafel  beleuchtet,  wie 
dies  Fig.  25  veranschaulicht.  Beobachtet  man  mit  nur  einem  Auge,  so 
dürfen  die  beiden  Lücher  einander  beliebig  nahe  sein;  das  Auge  soll  sich 
dann  senkrecht  über  dem  Mittelpunkte  der  oberen  Fläche  befinden.  Ein 
Kopfhalter  sichert  die  passende  Augenlage.  Der  Blickpunkt  soll  in  der  Mitte 
zwischen  den  beiden  Lüchern  liegen,  so  dass  beide  indirekt  gesehen  werden. 

Für  besondere  Versuche  kann  im  Apparat  ein  unter  45°  zum  oberen 
Karton  geneigtes  Spiegelglas  {s)  und  zugleich  vor  den  obersten  Teil  der 
offenen  Seite  des  Apparates  eine  matte  Glastafel  (m)  so  angebracht  werden, 
wie  dies  Fig.  22  zeigt.  Das  durch  das  Mattglas  eindringende  Licht  wird 
an  dem  Spiegelglase  reflektiert  und  gesellt  sich  für  das  Auge  des  Beobachters 
zu  dem  von  den  unteren  Papierflächen  kommenden  Lichte,  so  dass  beide 
Lücher  einen  gleich  großen  Zuwuchs  zu  ihrer  Lichtstärke  erhalten. 

Bei  allen  Versuchen  wird  gleiche  Dauer  der  Beobachtungszeit,  z.  B. 
eine  Sekunde,  und  zwischen  je  zwei  Beobachtungen  eine  so  lange  Pause  vor- 
ausgesetzt, dass  alle  Nachwirkungen  des  vorhergegangenen  Versuchs  ver- 
schwunden sind.  Die  Einmischung  des  durch  Augenbewegungen  bedingten 
Nachkontrastes  lässt  sich  durch  Benutzung  von  Deckblättern  in  der  oben 
(S.  1 1 8)  beschriebenen  Weise  ausschließen.  Es  empfiehlt  sich,  durch  passende 
Brillengläser  dafür  zu  sorgen,  dass  man  für  die  Lücher  nicht  genau  akkom- 
modieren  kann.  Von  den  sehr  mannigfaltigen  Versuchen,  die  sich  an  diesem 
Apparate  behufs  einer  vorläufigen  Orientierung  über  die  Regeln  des  Hellig- 
keitskontrastes anstellen  lassen,  seien  nur  die  folgenden  erwähnt. 

L  Sind  die  beiden,  zunächst  horizontal  liegenden  Tragplatten  mit  zwei 
ganz  gleichen  z.  B.  weißgrauen  Tafeln  belegt,  so  erscheinen  die  beiden 
Lücher  trotz  der  Gleichheit  ihrer  Lichtstärke  verschieden,  man  kann  sie 
aber  gleich  erscheinen  machen,  wenn  man  entweder  der,  dem  dunkler  er- 
scheinenden Loche  zugehürigen  Tafel  eine  entsprechend  günstigere  Neigung 
zum  einfallenden  Lichte  giebt,  oder  der  anderen  Tafel  eine  entsprechend 
ungünstigere. 

Hat  man  die  beiden  Tragplatten  in  dieselbe  Ebene  gebracht  und  ver- 
koppelt, unter  das  Loch  im  Weiß  ein  hellgraues,  unter  das  Loch  im  Schwarz 
ein  dunkelgraues  Papier  aufgelegt,  so  künnen  bei  passender  Wahl  der  beiden 
Papiere  die  beiden  Lücher  trotz  der  großen  Verschiedenheit  ihrer  Licht- 
stärken ganz  gleich  erscheinen.  In  der  Verschiedenheit  ihres  Kreiselwertes 
hat  man  eine  Art  Maß  für  die  Stärke  der  Kontrastwirkung. 

n.  Die  eine  Hälfte  der  oberen  Fläche  bestehe  aus  weißem,  die  andere 
aus  schwarzgrauem  Papier,  und  den  Lüchern  habe  man  durch  passende 
Wahl  und  Lage  der  unteren  Papierflächen  eine  beiderseits  gleiche  graue 
Farbe  gegeben.     Mindert  man  dann  durch  gleichmäßige  Beschattung  beider 


i[24  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Hälften  der  oberen  Fläche  die  Lichtstärken  derselben  in  demselben  Ver- 
hältnis, so  erscheint  nachher  das  Loch  im  Weiß  heller  als  das  Loch  im 
Dunkelgrau.  Macht  man  die  Löcher^  durch  Drehung  der  diesem  helleren 
Loche  entsprechenden  unteren  Tafel  wieder  gleich,  so  erscheint  nach  Wieder- 
aufhebung der  Beschattung  dieses  Loch  dunkler  als  das  andere.  Eine  er- 
hebliche Änderung  der  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  lässt  sich  dadurch 
vermeiden,  dass  man  nur  die  nähere  Umgebung  der  beiden  Löcher  mit 
Hilfe  eines  kleinen,  an  einem  Drahte  befestigten  Papierquadrates  gleichstark 
beschattet. 

Dieser  Versuch  liefert  ein  Beispiel  dafür,  dass  die  Gleichfarbigkeit 
(gleiche  Helligkeit  oder  Dunkelheit)  der  beiden  verschieden 
lichtstarken  umschlossenen  Felder  nicht  lediglich  an  ein  be- 
stimmtes Verhältnis  der  Lichtstärken  der  umschließenden  Felder 
gebunden  ist,  sondern  bei  gegebenem  Verhältnis  dieser  Lichtstärken  auch 
eine  bestimmte  absolute  Größe  derselben  voraussetzt. 

HL  Nachdem  in  der  oben  beschriebenen  Weise  das  Spiegelglas  und 
das  Mattglas  im  Apparate  angebracht  worden  sind,  mindert  man  zunächst 
das  durch  das  Mattglas  eindringende  Licht  durch  Vorsetzen  eines  passend 
ausgewählten  möglichst  tonfreien  Rauchglases  von  der  Größe  des  Matt- 
glases. Die  obere  Papierfläche  sei  zur  einen  Hälfte  schwarz,  zur  anderen 
weiß.  Giebt  man  nun  den  beiden  Löchern  durch  passende  Wahl  und  Lage 
der  unteren  Tafeln  eine  beiderseits  gleiche  graue  Farbe  und  hält  dann  von 
dem  Mattglas  alles  Licht  durch  einen  schwarzen  Karton  ab,  so  wird  die 
Lichtstärke  beider  Löcher  um  denselben  Betrag  vermindert.  Das  Loch 
im  Schwarz  erscheint  nun  dunkler  als  das  Loch  im  Weiß.  Macht 
man  beide  Löcher  durch  passende  Drehung  der,  dem  Loch  im  Schwarz 
entsprechenden  unteren  Papierfläche  wieder  gleich  und  entfernt  dann  den 
das  Mattglas  deckenden  Karton,  so  erhalten  beide  Löcher  einen  gleich  großen 
Lichtzuwuchs.  Nun  erscheint  das  Loch  im  Schwarz  heller  als  das 
Loch  im  Weiß. 

Erscheinen  also  zwei  umschlossene  Felder,  deren  umschließende  ver- 
schiedene Lichtstärken  haben,  gleich  hell,  und  erteilt  man  sodann  den 
beiden  umschlossenen  denselben  Lichtzuwuchs,  so  werden  sie  ungleich  und 
zwar  zeigt  das  in  der  lichtstarken  Umgebung  liegende  einen  kleineren 
Helligkeitszuwuchs  als  das  andere.  Dementsprechend  ist,  wenn  beide  um- 
schlossene Felder  denselben  Helligkeitszuwuchs  erhalten  sollen,  für  das 
in  der  lichtstarken  Umgebung  liegende  ein  größerer  Lichtzuwuchs  erforder- 
lich, als  für  das  Feld  mit  lichtschwacher  Umgebung.  Dieser  Versuch  zeigt, 
dass  bei  gegebenen  Lichtstärken  der  umschließenden  Felder  das  Gleich- 
erscheinen der  beiden  umschlossenen  nicht  an  eine  bestimmte  Lichtstärken- 
verschiedenheit der  letzteren  gebunden  ist,  sondern  dass  es  auch  auf  die 
absoluten  Größen  ihrer  Lichtstärken  mit  ankommt. 


§  28.    Folgerung  aus  den  beschriebenen  Kontrastversuchen.  125 

§  28.  Eine  wichtige  Folgerung  aus  den  beschriebenen  Kon- 
trastversuchen. Die  bisher  besprochenen  Kontrasterscheinungen  lehrten, 
dass  ein  umschlossenes  Feld  bei  derselben  Lichtstärke  durch  jede  Steigerung 
der  Lichtstärke  seiner  Umgebung  dunkler,  durch  jede  Minderung  derselben 
heller  gemacht  werden  kann. 

Dementsprechend  sahen  wir,  dass,  um  zwei  umschlossenen  Feldern, 
deren  umschließende  verschieden  lichtstark  sind,  dieselbe  Helligkeit  zu  geben, 
für  das  in  lichtstärkerer  Umgebung  liegende  eine  größere  Lichtstärke  er- 
forderlich ist,  als  für  das  in  lichtschwächerer  Umgebung  befindliche;  und 
wenn  wir  dann  den  beiden  gleich  erscheinenden  Feldern  einen  gleich  großen 
positiven  bezw.  negativen  Helligkeitszuwuchs  erteilen  wollten,  so  musste  der 
positive  bezw.  negative  Zuwuchs  der  Lichtstärke  für  das  in  der  lichtstärkeren 
Umgebung  liegende  Feld  grüßer  sein  als  für  das  andere.  Kurzum  die  Er- 
hellbarkeit  des  umschlossenen  Feldes  erwies  sich  als  eine  Funktion  der 
Erhellung  seiner  Umgebung. 

In  allen  diesen  Fällen  hatte  das  umschlossene  Feld  eine  andere  Licht- 
stärke als  das  umschließende,  und  zwar  war  bald  das  erstere,  bald  das 
letztere  das  lichtstärkere.  Es  ist  jetzt  noch  der  besondere  Fall  zu  erwägen, 
in  welchem  beide  Felder  zunächst  dieselbe  Lichtstärke  haben  und  zu- 
sammen als  eine  Fläche  von  überall  gleicher  Helligkeit  erscheinen.  Jeder 
beliebige,  innerhalb  einer  solchen  Fläche  liegende  Einzelteil  derselben  lässt 
sich  als  ein  umschlossenes  und  die  übrige  Fläche  als  das  umschließende 
Feld  ansehen  und  steht  also  unter  dem,  seine  Helligkeit  mindernden  Ein- 
flüsse der  Lichtstärke  dieses  umschließenden  Feldes,  welche  hier  gleich 
groß  ist  wie  seine  eigene.  Infolgedessen  wird  er  minder  hell  erscheinen, 
als  er  erscheinen  würde,  wenn  seine  Umgebung  eine  kleinere  oder  gar  keine 
Lichtstärke  besäße.  Da  dies  von  allen  Einzelteilen  der  Fläche  gilt,  so 
Wird  die  ganze  Fläche  minder  hell  erscheinen,  als  ohne  die 
gegenseitige  verdunkelnde  Wirkung  ihrer  Einzelteile  der  Fall 
sein  würde. 

So  führen  uns  also  die  beschriebenen  Thatsachen  zu  der  Folgerung, 
dass  eine  gegenseitige  Beeinflussung  nicht  bloß  zwischen  Fel- 
dern von  verschiedener  Lichtstärke  besteht,  sondern  auch 
zwischen  solchen  von  gleicher  Lichtstärke  und  entsprechend 
gleicher  Helligkeit,  in  Fällen  also,  wo  von  einem  Kontraste  gar  nicht 
gesprochen  werden  kann,  da  der  Begriff  des  Kontrastes  das  Vorhanden- 
sein eines  Unterschiedes  in  sich  schließt.  Das  Folgende  wird  weitere  Be- 
weise hierfür  bringen. 

Die  beschriebenen  Erscheinungen  des  simultanen  Helligkeitskontrastes  haben 
die  Vermutung  angeregt,  dass  die  durch  Belichtung  einer  Netzhautstelle  bewirkte 
»Erregung«    durch   die   gleichzeitige   Belichtung   ihrer   Umgebung   irgendwie   und 


126  Lehre  vom  Lichtsinn. 

irgendwo  im  nervösen  Apparat  teilweise  gehemmt,  unterdrückt,  aufgehoben  werde 
oder  wie  sonst  man  es  ausdrücken  will.  Es  ist  sogar  daran  gedacht  worden, 
auf  diese  Weise  zu  erklären,  warum  eine  bestimmte  z.  B.  ebenmerkhche  Stei- 
gerung der  Helligkeit  einer  belichteten  Fläche  einen  um  so  größeren  Licht- 
zuwuchs erfordert,  je  größer  die  Lichtstärke  der  Fläche  schon  ist  (sogenanntes 
WEBER'sches  Gesetz).  Wenn  aber  durch  die  hemmende  Wirkung,  welche  die 
einzelnen  Teile  einer  gleichmäßig  belichteten  Fläche  gegenseitig  auf  einander  aus- 
üben, ein  um  so  größerer  Teil  der  direkten  Lichtwirkung  aufgehoben  würde,  je 
lichtstärker  die  Fläche  ist,  so  wäre  daraus  noch  nicht  erklärt,  warum  nicht  zu 
einem  ebenmerkhchen  Zuwuchs  der  »Erregung«  bei  jedem  beliebigen  schon 
vorhandenen  Ausmaße  derselben  immer  derselbe  Lichtzuwuchs  genügen  sollte. 
Von  zwei  antagonistischen  Kräften  könnte  der  Überschuss  der  größeren  ganz 
unabhängig  davon  zur  Wirkung  kommen,  wie  groß  im  übrigen  die  beiden  Kräfte 
sind.  Wüchse  die  hemmende  Kraft,  mit  welcher  die  Einzelteile  der  Fläche  auf- 
einander wirken,  z.  B.  proportional  mit  der  Stärke  ihrer  Belichtung,  so  würde 
dies  bezüglich  der  »Erregung«  nur  ebensoviel  bedeuten,  wie  wenn  diese  Belich- 
tung stets  um  denselben  Bruchteil  ihrer  Stärke  vermindert  würde;  der  nicht 
aufgehobene  Rest  der  Lichtwirkung  würde  also  der  Lichtstärke  proportional  sein, 
und  gleichen  Zuwüchsen  der  Lichtstärken  im  Netzhautbilde  würden  immer  gleiche 
Zuwüchse  der  Erregungen  entsprechen.  Warum  können  solche  gleiche  Erregungs- 
zuwüchse  nicht  auch  gleiche  Helligkeitszuwüchse  bewirken?  Was  zu  erklären 
war,  bleibt  also  nach  wie  vor  unerklärt. 


§  29.  Messende  Versuche  mittels  Vergleichung  umschlos- 
sener Felder.  Im  Vorhergehenden  wurde  bereits  beiläufig  erwähnt,  wie 
man  für  die  Wirkung  des  Simultankontrastes  eine  Art  Maß  dadurch  zu 
gewinnen  vermag,  dass  man  dieselbe  durch  eine  entgegengesetzt  wirkende 
Änderung  einer  Lichtstärke  wieder  aufhebt.  Sind  also  zwei  Felder  gleicher 
Lichtstärke  durch  Simultankontrast  ungleich  hell  geworden,  so  kann  man 
entweder  durch  Steigerung  der  Lichtstärke  des  dunkleren  oder  durch  Min- 
derung der  Lichtstärke  des  helleren  beide  Felder  wieder  gleich  hell  bezw. 
gleich  dunkel  machen;  der  positive  oder  negative  Zuwuchs  an  Lichtstärke, 
welcher  dazu  erfordert  wird,  dient  als  Maß  der  Kontrastwirkung.  Ganz 
abgesehen  davon,  dass  die  Mittel  zur  Herstellung  messbarer  Lichtstärken 
und  deren  Änderung  sehr  verschiedener  Art  sein  können,  stehen  auch  im 
übrigen  so  viele  verschiedene  Wege  zu  derartigen  Untersuchungen  offen,  dass 
selbst  eine  ganz  kurze  Skizzierung  derselben  zu  viel  Raum  fordern  würde. 
Es  sei  nur  daran  erinnert,  wie  groß  die  Zahl  der  variablen  Bedingungen  ist, 
welche  das  Ergebnis  beeinflussen.  Die  Größe,  Form  und  gegenseitige  Lage 
der  Lichtfelder,  der  Ort  ihrer  Bilder  auf  der  Netzhaut,  die  Beleuchtung  der 
übrigen  Netzhaut,  der  Anpassungszustand  des  Auges  im  Momente  des  Sicht- 
barwerdens der  Felder,  die  Dauer  der  einzelnen  Beobachtung:  dies  alles 
beeinflusst  das  Ergebnis  dieser  Versuche,  welche  überdies  an  die  Aufmerksam- 
keit, Übung  und  Objektivität  des  Beobachters  große  Anforderungen  stellen. 
Ich    begnüge  mich   mit   der   kurzen   Beschreibung   der  großen    messenden 


§  29.   Messende  Versuche  mittels  Vergleichung  umschlossener  Felder.      127 

Versuchsreihe   von  Hess   und    Pretori  (26),   meines  Wissens   der  einzigen 
bisher  veröffentlichten  i). 

Zur  Durchführung  größerer  messender  Versuchsreihen  ist  eine  Methode 
erforderlich,  welche  gestattet,  die  Lichtstärken  sowohl  der  beiden  größeren 
dicht    aneinander    grenzenden    umschließenden  Felder    als   die   der   beiden 

Fig.  26. 


kleineren  umschlossenen  unabhängig  von  einander  und  innerhalb  weiter 
Grenzen  messbar  zu  variieren.  Hierzu  eignet  sich  eine  von  mir  entworfene 
Vorrichtung,  bei  welcher  die  Lochmethode  mit  einer  alten  photometrischen 
Methode  kombiniert  wurde.  An  einem  solchen  in  großem  Maßstabe  herge- 
stellten Apparate  haben  Hess  und  Pretori  ihre  Versuche  durchgeführt.  Als  um- 
schließende Felder  dienen  zwei  ebene, 
vertikal  aufgestellte,  durch  brennen-  .       Fig.  27. 

des    Magnesium    angeweißte    iO  cm      

hohe  Flächen  F,F  (Fig.  26  und  27), 

welche  unter  einem  Winkel  von  90°      

zusammenstoßen  und  von  zwei  seit- 
lichen, in  mehr  als  4  m  langen 
Tunneln  verschiebbaren  Lichtquellen 

beleuchtet  werden.     In  jeder  dieser      

Flächen    ist    ein    als    umschlossenes 

Feld  dienendes  viereckiges  Loch  (/,/)      -^ — 

von  1  cm  Höhe,  durch  welche  Löcher 
man   auf  ein   zweites  Paar  ebenfalls 

angeweißter  und  unter  90"^  zusammenstoßender  Flächen  (/",/")  sieht.  Dies 
zweite  Flächenpaar  ist  undurchbrochen,  seine  Flächen  sind  parallel  zu 
den  anderen,  und  ebenfalls  durch  je  eine  besondere  verschiebbare  Licht- 
quelle beleuchtet.  Die  beiden  vorderen  rechtwinklig  zusammenstoßenden 
Flächen   erscheinen   dem  50  cm  entfernten  Auge  des  Beobachters  als  zwei 


\)  Die  messenden    Kontrastversuche  von  A.  Lehmann  (9)  und  von  Ebbing- 
HAüs  (10)  betreffen  den  gemischten,  nicht  den  reinen  Simultankontrast. 


128  Lehre  vom  Lichtsinn. 

in  derselben  Vertikalebene  befindliche  Quadrate,  und  in  der  Mitte  jedes 
Quadrates  ist,  wenn  die  hinteren  Flächen  andere  Lichtstärken  haben  als  die 
vorderen,  das  bezügliche  Loch  als  ein  scharf  begrenztes  kleines  quadrati- 
sches Feld  sichtbar,  das  in  der  Ebene  der  großen  Quadrate  zu  liegen 
scheint.  Zu  jeder  der  vier  Flächen  kann  ausschließlich  nur  das  Licht  der 
für  sie  bestimmten  Lichtquelle  gelangen.  Der  ganze  Versuchsraum  ist  ver- 
finstert und  insbesondere  auch  das  Auge  des  Beobachters  in  den  zureichend 
langen  Pausen  zwischen  den  einzelnen,  je  eine  Sekunde  währenden  Beob- 
achtungen. Auf  die  ausführliche  Beschreibung  des  Apparates  und  der  Vor- 
sichtsmaßregeln zur  Verhütung  jeder  Einmischung  des  Successivkontrastes 
u.  s.  w.  kann  hier  nur  verwiesen  werden.  Die  Beleuchtungsintensität  konnte 
zwischen  \  und  5000  variiert  werden,  wobei  die  benutzte  Einheit  =  0,12 
der  Hefner-Alteneck 'sehen  Lichteinheit  war. 

Bei  jeder  einzelnen  Versuchsreihe  wurde  zunächst  beiden  umschließen- 
den Flächen  gleiche  Lichtstärke  und  beiden  umschlossenen  ebenfalls  gleiche, 
aber  von  jener  verschiedene  Lichtstärke  gegeben;  dann  wurde  die  Beleuch- 
tung des  rechten  umschlossenen  Feldes  mannigfach  geändert  und  immer 
wieder  diejenige  Lichtstärke  seines  umschließenden  Feldes  gesucht,  bei 
welcher  das  erstere  infolge  des  Kontrastes  wieder  die  anfängliche,  der  des 
linken  umschlossenen  Feldes  gleiche  Helligkeit  annahm.  Der  Durchführung 
von  17  solchen  Versuchsreihen  folgten  dann  noch  zahlreiche  Kontrollver- 
suche bei  abgeändertem  Verfahren. 

Es  ergab  sich  aus  diesen  Versuchen,  dass  der  zur  Konstanthaltung  der 
Farbe  des  Infeldes,  wie  das  umschlossene  kurz  heißen  möge,  erforder- 
liche Beleuchtungszuwuchs  stets  angenähert  proportional  zur  jeweiligen  Be- 
leuchtung des  Umfeldes  war.  Als  z.  B.  die  anfängliche  Beleuchtung  des 
rechten  Infeldes  gleich  300  Lichteinheiten  war,  betrugen  die  zur  Konstant- 
haltung der  Farbe  des  Infeldes  erforderlichen  Beleuchtungszuwüchse  desselben 
stets  ziemlich  genau  die  Hälfte  der  jeweiligen  Beleuchtungszuwüchse  des 
Umfeldes.  Doch  galt  dieser  Kontrastkoeffizient  0,5  eben  nur  für  den 
besonderen  Fall,,  wo  die  Anfangsbeleuchtung  des  Infeldes  300  Lichteinheiten 
betrug;  der  Kontrastkoeffizient  war  grüßer  bei  stärkerer  und  kleiner  bei 
schwächerer  Anfangsbeleuchtung  des  Infeldes.  Als  dieselbe  z.  B.  500  Ein- 
heiten betrug,  war  er  beiläufig  0,55;  bei  37  Einheiten  nur  0,35.  Es  sind 
dies  Mittelwerte,  welche  sich  aus  den  Versuchsreihen  mit  Wahrscheinlichkeit 
ableiten  lassen ;  sie  gelten  selbstverständlich  nur  für  die  besonderen  Versuchs- 
bedingungen (Größe  der  Felder  und  Adaptationszustand  des  Auges)  und 
werden  hier  nur  erwähnt,  um  eine  ungefähre  Vorstellung  von  der  Art  ihres 
Wachsens  mit  der  Anfangsbeleuchtung  des  Infeldes  zu  geben. 

Bei  diesen  Versuchen  wurde  also  angenommen,  dass  das  linksseitige,  wäh- 
rend jeder  Versuchsreihe  unverändert  belichtete  Infeld,  dem  das  rechtsseitige 
Infeld  immer  wieder  gleichzumachen  war,  trotz  der  Veränderung  der  Belichtungen 


§  30.    Die  Simultananpassung  als  Ergebnis  des  Simultankontrastes.       129 

des  rechtsseitigen  Um-  und  Infeldes  seine  Farbe  nicht  ändere.  Strenge  Gültig- 
keit kann  diese  Annahme  nicht  haben,  weil  sich  eine  Kontrastwirkung  der  variabel 
belichteten  rechtsseitigen  Felder  auf  die  linksseitigen  nicht  ausschließen  lässt. 
Gegenüber  der  relativ  gewaltigen  Kontrastwirkung  aber,  welche  das  rechtsseitige 
Umfeld  auf  sein  Infeld  ausübte,  durften  kleine  Kontrastwirkungen  auf  das  ent- 
fernte Infeld  der  anderen  Seite  vorerst  vernachlässigt  werden. 

§  30.  Die  Sinnultananpassung  als  Ergebnis  des  Simultan- 
kontrastes. Die  von  Hess  und  Pretori  gefundene  Regel  einer  angenäherten 
Proportionalität  zwischen  den  positiven  bezw.  negativen  Beleuchtungszu- 
wüchsen  eines  Umfeldes  und  den  zur  Konstanthaltung  der  Farbe  seines 
Infeldes  nötigen  positiven  bezw.  negativen  Zuwüchsen  zur  Beleuchtung  des 
letzteren  bietet  Veranlassung,  an  einem  besonders  einfachen  Beispiel  das  zu 
erläutern,  was  ich  in  §  6  als  simultane  Adaptation  bezeichnet  habe. 

Nehmen  wir  an,  es  seien  unter  den  im  vorigen  Paragraphen  beschrie- 
benen Umständen  beide  Um-  und  Infelder  zunächst  gar  nicht  beleuchtet, 
so  würde  der  Beobachter,  wenn  er  das  Auge  aufschlägt,  an  ihrer  Stelle 
nur  die  Eigenfarbe  seines  Sehfeldes  sehen.  Wäre  dann  vor  der  nächsten 
Beobachtung  das  rechte  Umfeld  irgendwie  belichtet  worden,  so  würde  er 
dessen  Infeld  dunkler  sehen,  als  die  zuvor  von  ihm  gesehene  Eigenfarbe 
war.  Um  das  Infeld  trotz  dieser  verdunkelnden  Wirkung  des  beleuchteten 
Umfeldes  wieder  wie  vorher  und  also  in  der  Eigenfarbe  des  Auges  erscheinen 
zu  lassen,  müsste  es  mit  einem  bestimmten  Bruchteil  der  jeweiligen  Be- 
lichtung des  Umfeldes  belichtet  werden,  d.  h.  die  Lichtstärken  beider 
Felder  müssten  in  demjenigen  Verhältnis  zu  einander  stehen, 
welches  dem  hier  eben  geltenden  Kontrastkoeffizienten  ent- 
spricht. 

Man  denke  sich  nun  als  Infeld  statt  des  Loches  ein  graues  Papier, 
dessen  Kreiselwert  zum  Kreiselwert  des  umgebenden  Magnesiaweiß  gerade 
in  diesem,  durch  den  Kontrastkoeffizienten  ausgedrückten  Verhältnis  steht. 
Dieses  Lichtstärkenverhältnis  würde  bei  jeder  beliebigen  gemeinsamen  Be- 
leuchtung des  Um-  und  Infeldes  dasselbe  bleiben.  Da  es  dem  hier  gelten- 
den Konstrastkoeffizienten  entspricht,  so  würde  der  Beobachter,  so  oft  er 
das  zwischendurch  wieder  verfinstert  gewesene  Auge  aufschlägt,  bei  jeder 
beliebigen  gemeinsamen  Beleuchtung  des  Um-  und  Infeldes  das  letztere  immer 
wieder  in  derselben  Farbe  und  zwar  in  demjenigen  Grau  sehen,  dessen 
Helligkeit  gleich  der  Durchschnittshelligkeit  der  Eigenfarbe  seines  dunkel- 
adaptierten Auges  wari). 


1)  Das  Eigenhell  des  verfinsterten  Auges  erscheint  mir  nicht  als  eine  vor 
den  Augen  befindliche  graue  Fläche,  sondern  als  ein  raumhafter  unsteter  Licht- 
nebel. Vielleicht  würde  es  besser  gelingen,  es  flächenhaft  zu  sehen,  wenn  es 
eine  wahrnehmbare  Grenze  zum  Rahmen  hätte,  denn  sobald  es  Nachbilder  ent- 
hält, wird  es  für  mich   zur  Fläche.    Es  ist  weder  homogen  noch  stetig,  sondern 

Hering,   Lichtsinn.  9 


130  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Wir  hätten  hier  also  ein  Beispiel  für  die  in  §  6  erwähnte  Konstanz 
der  Farbe  eines  Außendinges  trotz  verschiedener  Gesamtbe- 
leuchtung des  Gesichtsfeldes  und,  wie  hier  hinzugefügt  werden  muss, 
auch  trotz  einem  und  demselben  Anpassungszustande  vor  jeder  Öffnung  des 
Auges,  ein  Beispiel  aber,  welches  in  seiner  ausnahmsweisen  Einfachheit  seine 
Erklärung  sogleich  mit  sich  bringt.  Dieselbe  liegt  wie  gesagt  darin,  dass 
das  Verhältnis  zwischen  den  Lichtstärken  des  Um-  und  Infeldes  zufällig 
gerade  dasjenige  ist,  bei  welchem  die  mit  der  gemeinsamen  Beleuchtung 
wachsende  und  an  und  für  sich  verdunkelnde  Wirkung  des  Umfeldes  auf 
das  Infeld  durch  die  ebenfalls  wachsende  Lichtstärke  des  letzteren  immer 
wieder  kompensiert  wird. 

Es  ist  auch  ohne  weiteres  ersichtlich,  dass  wenn  das  als  Infeld  die- 
nende graue  Papier  eine  größere  relative  Lichtstärke  (größeren  Kreiselwert) 
hätte,  als  wie  sie  dem  eben  geltenden  Kontrastkoeffizienten  entspricht,  seine 
Farbe  bei  zunehmender  gemeinsamer  Beleuchtung  zunehmend  weißlicher 
(heller)  erscheinen  müsste.  Denn  die  verdunkelnde  Wirkung  der  wachsenden 
Lichtstärke  des  Umfeldes  würde  dann  unzureichend  sein,  die  erhellende 
Wirkung  der  gleichzeitig  wachsenden  Lichtstärke  des  Infeldes  immer  wieder 
genau  zu  kompensieren.  Ebenso  ist  ersichtlich,  dass  wenn  wir  das  Infeld 
aus  einem  Grau  von  kleinerer  relativer  Lichtstärke  (kleinerem  Kreiselwert) 
gebildet  hätten,  als  wie  sie  der  Kontrastkoeffizient  fordert,  dieses  Grau 
mit  wachsender  gemeinsamer  Beleuchtung  immer  schwärzlicher 
werden  müsste. 

So  giebt  also  dieser  einfache  Fall  von  simultaner  Kontrastwirkung  auch 
den  Schlüssel  für  die  nach  den  üblichen  Ansichten  über  das  Wachsen  der 
Helligkeit  mit  der  Lichtstärke  paradox  erscheinende  Thatsache,  dass  wenn 
wir  unser  dunkeladaptiertes  Auge  vor  einem,  entsprechend  der  gesteigerten 
Lichtempfindlichkeit  schwach  beleuchteten  Gesichtsfelde  öffnen,  nur  ein  Teil 
der  beleuchteten  Dinge  uns  weißlicher  (heller)  erscheint  als  das  kurz  zuvor 
gesehene  Eigengrau  unseres  Auges,  ein  anderer  Teil  dieser  Dinge  aber,  ob- 
wohl auch  sie  Licht  in  unser  Auge  schicken,  uns  sofort  schwärzlicher 
erscheint,  als  dieses  Eigengrau  (vgl.  S.  30  u.  70). 

Denn  aus  der  Mannigfaltigkeit  verschieden  lichtstarker  Felder,  welche 
das  eben  gegebene  Gesichtsfeld  zusammensetzen,  können  wir  ein  beliebiges 
auswählen  und  es  uns  als  Infeld,  seine  Umgebung  bezw.  das  ganze  übrige 
Gesichtsfeld  aber  als  sein  Umfeld  denken.     Aus  den  sämtlichen   Einzelwir- 


fleckig,  wolkig  und  an  derselben  Stelle  abwechselnd  weißlicher  und  schwärzlicher. 
Wie  man  von  einer  Meeresebene  spricht,  obgleich  seine  Oberfläche  stets  mehr 
oder  weniger  auf-  und  abwogt,  so  spreche  ich  von  der  jeweiligen  Durchschnitts- 
farbe des  Sehfeldes.  Würde  sich  uns  bei  verfinstertem  Auge  das  Sehfeld  als 
eine  homogene  Fläche  darstellen,  so  würde  man  sich  leichter  mit  Anderen  über 
seine  Farbe  verständigen  können. 


§  30.    Die  Simultananpassung  als  Ergebnis  des  Simultankontrastes.       131 

kungen  der  Einzelstellen  dieses  Umfeldes,  besonders  aber  aus  denen  der 
nächst  benachbarten  Stellen  wird  ein  summarischer  verdunkelnder  Einfluss 
auf  unser  Infeld  resultieren.  Wäre  nun  der  Reizwert  der  Lichtstärke  des 
Infeldes  zufällig  gerade  so  groß,  dass  seine  erhellende  Wirkung  der  ver- 
dunkelnden des  Umfeldes  das  Gleichgewicht  hält,  so  würde  uns  das  Infeld 
in  derselben  Helligkeit  erscheinen  wie  zuvor  das  Eigengrau  des  Auges;  ist 
aber  dieser  Reizwert  kleiner,  so  wird  das  Infeld  dunkler  als  dieses  Eigen- 
grau gesehen  werden,  also  schwärzlicher  bezw.  schwarz.  Was  von  dem 
einen  Einzelfelde  gilt,  muss  auch  von  jedem  anderen  gelten;  doch  wird  je 
nach  seiner  Lage  im  Gesichtsfelde  und  je  nach  den  Remissionswerten  seiner 
nächsten  Umgebung  der  für  dasselbe  geltende  Kontrastkoeffizient  ein  ver- 
schiedener und  also  auch  der  zur  Konstanthaltung  seiner  Farbe  erforder- 
liche eigene  Remissionswert  ein  anderer  sein. 

Die  Versuche  von  Hess  und  Pretori  wurden  mit  dunkeladaptiertem 
Auge  angestellt,  aber  auch  für  das  helladaptierte  gelten  analoge  Erwägungen 
wie  die  eben  angestellten.  Es  genügt  zu  wissen,  dass  bei  einer  Änderung 
der  gemeinsamen  Beleuchtung  eines  Um-  und  Infeldes,  welche  zu  rasch 
erfolgt,  als  dass  ihr  die  Successiv-Anpassung  des  Auges  zu  folgen  vermag, 
drei  Möglichkeiten  für  die  Farbe  des  Infeldes  vorliegen.  Je  nach  dem 
Werte  des  für  letzteres  eben  geltenden  Kontrastkoeffizienten,  ferner  je  nach 
dem  Verhältnis  zwischen  den  Remissionswerten  der  beiden  Felder,  und  end- 
lich je  nach  dem  unmittelbar  vor  jener  Änderung  gegebenen  Stande  der 
successiven  Adaptation,  kann  sich  die  Helligkeit  der  Infeldfarbe  bald  steigern, 
bald  mindern,  bald  unverändert  bleiben.  Immer  wird  im  Gesichts- 
felde ein  Einzelfeld  denkbar  oder  wirklich  vorhanden  sein  kön- 
nen, welches  trotz  der  Änderung  der  Gesamtbeleuchtung  seine 
Farbe  nicht  ändert,  für  dessen  mitgeänderte  Lichtstärke  also  das  Auge 
infolge  des  Simultankontrastes  sofort  wieder  derart  angepasst  ist,  dass 
ihm  die  Farbe  desselben  wieder  ebenso  wie  vor  der  Beleuchtungsänderung 
erscheint. 

Eine  strenge  Gültigkeit  der  von  Hess  und  Pretori  aufgestellten  Regel 
ist  hierzu  nicht  erforderlich.  Das  Wesentliche  dieser  momentanen  oder 
simultanen  Anpassung  des  Auges  liegt  darin,  dass  bei  schneller  Stei- 
gerung der  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  und  also  auch  der  Netz- 
haut nicht  alle  Farben  der  Außendinge  weißlicher  werden,  dass  vielmehr 
gewisse  Dinge  ihre  Farbe  sehr  wenig  oder  gar  nicht  ändern,  andere  ihre 
Farben  in  der  Richtung  nach  dem  absoluten  Weiß  hin  viel  weniger  ändern, 
als  ohne  die  Simultananpassung  der  Fall  sein  müsste,  noch  andere  sogar 
schwärzlicher  werden;  dass  ferner  bei  schneller  Minderung  der  Gesamtbe- 
leuchtung ebenfalls  gewisse  Dinge  ihre  Farbe  wenig  oder  gar  nicht  ändern, 
andere  minder  weißlich  und  noch  andere  minder  schwärzlich  werden,  als 
ohne  diese  Anpassung  zu  erwarten  wäre. 

9* 


J^32  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Dass  nicht  nur  das  Umfeld  auf  das  relativ  kleine  Infeld,  sondern  auch 
letzteres  auf  das  erstere  wirkt,  brauchte  hier  vorerst  nicht  berücksichtigt  zu 
werden,  wird  aber  später  (Vil.  Abschnitt)  die  nötige  Beachtung  finden.  Es  schien 
mir  wichtig^  bei  der  obigen  Erörterung  von  jeder  Hypothese  über  das  Wesen  der 
Wechselwirkungen  abzusehen,  die  Feststellung  einer  Simultananpassung  lediglich 
durch  die  beschriebenen  Thatsachen  des  Simultankontrastes  zu  begründen  und  so 
von  jeder  Theorie  dieser  Erscheinungen  unabhängig  zu  machen.  Auch  wurde  im 
ganzen  V.  Abschnitt  der  Einfachheit  wegen  an  der  einseitigen  Auffassung  fest- 
gehalten, als  ob  es  sich  beim  Simultankontraste  nur  um  ein  Mehr  oder  Weniger 
einer  verdunkelnden  Wirkung,  nicht  aber  auch  mit  um  erhellende  Kon- 
trastwirkungen handeln  könne  (vgl.   den  VII.  Abschnitt). 

§  31.  Beobachtung  des  simultanen  Helligkeitskontrastes 
ohne  Vergleichs feld.  Wenn  es  sich  nicht  um  Vergleichung  der  Hellig- 
keiten zweier  in  verschieden  lichtstarker  Umgebung  befmdUcher  Felder,  son- 
dern um  Beobachtung  der  Helligkeitsänderungen  handelt,  welche  ein  und 
dasselbe  umschlossene  Feld  trotz  gleichbleibender  eigener  Lichtstärke  wäh- 
rend einer  Änderung  der  Lichtstärke  seiner  Umgebung  zeigt,  so  verdient 
ein  klassischer  Versuch  von  Fechner  (25)  zuerst  erwähnt  zu  werden. 

Stellt  man  auf  eine  weiße  Fläche  ein  Petschaft  oder  einen  Stab  und 
in  verschiedenem  Abstände  von  demselben  zwei  brennende  Kerzen,  so  sieht 
man  zwei  Schatten.  Auf  den  von  der  näheren  bezw.  stärkeren  Flamme  ge- 
worfenen, welcher  der  dunklere  ist,  mache  man  eine  schwarze  Marke  und 
bringe  zwischen  den  Stab  und  die  nähere  Flamme  einen  kleinen  Schirm, 
so  dass  dieser  Schatten  verschwindet.  Fixiert  man  nach  zureichender  Pause 
die  Marke  und  entfernt  dann  den  Schirm,  so  verdunkelt  sich  plötzlich  die 
unmittelbar  zuvor  gleich  hell  wie  ihre  Umgebung  erschienene  Schattenstelle, 
d.  h.  man  sieht  wieder  den  grauen  oder  schwarzgrauen  Schatten,  obwohl 
die  Lichtstärke  der  entsprechenden  Stelle  des  weißen  Papieres  ganz  unver- 
ändert geblieben  ist. 

Auch  die  Lochmethode  erweist  sich  hier  vielseitig  verwendbar.  Man 
benutzt  z.  B.  einen  großen  undurchscheinenden,  mit  einem  Loche  versehenen 
weißen  Schirm,  hinter  dem  sich  in  zureichendem  Abstand  ein  zweiter  klei- 
nerer weißer  Schirm  von  derselben  Oberflächenbeschaffenheit  befindet.  Jeder 
Schirm  muss  ganz  unabhängig  vom  andern  beliebig  stark  beleuchtet  werden 
können. 

Zunächst  regle  man  z.  B.  beide  Beleuchtungen  so,  dass  das  Loch  im 
Vorderschirm  genau  dieselbe  Helligkeit  zeigt,  wie  dieser  Schirm  selbst, 
welchenfalls  es  bei  ganz  sauberer  Beschaffenheit  seiner  Ränder  unsichtbar 
werden  kann.  Nachdem  das  Auge  sich  an  die  gewählte  z.  B.  mittle  Licht- 
stärke angepasst  hat,  fixiert  man  einen  behebigen  markierten  Punkt  des 
Vorderschirmes  und  lässt  dann  die  Beleuchtung  des  letzteren  schnell 
abschwächen  oder  verstärken:  immer  wieder  wird  man  überrascht  sein 
durch  die  Helligkeitsänderungen   des  Loches,   dessen   eigene,   nur  von   der 


§  31.  Beobachtung  d.  simultanen  Helligkeitskontrastes  ohne  Vergleichsfeld.    133 

Beleuchtung  des  Hinterschirmes  abhängige  Lichtstärke  ganz  unverändert 
geblieben  ist.  Nach  erfolgter  Einstellung  des  Loches  auf  gleiche  Helligkeit 
mit  dem  Vorderschirm  sind  sogar  bei  kleinen  Änderungen  der  Licht- 
stärke des  letzteren  die  Helligkeitsänderungen  des  Loches  viel 
auffälliger  als  die  des  Schirmes  selbst  und  zwar  auch  dann, 
wenn  man  auf  letzteren  besonders  achtet. 

Eine  andere  von  mir  vielfach  verwendete  Versuchsmethode,  auf  die 
noch  öfter  zurückzukommen  sein  wird,  ist  die  folgende.  Gesetzt  man  hat 
zwei,  durch  eine  Thür  verbundene  Zimmer  zur  Verfügung,  welche  beliebig 
beleuchtet  oder  verfinstert  werden  können.  In  der  Thüre  sei  in  passender 
Höhe  eine  Öffnung,  und  der  eben  erwähnte  weiße  Vorderschirm  sei  dicht 
an  der  Thüre  so  angebracht,  dass  sein  Loch  vor  diese  Öffnung  zu  liegen 
kommt.  Im  zweiten  Zimmer  befindet  sich  in  hinreichendem  Abstände  von 
der  Thüre  der  Hinterschirm  auf  einem  Stativ,  so  dass  ihm  eine  beliebige 
Lage  zu  dem  seitlich  liegenden  lichtgebenden  Fenster  oder  einem  im  Fen- 
sterladen befindlichen  verstellbaren  Diaphragma  bezw.  zu  einer  künstlichen 
Lichtquelle  gegeben  werden  kann. 

Man  giebt  z.  B.  dem  Vorderschirm  die  bestmögliche  Beleuchtung  und 
lässt  die  des  Hinterschirmes  soweit  mindern,  bis  das  Loch  des  ersteren 
eben  schw^arz  wird.  Nach  längerem  Verweilen  des  Auges  auf  einer  größeren 
grauen  Fläche  fixiert  man  einen  Punkt  des  Vorderschirmes  oder  auch  des 
Loches  und  lässt  das  vordere  Zimmer  schnell  verfinstern:  dabei  leuchtet 
das  eben  noch  schwarz  erschienene  Loch  auf  und  erscheint  in  einem  hellen 
Weiß.  Nun  fixiert  man  einen  anderen  Punkt  des  Vorderschirmes  und  lässt 
denselben  sofort  wieder  in  der  früheren  Weise  beleuchten:  jetzt  verdunkelt 
sich  das  soeben  noch  weiß  erschienene  Loch  und  wird  wieder  schwarz. 
Bei  alledem  kann  seine  eigene  Lichtstärke  durchaus  unverändert  geblieben 
sein;  denn  das  etwa  vom  Gesichte  des  Beobachters  zu  dem  Hinterschirme 
gelangende  Licht  kommt  hier  nicht  in  Betracht  und  lässt  sich  übrigens 
durch  eine  schwarze  Samtmaske  ausschließen,  und  auch  die  Veränderung 
der  Pupillenweite  spielt  dabei  keine  wesentliche  Rolle.  Hält  man  bei  diesen 
Versuchen  ein  Diaphragma,  dessen  Loch  nur  2  mm  Durchmesser  hat,  dicht 
vor  das  Auge,  so  ändert  sich  der  Erfolg  nicht  merklich. 

Die  soeben  beschriebenen  Versuche  sind  besonders  für  diejenigen  von 
Wichtigkeit,  welche  im  Anschluss  an  Helmholtz  u.  A.  geneigt  sind,  die  Er- 
klärung   des    reinen    Nebenkontrastes    in   »Urteilstäuschungen«   zu  suchen. 

Hierher  gehört  eine  Thatsache,  die  vielen  Lesern  schon  bekannt  sein 
wird.  Blickt  man  bei  weit  vorgeschrittener  Dämmerung  durch  ein  Fenster 
nach  dem  noch  schwach  erhellten  Himmel,  so  wird  derselbe  sofort  schwarz, 
wenn  das  Zimmer  plötzlich  stark  erleuchtet  wird. 

Beobachtungen  an  zwei  gleich  großen  Feldern  verschiede- 
ner  Lichtstärke.     Bis   hierher   wurden   nur  Fälle  in  Betracht   gezogen, 


134  Lehre  vom  Lichtsinn. 

in  denen  kleine  Felder  von  größeren  umschlossen  vv^aren,  weil  dabei  aus 
noch  zu  besprechendem  Grunde  die  Erscheinungen  des  reinen  Nebenkon- 
trastes besonders  eindringliche  sind.  Derselbe  kommt  jedoch  bei  jeden 
zwei  aneinander  grenzenden  Feldern  verschiedener  Lichtstärke  in  Betracht, 
mögen  ihre  Größen  und  ihr  Größenverhältnis  wie  immer  sein. 

Ein  besonderer  Fall  ist  der  einer  gleichen  Größe  beider  Felder.  Mit 
Hilfe  passender  Vorrichtungen,  wie  solche  später  zu  beschreiben  sein  wer- 
den, lässt  sich  jede  Hälfte  des  Gesichtsfeldes  eines  Fernrohres  unabhängig 
von  der  anderen  in  bequem  zu  regelnder  Weise  beleuchten.  Giebt  man 
zunächst  beiden  Hälften  die  gleiche  Lichtstärke  so,  dass  das  ganze  Feld  in 
demselben  mäßig  hellen  Weiß  erscheint,  und  vergrößert  sodann  die  Licht- 
stärke der  einen  Hälfte,  während  man  unter  Fixierung  der  Grenzlinie  auf 
die  andere  achtet,  so  sieht  man  diese  unverändert  gelassene  Hälfte  deutlich 
an  Helligkeit  verlieren  und  ihr  Weiß  verwandelt  sich  in  ein  zunehmend 
schwärzlicher  werdendes  Grau.  Bringt  man  wieder  beide  Hälften  auf  die 
gleiche  anfängliche  Lichtstärke  zurück  und  vermindert  dann  nach  zureichend 
langer  Pause  die  Lichtstärke  der  einen  Hälfte,  so  sieht  man  die  andere 
heller  werden  und  ihr  Weiß  verwandelt  sich  in  ein  immer  reiner  werden- 
des Weiß.  Es  ändern  sich  hierbei  gleichzeitig  beide  Hälften,  stärker  die- 
jenige, deren  Lichtstärke  verändert  wird,  schwächer  die  andere  von  un- 
veränderter Lichtstärke. 

Versuche  nach  Analogie  des  soeben  beschriebenen  sollen  stets  nur  an  solchen 
Farbenfeldern  angestellt  werden,  welche  nicht  an  einen  bestimmten  Träger  der 
Farbe  erinnern.  Blickt  man  z.  B.  durch  eine  Dunkelröhre  auf  ein  mattschwarzes 
Papier,  so  erscheint  dasselbe  heller,  und  wer  es  nicht  zuvor  ohne  die  Bohre 
gesehen  hat,  nimmt  es  für  ein  graues  Papier.  Schiebt  man  dann  auf  dem 
schwarzen  Papier  ein  weißes  soweit  in  das  Gesichtsfeld  der  Bohre,  dass  es  dessen 
eine  Hälfte  einnimmt,  so  kann  man  von  verschiedenen  Beobachtern  verschiedene 
Angaben  erhalten.  Der  eine  sagt,  das  Papier  der  anderen  Hälfte  sei  jetzt  schwarz 
geworden,  ein  anderer,  es  habe  seine  Farbe  nicht  geändert.  Hier  treten  die 
Gedächtnisfarben  (§  4)  mit  ins  Spiel.  Daher  haben  solche  Versuche  wohl  psy- 
chologisches, aber  vorerst  noch  kein  physiologisches  Interesse.  Ich  erwähne 
dies  nur,  um  ein  Beispiel  für  die  Vermengung  der  Kontrasterscheinungen  mit 
solchen  Erscheinungen  zu  geben,  welche  durch  Einmischung  einer  auf  indivi- 
dueller Erfahrung  beruhenden  Beproduktion  bedingt  sind. 

Überhaupt  könnten  Thatsachen  von  der  Art  der  in  diesem  Paragraphen 
besprochenen  zu  Gunsten  der  Ansicht  verwertet  werden,  nach  welcher  alle  simul- 
tanen Helligkeitskontraste  darauf  beruhen  sollten,  dass  sich  dabei  »der  Begriff 
des  Weiß«  verschiebt.  Da  sich  aber  dieser  »Begriff  des  Weiß«  nicht  nach  zwei 
entgegengesetzten  Bichtungen  zugleich  verschieben  kann,  so  versagt  diese  Art 
von  Erklärung  von  vornherein  in  allen  den  Fällen,  wo  sich  wie  in  den  in  §  26 
beschriebenen  Fällen  innerhalb  einer  und  derselben  Kontrastfigur  gleichzeitig  eine 
Erhellung  und  eine  Verdunkelung  durch  Simultankontrast  zeigt.  Wollte  man 
aber  in  solchen  Fällen  doch  behaupten,  dass  der  »Begriff  des  Weiß«  sich  gleich- 
zeitig für  die  eine  Hälfte  der  Figur  in  der  einen,  für  die  andere  in   der  anderen 


§  32.    Vom  simultanen  Grenzkontrast.  135 

Richtung  verschieben  könne,  so  müsste  man  sich  doch  der  Mühe  unterziehen, 
die  Gesetze  dieser  rein  lokalen  Begriffsverschiebungen  festzustellen  und  also 
das  Analoge  von  dem  zu  thun,  was  vs^ir  im  Obigen  versucht  haben. 

Das  Weitere  wird  übrigens  so  zwingende  Beweise  gegen  die  früher  übliche 
und  noch  immer  wenigstens  teilweise  verteidigte  Erklärung  des  Nebenkontrastes 
aus  »unbewussten  Urteilen  oder  Schlüssen«  bringen,  dass  mir  eine  ausführliche 
Kritik  derartiger  Auffassungen  nicht  mehr  nötig  erscheint. 

Die  Beobachtung  des  Nebenkontrastes  an  einem  Felde,  das  aus  zwei 
gleich  großen,  verschieden  lichtstarken  Hälften  besteht,  zeigt  uns,  dass  wir 
bei  allen  früher  besprochenen  Kontrasterscheinungen  einer  einseitigen  Auf- 
fassung insofern  gefolgt  sind,  als  wir  immer  nur  einen  Einfluss  des  um- 
schließenden Feldes  auf  das  umschlossene  in  Betracht  gezogen  haben.  Ab- 
sichtlich habe  ich  bisher  keine  Rücksicht  darauf  genommen,  dass  wenn 
es  sich  um  eine  gegenseitige  funktionelle  Abhängigkeit  der  somatischen 
Sehfeldstellen  handeln  soll,  die  jeweilige  Regung  im  umschlossenen  Sehfeld- 
bezirke auch  auf  die  Regung  im  umschließenden  von  Einfluss  sein  kann. 
Im  Falle  gleicher  Größe  der  beiden  aufeinander  wirkenden  Felder  ist  es 
gleichgültig,  welches  von  beiden  wir  zum  »kontrastwirkenden«  und  welches 
zum  »kontrastleidenden«  wählen  wollen.  Aber  aus  zwei  Gründen  em- 
pfahl es  sich,  bei  der  Vorführung  der  Kontrasterscheinungen  nicht  mit 
diesem  einfachsten  Falle  zu  beginnen.  Erstens  können  wir  uns  bei  dem- 
selben von  der  durch  Kontrast  bewirkten  Helligkeitsänderung  nicht  auf 
Grund  einer  Simultanvergleichung  mit  einem  dritten  Felde  überzeugen,  das 
nicht  derselben  Kontrastwirkung  unterliegt,  sind  vielmehr  auf  die  successive 
Vergleichung  der  anfänglichen  mit  der  durch  Kontrast  veränderten  Hellig- 
keit angewiesen.  Zweitens  sind  die  durch  Simultankontrast  bewirkten  Hel- 
ligkeitsänderungen auf  einem  kleinen  an  zwei  Seiten  oder  allseitig  von  dem 
»kontrastwirkenden«  Felde  umschlossenen  Bezirke  viel  stärker,  als  an  einem 
nur  einseitig  von  gleich  großem  wirkenden  Felde  begrenzten.  Dies  hat 
seinen  Grund  darin,  dass,  wie  sogleich  zu  erörtern  sein  wird,  die  Stärke  der 
Wechselwirkung  zweier  somatischen  Sehfeldelemente  mit  deren  gegenseiti- 
gem Abstand  rasch  abnimmt.  Hierfür  wird  der  nächste  Paragraph  Belege 
bringen. 

§  32.  Vom  simultanen  Grenzkontrast.  Wenn  Felder  von  un- 
gleicher Lichtstärke  aneinandergrenzen,  so  sieht  man  unter  günstigen  Um- 
ständen, und  zwar  zuweilen  auch  bei  Ausschluss  jedes  Nachkontrastes,  in 
der  Nähe  der  Grenzlinie  des  lichtstärkeren  Feldes  eine  Zunahme  seiner  Hellig- 
keit, welche  an  der  Grenzlinie  selbst  ihr  Maximum  erreicht,  während  um- 
gekehrt die  Helligkeit  des  lichtschwächeren  Feldes  an  der  Grenzlinie  am 
kleinsten  ist  und  mit  dem  Abstände  von  derselben  schnell  zunimmt.  Be- 
sonders deutlich  ist  dieser  Grenzkontrast  auf  einem  schmalen  Felde  von 
gleichmäßiger  Lichtstärke,  welches  zwischen  einem  lichtstärkeren  und  einem 


136 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


lichtschwächeren  liegt;  die  Helligkeit  eines  solchen  wächst  von  der  einen 
Grenze  bis  zur  anderen.  Solche  schmale  Felder  lassen  sich  leicht  auf 
einem  Farbenkreisel  herstellen  (vgl.  Helmholtz  i,  S.  413).  Wenn  man  z.  B. 
eine  Scheibe,  wie  sie  Fig.  28  um  die  Hälfte  verkleinert  darstellt,  zureichend 
schnell  rotieren  lässt,  so  erscheint  sie  wie  Fig.  1 ,  Taf.  HI,  welche  ein  photo- 
typisches Abbild  der  rotierenden  Scheibe  ist.  Die  einzelnen  konzentrischen 
Ringe,  deren  Lichtstärke  stufenweise  von  außen  nach  innen  abnimmt,  er- 
scheinen derart  abschattiert,  dass  jeder  an  der  Grenze  des  nächst  größeren 

Fig.  28. 


und  lichtstärkeren  Ringes  dunkler,  an  der  Grenze  des  nächst  kleineren  und 
lichtschwächeren  heller  ist,  als  in  seiner  Mittelzone.  In  Wirklichkeit  ist  die 
Lichtstärke  jedes  Ringes  in  seiner  ganzen  Breite  dieselbe,  wovon  man  sich 
überzeugen  kann,  wenn  man  aus  einem  grauen  Papier  ein  Fenster  in  Form 
eines  Ringsektors  ausschneidet,  welcher  genau  auf  einen  Ring  der  Figur 
passt,  so  dass  beim  Auflegen  des  Papieres  nur  der  entsprechende  Teil 
dieses  Ringes  sichtbar  ist. 

Die  Bedingungen  für  die  Wahrnehmung  des  Grenzkontrastes  sind  hier 
besonders  günstige,  weil  der  Kontrast  an  der  einen  Grenze  jedes  Ringes  in 
entgegengesetztem  Sinne  wirkt  als  an  der  anderen. 


er- 


^ 


1    Grasfe-Saemisch^  Handbuch,  2.  Aufl.,  T.  Teil,  III.  Band,  Kap.  XII. 


Tafel  III. 

Zu  Seite  136  u.  141. 


Fig.  1 


Fiff.  2. 


Verlag  von  Wilhelm  Engelniann  in  Leipzig. 


§  32.    Vom  simultanen  Grenzkontrast.  137 

Um  festzustellen,  inwieweit  die  Erscheinung  auch  bei  Ausschluss  des 
Nachkontrastes  sichtbar  ist,  stellt  man  wieder  nahe  vor  der  Scheibe  einen 
stumpf  endenden  Draht  auf,  schiebt  dicht  hinter  denselben  ein  steifes  graues 
Blatt,  welches  die  Scheibe  verdeckt,  lässt  dann  die  Scheibe  rotieren  und 
fixiert  mit  einem  Auge  das  womöglich  etwas  glänzende  Drahtende.  Wird 
dann  das  graue  Blatt  schnell  weggezogen,  so  sieht  man  günstigenfalls  und 
zwar  sofort  eine  ungleiche  Helligkeit  innerhalb  des  hinter  dem  Drahtende 
erscheinenden  Ringes,  besonders  dann,  wenn  sich  das  erstere  auf  einen 
Punkt  der  Mittellinie  des  Ringes  projiziert.  Übrigens  aber  kann  man  dabei 
auch  an  weiter  indirekt  gesehenen  Ringen  Grenzkontraste  wahrnehmen. 

Bei  diesen  durchaus  nicht  leichten  Beobachtungen  gilt  es,  besonders 
den  ersten  Eindruck  zu  erfassen,  weil  bei  etwas  längerem  festen  Fixieren  die 
Ringe  sehr  bald  in  ihrer  ganzen  Breite  gleich  hell  werden.  Fixiert  man 
aber  nicht  ganz  fest,  so  mischt  sich  sofort  wieder  der  Nachkontrast  ein. 

Am  überzeugendsten  hat  auf  mich  die  folgende  Beobachtung  gewirkt. 
Die  rotierende  Scheibe  war  direkt  von  der  Sonne  beschienen;  dicht  vor 
meinem  Auge  befand  sich  ein  Momentverschluss,  welcher  mir  die  Scheibe 
nur  während  Y40  Sekunde  sichtbar  machte.  Dabei  sah  ich  den  Grenzkon- 
trast deutlich  und  zwar  auch  noch  im  Nachbilde  (III.  Phase).  Nie  aber  ist 
die  Erscheinung  bei  Ausschluss  der  Augenbewegungen  so  eindringlich  wie 
beim  Sehen  mit  bewegtem  Blicke. 

Eine  vorläufige  Erklärung  des  Grenzkontrastes  ergiebt  sich  aus  der 
Annahme,  dass  die  einzelnen  Elemente  des  somatischen  Sehfeldes  unter  ein- 
ander derart  in  Beziehung  stehen,  dass  die  durch  Bestrahlung  bedingte 
Regung  eines  Elementes  auf  die  gleichfalls  durch  Bestrahlung  gereizten 
Elemente  seiner  Umgebung  um  so  stärker  wirkt,  je  näher  sie  dem 
ersteren  sind.  Da  sich  diese  Wechselwirkung,  wie  schon  in  §  28  erwähnt 
wurde,  nicht  bloß  zwischen  verschieden  stark,  sondern  auch  zwischen  gleich 
stark  gereizten  Elementen  geltend  macht,  so  werden  die  einzelnen  Teile 
eines  gleichmäßig  belichteten  Sehfeldbezirkes  sich  gegenseitig  verdunkelnd 
beeinflussen  und  minder  hell  erscheinen,  als  ohne  diese  Wechselwirkung 
der  Fall  wäre.  Die  nahe  der  Grenze  eines  Feldes  befindlichen  Elemente 
werden  jedoch,  wenn  dasselbe  an  ein  lichtschwächeres  grenzt,  von  seilen 
der  Elemente  des  letzteren  minder  stark  verdunkelnd  beeinflusst  sein,  als 
von  selten  der  dem  eigenen  Felde  angehörigen  Elemente,  weil  diese  stärker 
belichtet  sind  als  jene.  Dagegen  sind  die  von  der  Grenze  weiter  abliegen- 
den Elemente  des  lichtstärkeren  Feldes  allseitig  von  stärker  belichteten 
umgeben  und  daher  einer  stärkeren  Verdunkelung  ausgesetzt,  als  die  Grenz- 
elemente desselben  Feldes.  Die  Folge  ist,  dass  das  lichtstärkere  Feld  an 
der  Grenze  eine  größere  Helligkeit  zeigt  als  im  übrigen.  Umgekehrt  können 
die  der  Grenze  näher  liegenden  Elemente  des  lichtschwächeren  Feldes  einer 
stärkeren    Verdunkelung    unterliegen,    als    seine    weiter    abliegenden,    weil 


138 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


letztere  allseitig,  erstere  aber  nur  einseitig  von  schwächer  belichteten  Ele- 
menten beeinflusst  sind. 

So  versteht  man,  dass  an  der  Grenze  zweier  Felder  von  verschiedener 
Lichtstärke  das  lichtstärkere  eine  nach  der  Grenzlinie  hin  zunehmende,  das 
lichtschwächere  eine  abnehmende  Helligkeit  zeigt,  wie  dies  in  Fig.  i ,  Taf.  III 
auch  bei  Ausschluss  des  Successivkontrastes  bemerklich  ist,  wenn  gleich  hier 
wegen  der  mangelhaften  Homogeneität  der  einzelnen  Ringe  nicht  so  erheb- 
lich wie  auf  der  rotierenden  Scheibe  selbst. 

Die  bei  obiger  Erklärung  des  Grenzkontrastes  gemachte  Voraussetzung,  dass 
das  Ergebnis  der  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  stets  in  einer  Verdunklung 
bestehe,  wäre  nach  einer  im  VIL  Abschnitt  mitzuteilenden  Theorie  der  Wechsel- 

Fig.  29. 


Wirkung  nur  insoweit  zutreffend,  als  es  sich  ausschließlich  um  übermittelgraue 
Felder  handelt,  d.  h.  also  um  solche,  deren  Weißlichkeit  größer  ist  als  ihre 
Schwärzlichkeit,  während  für  untermittelgraue  Felder  eine  Erhellung  durch 
Wechselwirkung  in  Betracht  käme.  Hier  kam  es  zunächst  nur  darauf  an, 
überhaupt  verständlich  zu  machen,  wie  infolge  der  Wechselwirkung  der  Sehfeld- 
stellen ein  Grenzkontrast  entstehen  kann.  Ob  die  Helligkeit  des  helleren  Feldes 
in  der  Nähe  seiner  Grenze  deshalb  zunimmt,  weil  es  hier  weniger  verdunkelt, 
oder  aber,  weil  es  hier  stärker  erhellt  wird  als  im  übrigen,  ändert  nichts  an 
der  vorerst  allein  in  Betracht  kommenden  Thatsache,  dass  es  an  der  Grenze 
heller  ist  als  im  übrigen.  Die  analoge  Erwägung  gilt  mutatis  mutandis  betreffs 
der  nach  der  Grenze  hin  zunehmenden  Schwärzlichkeit  des  dunkleren  Feldes. 

Daraus  dass  die  Wirkung  des  Nebenkontrastes  in  der  Nähe  der  Grenz- 
linie zweier  Felder  von  verschiedener  Lichtstärke  besonders  deutlich  ist,  erklärt 
sich  die  Deutlichkeit    desselben    auf   kleinen    umschlossenen    Feldern.     Befindet 


§  32.    Vom  simultanen  Grenzkontrast.  139 

sich  z.  B.  in  einem  Felde  von  sonst  gleichmäßiger  Lichtstärke  ein  schmaler 
Streifen,  welcher  lichtsehwächer  oder  lichtstärker  ist  als  das  übrige  Feld,  so 
wirkt  der  Grenzkontrast  von  zwei  Seiten  her  verdunkelnd  bezw.  erhellend  auf 
ihn,  und  wenn  die  Kontrastwirkung  nur  proportional  mit  dem  Abstände  von 
der  Grenzlinie  abnähme,  so  würde  diese  Wirkung  in  jedem  Punkte  des  Streifens 
gleich  groß  sein  und  der  letztere  ganz  gleichmäßig  verdunkelt  bezw.  erhellt  er- 
scheinen müssen.  Doch  ist  uns  das  Gesetz,  nach  welchem  im  vorhegenden 
Falle  die  Kontrastwirkung  mit  dem  Abstände  von  der  Grenzlinie  abnimmt,  nicht 
bekannt. 

Liegt  ein  kleines  kreisförmig  umschlossenes  Feld  auf  einem  Felde  von  an- 
derer Lichtstärke,  so  erstreckt  sich  der  Grenzkontrast  von  der  Peripherie  her 
sozusagen  konzentrisch  ins  Innere  des  Feldes  und  dasselbe  wird  von  allen  Seiten 
her  verdunkelt  bezw.   erhellt. 

Fig.  30. 


Ein  weiteres  Beispiel  für  die  Abnahme  des  Simultankontrastes  mit  der 
Entfernung  liefert  Fig.  29,  auf  die  zuerst  L.  Hermann  aufmerksam  machte 
(31,  S.  19).  An  jeder  indirekt  gesehenen  Kreuzungsstelle  zweier  weißer 
Streifen  erscheint  bei  bewegtem  Blick  ein  sehr  verwaschener  grauer  Fleck, 
weil  diese  Stelle  in  viel  umfassenderer  Weise  von  gleich  lichtstarken  Teilen 
umgeben  ist,  als  jede  andere  gleichgroße  Stelle  der  weißen  Streifen  (vgl. 
VIL  Abschnitt).  Die  Erscheinung  verschwindet  rasch  beim  Festhalten  des 
BUckes,  und  zwar  infolge  einer  lokalen  Anpassung,  die  später  zu  besprechen 
sein  wird.  Doch  ist  sie  in  den  ersten  Momenten  nach  dem  Sichtbarwerden 
der  Figur  auch  bei  unbewegtem  Auge  in  den  indirekt  gesehenen  Teilen  der 
Figur  bemerklich  und  gehört  insoweit  mit  zu  den  Erscheinungen  des  reinen 


X40  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Simultankontrastes;  als  ich  die  Figur  ins  direkte  Sonnenhcht  legte  und 
nur  durch  1/40  Sekunde  sichtbar  machte,  konnte  ich  die  grauen  Flecke  im 
indirekten  Sehen  wahrnehmen. 

Das  Gegenstück  zu  Fig.  29  ist  Fig.  30,  in  welcher  an  den  Kreuzungs- 
stellen der  schwarzen  Streifen  ein  hellerer  Fleck  erscheint.  — 

Grenzt  ein  lichtstärkeres  Feld  an  ein  lichtschwächeres,  so  fällt  die 
Lichtstärke  des  ersteren  gleichsam  senkrecht  zu  der  des  lichtschwächeren 
Feldes  ab.  Ein  Grenzkontrast  kann  sich  aber,  wenigstens  bei  bewegtem 
Blicke,  auch  dann  zeigen,  wenn  dieser  Abfall  ein  allmählicher  ist  und  die 
Hochebene  der  größeren  Lichtstärke  sozusagen  mittels  einer  mehr  oder 
weniger  steilen  Böschung  in  die  Tiefebene  der  kleineren  Lichtstärke  über- 
geht. Dies  gilt  z.  B.  für  die  folgenden  Fälle,  bei  welchen  der  Abfall 
ein  allmählicher  ist.  Sie  gehören  zu  den  Kontrasterscheinungen,  welche 
E.  Mach  in  einer  Reihe  von  Mitteilungen  (13,  1865  —  1868  und  1906) 
beschrieben  und  diskutiert  hat  i).  Obwohl  diese  Erscheinungen  nach 
meiner  Ansicht  viel  mehr  dem  successiven  als  dem  simultanen  Kon- 
traste zu  verdanken  sind ,  will  ich  sie  doch  schon  hier  zur  Sprache 
bringen,  weil  es  Mach  gelungen  ist,  einzelne  derselben,  wenngleich  minder 
deutlich,  auch  bei  Beleuchtung  mit  dem  elektrischen  Funken  wahrzu- 
nehmen. 

Wenn  der  Schatten  der  Kante  eines  besonnten  undurchsichtigen  Schir- 
mes oder  dergl.  auf  eine  zureichend  von  letzterem  entfernte  homogene  graue 
oder  weiße  Fläche  fällt,  so  sieht  man  an  der  Grenze  des  im  vollen  Sonnen- 
lichte liegenden  Teiles  die  Helligkeit  desselben  zunehmen,  so  dass  er  hier 
durch  einen  helleren  Streifen  vom  Halbschatten  geschieden  erscheint,  ob- 
wohl in  Wirklichkeit  seine  Lichtstärke  bis  an  die  Grenze  des  Halbschattens 
dieselbe  ist.  Dagegen  erscheint  der  Kernschatten  nahe  seiner  Grenze 
schwärzlicher  als  im  übrigen,  so  dass  er  durch  einen  dunkleren  Streifen 
von  dem  beginnenden  Halbschatten  getrennt  erscheint,  obwohl  auch  der 
Kernschatten  überall  von  gleicher  Lichtstärke  ist. 


<)  Diese  Mitteilungen  sind  reich  an  interessanten  Beobachtungen  und  scharf- 
sinnigen Versuchen  und  enthalten  eine  Reihe  wichtiger  Anregungen,  haben  aber 
wenig  Beachtung  gefunden.  Infolgedessen  ist  ein  Teil  der  von  Mach  entdeckten 
Thatsachen  später  als  neu  beschrieben  worden.  Er  hat  das  Problem  der  simultanen 
Kontrastwirkung  allgemein  behandelt  und  kürzlich  (1 3  V,  S.  634)  das  »Thatsächliche« 
seiner  Beobachtungen  in  folgender  Weise  zusammengefasst :  >Die  Beleuchtung  einer 
Netzhautstelle  wird  nach  Maßgabe  der  Abweichung  dieser  Beleuchtung  von  dem 
Mittel  der  Beleuchtungen  der  Nachbarstellen  heller,  beziehungsweise  dunkler 
empfunden,  je  nachdem  ihre  Beleuchtung  ober,  beziehungsweise  unter  jenem 
Mittel  liegt.  Das  Gewicht  der  Netzhautstellen  in  jenem  Mittel  ist  hierbei  als  mit 
der  Entfernung  von  der  betrachteten  Stelle  rasch  abnehmend  zu  denken.«  Ich 
werde  auf  diese  von  Mach  aufgestellte  Regel  sowie  auf  seine  treffenden  Be- 
merkungen über  die  Bedeutung  der  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  für  das 
Sehen  der  Konturen  zurückkommen. 


§  33.    Die  Ursachen  der  Abirrung  des  Lichtes  im  Auge.  141 

Diese  Erscheinungen  des  Grenzkontrastes  sind  jedoch  nur  dann  auf- 
%llend,  wenn  man  in  zwangloser  Weise  und  also  mit  bewegtem  Blicke 
beobachtet.  Sie  verschwinden  auch  schnell  wieder,  wenn  man  einen  Punkt 
der  Fläche  fest  fixiert.  Tauchen  sie  dann  wieder  auf,  so  kann  man  sicher 
sein,  dass  das  Auge  sich  wieder  bewegt  hat.  Markiere  ich  auf  der  teil- 
weise beschatteten  Fläche  in  oder  neben  dem  Halbschatten  einen  Punkt, 
lasse  durch  einen  größeren  Schirm  die  Sonne  abhalten,  fixiere  nach  längerer 
Pause  jenen  Punkt  und  lasse  dann  sofort  letzteren  Schirm  schnell  weg- 
ziehen, so  sehe  ich  nichts  von  der  beschriebenen  Kontrasterscheinung,  so- 
lange ich  das  Auge  ganz  ruhig  halle.  Andere  Beobachter  bestätigten  mir 
dies,  womit  nicht  ausgeschlossen  sein  soll,  dass  unter  besonders  günstigen 
Umständen  die  Erscheinung  auch  ohne  Mithilfe  des  Nachkontrastes  wahr- 
genommen werden  kann. 

Wenn  ein  Zimmer  das  Licht  des  freien  Himmels  durch  einen  im 
Fensterladen  befindlichen  schmalen  Ausschnitt  erhält,  dessen  Breite  mittels 
eines  Schiebers  geändert  werden  kann,  und  man  stellt  ihm  gegenüber  einen 
weißen  von  einem  zweiten  Schirme  teilweise  beschatteten  Schirm  auf,  so 
lässt  sich  dem  Halbschatten  eine  beliebige  Breite  geben  und  die  anderweite 
Beleuchtung  des  beschatteten  Schirmes  durch  ein  zweites  Fenster  von  ver- 
änderlicher Größe  regeln.  Dies  ist  für  die  genauere  Untersuchung  des 
Phänomens  von  besonderem  Werte.  Fig.  2,  Taf.  HI  ist  die  Kopie  eines 
unter  solchen  Umständen  photographierten  Halbschattens.  Sie  ist  nicht 
ganz  treu,  veranschaulicht  aber  gut  das  Wesentliche  der  Erscheinung. 

Auch  mit  einer  ruhig  brennenden  Kerze  und  zwei  kleinen  verschieb- 
baren Schirmen  lassen  sich  in  einem  Dunkelzimmer  solche  Erscheinungen 
sehr  gut  hervorbringen,  wobei  man  das  Licht  der  Kerze  vom  Auge  abzu- 
halten hat.  Durch  eine  zweite  Kerze  lässt  sich  auch  hier  dem  beschatteten 
Schirm  eine  variable  Lichtstärke  geben. 

Über  andere  Methoden  vgl.  Mach,  welcher  auch  rasch  rotierende  Schei- 
ben und  Cylinder  benutzt  hat,  um  analoge  Verteilungen  der  Lichtstärke  auf 
einer  Fläche  herbeizuführen. 


VI.  Abschnitt. 
Das  falsche  Licht  im  Netzhautbilde. 

§  33.  Die  Ursachen  der  Abirrung  des  Lichtes  im  Auge.  Die 
große  Abhängigkeit  der  Sehschärfe  von  der  Beleuchtung  der  Sehproben, 
welche  so  weit  geht,  dass  bei  Ausschluss  einer  Änderung  der  allgemeinen 
Adaptation  schon  die  lokale  Herabsetzung  der  Beleuchtung  auf  halbe 
Stärke  eine  merkliche  Herabsetzung  der  Sehschärfe  herbeiführen  kann 
(vgl.  §  21),  steht  in  auffälligem  Widerspruche  zu  der  herrschenden  Ansicht, 


142  Lehre  vom  Lichtsinn. 

nach  welcher  bei  gleichbleibendem  Verhältnisse  zweier  Lichtstärken  der 
Unterschied  der  von  ihnen  erzeugten  Lichtempfindungen  innerhalb  weiter 
Grenzen  von  der  absoluten  Größe  der  Lichtstärken  unabhängig  sein  soll. 
Sie  führt,  wie  in  §  36  näher  dargelegt  werden  soll,  zu  dem  Schlüsse,  dass 
das  Netzhautbild  auch  bei  bester  Akkommodation  des  normalen  Auges  ein 
viel  ungenaueres  ist,  als  man  anzunehmen  pflegt,  und  dass  seine  Konturen 
viel  verwaschener  sind,  als  sie  dank  der  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen 
uns  erscheinen.  Dies  nötigt  dazu,  die  Ursachen  der  Ungenauigkeit  des 
Netzhautbildes  im  normalen  und  gut  akkommodierten  Auge  eingehender  zu 
erörtern,  ehe  wir  zur  Theorie  jener  Wechselwirkung  übergehen. 

Fällt  direktes  Sonnenlicht  durch  ein  kleines  Loch  im  Fensterladen  eines 
Dunkelzimmers,  so  sieht  man  bekanntlich  die  Bahn  des  Lichtes  schwach 
leuchtend  infolge  der  in  der  Zimmerluft  schwebenden  Staubteilchen,  während 
in  reiner  Luft  diese  Bahn  unsichtbar  bleibt.  In  reinem  Wasser  oder  Glas 
aber  ist,  wenn  anderes  Licht  vom  Auge  abgehalten  wird,  die  ganze  Bahn 
eines  Sonnenstrahlbündels  sichtbar.  »Jede  feste  und  flüssige  durchsichtige 
Substanz,  welche  wir  kennen,  zerstreut  kleine  Mengen  des  Lichtes,  welches 
durch  sie  hindurchgeht,  jiach  allen  Seiten  und  erscheint  deshalb,  wenn 
starkes  Licht  durch  sie  hindurchgeht,  selbst  schwach  erleuchtet.«  (Helm- 
HOLTZ  2,  S.  553.)  Ohne  jede  Vorsichtsmaßregel  konnte  ich  im  Dunkel- 
zimmer den  Weg  eines  Sonnenstrahlbündels,  das  ich  durch  ein  Jenenser 
Glas  gehen  ließ,  deutlich  leuchten  sehen,  und  zwar  nicht  infolge  jener 
Fluorescenz,  welche  bei  manchen  Glassorten  vorkommt,  und  sich  durch 
die  Farbe  verrät. 

»Man  kann  sich,«  sagt  Helmholtz  1.  c,  »bei  objektiven  Versuchen  mit 
Glaslinsen  leicht  überzeugen,  dass  das  diffus  zerstreute  Licht  immer  am 
stärksten  in  der  Nähe  des  regelmäßig  gebrochenen  Lichtbündels  ist  und 
schwächer  wird,  je  weiter  man  sich  von  diesem  entfernt.  Lässt  man 
Sonnenlicht  durch  die  Öfl'nung  eines  schwarzen  Schirmes  auf  eine  ent- 
fernte Linse  fallen,  und  fängt  das  Bild  der  hellen  Öffnung  auf  einem  weißen 
Schirme  auf,  so  sieht  man  das  helle  Bildchen  von  einem  weißen  Nebel- 
schein umgeben,  der  auch  sichtbar  wird,  wenn  man  das  Bild  der  hellen 
Öffnung  selbst  dicht  am  Rande  des  Schirmes  vorbeigehen  lässt.  Jener 
weiße  Nebelschein  ist  also  keine  im  Auge  entstehende  Irradiation,  sondern 
eine  objektive  Erscheinung.  Noch  besser  sieht  man  es,  wenn  man  in  dem 
Schirm  eine  kleine  Öffnung  macht,  die  man  dem  Bilde  der  hellen  Öffnung 
nahe  bringt,  ohne  sie  aber  damit  zusammenfallen  zu  lassen.  Blickt  man 
durch  die  Öffnung  des  Schirmes  nach  der  Linse,  so  erscheint  diese  desto 
heller  erleuchtet,  je  näher  man  dem  optischen  Bilde  der  Lichtquelle 
kommt. « 

Nach  alledent  ist  von  vornherein  zu  erwarten,   dass  von  jedem,    die 
optischen  Medien  des   Auges   durchsetzenden   Lichtbündel  ein   kleiner   Teil 


§  33.    Die  Ursachen  der  Abirrung  des  Lichtes  im  Auge.  143 

selbst  dann  diffus  zerstreut  werden  würde,  wenn  dieselben  ebenso  »homogen« 
wären,  wie  reines  Wasser  oder  Glas.  Thatsächlich  aber  gesellt  sich  noch 
die  viel  stärkere  zerstreuende  Wirkung  der  mangelhaften  Homogeneität  der 
Hornhaut  und  der  Linse,  sowie  die  Wirkung  der  entoptischen  Objekte  im 
Glaskörper,  eventuell  an  der  Vorderfläche  der  Hornhaut  und  im  Kammer- 
wasser hinzu.  Jeder  Augenarzt  weiß,  dass,  wenn  man  starkes  Licht  durch 
eine  Konvexlinse  in  der  Corneal-  oder  Linsensubstanz  sammelt,  dieselben 
weißlich  trübe  erscheinen. 

So  giebt  schon  allein  die  mangelhafte  Homogeneität  der  optischen  Medien 
des  Auges  reiche  Gelegenheit  dazu^  dass  ein  kleiner  Bruchteil  des  von 
einem  Außendinge  kommenden  Lichtes  gleichsam  von  der  richtigen  Bahn 
abirrt  und  außer  der  Stelle  des  bezüglichen  Netzhautbildes  einen  kleineren 
oder  größeren  Bezirk  der  umgebenden  Netzhaut  fälschlich  mit  beleuchtet. 
Auch  auf  die  Beugung  des  Lichtes  am  Pupillenrande  ist  hier  zu  verweisen 
(Helmholtz). 

Um  sich  unter  ganz  gewöhnlichen  Umständen  bei  Taganpassung  des 
Auges  eine  Anschauung  von  der  Ausbreitung  des  diffus  abirrenden  Lichtes 
zu  verschaffen,  halte  man  einen  mattschwarzen,  mit  einem  kleinen  Loche 
versehenen  Schirm  in  mittler  Sehweite  so  vor  ein  Fenster,  dass  letzteres 
bis  auf  das  Loch  dem  Auge  gänzlich  verdeckt  wird,  und  durch  das  Loch 
ein  entsprechend  kleines  Stück  des  hellen  Himmels  erscheint.  Zunächst 
verdeckt  man  auch  das  Loch  durch  einen  dahinter  gehaltenen  mattschwarzen 
Schirm.  Zieht  man  dann  letzteren  bei  festgestelltem  Auge  weg,  so  sieht 
man  sofort  um  das  leuchtende  Loch  einen  hellen  Saum,  der  in  unmittel- 
barer Nähe  des  Loches  am  hellsten  ist,  und  sich  mit  abnehmender  Hellig- 
keit, je  nach  den  Umständen  mehr  oder  weniger  weit  sichtbar,  in  das 
dunkle  Sehfeld  erstreckt.  Da  der  das  Loch  umgebende  Lichthof  viel  breiter 
sein  kann,  als  das  Loch  selbst,  und  man  sich  die  ganze  nach  Entfernung 
des  Schirmes  sichtbare,  vom  Fenster  umrahmte  Himmelsfläche  aus  kleinen 
Teilflächen  zusammengesetzt  denken  kann,  deren  jede  denselben  Sehwinkel 
hat,  wie  das  Loch,  und  ebenso  wie  dieses  einen  Lichthof  zu  erzeugen  ver- 
mag, so  ergiebt  sich,  dass  innerhalb  des  Netzhautbildes  jede  einzelne  Netz- 
hautstelle unter  dem  Einflüsse  ganzer  Scharen  solcher  Lichthöfe  steht.  Auf 
diese  Weise  gewinnt  man  eine  Vorstellung  von  der  großen  Menge  falschen 
Lichtes,  welches  sich  über  die  Netzhaut  ergießen  kann. 

Eine  Flamme  oder  andere  intensive  Lichtquelle  erscheint  uns  vor  einem 
finsteren  Hintergrunde  schon  bei  Tage  von  einem  großen  leuchtenden  Hofe 
umgeben,  wieviel  mehr  des  Abends  in  einem  mangelhaft  erleuchteten  Zimmer. 
In  einem  Dunkelzimmer  vermag  selbst  ein  kleines  intensiv  leuchtendes 
Außending,  abgesehen  von  seiner  Bildstelle  und  deren  nächster  Umgebung, 
auch  die  ganze  übrige  Netzhaut  hinreichend  zu  beleuchten,  um  das  ganze 
Sehfeld  heller  erscheinen  zu  lassen.     Je  lichtempfindlicher  das  Auge  durch 


144  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Dunkelanpassung  geworden  ist,  eine  desto  geringere  Lichtintensität  eines 
Außendinges  ist  erforderlich,  um  sein  abirrendes  Licht  wahrzunehmen.  Bei 
maximaler  Lichtempfmdlichkeit  kann  sogar  der  scheinbar  paradoxe  Fall 
eintreten,  das  ein  kleines,  im  sonst  ganz  lichtfreien  Gesichtsfelde  liegendes 
lichtschwaches  Objekt,  wenn  es  sich  auf  der  Netzhautgrube  abbildet,  nicht 
unterschieden  werden  kann,  während  seine  Umgebung  infolge  des  falschen 
Lichtes  hell  erscheint,  weil  das  längere  Zeit  verfinstert  gewesene  Auge  für 
die  excentrischen  Teile  des  Gesichtsfeldes  viel  lichtempfindlicher  ist  als  für 
den  fixierten.  Ein  solcher  Fall  tritt  insbesondere  ein,  wenn  das  kleine  sehr 
lichtschwache  Objekt  vorwiegend  oder  ausschließlich  kurzwelliges  Licht  aus- 
sendet, welches  in  trüben  Medien  viel  mehr  zerstreut  wird  als  langwelliges. 
Man  sieht  hier  das  falsche  Licht,  nicht  aber  das  auf  der  Netzhautgrube 
liegende  Bild,  von  dem  es  abgeirrt  ist. 

Eine  zweite  wesentliche  Ursache  falschen  Lichtes  ist  das  von  jeder 
beleuchteten  Netzhautstelle  zerstreut  reflektierte  und  die  ganze  übrige  Netz- 
haut schwach  bestrahlende  Licht.  Erzeugt  man  sich  im  Dunkelzimmer  auf 
einer  möglichst  excentrischen  Netzhautstelle  das  Bildchen  einer  Flamme,  so 
bestrahlt  dasselbe  bekanntlich  wieder  die  übrige  Netzhaut  so  erheblich,  dass 
die  Blutgefäße  derselben  einen  sichtbaren  Schatten  auf  die  Empfangschichte 
der  Netzhaut  werfen,  der  bei  jeder  Verschiebung  des  leuchtenden  Netz- 
hautbildchens seinen  Ort  etwas  ändert. 

Eine  besonders  günstige  Bedingung  für  die  Bestrahlung  der  Gesamt- 
netzhaut durch  ein  lichtes  Netzhautbild  ist  dann  gegeben,  wenn  letzteres 
auf  die  Eintrittstelle  des  Sehnerven  zu  liegen  kommt,  wo  die  Lichtabsorp- 
tion durch  das  Pigment  wegfällt.  In  einem  Dunkelzimmer  befinde  sich 
eine  brennende  Kerze  oder  noch  besser  ein  elektrisches  Glühlicht  in  einer 
Mattglaskugel.  Man  verdeckt  ein  Auge  und  richtet  das  andere  so,  dass 
Flamme  oder  Glühlicht  sich  im  blinden  Flecke  abbilden,  sichert  durch  eine 
Marke  an  der  Wand  den  Fixierpunkt  und  verdeckt  sodann  durch  einen 
kleinen  Schirm  die  Lichtquelle  für  das  offene  Auge.  Sobald  man  den  Schirm 
wieder  entfernt,  sieht  man  das  ganze  Gesichtsfeld  aufleuchten  und  zwar 
weitaus  am  stärksten  in  der  dem  blinden  Flecke  entsprechenden  Gegend, 
ohne  doch  die  Flamme  oder  elektrische  Lampe  selbst  wahrzunehmen. 

Eine  dritte  Quelle  falschen  Lichtes  ist  für  die  Netzhaut  das  durch  die 
Sklera  und  die  Iris  ins  Auge  dringende  Licht.  Bei  stärkerer  seitlicher  Be- 
leuchtung des  Augapfels  oder  schwacher  Pigmentierung  seiner  Vorderhälfte 
ist  die  auf  diese  Weise  eindringende  und  die  ganze  Netzhaut  bestrahlende 
Lichtmenge  sogar  sehr  erheblich,  worauf  gelegentlich  zurückzukommen 
sein  wird. 

Mit  alledem  sind  die  Anlässe  zu  einer,  der  Lichtverteilung  im  Gesichts- 
felde nicht  entsprechenden  Lichtverteilung  im  Netzhautbilde  noch  nicht  er- 
schöpft.    Es  kommt  hinzu,  dass  die  Umrisse  der  Einzelteile  des  Netzhaut- 


§  34.    Einfluss  des  falschen  Lichtes  auf  die  DeutUchkeit  des  Sehens.      145 

bildes  stets  mehr  oder  weniger  verwaschen,  mindestens  nie  so  scharf  sind, 
wie  man  es  auf  Grund  der  theoretischen  Dioptrik  des  Auges  anzunehmen 
pilegt.     Dies  wird  später  näher  zu  erörtern  sein. 

Nie  darf  man  vergessen,  dass  eine  gänzlich  unbeleuchtete  Stelle  auf 
der  Netzhaut  unmöglich  ist,  solange  andere  Stellen  derselben  irgendwie  be- 
leuchtet sind.  Das  Netzhautbild  des  Loches  in  dem  früher  beschriebenen 
Dunkelkasten  ist,  abgesehen  von  dem  minimalen  aus  dem  Kasten  zurück- 
kommenden Licht,  noch  außerdem  um  so  stärker  belichtet,  je  mehr  be- 
leuchtete Dinge  sich  außer  ihm  auf  der  Netzhaut  abbilden. 

Bei  gegebenem  Gesichtsfelde  ist  die  Stärke  alles  falschen  Lichtes  direkt 
proportional  zur  Stärke  der  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  und  zum  Flächen- 
werte der  Pupille. 

§  34.  Einfluss  des  falschen  Lichtes  auf  die  Deutlichkeit  des 
Sehens.  Wie  im  §  19  gezeigt  worden  ist,  wird  der  Helligkeitsunterschied, 
mit  welchem  uns  zwei  verschiedene  Lichtstärken  erscheinen,  unter  sonst 
gleichbleibenden  Umständen  verkleinert,  wenn  man  beiden  Lichtstärken 
einen  gleich  großen  Zuwuchs  erteilt.  Ebenso  muss  die  Deutlichkeit  sich 
mindern,  wenn  die  verschiedenen  Lichtstärken  der  Einzelteile  eines  Netz- 
hautbildes einen  beiläufig  gleichen  Zuwuchs  durch  das  über  sie  ergossene 
diffus  abirrende  Licht  erfahren,  und  so  die  relativen  Unterschiede  ihrer 
Lichtstärken  und  damit  zugleich  die  Helligkeitsunterschiede  verkleinert 
werden. 

Das  Gesichtsfeld  sei  beleuchtet,  ohne  dass  das  durch  die  Fenster  ein- 
fallende Himmelslicht  oder  das  beleuchtende  künstliche  Licht  unsere  Netz- 
haut direkt  zu  treffen  vermag.  Von  jedem,  einem  beleuchteten  Flächen- 
elemente des  Gesichtsfeldes  entsprechenden  Strahlbündel  irrt  also  schon 
beim  Durchgang  durch  die  optischen  Medien  des  Auges  ein,  wenn  auch 
noch  so  kleiner  Teil  nach  den  verschiedensten  Richtungen,  insbesondere 
aber  in  die  Umgebung  des  jenem  Elemente  zugehörigen  Netzhautbildes  ab, 
und  letzteres  bestrahlt  wieder,  wenn  auch  noch  so  schwach,  die  ganze 
übrige  Netzhaut.  Aus  der  Summation  aller  dieser  minimalen  abirrenden 
Lichtmengen  ergiebt  sich  erstens  eine  über  die  ganze  Netzhaut  ausgebreitete 
falsche  Beleuchtung,  welche  sich  überall  dem  Lichte  der  Netzhautbilder 
hinzufügt,  und  zu  diesem  allgemeinen  falschen  Lichte  gesellt  sich  an  der 
Grenze  des  einzelnen  Netzhautbildes  noch  das  von  eben  diesem  Bilde  ab- 
geirrte Licht,  welches  dicht  an  der  Grenzlinie  am  stärksten  ist  und  all- 
mählich abnehmend  in  das  allgemeine  abgeirrte  Licht  übergeht.  Das  letztere 
verdankt  seine  Entstehung  der  Gesamtheit  des  auf  der  Netzhaut  Abgebil- 
deten, das  örtlich  abgeirrte  Licht  aber  ist  ein  Abkömmling  des  einzelnen 
Netzhautbildes ;  es  umgiebt  mit  derselben  relativen  Stärke  das  hchtschwächste 
wie  das  lichtstärkste  Bild,   bemerklich  aber  wird  es  unter  sonst  günstigen 

Hering,  Lichtsinn.  4  0 


146  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Umständen  nur  insoweit,    als   es  von   einem  lichtstärkeren  Bilde   auf  eine 
lichtschwache  Umgebung  abirrt. 

Wo  immer  falsches  Licht  sich  über  ein  Netzhautbild  ausbreitet,  mindert 
es  zwar  die  Deutlichkeit  des  Sehens,  doch  macht  sich  dies  nur  in  beson- 
deren Fällen  störend  bemerkbar,  wenngleich  es  dem  aufmerksamen  Beob- 
achter viel  häufiger  begegnet.  Wenn  freilich  die  Lichtquellen,  welche  unser 
Gesichtsfeld  beleuchten,  selbst  einen  Bestandteil  desselben  ausmachen,  und 
die  Fenster,  durch  die  das  Ilimmelslicht  einfällt,  oder  die  brennende  Lampe 
sich  gleichzeitig  mit  den  beleuchteten  Dingen  auf  der  Netzhaut  abbilden, 
dann  wird  das  falsche  Licht  so  stark,  dass  es  uns,  wie  man  zu  sagen 
pflegt,  blendet.  Auch  wenn  die  Lichtquelle  nicht  so  intensiv  ist,  dass 
sie  eine  schmerzhafte  oder  wenigstens  unangenehme  Empfindung  hervor- 
ruft, wird  sie  doch  unbequem  dadurch,  dass  sie  das  deutliche  Sehen  be- 
einträchtigt und  zwar  um  so  mehr,  je  lichtschwächer  die  übrigen  Netz- 
hautbilder im  Vergleich  zum  Bilde  der  Lichtquelle  sind.  Ein  am  Zwischen- 
pfeiler zweier  Fenster  hängendes  Bild  wird  unkenntlich,  wenn  dem  Beschauer 
zu  beiden  Seiten  desselben  der  helle  Himmel  erscheint;  die  Modellierung 
der  Fensterstäbe  verschwindet  vollständig  vor  dem  hellen  Hintergrunde  des 
Himmels;  das  Lesen  einer  feinen,  nahe  zur  Lampe  gehaltenen  Schrift  wird 
zuweilen  erst  möglich,  wenn  ein  Schirm  das  direkte  Licht  vom  Auge  ab- 
hält; das  Licht  einer  Blendlaterne,  welches  bei  nächtlicher  Dämmerung 
direkt  in  unser  Auge  fällt,  macht  uns  blind  für  alles,  was  sonst  im  näheren 
Umkreise  noch  erkennbar  gewesen  wäre. 

Wenn  in  solchen  Fällen  die  neben  der  Lichtquelle  sichtbaren  Dinge 
durchaus  nicht  ungewöhnlich  hell,  sondern  zuweilen  sogar  durch  Kontrast 
verdunkelt  erscheinen,  so  liegt  der  Irrtum  nahe,  ihre  Undeutlichkeit  nicht  auf 
abgeirrtes  Licht,  sondern  ausschließlich  auf  diese  Verdunkelung  zu  beziehen. 
Solche  Auffassung  ist  jedoch  ausgeschlossen,  wenn  die  Umgebung  des  licht- 
starken Dinges  nicht  nur  undeutlicher,  sondern  zugleich  auch  heller  gesehen 
wird,  wie  z.  B.  in  den  folgenden  Fällen: 

Man  klebe  auf  einen  fingerbreiten  Streifen  mattschwarzen  Papiers  einige 
graue  Papierschnitzel  und  halte  den  Streifen  mit  ausgestreckter  Hand  gegen 
den  hellen  Himmel,  während  man  mit  der  anderen  Hand  einen  großen 
mattschwarzen  Papierschirm  hinter  den  Streifen  bringt.  Die  jetzt  ganz 
deutlichen  Schnitzel  werden  sofort  unsichtbar,  sobald  man  den  Schirm  ent- 
fernt, zugleich  aber  wird  der  nun  vom  hellen  Himmel  umschlossene  Streifen 
sichtlich  viel  heller. 

An  einem  sehr  hellen  Tage  befestigte  ich  an  der  Zimmertüre  einen 
großen  Bogen  schwarzen  Papieres,  auf  welchen  verschiedene  kleine  Scheiben 
(4  cm  Durchmesser)  und  Schnitzel  von  weißen  und  verschiedenen  grauen 
Papieren  geklebt  waren.  In  der  ausgestreckten  Hand  eine  brennende  Kerze 
haltend,    betrachtete   ich   aus    4  bis  5  m  Entfernung   mit  einem  Auge   das 


§  34.    Einfluss  des  falschen  Lichtes  auf  die  Deutlichkeit  des  Sehens.      147 

schwarze  Papier,  während  ich  von  der  Seite  her  die  Flamme  langsam  der 
Blicklinie  näherte.  Sofort  verschwanden  zuerst  die  dunkelgrauen,  beim 
Näherkommen  des  Flammenbildes  die  hellgrauen  und  schließlich  auch  die 
weißen  Scheiben  und  Schnitzel,  während  sich  zugleich  über  den  schwarzen 
Grund  eine  Helligkeit  ausbreitete.  Dabei  erschien  meinem  schwach  kurz- 
sichtigen Auge  die  Flamme  scharf  abgegrenzt,  und  eine  weiße  Scheibe  ver- 
schwand bereits,  wenn  das  ihr  genäherte  Flammenbild  noch  um  seinen 
Durchmesser  von  derselben  entfernt  schien.  Sah  ich  durch  eine  Brille  die 
Scheiben  u.  s.  w.  scharf,  wobei  der  ümriss  der  Flamme  nur  ein  wenig  ver- 
waschen war,  so  verschwanden  die  weißen  Scheiben,  ihren  jetzt  schärferen 
Umrissen  entsprechend,  nicht  vollständig,  aber  nahezu. 

Stellt  man  den  Versuch  an  einem  trüben  Tage  oder  bei  schwacher 
künstlicher  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  an,  so  wird  die  gleich- 
zeitige Steigerung  der  Helligkeit  und  Minderung  der  Deutlichkeit  in  der 
Nähe  der  Flamme  noch  viel  auffälliger. 

Im  allgemeinen  wird  allerdings  das  von  lichtstarken  Netzhautbildern 
abgeirrte  Licht  nicht  als  solches  bemerklich ,  .  weil  es  durch  die  ver- 
dunkelnde Kontrastwirkung  solcher  Bilder  ausgeglichen  oder  übertönt  wird. 
Die  erhellende  Wirkung  des  falschen  Lichtes  und  die  ver- 
dunkelnde des  Simultankontrastes  sind  überall  mit  einander 
im  Kampfe. 

Man  verdecke  sich,  vor  dem  Fenster  stehend,  den  mäßig  hellen  Himmel 
durch  einen  großen  mattschwarzen  Schirm  und  halte  einen  ebenfalls  matt- 
schwarzen etwa  5  mm  breiten  Streifen  in  mittler  Sehweite  vor  den  Schirm. 
Entfernt  man  dann  bei  feststehendem  Auge  den  Schirm,  so  hellt  sich  der 
zuvor  schwarz  erschienene  Streifen  sichtlich  auf.  Es  ergießt  sich  in  diesem 
Falle  das  abirrende  Licht  von  zwei  Seiten  her  über  das  Netzhautbild  des 
Streifens,  zwei  Säume  falschen  Lichtes  kommen  auf  seinem  Bilde  zur 
Deckung  und  zwar  mit  um  so  lichtstärkeren  Teilen,  je  schmäler  der  Streifen 
und  also  auch  sein  Netzhautbild  ist. 

Jetzt  ersetze  man  unter  sonst  ganz  gleichen  Umständen  den  »schwarzen« 
Streifen  durch  einen  »weißen«,  der  durch  ein  zweites  seitliches  Fenster  gut 
beleuchtet  ist  und  weiß  erscheint,  so  lange  der  schwarze  Schirm  dem  Be- 
obachter den  Himmel  verdeckt.  Entfernt  man  jedoch  den  Schirm,  so  sieht 
man  bei  nicht  allzu  großer  Lichtstärke  des  Himmels  den  fixierten  weißen 
Streifen  sicH  plötzlich  infolge  des  Kontrastes  stark  verdunkeln,  obwohl  sich 
jetzt  zu  seinem  eigenen  Lichte  ebenfalls  wieder  das  falsche  Licht  gesellt 
und  also  sein  Netzhautbild  um  genau  ebenso  viel  lichtstärker  wird,  wie  es 
zuvor  das  Netzhautbild  des  schwarzen  Streifens  wurde.  Jetzt  wird  also 
die  erhellende  Wirkung  des  falschen  Lichtes  nicht  nur  unterdrückt,  sondern 
sogar  übertroffen  durch  die  verdunkelnde  Wirkung  des  Kontrastes.  Wenn 
aber   ein   schwarzer  d.  h.  relativ  lichtschwacher  Streifen  sich  infolge  der 

10* 


148  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Erleuchtung  seiner  Umgebung  aufhellt,  ein  weißer  und  also  relativ  licht- 
starker sich  dabei  verdunkelt,  so  folgt,  dass  es  einen  Streifen  von  be- 
stimmter mittler  Lichtstärke  geben  müsste,  welcher  bei  Entfernung  des 
schwarzen  Schirmes  sich  weder  deutlich  verdunkeln  noch  deutlich  erhellen 
würde,  weil  die  erhellende  Wirkung  des  falschen  Lichtes  und  die  verdun- 
kelnde des  Kontrastes  sich  das  Gleichgewicht  halten. 

Dies  alles  steht  in  Einklang  mit  dem,  was  wir  im  §  29  und  zwar  rein 
empirisch  aus  den  messenden  Kontrastversuchen  abgeleitet  haben.  Wir 
fanden  dort,  dass  es  bei  Steigerung  der  Lichtstärke  in  der  Umgebung  eines 
kleinen  umschlossenen  Feldes  möglich  ist,  dessen  Kontrastverdunkelung 
durch  einen  ganz  bestimmten  Zuwuchs  seiner  Lichtstärke  aufzuheben,  und 
dass  bei  gleicher  Steigerung  der  Lichtstärke  der  Umgebung  zu  solcher  Kom- 
pensierung ein  um  so  größerer  Zuwuchs  zum  Lichte  des  umschlossenen 
Feldes  nötig  ist,  je  lichtstärker  das  letztere  von  vornherein  war.  Bei  den 
eben  beschriebenen  Versuchen  bleibt  der  Lichtzuwuchs,  welchen  der  Streifen 
(das  umschlossene  Feld)  durch  das  falsche  Licht  erhält,  immer  derselbe, 
gleichviel  welche  Lichtstärke  der  Streifen  selbst  hat.  Dieser  Lichtzuwuchs 
aber  ist  nur  bei  einer  ganz  bestimmten  Lichtstärke  des  Streifens  eben  ge- 
nügend, der  Konstrastverdunkelung  das  Gleichgewicht  zu  halten.  Ist  der 
Streifen  lichtschwach,  und  das  gilt  von  dem  schwarzen  Streifen,  so 
erhält  er  durch  das  falsche  Licht  einen  stärkeren  Zuwuchs  als  zur  Kom- 
pensierung der  Kontrastwirkung  nötig  wäre,  daher  er  sich  aufhellt.  Ist  der 
Streifen  lichtstark,  wie  dies  von  dem  weißen  gilt,  so  genügt  das  ihm  zu- 
wachsende falsche  Licht  nicht,  die  Kontrastwirkung  zu  kompensieren,  daher 
er  sich  verdunkelt. 

Es  ist  bemerkenswert,  dass  in  den  hier  besprochenen  Fällen  von  Sichtbar- 
keit des  falschen  Lichtes  die  Wirkung  desselben  sich  im  Sehfelde  nicht  als  eine 
Änderung  der  sogenannten  »wirklichen«,  flächenhaften  Farbe  der  bezügUchen 
Sehdinge  zeigt.  So  erscheint  uns  der  erwähnte  leuchtende  Hof  der  Flamme  als 
ein  dieselbe  umgebender  heller  Nebel  vor  dem  dunklen  Hintergrunde  auch  dann, 
wenn  wir  in  letzterem  noch  verschiedene  Dinge  zu  unterscheiden  vermögen, 
nicht  aber  als  eine  Verwandlung  der  Farbe  dieser  Dinge  in  eine  hellere  Farbe. 
Auch  bei  dem  Versuche  mit  dem  leuchtenden  Loch  im  schwarzen  Schirm  oder 
mit  dem  schwarzen  Streifen  vor  der  leuchtenden  Himmelsfläche  erhalten  wir 
nicht  den  Eindruck,  als  verwandle  sich  plötzlich  die  vorher  schwarze  Farbe 
der  das  Loch  umgebenden  Teile  des  Schirmes  oder  die  schwarze  Farbe  des 
Streifens  in  eine  graue.  Vielmehr  scheint  sich  ein  accidentelles  Helles  vor  oder 
auf  die  Fläche  der  bezüglichen  Teile  zu  legen,  durch  welches  hindurch  die 
schwarze  Farbe  derselben  sichtbar  ist.  Ich  selbst  vermag  allerdings  die  Ver- 
wandlung des  flächenhaften  Schwarz  in  ein  ebenfalls  flächenhaftes  Grau  zu  sehen, 
und  von  einem  Maler,  der  den  Eindruck  im  Bilde  wiederzugeben  versuchen 
wollte,  würde  dies  wohl  auch  gelten;  den  meisten  Menschen  aber  fällt  solches 
schwer;  ganz  abgesehen  davon,  dass  viele  auf  Befragen  nicht  das  aussagen, 
was  sie  sehen,   sondern  das,  was  sie  über  das  Gesehene  denken. 


§  35.    Zusammenwirken  des  falschen  Lichtes  und  des  Kontrastes.        149 

§  35.  Herabsetzung  der  Deutlichkeit  bei  dem  Zusammen- 
wirken des  falschen  Lichtes  und  des  verdunkelnden  Kontrastes. 
Es  ist  die  Ansicht  ausgesprochen  worden,  dass  jede  Herabsetzung  der 
centralen  Sehschärfe,  welche  infolge  gesteigerter  Belichtung  excentrischer 
Netzhautstellen  eintritt,  aus  der  Vermehrung  des  falschen  Lichtes  zu  er- 
klären sei,  welches  die  centrale  Netzhaut  dabei  empfängt.  Wenn  die  unter 
solchen  Umständen  undeutlicher  werdenden  Sehdinge  gleichzeitig  heller 
erscheinen,  als  wie  dies  ohne  die  excentrische  Belichtung  der  Netzhaut  der 
Fall  wäre,  dann  ist  diese  Ansicht  sicher  zutreffend;  wenn  aber  dieses 
Hellerwerden  fehlt,  oder  gar  ein  gleichzeitiges  deutliches  Dunklerwerden  der 
centralen  Sehdinge  eintritt,  so  kann  unter  Umständen  die  verdunkelnde 
(schwärzende)  Wirkung  des  Simultankontrastes  einen  viel  größeren  Anteil 
am  Undeutlichwerden  jener  Sehdinge  haben  als  die  an  sich  erhellende 
(weißende)  Wirkung  des  falschen  Lichtes. 

Während  in  den  oben  besprochenen  Fällen,  in  denen  die  Quellen  der 
Beleuchtung,  wie  das  Himmelslicht  oder  eine  Flamme,  sich  gleichzeitig  mit 
dem  übrigen  Inhalte  des  Gesichtsfeldes  auf  der  Netzhaut  abbildeten,  die 
verdunkelnde  Kontrastwirkung  der  lichtstarken  Netzhautbilder  auf  das  übrige 
lichtschwächere  Sehfeld  überkompensiert  werden  konnte  durch  den  starken 
Zuwuchs  falschen  Lichtes,  zeigt  sich  beim  gewöhnlichen  Sehen  im  allge- 
meinen das  Gegenteil,  d.  h.  die  verdunkelnde  Wirkung  der  lichtstarken 
Teile  des  Netzhautbildes  kompensiert  oder  überkompensiert  die  an  sich  er- 
hellende Wirkung  des  gesteigerten  falschen  Lichtes.  Wäre  letzteres  nicht 
möglich,  so  könnte  es  nie  zu  einer  sichtbaren  Verdunkelung  durch  Simultan- 
kontrast kommen,  wofür  wir  doch  schon  so  schlagende  Beispiele  kennen 
gelernt  haben.  Diese  Verdunkelung  eines  Sehfeldbezirkes  durch  Kontrast 
kann  unter  günstigen  Umständen  so  weit  gehen,  dass  die  Deutlichkeit  der 
in  dem  Bezirke  erscheinenden  Sehdinge  sehr  auffallend  gemindert  bezw.  bis 
zur  Unkenntlichkeit  herabgesetzt  wird.     Hierfür  zwei  Beispiele: 

Ich  stelle  mich  mit  dem  Rücken  an's  Fenster  und  bringe  dicht  an  mein 
Auge  eine  innen  mattschwarze  30  cm  lange  Röhre  (Dunkelröhre)  und  dicht 
an  das  andere  Ende  derselben  ein  großes  steifes,  gänzlich  undurchscheinen- 
des weißes  Blatt  mit  einem  centralen  Loche  von  10 — 12  mm  Durchmesser. 
Durch  letzteres  blicke  ich  nach  einem  Kupferstich  an  der  mir  gegenüber 
befindlichen  Wand,  oder  nach  dem  Inhalt  eines  an  derselben  stehenden 
offenen  Schrankes  mit  allerlei  kleinen  Dingen,  die  ich  scharf  und  deutlich 
sehe.  Indem  ich  die  Mitte  oder  den  Rand  des  Loches  fixiere,  entferne  ich 
rasch  die  Röhre,  während  das  weiße  Blatt  an  seinem  Platze  bleibt:  sofort 
sehe  ich  an  der  Stelle  des  Loches  einen  grauschwarzen  oder  schwarzen 
Fleck,  in  welchem  zunächst  nur  wenig  oder  nichts  zu  unterscheiden  ist. 
Nachträglich  tauchen  einzelne  Teile  des  zuvor  Gesehenen  mit  ganz  ver- 
schwommenen Umrissen  aus  dem  Dunkel  auf,  aber  alle  feineren  Einzelheiten 


150  Lehre  vom  Lichtsinn. 

bleiben  noch  unsichtbar.  Diese  unter  Umständen  ganz  gewaltige  Minderung 
der  Deutlichkeit  des  Sehens  von  Dingen,  deren  Lichtstärke  nicht  kleiner 
geworden  ist,  erklärt  sich  vorwiegend  aus  der  starken  Verdunkelung  durch 
Kontrast. 

Allerdings  erhält  das  Netzhautbild  der  durch  das  Loch  sichtbaren  Dinge 
beim  Wegnehmen  der  Rühre  einen  erheblichen  Zuwuchs  an  falschem  Lichte, 
der  den  verschiedenen  Lichtstärken  der  einzelnen  Teile  des  Bildes  hinzu- 
gefügt wird  und  die  relativen  Unterschiede  ihrer  Lichtstärken  mindert,  was 
an  sich  schon  eine  Minderung  ihrer  Farbenunterschiede  und  also  auch 
der  Deutlichkeit  des  Sehens  bedingen  könnte.  Dieser  Lichtzuwuchs  könnte 
jedoch  nur  erhellend  wirken,  während  doch  alles  durch  das  Loch  Sicht- 
bare vielmehr  sehr  stark  verschwärzt  erscheint.  Diese  Verschwärzung  ist 
eine  derartige,  dass  dadurch  die  Farbenunterschiede  der  fraglichen  Seh- 
dinge gemindert  werden  und  entsprechend  auch  die  Deutlichkeit  des  Sehens 
(vgl.  VIL  Abschnitt).  Der  Einfluss  der  Pupillenänderung  lässt  sich  in  der 
früher  beschriebenen  Weise  ausschließen. 

Wer  etwa  doch  der  Meinung  sein  sollte,  dass  die  große  Herabsetzung 
der  Sehschärfe,  wie  sie  bei  diesem  Versuche  eintritt,  nur  durch  das  von  ' 
dem  weißen  Blatte  auf  das  Netzhautbild  des  Loches  abirrende  Licht  be- 
dingt werde,  und  dass  die  Verschwärzung  des  Loches  und  der  durch  das- 
selbe sichtbaren  Dinge  lediglich  auf  eine  »Urteilstäuschung«  zurückzuführen 
sei,  der  betrachte  die  zuvor  durch  das  Loch  sichtbar  gewesenen  Dinge  nach 
Entfernung  des  weißen  Schirmes  durch  eine  schräg  gehaltene  unbelegte 
Spiegelglasplatte,  in  der  sich  ein  zur  Seite  gehaltenes  gut  beleuchtetes  weißes 
Blatt  spiegelt.  Das  gespiegelte  Licht  legt  sich  dann  wie  ein  Schleier  auf 
die  gesehenen  Dinge  und  mindert  ebenfalls  ihre  Deutlichkeit;  aber  um  sie 
durch  diese  Verweißung  ihrer  Netzhautbilder  auch  nur  angenähert  so  un- 
deutlich zu  machen,  bedarf  es  einer  Menge  des  zugespiegelten  Lichtes, 
welche  viel  größer  ist,  als  die  Menge  des  falschen  Lichtes  unter  den  Be- 
dingungen des  obigen  Versuches  sein  konnte. 

Ein  zwar  nicht  so  auffälliges,  aber  nicht  minder  belehrendes  Beispiel 
für  die  Herabsetzung  der  Deutlichkeit  durch  Kontrast  ist  das  folgende:  Von 
einem  mit  kleinen  Buchstaben  bedruckten  weißen  Blatte  schneide  ich  den 
unbedruckten  Rand  ab  und  lege  das  Blatt  so  über  das  in  Tischhöhe  be- 
findliche lichtlose  Loch  eines  am  Fenster  stehenden  Dunkelkastens,  dass  das 
Loch  zur  Hälfte  verdeckt  ist.  Über  dem  Loche  befindet  sich  in  passender 
Höhe  das  früher  beschriebene  Polariphotometer  so  orientiert,  dass  z.  B.  das 
extraordinäre  Bild  über  das  ordinäre  nach  rechts  hinausragt  und  zwar  für 
die  eben  gewählte  Sehweite  mit  einem  1 6  mm  breiten  Streifen.  Durch 
passende  Stellung  des  Nicol  vermindere  ich  die  Lichtstärke  des  überragen- 
den Streifens  soweit,  dass  ich  die  Buchstaben,  welche  sich  nahe  seinem 
rechten,  an  das  Schwarz  des  Loches  grenzenden  Rande  befinden,  eben  noch 


§  36.    Die  Entstehung  scharfer  Umrisse  durch  Wechselwirkung.  151 

erkenne:  dann  sind  seine  nahe  dem  linken  Rande  liegenden  Buchstaben 
bereits  unkenntHch,  weil  sie  hier  der  verdunkelnden  Kontrastwirkung  des 
angrenzenden  Weiß  unterliegen,  welches  den  hier  übereinander  liegenden 
beiden  Bildern  entspricht.  Auch  sehe  ich  den  Streifen  nahe  seinem  linken 
Rande  merklich  schwärzlicher  als  an  seinem  rechten  Rande,  und  zwar  dies 
alles  auch  dann,  wenn  ich  jeden  successiven  Kontrast  ausschließe.  Schiebe 
ich  von  rechts  her  ein  weißes  Blatt  soweit  über  den  offenen  Teil  des  Loches, 
dass  der  hnke  Rand  seines  ordinären  Bildes  dicht  am  rechten  Rande  des 
eben  besprochenen  viel  lichtschwächeren  Streifens  erscheint,  so  werden  nun 
auch  die  an  diesen  Rand  grenzenden  Buchstaben  schwerer  kenntlich. 

Die  Verminderung  der  Deutlichkeit  des  centralen  Sehens 
infolge  von  Belichtungen  excentrischer  Netzhautteile  kann  also 
sowohl  durch  Vermehrung  des  falschen  Lichtes  als  durch  die 
Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  herbeigeführt  werden.  Da 
überdies,  ganz  abgesehen  von  dem  leicht  auszuschließenden  Einflüsse  der 
Pupillenänderung,  der  jeweilige  Anpassungszustand  des  inneren  Auges  bei 
allen  diesen  sogenannten  Blendungserscheinungen  wesentlich  mitbestimmend 
ist,  so  erklärt  sich,  dass  die  verschiedenen  Untersucher  der  letzteren,  ins- 
besondere Uhthoff  und  Dep^ne  (27),  Heymans  (28),  Bürschke  (29  und  30) 
zu  sehr  verschiedenen  Ansichten  über  das  Wesen  der  »Blendung«  gelangen 
konnten. 

Die  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  und  die  durch  dieselbe  bedingte 
Verschwärzung  des  centralen  Sehfeldbezirkes  hat  sich  in  den  zuletzt  besprochenen 
Fällen  als  Ursache  einer  Verminderung  der  Sehschärfe  gezeigt.  Wir  werden 
jedoch  weiterhin  sehen,  in  wie  hohen  Maße  beim  gewöhnlichen  Sehen  gerade 
diese  Wechselwirkung  unsere  Sehschärfe  erhöht  und  die  lokale  Abirrung  des 
Lichtes  unschädlich  macht, 

§  36.  Die  scharfen  Umrisse  der  Sehdinge  als  Ergebnis  der 
Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen.  Dass  ein  gutes  Auge  wirkhch 
scharfe  Umrisse  der  Außendinge  auch  als  scharfe  sieht,  pflegt  man  auf 
eine  entsprechende  Genauigkeit  der  Netzhautbilder  zurückzuführen  und 
schreibt  damit  dem  dioptrischen  Apparate  des  Auges  eine  Leistung  zu,  die 
weit  über  sein  Können  hinausgeht.  Mancherlei  Thatsachen  zwingen  zu 
dem  Schlüsse,  dass  die  Einzelteile  des  Netzhaulbildes  auch  im  besten  Auge 
keineswegs  durch  so  scharfe  Grenzen  geschieden  sind,  wie  sie  die  Sehdinge 
zeigen  können. 

Wäre  es  die  Genauigkeit  des  Netzhautbildes,  der  wir  die  scharfen 
Umrisse  unseres  Sehfeldinhaltes  verdanken,  so  müssten  uns  bei  guter  Ak- 
kommodation zwei  scharf  aneinander  grenzende  Teilstücke  des  Gesichts- 
feldes auch  bei  Herabsetzung  der  allgemeinen  Beleuchtung  solange  mit 
scharfer  Grenze  erscheinen,  als  ihre  beiden  Farben  (Helligkeiten)  für 
uns  noch  deutlich  verschieden  sind.     Denn  an  der  Genauigkeit  oder  Schärfe 


152 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


des  Netzhautbildes  wird  durch  die  Minderung  seiner  Lichtstärke  nichts  ge- 
ändert, falls  wir  den  etwaigen  Einfluss  einer  Pupillenerweiterung  dadurch 
ausschließen,  dass  wir  ein  Diaphragma  von  zureichend  kleiner  ÖfTnung 
dicht  vor  das  Auge  bringen.  Gleichwohl  wirkt  auch  unter  solchen  Um- 
ständen eine  stärkere  Herabsetzung  der  allgemeinen  Beleuchtung  des  Ge- 
sichtsfeldes sofort  auf  unser  Sehen  der  Umrisse  ähnlich  wie  eine  mangel- 
hafte Akkommodation.  Die  vorher  scharf  gewesenen  Grenzlinien  der  Seh- 
dinge werden  dabei  immer  verwaschener  und  undeuthcher  auch  dann, 
wenn  ihre  jetzt  allerdings  verkleinerten  Farbenunterschiede  noch  relativ 
große    und    viel    größer   sind,    als  die  kleinsten  Unterschiede  von  Farben, 

die  uns   bei  guter  Beleuch- 
Fig.  31.  tung  der  Außendinge   soeben 

noch  durch  scharfe   Grenzen 
geschieden  erschienen  sind. 

Man  bringe  dicht  vor  das 
Auge  ein  Diaphragma  von  \ 
bis  2  mm  Durchmesser  und 
halte  in  einem  Zimmer,  das 
von  einer  einzigen  Lampe  er- 
hellt wird,  das  Schachbrett- 
muster der  Fig.  31  in  deut- 
licher Sehweite  so  vor  sich 
hin,  dass  das  volle  Licht  der 
nahen  Lampe  darauf  fällt; 
dann  drehe  man  sich  soweit 
um  sich  selbst,  dass  das 
Muster  vom  Körper  vollständig 
beschattet  und  nur  noch  durch 
das  schwache  an  den  Wänden 
reflektierte  Licht  erleuchtet  wird.  Jetzt  wird  man  kein  einziges  sauber  be- 
grenztes Viereck  mehr  sehen,  sondern  nur  verwaschene  Umrisse,  und  wenn 
die  Zimmerwände  sehr  wenig  Licht  zurückgeben,  sogar  nur  dunkle  und  helle 
Flecke,  die  zwar  an  Vierecke  erinnern,  aber  weder  deutlich  gezeichnete 
Seiten  noch  scharfe  Ecken  haben.  Ja  es  kommt  bei  noch  schwächerer 
Beleuchtung  sogar  dahin,  dass  man  gar  nicht  mehr  sagen  könnte,  ob  die 
ganz  unsicher  umgrenzten  schwarzen  und  weißen  Flecke,  die  man  sieht, 
regelrechte  Quadrate  oder  andere  Figuren  sind,  wenn  man  sie  nicht  zuvor 
bei  guter  Beleuchtung  gesehen  hätte. 

Hat  man  ein  Dunkelzimmer  neben  einem  gut  beleuchteten  zur  Ver- 
fügung, so  stelle  man  sich  in  ersterem  dicht  an  die  offene  Thüre,  so  dass  die 
in  der  einen  Hand  gehaltene  Figur  zunächst  voll  beleuchtet  wird  und  ganz 
scharf  erscheint,   dann   schließe   man    mit   der  andern  Hand  die  Thüre  so 


§  36.    Die  Entstehung  scharfer  Umrisse  durch  Wechselwirkung.  153 

weit,  dass  nur  noch  spärliches  Licht  auf  die  Figur  fällt,  und  man  wird  in 
der  bequemsten  Weise  die  soeben  beschriebene  höchst  auffallende  Herab- 
setzung der  Deutlichkeit  der  Umrisse  beobachten  können. 

Der  Farbenunterschied  zwischen  den  helleren  und  dunkleren  Teilen 
der  Figur  ist  bei  alledem  noch  sehr  deutlich,  nur  ihre  Grenzen  sind  es 
nicht  mehr.  Das  Netzhautbild  aber  hat  unter  den  gegebenen  Bedingungen 
bei    der  schwächsten  Beleuchtung   dieselbe  Schärfe   wie   bei   der  stärksten. 

Aus  den  jetzt  herrschenden  Lehren  ist  nicht  zu  verstehen,  wie  bei 
ungeänderter  Schärfe  des  Netzhautbildes  die  bloße  Herabsetzung  seiner 
Lichtstärke  die  Grenzen  zwischen  den  hellen  und  dunklen  Teilen  des 
korrelativen  Sehfeldes  verwaschen  und  unkenntlich  machen  kann,  obgleich 
ein  ganz  deutlicher  Helligkeitsunterschied  der  Felder  noch  immer  vorhanden 
ist.  Nach  diesen  Lehren  könnten  allerdings  durch  die  Herabsetzung  der 
Beleuchtung,  sobald  dabei  die  untere  Gültigkeitsgrenze  des  WEBEa'schen  Ge- 
setzes überschritten  wird,  die  Helligkeitsunterschiede  im  Sehfelde  ab- 
nehmen und  also,  wenn  sie  von  vornherein  klein  waren,  schwerer  bemerklich 
oder  gar  unbemerklich  werden.  Wir  haben  es  aber  in  Fig.  31  mit  einer 
Sehprobe  zu  thun,  deren  Einzelheiten  zunächst  sehr  große  i)  und  bei  den 
dann  benützten  schwachen  Beleuchtungen  auch  noch  ganz  deutliche  Hellig- 
keitsverschiedenheiten zeigen,  während  doch  bei  guter  Beleuchtung  anein- 
andergrenzende  Teile  des  Sehfeldes,  deren  Helligkeitsverschiedenheiten  sehr 
viel  kleiner  sind,  noch  scharfe  Grenzen  haben  können. 

Die  Undeutlichkeit  der  Umrisse  bei  der  herabgesetzten  Beleuchtung 
lässt  sich  auch  nicht  aus  der  »fleckigen  Verteilung  des  Eigenlichtes« 
(Helmholtz  H,  S.  409)  erklären.  Denn  bei  unserem  Versuche  ist  das  Auge 
zur  Zeit  der  Herabsetzung  der  Beleuchtung  im  Zustande  einer  Dauer- 
anpassung für  gute  Beleuchtung,  besonders  dann,  wenn  der  Versuch  an 
einem  hellen  Tage  angestellt  wird.  Die  Ungleichheiten  und  Unstetigkeiten 
der  Eigenfarbe  des  Auges  spielen  erst  dann  eine  erhebliche  Rolle,  wenn 
dasselbe  längere  Zeit  gar  nicht  oder  äußerst  schwach  belichtet  worden  ist 
und  sich  die  successive  Dunkeladaptation  bereits  entwickelt  hat.  Von  dem 
centralen  relativen  Skotome,  welches  einem  solchen  dunkeladaptierten  Auge 
eigen  ist,  bemerkt  man  nichts  bei  unserem  Versuche.  Die  indirekt  ge- 
sehenen Teile  der  Figur  zeigen  nicht  bessere  Umrisse  oder  auffallend 
größere  Verschiedenheiten  zwischen  den  helleren  und  dunkleren  Stellen  als 
wie  die  direkt  betrachteten.  Es  ist  in  dieser  Hinsicht  sehr  belehrend,  den 
Versuch   in    der    oben   beschriebenen  Weise  im  Dunkelzimmer  anzustellen, 


i)  Die  schwarzen  Quadrate  der  Fig.  3\  sind,  wenn  regelmäßig  reflektiertes 
Licht  möglichst  ausgeschlossen  ist,  infolge  der  Glättung  des  Papieres  bedeutend 
lichtschwächer  als  es  bei  derselben  Beleuchtung  die  Buchstaben  einer  Druckschrift 
auf  einem  matten  Papiere  sind,  wie  solches  früher  ausschließlich  zum  Drucken 
benutzt  wurde. 


j^54  Lehre  vom  Lichtsinn. 

nachdem  man  längere  Zeit  das  eine  Auge  vor  jedem  Lichte  geschützt,  das 
andere  aber  im  gut  beleuchteten  Räume  gebraucht  hat.  Man  vermag  dann, 
während  die  eine  Hand  durch  Veränderung  der  Thürspalte  die  Beleuchtung 
regelt  und  die  andere  die  Figur  hält,  durch  Verschluss  des  hell-  oder  des 
dunkeladaptierten  Auges  bei  entsprechend  schwachen  Beleuchtungen  die  für 
beide  Augen  sehr  verschiedenen  Erscheinungsweisen  der  Figur  herbei- 
zuführen. 

Wenn  wir  zwei  in  Wirklichkeit  scharf  von  einander  abgegrenzte  Felder 
verschiedener  Lichtstärke  zwar  in  deutlich  verschiedenen  Farben,  aber 
nicht  durch  eine  scharfe  Grenzlinie,  sondern  durch  ein  Zwischengebiet  ge- 
schieden sehen,  in  welchem  die  hellere  Farbe  des  einen  Feldes  in  die 
dunklere  des  anderen  übergeht,  so  muss  dies  auf  die  Vermutung  führen, 
dass  auch  im  Netzhautbilde  die  Lichtstärke  des  einen  Feldes  nicht  scharf 
von  der  des  anderen  abgesetzt  ist,  sondern  dass  ein  alimählicher  Übergang 
der  einen  Lichtstärke  in  die  andere  besteht.  Bei  mangelhafter  Akkommo- 
dation oder  ungewöhnlich  weiter  Pupille  wäre  uns  dies  selbstverständlich. 
Wenn  wir  aber  trotz  guter  Akkommodation  und  zureichend  engem  Dia- 
phragma doch  die  Grenzlinie  noch  verwaschen  sehen,  obwohl  sie  sofort 
scharf  erscheint,  sobald  wir  ohne  jede  Änderung  der  Akkommodation  und 
des  Diaphragmas  die  Lichtstärke  der  beiden  Felder  in  demselben  A^erhältnis 
vergrößern,  so  lässt  sich  dies  nur  aus  einer  veränderten  Reaktionsweise 
unseres  inneren  Auges  erklären.  Der  etwaige  Verdacht,  dass  das  Auge  bei 
Herabsetzung  der  Beleuchtung  seine  Akkommodation  ändere,  ist  für  meine 
Person  schon  dadurch  ausgeschlossen,  dass  die  Akkommodationsbreite  meines 
presbyopischen  Auges  nahezu  gleich  Null  ist. 

So  kommen  wir  also  zu  dem  Schlüsse,  dass  das  Netzhautbild  jeder 
solchen  Grenzlinie  auch  bei  bester  Akkommodation  an  sich  ein  verwaschenes 
ist,  dass  aber  unser  inneres  Auge  das  Vermögen  besitzt,  auf  Grund  eines 
solchen  unvollkommenen  Linienbildes,  bei  zureichender  Lichtstärke  desselben, 
im  psychischen  Sehfelde  eine  scharfe  Grenze  zwischen  den  beiden  bezüg- 
lichen Farben  herzustellen  und  so  aus  verwaschen  umrissenen  Teilen  des 
Netzhautbildes  scharf  umrissene  Sehdinge  zu  schaffen. 

Dieses  Vermögen  verdankt  unser  Sehorgan  der  Wechselwirkung  der 
Sehfeldstellen.  Das  Netzhautbild  ist  stets  verwaschen;  gleich  dem  Photo- 
graphen aber,  der  eine  mangelhafte  Kopie  retouchiert,  korrigiert  die 
Wechselwirkung  das  Bild  der  Außendinge,  indem  sie  dort,  wo  durch  Ab- 
irrung Licht  verloren  geht,  den  dadurch  bedingten  Helligkeitsverlust  mehr 
oder  minder  entsprechend  ersetzt,  dort  aber,  wo  das  abgeirrte  Licht  fälsch- 
lich hingerät,  es  durch  Verdunkelung  unschädlich  macht.  Nicht  dem  diop- 
trischen  Apparate  verdanken  wir  z.  B.  die  Schwärze  und  die  Deutlichkeit  der 
Umrisse  dieser  Buchstaben,  sondern  den  Wechselwirkungen  im  somatischen 
Sehfelde. 


§  36.    Die  Entstehung  scharfer  Umrisse  durch  Wechselwirkung.  155 

Denken  wir  uns  das  Gesichtsfeld  als  ein  Mosaik  von  Flächenelementen, 


deren  jedes  denselben  kleinen  Gesichtswinkel  hat,  wie  der  Querschnitt  eines 
Zapfens  der  Netzhautgrube,  und  also  zu  einem  solchen  korrelativ  ist,  so  heße 
sich  theoretisch  die  Forderung  stellen,  dass  jeder  Zapfen  nur  von  dem  einen, 
korrelativen  Elemente  des  Gesichtsfeldes  belichtet  werde.  In  Wirklichkeit 
bestrahlt  jedoch  infolge  der  lokalen  Abirrung  das  Licht  eines  solchen  Gesichts- 
feldelementes einen  ganzen  Komplex  von  Zapfen,  und  wird  ein  und  derselbe 
Zapfen  stets  gleichzeitig  von  einem  ganzen  Komplexe  jener  Gesichtsfeld- 
elemente bestrahlt.  Das  Licht  eines  Fixsternes,  dessen  Gesichtswinkel 
gleich  Null  gesetzt  werden  darf,  sammelt  sich  im  Auge  nicht  in  einem 
Punkte,  sondern  in  einem  kleinen  Räume,  welcher  selbst  bei  bester  Akkom- 
modation von  der  Empfangsfläche  der  Netzhaut  in  einer  kleinen  Fläche 
durchschnitten  wird,  die  auch  im  günstigsten  Falle  viel  grüßer  ist,  als  der 
Querschnitt  eines  Zapfens.  Auch  fordert  das,  was  wir  über  die  Grenzen 
des  Auflösungsvermögens  (32,  S.  16)  unseres  Sehorgans  wissen,  durchaus 
nicht,  dass  das  von  einem  »Punkte«  der  Außenwelt  kommende  Licht  wieder 
in  einem  »Punkte«  oder  auch  nur  in  einem  Sammelraume  vom  Querschnitt 
eines  Zapfens  vereinigt  werde. 

Unsere  Erfahrungen  z.  B.  über  den  kleinsten  Gesichtswinkel  des  gegen- 
seitigen Abstandes  zweier  lichter  Punkte  auf  finsterem  Grunde,  die  wir 
eben  noch  räumlich  zu  sondern  vermögen,  verlangen  freilich,  dass  der- 
jenige Zapfen,  welcher  im  Mittelpunkte  der  von  einem  leuchtenden  Außen- 
punkte bestrahlten  Zapfengruppe  liegt,  wesentlich  stärker  beUchtet  sei  als 
seine  nächsten  Nachbarn.  Wenn  aber  die  zwei,  den  beiden  Außenpunkten 
entsprechenden  stärkst  bestrahlten  Zapfen  einen  Zapfen  zwischen  sich  haben, 
dessen  Belichtung  auch  nur  ein  wenig  schwächer  ist,  als  ihre  eigene,  so 
wird  für  den  Beobachter  zwischen  zwei  helleren  Stellen  eine  minder  helle 
Stelle  bemerklich  werden  können,  womit  eine  räumliche  Sonderung  der 
ersteren  gegeben  ist. 

Da  sich  nicht  feststellen  lässt,  wie  groß  das  von  einem  Flächenelemente 
des  Gesichtsfeldes  infolge  lokaler  Abirrung  bestrahlte  Feld  auf  der  Emp- 
fangsfläche der  Netzhaut  ist,  und  in  welcher  Weise  z.  B.  das  von  jenem 
Elemente  ausgehende  Licht  sich  innerhalb  der  von  ihm  bestrahlten  Gruppe 
von  Zapfen  um  den  mittleren  stärkst  bestrahlten  verteilt,  so  müssen  wir 
uns  mit  einer  schematischen  Erwägung  der  Frage  begnügen,  in  welcher 
Weise  trotz  der  ungenauen  Abbildung  der  Außendinge  die  scharfen  Umrisse 
der  Sehdinge  zu  stände  kommen  können. 

Denken  wir  uns  mit  Helmholtz  für  jeden  Punkt  der  von  der  Außen- 
welt bestrahlten  Netzhautfläche  die  Stärke  des  ihn  treffenden  Lichtes  durch 
eine,  dieser  Stärke  proportionale  Ordinate  ausgedrückt,  so  wird  durch  die 
Gesamtheit  dieser  Ordinaten  eine  Fläche  bestimmt,  welche  wir  mit  E.  Mach 
als    die    Lichtintensitätsfläche    oder    Lichtfläche     des    Netzhautbildes 


256  Lehre  vom  Lichtsinn. 

bezeichnen  können.  Ein  gleichmäßig  lichtstarkes  ebenes  Außenfeld,  welches 
durch  eine  scharfe  Grenze  von  einem  ganz  finsteren  Felde  geschieden  wäre, 
würde  bei  streng  stigmatischer  Vereinigung  der  von  einem  Punkte  des 
ersteren  Feldes  kommenden  Lichtes  auf  der  als  Ebene  gedachten  Empfangs- 
fläche eine  zu  derselben  parallele  Lichtfläche  geben,  deren  Durchschnitt  in 
Fig.  32  durch  die  Gerade  ahc  dargestellt  sei.  Wenn  aber  in  Wirklichkeit 
jedem  kleinsten  Elemente  des  Außenfeldes  ein  kleiner  Lichthügel  mit  relativ 
breiter  Basis  entspricht,  so  wird  sich  aus  der  Summation  dieser  elementaren 
Lichthügel  auf  der  Netzhaut  eine  Lichtfläche  ergeben,  deren  Querschnitt 
beispielsweise  der  Kurve  ahdf  entsprechen  möge.  Das  Licht,  welches  theo- 
retisch genommen  die  leere  Ecke  hcd  zu  füllen  hätte,  erfüllt  dann  als 
falsches  Licht  die  Ecke  de  f. 

Ganz  ähnlich  wird  es  sich  verhalten,  wenn  ein  lichtstärkeres  Außen- 
feld an  ein  zwar  nicht  lichtloses,  aber  lichtschwächeres  grenzt.  Statt  dass 
im  Punkte  c   die   höhere   Lichtfläche  ahc  des  Netzhautbildes  senkrecht   zu 

Fig.  32. 


der  niederen  efg  abfällt,  sinkt  sie  entsprechend  der  Kurve  hdf  nur  all- 
mählich zu  derselben  hinab.  Doch  sei  ausdrücklich  betont,  dass  diese 
willkürlich  entworfene  Kurve  höchstens  insofern  der  Wirklichkeit  ent- 
sprechen könnte,  als  sie  anfangs  langsam,  dann  schneller  und  schließlich 
wieder  langsamer  absinkt. 

Erinnern  wir  uns  jetzt  des  in  §  32  über  den  simultanen  Grenzkontrast 
Mitgeteilten,  wobei  es  sich  ebenfalls  um  je  zwei  aneinander  grenzende 
Flächen  verschiedener  Lichtstärke  handelte,  aber  die  lokale  Abirrung  des 
Lichtes  noch  nicht  berücksichtigt  zu  werden  brauchte.  Wir  sahen  dort, 
dass  die  lichtstärkere  Fläche  nach  der  Grenze  hin  wegen  des  hier  besonders 
starken  Kontrastes  eine  ansteigende,  die  lichtschwächere  eine  absinkende 
HeUigkeit  zeigen  kann.  Obgleich  sich  dies  hauptsächlich  als  eine  Folge  des 
Nachkontrastes  erwies,  so  fand  es  sich  doch  zuweilen  unter  besonders 
günstigen  Umständen  auch  bei  Ausschluss  jeder  Blickbewegung  und  daher 
als  eine  alleinige  Folge  der  Wechselwirkung.  Wenn  aber  im  Netzhaut- 
bilde,  wie   soeben   auseinandergesetzt   wurde,   infolge   lokaler  Abirrung  die 


I 


§  36.    Die  Entstehung  scharfer  Umrisse  durch  Wechselwirkung.  157 

Lichtstärke  der  lichtstärkeren  Fläche  in  Wirklichkeit  nach  der  Grenzlinie 
hin  abnimmt  und  die  der  lichtschwächeren  Fläche  zunimmt,  so  müsste 
auch  im  Sehfelde  die  erstere  Fläche  eine  nach  der  Grenze  hin  abnehmende 
und  die  andere  Fläche  eine  zunehmende  Helligkeit  zeigen,  falls  dies  nicht  durch 
die  Wechselwirkung  der  beiden  Grenzbezirke  vereitelt  würde.  Da  diese  auf 
die  Helligkeiten  entgegengesetzt  wirkt,  als  wie  die  lokale  Abirrung  des 
Lichtes,  so  werden  durch  sie  die  Folgen  der  letzteren  mehr  oder  weniger 
kompensiert.  Könnte  dies  zureichend  genau  der  Fall  sein,  so  würden  uns  die 
beiden  Flächen  in  der  Nähe  ihrer  Grenze  etwa  ebenso  erscheinen,  wie  es  der 
Fall  sein  müsste,  wenn  es  weder  eine  Abirrung  des  Lichtes  noch  eine  Wechsel- 
wirkung, der  Sehfeldstellen  gebe.  Das  der  Ecke  hcd  (Fig.  32)  entsprechende 
Defizit  an  Licht  im  Netzhautbilde  würde  im  Sehfelde  durch  einen  ent- 
sprechenden Zuwuchs  an  Helligkeit,  der  der  Ecke  def  entsprechende  falsche 
Lichtzuwuchs  durch  einen  negativen  Helligkeitszuwuchs  oder  einen  Dunkel- 
heitszuwuchs  kompensiert.  Übersteigt  jedoch  der  Einfluss  der  Wechsel- 
wirkung das  Ausmaß  der  Abirrung  des  Lichtes,  so  ergiebt  sich  die  in  §  32 
beschriebene  Erscheinung  eines  simultanen  Grenzkontrastes,  d.  h.  eine  nach 
der  Grenzlinie  hin  zunehmende  Helligkeit  des  lichtstärkeren  und  eine  ab- 
nehmende des  lichtschwächeren  Feldes.  Wenn  dagegen  infolge  zu  schwacher 
Beleuchtung  und  entsprechend  geringer  Größe  der  absoluten  Lichtstärken 
das  Ausmaß  der  Wechselwirkung  zur  beiläufigen  Kompensation  unzu- 
reichend wird  (vgl.  den  VH.  Abschnitt),  so  treten  die  Folgen  der  Abirrung 
des  Lichtes  mehr  und  mehr  hervor  und  es  zeigt  sich  eine  nach  der  Grenz- 
linie hin  abnehmende  Helligkeit  der  lichtstärkeren  und  eine  zunehmende  der 
lichtschwächeren  Fläche;  die  beiden  Helligkeiten  gehen  sehr  allmählich  in- 
einander über,  und  ihre  Grenze  ist  also  verwaschen,  wie  sich  dies  auch 
bei  unserem  Versuche  an  dem  Schachbrettmuster  zeigte. 

Für  die  allgemein  verbreitete  Ansicht,  dass  die  scharfen  Umrisse  der  Seh- 
dinge der  Schärfe  des  Netzhautbildes  zu  danken  sind,  wird  man  vielleicht  auch 
die  Autorität  von  Helmholtz  anführen  wollen.  Allerdings  sagt  derselbe  (I,  S.  2<5; 
II,  S.  2  55):  »Es  können  lichte  Punkte  wahrgenommen  werden,  deren  Netzhaut- 
bild sehr  viel  kleiner  ist,  als  ein  empfindendes  Netzhautelement«  und  beruft 
sich  dabei  auf  die  Fixsterne.  Wollte  man  diese  Bemerkung  wörtlich  nehmen, 
so  stände  sie  in  auffallendem  Widerspruche  damit,  dass  Helmholtz  selbst  die 
Größe  des  Zerstreuungskreises  zu  berechnen  versucht  hat,  welche  ein  mit  ge- 
mischtem Lichte  leuchtender  Außenpunkt  infolge  der  chromatischen  Aberration 
auf  der  Netzhaut  erzeugt,  wenn  das  Auge  für  die  »grüngelben  Strahlen«  akkom- 
modiert  ist.  Es  ergab  sich  ihm  ein  Durchmesser  des  Zerstreuungskreises  von 
0,0426  mm,  der  also  »fast  zehnmal  größer  ist  als  (nach  damaliger  Annahme) 
die  Dicke  der  Zapfen«  (I,  S.  216;  II,  S.  257).  Das  Netzhautbild  eines  Fix- 
sternes, das  »sehr  viel  kleiner«  sein  sollte  als  der  Durchschnitt  eines  Zapfens, 
war  also  nur  eine  theoretische  Fiktion.  Richtig  aber  bleibt  trotzdem,  dass 
Helmholtz  die  Genauigkeit  des  Netzhautbildes  sehr  überschätzte.  Dass  von 
einem    monochromatisch    leuchtenden    Flächenelemente,     dessen    Gesichtswinkel 


158 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


gleich  dem  eines  Zapfen  quer  Schnittes  ist,  bei  vollkommener  Akkommodation  ein 
einziger  Zapfen  ausschließlich  beleuchtet  werden  könne,  hat  er  offenbar  für  mög- 
lich gehalten.  Dass  dies  aber  in  Wirklichkeit  nicht  der  Fall  ist,  geht  daraus  hervor, 
dass  man  das  Undeuthchwerden  der  Konturen  bei  Herabsetzung  der  Beleuchtung 
in  der  oben  beschriebenen  Weise  auch  dann  wahrnimmt,  wenn  man  durch 
Farbenfilter  blickt,  welche  ein  angenähert  monochromatisches  Licht  durchlassen. 
Das  Gesichtsfeld  muss  dabei  anfangs  intensiv  beleuchtet  sein,  entweder  durch 
die  unverhüllte  Sonne  oder  ein  sehr  starkes  künstliches  Licht.  Die  chromatische 
Aberration  macht  also  das  Netzhautbild  nicht  viel  verwaschener,  als  es  schon 
bei  monochromatischer  Beleuchtung  ist. 

Nach  der  Berechnung  von  Helmholtz  würde  infolge  der  chromatischen 
Aberration  die  Lichtfläche  des  Netzhautbildes  einer  gleichmäßig  hchtstarken 
Außenfläche  an  ihrem  Rande  den  in  Fig.  3  3  durch  die  Kurve  afg  wieder- 
gegebenen Querschnitt  haben  (i,  S.  <35;  2,  S.  167).  Er  geht  dabei  von  der 
Voraussetzung  aus ,  dass  alle  Strahlen  gleicher  W^ellenlänge  eines  Außenpunktes 
sich  im  Auge  wieder  in  einem  Punkte  vereinigen,  und  zwar  die  Strahlen  mitt- 
lerer Wellenlänge  auf  der  für  die  Wahrnehmung  des  Lichtes  wesentlichen  Fläche 

der    Netzhaut,    die    ich    oben    als 
Fig.  33.  Empfangsfläche    bezeichnete,     die 

Strahlen  ivleinerer  Wellenlänge  vor, 
diejenigen  größerer  Wellenlänge 
hinter  dieser  Fläche,  so  dass  sie 
auf  dieser  Zerstreuungskreise  bil- 
den. Die  Kurve  afg  hat  die  Eigen- 
tümlichkeit, »dass  sie  in  ihrer  Mitte 
bei  /",  entsprechend  dem  wirklichen 
Orte  des  Randes ,  ganz  steil  ab- 
fällt«. »Dieser  plötzliche  Abfall  der 
Helligkeit^)  am  Rande  der  Fläche 
macht«  nach  Helmholtz  »für  das 
Auge  die  Lage  des  Randes  scharf 
erkennbar,  wenn  auch  eine  gewisse  Menge  Licht  sich  noch  weiter  verbreitet.« 
Hierzu  bemerkte  schon  E.  Mach,  dass  er  nach  seinen  Erfahrungen  über  Kontrast- 
wirkungen »auch  noch  den  Übergang  (der  Lichtflächej  von  konkav  zu  konvex  und 
den  Wendepunkt  bei  f  für  sehr  wesentlich  halte«  (vgl.  §  32,  S.  140).  Damit 
hat  er  zuerst  darauf  hingewiesen,  dass  die  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen 
einen  wesentlichen  Anteil  an  der  Bildung  der  Umrisse  der  Sehdinge  hat.  Er 
lässt  dabei  freilich  die  von  Helmholtz  angenommene  stigmatische  Vereinigung 
der  von  einem  Außenpunkte  kommenden  Strahlen  gleicher  Wellenlänge  gelten,  so 
dass  für  das  Sehen  bei  monochromatischer  Beleuchtung  diese  Wechselwirkung 
betreffs  der  Konturenbildung  keine  wesentliche  Rolle  mehr  spielen,  sondern  nur 
die  S.  136  beschriebene  Erscheinung  eines  Grenzkontrastes  bewirken  könnte.  Ich 
glaube  im  Obigen  gezeigt  zu  haben,  dass  dem  Gedanken  Mach's  eine  viel  um- 
fassendere Bedeutung  zukommt. 

Nach  der  Darstellung  von  Helmholtz  würde  von  der  theoretisch  gefor- 
derten, senkrecht  abfallenden  Seitenwand  de  der  Lichtfläche  trotz  der  chroma- 
tischen Aberration  doch  noch  der  mittlere  Teil  (bei  f)  erhalten  und  als  scharfe 
Grenze    sichtbar   sein,    und  nach  Mach   hätte  dann  der  Kontrast  nur  noch  die 


\)  Unter  Helligkeit  versteht  Helmholtz  hier  die  Lichtstärke. 


§  37.    Das  Gesetz  der  Induktion  im  somatischen  Sehfelde.  159 

Abstumpfung  der  beiden  Kanten  zu  korrigieren.  Nach  meiner  Auffassung  aber 
wird  der  Ort  der  im  Abirrungsgebiet  erscheinenden  Grenze  durch  die  Wechsel- 
wirkung mitbestimmt.  Daher  dieser  Ort  nicht  notwendig  mit  dem  theoretischen 
Orte  der  Grenzlinie  zusammenfällt,  sondern  je  nach  den  Umständen  bald  nach 
der  einen,  bald  nach  der  anderen  Seite  davon  abweicht,  und  bald  die  licht- 
stärkere, bald  die  lichtschwächere  Fläche  auf  Kosten  der  anderen  vergrößert 
erscheint. 


TU.  Abschnitt. 

Zur  Theorie  der  Wechselwirkung  im  somatischen  Sehfelde. 

§  37.  Das  Gesetz  der  Induktion.  Wenn  die  Helligkeit  bezw. 
Dunkelheit  einer  tonfreien  Farbe  des  psychischen  Sehfeldes  von  dem  Ver- 
hältnisse zwischen  der  an  korrelativer  Stelle  der  Sehsubstanz  bestehenden 
Dissimilation  und  Assimilation  abhängt,  so  kann  ein  Hellerwerden  der  Farbe 
ebensowohl  durch  Steigerung  der  Dissimilation  bei  gleichbleibender  Assimi- 
lation, als  durch  Minderung  der  letzteren  bei  unveränderter  Dissimilation, 
als  endlich  auch  durch  eine  passende  gleichzeitige  Änderung  beider  Kom- 
ponenten des  Stoffwechsels  bedingt  sein.  Analoges  gilt  mutatis  mutandis 
für  ein  Dunklerwerden  der  Farbe.  Schon  deshalb  wäre  die  Verdunkelung 
oder  Erhellung  einer  Sehfeldstelle  durch  Nebenkontrast  in  sehr  verschiedener 
Weise  denkbar,  wenn  man  die  Kontrasterscheinungen  ohne  gleichzeitige 
Berücksichtigung  der  übrigen  Leistungen  des  Lichtsinnes  betrachten  wollte. 
Je  mehr  man  aber  auch  diese,  die  mit  der  Beleuchtungsstärke  des  Gesichts- 
feldes wachsende  Deutlichkeit  und  Eindringlichkeit  des  Sehfeldinhaltes,  die 
Simultananpassung,  die  Nachbilderscheinungen  u.  s.  w.  mit  in  Betracht  zieht, 
desto  mehr  engt  sich  der  Kreis  der  hier  von  vornherein  denkbaren  An- 
nahmen ein.  Es  würde  viel  Raum  erfordern,  wenn  ich  alle  von  mir  auf 
ihre  Brauchbarkeit  durchprüften  Hypothesen  mitteilen  bezw.  ihre  Zurück- 
weisung begründen  wollte.  Ich  muss  mich  begnügen,  eine  Hypothese  zu 
erörtern,  welche  das  Wesentliche  der  hierher  gehörigen  Erscheinungen  kurz 
zusammenzufassen,  die  einzelne  Erscheinung  daraus  abzuleiten  und  das 
ganze  Gebiet  auch  rechnerisch  zu  behandeln  gestattet. 

Diese  Hypothese  geht  davon  aus,  dass  der  Stoffwechsel  jedes  Einzel- 
teiles oder  Elementes  der  Sehsubstanz  auch  den  Stoffwechsel  seiner  Um- 
gebung mit  beeinflusst,  indem  die  Änderung  des  ersteren  eine  gegensinnige 
Änderung  des  letzteren  herbeiführt;  dass  demgemäß  auch  umgekehrt  der 
Stoffwechsel  jedes  Elementes  mitbestimmt  wird  durch  den  jeweiligen  Stoff- 
wechsel seiner  Umgebung.  Unter  Umgebung  eines  Elementes  ist  hier  das 
übrige  Sehfeld  insoweit  zu  verstehen,  als  sich  in  demselben  die  mit  der 
Entfernung  abnehmende  Wirkung  des  Elementes  noch  merklich  erstreckt, 
kurz    der   ganze    Wirkungskreis    des    letzteren.      Jedes    innerhalb    dieses 


IQQ  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Gebietes   liegende   Element   vermag   umgekehrt   auch   auf  das  erstgenannte 
Element  zu  wirken. 

Das  Maßgebende  für  die  Wirkung  eines  Elementes  der  Seh- 
substanz auf  die  Umgebung  ist  die  Grüße  des  Unterschiedes 
zwischen  seiner  gleichzeitigen  Dissimilation  und  Assimilation. 
Jedes  Element,  dessen  Dissimilation  größer  ist  als  seine  Assimilation  {D^Ä)^ 
induziert  in  seiner  Umgebung  einen  Zuwuchs  zu  derjenigen  Assimilation, 
welche  ohnedies  hier  stattfinden  würde;  jedes  Element,  dessen  Assimilation 
grüßer  ist  als  seine  gleichzeitige  Dissimilation  {D<CÄ)^  induziert  in  der  Um- 
gebung einen  Zuwuchs  zu  der  daselbst  anderweitig  bedingten  Dissimilation. 
Hiermit  soll  zugleich  ausgesprochen  sein,  dass  ein  Element  der  Sehsubstanz, 
in  welchem  Dissimilation  und  Assimilation  gleichgroß  sind,  und  also  die 
Sehsubstanz  unverändert  verharrt,  auch  keinerlei  Wirkung  auf  den  Stoff- 
wechsel der  Umgebung  hat. 

Die  induzierte  Wirkung  ist  in  unmittelbarer  Nähe  des  induzierenden 
Elementes,  also  in  den  nächsten  Nachbarelementen  am  stärksten,  nimmt  mit 
dem  Abstände  vom  ersteren  nach  einem  nicht  näher  bekannten  Gesetze 
rasch  ab,  erstreckt  sich  aber  vielleicht,  wenn  auch  nicht  sicher  nachweis- 
bar, bis  an  die  Grenzen  des  Sehfeldes. 

Aus  dem  Gesagten  folgt,  dass  die  Farbe  des  psychischen  Sehfeldes  in 
der  Nähe  einer  Farbe  von  übermittler  Helligkeit  {W^  S)  schwärzlicher 
(minder  hell  bezw.  dunkler),  in  der  Nähe  einer  Farbe  von  untermittler 
Helligkeit  (W<^S)  aber  weißhcher  (heller  bezw.  minder  dunkel)  ist,  als 
ohne  die  erwähnte  Induktion  der  Fall  sein  würde,  während  die  Farbe  von 
genau  mittler  Helligkeit  [W=S)j  das  mittle  Grau,  ohne  Einfluss  auf  die 
Farbe  der  Umgebung  ist. 

Der  D-  oder  A-Überschuss  ist,  wie  im  §  24  besprochen  wurde,  trotz 
gleicher  Qualität  [D :  Ä)  der  Farbe  bei  verschiedenem  Gewichte  (D  -f-  Ä) 
derselben  verschieden  groß.  Hieraus  folgt,  dass  die  Stärke  der  Induktion 
nicht  lediglich  durch  die  Helligkeit  oder  Dunkelheit  der  induzierenden  Farbe, 
sondern  auch  durch  das  Gewicht  derselben  mit  bestimmt  wird.  Bei  glei- 
chem Gewichte  wirkt  allerdings  eine  Farbe  um  so  stärker  induzierend  auf 
ihre  Umgebung,  je  näher  auf  der  ideellen  Farbenlinie  ihre  Helligkeit  dem 
absoluten  Weiß,  bezw.  ihre  Dunkelheit  dem  absoluten  Schwarz  liegt;  bei 
gleicher  Qualität  (Helligkeit  bezw.  Dunkelheit)  der  Farbe  aber  wächst  die 
Stärke  der  Induktion  direkt  proportional  mit  dem  Gewichte  der  Farbe. 

Nach  der  üblichen  Auffassung  künnte  von  einer  Kontrastwirkung  nur 
zwischen  zwei  nach  Helligkeit  oder  Dunkelheit  verschiedenen  Farben  die 
Rede  sein.  Dementsprechend  suchte  Helmholtz  die  hierher  gehürigen  Er- 
scheinungen zu  einem  großen  Teile  daraus  zu  erklären,  dass  »wir  geneigt 
sind,  diejenigen  Unterschiede,  welche  in  der  Anschauung  deutlich  und  sicher 
wahrzunehmen  sind,  für  grüßer  zu  halten  als  solche,   welche  entweder  in 


§  37.    Das  Gesetz  der  Induktion  im  somatischen  Sehfelde.  Ißl 

der  Anschauung  nur  unsicher  heraustreten  oder  mit  Hilfe  der  Erinnerung 
beurteilt  werden  müssen«  (1,  S.  392  und  2,  S.  543).  Aber  schon  im  §  28 
haben  uns  die  Thatsachen  zu  dem  Schlüsse  geführt,  dass  auch  gleichhelle 
tonfreie  Farben  sich  gegenseitig  beeinflussen  können,  weshalb  es  passender 
erschien,  statt  von  Kontrast  zwischen  zwei  Farben,  von  einer  Wechsel- 
wirkung derselben  zu  sprechen.  Die  soeben  gemachte  und  im  folgenden 
noch  weiter  zu  begründende  Annahme,  dass  nicht  nur  die  Helligkeit  der 
tonfreien  Farben,  sondern  auch  ihr  Gewicht,  welches  doch  auf  die  Hellig- 
keit derselben  keinen  Einfluss  hat,  den  sogenannten  Helligkeitskontrast 
mit  bestimmen  kann,  nötigt  uns  vollends,  den  Begriff  der  Kontrastwirkung 
hier  viel  weiter  zu  fassen,  als  dies  üblicherweise  geschieht.  Demgemäß 
spreche  ich  unter  Benutzung  einer  schon  von  Brücke  angewandten  Be- 
zeichnung von  einer  Induktion   statt  von   einem   simultanen   Kontraste^:. 

Da  jeder  negative  Zuwuchs,  den  die  Dissimilation  eines  Elementes 
durch  Induktion  seitens  seiner  Umgebung  erfährt,  mit  einem  gleichzeitigen 
positiven  Zuwuchs  zur  Assimilation  verbunden  ist,  so  wirkt  hier  die  In- 
duktion auf  doppelte  Weise  verdunkelnd,  kurz  gesagt  als  eine  Dunkel- 
induktion.  Erhält  dagegen  die  Dissimilation  des  Elementes  durch  Induk- 
tion einen  positiven  Zuwuchs,  womit  sich  stets  ein  negativer  Zuwuchs  zur 
Assimilation  verbindet,  so  bedingt  dies  auf  doppelte  Weise  eine  Erhellung 
der  Farbe  und  es  besteht  dann  eine  Hellinduktion. 

Der  induzierte  negative  Zuwuchs  zur  Dissimilation  ist  nach  meiner 
Annahme  unter  normalen  Verhältnissen  gleich  groß  wie  der  gleichzeitige 
positive  Zuwuchs  zur  Assimilation,  und  ebenso  ist  der  positive  D-Zuwuchs 
gleich  dem  negativen  ^4-Zuwuchs.  Dabei  ist  also  vorausgesetzt,  dass  alle 
übrigen  Bedingungen  eines  normalen  Verlaufes  der  Dissimilation  und  iVssi- 
milation  erfüllt  sind  (vgl.  §  24  S.  110 — 111). 

Jeden  durch  Induktion  bedingten  negativen  oder  positiven  Zuwuchs 
zur  Dissimilation  oder  Assimilation  will  ich  im  folgenden  als  ein  Indukt 
bezeichnen. 

Das  in  einem  Elemente  p  der  Sehsubstanz  eben  bestehende  Indukt  ist 
das  summarische  Ergebnis  der  unzählbaren  gleichzeitigen  Wechselwirkungen, 
die  zwischen  diesem  Elemente  einerseits  und  sämtHchen  Elementen  seiner 
Umsebuns:  andererseits  stattfinden.    Je  nachdem  in  einem  der  letzteren  ein 


\)  In  den  Zeilen  6—10  der  vorigen  Seite  (bzw.  der  letzten  Seite  der  II.  Lie- 
ferung dieser  Grundzüge)  fehlen  die  im  folgenden  berichtigten  Texte  gesperrt 
gedruckten  Worte:  »Jedes  Element,  dessen  Dissimilation  größer  ist  als  seine 
Assimilation  (Z)>J.),  induziert  in  seiner  Umgebung  einen  positiven  Zuwuchs 
zu  derjenigen  Assimilation  und  einen  negativen  zu  derjen  igen  Dissimila- 
tion, welche  ohnedies  hier  stattfinden  würde ;  jedes  Element,  dessen  Assimilation 
größer  ist  als  seine  gleichzeitige  Dissimilation  (Z)<J.),  induziert  in  der  Umgebung 
einen  positiven  Zuwuchs  zu  der  daselbst  anderweit  bedingten  Dissimilation 
und  einen  negativen   zur  Assimilation.« 

Hering,  Lichtsinn.  W 


162  Lehre  vom  Lichtsinn. 

I^-Überschuss  {D^A)  oder  ein  ^-Überschuss  (D<^Ä)  besteht,  ist  das 
durch  die  Wechselwirkung  zwischen  ihm  und  dem  Elemente  e  in  letzterem 
erzeugte  Einzelindukt  ein  Dunkel-  oder  ein  Hellindukt.  Da  in  der  Umge- 
bung eines  Elementes  hell-  und  dunkelinduzierende  Elemente  gleichzeitig  vor- 
handen sein  können,  die  in  entgegengesetztem  Sinne  auf  den  Stoffwechsel 
des  Elementes  induzierend  wirken  und  sich  deshalb  mehr  oder  weniger 
in  ihrer  Wirkung  aufheben,  so  hat  man  sich  das  aus  allen  diesen  Einzel- 
indukten  erwachsende  Gesamtindukt  als  die  algebraische  Summe 
sämtlicher  Einzelindukte  zu  denken.  Dasselbe  möge  mit  J bezeichnet 
werden. 

Jedes  Indukt,  welches  einen  negativen  Zuwuchs  zur  Dissimilation  oder  zur 
Assimilation  bedingt,  lässt  sich  als  etwas  die  Dissimilation  bzw.  Assimilation 
minderndes,  jedes  einen  positiven  Zuwuchs  bedingende  Indukt  als  etwas  den 
bezüglichen  Teilprozess  des  Stoffwechsels  förderndes  auffassen.  Steht  einer  dieser 
beiden  Prozesse  eines  Elementes  gleichzeitig  unter  einem  solchen  mindernden  und 
einem  fördernden  Einflüsse,  so  heben  sich  die  letzteren  teilweise  oder  im  beson- 
deren Falle  ganz  auf.  Für  die  Rechnung  verhalten  sie  sich  daher  wie  negative 
und  positive  Größen,  und  ihre  algebraische  Summe  ergiebt  den  tatsächlichen 
Wert  des  für  das  fragliche  Element  geltenden  Gesamtinduktes  /.  Ehe  aber 
dieses  Gesamtindukt  rechnerisch  verwertet  werden  kann,  ist  es  nötig,  die  Wechsel- 
wirkung zwischen  nur  zwei,  vom  ganzen  übrigen  Sehfelde  unabhängig  gedachten 
Elementen  der  Sehsubstanz  theoretisch  zu  erörtern,  was  im  nächsten  Paragraphen 
geschehen  soll. 

Jeder  in  einem  Elemente  der  Sehsubstanz  bestehende  D-Überschuss 
bedingt  eine  absteigende  Änderung  der  Wertigkeit  des  Elementes  (vgl.  §  23 
S.  1 04).  Daher  besagt  das  oben  ausgesprochene  Gesetz  der  Induktion  zu- 
gleich, dass  jede  absteigende  Änderung  eines  Elementes  einer  in  seiner  Um- 
gebung anderweit  bedingten  absteigenden  Änderung  entgegenwirkt  und 
dieselbe  entweder  nur  verlangsamt  oder  zum  Stillstand  bringt  oder  dieselbe 
sogar  in  eine  aufsteigende  verwandelt,  eine  in  der  Umgebung  schon  be- 
stehende aufsteigende  Änderung  aber  beschleunigt,  bezw.  eine  solche  hervor- 
ruft, wenn  an  und  für  sich  Gleichgewicht  zwischen  Dissimilation  und 
Assimilation  bestehen  würde.  Das  Analoge  gilt  mutatis  mutandis  für  ein 
induzierendes  Element,  in  welchem  ein  ^-Überschuss  und  also  eine  auf- 
steigende Änderung  stattfindet. 

Man  könnte  das  Grau,  welches  dem  Gleichgewichte  zwischen  Dissi- 
milation und  Assimilation  entspricht  als  die  tonfreie  Mittelfarbe,  jede  hellere 
Farbe  als  eine  helle  im  engeren  Sinne,  jede  dunklere  F'^arbe  als  eine  dunkle 
im  engeren  Sinne  bezeichnen.  Die  eine  Hälfte  der  tonfreien  Farbenreihe 
würde  hiernach  sämtliche  »helle«,  die  andere  Hälfte  sämtliche  »dunkle« 
Farben  enthalten.  Jeder  absteigenden  Änderung  einer  Stelle  des  Sehsubstanz- 
feldes entspräche  also  an  der  korrelativen  Stelle  des  psychischen  Sehfeldes 
eine  »helle«,  jeder  aufsteigenden  Änderung  eine  »dunkle«  Farbe  der  ton- 
freien Farbenreihe.    Demnach  verwandelt  die  Hellinduktion  eine  helle  Farbe 


§  38.    Gegenseitige  Induktion  zweier  Elemente  der  Sehsubstanz.  163 

in  eine  minderhelle  oder  in  die  Mittelfarbe  oder  sogar  in  eine  dunkle,  und 
von  der  Dunkelinduktion  gilt  das  Gegenteil. 

Wie  es  möglich  wird,  dass  der  Stoffwechsel  einer  Stelle  des  somatischen 
Sehfeldes  je  nach  seiner  Art  und  Größe  mitbestimmend  wirkt  auf  Art  und  Größe 
des  Stoffwechsels  der  Umgebung,  wissen  wir  nicht.  Als  ein  anatomisches 
Substrat  für  die  Bahnen  solcher  Wirkung  bietet  sich  uns  sowohl  im  Gehirn  als 
in  der  Netzhaut  der  histologische  Zusammenhang  ihrer  Nervenelemente  dar.  Auf 
einen  solchen  hat  bereits  im  Jahre  18  65  E.  Mach  hingewiesen,  als  er  sich 
auf  Grund  seiner  Kontrastversuche  der  Annahme  einer  Wechselwirkung  der 
Netzhautstellen  anschloss  (13,  I.   S.  3  1 7). 

Vorerst  handelt  es  sich  aber  noch  nicht  darum,  diese  Wechselwirkung  selbst 
zu  erklären,  sondern  darum,  aus  der  Annahme  einer  solchen  die  Thatsachen  zu 
erklären.  Es  war  also  zunächst  das  Gesetz  zu  suchen,  nach  welchem  die  so- 
matischen Sehfeldstellen  sich  gegenseitig  in  ihrem  Lebensprozesse  als  dem 
physischen  Korrelate  der  Farben  beeinflussen.  Der  besonders  von  Helmholtz 
gemachte  Versuch,  die  hierher  gehörigen  Thatsachen  ohne  Rücksicht  auf  das 
somatische  Geschehen  unter  ein  brauchbares  Gesetz  zu  bringen,  ist  gescheitert. 

§  38.  Die  gegenseitige  Induktion  zweier  Elemente  der  Seh- 
substanz. Nach  unserer  Annahme  ist  der  gegenseitige  Abstand  zweier 
Empfangselemente  der  Netzhaut  maßgebend  für  die  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit der  denselben  zugeordneten  Elemente  der  Sehsubstanz,  derart 
dass  mit  jenem  Abstände  diese  Abhängigkeit  nach  einem  uns  unbekannten 
Gesetze  abnimmt.  Jedem  räumlichen  Abstände  zweier  Empfangselemente 
der  Netzhaut  entspricht  sozusagen  ein  bestimmter  funktioneller  Abstand 
der  zugeordneten  Elemente  der  Sehsubstanz. 

Wir  wollen  uns  zunächst  zwei  Elemente  e  und  e  von  gleichem  Gehalt 
an  Sehsubstanz  denken,  die  zwar  untereinander  in  Wechselwirkung  ständen, 
aber  von  dem  Geschehen  in  allen  übrigen  Elementen  des  Sehsubstanzfeldes 
ganz  unabhängig  wären,  und  wollen  die  jeweilige  Größe  ihrer  Dissimilation 
mit  D  und  2>,  die  der  Assimilation  mit  Ä  und  A  bezeichnen.  Der  durch 
D — A  ausgedrückte  Oberschuss  oder  Unterschied  im  Elemente  e  induziert 
in  e  das  Indukt  i,  der  Überschuss  oder  Unterschied  D — A  im  Elemente  e 
induziert  in  e  das  Indukt  i. 

Die  tonfreie  Dissimilation  und  Assimilation  finden  gleichzeitig  in  der- 
selben Substanz  statt  und  sind  also  nicht  derart  gegensätzhch,  dass  das 
Bestehen  der  einen  das  gleichzeitige  Bestehen  der  anderen  ausschlösse. 
Wohl  aber  schließt  selbstverständlich  ein  eben  bestehender  D-Überschuss 
einen  gleichzeitigen  J.-Überschuss  aus  und  umgekehrt.  Dementsprechend 
kann  man  zwar  zu  rechnerischem  Zwecke  einen  D-Überschuss  als 
einen  positiven,  einen  JL-Überschuss  als  einen  negativen  Über- 
schuss oder  Unterschiedswert  bezeichnen  und  auf  diese  Weise 
Gleichungen  entwickeln,  welche  für  Dunkel-  und  Hellinduktion  zugleich 
gelten,  nicht  aber  darf  man  die  Assimilation  selbst  als  eine  ne- 
gative  Dissimilation   in   die   Rechnung   einführen. 

41* 


164  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Die  Grüße  des  Induktes  i  oder  i  ist  nach  meiner  Annahme 
unter  normalen  Umständen  der  des  induzierenden  Überschusses 
(Unterschiedes)  direkt  proportional  und  beträgt  einen,  je  nach  dem 
gegenseitigen  Abstände  der  beiden  Elemente  verschiedenen,  äußerst  kleinen 
Bruchteil  des  induzierenden  Oberschusses.  Dieser  bei  gegebenem  Abstände 
konstante  Bruchteil  möge  als  der  für  den  funktionellen  Abstand  der  beiden 
Elemente  gültige  Induktionskoeffizient  mit /^  bezeichnet  werden.  Dem- 
entsprechend ist 

im  Elemente  e:  im  Elemente  e: 

i  =  k(jy  —  A)  i  =  k(D-A]    (1) 

Die  Dissimilation  und  Assimilation  eines  Elementes  würde,  wenn  es 
keine  Induktion  gäbe,  nur  durch  seine  Wertigkeit  und  den  jeweiligen  7>-Reiz 
bestimmt  sein,  wie  dies  in  §  23  dargelegt  wurde.  Es  wurde  dort  die 
lediglich  von  der  Wertigkeit  abhängige  autonome  Dissimilation  eines 
Sehsubstanzelementes  mit  ^,  seine  autonome  Assimilation  mit  a  bezeichnet. 
Die  autonome  Dissimilation  drückte  zugleich  die  jeweilige  7) -Erregbarkeit 
des  Elementes  gegenüber  einem  D-Reize  aus,  und  es  ließ  sich  deshalb  der 
Zuwuchs,  den  die  autonome  Dissimilation  durch  den  Reiz  r  erhält,  gleich 
ör  setzen  i).  Wären  also  die  beiden  Elemente  e  und  e  in  ihrem  Stoffwechsel 
voneinander  unabhängig,  so  würden  für  ihre  Dissimilation  und  Assimilation 
folgende  Gleichungen  gelten: 

I)=.Ö-i-  dr  1>  =  d'  -f  (fr 

Ä=  a  A  =  a 

Infolge  der  gegenseitigen  Induktion  ändern  sich  diese  Werte  der 
Dissimilation  und  Assimilation,  und  wir  müssen  die  Indukte  i  und  i  mit  in 
Rechnung  bringen.     Demnach  ist 

Dc=ö-\-dr  —  i  j)=(f-{-ör  —  i] 

A  =  a  -\-i  A  =  ci  -\-  i  J   ^  ' 

D  —  Ä=  d  ~  a  -i-  ör  —  'Z  i  D~A=ö  —  a-i-  ör  —  2  i 

Aus  diesen  Gleichungen  und  den  oben  angeführten  Gleichungen  (1) 

i  =  k  (D  ~A)  i  =  k{D  —  Ä) 

lässt  sich  der  Wert  von  i  bezw.  /  ableiten,  dem  ich  im  Hinblick  auf  Spä- 
teres folgenden  Ausdruck  geben  will: 
k 


-  4^2"  [(^  -  «  -  2  Mc5  -  «)]  +  4-^^-,  {ör  -  2  k  ör) 

L-4^2-[(^"-«-2M^-«)]+|_^^,,(c5r~2/.d>) 


(3; 


Innerhalb    der    Grenzen  der   normalen   Stoffwechselbedingungen    lässt    sich, 
wie  in  §   2  3  besprochen  wurde^    die  Summe  der   autonomen  Dissimilation    und 


\)  J"  ist  hier  nicht  als  Variationszeichen,  sondern  als  Faktor  anzusehen. 


§  'iS.   Gegenseitige  Induktion  zweier  Elemente  der  Sehsubstanz.  165 

Assimilation  eines  Sehsubstanzelementes  als  eine  Konstante  betrachten,  die  ich 
behufs  bequemer  Darstellung  gleich  2  setzte.  Hiernach  ist  die  jeweilige  Wertig- 
keit der  Sehsubstanz  schon  durch  den  Wert  von  ö  oder  «  allein  gekennzeichnet, 
und  man  kann  in  obiger  Gleichung  d  —  cc  durch  2  {ö  —  I )  und  ö  —  «  durch 
2  (ö  —  i )  ersetzen.  Diese  sowie  die  anderen  möglichen  Umformungen  der 
Gleichungen  lasse  ich  unberücksichtigt. 

Wären  also  die  Wertigkeiten  und  die  Reize  der  beiden  Elemente  e 
und  e  sowie  der  für  ihren  funktionellen  Abstand  geltende  Induktionskoeffi- 
zient k  gegeben,  so  ließe  sich  aus  obigen  Gleichungen  für  jedes  der  beiden 
Elemente  die  Größe  seines  Induktes  ableiten. 

Auf  Grund  der  Gleichungen  (2) 

würden  sich  dann  auch  die  Grüßen  der  Dissimilation  und  Assimilation  jedes 
Elementes  und  daraus  wieder  (vgl.  §  22  S.  103)  die  tonfreien  Farben  und 
Helligkeiten  der  zugehörigen  Stellen  des  psychischen  Sehfeldes  ergeben. 

Je  nachdem  aus  Gleichung  (3)  für  das  Indukt  i  ein  positiver  oder  nega- 
tiver Wert  folgt,  bestände  für  das  Element  e  eine  Dunkel-  oder  eine  Hellinduk- 
tion.    Ist  nämlich  i  eine  negative  Größe,  so  ergiebt  sich,  dass 

D  =  ö-^dr—[—i) 
.4  =  «  +  (— i) 

und  dass  also  die  Dissimilation  einen  positiven,  die  Assimilation  einen  negativen 
Zuwuchs  durch  die  Induktion  erhält,  woraus  für  die  korrelative  Farbe  ein  Hellig- 
keitszuwuchs  folgt.     Das  Analoge  gilt  für  das  Element  e. 

Wie  die  Gleichung  (3)  lehrt,  setzt  sich  der  Wert  des  Induktes  i  (bezw.  i) 
aus  zwei  Teilen  zusammen,  deren  erster,  im  folgenden  mit  Iq  bezeichneter, 
das  endogene  Teiiindukt  genannt  werden  kann,  weiter,  abgesehen  von 
dem  Induktionskoeffizienten  /j,  nur  von  der,  durch  die  Wertigkeit  bedingten 
Größe  der  autonomen  Dissimilation  und  Assimilation  der  beiden  Elemente 
abhängt.  Wenn  das  Auge  ganz  unbelichtet,  und  also  die  Reize  r  und  r 
gleich  Null  wären,  so  würde  dieses  endogene  Teiiindukt  allein  die  Größe 
des  Induktes  i  bestimmen.     Für  das  unbelichtete  Auge  wären  also 


t  =^  i 


k 


■l  =  tn  = 


\{ö  —  a  —  2k(ö  —  a)\ 


[4) 


und  für  den  Fall,  dass  beide  Elemente  dieselbe  Wertigkeit  hätten,  wäre 

Das  endogene  Indukt  wäre  also  in  beiden  Elementen  gleich  und  proportional 
zum  ünterschiedswerte  ö  —  a. 


-^Qß  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Der  zweite  im  folgenden  mit  *,.  oder  i^  bezeichnete  Teil  von  l  oder  i 
möge  das  exogene  Teilindukt  heißen,  weil  sein  Wert  mit  von  den  beiden 
Reizen  r  und  r  abhängig  ist.  Bei  unveränderten  Wertigkeiten  der  beiden 
Elemente,  aber  geänderten  Reizwerten  ist  also  nur  das  exogene  Teilindukt 
geändert.     Für  dasselbe  gilt  die  Gleichung 

k 

[ör  —  ^  k  ör) 


^         1  —  4  Ä:2 


(5) 


Im  Hinblick  auf  die  weiteren  Erörterungen   sei   noch   hervorgehoben, 
dass  sich  aus  der  letzteren  Gleichung  u.  a.  folgende  Sätze  ergeben: 

l.  Je  größer  der  eigene  D-Reiz  des  einen  Elementes  im  Vergleiche  mit 
dem  D-Reize  des  anderen  ist,  desto  kleiner  ist  sein  eigenes  exogenes 
Indukt  und  desto  größer  das  exogene  Indukt  im   anderen  Elemente. 

n.  Ein  positiver  (bezw.  negativer)  Zuwuchs  zum  D-Reize  des  einen  Ele- 
mentes bedingt  in  diesem  einen  proportionalen  negativen  (bezw. 
positiven)  Zuwuchs  zu  seinem  exogenen  Indukt  und  einen  posi- 
tiven (bezw.  negativen)  Zuwuchs  zum  exogenen  Indukte  des  anderen 
Elementes. 

III.  Wenn  beide  D-Reize  im  gleichen  Verhältnisse  vergrößert  oder  ver- 
kleinert sind,  so  ist  auch  das  exogene  Indukt  in  beiden  Elementen  in 
demselben  Verhältnis  vergrößert  oder  verkleinert. 

IV.  Wenn  die  beiden  Reize  gleiche  Größe  r  haben,  so  verwandelt  sich 
die  Gleichung  (5)  in 

'V  =  (tT,.f(^-^*<') 
*V  =  (4z:^)'-(^--2^'» 

In  jedem  der  beiden  Elemente  ist  dann  das  exogene  Indukt  propor- 
tional zum  gemeinsamen  Reize  r. 
V.   Wenn  die  Wertigkeit  der  beiden  Elemente  gleich  ist,    so  verwandelt 
sich  Gleichung  (5)  in 

v  =  (t4i;^)<'(^-2'-) 

Dann  ist  in  beiden  Elementen  das  Indukt  proportional  zur  Wertigkeit  ö. 
VI.  Ist  nicht  nur  die  Wertigkeit,    sondern   auch    der    D-Reiz   in    beiden 
Elementen  gleichgroß,  so  ergiebt  sich 

V  =  ir  =  (t^u)  ^  '• 


§  39.   Induktion  zwischen  einem  Element  und  dem  Gesamtfelde.  167 

Das  exogene  Indukt  ist  dann  in    beiden  Elementen   das   gleiche   und 
proportional  zu  ihrer  Wertigkeit  und  ihrem  D-Reiz. 

Der  infolge  einer  Änderung  der  Netzhautbeleuchtung  unter  Mitwirkung 
der  Induktion  eintretende  neue  Zustand  der  Sehsubstanz  bedarf  einer  ge- 
wissen, wenn  auch  kurzen  Zeit  zu  seiner  Herstellung.  Steigt  oder  sinkt 
der  D-Reiz  eines  Elementes  und  damit  zugleich  der,  die  Stärke  der  Induk- 
tion bestimmende  Unterschiedswert  D  —  A  sehr  schnell,  so  kann  sich,  wie 
später  zu  erörtern  sein  wird,  das  durch  die  Gleichung  ausgedrückte  Indukt 
in  merklicher  Weise  oszillatorisch  entwickeln.  Immer  vergeht  eine  gewisse 
kleine  Zeit,  bis  die  Sehsubstanz  auf  den,  der  geänderten  Netzhautbelichtung 
entsprechenden  neuen  Zustand  eingestellt  ist^).  Freilich  ist  auch  diese 
Einstellung  eine  nur  vorübergehende.  Denn  jedes  Überwiegen  der  Dissi- 
milation über  die  Assimilation  ist  mit  einer  Abnahme,  jedes  Überwiegen 
der  Assimilation  mit  einer  Zunahme  der  Wertigkeit  verbunden.  Der  unter 
Mitwirkung  der  Induktion  entstandene  neue  Zustand  ist  daher  auch  bei 
unveränderter  Fortdauer  der  neuen  Belichtung  kein  beständiger. 

§  39.  Die  Induktion  zwischen  einem  Element  und  dem 
Gesamtfelde  der  Sehsubstanz.  Der  im  letzten  Paragraphen  ange- 
nommene Fall  einer  gegenseitigen  Induktion  zwischen  zwei  Elementen,  die 
unabhängig  von  allen  übrigen  lediglich  unter  sich  in  Wechselwirkung  stän- 
den, kann  zwar  in  Wirklichkeit  nicht  vorkommen  2)^  giebt  aber  eine  Grund- 
lage für  die  Untersuchung  der  Induktion  zwischen  einem  Elemente  einerseits 
und  dem  es  umgebenden  Gesamtfelde  andererseits,  welche  Untersuchung 
uns  die  Erklärung  der  im  III.  und  V.  Abschnitte  beschriebenen  Tatsachen 
ermöglichen  soll. 

Die  folgenden  Erörterungen  behalten  ihre  Gültigkeit  auch  dann,  wenn 
die  von  einem  Elemente  ausgehende  Wirkung  sich  nicht  bis  an  die  äußerste 
Grenze  des  Gesamtfeldes  erstreckte,  und  also  jedem  Elemente  nur  ein  mehr 
oder  weniger  begrenzter  Wirkungskreis  zukäme. 

Ein  Element  e  steht  gleichzeitig  mit  allen  übrigen  in  ähnlicher  Wechsel- 
wirkung, wie  mit  dem  im  vorigen  Paragraphen  allein  in  Betracht  gezogenen 


i)  Schon  bei  Besprechung  der  Erscheinungen  des  reinen  Simultankontrastes 
habe  ich  betont,  dass  man  z.B.  die  Deckblätter  von  den  auf  Tafel  II  dargestellten 
Kontrastbildern  nicht  allzuschnell  wegziehen  soll. 

2)  Selbst  wenn  keinerlei  Abirrung  des  Lichtes  [vgl.  §  33)  bestände  und  es 
dementsprechend  möglich  wäre,  dass  nur  zwei  Elemente  der  Empfangsfläche 
Licht  empfingen  und  nur  zwei  Elemente  der  Sehsubstanz  gereizt  würden,  und 
wenn  zugleich  alle  übrigen  Elemente  mittelwertig  wären,  und  daher  von 
vornherein  in  ihnen  weder  D-  noch  J.-Überschüsse  beständen,  würden  doch  die 
beiden  allein  gereizten  Elemente  den  Stoffwechsel  ihrer  Umgebung  durch  Induk- 
tion ändern  und  diese  Änderungen  wieder  auf  sie  selbst  zurückwirken  müssen. 
Demnach  wäre  der  im  vorigen  Paragraphen  gesetzte  Fall  auch  dann  nicht  ver- 
wirklicht. 


168  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Elemente  e,  jedoch  mit  dem  Unterschiede,  dass  seinen  mannigfach  A-er- 
schiedenen  funktionellen  Abständen  von  den  übrigen  Elementen  ebenso 
mannigfach  verschiedene  Induktionskoeffizienten  {k]  entsprechen,  und  dass 
jedes  der  übrigen  Elemente,  ebenso  wie  das  Element  e  selbst,  wieder  von 
sämtlichen  Elementen  der  Sehsubstanz  durch  Induktion  beeinflusst  wird. 
Es  erteilt  und  empfängt  jedes  Element  soviele  Einzelindukte,  als  Elemente 
außer  ihm  vorhanden  sind,  und  aus  der  algebraischen  Summation  aller 
dieser  Einzehndukte  entsteht  in  jedem  Element  das  Gesamtindukt  J, 
dessen  Größe  in  den  einzelnen  Elementen  gleichzeitig  verschieden  sein  kann. 
Letzteres  folgt  unter  gewöhnlichen  Umständen  schon  aus  der  A^erschieden- 
heit  der  jD-Reize,  welche  gleichzeitig  auf  die  verschiedenen  Elemente  wirken, 
anderenteils  ist  es  durch  die  Verschiedenheit  ihrer  jeweiligen  Wertigkeit 
bedingt.  Ganz  besonders  die  Reize  und  Wertigkeiten  der  Nachbarn  eines 
Elementes  werden  für  die  Größe  seines  Gesamtinduktes  maßgebend  sein. 

Somit  tritt  jetzt  an  die  Stelle  des  minimalen  Induktes  «',  das  dem 
Elemente  e  zukam,  als  wir  es  lediglich  mit  dem  Elemente  e  in  Wechsel- 
wirkung und  von  allen  übrigen  unabhängig  dachten,  das  Gesamtindukt  J, 
und  für  die  Dissimilation  und  Assimilation  jedes  Elementes  gelten  nunmehr 
nach  Analogie  der  Gleichung  (2)  in  §  38  die  Gleichungen 

D  =  ^~  -j-  dr  —  J  und  Ä  =  cc  -^  J 

Aus  diesen  Gleichungen  würden  sich  dann  auch  für  die  korrelative 
Stelle  des  psychischen  Sehfeldes  die  Gleichungen  für  die  daselbst  erschei- 
nende Farbe  sowie  für  die  Helligkeit  und  das  Gewicht  der  Farbe  ableiten 
lassen.  Denn  wie  früher  (S.  34 1)  und  1 03)  dargelegt  wurde,  lässt  sich 
durch  das  Verhältnis  zwischen  der  in  einem  Element  der  Sehsubstanz 
eben  stattfindenden  Dissimilation  und  Assimilation  [D  :  A)  die  Qualität  {W:  S) 
der  korrelativen   tonfreien  Farbe   eindeutig   bezeichnen,    desgleichen   durch 

die  Weißlichkeit   oder    Helliijkeit  |  --^ |  und  durch  I)  +  .1  das 

D  -{-  Ä  ^         \  W-h  S  f 

Gewicht  ( W  -j-  S)  der  Farbe. 

Ebenso  wie  wir  uns  im  vorigen  Paragraphen  das  im  Elemente  e  durch 
die  Induktion  seitens  des  Elementes  e  bedingte  Einzelindukt  i  in  einen 
endogenen  Teil  Iq  und  einen  exogenen  i^,  zerlegt  dachten,  lässt  sich  auch 
das  summarische  Gesamtindukt  /  als  aus  Jq  und  J^  bestehend  ansehen. 
Jq  ist  das  endogene  Gesamtindukt,  d.  h.  die  algebraische  §umme  der  sämt- 
hchen  minimalen  endogenen  Einzelindukte,  welche  das  Element  von  allen 
anderen  Elementen  empfängt,  und  analogerweise  ist  J,.  das  exogene  Ge- 
samtindukt, d.  h.  die  algebraische  Summe  aller  für  das  Element  geltenden 
exogenen   Einzelindukte.     Während   J^   lediglich   von    den   im    allgemeinen 

i)  Auf  S.  34  Z.  3  u.  5  von  unten  ist  statt  des  F  ein  H  zu  setzen. 


§  40.   Einfluss  der  Induktion  auf  die  Eigenhelligkeit  des  Sehorganes.      169 

verschiedenen  Wertigkeiten  der  anderen  Elemente  abhängt,  ist  /,.  zugleich 
von  sämtlichen  im  fraglichen  Zeitpunkt  auf  diese  Elemente  wirkenden 
D-Ke'izen  abhängig. 

Da  also  /  =  Jg  -{-  /,.,  so  ist 

D  =  d  -\-  ör  —  Jg — Jj.,  und  A  =  a  -{-  Jg -\-  /,. . 

Hiernach  ist  auch  die  Dissimilation  und  Assimilation  in  je  einen  endo- 
genen Teil  Dg  bezw.  Äg  und  einen  exogenen  Teil  D,.  bezw.  A,.  zerlegbar, 
und  zwar  ist  t^         ^         t  . 

Dg=Ö      —      Jg  Ag     =     C(-{-Jg 

und 
D,=  d,-J,  A,  =  J,. 

Die  jeweilige  Größe  der  Dissimilation  und  Assimilation  aber  ergiebt 
sich  aus 

D  =  Dg-{-d,.—  J,       und       A=^Ag-i-J,.. 

Wäre  also  für  ein  beliebiges  Element  der  Sehsubstanz  die  Wertigkeit, 
der  es  treffende  D-Reiz  und  das  ihm  zukommende  endogene  und  exogene 
Gesamtindukt  gegeben,  so  wäre  hieraus  für  die  bezügliche  Stelle  des  psy- 
chischen Sehfeldes  die  Farbe  F,  deren  Helligkeit  H  und  Gewicht  G  aus 
folgenden  Gleichungen  ableitbar: 

F  oder    W  :  S={Dg-{-  Ör  ~  J^):{Ag-\-  J, 

W-i-  .S        d  4-  «   +  (5r 
oder  wenn  wir  wieder  ö  +  «  =  2  setzen  (vgl.  S.  1  05) 

2  -i-dr  ^   ' 

G^=2  4-()r. 

Das  Gewicht  der  tonfreien  Farbe  einer  Sehfeldstelle  ist  also  unab- 
hängig von  den  in  der  Sehsubstanz  eben  bestehenden  Induktionen  und  eine 
lineare  Funktion  des  Produktes  aus  der  Wertigkeit  und  dem  D-Reize  des 
bezüglichen  Elementes  der  Sehsubstanz. 

§  40.  Der  Einfluss  der  Induktion  auf  die  Eigenhelligkeit 
des  Sehorganes.  Nach  der  hier  entwickelten  Theorie  der  Induktion  wirkt 
nicht  die  Bestrahlung  des  Sehepithels  als  solche  induzierend,  sondern  der 
Stoffwechsel  der  Sehsubstanz,  der  zwar  unter  Vermittlung  des  Sehepithels 
durch  das  Licht  verändert  wird,  aber  auch  bei  Ausschluss  jedes  äußeren 
Reizes  fortwährt.  Verhielte  es  sich  anders,  so  könnte  im  unbelichteten 
Sehorgane  keine  Induktion  stattfinden.  Dass  aber  auch  da  Induktionen 
erfolgen,  solange  die  Sehsubstanz  noch  nicht  allenthalben  in  den  Zustand 
der  Mittel  Wertigkeit  zurückgekehrt  ist,  lehren  uns  die  später  zu  besprechen- 
den Nachwirkungen  der  Bestrahlunsr  im  verfinsterten  Auge. 


170  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Zu  diesen  gehört  auch  folgende  Erscheinung:  Wenn  wir  einige  Zeit 
hindurch  den  Augen  eine  weitausgedehnte  Fläche  von  überall  möglichst 
gleicher  Lichtstärke,  z.  B.  eine  weiße,  nicht  von  der  Sonne  beschienene 
Zimmerwand  dargeboten  oder  im  hellen  Zimmer  sitzend  vor  jedem  Auge 
ein  gut  angepasstes  halbkugelig  geformtes  Mattglas  oder  Milchglas  ge- 
tragen haben,  und  nachher  die  Augen  lichtdicht  bedecken,  so  sind  zunächst 
alle  Teile  der  Sehsubstanz  im  Zustande  mehr  oder  minder  großer  Unter- 
wertigkeit und  es  besteht  überall  ein  entsprechender  ^-Überschuß.  Gäbe 
es  jetzt  keine  Induktion,  so  wäre  in  allen  Elementen  der  Sehsubstanz  die 
Dissimilation  und  die  Assimilation  lediglich  eine  autonome,  die  Eigenfarbe 
jeder  Stelle   des  Sehfeldes  wäre  nur   durch    das  Verhältnis  d'-a,   und    die 

V  V 

Helligkeit  dieser  Farbe  durch  ^,— - —  =  —  bestimmt.    Infoke  der  Induktion 

o  -j-  «        2 

seitens   seiner  Umgebung   aber  erhält   das  Element   das    endogene  Gesamt- 

indukt  J"o,   welches,    da   überall   ein   ^-Überschuss   besteht,    ein   Hellindukt 

ist.    In  jedem  Elemente  ist  daher  D  =  d  -\-  Jq,  ä  =  a  —  /(,,  und  die  der 

korrelativen  Stelle  des  psychischen  Sehfeldes  eigene  Helligkeit  H= — -^ 

oder     .^ ,  also,  da  /^  ein  Hellindukt  ist,   größer,  als  sie  ohne  die  In- 

duktion  sein  würde. 

In  der  That  sehen  wir  unter  den  eben  erwähnten  Umständen  nach 
der  Verfinsterung  der  Augen  keineswegs  ein  tiefes  Schwarz,  wie  dies  nach 
der  üblichen  Ermüdungslehre  zu  erwarten  wäre,  sondern  die  Eigenfarbe 
unseres  Auges  ist  jetzt  nur  mehr  oder  weniger  schwärzlich-grau  und  wird 
weiterhin  nicht  etwa  dunkler,  sondern  noch  heller. 

Hat  man  die  Augen  vor  ihrer  Verfinsterung  ungewöhnlich  stark  be- 
lichtet, z.  B.  die  Himmelsfläche  oder  eine  besonnte  Mauer-  oder  Schnee- 
fläche betrachtet,  so  sind  die  Bedingungen  des  gewöhnlichen  Sehens  mit 
helladaptiertem  Auge  überschritten,  und  es  können  später  zu  besprechende 
außergewöhnliche  Erscheinungen  auftreten. 

Nach  der  üblichen  Ansicht  wäre  das  offene  Auge  tagsüber  in  einem 
Ermüdungszustande,  der  einen  um  so  höheren  Grad  hat,  je  stärker  die 
Beleuchtung  der  uns  umgebenden  Dinge  ist.  Der  stetige  »innere  Licht- 
reiz«, welcher  auch  bei  gänzlicher  Verfinsterung  unverändert  fortbestehen 
soll,  müsste  dann  wegen  der  sehr  herabgesetzten  »Erregbarkeit«  der  Netz- 
haut eine  so  schwache  »Erregung«  derselben  bewirken,  dass  die  Eigen- 
farbe jenem  absoluten  Schwarz  sehr  nahe  kommen  müsste,  welches  nach 
dieser  Lehre  dem  Fehlen  jeder  »Erregung«  entsprechen  würde.  Dies  ist, 
wie  gesagt,  nicht  der  Fall. 

Durch  die  beschriebene  wechselseitige  Hellinduktion  im  reizfreien  unter- 
wertigen  Sehsubstanzfelde  wird  die  aufsteigende  Änderung  der  Sehsubstanz 


§  4i.  Beziehungen  zwischen  Helligkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchtung.     171 

verlangsamt  und  letztere  erreicht  die  Mittelwertigkeit  später,  als  wie  dies 
ohne  Induktion  der  Fall  sein  würde.  In  dem  Maße  aber,  als  die  anfäng- 
liche Unterwertigkeit  sich  wieder  vermindert,  wird  auch  die  Eigenhelligkeit 
wieder  grüßer  und  nähert  sich  der  Helligkeit  des  mittlen  Grau,  durch  wel- 
ches die  Mittelwertigkeit  charakterisiert  ist. 

§  41.  Die  Beziehungen  zwischen  den  Helligkeiten  der  Seh- 
dinge und  der  Gesamtbeleuchtung  der  sichtbaren  Außendinge» 
Es  ist  anzunehmen,  dass  das  Licht  nur  deshalb  ein  Reiz  für  die  Seh- 
substanz ist,  weil  es  im  Sehepithel  teilweise  absorbiert  wird,  und  dass 
daher  nur  ein  in  andere  Energieart  umgesetzter  Teil  der  Strahlungsenergie 
als  JD-Reiz  r  in  Rechnung  kommt.  Die  Menge  der  absorbierten  Energie 
ist  von  der  jeweiligen  Beschaffenheit  und  Menge  des  absorbierenden  Em- 
pfangstoffes abhängig  und  zur  Energie  der  auffallenden  Strahlung  pro- 
portional. Hiernach  lässt  sich  mit  Wahrscheinlichkeit  auch  der  D-Reiz 
zur  Lichtstärke  der  bezüglichen  Netzhautbildstelle  proportional  setzen, 
welche  Lichtstärke  bei  gleicher  Pupillenweite  wieder  zur  Lichtstärke  des 
auf  der  Netzhautstelle  abgebildeten  Außendinges  proportional  ist. 

Infolge  dieser  durchgängigen  Proportionalität  giebt  uns  die  in  §  39 
entwickelte  Gleichung 


H^ 


Dq  4-  dr  —  J^ 


2  4-  ()> 

Aufschluss  über  die  Art  der  Abhängigkeit  der  Helligkeiten  im  psychischen 
Sehfeld  sowohl  von  den  Lichtstärken  im  Netzhautbilde,  als  zugleich  auch 
von  den  Lichtstärken  der  abgebildeten  Außendinge,  oder  wie  man  zu  sagen 
pflegt,  über  den  Zusammenhang  zwischen  »objektiver«  und  »subjektiver« 
Helligkeit. 

Man  denke  sich  ein  bei  wiederholter  Betrachtung  in  allen  räumlichen 
Beziehungen  unverändertes  Gesichtsfeld,  das  nur  aus  nicht  selbstleuchtenden 
Dingen  von  gleichbleibendem  Remissionsvermögen  (vgl.  §  16)  besteht,  dazu 
eine  unverändert  bleibende  Lage  des  Auges  und  eine  Gesamtbeleuchtung, 
die  nur  in  ihrer  Stärke,  nicht  aber  in  der  Art  ihrer  Verteilung  über  das 
Gesichtsfeld  veränderlich  ist,  so  dass  die  Lichtstärken  aller  Teile  desselben 
stets  in  gleichem  Verhältnis  zu-  oder  abnehmen,  wenn  die  Gesamtbeleuch- 
tung zu-  oder  abnimmt.  Ein  solches  Gesichtsfeld,  in  dem  also  auch  die 
Verhältnisse  zwischen  den  Lichtstärken  seiner  Einzelteile  bei  wiederholter 
Betrachtung  immer  wieder  dieselben  wären,  möge  als  ein  stabiles  be- 
zeichnet werden.  Auch  das  Gesamtnetzhautbild  eines  solchen  Gesichtsfeldes 
ist  insofern  ein  stabiles,  als  die  Verhältnisse  zwischen  den  Lichtstärken  seiner 
Einzelteile  sowohl  von  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes, 
als  auch  von  der  jeweiligen  Pupillenweite,  kurz  gesagt,  von  der  Stärke  der 
Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  unabhängig  und  also  stabil  sind. 


172  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Insoweit  der  i)-Reiz,  den  eine  Strahlung  unter  Vermittlung  der  Em- 
pfangschichte der  iNetzhaut  auf  die  Sehsubstanz  ausübt,  bei  gleichbleibender 
Empfänglichkeit  zur  Energie  der  Strahlung  proportional  ist,  entspricht  der 
Stabilität  der  Lichtstärkenverhältnisse  im  Netzhautbilde  auch  eine  Stabilität 
der  Reizstärkenverhältnisse.  Dabei  können  wegen  Verschiedenheit  der  Em- 
pfänglichkeit der  einzelnen  Netzhautstellen  die  Verhältnisse  der  Z)- Reizstärken 
andere  sein  als  die  Verhältnisse  der  Lichtstärken;  es  kommt  hier  nur  darauf 
an,  dass  erstere  bei  jeder  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  dieselben  bleiben. 

In  §  38  (S.  166,  III)  wurde  für  zwei  Elemente  e  und  e  der  Sehsubstanz, 
die  betreffs  der  Induktion  lediglich  voneinander  abhängig  wären,  dargelegt, 
dass,  wenn  bei  unveränderten  Wertigkeiten  [6  und  6)  der  beiden  Elemente 
die  Stärken  ihrer  beiden  Z)-Reize  (r  und  r)  im  gleichen  Verhältnisse  ge- 
ändert wären,  das  exogene  Indukt  jedes  Elementes  in  demselben  Verhältnis 
vergrößert  oder  verkleinert  wäre,  in  welchem  die  beiden  Reize  vergrößert 
oder  verkleinert  sind.  Das  Analoge  muss  nun  auch  für  das  in  §  39 
besprochene  exogene  Gesamtindukt  J,.  jedes  Elementes  gelten, 
weil  Jy,  die  algebraische  Summe  sämtlicher  exogenen  Einzel- 
indukte  des  Elementes  ist.  Es  wird  also,  wenn  die  D-Reize  sämt- 
licher Elemente  der  Sehsubstanz  in  gleichem  Verhältnisse  geändert  sind, 
in  demselben  Sinne  und  Verhältnisse  auch  das  exogene  Gesamtindukt  jedes 
Elementes  geändert  sein.  Mit  anderen  Worten:  Die  Größe  des  exo- 
genen Gesamtinduktes  (/^)  eines  Elementes  ist  bei  stabilem  Ge- 
sichtsfelde proportional  zur  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut, 
wenn  zugleich  auch  das  somatische  Sehfeld  ein  stabiles  ist, 
d.  h.  die  Empfänglichkeiten  aller  Einzelteile  der  Empfangschichte  und  die 
Wertigkeiten  aller  Teile  des  Sehsubstanzfeldes  unverändert  sind. 

Unter  solchen  Umständen  haben  also  die  Werte  von  r  und  Jy  als 
proportional  zur  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  zu  gelten, 
und  ist  deshalb  das  Verhältnis  zwischen  r  und  /,.  ein  unver- 
änderliches. Bezeichnen  wir  durch  n  den  Koeffizienten,  mit  w^elchem 
wir  den  Wert  von  ^r  versehen  müssen,  um  den  Wert  von  J,.  auszu- 
drücken, so  ist  Jy  =  ndr  und  ör  —  Jy  =  ör  (1 — w),  wobei  zu  bemerken 
ist,  dass  der  Wert  von  n  nie  auf  o  herabsinken  könnte,  weil  dies  das 
Fehlen  jeder  Induktion  bedeuten  würde  und  nie  bis  auf  1  ansteigen  könnte, 
weil  damit  gesagt  wäre,  dass  die  Dissimilation  trotz  gegebenem  D-Reiz  r 
keinen  Zuwachs  erfahre. 

Die  in  §  39  S.  168  entwickelten  Gleichungen  für  die  Assimilation  und 
Dissimilation,  die  Farbe  F  und  ihre  Helligkeit  //verwandeln  sich  nunmehr  in 
die  Gleichungen  ^  _  D^^{-Sr  (I  —n);  A  =  .4^  +  nör 

F-^[Do-^ör(\-n}]:[Ä,  +  nör] 


§41.  Beziehungen  zwischen  Helligkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchtung.     173 

Aus    der   letzten    Gleichung    ist  ersichtlich,    dass   in    dem    besonderen 

Falle,  wo    ^^'  =  1  — n  ist,    die  Helligkeit   unter   den  genannten  Umständen 

ganz  unabhängig  von  r  und  also  auch  von  der  Gesamlbeleuchtung  der 
Netzhaut  wird  und,  da  Do  =  ö  —  Jq  ist,  nur  noch  durch  die  Wertigkeit 
des  fraglichen  Elementes  und  das  von  den  gleichzeitigen  Wertigkeiten 
aller  übrigen  Sehfeldelemente  abhängige  endogene  Gesamtindukt  Jq  be- 
stimmt wird. 

Diese  durch  ^  ausgedrückte   Helligkeit  ist   also   dieselbe,    welche   an 

der  fraglichen  Stelle  auch  dann  gesehen  würde,  wenn  die  Netzhaut  ganz 
unbelichtet  wäre,  d.  h.  sie  ist  die  eben  bestehende  Eigenhelligkeit 
des  fraglichen  Elementes  der  Sehsubstanz,  sofern  außer  dem  Lichte 
auch  jeder  zufällige,  nichtoptische  Reiz  ausgeschlossen  ist.  Während  aber 
bei  unbelichteter  Netzhaut  das  Gewicht  der  jeweiligen  Eigenfarbe  nur 
=  (5  +  ")  d.  h.  =2  wäre,  ist  das  Gewicht  der  nach  Qualität  und  Hellig- 
keit gleichen  Farbe,  welche  uns  im  besprochenen  Falle  bei  offenem  Auge 
an  der  bezüglichen  Stelle  des  Gesichtsfeldes  erscheint  =  2  -|-  dr. 

In  jedem  stabilen  Gesichtsfelde  kann  es  also,  gleichbleibende 
Empfänglichkeiten  und  Wertigkeiten  im  somatischen  Sehfelde 
vorausgesetzt,  eine  oder  auch  mehr  Stellen  geben,  deren  Hellig- 
keit von  der  jeweiligen  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  des  Ge- 
sichtsfeldes und  der  Netzhaut  unabhängig  ist,  und  die  uns  des- 
halb bei  jeder  beliebigen  schwachen  oder  starken  Gesamtbe- 
leuchtung in  derselben  Helligkeit  erscheinen,  sofern  die  Stärke 
der  Beleuchtung  nicht  etwa  das  Leistungsvermögen  unseres  Sehorganes 
überschreitet. 

Aus  der  Gleichung  D^-f^,.  (i_,,) 

ergibt   sich  ferner,   dass,    wenn   1 — n  kleiner   als  -^  ist,    die   Helligkeit 

der  tonfreien  F^arbe,  in  der  wir  die  bezügliche  Stelle  des  sta- 
bilen Gesichtsfeldes  sehen,  umso  kleiner  und  also  ihre  Dunkel- 
heit   umso    grüßer   ist,    je   stärker    die    Gesamtbeleuchtung   der 

Netzhaut  ist,  und   dass  nur  dann,  wenn  1 — n  größer  als  -y  ist, 

mit  der  größeren  Stärke  dieser  Gesamtbeleuchtung  auch  eine 
größere  Helligkeit  H  einhergeht. 

Ob  also  bei  gegebenen  W^ertigkeiten  sämtlicher  Elemente  der  Seh- 
substanz und  gegebenen  Empfänglichkeiten  sämtlicher  Elemente  des  Em- 
pfangsfeldes die  Helligkeit  eines  Außendinges  bei  stärkerer  Gesamtbeleuch- 
tung  des  Gesichtsfeldes  größer  oder  kleiner  als  bei  schwächerer,  oder  im 


174  Lehre  vom  Lichtsinn. 

besonderen  Falle  bei  allen  Beleuchtungsstärken  dieselbe  ist,  hängt  unter  nor- 
malen Umständen  lediglich  von  der  jeweiligen  Verteilung  der  Lichtstärken 
im  übrigen  Gesichtsfelde  ab. 

Diese  Folgerungen  aus  dem  Induktionsgesetze  stehen,  wie  noch  im 
einzelnen  zu  erörtern  sein  wird,  mit  den  in  §  17  S.  70 — 72  beschriebenen 
Tatsachen  in  Einklang,  dagegen  in  schrofYem  Widerspruche  zu  der  land- 
läufigen Behauptung,  dass  die  Helligkeit  aller  eben  sichtbaren  Außendinge, 
gleiche  »Erregbarkeit«  des  Auges  vorausgesetzt,  mit  der  Stärke  der  Be- 
leuchtung stets  zunehme,  sei  es  nach  dem  FECiiNEa'schen  Gesetze  oder  nach 
einer  anderen  Regel.  Wollte  man  bei  dieser  Behauptung  unter  Helligkeit 
die  Lichtstärke  der  Außendinge  verstehen,  so  würde  man  nur  etwas 
Selbstverständliches  aussagen ;  will  man  aber  als  Helligkeit  eine  Beschaffen- 
heit der  »Empfindung«  bezeichnen,  welche  uns  das  von  einem  Außendinge 
zur  Netzhaut  gelangte  Licht  erweckt,  so  behauptet  man  für  die  weit  über- 
wiegende Mehrzahl  der  Fälle  von  einem  großen  Teil  der  eben  sichtbaren 
Außendinge  das  Gegenteil  von  dem,  was  wahr  und  wirklich  ist;  denn  eine 
stärkere  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  und  der  Netzhaut  kann  nicht 
bloß  eine  gesteigerte,  sondern  auch  eine  geminderte  Helligkeit  eines  Außen- 
dinges bedingen. 

§  42.  Graphische  Darstellung  der  Beziehungen  zwischen 
der  Helligkeit  der  Sehdinge  und  der  Stärke  der  Gesamtbeleuch- 
tung der  Außendinge.  Wie  im  vorigen  Paragraphen  dargelegt  wurde, 
drückt  die  Gleichung 

2-i-ör  ^^ 

das  Gesetz  aus,  nach  welchem  bei  gegebenem  Zustande  des  Sehorganes  und 
gegebenem  Gesichtsfelde  die  Helligkeit  eines  Sehdinges  von  der  Stärke  der 
Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  abhängt.  Dies  möge  nun  durch  einige 
Kurven  anschaulich  gemacht  werden. 

Wir  denken  uns  also  ein  stabiles  Gesichtsfeld  und  ein  stabiles  soma- 
tisches Sehfeld,  wie  es  im  vorigen  Paragraphen  definiert  wurde;  damit  sind 
zugleich  die  Werte  von  (5,  Dq  und  n  gegeben.  Als  einzige  Variable  bleibt 
die  zur  jeweiligen  Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  proportionale  Grüße 
von  r  übrig,  welche  auf  der  Abszissenachse  eines  rechtwinkeligen  Koordi- 
natensystems abgetragen  wird.  Die  Helligkeitswerte  sind  auf  der  Ordinaten- 
achse  abzutragen^  auf  welcher  der  Nullpunkt  S  dem  absoluten  Schwarz  und 
also  der  Helligkeit  0,  der  Punkt  W  dem  absoluten  Weiß  und  also  der 
maximalen  Helligkeit  1  entspricht,  wie  dies  schon  in  §  21  S.  97  erörtert 
wurde.  Wie  groß  wir  die  dem  Einheitswerte  von  r  entsprechende  Abs- 
zisse nehmen,  ist  ebenso  willkürlich  wie  die  Länge,  welche  wir  der  ton- 
freien Farbenlinie  SIV  auf  der  Ordinatenachse  geben. 


§  42,  Beziehungen  zwischen  Helligkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchtung.      175 

Ist  die  Beleuchtungsstärke  des  Gesichtsfeldes  und  also  auch  r  gleich 
Null,  so  verwandelt  sich  unsere  Gleichung  in 

2  • 
Dies  bedeutet,  dass  die  Helligkeit  der  dem  bezüglichen  Elemente  e  der 
Sehsubstanz  entsprechenden  Stelle  des  psychischen  Sehfeldes  nur  noch  von 
der  eben  bestehenden  Wertigkeit  des  Elementes  e  einerseits  und  von  den 
Wertigkeiten  sämtUcher  Elemente  seiner  Gesamtumgebung  andererseits  ab- 
hängig ist  (vgl.  §  40).  Der  dieser  Helligkeit  entsprechende  Punkt 
der  tonfreien  Farbenlinie  SW  ist  der  Anfangspunkt  der  zu  be- 
stimmenden Kurve. 

Um  mit  dem  einfachsten  Falle  zu  beginnen,  sei  angenommen,  dass 
sämtliche  Elemente  der  Sehsubstanz  sich  im  Zustande  der  Mittelwertigkeit 
befinden  und  daß  also  überall  d  =:  1  und  d  —  «  =  0  sei.  VV^enn  solchen- 
falls das  Gesichtsfeld  ganz  unbeleuchtet  wäre,  so  wäre  auch  D — ^  =  0, 
denn  es  gäbe  nirgends  in  der  Sehsubstanz  einen  D-  oder  ^4-Überschuß 
und  folglich  auch  keinerlei  Induktion.     Dann  wäre  für  das  Element  e 

D^^d=  1,  und  ^^'^=.0,5. 

Ist  jedoch  das  Gesichtsfeld  beleuchtet,  v^obei  seine  einzelnen  Teile  beliebig 
verschiedene  Lichtstärke  haben  können,  so  ist  auch  der  für  das  Element  e 
geltende  Wert  der  Konstanten  fi  in  die  Gleichung  (7)  einzusetzen.  Der- 
selbe ist  von  der  Verteilung  der  Lichtstärken  auf  der  Netzhaut  abhängig 
und  in  Gemäßheit  der  Theorie  stets  ein  echter  Bruch.  Jedem  möglichen 
Wert  von  n  entspricht  dann  eine  besondere  Kurve,  und  alle  diese  Kurven 
gehen  von  demselben  Punkte  (0,5)  der  Ordinatenachse  aus.  So  ergiebt 
sich  eine  ganze  Schar  von  Helligkeitskurven,  deren  jede  ein  Stück 
einer  gleichseitigen  Hyperbel  ist. 

In  Figur  34  sind  aus  dieser  Schar  nur  die  Kurven  dargestellt,  welche 
den  am  rechtseitigen  Rande  der  Figur  angemerkten  fünf  n-Wevien  0.2, 
0.4,  0.5,  0.6,  0.8  und  überdies  der  rein  theoretischen  Vollständigkeit 
wegen  auch  noch  die  Kurven  für  die  beiden  Grenzfälle,  wo  n  =  i,  oder 
=  0  wäre,  was  in  Wirklichkeit  ausgeschlossen  ist. 

Die  oberste  Kurve  der  Figur  würde  für  den  Fall  gelten,  wo  w  =  0 
wäre,  und  also  keinerlei  exogenes  Indukt  bestände;  sie  wurde  bereits  in 
§  21    Fig.  16  abgebildet. 

Um  in  die  ungewohnte  Methode  einzuführen,  nach  welcher  die  Beziehungen 
zwischen  Lichtstärke  und  Helligkeit  zu  behandeln  sind,  wenn  man  die  verschie- 
denen tonfreien  Helligkeiten  nicht  als  Intensitätsstufen  einer  qualitativ  gleichen 
Empfindung,  sondern  als  qualitativ  verschiedene  Empfindungen  gelten  lässt,  habe 
ich  nämhch  bereits  in  §  2  I  S.  95 — 9  9  eine  graphische  Darstellung  solcher  Be- 
ziehungen gegeben.     Es  geschah  dies   noch    ohne   jede  Rücksicht    auf   die    erst 


176 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


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§  42.  Beziehungen  zwischen  Helligkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchtung.     177 

im  IV.  Abschnitte  dargelegte  Hypothese  über  die  somatischen  Korrelate  der  ton- 
freien Farben  und  unter  vorläufiger  Weglassung  der  durch  die  Wechselwirkung 
der  Sehfeldstellen  bedingten  Verwickelungen,  mit  dem  Hinweise  auf  die  spätere 
Erörterung  derselben.  Es  wurde  angenommen,  daß  durch  die  Belichtung  ledig- 
lich die  weiße  Komponente  der  jeweiligen  Eigenfarbe  des  unbelichteten  Auges 
einen  der  Intensität  der  Belichtung  proportionalen  Zuwuchs  erhalte,  die  schwarze 
Komponente  der  Eigenfarbe  aber  unbeeinflusst  bleibe.  Nunmehr  haben  wir  an 
die  Stelle  der  weißen  Komponente  der  letzteren  die  entsprechende  Größe  von 
ö,  an  Stelle  der  schwarzen  die  Größe  von  a  gesetzt  und  den  durch  die  Be- 
lichtung bedingten  Zuwuchs  mit  ör  bezeichnet.  Gäbe  es  keine  Wechselwirkung, 
so  würden  wir,  nur  mit  veränderten  Größen,  für  H  dieselben  Gleichungen  er- 
halten, wie  die  in  §  21    aufgestellten. 

Die  unterste  Kurve  unserer  Figur  34  veranschaulicht  den  anderen, 
in  Wirklichkeit  ebenfalls  ausgeschlossenen  Grenzfall,  bei  welchem  n  =  1 
und  daher  r  (i  —  n)  =  0,  also  der  durch  den  D-Reiz  r  bedingte  Zuwuchs 
zur  Dissimilation  des  Elementes  e  durch  das  exogene  Dunkelindukt  seitens 
des  übrigen  Sehfeldes  ganz  aufgehoben  wäre. 

Die  Zwischenräume  zwischen  je  zwei  Kurven  der  Fig.  34  hat  man 
sich  durch  alle  die  Kurven  erfüllt  zu  denken,  für  welche  der  Wert  von  n 
zwischen  den  zu  den  beiden  Kurven  gehörigen  Werten  liegen  würde.  Jede 
Kurve  verläuft  um   so  flacher,  je   mehr  sich  der  zugehörige  Wert  von  n 

demjenigen  nähert,  bei  welchem  \  —  m  =  ^-    ist,    und   an   die   Stelle   der 

Kurve  eine  Gerade  tritt.  Durch  diese  Gerade,  welche  die  Linie  der 
unveränderlichen  Helligkeit  heißen  möge,  ist  ausgedrückt,  dass  bei 
diesem  Werte  von  n  und  irgendwelcher,  wenn  auch  noch  so  starken,  je- 
doch nicht  schädigenden  Beleuchtung  des  gegebenen  Gesichtsfeldes,  die  ton- 
freie Farbe  der  bezüglichen  Sehfeldstelle  immer  dieselbe  Qualität  und  also 
auch  Helligkeit  hat.  Nur  in  einer  Beziehung  ist  diese  Farbe  nicht  auf  der 
ganzen  Linie,  d.  h.  bei  allen  Beleuchtungsstärken  des  Gesichtsfeldes  dieselbe, 
nämlich  inbetreff  ihres  Gewichtes;  denn  dieses  wächst  mit  der  Stärke  der 
Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  und  ist  eine  Hneare  Funktion  derselben, 
n  unserer  G  leichung  ist  das  jeweilige  Gewicht  der  Farbe  durch  den  Nenner 
2  +  ör  ausgedrückt  (vgl.  §  39  S.  169). 

Die  ganze  Kurvenschar  der  Fig.  34  ist  durch  die  Linie  der  unver- 
änderlichen Helligkeit  in  zwei  Kurvengruppen  geteilt,  eine  obere,  dem  Ge- 
biete der  übermittlen  Helligkeiten,  und  eine  untere,  dem  Gebiete  der  unter- 
mittlen Helligkeiten  angehörige  Gruppe.  Man  sieht,  dass  es  ganz  von  dem 
Werte  n  abhängt,  ob  mit  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  die  Helligkeit 
des  Elementes,  für  welches  die  Kurven  unserer  Figur  gelten,  wächst  oder 
abnimmt  oder  ganz  unverändert  bleibt.  In  jeder  Kurve  der  oberen  Gruppe 
wächst,  abgesehen  von  letzterem  Falle,  mit  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung 
die   der  jeweiligen  Ordinate   entsprechende  Helligkeit  anfangs  am  meisten, 

Hering,  Lichtsinn.  42 


178  Lehre  vom  Lichtsinn. 

weiterhin  immer  weniger,  und  die  Kurve  nähert  sich  dabei  immer  mehr 
einer  zur  Abszissenachse  parallelen  Geraden,  welche  die  Asymptote  der 
Kurve  und  am  rechtseitigen  Rande  der  Figur  durch  den  Wert  der  zur 
Kurve  gehörigen  Konstanten  71  bezeichnet  ist.  Auf  der  schwarzweißen 
Farbenlinie  S  W  entspricht  jeder  solchen  Asymptote  die  durch  1  —  n  aus- 
drückbare Helligkeit. 

Analoges  gilt  für  jede  Kurve  der  unteren  Gruppe,  jedoch  mit  dem 
Unterschiede,  dass  hier  mit  steigender  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  der 
Netzhaut  die  Helligkeit  der  bezüglichen  Sehfeldstelle  immer  mehr  abnimmt, 
d.  h.  ihre  Farbe  sich  mehr  und  mehr  verschwärzt,  und  also  ihre  Dunkel- 
heit sich  ebenfalls  einem  durch  die  Asymptote  der  Kurve  bestimmten 
Maximum  nähert. 

So  macht  die  Fig.  34  zugleich  anschaulich,  dass  einerseits  die  Helligkeit, 
andererseits  die  Dunkelheit  der  tonfreien  Farbe,  welche  an  der  zum  Ele- 
ment 6  gehörigen  Stelle  des  psychischen  Sehfeldes  gesehen  werden  kann, 
eine  gesetzmäßig  limitierte  ist,  d.  h.  dass  sie  unter  normalen  Stoffwechsel- 
bedingungen nie  über  eine  gewisse,  jeder  einzelnen  Kurve  eigentümliche 
Grenze  hinausgehen  kann;  dass  ferner  diese  Grenze  der  Helligkeit  oder 
Dunkelheit  durch  den  für  die  bezügliche  Kurve  geltenden  Wert  von  n  und 
also  durch  die  exogene  Induktion  bestimmt  ist  und  für  jede  Kurve  um  so 
tiefer  liegt,  je  größer  der  zugehörige  Wert  von  n  ist. 

Fig.  34  lehrt  ferner,  dass  das  Bereich  der  Helligkeiten,  bzw.  Dunkel- 
heiten, welche  unter  den  angenommenen  Voraussetzungen  einem  Sehfeld- 
element zukommen  können,  um  so  kleiner  ist,  je  weniger  der  Wert  der 
für  das  Element  geltenden  Konstanten  n  von  demjenigen  Werte  abweicht, 
bei  welchem  die  Helligkeit  des  Elementes  ganz  unabhängig  ist  von  der  Stärke 
der  Gesamtbeleuchtung  des  gegebenen  Gesichtsfeldes,  d.  h.  wo  für  den  hier 
angenommenen  Fall  der  Mittel  Wertigkeit  des  Elementes 

ist. 

Jede  Gerade,  welche  man  sich  parallel  zur  Abszissenachse  durch  die 
Kurvenschar  gelegt  denkt,  durchschneidet  sämtliche  Kurven  an  Punkten 
gleicher  Helligkeit,  aber  jeder  solche  Schnittpunkt  entspricht  einem  anderen 
Werte  von  r  und  also  einer  anderen  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung.  So- 
mit lehrt  jede  solche  Linie  gleicher  Helligkeit  (Isophane),  dass 
eine  und  dieselbe  Stelle  des  gegebenen  Gesichtsfeldes,  je  nach 
dem  für  das  bezügliche  Element  der  Sehsubstanz  eben  gelten- 
den Werte  von  w,  bei  den  verschiedensten  Stärken  der  Gesamt- 
beleuchtung in  derselben  Helligkeit  erscheinen  kann. 

Wie  jede  parallel  zur  Abszissenachse  durch  die  Kurvenschar  gelegte 
Gerade  eine  Linie  gleicher  Helligkeit   darstellt,   so  jede   parallel   zur  Ordi- 


§  42.   Beziehungen  zwischen  Helligkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchtung.     179 

natenachse  gehende  Gerade  eine  Linie  gleicher  Reizstärke,  denn  sie 
umfasst  bei  stabilem  Gesichtsfelde  und  stabilem  somatischen  Sehfeld  alle 
Helligkeiten,  welche  bei  einer  und  derselben  Reizstärke  je  nach  dem  gleich- 
zeitigen Werte  von  n  theoretisch  möglich  sind.  Der  Umfang  dieser  bei 
gleicher  Reizstärke  möglichen  Helligkeiten  eines  und  desselben  Außenortes 
wächst,  wie  Fig.  34  lehrt,  mit  der  Stärke  der  allgemeinen  Beleuchtung  und 
ist,  rein  theoretisch,  durch  die  beiden  Punkte  begrenzt,  in  denen  die  Linie 
gleicher  Reizstärke  einerseits  die  oberste,  andererseits  die  unterste  Kurve 
der  Kurvenschar  durchschneidet.  Da  jedoch  der  durch  die  Größe  des  exo- 
genen Induktes  bestimmte  Wert  von  7i  nie  bis  auf  1  steigen  oder  bis  auf 
0  sinken  kann,  so  reicht  in  Wirklichkeit  der  Bereich  der  bei  gleicher  Be- 
leuchtungsstärke möglichen  Helligkeiten  eines  und  desselben  Außenpunktes 
weder  nach  oben  noch  nach  unten  bis  an  die  bezügliche  theoretische 
Grenzkurve  heran.  Hierdurch  wird  jedoch  nichts  daran  geändert,  dass  je 
größer  die  Beleuchtungsstärke  und  mit  ihr  der  D-Reiz,  desto  größer  auch 
der  Umfang  der  bei  derselben  Beleuchtungsstärke  möglichen  Helligkeiten 
des  bezüglichen  Außenpunktes  ist. 

Der  für  Fig.  34  angenommene  einfachste  Fall  der  Mittelwertigkeit 
aller  Elemente  der  Sehsubstanz  ist  nur  verwirklicht,  wenn  das  Auge  so 
lange  verfinstert  worden  ist,  bis  in  der  Sehsubstanz,  wenn  auch  nicht  zu- 
gleich in  der  Empfangschichte,  die  Nachwirkungen  einer  vorausgegangenen 
Belichtung  verschwunden  sind,  und  sich  überall  das  autonome  Gleichgewicht 
zwischen  Dissimilation  und  Assimilation  wieder  hergestellt  hat;  immer  vor- 
ausgesetzt, dass  innere,  durch  Blutlauf  und  Atmung  bedingte  Reize  nicht 
mit  in  Betracht  kommen.  Bei  offenem,  im  beleuchteten  Räume  beschäftigten 
Auge  aber  herrscht  immer  eine  je  nach  der  Stärke  der  Beleuchtung  größere 
oder  kleinere  durchschnittliche  Unterwertigkeit  in  der  Sehsubstanz. 
Dabei  kann  die  W^ertigkeit  an  verschiedenen  Stellen  des  Sehsubstanzfeldes 
eine  sehr  verschiedene  sein.  War  z.  B.  für  ein  Element  der  D-Reiz  r  vor- 
her nur  ein  minimaler,  während  er  für  die  Umgebung  des  Elementes  groß 
war,  so  kann  das  letztere  infolge  des  starken  exogenen  Dunkelinduktes 
sogar  vorübergehend  überwertig  sein.  Im  allgemeinen  aber  besteht  beim 
gewöhnlichen  Sehen  eine,  in  den  einzelnen  Elementen  der  Sehsubstanz 
allerdings  verschiedene,  Unterwertigkeit. 

Es  sei  hier  nochmals  betont,  dass  die  nervöse  Sehsubstanz  nicht  mit  den 
in  der  Empfangschichte  der  Netzhaut  enthaltenen  Empfangstoffen  (den  Seh- 
stoffen W.  Kühne's)  verwechselt  werden  darf.  Die  Sehsubstanz  könnte  z.  B. 
nach  der  Verfinsterung  des  Auges  schon  in  den  Zustand  der  Mittelwertigkeit 
zurückgekehrt  und  also  vollständig  an  die  Finsternis  adaptiert  sein,  während  der 
Gehalt  der  Empfangschichte  an  Empfangstoffen  und  mit  ihm  die  Licht- 
empfänglichkeit  noch  weiter  wächst.  Man  darf,  wie  schon  in  §  25  (S.  H  3) 
gesagt  wurde,  die  Anpassung  der  Sehsubstanz  ebensowenig  mit  der  Anpassung 
des  Empfängers  verwechseln,   als  mit  der  Anpassung  der  Pupille. 

12* 


180  Lehre  vom  Lichtsirin. 

Unter  gewöhnlichen  Unisländen  wird  also  im  Element  c,  um  dessen 
Helligkeitskurve  es  sich  eben  handelt,  ein  endogenes  negatives  Gesamt- 
indukt  d.  i.  ein  Hellindukt  bestehen  (vgl.  §  40),  wenn  nicht  etwa  zufällig 
die  algebraische  Summe  sämtlicher  Einzelindukte  seitens  seiner  Umgebung 
=  0  wäre.  Auch  das  Element  e  selbst  wird  nur  in  seltenen  Ausnahme- 
fällen mittelwertig  oder  überwertig,   vielmehr  im  allgemeinen  unterwertig 

sein.  Kurz  gesagt,  die  durch  —^  ausgedrückte  Eigenhelligkeit  des  Ele- 
mentes wird  beim  gewöhnlichen  Sehen  im  allgemeinen  nicht  =0,5  d.  i. 
die  Helligkeit  des  mittlen  Grau,  sondern  kleiner  und  nur  ausnahmsweise 
größer  sein. 

Da   der  Wert   von    ~   d.  h.  von  — ^  —  ebensowohl  von  der  Wertis:- 

2  2 

keit  [ö]  des  Elementes  e  als  von  dem  endogenen  Gesamtindukte  [Jq]  ab- 
hängt, welches  es  von  seiner  Gesamtumgebung  erhält,  so  kann  bei  gleicher 

Wertigkeit  des  Elementes  der  Wert  von  — ^  je  nach  der  Größe  dieses  endo- 
genen Induktes  ein  verschiedener  sein;  ebenso  kann  bei  gleicher  Größe  des 
endogenen  Induktes  der  Wert  von  ^^  je  nach  W^ertigkeit  des  Elementes 
ein  verschiedener  sein;  endlich  kann  bei  demselben  Wert  von  ^^^  zu- 
gleich die  Wertigkeit  des  Elementes  und  die  Größe  des  endogenen  Gesamt- 
induktes   variieren.     Hier   muss   ich  mich  begnügen,   nur    ein  Beispiel   für 

die  Fälle  zu  geben,  wo    ^*^  kleiner  als  0,5  ist. 

Ein  solcher  Fall  von  Unterwertigkeit  des  Elementes  e  und  von  gleich- 
zeitiger, aus  durchschnittlicher  Unterwertigkeit  des  übrigen  Sehsubstanz- 
feldes folgender  endogener  Hellinduktion  ist  der  Fig.  35  zugrunde  gelegt. 
Es  ist  für  das  Element  e  diejenige  Unter  Wertigkeit  angenommen,  bei  welcher 
d  =  1/3  wäre.  Die  Größe  des  endogenen  Gesamtinduktes  ist  auch  ganz 
willkürlich  gleich  1/3  angenommen.     Hieraus  ergibt  sich  nach  Gleichung 

für  Do  der  Wert  2/3  und  also  für    -^  der  Wert  1/3;   ^^^^  Jo  ist  hier   ein 

Hellindukt  und  kommt  als  negative  Größe  in  Rechnung  (vgl.  §  38  S.  1 65). 
Der  Linie  unveränderlicher  Helligkeit  entspricht  daher  in  Fig.  35  die 
HeUigkeit  1/3- 

Die  im  Vergleich  mit  Fig.  34  tiefere  Lage  der  Linie  unveränderlicher 
Helligkeit  charakterisiert  alle  Kurvenscharen,  die  für  ein  unterwertiges  Ele- 
ment gelten,  wenn  wie  gewöhnlich  beim  Tagsehen  seine  Umgebung  eben- 
falls unterwertig  ist.    Je  tiefer  diese  Linie  liegt,  desto  größer  ist  das  Gebiet 


§  4i.   Beziehungen  zwischen  HeUigkeit  der  Sehdinge  und  Gesamtbeleuchlung.     181 


faß 


J^g2  Lehre  vom  Lichtsinn. 

der  bei  wachsender  Allgemeinbeleuchtung  ansteigenden,  desto  kleiner  das 
Gebiet  der  dabei  absinkenden  Helligkeitskurven. 

In  Fällen,   wo  -^  grüßer  als  1/2  wäre,  und  daher  die  Linie   der  un- 

veränderlichen  Helligkeit  höher  läge  als  in  Fig.  34,  entspräche  diese  Hellig- 
keit einer  übermittelgrauen  Farbe  und  das  Gebiet  der  ansteigenden  Hellig- 
keitskurven wäre  dann  kleiner  als  das  der  absteigenden. 

Nach  Fechner  und  Helmholtz  würde  es  nur  eine  einzige  Helligkeits- 
kurve geben,  die  man  erhält,  wenn  man  für  das  bezügliche  Element  des 
psychophysischen  Sehfeldes  auf  der  Abszissenachse  die  Produkte  aus  dem 
Reize  r  und  der  »Erregbarkeit«  als  Abszissen  und  die  zugehörigen  »Intensi- 
täten der  Empfindung«  als  Ordinaten  nimmt.  Diese  Kurve  wäre  nach 
Fechner  eine  logarithmische  und  hätte  keine  Asymptote.  Dementsprechend 
müsste  die  Helligkeit  mit  der  Lichtstärke  theoretisch  genommen  unbegrenzt 
wachsen  und  wäre  in  Wirklichkeit  nur  dadurch  limitiert,  dass  eine  über 
ein  gewisses  Maß  hinausgehende  Lichtintensität  eine  Störung  der  normalen 
Leistungsfähigkeit  des  Auges  mit  sich  bringen  würde. 

Dieser  einzigen  Helligkeitskurve  stehen  nach  der  im  obigen  entwickelten 
Lehre   unzählige   Helligkeitskurven   gegenüber;    zu   jedem   möglichen  Wert 

D 
von  —^  gehört  je  eine  Schar  von  Helligkeitskurven,  und  jede  solche  Schar 

besteht  wieder  aus  so  vielen  Helligkeitskurven  als  Werte  von  n  möglich 
sind.  Nichts  kann  die  Verschiedenheit  der  beiden  Theorien  des  Lichtsinnes 
eindringlicher  veranschaulichen. 

§43.  Die  Induktion  als  ein  Hilfsmittel  zur  Selbststeuerung 
des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz.  Fehlte  jede  Induktion,  so  könnte 
durch  Verstärkung  des  D-Reizes  die  Helligkeit  bis  zum  überhaupt  denkbaren 
Maximum  gesteigert  werden,  wie  dies  die  oberste  Kurve  in  Fig.  34  u.  35 
anschaulich  machte;  bei  vorhandener  Induktion  aber  erscheint  dies  von 
vornherein  unmöglich.     Wir   sahen   soeben,    dass  wenn  1  — n   größer   als 

—  ist,  jedem  Werte  von  n  ein  Maximum  der  möglichen  Helligkeit  entspricht, 

welches  um  so  tiefer  liegt^  je  größer  der  Wert  von  n  ist.  Dieser  Wert 
aber  wächst  für  ein  Element  der  Sehsubstanz  bei  gleicher  Lichtempfäng- 
lichkeit des  zugeordneten  Empfangselementes  der  Netzhaut  mit  der  Be- 
leuchtungsstärke der  Umgebung  des  letzteren. 

Hiernach  erscheint  es  unter  normalen  Stoffwechselbedingungen  der 
Sehsubstanz  von  vornherein  ausgeschlossen,  dass  wir  mit  helladaptiertem 
Auge  eine  ausgebreitete  Hchtstarke  Fläche  in  derselben  grossen  Helligkeit 
sehen,  in  der  uns  ein  kleiner  Teü  derselben  erscheint,  wenn  wir  z.  B. 
durch  eine  Dunkelröhre,  die  am  anderen  Ende  ein  Diaphragma  mit  kleiner 
Öffnung  trägt,  nach  der  Fläche  bUcken. 


§  44.    Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     183 

Wo  immer  das  Auge  einer  größeren  lichtstarken  Fläche  gegenüber- 
steht, ist  die  Limitierung  der  Helligkeit  von  besonderer  Wichtigkeit,  denn 
sie  schützt  die  Sehsubstanz  vor  Erschöpfung.  Indem  mit  zunehmendem 
D-Reize  einerseits  die  induzierte  Verminderung  der  Dissimilation,  anderer- 
seits die  induzierte  Steigerung  der  Assimilierung  ebenfalls  wächst,  wird  die 
Geschwindigkeit  der  absteigenden  Änderung  der  Sehsubstanz  wie  durch  eine 
automatische  Bremse  verlangsamt  und  ihr  schließlich  eine  nicht  überschreit- 
bare Grenze  gesetzt,  sofern  nur  das  Assimilierungsmaterial  zureichend  vor- 
handen ist,  und  keine  anderweiten  Störungen  des  normalen  Stoffwechsels 
bestehen. 

Zusammenfassend  könnte  man  das  soeben  Gesagte  als  den  Satz  von 
der  Limitierung  der  Helligkeit  durch  die  Dunkelinduktion  be- 
zeichnen. 

Der  auf  Dunkelinduktion  beruhende  Selbstschutz  der  Sehsubstanz  tritt, 
wie  gesagt,  schon  während  der  Entwicklung  des  durch  den  Reiz  bedingten 
D-Zuwuchses  in  Wirksamkeit  und  lässt  sich  deshalb  als  eine  simultane 
Anpassung  des  Stoffwechsels  der  Sehsubstanz  an  die  Stärke  der  Gesamt- 
beleuchtung bezeichnen  zum  Unterschiede  von  der  schon  in  §  23  als 
Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  beschriebenen  sukzessiven  Anpassung, 
welche  erst  in  dem  Maße  eintritt,  als  die  Sehsubstanz  bereits  unterwertig 
geworden  ist.  Der  durch  die  Induktion  bedingte  simultane  Selbstschutz 
eines  Sehsubstanzbezirkes  ist  schon  gegeben  mit  dem  Eintritt  eines  D-Über- 
schusses in  der  Gesamtheit  seiner  Elemente;  der  sukzessive  Selbstschutz 
aber  ist  erst  an   die  Folgen    eines   bestandenen  D-Überschusses  gebunden. 

Es  ist  mir  denkbar,  dass  gewisse  Anomalien  des  Lichtsinnes  ihre  Ursache 
in  einer  Insuffizienz  der  Assimilation  haben,  wie  sie  z.  B.  bei  mangelhafter  Zu- 
fuhr des  zur  Assimilation  nötigen  Ersatzmateriales  eintreten  müsste.  Eine  im 
Vergleiche  zur  vorhandenen  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  imd  der  Netzhaut 
übermäßige  und  mit  herabgesetzter  Deutlichkeit  des  Sehens  einhergehende  Hellig- 
keit des  Sehfeldes  braucht  nach  der  hier  entwickelten  Theorie  der  Induktion 
keineswegs,  wie  dies  die  jetzt  übliche  Auffassung  will,  auf  einer  übermäßigen 
»Erregbarkeit«  des  Sehorgans  zu  beruhen,  sondern  lässt  sich  zwanglos  auch  auf 
eine  unzulängliche  Assimilation  der  Sehsubstanz  zurückführen. 

§  44.  Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von 
der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung.  Die  Wahrnehmung  der  Einzel- 
heiten des  psychischen  Sehfeldes  beruht  auf  den  Helligkeitsunterschieden 
derselben;  je  größer  diese  sind,  desto  leichter  ist  auch  das  Unterscheiden. 

Hätten  wir  ein  bedrucktes  oder  beschriebenes  weißes  Blatt  vor  uns, 
auf  dem  die  Buchstaben  so  weit  verblichen  sind,  dass  sich  ihre  Farbe  nur 
noch  eben  merklich  von  der  des  weißen  Grundes  unterscheidet,  so  würden 
wir,  insoweit  alle  Einzelteile  jedes  Buchstabens  (Haarstriche  usw.)  noch  in 
dieser  Farbe  sichtbar  wären,  die  Schrift  auch  noch  mit  Sicherheit  zu  lesen 


184  Lehre  vom  Lichtsinn. 

vermögen;  aber  solches  Lesen  wäre  schwer  und  sehr  ermüdend.  Ohne 
besondere  Aufmerksamkeit  könnte  es  sogar  geschehen,  dass  wir  das  Papier 
auf  den  ersten  Bhck  für  ein  unbedrucktes  halten.  Erst  wenn  der  Unter- 
schied zwischen  beiden  Farben  oder  Helligkeiten  des  Buchstaben  ^einerseits, 
des  Papieres  andererseits  eine  gewisse  Größe  erreicht,  wird  das  Lesen 
bequem. 

AVas  hier  vom  Lesen  gesagt  wurde,  gilt  vom  Sehen  überhaupt.  Farben- 
und  Helligkeitsunterschiede,  die  so  klein  sind,  dass  wir  sie  nur  bei  beson- 
ders darauf  gerichteter  Aufmerksamkeit  sehen,  und  vollends  die  auch  dann 
nur  eben  merklichen  Unterschiede  spielen  beim  gewöhnlichen  Sehen  im 
allgemeinen  keine  Rolle.  Im  folgenden  haben  wir  es  zunächst  nicht  mit 
solchen  minimalen,  sondern  mit  den  Helligkeitsunterschieden  überhaupt  zu 
tun,  gleichviel  wie  groß  oder  klein  sie  sind,  und  zwar  mit  den  Gesetzen 
ihrer  Abhängigkeit  von  der  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  und  von 
der  Verteilung  der  verschiedenen  Lichtstärken  in  ihm  und  in  seinem  Netzhaut- 
bilde. Beschränken  wir  uns  dabei  auf  die  Fälle,  wo  für  die  beiden  Ele- 
mente des  somatischen  Sehfeldes,  um  deren  Helligkeitsunterschied  es  sich 
handelt,  dieselbe  Schar  der  Helligkeitskurven  gilt,  so  können  wir  unsere 
Erörterungen  unmittelbar  an  den  Inhalt  des  vorigen  Paragraphen  und  an 
die  daselbst  gegebene  graphische  Darstellung  anschheßen. 

Wenn  in  zwei  Elementen  der  Sehsubstanz  die  Wertigkeit  dieselbe,  und 
auch  J"^  d.  i.  das  endogene  Gesamtindukt  beider  Elemente  dasselbe  ist, 
so  gilt  für  letztere  dieselbe  Schar  von  Helligkeitskurven.  Dabei  kann  der 
D-Reiz  r  und  das  exogene  Gesamtindukt  J,.  in  beiden  Elementen  verschieden 
groß  sein. 

Für  zwei  gleichweit  von  der  Stelle  des  direkten  Sehens,  z.  B.  sym- 
metrisch nach  rechts  und  links  abliegende  Netzhautstellen  darf  man  an- 
nehmen, dass  sie  angenähert  gleiche  Lichtempfänglichkeit  dann  besitzen 
werden,  wenn  sie  längere  Zeit  durchschnittlich  gleich  stark  belichtet  waren, 
und  demzufolge  ihr  Verbrauch  an  Empfangstoff  beiläufig  der  gleiche  war. 
Dies  bedeutet  aber,  dass  auch  der  D-Reiz  für  die  beiden  zugehörigen  Stellen 
der  Sehsubstanz  durchschnittlich  derselbe  war,  und  infolgedessen  die  Wertigkeit 
der  beiden  Stellen  ebenfalls  gleich  ist.  In  je  weiterem  Umkreise  sich  dann 
auch  die  Umgebung  der  beiden  Stellen  genügend  lange  Zeit  unter  durch- 
schnittlich gleichen  Bedingungen  befand,  desto  sicherer  wird  auch  das  von 
den  Wertigkeiten  der  Umgebung  abhängige  endogene  Gesamtindukt  beider- 
seits angenähert  gleich  groß  sein.  Da  aus  Gleichheit  der  Wertigkeit  und 
Gleichheit  des  endogenen  Gesamtinduktes  die  Gleichheit  von  Dq  folgt,  so 
gilt  also  für  beide  Stellen  dieselbe  Schar  der  Helligkeitskurven. 

Aber  nicht  nur  für  zwei  gleichweit  vom  funktionellen  Mittelpunkte  der 
Netzhaut  abliegende  Stellen  wird  unter  gewöhnlichen  Umständen  in  den 
zugehörigen  Elementen  der  Sehsubstanz  Dq  denselben  Wert  haben  können, 


§  44.    Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuclitung.     185 


sondern  es  wird  dies  auch  für  die  dicht  nebeneinander  liegenden  Elemente 
eines  beliebigen  kleinen  Feldes  der  Netzhaut  bzw.  der  Sehsubstanz  gelten. 
Denn  die  sämtlichen  Elemente  eines  solchen  kleinen  Netzhautbezirkes  werden 
als  nächste  Nachbarn  sich  fast  immer  unter  durchschnittlich  denselben  Be- 
lichtungsbedingungen befunden  haben.  Ihre  Lichtempfänglichkeit  wird 
daher  beiläufig  dieselbe  sein,  und  da  dann  auch  für  die  entsprechenden 
Elemente  der  Sehsubstanz  die  D-Reize  angenähert  dieselben  gewesen  sind, 
so  werden  die  Wertigkeiten  der  Elemente  ebenfalls  nahezu  gleich  sein.  Da 
endlich  allen  Elementen  eines  kleinen  Bezirkes  dessen  Umgebung  gemeinsam 
ist,  so  wird  auch  das  endogene  Gesamtindukt  ziemlich  genau  gleichen  Wert 
haben  können. 

Besonderer  Berücksichtigung  bedarf  der  zentrale  Bezirk  der  Netzhaut, 
dessen  Bildinhalt  beim  gewöhnlichen  Sehen  die  Aufmerksamkeit  hauptsäch- 
lich beschäftigt.  Innerhalb  dieses  Gebietes  sind  die  Verschiedenheiten  der 
Lichtempfängiichkeit  voraussichtlich  viel  erheblicher  als  auf  anderen  gleich 
großen  Netzhautfeldern,  und  es  ist  hier  selbst  nach  längerer  gleicher  Be- 
lichtung des  ganzen  Bezirkes  nur  für  gleich  weit  vom  Mittelpunkte  ent- 
fernte Stellen  angenäherte  Gleichheit  der  Wertigkeit  zu  erwarten.  Bezüg- 
lich des  endogenen  Gesamtinduktes  gilt  jedoch  hier  für  sehr  kleine  Felder 
dasselbe,  was  von  kleinen  Netzhautbezirken  überhaupt  zu  sagen  war. 

Nach  alledem  werden  schon  beim  gewöhnlichen  Sehen  und  ohne  be- 
sondere vorbereitende  Maßregeln  Stellen  von  völliger  oder  sehr  genäherter 
Gleichheit  sowohl  der  Empfänglichkeit  als  der  Wertigkeit  und  des  endo- 
genen Gesamtinduktes  fast  immer  mehr  oder  minder  zahlreich  vorhanden 
sein.  Für  alle  solche  Stellen  gilt  also  gleichzeitig  dieselbe  Schar  von  Hellig- 
keitskurven, an  denen  sich  in  anschaulicher  Weise  die  Abhängigkeit  der 
Helligkeitsunterschiede  von  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  erläutern  lässt. 

Ist  für  zwei  zu  vergleichende  Elemente  die  Größe  von  Dq  und  also 
auch  die  Schar  der  Helligkeitskurven  dieselbe,  so  hängen  die  beiden  Hellig- 
keiten nur  noch  von  den  beiden  anderen  Variabeln,  nämlich  vom  D-Reiz 
und  dem  exogenen  Gesamtindukt  bzw.  von  n  als  dem  Koeffizienten  ab, 
welchen  wir  dem  Werte  von  dr  geben  müssen,  um  die  Größe  von  /^  zu 
erhalten;  denn  es  ist  hier  wieder  J^.  =  nör. 

Von  vornherein  lassen  sich  die  Fälle,  wo  nur  eine  dieser  Variabein 
in  beiden  Elementen  der  Sehsubstanz  einen  verschiedenen,  die  andere  aber 
gleichen  Wert  hat,  von  den  Fällen  scheiden,  wo  beide  Variabein  verschie- 
den groß  sind.  Der  einfachste  Fall  läge  vor,  wenn  der  Koeffizient  n  für 
beide  .Elemente  der  gleiche  wäre,  weü  dann  für  beide  eine  und  dieselbe 
Kurve  aus  der  gegebenen  Kurvenschar  gültig  wäre  (vgl.  §  45). 

.Leicht  zu  übersehen  ist  auch  der  Fall,  wo,  bei  beiderseits  gleichem 
D-Reiz  r,  für  die  beiden  Elemente  [e  und  e,)  zwei  verschiedene  Koeffizienten 
[n  und  Hf)  gelten  (vgl.  §  46  a).     Minder  übersichtlich   aber   sind   die  Fälle, 


186 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


wo  sowohl  die  w-Werte  als   die   ?-Werte    verschiedene  Grüße   haben,   weil 
hier  wieder  drei  Sonderfälle  denkbar  sind,  nämlich 


1. 

2. 
3. 


n^  vif  und  r  ^  r, 

n  <^  ifif  und  r  <irf 

n^^  rif  und  r  <^  r, 

n  <]  w,  und  r  ]|>  r, 


in  bezug  auf  den  Helligkeitsunterschied  ist 
es  dann  gleichgültig,  welches  Element  mit  e  und 
welches  mit  e,  bezeichnet  wird. 


Fig.  36. 


J-  ^L-  J^  J-  Jl-  d-  J- 
.'loXV-  S12   2St>  -fXS    6¥    32     ^6 


^6    52   69-  -aa  2^  S/t  -foiA- 


Es  würde  zu  weit  führen,  alle  diese  Möglichkeiten  eingehend  zu  be- 
handeln, und  ich  darf  mich  um  so  mehr  auf  einige  mir  besonders  wesent- 
Hch  scheinende  Fälle  beschränken,  als  die  Übereinstimmung  der  Tatsachen 
der  Erfahrung  mit  der  Theorie  schon  hier  zureichend  ersichtlich  ist. 

Um  auf  der  zum  gegebenen  Werte  von  Bq  gehörigen  Kurvenschar 
(Fig.  34  und  35)  für  ein  Element  die  Helligkeit  zu  bestimmen,  hat  man 
den,  seinem  D-Reize  r  entsprechenden  Punkt  auf  der  Abszissenachse  zu 
suchen  und  die  ihm  zugehörige  OrdinatenHnie  zu  ziehen.     Aus  der  Lage 


§44.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     187 

des  Schnittpunktes  dieser  Ordinatenhnie  und  der  zu  demselben  Elemente 
gehörigen  Kurve  ergibt  sich  die  gesuchte  Helligkeit,  wenn  man  den  Punkt 
aufsucht,  in  welchem  die  durch  jenen  Schnittpunkt  gelegte  Linie  gleicher 
Helligkeit  (Isophane)  auf  die  als  Ordinatenachse  dienende  Farbenlinie  SW 
trifft.  Jeder  der  beiden  Helligkeiten,  um  deren  Unterschied  es  sich  handelt, 
entspricht  eine  andere  Isophane,  und  der  auf  der  Farbenlinie  abzulesende 
Vertikalabstand  der  beiden  Isophanen  entspricht  dem  Unterschiede  der 
beiden  Helligkeiten. 

Fig.  37. 


y      -/      y     -/ 

y<7ii'    ^/i    3,56   fZ8 


y  ±1 J-.  jL  j- 

W  3Z    ^6      8       ^ 


f  /   ;j  f 


V6    31   6¥  m  Hb  Siz  i0h9- 


Ist  der  D-Reiz  für  die  beiden  zu  vergleichenden  Elemente  gleich  groß, 
und  nur  ihr  exogenes  Gesamtindukt  und  mit  diesem  der  /^-Wert  verschieden, 
so  handelt  es  sich  nur  um  eine  Ordinate  und  um  die  beiden  Punkte,  wo  die- 
selbe die  beiden,  den  Werten  von  n  und  n,  entsprechenden  Kurven  schneidet. 
Nicht  so  übersichtlich  sind  die  übrigen  Fälle,  wo  r  und  r,  verschieden  sind 
und  also  zwei  Ordinaten  in  Betracht  kommen.  Da  der  Unterschied  der 
Lichtstärken  der  beiden  zu  den  Elementen  e  und  <?,  gehörigen  Netzhautstellen 


Igg  Lehre  vom  Lichtsinn. 

mit  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  wächst  (vgl.  §  16  S.  62),  so  ist 
auch  auf  der  Abszissenachse  der  Abstand  der  durch  die  beiden  D-Reize 
r  und  ?',  gegebenen  Ordinatenlinien  um  so  größer^  je  stärker  die  Gesamt- 
beleuchtung ist.  Es  entspricht  daher  einer  z.  B.  achtmal  stärkeren  Ge- 
samtbeleuchtung ein  achtmal  größerer  gegenseitiger  Abstand  der  beiden 
Ordinalen.  v 

Eine  viel  bequemere  Übersicht  über  die  Art,  wie  der  Unterschied  der 
beiden  Helligkeiten  bei  gesteigerter  oder  geminderter  Gesamtbeleuchtung 
sich  ändert,  gestatten  die  Kurventafeln  der  Fig.  36  und  37.  Auf  beiden 
entsprechen  gleichen  Abständen  zweier  Punkte  der  Abszissenachse  gleiche 
Verhältnisse  der  durch  diese  Punkte  ausgedrückten  Größen  des  D-Reizes, 
daher  die  für  die  beiden  Netzhaut-  und  Sehfeldstellen  geltenden  Ordinaten 
bei  allen  beliebigen  Stärken  der  Gesamtbeleuchtung  denselben  gegenseitigen 
Abstand  behalten,  während  die  Ordinatenwerte  selbst  dieselben  geblieben 
sind,  wie  für  die  in  Fig.  34  und  35  dargestellten  Kurven;  der  ersteren  ent- 
spricht Fig.  36,  der  letzteren  Fig.  37.  Die  Ordinatenachse  liegt  jetzt  links 
in  unendlicher  Ferne,  doch  ist  die  Farbenlinie  an  der  linken  Grenze  der 
Figur  angegeben,  um  auf  ihr  die  Helligkeiten  ablesen  zu  können. 

Soll  also  nicht  bloß  die  Art  der  Abhängigkeit  der  Helligkeit  von  der 
Gesamtbeleuchtung  veranschaulicht  werden,  sondern  der  Einfluss  der  letzteren 
auf  die  Größe  des  Unterschiedes  zweier  Helligkeiten,  w^elche  einem  Licht- 
stärkenpaar von  bestimmtem  Verhältnis  entsprechen,  so  eignen  sich  die 
nach  Art  der  Figg.  36  und  37  dargestellten  Kurvenscharen  besser  als  die 
der  Figg.  34  und  35. 

§  45.  Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der 
Gesamtbeleuchtung  bei  Gleichheit  des  endogenen  und  exogenen 
Gesamtinduktes  und  Ungleichheit  des  D-Reizes  der  beiden  Ele- 
mente. Betinden  sich  zwei  Elemente  unter  den  im  vorigen  Paragraphen 
angeführten  Bedingungen  im  Zustande  gleicher  Wertigkeit,  und  ist  nicht 
nur  ihr  endogenes,  sondern  auch  ihr  exogenes  Gesamtindukt  gleich,  so  gilt 
für  sie  auch  derselbe  Wert  von  n  und  also  nicht  nur  dieselbe  Kurvenschar, 
sondern  auch  ein  und  dieselbe  Kurve  aus  dieser  Schar. 

Für  solche  Fälle  gibt  Fig.  38  ein  Beispiel  des  gewaltigen  Einflusses, 
den  die  Stärke  der  allgemeinen  Beleuchtung  auf  den  Helligkeitsunterschied 
der  beiden  Elemente  haben  kann.  Angenommen,  es  sei  für  dieselben  die 
Kurvenschar  der  Fig.  37  gültig  und  der  gemeinsame  w-Wert  sei  0,2,  so  ist  die 
gemeinsame  Helligkeitskurve  die  am  rechten  Rande  der  Fig.  37  mit  0,2  be- 
zeichnete. Diese  Kurve  ist  auf  Fig.  38  allein  wiedergegeben.  Auf  der  Abszissen- 
achse entsprechen  wieder  gleichen  Abständen  gleiche  Verhältnisse  der  Reiz- 
werte,  und  es  sind  für  fünf  verschiedene  Stärken  der  Gesamtbeleuchtung  die 
fünf  Doppelordinaten  eingezeichnet,  welche  für  den  Fall  gelten,  dass  die  Licht- 


§45.    Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Ger.amtbeleuchtung.     189 

stärken  bzw.  Reizgrüßen  der  beiden  Elemente  sich  wie  1  :  4,6  verhalten. 
Durch  jeden  der  beiden  Punkte,  in  denen  eine  Doppel-Ordinatenhnie  die 
Kurven  schneidet  ist  eine  Isophane  (Linie  gleicher  Helhgkeit)  bis  zu  der 
linkerseits  angegebenen  FarbenUnie  gezogen,  auf  welcher  jetzt  die  beiden 
Helligkeiten  abzulesen  sind.  Der  Abstand  der  beiden  Isophanen  vonein- 
ander entspricht  also  dem  gesuchten  Helligkeitsunterschiede. 


4M- 
0.9. 
0.8 


0.7 

0.6- 

0.5. 


0.^ 


Fig.  38. 


o 


.0.1 


4.0 


A         i         i        'l        ^ 

^ovt  S\%  isb  -m    bt 


jL  JL   J-    ±    ±     i 
3Z    U      3      ^      i 


S    -^    8    -/6    32    (,i   m  i^  y^i  11^^ 


Die  den  fünf  Beleuchtungsstärken  entsprechenden  Paare  der  Reizstärken 


und  Helligkeiten  sind  folgende: 


Reizstärken : 

Helligkeiten :          HeJ 

ligkeitsunter 

0,25  u.        0,4 

0,3520  u.   0,3625 

0,0105 

\          »         1,6 

0,4000   =>    0,4315 

0,0315 

4         »         6,4 

0,5200   »    0,5740 

0,0540 

46         *       25,6 

0,6727   ^    0,7089 

0,0362 

64         *     102,4 

0,7600   >    0,7770 

0,0170 

190 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Der  gegenseitige  Abstand  der  einem  Reizpaar  entsprechenden  Ordinaten 
ist  bei  allen  Reizpaaren  gleich,  während  der  Höhenunterschied  der  zu- 
gehörigen Isophanen  bei  jedem  Reizpaar  ein  anderer  ist,  am  größten  bei 
den  Reizstärken  4  und  6,4,  am  kleinsten  bei  den  beiden  absolut  kleinsten 
(0,25  und  0,40)  und  absolut  größten  Reizstärken  (64  und  102,4). 


^.0. 


0.9\ 

0.8. 

O.J. 

0.6. 

OS. 

0.^. 


03- 


0.%- 


OJ- 


0 


Fig.  39. 


0 


4       -1       -1       1      -i 
■iOl>i   $i%    2Sh  -12«  <.♦ 


0.3 


-/     2    9     S    -f^    31    ^^  ns  25i>  613  ^019 


10 


Denken  wir  uns  das  Ordinatenpaar  mehr  und  mehr  nach  links  ver- 
schoben, so  dass  die  beiden  Reizstärken  bei  gleichbleibendem  Verhältnis 
immer  kleiner  werden,  so  sinkt  schließlich  der  Unterschied  der  beiden 
Helligkeiten  auf  Null  herab,  und  beide  entsprechen  dann  der  unter  den 
hier  angenommenen  Umständen  geltenden  Eigenfarbe  des  Auges  von  der 
Helligkeit  0,333.  Denken  wir  uns  dagegen  das  Ordinatenpaar  immer  weiter 
nach  rechts  verschoben,  so  dass  die  beiden  Reizstärken  mehr  und  mehr 
wachsen,  so  wird  der  Helligkeitsunterschied  schließlich  ebenfalls  Null,  und 
beide  Helligkeiten  entsprechen  der  unter  den  gegebenen  Umständen  geltenden 


§  45.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     191 

maximalen  Helligkeit  0,8.  Die  grüßten  Helligkeitsunterschiede  aber  ergeben 
sich,  wenn  das  Ordinatenpaar  die  Kurve  in  der  Gegend  ihres  steilsten 
Ansteigens  schneidet. 

Ganz  dasselbe  gilt  auch  für  alle  diejenigen  Kurven  aus  der  durch 
Fig.  37  vertretenen  Kurvenschar,  welche  über  der  Linie  der  unveränder- 
lichen Helligkeit  verlaufen,  deren  n-Wert  also  kleiner  als  0,666  ist. 

Wenn  die  beiden  Reizstärken  eines  Paares  sich  nicht  wie  5:8,  son- 
dern z.  B.  wie  50:51  oder  gar  wie  100:101  verhielten,  so  lägen  ihre 
Ordinalen  einander  so  nahe,  dass  sie  in  unserer  Zeichnung  zusammenfallen 
würden.  Denken  wir  uns  ein  solches  Ordinatenpaar  wieder  entlang  der 
ganzen  Abszissenachse  verschoben,  so  würde  innerhalb  der  Strecken,  wo 
die  Heliigkeitskurve  nahezu  geradlinig  ansteigt,  der  kleine  Unterschied  der 
beiden  Ordinatenwerte  ein  nahezu  konstanter  bleiben ,  und  also  auch  der 
Unterschied  der  beiden  zugehörigen  Helligkeiten  nahezu  unabhängig  von 
der  absoluten  Größe  der  beiden  Reizstärken  sein.  Unter  solchen  besonderen 
Umständen  würde  also  der  Helligkeitsunterschied  sich  sehr  angenähert  so 
verhalten,  wie  es  das  FECHNER'sche  Gesetz  fordert. 

Als  ein  Beispiel  der  Fälle,  wo  für  die  beiden  Elemente  der  n-Wert 
größer  ist  als  0,666,  möge  Fig.  39  dienen.  Die  hier  abgebildete  Kurve 
ist  wieder  derselben  Schar  entnommen  und  zwar  ist  sie  identisch  mit 
derjenigen  Kurve  der  Fig.  37,  für  welche  der  n-Wert  =  0,8  ist.  Die 
fünf  Reizstärkenpaare,  deren  Ordinatenpaare  abgebildet  sind,  haben  wieder 
die  oben  angegebenen  Werte.  Der  größte  Unterschied  der  beiden  Hellig- 
keiten oder  wie  wir  hier  sagen  dürfen,  Dunkelheiten,  entspricht  jetzt  der 
Gegend  der  Kurve,  wo  sie  am  steilsten  abfällt. 

Die  Zahlen  werte  sind  folgende: 


Reizstärken: 

Helligkeiten: 

Helligkeitsunterschiede 

0,25  u. 

0,4 

0,3280  u.   0,3250 

0,0030 

1 

1,6 

0,3143   »    0,3053 

0,0090 

4 

6,4 

0,2800   V    0,2645 

0,0155 

16 

25,6 

0,2364   >    0,2253 

0,0111 

64 

102,4 

0,2115   ^    0,2074 

0,0041 

Denken  wir  uns  wieder  das  Ordinatenpaar  nach  links  verschoben,  so 
nimmt  der  Unterschied  der  beiden  Helligkeiten  ab  und  dieselben  nähern 
sich  mehr  und  mehr  der  oben  erwähnten  Helligkeit  der  Eigenfarbe,  wäh- 
rend bei  der  Verschiebung  nach  rechts  der  Helligkeitsunterschied  ebenfalls 
immer  kleiner  wird,  aber  die  beiden  Helligkeiten  oder  Dunkelheiten  der 
unter  den  gegebenen  Bedingungen  kleinstmöglichen  Helligkeit  (0,2)  oder 
größtmöglichen  Dunkelheit  immer  näher  kommen. 

In  Rücksicht  darauf,  dass  nach  dem  FECHNER'schen  Gesetze  bei  gleich- 
bleibendem   Verhältnis    zweier    Reizstärken    und    gleicher    »Erregbarkeit«,     wie 


192  Lehre  vom  Lichtsinn. 

solche  hier  vorausgesetzt  wurden,  der  Unterschied  der  beiden  HelHgkeitcn 
von  der  absoluten  Größe  der  Reizstärken  unabhängig  sein  sollte,  war  es  not- 
wendig, wenigstens  an  einem  Beispiele  zu  zeigen,  wie  innerhalb  eines  gewissen 
engeren  Gebietes  der  Reizstärken  und  unter  bestimmten  Induktionsbedingungen 
die  theoretisch  abzuleitenden  Helligkeitsunterschiede  sich  angenähert  so  verhalten 
können,  wie  es  das  FECHXER'sche  Gesetz  unter  allen  im  Bereiche  des  normalen 
Sehens  liegenden  Umständen  fordert. 

§  46.  Verschiedenheit  der  Helligkeit  bei  gleicher  Licht- 
stärke, und  Gleichheit  der  Helligkeit  bei  verschiedener  Licht- 
stärke zweier  Außendinge.  Aus  den  in  Figg.  34 — 37  dargestellten, 
theoretisch  abgeleiteten  Kurven  folgt,  dass  zwei  mit  somatischen  Sehfeld- 
elementen von  gleicher  Empfänglichkeit  und  gleicher  Wertigkeit  gesehene 
Stellen  des  Außenraumes 

a)  trotz  gleicher  Lichtstärke  sehr  verschieden  hell, 

b)  trotz   sehr  verschiedener  Lichtstärke   gleich   hell  gesehen   werden 
können, 

zwei  Sätze,  die  mit  besonderer  Deutlichkeit  die  weitgehende  Unabhängigkeit 
der  simultanen  Helligkeiten  des  psychischen  Sehfeldes  von  den  Lichtstärken 
des  Gesichtsfeldes  zum  Ausdruck  bringen.  Dementsprechend  lässt  sich  auch 
an  diesen  Sätzen  die  Übereinstimmung  der  Thatsachen  mit  der  Induktions- 
theorie besonders  eindringlich  dartun. 

a)  Denken  wir  uns  bei  gegebenem  Gesichtsfelde  und  gegebenem  Zustande 
aller  Teile  des  somatischen  Sehfeldes  zwei  Elemente  der  Sehsubstanz  von 
gleicher  Wertigkeit  und  gleichem   endogenen    Gesamtindukt,    so    wird    für 

beide   derselbe  Wert  von    ^  und  dieselbe  Kurvenschar  gelten.    Wäre  dann 

auch  der  D-Reiz  r  für  beide  Elemente  gleich  groß,  so  könnte  doch  ihr 
exogenes  Indukt  eine  verschiedene  Größe  haben,  was  von  der  Größe  und 
Verteilung  der  gleichzeitig  wirkenden  D-Reize  in  der  Umgebung  jedes  Ele- 
mentes abhängt.  Für  beide  Elemente  wird  also  der  Wert  von  (5,  von  r 
und  von  J^  derselbe,  dagegen  der  Wert  von  n  ein  verschiedener  sein  können, 
und  demgemäß  jedem  der  beiden  Elemente  eine  andere  Kurve  der  gegebenen 
Kurvenschar  entsprechen.  Da  die  Punkte,  in  denen  die  zum  jeweiligen 
Reize  r  gehörige  Ordinatenlinie  diese  beiden  Kurven  schneidet,  auf  ver- 
schiedenen Isophanen  liegen,  so  ergiebt  sich  aus  dem  gegenseitigen  Abstand 
der  letzteren  der  Unterschied  der  beiden  Helligkeiten,  in  denen  die  beiden 
bezüglichen  Stellen  des  Außenraumes  erscheinen. 

Der  Forderung  gleicher  Wertigkeit  und  gleichen  endogenen  Induktes 
werden,  wie  wir  sahen  (§  44  S.  184),  insbesondere  zwei  symmetrisch  zur 
Stelle  des  direkten  Sehens  und  nicht  allzuweit  von  derselben  abliegende 
Stellen  des  somatischen  Sehfeldes  dann  genügen,  wenn  beide  samt  ihren 
Umgebungen  zuvor  beim  Sehen  einige  Zeit  hindurch  in   gleicher  Weise  in 


§  46.   Verschiedenheit  der  Helligkeit  bei  gleicher  Lichtstärke.  193 

Anspruch  genommen  waren,  wie  dies  bei  zwangloser  Betrachtung  einer 
genügend  ausgebreiteten  und  überall  gleich  lichtstarken  Fläche  der  Fall  ist. 
Auch  die  Lichtempfänglichkeit  zweier  solcher  Stellen  wird  dann  dieselbe  sein 
können,  so  daß  bei  einer  nachfolgenden  beliebigen  gleichstarken  retinalen 
BeHchtung  derselben  auch  der  D-Reiz  r  für  die  bezüglichen  Elemente  der 
Sehsubstanz  beiderseits  der  gleiche  sein  wird.  Dabei  kann  das  exogene 
Indukt  und  also  auch  n  und  n^  für  beide  Stellen  von  sehr  verschiedener 
Größe  sein,  wenn  die  Umgebung  der  einen  Stelle  des  Gesichtsfeldes  bezw. 
ihres  Netzhautbildes  von  relativ  großer,  die  Umgebung  der  anderen  aber 
von  relativ  kleiner  Lichtstärke  ist.  Wir  haben  es  dann  auf  der  Kurventafel 
mit  nur  einer  Ordinate,  aber  mit  zwei  weit  auseinander  laufenden  Kurven 
zu  tun,  deren  eine  oberhalb,  die  andere  unterhalb  der  Linie  unveränder- 
licher Helligkeit  gelegen  ist. 

Dass  unter  solchen  Umständen  zwei  symmetrisch  zum  Blickpunkte  lie- 
gende Stellen  des  Außenraumes  trotz  ihrer  gleichen  Lichtstärke  gleichzeitig 
in  verschiedener  tonfreier  Farbe  und   Helligkeit   gesehen    werden    können, 
haben  schon  (§  26  S.  116)  die  auf  Taf.  H  befindlichen  Fig.  1,  2  und  3  ge- 
zeigt.     Auf  denselben    erscheinen   zwei   kleine  Felder  von  gleicher   Licht- 
stärke lediglich  infolge  ihrer  verschiedenen  Umgebung  auch  dann  verschieden 
hell,   wenn   wir  in  der  schon   damals  beschriebenen  Weise   dafür   gesorgt 
haben,  dass  die  beiden  bezüglichen  Stellen  des  somatischen  Sehfeldes  sich 
unmittelbar  vor   dem  Sichtbarwerden  der   Figuren   in   gleichem   Zustande 
befinden.     Allerdings  handelt  es  sich  in  diesen  Fällen  nicht  bloß  um  zwei 
Elemente,    sondern  jederseits  um  eine  zusammenhängende  Gruppe   von 
Elementen,  die  sich  jedoch  sämtlich  unmittelbar  vor  dem  Sichtbarwerden  der 
Figur  angenähert  in  demselben  Zustande  befinden.  Überdies  entspricht  jedem 
einzelnen  Elemente  der  einen  Gruppe  ein  symmetrisch  gelegenes  der  anderen, 
und  für  jedes  solche  Elementenpaar  gilt  ganz  besonders  das  oben  Geforderte. 
Immerhin   erscheinen   in   Fig.   1    und  3    (Taf.  H)    die    Helligkeiten    der 
beiden  grauen  Felder  trotz  der  großen  Verschiedenheit  ihrer  Umgebungen 
noch  keineswegs  so  verschieden,    wie  dies  unter   noch  günstigeren  Bedin- 
gungen der  Fall  sein  könnte. 

Die  in  Fig.  35  dargestellte,  einem  Fall  allgemeiner  Unterwertigkeit 
entsprechende  Kurvenschar  zeigt,  dass  demselben  Abszissenwerte  auf  der 
zugehörigen  Ordinatenlinie  als  einer  Linie  gleicher  Lichtstärke  außerordentich 
verschiedene  Helligkeiten  entsprechen  können,  um  so  mehr,  je  stärker  die 
Gesamtbeleuchtung  und  der  zu  ihr  proportionale  Wert  von  r  ist.  In  der 
That  ist  es  möglich,  von  zwei  kleinen,  gleich  lichtstarken  Feldern,  das  eine 
noch  viel  dunkler  und  gleichzeitig  das  andere  noch  viel  heller  zu  sehen, 
als  wie  dies  bei  Betrachtung  der  Fig.  1  (Taf.  H)  der  Fall  ist;  man  braucht 
nur  die  Felder  noch  kleiner  und  die  Verschiedenheiten  der  Lichtstärken 
ihrer  Umgebungen  noch  größer  zu  machen,  als  in  jener  Figur. 

Hering,  Lichtsinn.  \  3 


194 


Lehre  vom  Lichtsinn. 
Fig.  40.  Fig.  4: 


§  46.   Verschiedenheit  der  Lichtstärke  bei  gleicher  HeUigkeit. 


195 


Das  Vorurteil,  nach  welchem  die  Helligkeit  einer  Gesichtsfeldstelle  bei 
derselben  »Erregbarkeit«  des  Sehorganes  im  wesentlichen  nur  von  der 
Lichtstärke  abhängen  soll,  und  etwaige  Abweichungen  von  diesem  vermeint- 
lichen Gesetz  als  etwas  Nebensächliches  zu  gelten  haben,  beherrscht  noch 
immer  die  Darstellungen  der  Lehre  vom  Lichtsinn.  Deshalb  sei  hier  noch 
eine  Einrichtung  beschrieben,  bei  der  man  mit  zwei  gleichbeschaffenen 
(gleich  »erregbaren«)  somatischen  Sehfeldstellen  gleichzeitig  die  eine  von 
zwei  gleich  lichtstarken  Gesichtsfeldstellen  schwarz,  die  andere  weiß  zu 
sehen  vermag. 

Eine  90  cm  lange,  vertikal  stehende  Holzleiste  {H  Fig.  40)  wird  von 
einem  eisernen  Stativ  gehalten,  an  dem  sie  in  vertikaler  Richtung  verschieb- 
lich ist.     Sie  trägt  entlang  ihrem  mittleren  Dritteil  ein  30  cm   langes,  mit 


Fig.  42. 


schwarzem  Samt  ausgekleidetes,  im  Querschnitt  quadratisches  (30  X  30  mm) 
Dunkelrohr,  das  am  unteren  Ende  durch  einen  mit  kleinem  Loch  (s.  u.) 
versehenen  geschwärzten  Deckel  geschlossen  ist.  Dieses  Dunkelrohr  ist  an 
der  Leiste  derart  angebracht,  dass  die  Ebene  einer  seiner  senkrechten 
Wände  die  Holzleiste  in  deren  Längsmiltellinie  rechtwinkelig  schneidet  und 
mit  der  Längsmittelebene  des  ganzen  Apparates  zusammenfällt,  so  dass  sich 
also  das  Dunkelrohr  auf  der  einen  Seite  dieser  Längsmittelebene  befindet. 
Die  Unterfläche  seines  eben  erwähnten  Deckels  setzt  sich  nach  der  anderen 
Seite  hin  in  die  Fläche  eines  horizontalen  Kartons  (9x9  cm)  fort,  der 
auf  seiner  oberen  Fläche  mit  mattweißem  Barytpapier  überzogen  und  in 
Fig.  40  mit  C2  bezeichnet  ist.     Sowohl  in  diesem  Karton   als   im   unteren 

43* 


196  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Deckel  des  Dunkelrohres  befindet  sich  in  1 2,5  mm  Abstand  von  der  Längs- 
mittelebene des  Apparates  ein  rundes  Loch  von  3  mm  Durchmesser. 

Nach  oben  mündet  das  Dunkelrohr  auf  der  schwarzen  Hälfte  eines 
Kartons  (Ci  Fig.  40  u.  41)  von  8  X  H  cm  Fläche  in  einem  quadratischen 
Ausschnitte  {Ä  Fig.  42)  von  24  mm  Seitenlänge.  Ein  ganz  gleicher  Aus- 
schnitt befindet  sich  in  der  anderen  weißen  Hälfte  des  Kartons,  so  dass 
beide  Ausschnitte  symmetrisch  zu  beiden  Seiten  der  Längs  mittelebene  des 
Apparates  liegen  und  durch  einen  8  mm  breiten  schwarzen  Steg  voneinander 
getrennt  sind.  Im  Mittelpunkte  dieses  Steges  befindet  sich  eine  deutliche 
weiße  Marke  (Fig.  42). 

An  ihrem  oberen  Ende  trägt  die  Holzleiste  an  einem  kurzen  Stiele 
einen  horizontalen  Metallring,  in  welchen  eine  GlasHnse  (L)  eingelegt  werden 
kann,  und  dessen  Mittelpunkt  lotrecht  30  cm  über  der  soeben  erwähnten 
Marke  des  Steges  Hegt.  Der  Beobachter  hat  diejenige  Zerstreuungslinse  zu 
wählen,  welche  seinen  Nahepunkt  auf  60  cm  Abstand  vom  Auge  bringt,  so 
dass  er  zwar  die  beiden  Löcher  im  unteren  Deckel  des  Dunkelrohres  und 
im  Karton  G2  scharf  sehen  kann,  aber  nur  unscharf  die  weiße  Marke  zwi- 
schen den  quadratischen  Ausschnitten  des  oberen  Kartons  Q.  Fig.  41  zeigt 
die  ganze  Vorrichtung  in  einem  schematischen  Querschnitte. 

30  cm  unterhalb  des  Kartons  G2  befindet  sich  eine  Metallplatte  P 
(7x10  mm),  welche  mit  Hilfe  eines  bis  in  die  mittle  Hübe  des  Apparates 
reichenden  und  dort  mit  einem  Handgriff  {G  Fig.  40)  versehenen  dünnen 
Stabes  um  eine  horizontale  Achse  gedreht  werden  kann.  Auf  diese  Metall- 
platte wird  ein  mattes  graues  Papier  von  entsprechender  Größe  aufgelegt, 
dessen  Lichtstärke  durch  Änderung  seiner  Neigung  gegen  das  durch  ein 
Fenster  einfallende  Himmelslicht  innerhalb  ziemlich  weiter  Grenzen  variiert 
werden  kann. 

Bringt  man  ein  Auge  nahe  an  den  Ring,  und  fixiert  die  wegen  der  Linse 
verwaschen  erscheinende  Marke,  so  sieht  man  einerseits  die  tiefschwarz  er- 
scheinende quadratische  ()ffnung  des  Dunkelrohres  umrahmt  von  der  schwar- 
zen Hälfte  des  oberen  Kartons,  auf  der  anderen  Seite  die  quadratische 
Öffnung  der  weißen  Kartonhälfte  und  durch  diese  Öffnung  hindurch  einen 
Teil  des  unteren  weißen  Kartons.  Rechts  und  hnks  vom  Stege  erscheinen 
scharf  umrissen  die  beiden  kleinen  Löcher,  deren  eines  sich  im  unteren 
Deckel  des  Dunkelrohres,  das  andere  in  dem  unteren  Karton  G2  befindet. 
Liegt  jetzt  auf  der  unteren  Metallplatte  ein  graues  Papier  von  passender 
Lichtstärke,  so  erscheint  das  vom  tiefen  Schwarz  des  Dunkel- 
rohres umgebene  Loch  weiß,  das  vom  Weiß  des  unteren  Kar- 
tons umgebene  Loch  schwarz,  obwohl  beide  Löcher  ganz 
dasselbe  Licht  des  unter  ihnen  liegenden  grauen  Papieres 
empfangen.  Hatte  ich  an  einem  hellen  Tage  den  Apparat  in  der  Nähe 
eines  großen  hohen  Fensters  aufgestellt  und  ein  mattgraues  Papier,  dessen 


§  46.   Gleichheit  der  Helligkeit  bei  verschiedener  Lichtstärke.  197 

Remissionsvermügen  ^^seo  von  der  des  weißen  Barytpapiers  betrug,  auf 
die  horizontal  eingestellte  Metallplatte  gelegt,  so  sah  ich  das  eine  Loch 
ebenso  schwarz  wie  das  auf  dem  oberen  Karton  befindliche  schwarze  Woll- 
papier (von  6/360  Remissionsvermügen),  das  andere  Loch  ebenso  weiß,  wie 
das  daselbst  befindliche  weiße  Barytpapier.  Um  die  beiden  Stellen  des 
somatischen  Sehfeldes,  auf  welche  die  Lochbilder  fallen,  in  gleiche  Stim- 
mung zu  bringen,  bedeckt  man  jn  der  schon  §  26  S.  118  beschriebenen 
Weise  den  oberen  Karton  mit  zwei  in  der  Längsmittelebene  des  Apparates 
zusammenstoßenden  weißen  Blättern,  fixiert  eine  am  Rande  des  einen 
Blattes  befindliche  Marke,  welche  genau  über  die  Marke  des  Steges  zu 
liegen  kommt,  und  zieht  dann  die  Deckblätter  nach  rechts  und  links 
zur  Seite. 

Ich  konnte  also  mit  Hilfe  der  beschriebenen  Vorrichtung  von  zwei 
kleinen  symmetrisch  zum  Längsmittelschnitt  auf  der  Netzhaut  abgebildeten 
ganz  gleich  lichtstarken  Feldern  das  eine  so  hell  wie  ein  weißes,  und  das 
andere  so  dunkel  wie  ein  schwarzes  Papier  sehen,  deren  Lichtstärken  sich 
wie  1  :  60  verhielten.  Davon,  daß  auf  der  Netzhaut  die  Lichtstärken  der 
beiden  Lochbilder  infolge  des  falschen  Lichtes  (vgl.  §  33)  nicht  ganz  gleich 
sind,  sondern  das  schwarz  erscheinende  Loch  im  Weiß  sogar  etwas  licht- 
stärker ist,  als  das  weiß  erscheinende  Loch  im  Schwarz,  habe  ich  hier 
abgesehen. 

Um  eine  mehrfache  Verwendbarkeit  des  Apparates  zu  ermöglichen,  wurde 
die  untere  Metallplatte  in  ähnlicher  Weise,  wie  dies  an  dem  in  Fig.  22  (§  27) 
abgebildeten  Apparate  beschrieben  wurde,  in  zwei  Hälften  geteilt,  die  durch  einen 
Riegel  zusammengehalten  sind,  nach  dessen  Lösung  jede  Hälfte  unabhängig  von 
der  anderen  durch  einen  Handgriff  (O  Fig.  40)  um  eine  horizontale  Achse  ge- 
dreht werden  kann.  Hierdurch  wird  ihre  Lage  relativ  zur  Einfallsrichtung  des 
Himmelslichtes  und  zugleich  die  Lichtmenge  verändert,  welche  von  dem  auf- 
liegenden Papier  ins  Auge  geschickt  wird. 

b)  Auch  der  zweite  oben  angeführte  wichtige  Satz,  nach  welchem  zwei 
Gesichtsfeldstellen  von  sehr  ungleicher  Lichtstärke  mit  zwei  gleich  be- 
schaffenen Stellen  des  somatischen  Sehfeldes  gleich  hell  gesehen  werden 
können,  lässt  sich  mit  der  oben  beschriebenen  Vorrichtung  noch  auffallender 
beweisen,  als  mit  dem  in  Fig.  22  (§  27)  abgebildeten  Apparate.  Statt  die 
ganze  untere  Metallplatte  mit  dem  grauen  Papier  zu  bedecken,  bedeckt  man 
die  eine,  auf  der  Seite  des  Dunkelrohres  liegende  Hälfte  mit  einem  matten 
schwarzen,  die  andere  mit  einem  passend  ausgewählten  malten  weißen 
Papier,  was  freilich  voraussetzt,  dass  man  eine  Reihe  weißer  und  schwarzer 
Papiere  von  gut  abgestuftem  Remissionsvermögen  zur  Verfügung  hat.  Das 
benutzte  weiße  Papier  muss  jedenfalls  lichtschwächer  sein  als  das  weiße 
Normalpapier,  in  welchem  sich  das  Loch  befindet,  das  schwarze  kann  eines 
der  käuflichen  mattschwarzen  Papiere  sein,  oder  es  kann  an  seiner  Stelle 
auch   eine  dicht  berußte  Fläche  benutzt  werden.     Ich  wählte  z.  B.  gegen 


198  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Mittag  eines  wolkenlosen  Tages  ein  kaum  ins  Grau  spielendes  mattweißes 
Papier,  dessen  Remissionsvermögen  sich  zu  dem  des  weißen  Barytpapieres 
wie  282:360  verhielt,  und  ein  schwarzes  Wollpapier  von  Yseo»  '^^^  sah 
beide  Löcher  als  ein  beiderseits  gleich  helles  Grau,  obwohl 
die  Lichtstärke  des  einen  Loches  47mal  größer  war,  als  die 
des   anderen. 

Es  kommt  bei  dem  letzteren  Versuchte  sehr  viel  darauf  an,  dass  die 
Ebene  der  beiden  Kartonflächen  und  der  Metallplatte  sämtlich  horizontal, 
und  dass  sie  alle  drei  gleich  stark  beleuchtet  sind.  Man  erreicht  letzteres, 
wenn  der  Apparat  in  einem  passend  gewählten  Abstände  vor  einem  hohen 
Fenster  aufgestellt  wird,  das  eine  weder  durch  Bäume  noch  durch  Häuser 
behinderte  Aussicht  auf  den  Himmel  gestattet. 

§  47.  Die  Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von 
der  Gesamtbeleuchtung  bei  ungleichem  D-Reize  und  ungleichem 
exogenen  Gesamtindukt.  So  oft  es  sich  um  die  Deutlichkeit  des  Sehens 
tonfreier  Bilder  (Zeichnungen,  Lithographien,  Kupferstiche,  Photographien), 
um  Messungen  der  Sehschärfe,  um  photometrische  Bestimmungen  u.  s.  w. 
handelt,  kommen  die  Helligkeitsunterschiede  nahe  benachbarter  oder  einander 
unmittelbar  berührender  Stellen  des  psychischen  Sehfeldes  und  zwar  ins- 
besondere seines  zentralen  Teiles  in  Betracht.  Befanden  sich  unmittelbar 
vor  Empfang  des  Netzhautbildes  der  genannten  Außendinge  zwei  zu  be- 
nachbarten, aber  ungleich  lichtstarken  Stellen  gehörige  Elemente  des  kleinen 
fovealen  Bezirkes  des  somatischen  Sehfeldes  im  Zustande  gleicher  Empfäng- 
lichkeit, gleicher  Unterwertigkeit  und  gleichen  endogenen  Induktes,  so  haben 
wir  den  in  §  44  S.  186  erwähnten  Fall  vor  uns,  wo  für  zwei  Elemente 
dieselbe  Kurvenschar  gilt,  jedoch  sowohl  der  D-Reiz  als  auch  der  Wert 
von  n  verschieden  ist. 

Wollen  wir  wieder  zur  Veranschaulichung  der  Abhängigkeit  der  Hellig- 
keitsunterschiede von  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung  die  Kurvenschar 
der  Fig.  43  (einer  Kopie  der  Fig.  37)  benutzen,  so  haben  wir  es  mit  zwei, 
den  beiden  Elementen  e  und  e^  zugehörigen  Kurven  und  mit  zwei,  den 
beiden  D-Reizen  r  und  r^  entsprechenden  Ordinatenlinien  zu  tun,  welche 
letzteren  einen  bei  allen  möglichen  Stärken  der  Gesamtbeleuchtung  gleich- 
bleibenden gegenseitigen  Abstand  haben. 

Hierbei  sind  vier  Möglichkeiten  zu  unterscheiden: 

1.  die  eine  Kurve  liegt  über,  die  andere  unter  der  Linie  der  unveränder- 
lichen Helligkeit; 

2.  dem  einen  Elemente  entspricht  die  Linie  der  unveränderlichen  Helligkeit, 
dem  anderen   eine  ober-  oder  unterhalb  jener  Linie  liegende  Kurve: 

3.  beide  Kurven  liegen  über  der  Linie  der  unveränderlichen  Helligkeit: 

4.  beide  Kurven  liegen  unter  der  Linie  der  unveränderlichen  Helligkeit. 


§  47.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     199 


Für  die  ersten  zwei  Fälle  ergiebt  die  Betrachtung  der  Fig.  43  sofort, 
dass  der  Unterschied  der  den  Elementen  e  und  e,  entsprechenden  Hellig- 
keiten um  so  größer  sein  muss,  je  stärker  die  Gesamtbeleuchtung  des 
Gesichtsfeldes  bezw.  der  Netzhaut  ist.  Denn  der  Schnittpunkt  einer  Ordi- 
natenlinie  mit  einer  beliebigen  Kurve  der  Schar  hat  einen  um  so  größeren 
Abstand  von  der  Linie  der  unveränderlichen  Helligkeit,  je  weiter  die  Ordi- 

Fig.  43. 


0}sl 


4      f'     y      -/      -/      -/      /      ■/ 
■fCX9-    Sf%    aS6   fZ8    W   3Z    -fi      6 


^     /      ^      f 


<5    V6   3Z   6^  m  2S6  S1Z  iOhV- .. 


natenlinie  nach  rechts  liegt  d.  h.  je  größer  der  D-Reiz  ist,  zu  dem  die 
Ordinatenlinie  gehört.  Entspricht  also  einem  der  beiden  Elemente  die  Linie 
gleicher  Helligkeit  und  dem  anderen  eine  beliebige  Kurve,  so  bleibt  die  dem 
einen  Elemente  zugehörige  Helligkeit  bei  allen  Beleuchtungsstärken  dieselbe, 
während  die  dem  anderen  zugehörige  um  so  mehr  von  dieser  Helligkeit 
nach  oben  oder  nach  unten  abweicht,  je  stärker  die  Gesamtbeleuchtung 
ist.  Liegt  die  Kurve  des  einen  Elementes  über,  die  des  anderen  unter 
der    Linie    der    unveränderlichen    Helligkeit,    so   weicht    die    zur    ersteren 


200  Lehre  vom  Lichtsinn. 

gehörige  Helligkeit  um  so  mehr  nach  oben,  die  zur  anderen  gehörige 
gleichzeitig  um  so  mehr  nach  unten  von  der  Linie  der  unveränderlichen 
Helligkeit  ab,  je  stärker  die  Gesamtbeleuchtung.  Mit  der  letzteren  wächst 
also  in  allen  drei  Fällen  der  fragliche  Helligkeitsunterschied. 

Nicht  so  einfach  verhält  es  sich  in  den  Fällen  3.  und  4.,  wo  die  Kurven 
beider  Elemente  oberhalb  oder  unterhalb  der  Linie  unveränderlicher  Hellig- 
keit gelegen  sind.  In  solchen  Fällen  wächst  zwar,  wenn  man  von  der 
schwächsten  Gesamtbeleuchtung  ausgeht,  der  Helligkeitsunterschied  zunächst 
auch  mit  der  Stärke  der  Gesamtbeleuchtung,  erreicht  aber  bei  einer  ganz 
bestimmten  Stärke  der  letzteren  ein  Maximum,  um  darüber  hinaus  wieder 
abzunehmen  bis  zu  jener  Beleuchtungsstärke,  wo  er  sich  praktisch  genommen 
nicht  mehr  änd^ert,  weil  beide  Kurven  bereits  ihre  Asymptoten  nahezu  er- 
reicht haben.  Mit  Hilfe  unserer  Helligkeitsformel  (S.  172)  lässt  sich  dies 
leicht  dartun,  wenn  man  für  ein  gegebenes  Verhältnis  zwischen  den  zu 
e  und  ßj  gehörigen  D-Reizwerten  die  entsprechenden  Helligkeiten  bei  ver- 
schiedenen Stärken  der  Gesamtbeleuchtung  berechnet.  Liegen  beide  Kurven 
über  der  Linie  der  unveränderhchen  Helligkeit,  so-  kommt  dem  stärker 
belichteten  Elemente  der  kleinere  Wert  von  n  zu;  umgekehrt  verhält  es 
sich,  wenn  beide  Kurven  unterhalb  jener  Linie  liegen. 

Angenommen  dem  Elemente  e  entspräche  die  zum  w-Werte  0,2,  dem 
Elemente  e,  die  zum  w-Werte  0,4  gehörige  Kurve,  und  die  D-Reize  der  beiden 
Elemente  verhielten  sich  wie  1:4.  Wäre  unter  solchen  Umständen  der  D-Reiz 
für  e  gleich  2,  der  D-Reiz  für  e^  gleich  V2?  so  entspräche  dem  Elemente  e 
die  Helligkeit  0,45,  dem  Elemente  e^  die  Helligkeit  0,354,  und  der  Unterschied 
beider  HeUigkeiten  wäre  gleich  0,096.  Wäre  der  D-Reiz  für  e  gleich  8,  für 
ßj  gleich  2,  so  entspräche  ersterem  die  Helligkeit  0,6,  letzterem  die  Helligkeit 
0,4,  und  der  Unterschied  betrüge  0,2.  Wäre  für  e  der  D-Reiz  gleich  32,  der 
D-Reiz  für  e^  gleich  8,  so  entspräche  ersterem  die  Helligkeit  0,7263,  letzterem 
die  HelHgkeit  0,4857,  und  ihr  Unterschied  wäre  0,2406.  Betrügen  die  beiden 
Reizwerte  128  und  3*2,  so  entsprächen  dem  die  Helligkeiten  0,7791  und  0,5579, 
und  der  Unterschied  0,2212;  der  letztere  wäre  also  bereits  wieder  kleiner  als 
er  bei  den  Reizwerten  32  und  8  war;  und  bei  noch  größerer  Stärke  der  Gesamt- 
beleuchtung müsste  er  sich  immer  mehr  dem  Unterschiede  0,2  nähern,  welcher 
durch  den  Abstand  der  beiden  Asymptoten  der  beiden  Kurven  gegeben  ist. 

Bei  photometrischen  Bestimmungen  handelt  es  sich  um  Verhältnisse 
zwischen  den  beiden  Lichtstärken ,  welche  dem  Verhältnis  1  :  1  viel  näher 
liegen,  als  das  soeben  beispielsweise  benutzte  Verhältnis  \  :  4.  Beim  Rechnen 
gewöhnt  man  sich,  die  verschiedenen  Verhältnisse  zwischen  zwei  Werten 
als  zwei  verschiedene  Größen  zu  nehmen  und  Verhältnisse  durch  Brüche 
auszudrücken.  Macht  man  dabei  den  kleineren  Wert  zum  Zähler,  den 
größeren  zum  Nenner,  so  lässt  sich  jedes  mögliche  Verhältnis  durch  einen 
echten  Bruch  bezeichnen,  und  es  hat  dann,    rechnerisch  genommen,   einen 

Sinn,  wenn  man  z.  B.  dem  Verhältnis      -  einen    größeren   Wert    beimisst, 

1  o 


§  47.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     201 

als   dem  Verhältnis  77—  •     Setzt    man    statt    des    kleineren    den    größeren 

1  Uü  ^ 

Wert  in  den  Zähler,  und  erhält  so  die  beiden  unechten  Brüche  —  und 

11  11' 

so  misst  man  dem  letzteren  einen  größeren  Wert  bei  als  dem  ersteren. 
Im  Grunde  genommen  wird  an  den  beiden  Verhältnissen  als  solchen  durch 
die  verschiedene  Ausdrucksweise  nichts  geändert.  Nur  die  Art  unseres 
Rechnens  nötigt  dazu,  Verhältnisse  als  Größen  in  die  Rechnung  ein- 
zusetzen. Demgemäß  will  ich,  wenn  die  beiden,  für  die  Elemente  e  und  e^ 
in  Betracht  kommenden  Lichtstärken  sich  z.  B.  in  einem  Falle  wie  1  :  4 
im  andern  wie  99:100  verhalten,  ihr  Verhältnis  letzterenfalles  als  das 
größere  bezeichnen,  indem  ich  die  kleinere  Lichtstärke  als  den  Zähler  eines 
Bruches  nehme. 

Je  »größer«  das  Verhältnis  der  für  zwei  Elemente  von  gleicher  Empfäng- 
lichkeit, gleicher  Wertigkeit  und  gleichem  endogenen  Gesamtindukt  geltenden 
Lichtstärken  ist,  desto  näher  liegen  sich  die  zu  den  beiden  Reizwerten 
dieser  Elemente  gehörigen  Ordinatenlinien.  Schon  beim  Verhältnis  50  :  51 
würden  diese  beiden  Linien  in  der  Zeichnung  (Fig.  43)  zusammenfallen,  es 
sei  denn,  dass  wir  dieselbe  nach  einem  entsprechend  großen  Maßstabe  aus- 
führen wollten. 

Ähnlich  verhält  es  sich  aber  auch  mit  den  beiden  Helligkeitskurven, 
welche  unter  den  hier  angenommenen  Umständen  zu  den  beiden  Sehfeld- 
elementen gehören  würden.  Dem  vom  stärkeren  D-Reize  getroffenen  Ele- 
mente e  entspricht  wieder,  wie  in  dem  vorhin  näher  besprochenen  Falle,  der 
kleinere  Wert  von  n',  aber  für  das  schwächer  belichtete  Element  e^  ist  jetzt 
der  7i-Wert  nur  wenig  kleiner,  seine  Helligkeitskurve  liegt  also  der  Kurve 
des  Elementes  e  sehr  nahe.  Die  beiden  Kurven  fallen,  sobald  der  Unter- 
schied der  beiden  n-Werie  zu  klein  wird,  in  der  Zeichnung  ebenfalls  zu- 
sammen, wenngleich  theoretisch  genommen  die  Kurve  des  Elementes  e 
immer  höher  liegen  muss  als  die  des  Elementes  e^.  Liegen  aber 
die  Helligkeitskurven  der  beiden  Elemente  einander  so  nahe,  dann  gilt 
für  die  beiden  Elemente  sehr  angenähert  das,  was  in  §45,  S.  191 
für  den  Fall  auseinandergesetzt  wurde,  wo  wirklich  nur  eine 
einzige  Kurve  in  Betracht  kam  und  das  Verhältnis  zwischen 
den  D-Reizen  der  beiden  Elemente  dem  Verhältnisse  1  :  1  eben- 
falls sehr  angenähert  war. 

So  führt  unsere  Betrachtung  zu  dem  wichtigen  Ergebnis,  dass,  wenn 
das  Verhältnis  zwischen  den  D-Reizen  zweier  somatischer  Sehfeldelemente 
von  gleicher  Empfänglichkeit,  gleicher  Wertigkeit  und  gleichem  endogenen 
Gesamtindukt  sich  dem  Verhältnis  1  :  1  nähert,  der  Unterschied  der 
beiden,  diesen  Elementen  im  psychischen  Sehfelde  zukommen- 
den Helligkeiten  bei  einer  ganz  bestimmten  Stärke  der  Gesamt- 


202  Lehre  vom  Lichtsinn. 

beleuchtung  am  größten  ist,  wie  dies  in  §  45  auseinandergesetzt  wurde. 
Wäre  bei  diesem  Optimum  der  Gesamtbeleuchtung  dieser  Helligkeits- 
unterschied bereits  nur  bei  besonderer  Aufmerksamkeit  noch  merklich,  so 
würde  sowohl  eine  Verstärkung  als  eine  Abschwächung  der  Gesamtbeleuchtung 
ihn  vollends  unbemerklich  machen. 

Die  bloße  Anschauung  einer  Kurvenschar,  wie  sie  Fig.  43  beispiels- 
weise zeigt,  lehrt  uns,  dass  bei  einem  so  großen  Verhältnis  zwischen  den 
beiden  D-Reizen  der  bezügliche  Helligkeitsunterschied  um  so  größer  ist,  je 
steiler  die  auf  der  Zeichnung  als  einfache  Kurve  erscheinende  Doppelkurve 
an  der  Stelle  verläuft,  wo  sie  von  der  auf  der  Zeichnung  ebenfalls  nur 
einfach  erscheinenden  doppelten  Ordinatenlinie  durchkreuzt  wird.  Die 
Steilheit  der  Doppelkurve  aber  ist  bei  gleichen  w-Werten  um  so  größer,  je 
größer  die  Unterwertigkeit  der  beiden  Elemente  ist,  denn  um  so  tiefer  liegt 
der  Ausgangspunkt  der  Kurvenschar  auf  der  Ordinatenachse  (vgl.  z.  B. 
Fig.  35  und  37). 

Hieraus  folgt  also,  dass  das  Verhältnis  der  auf  die  beiden  Elemente  e 
und  ei  wirkenden  D-Reize  sich  dem  Verhältnis  1 :  1  um  so  mehr  nähern 
kann,  ohne  unbemerklich  zu  werden,  je  größer  die  Unterwertigkeit  der 
beiden  zugehörigen  Elemente  der  Sehsubstanz  ist,  mit  anderen  Worten, 
dass  die  Deutlichkeit  unseres  Sehens  einen  um  so  höheren  Grad 
erreichen  kann,  je  vorgeschrittener  die  sukzessive  Helladap- 
tion der  Sehsubstanz  ist. 

So  ergibt  sich  also  aus  unserer  Theorie  dasselbe,  was  schon  in  §  18 
aus  den  Tatsachen  der  täglichen  Erfahrung  abgeleitet  wurde,  dass  nämlich 
jedem  Anpassungszustande  eine  besondere,  für  diesen  Zustand  optimale 
Beleuchtungsstärke  entspricht,  bei  welcher  das  Auge  das  unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  mögliche  Maximum  der  Deutlichkeit  des  Sehens  er- 
reicht, und  dass  ein  für  schwache  Beleuchtung  angepasstes  Auge  bei  keiner 
und  also  auch  nicht  bei  der  für  seinen  Zustand  optimalen  Beleuchtungs- 
stärke so  hohe  Deutlichkeitsgrade  des  Sehens  erreicht,  wie  ein  für  stärkere 
Beleuchtung  angepasstes. 

Auch  ist  hier  auf  die  in  §  20  beschriebenen  Versuche  zu  verweisen, 
bei  denen  vor  jeder  Einzelbeobachtung  durch  längere  Betrachtung  einer 
Fläche  von  überall  gleicher  Lichtstärke  soweit  möglich  für  die  Gleichartig- 
keit des  zentralen  Sehfeldbezirkes  gesorgt  war,  und  deren  Ergebnisse  mit 
der  hier  entwickelten  Lehre  durchaus  in  Übereinstimmung,  mit  Fechner's 
Lehre  aber  zum  größeren  Teile  unverträglich  sind. 

§  48.  Über  die  durch  örtliche  Änderungen  der  Netzhaut- 
belichtung bedingten  Helligkeitsänderungen.  In  §  39  und  ff.  wurden 
die  von  den  Änderungen  der  allgemeinen  Netzhautbeleuchtung  abhängigen 
Helligkeitsänderungen  im  psychischen  Sehfelde  besprochen ;  jetzt  handelt  es 


§  48.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesamtbeleuchtung.     203 

sich  um  Helligkeitsänderungen,  welche  bei  örtlich  beschränkten  Beleuchtungs- 
änderungen der  Netzhaut  eintreten.  Ich  setze  dabei  wieder  ein  stabiles 
Gesichtsfeld  und  ein  ebensolches  somatisches  Sehfeld  voraus  (vgl.  §  39)  und 
nehme  also  an,  dass,  abgesehen  von  der  erwähnten  Belichtungsänderung 
alles  hier  in  Betracht  kommende  unverändert  bleibt. 

Die  Gesamtheit  aller  Elemente  der  Sehsubstanz  stellt  ein  derart  in  sich 
zusammenhängendes  System  dar,  dass  eine  Änderung  im  Zustande  eines 
Elementes  vermöge  der  induzierenden  Wechselwirkungen  auch  in  jedem 
anderen  Elemente  des  Systems  eine  Zustandsänderung  mit  sich  bringt. 
Dieselbe  besteht  in  einer  Größenänderung  seiner  Dissimilation  und  Assi- 
milation und  bedingt  sowohl  eine  Änderung  des  Unterschiedswertes  D-A^ 
als  des  Verhältnisses  D :  Ä.  Von  letzterem  hängt  die  (psychische)  Farbe 
und  Helligkeit  ab,  von  ersterem  das  (somatische)  Indukt,  welches  von  einem 
Element  im  anderen  induziert  wird. 

Wäre  uns  bei  belichteter  Netzhaut  für  jedes  Element  derselben  seine 
Belichtung  und  Empfänglichkeit  und  zugleich  die  Wertigkeit  des  ihm  zu- 
gehörigen Elementes  der  Sehsubstanz  gegeben,  so  wäre  damit  auch  für 
jedes  Element  der  letzteren  die  Größe  seiner  Dissimilation  und  Assimilation, 
das  Verhältnis  beider  zueinander  und  ihr  Unterschieds  wert  gegeben. 

Es  gilt  nun,  mit  einem  gegebenen  ersten  Gesamtzustand  des  Systems 
den  zweiten  zu  vergleichen,  welcher  durch  veränderte  Belichtung  eines 
Teiles  der  Netzhaut  herbeigeführt  wird. 

Bestände  das  System  nur  aus  zwei  Elementen,  so  ließe  sich  ebenfalls 
ein  Zustand  dieses  zweigliederigen  Systemes  als  gegeben  annehmen  und  mit 
demjenigen  Zustande  vergleichen,  in  welchen  die  beiden  Elemente  versetzt 
würden,  sobald  bei  gleichgebliebener  Wertigkeit  derselben  der  D-Reiz  r  in 
einem  der  beiden  geändert  wäre. 

Aus  der  für  den  soeben  angenommenen  Fall  bereits  in  §  38  ent- 
wickelten Gleichung  (5)  ergab  sich  (S.  166,  H),  dass  jeder  positive  (oder 
negative)  Zuwuchs  zum  Reize  r  des  einen  Elementes  e  einen  zu  diesem 
Ueizzuwuchs  proportionalen  negativen  (oder  positiven)  Zuwuchs  zum 
Indukte  i  desselben  Elementes,  dagegen  im  anderen  Elemente  e  einen 
proportionalen  positiven  (oder  negativen)  Zuwuchs  zum  Indukte  i  dieses 
Elementes  bedingt.  Hieraus  folgt,  dass  die  durch  einseitige  Reizänderung 
in  6  bedingte  Änderung  des  Unterschiedswertes  D-Ä  (in  e)  und  des  Unter- 
schiedswertes D-A  (in  e)  in  beiden  Elementen  aus  einem  mit  dem  Reiz- 
zuwuchs in  6  proportionalen  Zuwuchs  zu  diesem  Unterschiedswerte  besteht. 

Denn  in  e  ist  sowohl  der  Zuwuchs  zu  dr  als  auch  der  Zuwuchs  zu  i  pro- 
portional zum  Zuwuchs  von  r,  und  in  e  ist  zwar  V  unverändert  gebheben,  aber 
der  Zuwuchs  zu  i  proportional  zum  Reizzuwuchs  in  e.  Dass  der  i-Zuwuchs 
in  e  das  entgegengesetzte  Vorzeichen  hat  wie  der  r-Zuwuchs,  der  i-Zuwuchs  in  e 
aber    das    gleiche,    ändert    nichts    daran,    dass    in    beiden    Elementen    die   Zu- 


204  Lehre  vom  Lichtsinn. 

wüchse  zu  den  Unterschiedswerten  der  Dissimilation  und  Assimilation  dem  in  e 
eingetretenen   Reizzuwuchs  proportional  sind. 

Das  für  ein  solches  nur  gedachtes  zweigliederiges  System  geltende 
Gesetz  der  Proportionalität  zwischen  allen  Zuwüchsen  (den  Reiz- 
zuwüchsen, den  Induktzuwüchsen  und  den  Zuwüchsen  des  Unter- 
schieds wertes  D-Ä)  ist  auch  für  die  gegenseitige  induktive  Wechsel- 
wirkung jedes  beliebigen  Elementenpaares  in  einem  vielgliederigen  System 
gültig,  nur  tritt  in  jedem  Elemente  an  die  Stelle  des  Einzelinduktes  das 
Gesamtindukt  /  (vgl.  §  39).  Auch  jetzt  sind  die  durch  den  Reizzuwuchs 
eines  Elementes  in  allen  Elementen  des  Systems  bedingten  Zuwüchse  zum 
Unlerschiedswerte  D-A  jenem  Reizzuwuchs  proportional,  und  wenn  in 
einer  beliebig  großen  Gruppe  von  Elementen  die  sämtlichen  Reizwerte  durch 
eine  Veränderung  der  Releuchtung  in  gleichem  Verhältnisse  vergrößert  oder 
verkleinert  werden,  so  ist  sowohl  in  ihnen  selbst  als  in  allen  übrigen  Ele- 
menten der  Zuwuchs  zum  Unterschiedswerte  B-A  jedes  Elementes  mit 
jenen  (unter  sich  proportionalen)  Reizzuwüchsen  ebenfalls  proportional. 

Es  fragt  sich  nun ,  welche  Helligkeitsänderungen  den  soeben  be- 
sprochenen  Zustandsänderungen    des   vielgliederigen    Systems   entsprechen. 

Beim  gewöhnlichen  Sehen  im  beleuchteten  Räume  sind,  wie  schon  auf 
S.  179  erwähnt  wurde,  fast  immer  alle  Elemente  der  Sehsubstanz  unter- 
wertig,  und  ich  will  deshalb  auch  hier  wieder  von  den  selteneren  Fällen 
der  Überwertigkeit  einzelner  Teile  der  Sehsubstanz  absehen.  Das  endo- 
gene Gesamtindukt  (JJ  jedes  Elementes  ist  bei  allgemeiner  Unterwertigkeit 
der  Sehsubstanz  ein  Heliindukt  und  also  negativ,  dagegen  ist  das  durch 
die  Belichtung  bedingte  exogene  Gesamtindukt  (J^)  ein  Dunkelindukt  und 
daher  positiv. 

Bei  Bestimmung  der  Dissimilationsgröße  eines  Elementes  gilt  die  Gleichung 

D  -=  d  —  /o  +  <5r  —  J^ 

also  ist  hier  das  endogene  Gesamtindukt  Jq  zum  Werte  von  6  hinzuzufügen,  um 
den  Wert  von  Dq  zu  erhalten;  das  exogene  Gesamtindukt  J^  aber  ist  vom 
Werte  dr  in  Abzug  zu  bringen  (vgl.   §  39^  S.  <69). 

Die  einem  Elemente  der  belichteten  Netzhaut  entsprechende  Helligkeit 
ergibt  sich,  wie  in  §  39  gezeigt  wurde,  aus  der  Gleichung 

Würde  die  von  uns  angenommene  Verstärkung  der  Beleuchtung 
nicht  bloß  auf  einem  Teile,  sondern  auf  der  ganzen  Netzhaut  stattfinden, 
so  würde,  wie  in  §  39  dargelegt  wurde,  der  Wert  von  J^.  proportional 
mit  r  wachsen,  immer  also  derselbe  Bruchteil  der  Größe  ör  bleiben.  Wenn 
jedoch  die  Verstärkung  der  Beleuchtung  nur  einen  Teil  der  Netzhaut  be- 
trifft,   so    wächst  Jy.  in  jedem   zu   diesem   Netzhautteile    gehörigen 


§  48.   Abhängigkeit  der  Helligkeitsunterschiede  von  der  Gesämtbeleuchtung.     205 

Elemente  e  nicht  mehr  proportional  mit  ^r,  sondern  weniger,  entsprechend 
der  kleineren  Anzahl  der  von  der  Reizvergrößerung  betroffenen  und  positiv 
induzierend  auf  e  wirkenden  Elemente  der  Sehsubstanz.  Für  die  obige 
Gleichung  bedeutet  dies  eine  Verkleinerung  von  J^  und  also  eine  Ver- 
größerung für  den  Zähler  des  Bruches,  welcher  die  Helligkeit  H  ausdrückt. 
Die  dem  Elemente  e  entsprechende  Helligkeit  wird  also  jetzt  größer  sein, 
als  sie  sein  würde,  wenn  die  Beleuchtung  nicht  bloß  für  den  fraglichen  Teil, 
sondern  für  die  ganze  Netzhaut  in  gleichem  Maße  verstärkt  worden  wäre. 

Wie  in  §  39  gezeigt  wurde,  kann  eine  und  dieselbe  Verstärkung  der 
Gesamtbeleuchtung  der  Netzhaut  je  nach  der  Verteilung  der  Lichtstärken 
im  Netzhautbilde  bald  eine  größere ,  bald  eine  kleinere  Zunahme  der  einem 
Elemente  der  Sehsubstanz  entsprechenden  Helligkeit,  bald  sogar  eine  Abnahme 
<iieser  Helligkeit  bedingen.  Würde  im  gegebenen  Falle  eine  Verstärkung  der  Be- 
leuchtung der  ganzen  Netzhaut  für  das  von  uns  in  Betracht  gezogene  Element  e 
eine  Helligkeitsabnahme  bedingen,  so  würde  also  bei  der  gleichen,  aber  nur  auf 
«inen  Teil  der  Netzhaut  beschränkten  Verstärkung  der  Beleuchtung  diese  Hellig- 
keitsabnahme vermindert  oder  auch  in  eine  Helligkeitszunahme  verwandelt  sein 
können.  Der  Vollständigkeit  halber  möge  dies  hier  mit  erwähnt  sein,  obwohl 
ich  im  Folgenden  von  solchen  Fällen  absehen  werde. 

Wenn  die  Veränderung  der  Beleuchtung  eines  Teiles  der  Netzhaut 
nicht,  wie  wir  soeben  annahmen,  in  einer  Verstärkung,  sondern  in  einer 
Verminderung  besteht,  so  ergibt  eine  ganz  analoge  Erwägung  wie  die 
oben  durchgeführte,  dass  für  jedes,  dem  jetzt  schwächer  beleuchteten  Netz- 
hautteile zugehörige  Element  die  korrelative  Helligkeit  kleiner  ist,  als  sie 
sein  würde,  wenn  die  Beleuchtung  der  ganzen  Netzhaut  in  demselben 
Maße  vermindert  worden  wäre. 

Es  bleibt  übrig,  die  Helligkeitsänderungen  in  einem  Elemente  £  der 
Sehsubstanz  zu  besprechen,  welches  zu  dem  unverändert  belichteten 
Netzhautteile  gehört.  Für  ein  solches  bleibt  der  Reizwert  r  ungeändert, 
während  der  Wert  von  J^  sich  ändert.  Denn  wenn  in  den,  zum  verändert 
belichteten  Netzhautteile  gehörigen  Elementen  der  Reizwert  und  die  Dissi- 
milation einen  z.  B.  positiven  Zuwuchs  erhielt,  so  empfängt  £  von  jedem 
dieser  Elemente  einen  mit  jenem  Zuwuchs  proportionalen  positiven  Indukt- 
zuwuchs  und  das  summarische  Indukt  in  £  wird  größer.  Dies  bedeutet 
in  obiger  Gleichung  (6)  eine  Vergrößerung  des  Wertes  von  /,.,  also  für  den 
Zähler  des  die  Helligkeit  ausdrückenden  Bruches  eine  Verkleinerung  und 
daher  eine  Abnahme  der  Helligkeit  oder  eine  Verdunkelung.  War  der  Be- 
lichtungszu wuchs  kein  positiver,  sondern  ein  negativer,  so  tritt,  wie  ohne 
weiteres  ersichtlich  ist,  an  die  Stelle  der  Verminderung  eine  Steigerung  der 
Helligkeit. 

Somit  ergibt  sich  der  allgemeine  Satz,  dass  unter  sonst  konstanten 
Bedingungen  eine  nur  einen  Teil  der  Netzhaut  betreffende  Steige- 
rung   bezw.    Minderung    der    Beleuchtung    nicht    nur    im    ent- 


206 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


sprechenden  Teile  des  psychischen  Sehfeldes  eine  gesteigerte 
bezw.  geminderte  Helligkeit,  sondern  zugleich  auch  im  übrigen 
Sehfelde  eine  entgegengesetzte  Helligkeitsänderung  bedingt. 

Eine  ganze  Reihe  früher  besprochener  Tatsachen  bestätigen  die  Gültig- 
keit dieses  aus  unserer  Kontrasttheorie  abgeleiteten  Satzes.  Denn  bei  allen 
in    8  31   beschriebenen    Fällen    von    reinem  Simultankontrast   handelte   es 


Fig.  44. 


Fis.  45. 


sich  um  deutliche  Helligkeitsänderungen,  welche  auf  einer  Papierfläche  von 
unveränderter  Lichtstärke  lediglich  dadurch  herbeigeführt  wurden,  dass  auf 
einem  angrenzenden  oder  auch  einem  das  erste  Feld  umschließenden  Felde 
(dem  Umfelde)  die  Lichtstärke  geändert  wurde.  Das  einfachste  Beispiel 
einer  solchen  Helligkeitsänderung  durch  bloße  Induktion  liefert  der  folgende 
Versuch,  dessen  Beschreibung  ich  den  in  §  31  mitgeteilten  Versuchen  noch 
anreihen  will,  weil  bei  demselben  außer  den  beiden  Helligkeitsänderungen, 
auf  die  es  allein  ankommt,  keine  anderweiten  auffälligen  und  die  Aufmerk- 
samkeit des  Beobachters  ablenkenden  Änderungen  im  Sehfelde   stattfinden, 


§  49.   Die  Versuche  von  Hess  und  Pretori.  207 

und   weil  er  den   im  folgenden  Paragraphen   zu  besprechenden  Versuchen 
zugrunde  liegt. 

Ein  kleiner  weißer,  vor  einem  möglichst  lichtschwachen  Hintergrunde 
stehender  Papierschirm  (Fig.  44)  sei  von  der  Lichtquelle  l  beleuchtet.  Vor 
einer  zweiten  Lichtquelle  L  befinde  sich  ein  schwarzes  Schirmchen,  welches 
die  Strahlen  dieser  Lichtquelle  von  dem  weißen  Schirme  abhält.  Eine 
auf  der  Mitte  des  letzteren  angebrachte  schwarze  Marke  dient  als  Fixir- 
punkt.  Zieht  man  das  schwarze  Schirmchen  zur  Seite,  so  wirft  ein  senk- 
rechter mattschwarzer  Stab  seine  Schatten  neben  der  Marke  auf  den  weißen 
Schirm.  Obgleich  dabei  die  Lichtstärke  der  Schattenstelle  nicht  vermindert 
wird,  und  nur  auf  der  übrigen  Schirmfläche  zum  Lichte  von  /  das  von  L 
hinzukommt,  sieht  man  doch  die  Schattenstelle  deutlich  dunkler  werden, 
um  so  mehr,  je  stärker  die  Lichtquelle  L  ist. 

Da  der  von  der  Lichtquelle  /  bedingte  Schatten  des  Stabes  nicht  auf  den 
weißen  Schirm,  sondern  in  die  schon  an  und  für  sich  dunkel  erscheinende 
Umgebung  fällt,  so  ist  der  von  der  Lichtquelle  L  bedingte  Schattten  das  einzige 
auf  dem  Schirme  überhaupt  Unterscheidbare.  Dadurch  ist  dieser  Versuch  dem 
im  §  31,  S.  132  beschriebenen  FECHNER'schen  Versuche  überlegen,  bei  dem 
noch  ein  zweiter  Schatten  von  anderer  Helligkeit  auf  dem  Schirme  erscheint 
und  die  Aufmerksamkeit  zersplittert. 

§49.  Ableitung  des  Ergebnisses  der  messenden  Versuche 
von  Hess  und  Pretori  aus  der  Theorie  der  Induktion.  Genügend 
große  Verschiedenheit  der  beiden  Lichtquellen  vorausgesetzt,  sind  bei  dem 
zuletzt  beschriebenen  Versuche  die  durch  die  Induktion  bedingten  Hellig- 
keitsänderungen so  groß,  dass  sie  Jedem  auffallen.  Wenn  aber  kleinere 
Verschiedenheiten  der  beiden  Lichtquellen  und  entsprechend  kleinere  Reiz- 
zuwüchse für  die  bezüglichen  Elemente  der  Sehsubstanz  gegeben  sind,  so 
kann  es  unmöglich  werden  zu  entscheiden,  ob  nur  der  eine  Teil  der  Schirm^ 
fläche  seine  Helligkeit  ändert  oder  wirklich  beide  eine  Helligkeitsänderung 
erfahren.  Könnte  man  in  solchen  Fällen  in  möghchster  Nähe  des  Versuchs^ 
feldes_,  als  welches  hier  der  weiße  Schirm  diente,  ein  Vergleichsfeld  her- 
stellen, welches  vor  Eintritt  der  Belichtungsänderung  dieselbe  Helligkeit 
zeigte,  wie  der  nur  durch  die  Induktion  in  seiner  Helligkeit  veränderte  Teil 
des  Versuchsfeldes,  und  welches  auch  nach  der  Belichtungsänderung  des 
letzteren  seine  Helligkeit  völlig  unverändert  beibehielte,  so  könnte  in  zweifel- 
haften Fällen  die  Vergleichung  mit  dieser  konstanten  Helligkeit  uns  den 
gewünschten  Aufschluss  geben. 

Von  vornherein  ist  die  Herstellung  eines  solchen  Vergleichsfeldes  nur 
denkbar,  wenn  dasselbe  soweit  vom  Versuchsfelde  abliegt,  dass  der 
funktionelle  Abstand  (vgl.  §  38)  der  beiden  Felder  groß  genug  ist,  um  die 
induktiven  Wechselwirkungen  zwischen  beiden  auf  ein  zu  vernachlässigendes 
Minimum  herabzumindern.    Ein  großer  Abstand  der  beiden  Felder  verbietet 


208  Lehre  vom  Lichtsinn. 

sich  aber  deshalb,  weil  die  Vergleichung  zweier  Farbenfelder  mit  zunehmen- 
dem gegenseitigen  Abstand  immer  ungenauer  wird.  Es  gilt  also  denselben 
so  zu  wählen,  dass  einerseits  der  Fehler  bei  der  Vergleichung,  anderseits 
die  aus  der  induktiven  Wechselwirkung  sich  ergebenden  Fehler  gegenüber 
der  Größe  der  zu  beobachtenden  Helligkeitsänderungen,  wenn  auch  nicht 
verschwinden,  so  doch  nur  wenig  in  Betracht  kommen. 

Ein  solches  Vergleichsfeld  benutzten  Hess  und  Pretori  bei  ihren 
messenden  Versuchen,  deren  Ergebnisse  ein  besonders  wichtiger  Prüfstein 
für  die  Richtigkeit  der  oben  entwickelten  Induktionsgesetze  sind.  Das  Ver- 
suchsfeld lag  exzentrisch,  und  das  Vergleichsfeld  an  der  symmetrischen 
Stelle  der  anderen  Gesichtsfeldhälfte.  Das  in  der  Mitte  des  Versuchsfeldes 
befindliche  Infeld  konnte  unabhängig  vom  Umfelde  durch  eine  besondere 
Lichtquelle  messbar  beleuchtet  werden,  und  in  analoger  Weise  auch  das 
Umfeld,  wie  dies  alles  in  §  29  beschrieben  wurde. 

Wir  denken  uns  zunächst  das  retinale  Infeld  und  Umfeld  gleich  stark 
belichtet,  so  dass  sie  zusammen  einen  gleichmäßig  belichteten  Bezirk  aus- 
machen. Wird  nun  der  Beleuchtung  des  Umfeldes  unter  sonst  gleichbleiben- 
den Umständen  ein  positiver  Lichtzuwuchs  erteilt,  so  erhält,  wie  aus  dem  im 
vorigen  Paragraphen  entwickelten  Satze  folgt,  in  allen,  den  retinalen  Ele- 
menten des  Infeldes  zugeordneten  Elementen  der  Sehsubstanz  das  schon 
zuvor  bestandene  Dunkelindukt  einen  zum  Lichtzuwuchs  des  retinalen  Um- 
feldes proportionalen  positiven  Zuwuchs,  was  für  das  psychische  Infeld  eine 
Verdunkelung  bedeutet.  Soll  nun  das  psychische  Infeld  trotz  der  verstärkten 
Belichtung  des  retinalen  Umfeldes  seine  frühere  Helligkeit  behalten,  so  müsste 
man  auch  dem  retinalen  Infelde  einen  Lichtzuwuchs  erteilen  und  zwar 
einen  solchen,  welcher  eben  hinreicht,  die  durch  den  Reizzuwuchs  im  Um- 
felde bedingte  Helligkeitsabnahme  des  psychischen  Infeldes  durch  den  Reiz- 
zuwuchs im  somatischen  Infelde  zu  kompensieren. 

Aus  dem  eben  erwähnten  Satze,  nach  welchem  die  durch  einen  posi- 
tiven oder  negativen  Reizzuwuchs  eines  Elementes  der  Sehsubstanz  in  allen 
übrigen  Elementen  bedingten  Zuwüchse  zum  Indukte  und  zum  Unterschieds- 
werte D-Ä  dem  Reizzuwuchse  proportional  sind,  folgt  ohne  weiteres,  dass 
auch  der  zur  Konstanterhaltung  der  Helligkeit  des  psychischen  Infeldes 
nötige  Reizzuwuchs  dem  Reizzuwuchse  des  Umfeldes  proportional  sein  muss. 
Denn  ebenso  wie  die  durch  letzteren  im  somatischen  Infelde  induzierte 
Änderung  dem  Reizzuwuchs  proportional  wäre,  müsste  auch  die  durch  den 
Reizzuwuchs  des  Infeldes  selbst  bedingte  entgegengesetzte  Änderung  diesem 
Reizzuwuchs  proportional  sein. 

Der  Voraussetzung  eines  stabilen  Gesichtsfeldes  (s.  S.  171)  war  bei 
den  Versuchen  von  Hess  und  Pretori  durchaus  genügt;  ebenso  war  der 
Forderung  eines  konstanten  somatischen  Sehfeldes  soweit  möglich  dadurch 
entsprochen,  dass  die  Augen  durch  längere  Pausen  zwischen  den  einzelnen 


§  49.    Die  Versuche  von  Hess  und  Pretori.  209 

Versuchen  immer  wieder  auf  denselben  Anpassungszustand  gebracht  wurden. 
Änderungen  der  Pupille  sollten  zwar  eigentlich  ausgeschlossen  sein,  werden 
aber  keinen  erheblichen  Einfluss  auf  die  Ergebnisse  gehabt  haben,  weil  sie 
auf  alle  Teile  des  gesamten  Netzhautbildes  in  gleichem  Verhältnisse 
wirken,  und  also  das  Verhältnis  zwischen  dem  Beleuchtungszuwuchse 
des  retinalen  Infeldes  und  dem  des  retinalen  Umfeldes  nicht  beeinflussen 
können. 

Die  aus  den  zahlreichen  Versuchsreihen  von  Hess  und  Pretori  ge- 
wonnenen Mittelwerte  ergaben,  dass  der  zur  Konstanz  der  Helligkeit  des 
Infeldes  nötige  Beleuchtungszuwuchs  dem  jeweiligen  positiven  oder  nega- 
tiven Beleuchtungszuwuchs  des  Umfeldes  stets  angenähert  proportional 
war,  gleichviel  welche  (unter  den  gegebenen  Bedingungen  mögliche)  Licht- 
stärke dem  Infelde  vor  Beginn  einer  Versuchsreihe  gegeben  worden 
war.  Für  jede  dieser  Lichtstärken  war  also  der  Koeffizient,  welcher  dem 
Beleuchtungszuwuchs  des  Umfeldes  zu  geben  war,  um  den  eben  nötigen 
Beleuchtungszuwuchs  des  Infeldes  auszudrücken,  ein  konstanter,  wenn  auch 
für  die  verschiedenen  Anfangslichtstärken  des  Infeldes  verschiedener.  Je 
größer  die  letztere  und  also  auch  die  Helligkeit  des  Infeldes  war,  desto 
größer  war  der  Koeffizient,  den  ich  in  §  29  und  30  als  den  Kontrast- 
koeffizient bezeichnet  habe.  -^ 

Ehe  ich  die  in  diesem  Abschnitte  enthaltenen  Grundzüge  einer  Theorie 
der  Wechselwirkung  der  Sehfeldstellen  abschließe,  sei  es  mir  gestattet,  einige 
Sätze  aus  einer  im  Jahre  1874  von  mir  veröffentlichten  Mitteilung  >zur 
Lehre  vom  Lichtsinn«  (IV,  §  24)  hier  zu  wiederholen,  um  damit  nicht  nur 
der  immer  wiederkehrenden  Vermengung  der  auf  Induktion  beruhenden 
Kontrasterscheinungen  mit  gewissen  ganz  andersartigen  Erscheinungen  zu 
begegnen  (vgl.  §  4),  sondern  auch  die  Antwort  auf  eine  im  dritten  Bande 
der  3.  Auflage  des  Handbuchs  der  physiologischen  Optik  von  Helmholtz 
(S.  490)  enthaltene  irrtümliche  Darstellung  meines  Kampfes  gegen  die  Kontrast- 
theorie dieses  Forschers  zu  geben.     Am  angegebenen  Orte  schrieb  ich: 

»Wenn  auf  einen  Teil  eines  weissen  Papiers  ein  Schatten  fällt,  so  nennen 
wir  den  beschatteten  Teil  nicht  grau,  sondern  dunkler,  obwohl  das  Licht, 
welches  er  aussendet,  genau  dieselbe  Intensität  und  Zusammensetzung  haben 
kann,  wie  das  von  einem  grauen  Papiere  ausgehende;  und  wenn  wir  auf 
ein  graues  Papier  mittels  eines  spiegelnden  Körpers  reflektiertes  Licht 
fallen  lassen,  so  nennen  wir  die  hellere  Stelle  des  Papiers  nicht  weiß,  son- 
dern nur  heller,  obwohl  sie  vielleicht  genau  dasselbe  Licht  giebt  wie  ein 
daneben  liegendes  weisses  Papier.  Der  Verschiedenheit  der  Bezeichnung 
entspricht  hierbei  eine  Verschiedenheit  der  Wahrnehmung.  Das  Dunkel, 
welches  im  Grau  gesehen  wird,  ist  mit  dem  gleichzeitig  darin  enthaltenen 
Weiss  vollständig  zu  einer  Empfindung  besonderer  Qualität  verschmolzen; 
das  Dunkel  aber,   welches  als  Schatten   auf  dem  Weiß  erscheint,    wird  als 

Hering,  Lichtsinn.  .  4  4 


210  Lehre  vom  Lichtsinn. 

ein  besonderes,  über  dem  Weiß  liegendes  Etwas  aufgefasst,  durch  welches 
hindurch  wir  noch  das  Weiß  zu  sehen  meinen.  Analog  verhält  es  sich 
mit  einem  auf  grauem  Papier  mittels  eines  Spiegels  erzeugten  helleren 
Flecke,  insofern  hier  das  Helle,  welches  zu  dem  schon  vorhandenen  Grau 
hinzukommt,  mit  diesem  nicht  zu  einem  helleren  Grau  oder  zu  Weiß  ver- 
schmilzt, sondern  gesondert  als  blosses  Licht  aufgefasst  wird,  welches  dem 
Grau  äußerlich  aufliegt,  und  unter  welchem  wir  noch  das  Grau  zu  sehen 
meinen. « 

»Wenn  ich  mich  eben  dahin  aussprach,  dass  dasselbe  objektive  Licht 
je  nach  den  Nebenumständen  bald  als  eine  Eigenschaft  (Farbe)  der  Außen- 
dinge, bald  aber  als  Licht  oder  Dunkel  (Schatten,  Finsternis)  wahrgenommen 
werden  könne,  so  wollte  ich  damit  nicht  gesagt  haben,    dass   trotz  dieser 
verschiedenen    Wahrnehmung    doch    die    ,Empfmdung',    entsprechend    der 
Gleichheit   des   Reizes,   in  beiden  Fällen  dieselbe  sei.     Vielmehr  meine  ich, 
dass    die    ,Empfindung'    in   beiden   Fällen  wesentlich   verschieden   ist,   was 
trotz  gleichem  Reize  deshalb  möglich  ist,   weil   die  Lichtempfindung   nicht 
bloss  eine  Funktion   des  Reizes   und  der  jeweiligen  Beschaffenheit  der  zu- 
nächst getroffenen  nervösen  Teile  ist,    sondern  auch  mit  abhängt  von  der 
Beschaffenheit  der  zum  Sehakt  in  Beziehung  stehenden  Hirnteile,  in  welchen 
die  optischen  Erfahrungen   des   ganzen   Lebens   gleichsam   organisiert   ent- 
halten  sind.     Wie   der  Klang,   welchen   ein  Klavier  gibt,    wenn   man  eine 
Taste  desselben  anschlägt,    nicht  bloß  abhängt  von  den  Schwingungen  der 
Saiten,   welche  der  Schlag  direkt  trifft,   sondern   auch  von  der  Resonanz 
des  ganzen  Instrumentes,  was  bei  aufgehobener  Dämpfung  am  offenbarsten, 
aber  auch  sonst  immer  der  Fall  ist,    so  ist  auch  die  Empfindung,    welche 
ein  äußerer  Reiz  in  uns  erweckt,  nicht  bloß  abhängig  von  der  Nervenfaser, 
welche  zunächst  vom  Reize   getroffen    wird,    sondern   ist  zugleich  das  Er- 
gebnis  der   Resonanz   unseres   ganzen   Sensoriums.      Ein    scheinbar    unbe- 
deutender Nebenumstand  hebt  gleichsam  den  Dämpfer  von  gewissen  Saiten 
ab  und  läßt  sie  mit  ankhngen,   so  daß  der  Charakter  der  Empfindung  ein 
wesentlich  anderer  wird.« 

»Es  ist  richtig,  daß  diese  große  Resonanzfähigkeit  unseres  Gehirns  die 
Untersuchung  der  Beziehungen  zwischen  Reiz  und  Empfindung  außer- 
ordentlich erschwert,  und  wir  vermögen  uns  nur  dadurch  einigermaßen  zu 
helfen,  daß  wir  unter  den  möglichst  einfachen  Bedingungen  beobachten  und 
nur  solche  Empfindungen  vergleichen ,  welche  unter  annähernd  gleichen 
Bedingungen  gewonnen  wurden,  «i) 

4)  Als  Herausgeber  des  HI.  Bandes  der  3.  Aufl.  des  Handbuches  der  physiol. 
Optik  von  Helmholtz  sagt  v.  Kries  (S.  490):  >Es  muss  hier  zur  Vermeidung  von 
Missverständnissen  und  zur  Klärung  der  literarischen  Sachlage  hinzugefügt  werden, 
dass  der  Hauptgegner  der  HELMHOLTz'schen  Kontrasttheorie,  Hering,  in  späterer 
Zeit  selbst  auf  diese  Verhältnisse,  sogar  mit  besonderem  Nachdrucke  hingewiesen 


§  50.    Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben.  211 

Till.  Abschnitt. 
Die  binokularen  tonfreien  Farben. 

§50.  Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben.  Wir  können  die 
Gesamtheit  der  wirklichen  Dinge,  die  sich  im  gegebenen  Augenblicke 
auf  der  Netzhaut  des  rechten  oder  des  linken  Auges  abbilden,  als  das  rechts- 
äugige  oder  das  linksäugige  Gesichtsfeld  (vgl.  §  7,  S.  21)  bezeichnen. 
Diese  beiden  Gesichtsfelder  bilden  das  jeweilige  Gesamtgesichtsfeld  derart, 
dass  der  größere  Mittelteil  desselben  beiden  gemeinsam  ist,  und  dass  sich 
an  dieses  binokulare  Gebiet  nach  rechts  wie  nach  links  ein  kleineres,  nur 
je   einem  Auge  sichtbares  Gebiet  anschließt. 

Analogerweise  haben  wir  im  psychischen  Gesamtsehfelde  ein 
größeres  binokulares  Mittelgebiet  und  die  beiden  unokularen  Seitengebiete 
zu  unterscheiden.  Jeder  Stelle  des  Mittelgebietes  entspricht  sowohl  im  rechts- 
äugigen  als  im  linksäugigen  somatischen  Sehfelde  je  eine  Stelle,  und  jede 


hat.  So  hat  er  insbesondere  den  eigentümlichen  Umschlag  geschildert  (Hermann's 
Handbuch  der  Physiologie.  III,  S.  574.  Grundzüge  der  Lehre  vom  Lichtsinn  in 
Graefe-Saemisch's  Handbuch  der  Augenheilkunde.  Kap.  XII,  S.  8),  der  stattfindet, 
wenn  eine  (objektiv)  dunklere  Stelle  in  hellerer  Umgebung  zunächst  als  Fleck, 
dann  aber,  etwa  zufolge  einer  Verschiebung,  als  ein  auf  die  Fläche  fallender 
Schatten  gesehen  wird,  also  zuerst  den  Eindruck  eines  mit  der  Umgebung  gleich- 
beleuchteten Grau,  dann  den  eines  (beschatteten)  Weiss  macht.  Hering  hat,  wie 
es  scheint,  nicht  bemerkt  oder  sich  darüber  getäuscht,  dass  die  Thatsachen,  die 
er  hier  mit  vollem  Recht  als  beachtenswert  betont,  eben  diejenigen  sind,  die 
Helmholtz  seiner  Kontrasttheorie  zugrunde  legte,  und  deren  Anerkennung  uns 
nötigt,  diese  Theorie  in  großem  Umfange  als  eine  mindestens  mögliche  anzuer- 
kennen, und  dass  sie  der  früher  von  Hering  geführten  Bekämpfung  dieser  Theorie, 
die  in  der  Behauptung  gipfelte,  dass  sie  schwarz  in  weiss  verkehre,  den  Boden 
entziehen.  Lehren  doch  eben  die  hier  von  Hering  herangezogenen  Thatsachen, 
dass  wirklich  ohne  Änderung  der  Empfindung  der  zwingende  Eindruck  des  Grau 
in  den  des  Weiss  umschlagen  kann.« 

In  Wirklichkeit  ist  »die  literarische  Sachlage«  die,  dass  ich  schon 
im  Jahre  1874  in  meinen  Mitteilungen  zur  Lehre  vom  Lichtsinn,  in 
denen  ich  das  erste  Mal  gegen  die  Kontrasttheorie  von  Helmholtz 
auftrat,  die  von  v.  Kries  erwähnten  Tatsachen  ausführlich  besprochen 
habe  und  in  den  von  v.  Kries  zitierten  Handbüchern  (1879  und  1905)  nur  darauf 
zurückgekommen  bin.    Dies  hat  v.  Kries  übersehen. 

Helmholtz  hat  übrigens  diese  Tatsachen  gar  nicht  mit  erwähnt.  Er  hätte 
sie  als  Beleg  für  die  Richtigkeit  seiner  Bemerkung  anführen  können,  daß  wir 
immer  »die  Neigung  haben  zu  trennen,  was  in  der  Farbe  oder  dem  Aussehen 
«ines  Körpers  von  der  Beleuchtung  und  was  von  der  Eigentümlichkeit  des  Körpers 
selbst  herrührt.«  Aus  dieser  Neigung  suchte  er  allerdings  eine  gewisse  Gruppe 
von  Erscheinungen  des  Simultankontrastes,  aber  keineswegs  alle  zu  erklären. 
Denn  eine  andere  Gruppe  wollte  er  darauf  zurückführen,  »daß  wir  geneigt  sind, 
diejenigen  Unterschiede,  welche  in  der  Anschauung  deutlich  und  sicher  wahr- 
zunehmen sind,  für  größer  zu  halten  als  solche,  welche  entweder  in  der  An- 
schauung nur  unsicher  heraustreten ,  oder  mit  Hülfe  der  Erinnerung  beurteilt 
werden  müssen«  (1.  S.  392),  noch  andere  darauf,  daß  »der  Begriff  des  Weiß  dabei 
verändert  wird«  (1.  S.  396). 

14*      • 


212  Lehre  vom  Lichtsinn. 

zwei  solche,  zu  einer  und  derselben  Stelle  des  psychischen  Sehfeldes 
korrelative  Stellen  der  beiden  somatischen  Sehfelder  heissen  nach  Fechner 
korrespondierende  oder  auch,  wie  ich  sie  genannt  habe,  Deckstellen, 
während  Johannes  Müller  sie  als  identische  Stellen  bezeichnete. 

Hiernach  ist  die  an  einer  Stelle  des  binokularen  Mittelgebietes,  kurz 
des  Deckgebietes  erscheinende  Farbe  von  beiden  zugehörigen  somatischen 
Sehfeldstellen  zugleich  abhängig,  und  es  fragt  sich  nun,  welche  Regeln  oder 
Gesetze  für  diese  zweifache  Abhängigkeit  gelten. 

Auch  bei  völliger  Verfinsterung  beider  Augen  geht  in  der  Sehsubstanz 
des  somatischen  Doppelsehfeldes  der  Stoffwechsel  weiter,  dessen  psychisches 
Korrelat  jetzt  die  endogenen  Farben  des  Sehfeldes  sind.  Wir  sehen  diese 
im  allgemeinen  tonfreien  Eigenfarben  des  Auges,  so  oft  wir  auf  sie  achten, 
sei  es,  dass  allerlei  Gestaltungen,  wie  z.  B.  Nachbilder  oder  andere  endo- 
gene Farbengebilde  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  haben,  oder 
dass  wir  absichtlich  den  Inhalt  des  Sehfeldes  zum  Gegenstande  unserer  Auf- 
merksamkeit machen.  Wer  die  Augen  geschlossen  hat,  achtet  gewöhnlich 
gar  nicht  auf  diese  Erscheinungen,  auch  dann  nicht,  wenn  noch  Licht 
durch  die  Lider  hindurch  zur  Netzhaut  gelangt.  Befindet  er  sich  jedoch 
offenen  Auges  in  einem  völlig  verfinsterten  Räume  und  schaut  sich  ab- 
sichtlich in  demselben  um,  so  bemerkt  er  jetzt  erst,  wie  Vieles  trotz  völ- 
liger Unsichtbarkeit  der  Außendinge  sein  Sehfeld  enthalten  kann. 

Wer  sehen  will,  hat  also  immer  Gelegenheit  etwas  zu  sehen,  mögen 
seine  Netzhäute  belichtet  oder  verfinstert  sein.  Wer  aber  seine  Augen 
schließt,  will  gewöhnlich  gar  nicht  sehen  und  macht  daher  auch  keine 
Erfahrungen  über  die  Eigenfarben  seines  Sehfeldes;  denn  wir  sehen  nur 
das,  was  unabsichtlich  oder  vorbedachterweise  Gegenstand  unserer  Auf- 
merksamkeit wird;  für  alles  Übrige  sind  wir  »seelenblind«. 

Was  wir  bei  völlig  verfinsterten  Augen  im  binokularen  Teile  des  psychischen 
Gesamtsehfeldes  sehen,  ist  also  ebenso  wie  im  beleuchteten  Räume  von  beiden 
somatischen  Sehfeldern  zugleich  abhängig,  ohne  dass  wir  zu  sagen  ver- 
mögen, inwieweit  es  vom  einen  oder  anderen  bedingt  ist.  Wenn  in  diesem  Ge- 
biete aus  dem  grauen  Nebel  desselben  irgendwo  ein  hellerer  oder  dunklerer 
Fleck  auftaucht,  so  kann  derselbe  seine  Ursache  ebensowohl  nur  in  einem  der 
beiden  somatischen  Sehfelder  als  in  beiden  zugleich  haben.  Würde  sich  aus 
der  Form  des  Fleckes  ergeben,  dass  er  das  Nachbild  eines  nur  dem  linken 
Auge  sichtbar  gewesenen  Außendinges  ist,  so  könnten  wir  freilich  schließen, 
dass  er  im  wesentlichen  dem  linken  somatischen  Sehfelde  entstammt,  doch  bliebe 
dabei  immer  noch  unentschieden,  inwieweit  an  der  Farbe  des  Fleckes  die  korre- 
spondierende Stelle  des  rechten  somatischen  Sehfeldes  mitbeteiligt  ist. 

Die  Betonung  der  auch  bei  völliger  Verfinsterung  des  Auges  in  seinem 
somatischen  Sehfelde  ablaufenden  Vorgänge  ist  hier  deshalb  geboten,  weil  die 
Ansicht  verbreitet  ist,  dass  man  durch  Verfinsterung  des  einen  Auges  oder  gar 
durch  blossen  Schluss  seiner  Lider  dasselbe  völlig  vom  Sehakte  ausschfießen 
könne  und  es  deshalb  bei  allen  Beobachtungen  mit  dem  anderen  irgendwie  be- 


§  50.   Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben.  213 

lichteten  Auge  gar  nicht  weiter  zu  berücksichtigen  brauche.    Es  wird  sich  später 
zeigen,  zu  welchen  Irrungen  dies  führen  kann. 

Nach  dem  oben  Gesagten  entspricht  jeder  Farbe  des  Deckgebietes  als 
physisches  Korrelat  eine,  von  beiden  unokularen  somatischen  Sehfeldern 
bedingte  Regung,  jeder  Farbe  eines  unokularen  Seitengebietes  aber  eine, 
nur  von  einem  dieser  Sehfelder  bedingte  Regung.  Im  ersteren"  Falle  lässt 
sich  die  korrelative  Farbe  kurz  als  eine  binokulare,  im  letzteren  Falle 
als  eine  unokulare  Farbe  bezeichnen. 

Wir  wollen  einmal  annehmen,  es  könne  unter  gewissen  Umständen  an 
einer  Stelle  des  Deckgebietes  nur  eine  der  beiden  unokularen  Regungen, 
aus  denen  sich  eine  binokulare  Farbe  zu  ergeben  pflegt,  für  die  an  dieser 
Stelle  des  psychischen  Sehfeldes  erscheinende  Farbe  bestimmend  sein,  so 
dass  der  Anteil,  den  das  andere  Auge  an  der  Entstehung  der  binokularen 
Farbe  hätte,  jetzt  gleich  Null  wäre.  Solchenfalls  würden  auch  im  Deck- 
gebiete außer  den  binokularen  solche  nur  unokular  bedingte  Farben  er- 
scheinen können. 

Die  im  folgenden  zu  beschreibenden  Versuche  werden  zeigen,  dass  im 
Deckgebiete  solche  Farben,  wenn  auch  nicht  völlig  unbeeinflusst  vom  je- 
weiligen Zustande  der  Deckstelle  des  anderen  Auges,  thatsächlich  vor- 
kommen. Im  allgemeinen  aber  wird  sich  ergeben,  dass,  wenn  die  in 
beiden  Augen  stattfindenden  Regungen  nicht  beiderseits  dieselben  sind,  an 
der  zugehörigen  Stelle  des  psychischen  Sehraumes  eine  binokulare  Farbe 
erscheint,  die  keiner  von  jenen  beiden  Farben  gleich  ist,  welche  einer  rein 
unokularen  Regung  entsprechen  würde;  dass  ferner  diese  neue  Farbe  in 
der  tonfreien  Farbenreihe  (vgl.  §  9)  stets  zwischen  den  beiden  genannten 
Farben  gelegen  ist,  aber  je  nach  den  Umständen  bald  der  einen,  bald  der 
anderen  näher  steht. 

Jede  solche  durch  binokulare  Regung  entstandene  Farbe  lässt  sich 
im  Anschlüsse  an  den  althergebrachten  Begriff  der  binokularen  Farben- 
mischung als  ein  Gemisch  aus  zwei,  im  eben  erörterten  Sinne  unokularen 
Farben  auffassen,  wobei  der  Fall,  dass  nur  eine  der  beiden  Farben  im 
Deckgebiete  des  Sehraumes  wahrgenommen  würde,  als  einer  der  beiden 
Grenzfälle  zu  gelten  hätte,  in  welchen  der  Anteil  der  einen  Farbe  am  Ge- 
misch auf  ein  Minimum  herabgemindert  ist.  Denn  jede  im  Deckgebiete  er- 
scheinende, zweien  Deckpunkten  der  Netzhäute  entsprechende  Farbe  ist 
eine  einheitliche,  d.  h.  wir  nehmen  entweder  nur  die  eine  von  beiden 
oder  eine  in  der  tonfreien  Farbenreihe  zwischen  beiden  liegende  Farbe  wahr, 
nie  aber  zugleich  die  beiden  unokularen  Farben,  aus  denen  wir 
uns  die  jeweilige  binokulare  gemischt  denken  können.  Nur  nach- 
einander können  wir  im  Falle  eines  sogenannten  Wettstreites  bald  die  eine, 
bald  die  andere,  bald  irgend  eine  der  möglichen  Zwischenfarben  an  der- 
selben Stelle  wahrnehmen. 


214  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Indem  ich  im  folgenden  die  binokularen  tonfreien  Farben  als  Gemische 
zweier  unokularer  tonfreier  Farben  auffasse,  will  ich  nichts  erklärt,  son- 
dern zunächst  nur  einen  zusammenfassenden  Ausdruck  für  die  große  Mannig- 
faltigkeit der  bezüglichen  Tatsachen  gewonnen  haben. 

Sind  die  beiden  unokularen  Farben  von  gleicher  Qualität,  so  kann  aus 
ihrer  Mischung  nur  wieder  ein  Gemisch  von  eben  derselben  Qualität  ent- 
stehen. Denn  wir  können  uns,  wie  in  §  10,  S.  35  auseinandergesetzt 
wurde,  schon  jede  tonfreie  Farbe  selbst  als  ein  Gemisch  aus  zwei  elemen- 
taren Sehqualitäten,  dem  absoluten  Weiss  (W)  und  absoluten  Schwarz  [S) 
denken  und  jedes  dieser  Gemische  durch  ein  bestimmtes  Verhältnis  der 
Menge  (dem  Gewichte)  des  darin  enthaltenen  Weiss  zur  Menge  des  Schwarz 
ausdrücken.  Dieses  Verhältnis  bestimmt  dann  die  Qualität  der  Farbe.  Jedes 
solche  Gemisch  aber  lässt  sich  wieder  mit  einem  beliebigen  anderen  ge- 
mischt denken.  Ist  nun  in  beiden  Gemischen  das  Verhältnis  W:  S  das- 
selbe, so  muss  dieses  Verhältnis  in  dem  aus  ihrer  Mischung  entstandenen 
Gemische  auch  wieder  dasselbe  sein,  gleichgültig,  welchen  relativen  Anteil 
an  letzterem  jedes  der  beiden  Einzelgemische  hat. 

Würde  es  sich  statt  der  Gemische  aus  W  und  S  z.  B.  um  Gemische  aus 
absolutem  Alkohol  und  reinem  Wasser  handeln,  so  versteht  sich  ohne  weiteres, 
dass  sich  aus  einer  Vermischung  einer  behebigen  Menge  von  2  0  prozentigem 
Spiritus  aus  der  einen  Flasche  mit  einer  beliebigen  Menge  von  2  0  prozentigem 
Spiritus  aus  einer  anderen  Flasche  nur  immer  wieder  20prozentiger  Spiritus  er- 
geben kann.  Der  Leser  wolle  die  Trivialität  dieses  Beispieles  im  Hinblick  auf 
das  Folgende  entschuldigen. 

Nach  der  üblichen  Auffassung  kommen  nämhch  für  die  Entstehung  einer 
tonfreien  binokularen  Lichtempfindung  nur  die  beiden,  dem  Weiss  entsprechenden 
»Erregungsgrößen«  und  die  von  letzteren  abhängigen  »Intensitäten«  der 
beiden  Empfindungen  des  Weissen  in  Betracht,  während  die  von  mir  mit  S  be- 
zeichneten Werte  gar  nicht  mit  in  Rechnung  gebracht  werden.  Denn  wenn- 
gleich die  herrschende  Lehre  das  Schwarz  als  eine  »Empfindung«  gelten  lässt i), 
so  doch  nur  als  eine  der  Ruhe  des  Sehorganes  entsprechende  Empfindung, 
welche,  wenn  die  Ruhe  eine  absolute  wäre,  als  eine  Lichtempfindung  von  der 
Intensität  Null  anzusehen  wäre.  So  sagte  z.  B.  Feghner,  Schwarz  sei  »nur  ein 
geringerer  Grad  des  Weiss«,  wobei  er  unter  Schwarz  die  Empfindung  und  nicht 
etwa  eine  sehr  kleine  Lichtenergie  verstand. 

Auf  Grund  dieser  Lehre  konnte  man  daran  denken,  dass  beim  Binokular- 
sehen durch  »Summierung«  oder  »Superposition«  der  beiderseitigen  Erregungen 
eine  Lichtempfindung  von  größerer  »Intensität«,  will  sagen  Helligkeit,  entstehen 
könne,   als  unter  sonst  gleichen  Umständen  bei  nur  einäugigem  Sehen. 


4)  A.  Fick  wollte  freilich  das  Schwarz  folgerichtigerweise  nicht  als  »Empfin- 
dung«, sondern  nur  als  »Vorstellung«  gelten  lassen.  Doch  Farbe  ist  für  mich 
Farbe,  möge  sie  Inhalt  einer  »Empfindung«,  einer  »Vorstellung«  oder  einer  »Wahr- 
nehmung« sein,  ebenso  wie  der  Marmor  für  mich  Marmor  ist,  möge  er  noch  als 
Bruchstein  im  Steinbruche  oder  als  Pflasterstein  auf  der  Straße  liegen,  möge 
die  Mauer  eines  Gebäudes  oder  das  Kunstwerk  eines  Bildhauers  aus  ihm  ge- 
formt sein. 


§  5ü.   Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben.  215 

Während  sich  aus  der  binokularen  Mischung  zweier  qualitativ  gleicher 
Farben  immer  wieder  dieselbe  Farbe  ergeben  muss,  können  aus  der  Mischung 
ungleicher  Farben  je  nach  dem  relativen  Anteil,  den  jede  derselben  an  der 
binokularen  Farbe  hat,  verschiedene  Farben  entstehen,  jedoch  nur  solche, 
welche  in  der  Reihe  der  tonfreien  Farben  zwischen  den  beiden  unokularen 
liegen.  Die  binokulare  Farbe  muss  also  stets  minder  hell  (dunkler)  sein 
als  die  hellere  unokulare,  und  heller  (minder  dunkel)  als  die  dunklere  un- 
okulare Farbe.  Würde  der  Anteil  der  einen  unokularen  Farbe  verschwin- 
dend klein  sein,  so  wäre  dies,  wie  gesagt,  nur  ein  Grenzfall  i). 

Betrachten  wir  nämlich  die  beiden  unokularen  Farben  wieder  als  Ge- 
mische aus  W  und  S  und  denken  uns  diese  zwei  Gemische  untereinander 
gemischt,  so  ist  leicht  ersichtlich,  dass  daraus  ein  neues  Gemisch  entstehen 
muss,  in  dem  das  Verhältnis  W:  S  ein  anderes  ist,  als  in  jeder  der  beiden 
zur  Mischung  verwendeten  Farben.  Je  nach  dem  Mengenverhältnis,  in  dem 
die  letzteren  sich  gemischt  haben,  wird  das  neu  entstandene  Gemisch  ein 
anderes  sein,  aber  sein  relativer  Gehalt  an  .Weiss,  d.  i.  seine  Weisslichkeit 
oder  Helligkeit  wird  stets  kleiner  sein  als  in  der  weisslicheren  und  größer 
als  in  der  minder  weisslichen  unokularen  Farbe,  und  analog  wird  es  sich 
mit  der  Schwärzlichkeit  verhalten. 

Dies  alles  ganz  ebenso,  wie  man  zwei  Spiritussorten,  deren  jede  einem 
anderen  Mischungsverhältnis  zwischen  reinem  Alkohol  und  reinem  Wasser  ent- 
spricht, wieder  unter  sich  mischen  kann,  woraus  dann,  je  nach  dem  Mischungs- 
verhältnis der  beiden  Sorten,  neue  Sorten  entstehen,  die  jedoch  sämtlich  wässeriger 
und  minder  alkoholisch  sind  als  die  alkoholreichere,  dagegen  minder  wässerig 
und  alkoholischer  als  die  alkoholärmere  der  gemischten  Sorten. 

Eine  eingehende  Untersuchung  der  binokularen  Farbenmischung  ist 
zwar  von  großem  Interesse  und  gewährt  vielversprechende  Einblicke  in  die 
Art  des  psychischen  Betriebes,  durch  welchen  unser  binokulares  Sehfeld 
aus  Einzelteilen  der  beiden  unokularen  sich  aufbaut,  doch  muss  ich  mich 
auf  die  Vorführung  verhältnismäßig  weniger  grundlegender  Versuche  und 
Beobachtungen  beschränken.  Ich  möchte  hier  nur  an  der  Hand  der  Tat- 
sachen den  Beweis  führen,  dass  im  binokularen  psychischen  Sehfelde  je 
zweien  Deckstellen  der  beiden  somatischen  Sehfelder  in  jedem  Augenblicke 
immer  nur  eine  Farbe  entspricht,  und  dass  diese  Farbe  nie  heller  als  die 
hellere  und  nie  dunkler  als  die  dunklere  der  beiden  unokularen  Farben 
ist,  aus  denen  man  sich  die  binokularen  gemischt  denken  kann;  dass  also 
eine  »Summierung«  oder  »Superponierung«  zweier  Helligkeiten  beim  Bin- 
okularsehen nie  vorkommt. 


^)  Drückt  man  den  relativen  Anteil,  welchen  je  eine  der  beiden  unokularen 
Farben  an  ihrem  binokularen  Gemisch  hat,  durch  je  einen  echten  Bruch  aus,  so 
ist  die  Summe  dieser  beiden  Brüche  stets  gleich  1.  Dem  entspricht  der  seinerzeit 
von  mir  aufgestellte  »Satz  vom  komplementären  Anteil<  der  beiden  Augen  an  der 
binokularen  Farbe. 


216  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Unter  »binokularer  Farbenmischung«  versteht  die  herrschende  Lehre  nur 
die  binokulare  Vereinigung  zweier  Farben  von  verschiedener  bunter  Qualität, 
z.  B.  Rot  und  Blau.  Eine  binokulare  Mischung  tonfreier  Farben  giebt  es  für 
diese  Lehre  nicht,  vv^eil  sie  alle  diese  Farben  von  derselben  Qualität  sein  lässl 
und  nur  eine  etwaige  »Summierung«  oder  »Superponierung«  zweier  »farbloser 
Empfindungsintensitäten«  bezw.  eine  gegenseitige  Hemmung  zweier  »Erregungen« 
in  Betracht  zieht.  Sobald  man  die  verschiedenen  tonfreien  Farben  als  ver- 
schiedene Qualitäten  gelten  lässt,  verlieren  gewisse  Erklärungen,  welche  für 
einen  Teil  der  hierher  gehörigen  Erscheinungen  versucht  worden  sind,  ihre  theo- 
retische Grundlage.  Betreffs  dieser  Erklärungen  möge  hier  insbesondere  auf  die 
Darlegungen  von  Johannes  Müller  (2  3),  PanUxM  (33),  Feghner  (34),  Aubert  (6)  und 
Helmholtz  (1)  verwiesen  werden,  welche  schon  wegen  der  dabei  beschriebenen 
Thatsachen  wertvoll  sind.  Letzteres  gilt  ganz  besonders  von  der  ausgezeich- 
neten Abhandlung  Panum's   »über  das  Sehen  mit  zwei  Augen«. 

Die  binokularen  tonfreien  Farben  sind  als  solche  einer  besonderen 
Untersuchung  bisher  nicht  unterworfen  worden.  Es  ist  sogar,  z.  B.  von 
Helmholtz,  bestritten  worden,  dass  sich  aus  einer  verschiedenen  Belichtung 
zweier  Deckstellen  der  Doppelnetzhaut  überhaupt  eine  einfache  binokulare 
Farbe  ergeben  könne;  vielmehr  werde  je  nach  den  Umständen  bald  nur 
die  der  einen,  bald  die  der  anderen  Belichtung  entsprechende  Farbe  ge- 
sehen. Um  so  angemessener  schien  es,  die  tonfreien  binokularen  Farben 
hier  besonders  zu  behandeln.  Die  spätere  Besprechung  der  binokularen 
Mischung  bunter  Farben  wird  weitere  Belege  für  die  hier  aufgestellten  Sätze 
bringen  und  zugleich  Gelegenheit  geben,  auch  den  sogenannten  binokularen 
Farbenkontrast  zu  untersuchen. 

§  51.  Binokulare  Mischung  tonfreier  Farben  beim  Doppelt- 
sehen eines  kleinen  Feldes  auf  andersfarbigem  Grunde.  Be- 
findet sich  auf  einer  im  übrigen  ganz  gleichartigen  und  durchaus  matten 
Fläche  z.  B.  einem  auf  dem  Tische  liegenden  schwarzen  Papier  ein 
kleines  ebenfalls  mattes  Feld  von  anderer  z.  B.  weisser  Farbe,  und 
bringt  man  durch  schwaches  Schielen  seine  Gesichtslinien  vor  oder  hinter 
dem  Papier  zur  Durchkreuzung,  so  erhält  man  ersteren  Falles  ein  so- 
genanntes gleichseitiges  andernfalls  ein  ungleichseitiges  Doppelbild  des 
kleinen  Feldes. 

Fig.  46  A  veranschaulicht  den  Fall,  wo  die  beiden,  durch  dickere 
Linien  [fr  und  fl)  dargestellten  Gesichtslinien  sich  vor  der  Ebene  durch- 
kreuzen, in  welcher  eine  kleine  weisse  Scheibe  auf  schwarzem  Grunde  zu 
sehen  ist.  Gemäß  dem  von  mir  seinerzeit  ausführlich  begründeten  Ge- 
setze der  identischen  Sehrichtungen  findet  man  die  Richtungen,  in  denen 
uns  die  beiden  Bilder  des  Doppelbildes  der  weissen  Scheibe  erscheinen, 
wenn  man  erstens  die  beiden  Netzhäute  mit  ihren  jeweiligen  Bildern  so 
ineinandergelegt  denkt,   dass  jede   zwei  korrespondierende   Netzhautstellen 


§51.    Binokulare  Mischung  beim  Doppeltselien. 


217 


zusammenfallen  1),  und  zweitens  ein,  diese  Doppelnetzhaut  enthaltendes 
einfaches  Auge  annimmt,  welches  unter  gewöhnlichen  Umständen  zwischen 
den  beiden  wirklichen  Augen  zu  liegen  hätte.  Die  zu  den  Netzhautbildern 
dieses  imaginären  »Cyklopenauges«,  wie  es  später  Helmholtz  nannte,  ge- 
hörigen Richtungslinien  versinnlichen  dann  die  Sehrichtungslinien,  auf  denen 
uns  die,  den  jeweils  vorhandenen  Netzhautbildern  entsprechenden  Dinge 
erscheinen,  wie  dies  Fig.  46  B  für  den  vorliegenden  Fall  darstellt.  Der  Seh- 
punkt r/)  dieser  Figur  entspricht  den  beiden  Punkten  fr  und  fl  des  wirk- 
lichen Papieres  (Fig.  46  A),  welches  uns  auf  Grund  von  Erfahrungsmotiven 


Fig.  46. 


B 


fr 


n 


A 


9 


aiy 


angenähert  in  seiner  wirklichen  Entfernung  auf  dem  Tische  erscheint,  ob- 
wohl sich  unsere  Gesichtslinien  schon  vor  demselben  durchschneiden.  Die 
beiden  sich  zum  größeren  Teile  deckenden  unokularen  Bilder  des  schwarzen 
Papieres  mit  der  weissen  Scheibe  sind  in  Fig.  46  B  nicht  ineinander,  son- 
dern übereinander  gelegt,  und  das  des  linken  Auges  mit  U,  das  des  rechten 
mit  pp  bezeichnet. 

In   analoger  Weise   ist   der   Fall,    in   welchem   sich    die   Gesichtslinien 
hinter  dem  schwarzen  Papier  kreuzen,  durch  Fig.  47  A  und  B  veranschau- 


-1)  Von  der  geringen  Inkongruenz  der  Anordnung   der  Deckstellen   auf  den 
beiden  Netzhäuten  ist  dabei  abgesehen. 


218 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


licht.  Auch  hierbei  erscheint  uns  das  Papier  beiläufig  in  seiner  wirklichen 
Entfernung,  obwohl  der  Kreuzungspunkt  der  Gesichtslinien  in  größerer  Ent- 
fernung liegt  als  das  Papier. 

An  der  Stelle  jedes  Scheibenbildes  kommen  zwei  verschiedene  unoku- 
lare Farben  zur  Deckung,  nämlich  die  von  der  stärkeren  Strahlung  der 
kleinen  weissen  Papierstelle  einerseits  und  die  von  der  schwachen  Strahlung 
des  schwarzen  Papiers  anderseits  an  korrespondierenden  Stellen  der  beiden 
Sehfelder  bedingte  Farbe.    Gleichwohl  scheint  uns  bei  diesem  Versuche  die 


Fig.  47. 


B 


Farbe  der  beiden  Doppelbilder  keine  andere  zu  sein,  als  die,  welche  uns 
die  weisse  Papierstelle  bei  binokularem  Einfachsehen  derselben  zeigt,  wobei 
je  zwei  korrespondierende  Stellen  der  beiden  Netzhäute  von  der  gleichen 
Strahlung  getroft'en  werden. 

Ist,  wie  wir  eben  annahmen,  das  kleine  doppelt  gesehene  Feld  weiss 
auf  schwarzem  Grunde,  so  könnte  man  sich  die  weisse  Farbe  seines  doppelten 
Bildes  daraus  erklären  wollen,  dass  die  eine  der  beiden  Deckstellen  nur  das  ge- 
ringfügige Licht  des  schwarzen  Grundes  empfängt,  dessen  schwache  Wir- 
kung sich  gegenüber  der  viel  stärkeren   der  weissen  Bildstelle  im  anderen 


§51.   Binokulare  Mischung  beim  Doppeltsehen. 


219 


Auge  nicht  geltend  machen  könne.  Diese  Auffassung  wird  aber  sofort  hin- 
fällig, wenn  man  ein  kleines  schwarzes  Feld  auf  weissem  Grunde  zum 
Versuche  benutzt;  denn  dann  erscheinen  beim  Schielen  die  beiden  Bilder 
schwarz,  obwohl  die  eine  Deckstelle  von  dem  schwachen  Lichte  des  kleinen 
schwarzen  Feldes,  die  andere  von  dem  relativ  starken  Lichte  des  weissen 
Grundes  bestrahlt  ist.  Das  Schwarz  der  kleinen  Scheibe  vermag 
also  hier  das  Weiss  der  korrespondierenden  Stelle  des  Grundes 
ganz  ebenso  aus  dem  Felde  zu  schlagen,  wie  im  vorigen  Falle 
das  Weiss  der  kleinen  Scheibe  das  Schwarz  des  Grundes. 


Fig.  48. 


^üm^ähM^k 


iii'iitiv  ■ntwMimriiiii.i 


Die  Größe  des  Unterschiedes  zwischen  Scheibe  und  Grund  spielt  bei 
den  Versuchen  keine  wesentliche  Rolle;  denn  mag  die  Lichtstärke  der  kleinen 
Scheibe  viel  oder  wenig  von  der  des  Grundes  abweichen,  immer  scheint 
uns  zunächst  das  Doppelbild  dieselbe  Farbe  zu  haben  wie  die  mit  beiden 
Augen  einfach  gesehene  Scheibe.  Es  kommt  nur  darauf  an,  dass  die 
Scheibe  nicht  zu  gross  ist  und  sich  deutlich  genug  vom  Grunde  unter- 
scheidet, und  dass  der  letztere  ganz  homogen  ist  und  nicht  etwa  an  der 
bezüglichen  Stelle  ebenfalls  etwas  Unterscheidbares  enthält.  Auch  auf  die 
Form  des  Feldes  kommt  es  nicht  an,  wenn  es  nur  zureichend  klein  oder 
bei  gestreckter  Form  zureichend  schmal  ist. 


220  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Fig.  48  zeigt  eine  Reihe  kleiner  Kreisfelder  auf  schwarzem,  auf 
weissem  und  auf  grauem  Grunde.  Betrachtet  man  eines  der  Felder  in  ge- 
wöhnlicher Weise  einen  Augenblick  und  kreuzt  unmittelbar  nachher  die 
Gesichtslinien  etwas  vor  oder  hinter  der  Fläche  des  Papiers,  so  bemerkt 
man,  vorausgesetzt,  dass  beide  somatischen  Sehfelder  und  besonders  die 
betroffenen  Stellen  derselben  sich  in  ganz  gleichem  Zustande  befinden, 
keinen  deutlichen  Unterschied  zwischen  der  Farbe  der  jetzt  erscheinenden 
zwei  Felder  und  der  des  unmittelbar  vorher  einfach  gesehenen  kleinen 
Feldes. 

Der  Helligkeitsunterschied  zwischen  Feld  und  Grund  mag  noch  so  klein 
sein,  stets  bedingt  er,  wenn  er  nur  noch  deuthch  wahrnehmbar  ist,  beim  Schielen 
ein  erkennbares  Doppelbild.  Es  genügt,  ein  mattes  weisses  oder  schwarzes  Papier 
mit  einer  etwas  angestaubten  Fingerspitze  zu  berühren,  um  den  entstandenen 
Fleck  auch  im  Doppelbilde  wahrzunehmen. 

Wer  seine  Augen  nicht  genügend  in  der  Gewalt  hat,  um  sich  ein  Doppel- 
bild mit  beliebigem  Abstand  seiner  beiden  Einzelbilder  zu  erzeugen,  halte  eine 
lange,  in  der  Medianebene  des  Kopfes  befindliche  Nadel  in  passendem  Abstände 
vor  das  kleine  Feld  und  fixiere  statt  des  letzteren  die  Nadel.  Wenn  er  die- 
selbe unter  fortwährender  Fixierung  vom  Papiere  entfernt  oder  demselben  nähert, 
kann  er  den  beiden  Einzelbildern  des  Doppelbildes  einen  beliebigen  gegenseitigen 
Abstand  geben. 

Falls  die  beiden  Netzhautstellen,  welche  das  Bild  des  kleinen  Feldes  emp- 
fangen, sich  infolge  vorausgegangener  ungleicher  Bestrahlung  nicht  in  ganz 
gleichem  Zustande  befinden,  so  können  die  beiden  Bilder  des  Doppelbildes  ver- 
schieden erscheinen.  Dasselbe  könnte  auch  bei  einer  beiderseits  ungleich  starken 
Bestrahlung  der  immer  etwas  durchscheinenden  Sklera  der  Fall  sein.  Von  dem 
abnormen  Falle  einer  habituellen  Verschiedenheit  der  beiden  Augen  kann  hier 
abgesehen  werden.  Um  Nachwirkungen  einer  vorausgegangenen  ungleichen  Be- 
strahlung der  beiden  Netzhäute  auszuschließen,  hält  man  ein  größeres  graues 
Blatt  genügend  lange  Zeit  vor  die  Versuchsfläche,  welches  man  erst  unmittelbar 
vor  jedem  Versuche  wegzieht. 

Der  Grund,  auf  dem  das  kleine  Feld  liegt,  soll  ganz  eben  und  von  durch- 
aus homogener  Farbe  sein,  darf  also  auch  kein  unterscheidbares  Korn  zeigen. 
Benutzt  man  kleine  Papierscheiben,  so  sollen  sie  aus  dünnem,  ebenfalls  ganz 
ebenen  Papier  sein  und  dem  Grunde  ganz  dicht  anliegen. 

Bei  dem  beschriebenen  Versuch  erscheinen  die  Doppelbilder  in  der 
Ebene  des  Papiers;  anders  kann  es  sich  verhalten,  wenn  das  kleine  Feld, 
welches  doppelt  gesehen  werden  soll,  sich  nicht  in  jener  Ebene,  sondern 
in  passendem  Abstände  vor  derselben  befindet,  während  man  eine,  auf 
der  im  übrigen  ganz  homogenen  Papierfläche  angebrachte  Marke  binokular 
fixiert.  Auf  diese  Weise  kann  man  ein  ungleichseitiges  (gekreuztes)  Doppel- 
bild erhalten,  welches,  besonders  im  ersten  Augenblick,  nicht  in  der  Ebene 
des  Papiers,  sondern  ebenso  vor  derselben  erscheinen  kann,  wie  das  kleine 
Feld  in  Wirklichkeit  vor  dem  Papier  liegt. 

Es  bedeute  pp  in  Fig.  49  A  den  Durchschnitt  eines  auf  dem  Tische 
liegenden  weissen  Papiers,   f  eine  binokular  fixierte  Marke  auf  demselben 


§51.    Binokulare  Mischung  beim  Doppeltsehen. 


221 


und  s  eine  kleine  schwarze  Scheibe,  deren  Fläche  zu  der  des  weissen 
Papiers  parallel  ist.  Man  bringt  die  Scheibe  mittels  einer  feinen  Pincette 
median  zwischen  Gesicht  und  fixierte  Marke.  Die  Scheibe  wird  dann 
samt  der  Pincette  doppelt  gesehen,  und  das  Doppelbild  oq  und  oX  kann 
dabei  in  beiläufig  derselben  Entfernung  über  dem  Tische  erscheinen,  in 
der  sich  die  wirkliche  Scheibe  über  demselben  befindet,  wie  dies  Fig.  49 B 
veranschaulicht. 

Da  man  bei  Akkommodation  der  Augen  für  die  Entfernung  des  fixierten 
Punktes  die  nähere  doppelt  erscheinende  Scheibe  nicht  scharf  sehen  kann, 
empfiehlt  es  sich,  ihren  Abstand  von  der  Papierfläche  nicht  größer  zu 
nehmen,  als  nötig  ist. 


A 


Fig.  49. 


B 


^^^^^^^^^^^^H       ^ 

m 

A' 

^^^^Hj^^^^^^^^^^^^^l 

JJI 

n^B^^^^^^^^^^^B 

^^H               ; 

^H 

^^^^^^m  '^ 

^^1 

^^^B  .' 

1 

U6'k     ^^H 

■ 

■ 

! 

m 

Auch  bei  dieser  Versuchsanordnung  entspricht  der  Netzhautstelle,  welche 
im  einen  Auge  ein  Bild  der  kleinen  schwarzen  Scheibe  empfängt,  als  korre- 
spondierende im  anderen  Auge  eine  vom  Lichte  des  weißen  Papiers  ge- 
troffene Stelle.  Wenn  nun  die  beiden  Bilder  der  schwarzen  Scheibe  nicht 
in  der  Ebene  des  weißen  Papiers,  sondern  vor  derselben  erscheinen,  so 
wäre  jetzt  Gelegenheit  gegeben,  die  beiden  unokularen  Farben  ge- 
sondert an  zwei  verschiedenen  Stellen  des  Sehraumes  zu  sehen, 
nämlich  die  schwarze  Farbe  vor  der  Papierfläche  und  die  weiße  in  dieser 
selbst,  also  an  den  Orten,  wo  sie  sozusagen  hingehören.  In  Wirklichkeit  aber 
erhält  man  den  Eindruck,  als  verdecke  jedes  der  beiden  schwarzen  Scheiben- 
bilder eine  entsprechende  Stelle  des  weißen  Grundes  und  mache  dieselbe 
unsichtbar,   obwohl  sie  sich  doch  auf  der  einen  Netzhaut   ebenso  abbildet, 


222 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


wie  der  schwarze  Grund  auf  der  anderen.  Der  einfachen  Sehrichtung 
der  beiden  verschieden  beleuchteten  Netzhautstellen  entspricht  also  auch 
nur  eine  Farbe. 

Von  den  eben  beschriebenen  Versuchen  erhält  man  den  Eindruck,  als 
ob  dabei  eine  Mischung  der  beiden  unokularen  Farben  gar  nicht  stattfinde, 
sondern  die  eine  die  andere  völlig  ausschließe.  Es  ist  aber  zu  bedenken, 
dass  bei  diesen  Versuchen  die  Vergleichung  der  Farbe  des  zuvor  binokular 
einfach  gesehenen  kleinen  Feldes   mit  der  seines  nachherigen  Doppelbildes 


nur  eine  sukzessive  ist,  und  dass  solche  Sukzessivvergleichungen  unzuver- 
lässig sind.  Es  gilt  also,  die  Versuche  so  abzuändern,  dass  eine  Simultan- 
vergleichung der  beiden  Farben  möglich  wird. 

Zu  diesem  Zwecke  bringt  man  statt  eines  einzigen,  zwei  in  Form  und 
Farbe  ganz  gleiche  kleine  Felder  auf  dem  helleren  oder  dunkleren  homo- 
genen Grund  an  und  kreuzt  seine  Gesichtslinien  vor  oder  hinter  der  Papier- 
fläche dermaßen,  daß  sich  auf  je  einer  von  zwei  korrespondierenden  Netz- 
hautstellen je  eines  der  beiden  Felder  abbildet,  wie  dies  in  Fig.  50  A  und 
Fig.  51  A  für  den  Fall  zweier  schwarzen  Felder  auf  weißem  Grunde  dar- 
gestellt ist.  Es  erscheinen  dann  drei  kleine  Felder,  ein  in  der  Mitte  lie- 
gendes binokular  gesehenes,  rechts  und  links  daneben  je  ein,  nur  von  einem 


§51.   Binokulare  Mischung  beim  Doppeltsehen. 


223 


Auge  gesehenes  (vgl.  Fig.  50  B  und  Fig.  51  B).  Nun  lässt  sich  die  Farbe 
der  letzteren  mit  der  Farbe  des  ersteren  vergleichen  und  zwar  um  so 
besser,  je  näher  die  beiden  seitlichen  Bilder  dem  Mittelbilde  sind.  In  den 
Figuren  sind  sie  zum  Zwecke  der  Deutlichkeit  der  eingezeichneten  Netzhaut- 
bilder viel  zu  weit  auseinander  gerückt. 

Wenn  die  Gesichtslinien  vor  der  Papierfläche  gekreuzt  sind,  so  kommt  es 
vor,  dass  das  binokulare  Mittelbild  nicht  in,  sondern  vor  dieser  Fläche  in  der 
Luft  schwebend  erscheint,  wie  dies  Fig.  50  B  veranschaulicht.  Dies  ändert  je- 
doch nichts  an  den  Farben  der  Bilder  und  öeeinträchtigt  nicht  deren  Ver- 
gleichung. 


Fig.  51 


B 


Es  empfiehlt  sich  für  den  nicht  besonders  Geübten,  bei  diesen  Ver- 
suchen die  kleinen  Felder,  welche  sich  auch  mit  Hilfe  eines  Locheisens  aus 
geeigneten  Papieren  ausschlagen  und  auf  den  gewählten  andersfarbigen 
Grund  aufkleben  lassen,  in  einer  Gitterzeichnung  anzuordnen,  wie  dies 
Fig.  52  zeigt.  Hält  man  die  Figur  senkrecht  zur  primären  Blickebene,  so 
bleiben  die  durch  binokulare  Deckung  entstandenen  Bilder  dann  viel  sicherer 
vereinigt,   während  sie   ohne   das  Gitter  leicht  wieder  in  ihre  Einzelbilder 


224 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


zerfallen.  Denn  je  vielgestaltiger  die  zu  verschmelzenden  Figuren  sind, 
desto  stärker  ist  der  sogenannte  Fusionszwang.  Mit  Hilfe  des  schon  oben 
(S.  220)  erwähnten  Kunstgriffes  wird  dann  Jeder  durch  Kreuzung  der  Ge- 
sichtslinien vor  der  Papierfläche  zwei  beliebige  von  den  in  Fig.  52  neben- 
einander liegenden  kleinen  Kreisfeldern  zu  dauernder  binokularer  Deckung 
bringen.  Dem  Geübten  wird  dies  auch  durch  Kreuzung  der  Gesichtslinien 
hinter  der  Papierfläche  leicht  gelingen. 

Fig.  52. 


Man  bemerkt  bei  diesen  Versuchen,  dass  die  beiden  nur  von  je  einem 
Auge  gesehenen  seitlichen  Bilder  der  kleinen  Felder  doch  nicht  ganz  die- 
selbe Farbe  haben,  wie  das  von  beiden  Augen  gesehene  Mittelbild,  sondern 
minder  hell  sind  als  letzteres,  falls  der  Grund  lichtschwächer,  minder  dunkel, 
falls  der  Grund  lichtstärker  ist,  als  die  wirklichen  kleinen  Felder.  Dies 
beweist,  dass  die  Farbe  der  seitlichen  Bilder  nicht  ganz  unabhängig  ist 
von  der  Farbe  der  korrespondierenden  Stelle  des  Grundes,  dass  aber  der 
relative  Anteil  der  letzteren  an  der  Farbe  der  seitlichen  Bilder  ein  kleiner 
ist,  und  zwar  wie  sich  später  zeigen  wird,  um  so  kleiner,  je  kleiner  der 
Sehwinkel  der  Felder  (vgl.  §  52,  S.  229). 


§  52.   Einfluss  der  Grenzlinien  auf  die  binokulare  Farbenmischung.        225 

Stellt  man  längere  Versuchsreihen  an,  bei  denen  man  die  Lichtstärke 
des  Grundes  und  der  kleinen  Felder  mannigfach  variiert  und  ebenso  mit 
großen  wie  mit  kleinen  Unterschieden  dieser  Lichtstärken  arbeitet,  so  findet  ♦ 
man,  dass  die  Farbe  der  seitlichen  Bilder  immer  in  dem  erwähnten  Sinne 
von  der  Farbe  des  binokularen  Bildes  abweicht.  Ein  ganz  ausschließliches 
Hervortreten  der  einen  unokularen  Farbe,  wie  es  unsere  früheren  Doppel- 
bildversuche zu  ergeben  schienen,  findet  also,  wenn  die  Felder  nicht  all- 
zuklein sind,  doch  nicht  statt. 

Übrigens  aber  entspricht  das  Ergebnis  dem  früher  ausgesprochenen 
Satze,  dass,  wenn  aus  der  binokularen  Mischung  zweier  ungleicher  ton- 
freier unokularer  Farben  eine  dritte  Farbe  entsteht,  dieselbe  in  der  ton- 
freien Farbenreihe  stets  zwischen  den  beiden  unokularen  Farben  liegt. 

Der  Einfachheit  wegen  wurde  für  die  beschriebenen  Versuche  eine  symme- 
trische Konvergenz  der  Gesichtslinien  angenommen;  es  ist  aber  daran  zu  erinnern, 
dass  es  nach  erfolgter  binokularer  Vereinigung  der  beiden  bezüglichen  kleinen 
Felder  sehr  leicht  ist,  das  Doppelauge  ohne  Änderung  des  Konvergenz- 
winkels nach  rechts  oder  links  zu  wenden  und  auf  diese  Weise 
immer  andere  einander  entsprechende  Punkte  der  beiden  Figuren 
sich  auf  den  Stellen  des  direkten  Sehens  abbilden  zu  lassen,  ganz 
ebenso,  wie  man  bei  Betrachtung  eines  Stereoskopenbildes  seinen  Blick  bald 
diesem,  bald  jenem  Teile  desselben  zuwenden  kann.  Für  unseren  Versuch  er- 
wächst daraus  der  Vorteil,  dass  nicht  notwendig  das  binokulare  Mittelbild  mit 
den  Stellen  des  direkten  Sehens  und  die  seitlichen  Bilder  mit  exzentrischen 
Netzhautstellen  gesehen  werden  müssen.  Die  letzteren  können  bei  nicht  ge- 
nügender Anpassung  lichtempfänglicher  sein  als  die  zentralen  Teile,  was  zu- 
gunsten der  Helligkeit  der  seitlichen  Bilder  wirken  kann.  Blickt  man  aber 
nicht  auf  das  binokulare  Mittelbild,  sondern  auf  eine  zwischen  ihm  und  einem 
Seitenbilde  gelegene  Stelle  des  Grundes,  insbesondere  auf  die  zwischenliegende 
Gitterlinie,  so  entsprechen  den  beiden  zu  vergleichenden  Feldbildern  exzentrische 
Netzhautstellen  von  gleicher  Lichtempfäiiglichkeit,  wie   dies  der  Versuch  fordert. 

Wie  man  zu  verfahren  hat,  wenn  man  bei  diesen  Versuchen  seine  Gesichts- 
linien schon  vor  dem  Sichtbarwerden  der  zuvor  verdeckten  kleinen  Felder  in 
eine  bestimmte  Stellung  bringen  will,  ist  aus  einer  in  §  53  enthaltenen  Be- 
schreibung ersichtlich. 

§  52.  Einfluss  der  Grenzlinien  auf  die  binokulare  Mischung 
ton  freier  Farben.  Hat  man  eine  ausgedehnte  ebene  Fläche  vor  sich, 
deren  durchaus  homogene  linke  Hälfte  von  anderer  Lichtstärke  ist,  als  die 
ebenfalls  durchaus  homogene  rechte,  und  kreuzt  man  die  Gesichtslinien 
ebenso  wie  bei  den  früheren  Versuchen  vor  oder  hinter  der  Fläche,  so 
erscheint  die  Grenzlinie  doppelt. 

In  Fig.  53  Ä  entsprechen  wieder  die  starken  schwarzen  Linien  den 
Gesichtslinien,  die  schwachen  jederseits  derjenigen  Richtungslinie,  welche 
sich  mit  der  Gesichtshnie  des  anderen  Auges  auf  der  halb  weißen,  halb 
schwarzen   Papierfläche    schneidet.      Statt    der    beiden   Augendurchschnitte 

Hering,  LicMsinn.  ^5 


226 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


sind  hier  nur  die  beiden  Knotenpunkte  kl  und  Ä;r  gezeichnet.  Fig.  53  B 
versinnlicht  die  entsprechenden  Sehrichtungen  und  die  sich  deckenden  un- 
okularen Sehfelder;  in  der  Mitte  deckt  sich  ein  Teil  der  schwarzen  Hälfte 
des  linksäugigen  Sehfeldes  mit  einem  Teile  der  weißen  Hälfte  des  rechts- 
äugigen.  Dieser  Mittelteil  erscheint  nicht  in  einer  durchaus  gleichen  Farbe, 
sondern  von  rechts  nach  links  abschattiert,  dicht  an  seiner  rechten  Grenze 
am  hellsten,  dicht  an  der  linken  Grenze  am  dunkelsten  und  im  übrigen  in 
einer   von   rechts   nach   links   zunehmenden    Dunkelheit.     Fig.  55  gibt  ein 


Fig.  53. 


B 


ungefähres  Bild  des  Eindruckes,  den  man  erhält,  wenn  man  die  Gesichts- 
linien vor  oder  hinter  den  in  Fig.  54  dargestellten  Flächen  gekreuzt  hat. 
Das  Analoge  gilt  von  Fig.  57  und  Fig.  56. 

Sind  die  Lichtstärken  der  beiden  Flächenhälften  nicht  zu  verschieden, 
so  machen  die  binokularen  Farben  des  Mittelteils  ganz  ebenso  wie  die  der 
beiden  Seitenteile  den  Eindruck  von  sogenannten  wirklichen  Farben  (s.  §  4, 
S.  7)  des  Papieres.  Bei  größerer  Verschiedenheit  erhalte  ich  vom  Mittel- 
teile mehr  den  Eindruck  einer  zufällig  ungleich  belichteten  oder  teilweise 
beschatteten  Fläche.  Auch  erscheint  er  mir  öfters  beim  Anhalten  des 
Blickes  als  eine  konvexe  oder  konkave  Fläche.  Halte  ich  die  Augen  einige 
Zeit  möglichst  ruhig,  so  mindert  sich  der  anfangs  höchst  auffallende  Unter- 


Flg.  54. 


Fig.  55. 


,      :-4' 

1 

■ 

Fig.  56. 


Fig.  57. 


228  Lehre  vom  Lichtsinn. 

schied  zwischen  den  in  der  Nähe  der  beiden  Grenzlinien  erscheinenden 
Farben  des  Mittelteils,  und  der  letztere  nimmt  eine  mehr  gleichartige  graue 
Farbe  an^).  Gestatte  ich  den  Augen  wieder  ihre  gewohnten  Bewegungen, 
so  tritt  wieder  die  nach  der  einen  Grenzlinie  hin  zunehmende  Weißlichkeit, 
nach  der  anderen  hin  zunehmende  Schwärzlichkeit  auffallender  hervor. 
Sind  die  Papierflächen  nicht  ganz  homogen  gefärbt,  oder  haben  sie  sogar 
kleine  Knickungen,   so   kann   der  Mittelteil   auch  wie  glänzend   erscheinen. 

Bei  wiederholter  Anstellung  desselben  Versuches  ist  die  Art  der  Zu- 
nahme der  Helligkeit  in  der  Nähe  der  einen,  ihre  Abnahme  in  der  Nähe 
der  andern  Grenzlinie  keineswegs  immer  ganz  dieselbe,  sondern  sie  kann 
bald  schroffer  bald  allmählicher  sein;  auch  können  einmal  die  helleren, 
ein  andermal  die  dunkleren  Zwischenfarben  der  beiden  auf  den  Seitenteilen 
erscheinenden  Farben  im  Mittelteile  überwiegen;  immer  aber  ist  die 
Farbe,  die  man  an  einer  beliebigen  Stelle  des  letzteren  sieht, 
eine  in  der  tonfreien  Farbenreihe  zwischen  den  beiden  unoku- 
laren Farben  gelegene,  nie  eine  hellere  oder  eine  dunklere. 

Ob  man  die  Farben  des  Mittelteiles  als  sogenannte  wirkliche  Kürper- 
farben oder  aber  nur  als  zufällige  Schattenfarben  oder  Glanzfarben  sieht, 
ist  hier  insofern  gleichgültig,  als  auch  jede  Schattenstelle  oder  Glanzstelle 
im  einzelnen  Augenblick  immer  nur  eine  binokular  entstandene  Helligkeit 
oder  Dunkelheit  hat.  Solche  Eindrücke  kann  man  auch  beim  Sehen  mit 
nur  einem  Auge  erhalten,  und  sie  sind  keine  besondere  Eigentümlichkeit  der 
binokularen  Farbenmischung.  Schon  in  §  4  habe  ich  auseinandergesetzt, 
dass  man  eine  Fläche  von  ungleich  verteilter  Helligkeit  bald  als  eine  an 
verschiedenen  Stellen  verschieden  gefärbte,  bald  als  eine  nur  zufällig  un- 
gleich belichtete  oder  beschattete  sehen  kann.  Dies  ist  beim  Sehen  mit 
nur  einem  Auge  ebenso  der  Fall,  wie  beim  Sehen  mit  beiden.  Den  vorhin 
erwähnten  Eindruck  der  Konvexität  oder  Konkavität  des  Mittelteiles  der 
bei  unseren  Versuchen  erscheinenden  Fläche  kann  man  ebenfalls  mit  nur 
einem  Auge  erhalten,  wenn  man  eine  einseitig  beleuchtete,  wirklich  ge- 
krümmte Fläche  oder  auch  nur  ihr  Abbild,  wie  z.  B.  den  Mittelteil  der 
in  Fig.  55  und  57  abgebüdeten  Flächen  betrachtet.  Ebenso  ist  der  Glanz 
durchaus  nicht  ein  spezifisch  binokulares  Phänomen  (s.  §  54). 

Unser  Versuch  zeigt,  welche  wichtige  Rolle  hier  die  beiden  Grenzlinien 
bei  der  binokularen  Farbenmischung  spielen.  Nicht  nur  sind  die  beiden 
Grenzlinien  das  zunächst  Auffallende,  sondern  auch  die  an  eine  solche 
unokulare  Grenzlinie  unmittelbar  angrenzende  Farbe  der  zwischenliegenden 
Fläche  ist  der  bezüglichen  unokularen  Farbe  so  ähnhch,  als  sei  ihr  von  der 


\)  Bei  längerem  Stillstande  der  Augen  können  infolge  unwillkürlicher  Schwan- 
kungen derselben  an  den  beiden  Grenzlinien  sehr  helle  oder  dunkle  Säume  er- 
scheinen, welche  die  Folge  eines  Sukzesssivkonstrastes  sind  und  hier  nicht  zur 
Sache  gehören. 


§  52.    Einüuss  der  Grenzlinien  auf  die  binokulare  Farbenmischung.       229 

Farbe  der  Deckstelle  des  andern  Sehfeldes  nichts  oder  äußerst  wenig  bei- 
gemischt, und  als  könne  solche  Beimischung  sich  erst  mit  wachsendem 
Abstand  von  der  Grenzlinie  mehr  und  mehr  geltend  machen. 

Überhaupt  gilt  folgendes:  Wenn  sich  in  einem  von  zwei  korrespon- 
dierenden unokularen  Sehfeldbezirken  eine  Grenzlinie  zweier  Farben  be- 
findet, während  der  andere  eine  durchaus  homogene,  nichts  Unterscheidbares 
enthaltende  Farbe  hat,  so  haben  bei  der  binokularen  Mischung  die  durch 
die  Grenzlinie  geschiedenen  Farben  in  der  Nähe  der  letzteren  das  Über- 
gewicht über  die  nicht  differenzierte  Farbe  im  anderen  Sehfelde.  Panum 
bezeichnete  dieses  Überwiegen  der  Grenz  färben,  wie  ich  sie  nennen  will, 
als  das   »Dominieren  der  Konture«. 

Wir  vermögen  bei  dem  hier  beschriebenen  Versuche  nicht,  willkürlich 
bald  den  homogenen  Inhalt  des  einen,  bald  den  differenzierten  des  andern 
unokularen  Sehfeldbezirkes  erscheinen  zu  lassen;  stets  bleiben  beide  Bilder 
der  Grenzlinie  sichtbar,  und  stets  erscheint  die  zwischenliegende  Fläche 
nach  der  einen  Grenzlinie  hin  heller,  nach  der  anderen  hin  dunkler,  als 
ihr  Mittelteil.  Diese  Thatsache  ist  besonders  gegenüber  der  Ansicht  von 
Helmholtz  hervorzuheben,  nach  welcher  es  bei  ungleicher  Belichtung  zweier 
Deckgebiete  von  unserer  willkürlichen  Aufmerksamkeit  abhängen  soll,  ob 
der  Inhalt  des  einen  oder  des  andern  unokularen  Sehfeldgebietes  über- 
wiegend oder  ausschließlich  zur  Erscheinung  kommt  (vgl.  §  54). 

Ganz  ähnlich  wie  mit  einer  geraden  verhält  es  sich  mit  jeder  beliebig 
geformten  Grenzlinie  zweier  unokularer  Farben,  wenn  der  korrespondierende 
Bezirk  der  anderen  Netzhaut  ganz  gleichmäßig  belichtet  ist.  An  der  Grenz- 
linie haben  im  binokularen  Sehfelde  die  Grenzfarben  das  Uebergewicht  über 
die  im  korrespondierenden  Teile  des  anderen  unokularen  Sehfeldes  gleich- 
mäßig ausgebreitete  Farbe.  Dem  entspricht  es  durchaus,  wenn,  wie  im 
vorhergehenden  Paragraphen  beschrieben  wurde,  das  Doppelbild  eines 
kleinen  Feldes  auf  lichtschwächerem  oder  lichtstärkerem  Grunde  in  der- 
selben Farbe  erscheint^  wie  wenn  wir  es  bei  binokularer  Fixierung  einfach 
sehen.  Denken  wir  uns  z.  B.  die  linksgelegene  der  beiden  in  Fig.  55  dar- 
gestellten unokularen  Grenzlinien  nach  rechts  hin  kreisförmig  umgebogen 
und  also  in  sich  selbst  zurücklaufend:  wäre  die  so  entstandene,  von  der 
Grenzlinie  umschlossene  Kreisfläche  nur  klein,  so  enthielte  sie  nur  die 
dunkle  Grenzfarbe,  die  sich  wegen  der  Kleinheit  des  Feldes  fast  unver- 
ändert bis  in  den  Mittelpunkt  desselben  erstrecken  würde.  Dies  entspricht 
dem  Falle,  wo  ein  lichtschwächeres  kleines  Feld  auf  lichtstärkerem  Grunde 
doppelt  gesehen  wird.  Denken  wir  uns  andererseits  die  rechts  gelegene 
Grenzlinie  der  Fig.  55  nach  links  hin  kreisförmig  umgebogen,  so  enthält 
das  so  entstandene  Kreisfeld  nur  die  helle  Grenzfarbe,  was  dem  Falle  des 
Doppelsehens  eines  lichtstärkeren  Feldes  auf  lichtschwächerem  Grunde 
entspricht. 


230 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Ist  das  als  Doppelbild  erscheinende  Kreisfeld  zu  groß,  so  dass  sein 
zentraler  Teil  zu  weit  von  der  Grenzlinie  abliegt,  so  kann  derselbe  deutlich 
heller  bezw.  dunkler  als  die  periphere  Zone  des  Feldes  erscheinen,  wovon 
man  sich  überzeugen  wird,  wenn  man  den  Doppelbildversuch  mit  größeren 
Kreisfeldern  anstellt,  als  wie  sie  in  §  51   angenommen  waren. 

Wäre  das  kleine  Feld  nicht  kreisförmig,  sondern  bei  gleichem  Flächen- 
inhalt elliptisch  oder  sonst  wie  in  die  Länge  gezogen,    so  ist  es  ganz  von 


Fig.  58  A. 


M 

G 

c 

T 

M 

C 

N 

F 

Z 

N 

Z 

D 

H 

Y 

0 

H 

R 

0 

L 

u 

E 

K 

L 

U 

Fig.  58  B. 


T 

M 

G 

C 

N 

F 

Z 

D 

H 

Y 

R 

0 

K 

L 

U 

E 

der  Grenzfarbe  erfüllt,  die  in  dem  kreisförmigen  Felde  nur  dicht  an  der 
Peripherie  erscheint.  Daher  besteht  zwischen  der  Farbe  eines  binokular 
fixierten  Feldes,  dessen  Lichtstärke  von  der  des  umgebenden  Grundes  ver- 
schieden ist,  und  der  Farbe  seines  Doppelbildes  ein  um  so  kleinerer  Unter- 
schied, je  schmäler  das  Feld  ist.  Man  kann  dies  sehen,  wenn  man  ab- 
wechselnd größere  und  kleinere  Kreisfelder  oder  breitere  und  schmälere 
Streifen  zum  Doppelbildversuche  benutzt.    Schwarze  Buchstaben  auf  weißem 


§  33.   Binokulare  Deckung  kongruenter  Bilder  von  verschiedener  Farbe.     231 

Grunde  erscheinen  uns  daher  unokular  gesehen  schwarz  wie  die  binokular 
gesehenen. 

Bringt  man  mit  Hilfe  einer  haploskopischen  Vorrichtung  die  beiden 
Hälften  der  Fig.  58  A  zu  binokularer  Deckung,  so  erhält  man  ein  Ver- 
schmelzungsbild, wie  es  Fig.  58  B  darstellt.  Sämtliche  Buchstaben  er- 
scheinen schwarz.  Gleichwohl  werden  dabei  gewisse  Buchstaben  nur  vom 
linken,  andere  nur  vom  rechten,  und  nur  die  übrigen  von  beiden  Augen 
zugleich  gesehen.  Mancher  vermag  gar  nicht  ohne  weiteres  zu  unter- 
scheiden, welche  Buchstaben  nur  auf  einer,  und  welche  auf  beiden  Netz- 
häuten zugleich  abgebildet  sind.  Die  Gitterlinien  erleichtern  die  Konstanz 
des  passenden  Konvergenzwinkels  der  Gesichtslinien.  Wird  derselbe  will- 
kürlich oder  unwillkürlich  ein  wenig  geändert,  so  zerfallen  die  binokular 
gesehenen  Buchstaben  in  Doppelbilder,  die  übrigen  bleiben   einfach. 

Wer  kurzsichtig  ist  oder  sich  durch  eine  Konvexbrille  kurzsichtig  macht, 
bedarf  zu  dem  Versuche  keiner  haploskopischen  Vorrichtung;  er  braucht  nur 
seine  Gesichtslinien  weit  hinter  der  Figur  zu  durchkreuzen  und  dieselbe  in  den 
Abstand  seines  Fernpunktes  zu  bringen. 

§  53.  Binokulare  Deckung  zweier  kleiner  Felder  von  gleicher 
Form,  aber  ungleicher  Farbe  auf  beiderseits  gleichem  Grunde. 
Bei  den  bisher  beschriebenen  Versuchen  handelte  es  sich  um  binokulare 
Deckung  zweier  unokularer  Sehfeldbezirke,  deren  einer  aus  einer  homo- 
genen Farbe  bestand,  während  im  anderen  dieselbe  Farbe  ein  anders- 
farbiges Feld  umgab  oder  an  ein  solches  grenzte.  Es  enthielt  also  nur 
der  eine  unokulare  Bezirk  etwas  Unterscheidbares.  Jetzt  handelt  es  sich 
um  binokulare  Deckung  zweier  Bezirke,  die  beide  an  korrespondierenden 
Stellen  je  ein  kleines  vom  Grunde  verschiedenes  Feld  enthalten.  Die  Farbe 
des  Grundes  ist  wieder  in  beiden  unokularen  Bezirken  die  gleiche,  aber 
die  Farbe  der  kongruenten  und  sich  deckenden  kleinen  Felder  ist  nicht 
beiderseits  gleich.  Infolge  der  Kleinheit  der  Felder  wirken  ihre  Farben  als 
Grenzfarben,  und  auf  die  Mischung  der  letzteren  kommt  es  jetzt  an. 

Um  die  aus  dieser  Mischung  hervorgehende  neue  Farbe  mit  jeder 
der  beiden  unokularen  vergleichen  zu  können,  kann  man  sich  einer  durch 
Fig.  59  A  und  Fig.  59  B  erläuterten  Methode  bedienen. 

Fig.  59  A  zeigt  drei  Paare  kleiner  Kreisfelder  von  gleichem  Durch- 
messer, wie  sie  sich  leicht  mittels  eines  Locheisens  aus  mattgrauem  Papiere 
herstellen  lassen.  Das  mittle  Paar  ist  dasjenige,  um  dessen  binokulare 
Vereinigung  es  sich  handelt.  Die  beiden  Felder  des  obersten  Paares  sind 
sowohl  unter  sich  als  mit  dem  rechten  Felde  des  mittlen  Paares  von 
gleicher  Lichtstärke,  dasselbe  gilt  von  den  beiden  untersten  Feldern  und 
dem  linken  des  mittlen  Paares.  Kreuzt  man  in  entsprechender  Weise 
vor  der  Ebene  einer  derartigen  Figur  die  Gesichtslinien,  so  sieht  man,  wie 


232 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


'S 


dies  Fig.  59  B  veranschaulicht,  neun  Felder,  von  denen  hier  nur  die  mittle 
binokular  gesehene  Längsreihe  in  Betracht  kommt.  Wie  solche  Versuche 
in  exakter  Weise  auf  einer  ganz  ebenen  schwarzen,  weißen  oder  grauen 
Fläche  mit  Benützung  eines  binokular  gesehenen  Gitters  anzustellen  sind, 
ist  weiter  unten  beschrieben. 

Da  durch  Vereinigung  zweier  gleicher  unokularer  Farben  nur  wieder 
dieselbe  Farbe  entsteht  (vgl.  S.  214),  so  zeigt  das  obere  und  das  untere 
Feld  der  mittlen  Längsreihe  je  eine  der  beiden  ungleichen  Farben,  welche 
im  Mittelfelde  zu  einer  dritten  Farbe  vereinigt  sind,  und  es  lässt  sich 
letztere  bequem  mit  jeder  der  beiden  ersteren  vergleichen.  Dabei  ergiebt 
sich,  dass  diese  dritte  Farbe  zwar  keine  ganz  konstante,  aber  stets 
heller  als  die  dunklere  und  dunkler  als  die  hellere  der  beiden 
Farben  ist,  aus  deren  binokularer  Mischung  sie  entstand,  wenn 
sie  nicht  im  besonderen  Falle  der  einen  gleicht.     Wiederholt  man 


Fig.  59  A. 


Fig.  59B. 


mit  genügend  langen  Pausen  den  Versuch  öfter,  so  zeigt  sich,  dass  die 
auf  den  ersten  Blick  erscheinende  Mischfarbe  bald  der  einen,  bald  der 
andern  jener  beiden  Farben  ähnhcher  ist  oder  im  Grenzfall  ihr  gleich  scheint. 
Dreht  man,  was  als  Kontroiversuch  zu  empfehlen  ist,  die  Fig.  59  A  um 
180°,  so  dass  die  Bilder  der  beiden  ungleichen  Scheiben  des  mittlen 
Paares  auf  der  Doppelnetzhaut  ihren  Platz  vertauschen,  so  erhält  man 
öfters  vom  mittlen  Felde  eine  andere  Mischfarbe  als  bei  der  anfäng- 
lichen Lage. 

In  Fig.  59  ist  die  Verschiedenheit  der  beiden  unokularen  Lichtstärken 
nicht  groß;  je  größer  man  sie  wählt,  desto  leichter  tritt  der  Fall  ein,  dass 
die  binokulare  Mischfarbe  nicht  im  ganzen  Felde  dieselbe  ist,  oder  dass 
das  Feld  auf  den  ersten  Blick  teils  in  der  Farbe  des  oberen,  teils  in  der 
des  unteren  Feldes  erscheint.  Letzterenfalls  gehen  diese  beiden  Farben 
bald  schroffer,   bald  mehr  allmählich  ineinander  über. 

Je  größer  die  Verschiedenheit  der  beiden  unokularen  Lichtstärken  ist, 
desto  strenger  ist  darauf  zu  achten,  dass  die  Hauptbedingungen,  welche  bei  dem 
Versuche  vorausgesetzt  sind,  auch  wirklich  erfüllt  werden.    Die  eine  dieser 


§  33.   Binokulare  Deckung  kongruenter  Bilder  von  verschiedener  Farbe.     233 

Bedingungen  ist,  dass  in  dem  Augenblicke,  wo  dem  Beobachter  die  Felder 
sichtbar  werden,  seine  Gesichtslinien  bereits  die  Stellung  haben,  welche  zu 
einer  genau  korrespondierenden  Lage  der  bezüglichen  Netzhautbilder  nötig 
ist.  Die  andere  Hauptbedingung  ist,  dass  man  bei  jedem  Einzelversuche 
schon  vor  dem  Erscheinen  der  Felder  bestimmt  hat,  ob  man  das  Mittel- 
bild mit  dem  oberen  oder  mit  dem  unteren  Bilde  der  Mittelreihe  vergleichen 
will.  Ersterenfalls  muss  man  den  Blickpunkt  auf  den  Zwischenraum  zwischen 
dem  oberen  und  dem  mittlen  Felde,  letzterenfalls  zwischen  dieses  und 
das  untere  Feld  verlegen  und  dementsprechend  die  Gesichtslinien  schon  vor 
dem  Versuche  eingestellt  haben. 

Man  erreicht  dies  alles  mit  Hilfe  einer  Glastafel,  welche  an  einem 
Stativ  in  senkrechter  Richtung  verschiebbar  und  mit  einem  rechtwinkligen 
Liniengitter  versehen  ist,  welches  hier  an  die  Stelle  des  in  Fig.  59  A  auf 
dem  Papiere  befindlichen  Gitters  zu  treten  hat.  Befindet  sich  auf  dem 
Tische,  über  welchem  die  horizontale  Glastafel  in  passender  Höhe  einge- 
stellt ist,  ein  ganz  homogenes  schwarzes  Papier,  so  müssen  die  Linien  des 
Gitters  auf  dem  Glase  weiß,  bei  Benutzung  eines  weißen  Papieres  schwarz 
sein,  während  zu  einem  grauen  Papiere  beide  Gitterarten  passen.  Nachdem 
man  den  Kopf  in  passender  Höhe  über  der  Glastafel  irgendwie  fixiert  hat, 
stellt  man  die  Gesichtslinien  auf  die  Entfernung  der  Glastafel  ein,  indem 
man  die  Linien  des  Gitters  betrachtet,  und  ordnet  dann  die  sechs  kleinen 
Scheiben  auf  dem  Papiere  so  an,  dass  jedes  Scheibenbild,  sei  es  ein  bin- 
okular oder  ein  nur  unokular  gesehenes,  in  einem  Quadrate  des  Gitters 
ebenso  erscheint,  wie  in  Fig.  59  B.  Die  ganz  richtige  Lagerung  der 
Scheiben  erkennt  man  mit  großer  Genauigkeit  daran,  dass  die  binokular 
gesehenen  Scheibenbilder  der  Mittelreihe  nicht  in  der  Ebene  des  Papieres 
auf  dem  Tische,  sondern  in  der  Ebene  des  Gitters  erscheinen.  Sobald 
eines  dieser  Bilder  dauernd  unterhalb  oder  oberhalb  des  Gitters  zu  schweben 
scheint,  haben  die  beiden  bezüglichen  Papierscheiben  erstenfalls  einen  zu 
kleinen,  letztenfalls  einen  zu  großen  gegenseitigen  Abstand.  Ob  die  un- 
okularen Bilder  dem  Beobachter  in  der  Ebene  des  Glases  oder  des  Papieres 
erscheinen,  ist  hier  gleichgültig.  Durch  eine  schwarze  Samtmaske  oder 
durch  einen  vor  dem  Gesichte  befindlichen  schwarzen  Schirm  mit  zwei 
Löchern  macht  man  das  Spiegelbild  seines  Gesichtes  unschädlich. 

Nach  dieser  Vorbereitung  lässt  man  von  einem  Gehilfen  ein  steifes, 
ganz  homogenes  graues  Papier  horizontal  über  das  Papier  mit  den  Scheiben 
halten,  und  wartet,  ohne  die  Lage  seines  irgendwie  gestützten  Kopfes  zu 
ändern,  so  lange,  bis  alle  Nachwirkungen  der  früheren  Betrachtung  der 
Scheiben  verklungen  sind,  fixiert  dann  diejenige  Gitterlinie,  welche  vorher 
zwischen  den  beiden  zu  vergleichenden  Scheibenbildern  erschien,  und  lässt 
endlich  das  graue  Papier  wieder  wegziehen.  Unter  solchen  Umständen  ge- 
lingt es  mir  leicht,  bei  nicht  zu  großer  Verschiedenheit  der  beiden  unoku- 


234 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


Fig.  60. 


laren  Lichtstärken,  das  mittle  Scheibenbild  sofort  in  einer  homogenen  Farbe 
zu  sehen,  welche,  wie  gesagt,  bei  wiederholten  Versuchen  nicht  immer 
wieder  dieselbe,  sondern  bald  der  des  oberen,  bald 
der  des  unteren  Scheibenbildes  der  Mittelreihe  ähn- 
licher ist  und  bei  etwas  verlängerter  Betrachtung  ihre 
Qualität  ändern  kann. 

Wenn  ich  aber  bei   guter  Beleuchtung   schwarze 
und  weiße  Scheiben  auf  grauem  Grunde,  wie  sie  Fig.  60 


zeigt, 


zum   Versuche   wähle,    so 


gelingt  es 


mir   zwar 


^^^^^^^^H  auch,  das  mittle  Scheibenbild  in  einer  homogenen  Farbe 
^^^^^^^^H  zu  sehen,  doch  ist  dieselbe  nur  zuweilen  von  den 
beiden  anderen  Farben  erheblich  verschieden  und  meist 
dem  unteren  weißen  Scheibenbilde  der  Mittelreihe  oder  seltener  dem  oberen 
schwarzen  Scheibenbilde  nahezu  oder  völlig  gleich.    Überdies  wechselt  leicht 


Fig.  61. 


bei  etwas  verlängerter  Betrachtung   trotz  möglichst   unverrückter  Augen- 
stellung die  Farbe  des  Scheibenbildes  zwischen  Schwarz  und  Weiß,   sei  es 


§  53.    Binokularer  Weltstreit  tonfreier  Farben. 


235 


an  beschränkter  Stelle  oder  im  Ganzen,  und  dieser  Farbenwechsel  kann 
sich  so  schnell  vollziehen,  dass  die  Zwischenstufen  der  beiden  Farben  nicht 
deutlich  zur  Wahrnehmung  kommen.  Dabei  scheint  gewöhnlich  das 
Scheibenbild  zu  glänzen. 

Hier  zeigt  sich  also  in  besonders  ausgeprägter  Weise  ein  Wettstreit 
der  beiden  Grenzfarben.  Doch  sieht  man  niemals  an  einem  und  demselben 
Punkte  des  Feldes  die  schwarze  und  die  weiße  Farbe  zugleich,  und  ebenso- 
wenig die  eine  hinter  der  anderen,  wie  dies  der  Fall  sein  würde,  wenn 
die  eine  in  der  Ebene  des  Gilters,  die  andere  dahinter  auf  dem  entfernteren 
Papiere  erschiene  (vgl.  S.  221).  Ein  derartiges  räumlich  gesondertes  Er- 
scheinen der  beiden  Farben  tritt  selbst  bei  der  folgenden  Abänderung  des 
Versuches  nicht  ein. 

Man  bringe  das  Gitter  wieder  statt  auf  der  Glasplatte  auf  grauem 
Papiere  so  an,  wie  dies  S.  232  beschrieben  wurde.     In  ein  Viereck  dieses 


Fig.  62. 


Fig.  63. 


Gitters  lege  man  eine  schwarze  Scheibe  [s  in  Fig.  61 )  und  auf  die  Glasplatte  {gg\ 
eine  kleine  weiße  Scheibe  [w),  welche  für  das  eine  z.  B.  linke  Auge  den- 
selben Gesichtswinkel  hat,  wie  die  schwarze  Scheibe  auf  dem  Papiere_,  und 
die  letztere  genau  deckt  (vgl.  Fig.  61).  Stellt  man  dann  die  Gesichtslinien 
auf  das  Papier  ein,  so  erscheint  die  weiße  Scheibe  in  Doppelbildern,  deren 
eines  sich  mit  dem  Bilde  der  nur  vom  rechten  Auge  gesehenen  schwarzen 
Scheibe  deckt.  Dabei  kommt  es  nie  vor,  dass  die  weiße  und 
schwarze  Farbe,  jede  rein  für  sich,  in  verschiedener  Entfernung 
erscheinen,  nämlich  die  weiße  näher,  und  die  schwarze  in  der- 
selben Richtung  dahinter  in  größerer  Entfernung.  Das  Ergebnis 
ist  vielmehr  so,  wie  bei  der  Benutzung  der  Fig.  60.  Der  analoge  Versuch 
lässt  sich  mit  zwei  grauen  Scheiben  von  verschiedener  Lichtstärke  auf 
weißem  oder  schwarzem  Grunde  anstellen,  wobei  kein  Wettstreit  sichtbar  ist. 
Dies  alles  beweist,  dass  hier  die  Einheit  der  Farbe  und  die 
Einheit  der  Sehrichtung  zwangsweise  verbunden  sind. 


236  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Wenn  man  unter  dem  erwähnten  Gitter  der  Glasplatte  vier  teils  weiße, 
teils  schwarze  Scheiben  auf  einer  grauen  Fläche  so  anordnet,  wie  es 
Fig.  62  und  63  zeigt,  so  sieht  man  unter  den  erwähnten  Bedingungen  wieder 
drei  Reihen  von  Scheibenbildern,  doch  enthält  die  Mittelreihe  jetzt  zwei 
durch  binokulare  Deckung  ungleichfarbiger  Scheiben  entstandene  und  den 
Wettstreit  zeigende  Bilder.  Dabei  ist  bemerkenswert,  dass  sich  diese  beiden 
Bilder  gleichzeitig  in  ganz  verschiedenen  Phasen  des  Wettstreites  befinden 
können,  und  dass  also  im  binokularen  Sehfelde  an  jeder  Stelle 
unabhängig  von  den  anderen  Stellen  der  Wettstreit  der  unoku- 
laren Grenzfarben  ablaufen  kann. 

Alle  diese  Erscheinungen,  sowohl  die  bei  nicht  zu  großer 
Verschiedenheit  der  beiden  Farben  wechselnde  Art  ihrer  bino- 
kularen Mischfarbe,  als  auch  die  Phänomene  des  Wettstreits  sind 
unserer  Willkür  entrückt.  Wenn  man  sich  vor  dem  Sichtbarwerden 
des  binokularen  Scheibenbildes  noch  so  lebhaft  eine  bestimmte  Farbe 
desselben  vorstellt,  so  hat  dies  doch  keinen  Einfluss  auf  die  dann  wirklich 
erscheinende,  und  ebenso  treten  die  verschiedenen  Phasen  des  Wettstreites 
nicht  nur  ohne,  sondern  auch  wider  unseren  Willen  ein. 

Wettstreit  entsteht  da,  wo  zwei  verschiedene  Grenz  färben  zur  Deckung 
kommen.  Bei  den  in  §  52  beschriebenen  Versuchen  handelte  es  sich  auch  um 
binokulare  Deckung  zweier  verschiedener  Farben,  aber  dort  war  stets  nur 
die  eine  der  beiden  unokularen  Farben  eine  Grenzfarbe  und  dementsprechend 
fehlte  der  Wettstreit  vollständig.  Je  verschiedener  die  beiden  sich  decken- 
den Grenzfarben,  desto  auffallender  ihr  Wettstreit.  Eine  sich  scharf  absetzende 
Grenzfarbe  ist  im  Vorteil  gegenüber  einer  verwaschen  begrenzten  u.  a.  m. 
Hier  galt  es  nur  zu  zeigen,  dass  auch  im  Falle  des  Wettstreites  auf  jeder 
einzelnen  binokularen  Sehrichtungslinie  in  jedem  Augenblicke  stets  nur  eine 
Farbe  erscheint,  sei  es  eine  der  beiden  unokularen  oder  eine,  die  sich  als 
ein  Gemisch  beider  bezeichnen  lässt.  Wenn  einmal  beide  unokularen  Farben 
innerhalb  eines  binokularen  Scheibenbildes  zugleich  nebeneinander  erscheinen, 
so  sind  sie  doch  nicht  durch  eine  scharfe  Grenze  voneinander  geschieden, 
sondern  die  eine  geht  durch  alle  Zwischenfarben  in  die  andere  über. 

Die  mit  Benützung  des  beschriebenen  Gitters  auf  der  Glastafel  und 
kleiner  Papierscheiben  anzustellenden  Versuche  sind  auch  in  anderer  Be- 
ziehung belehrend.  Es  wurde  schon  erwähnt,  dass  bei  ganz  richtiger 
Anordnung  der  Scheiben  die  durch  binokulare  Deckung  zweier  Scheiben 
entstandenen  Bilder  der  Mittelreihe  genau  in  der  Ebene  der  Gitterlinien  er- 
scheinen. Dies  gilt  jedoch  von  dem  durch  binokulare  Deckung  der  ungleich- 
farbigen Scheiben  entstandenen  mittlen  Bilde  der  Reihe  nur  insoweit,  als 
die  Verschiedenheit  der  Farben  keine  zu  große  ist.  Zeigt  dieses  Bild  infolge 
zu  großer  Verschiedenheit  der  beiden  Farben  nur  die  eine,  oder  kommt  es 
zu   einem  Wettstreit,    so  ist   auch  der  Ort  des   Bildes   innerhalb    der  ihm 


§  53.   Die  Erscheinung  des  Glanzes.  237 

zukommenden  Sehrichlung  nicht  mehr  ein  fest  bestimmter,  und  man  kann 
es  dann  bald  in  der  Ebene  des  Gitters,  bald  auf  dem  darunter  liegenden 
Papiere  sehen. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  hier  die  binokulare  Deckung  zweier  kleiner 
Felder  von  kongruenter  Form  aber  ungleicher  Farbe  auf  beiderseits  gleichem 
Grunde,  ließe  sich  nun  auch  die  binokulare  Deckung  kleiner  Felder  von 
gleicher  Farbe  auf  beiderseits  ungleichfarbigem  Grunde  und  endlich 
der  Fall  besprechen,  wo  bei  kongruenter  Form  sowohl  die  Farbe  des  Feldes 
als  die  des  Grundes  beiderseits  verschieden  ist.  Es  ergeben  sich  jedoch  dabei 
betreffs  der  binokularen  Mischung  keine  neuen  Gesichtspunkte,  wenngleich 
eine  möglichst  erschöpfende,  auf  eigne  Beobachtung  gegründete  Kenntnis 
der  hierher  gehörigen  Erscheinungen  für  denjenigen  wünschenswert  ist,  der 
sich  die  Berechtigung  zur  Kritik  der  Ergebnisse  der  auf  diesem  Gebiete 
erfahrenen  Forscher  erwerben  will. 

Über  die  Erscheinung  des  Glanzes.  Die  oben  erwähnte  Erscheinung 
des  Glanzes  erfordert  noch  eine  kurze  Besprechung,  obwohl  derselbe  in  ebenso 
deutlicher  Weise  auch  beim  einäugigen  Sehen  vorkommt,  wie  dies  schon 
WüNDT  hervorgehoben  hat.  Wenn  auf  einer  Fläche,  gleichviel  ob  sie  nur 
mit  einem  Auge  gesehen  wird,  oder  ob  sie  beiden  Augen  gleiche  und  sich 
genau  deckende  Bilder  gibt,  ein  Hell  erscheint,  das  wir  nicht  als  eine  der 
Fläche  eigentümliche  »wirkliche«,  sondern  nur  als  eine  zufällige  Farbe  der- 
selben auffassen  (vgl.  §  4),  so  kann  uns  die  Fläche  glänzend  erscheinen. 
Dabei  ist  meist  schon  die  Art  der  Verteilung  von  Hell  und  Dunkel  auf  der 
Fläche  entscheidend.  Ein  treues  photographisches  Abbild  einer  solchen 
Fläche  kann  ebenfalls  den  Eindruck  des  Glanzes  machen,  sowohl  bei  einäugigem 
als  bei  doppeläugigem  Sehen.  Dies  beweist  schon,  dass  die  Erscheinung  des 
Glanzes  nicht  an  das  Binokularsehen  gebunden  ist.  Bei  letzterem  kann  es 
allerdings  vorkommen,  dass  die  Lichtreflexe,  welche  die  Fläche  glänzend 
erscheinen  lassen,  nur  das  eine  Auge  treffen,  und  dass  daher  der  Glanz 
verschwindet,  wenn  wir  dieses  Auge  schließen;  ebenso  kann  es  vorkommen^ 
dass  die  Lichtreflexe  beiden  Augen  verschieden  und  an  verschiedenen  Stellen 
der  Fläche  erscheinen.  In  solchen  Fällen  kommen,  ähnlich  wie  bei  den 
obigen  Versuchen,  ungleiche  unokulare  Farben  zu  binokularer  Deckung. 

Alle  diese  Arten  des  Glanzes  treten  schon  beim  ersten  Anblick  der 
Fläche  auf,  und  selbst  eine  nur  momentane  Beleuchtung  reicht  zur  Er- 
scheinung des  Glanzes  hin.  Bewegungen  oder  Intensitätsänderung  der 
Lichtquelle  oder  auch  bloße  Kopfbewegungen  bewirken  Änderungen  der 
Helligkeit  oder  Lage  der  Reflexe,  und  dasselbe  tun  Bewegungen  der  re- 
flektierenden Fläche.  Dabei  entsteht  sow^ohl  bei  einäugigem  als  bei  doppel- 
äugigem Sehen  ein  unruhig  wechselnder  Glanz,  wie  ihn  in  ausgeprägtester 
Weise  eine  bewegte  Wasserfläche  zeigen  kann.  Eine  solche,  sich  immer 
wieder  ändernde  Verteilung  von  Hell  und  Dunkel  auf  der  gesehenen  Fläche 


238  '  Lßhre  vom  Lichtsinn. 

kommt  bei   dem   oben    beschriebenen  Wettstreit  zweier   unokularer  Farben 
ebenfalls  vor. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  die  Erscheinung  des  Glanzes  beim  bino- 
kularen Sehen  nichts  gegen  den  oben  aufgestellten  Satz  beweist,  nach 
welchem  die  auf  einer  und  derselben  Sehrichtungslinie  erscheinende  bino- 
kulare Farbe  in  jedem  einzelnen  Augenblicke  eine  einfache  ist,  wenngleich 
sie  ebenso  wie  eine  unokulare  in  verschiedener  Weise  gesehen  werden 
kann  (vgl.  §  49). 

Eine  vorzügliche  Darlegung  der  Bedingungen,  unter  denen  die  Erscheinung 
des  Glanzes  auftritt,  hat  Helmholtz  in  seinem  Handbuch  der  physiologischen 
Optik  gegeben,  und  in  der  zweiten  Auflage  dieses  Werkes  findet  man  auch  ein 
umfassendes  Verzeichnis  der  bezüglichen  Lilteratur.  Nach  der  Ansicht  von 
Helmholtz  ist  die  Erscheinung  des  binokularen  oder,  wie  er  sagt,  stereoskopi- 
schen Glanzes  »für  die  Theorie  der  Thätigkeit  beider  Netzhäute  deshalb  von 
Interesse,  weil  daraus  mit  Sicherheit  hervorgeht,  was  bei  den  verschiedenen 
Aussagen  verschiedener  Beobachter  über  die  Erfolge  der  binokularen  Deckung 
verschiedener  Bilder  vielleicht  zweifelhaft  bleiben  könnte,  dass  zwei  heterogene 
Lichtwirkimgen  auf  korrespondierende  Netzhautstellen  stets  einen  durchaus 
anderen  sinnlichen  Eindruck  machen,  als  zwei  gleichartige  Einwirkungen  auf 
dieselben  Stellen«. 

Wenn  man  aber  z.  B.  einen  schwarzen  Buchstaben  auf  weißem  Grunde 
oder  einen  weißen  auf  schwarzem  Grunde  zuerst  mit  richtig  eingestellten  Ge- 
sichtslinien binokular  und  sodann  bei  etwas  geänderter  Convergenz  eines  seiner 
beiden  Doppelbilder  nur  unokular  fixiert  (vgl.  §51),  so  wird  Niemand  sagen 
können,  dass  das  letztere  Bild  »einen  durchaus  anderen  sinnlichen  Eindruck 
mache«,  als  das  Bild  des  zuvor  binokular  fixierten  Buchstabens ;  die  beiden  Ein- 
drücke sind  vielmehr  zum  Verwechseln  ähnlich.  Und  doch  finden  im  einen 
Falle  »zwei  gleichartige  Einwirkungen«  auf  zwei  korrespondierenden  Stellen,  im 
andern  auf  ganz  denselben  Stellen  zwei  »heterogene«  Einwirkungen  statt,  näm- 
lich einerseits  die  Einwirkung  des  von  einem  schwarzen  bzw.  weißen  Buchstaben, 
anderseits  die  Einwirkung  des  vom  weißen  bzw.  schwarzen  Grunde  ausgehenden 
Lichtes.  Dasselbe  gilt  von  den  bei  binokularer  Deckung  der  beiden  Hälften  der 
Fig.  58  auf  S.  230  gesehenen  Buchstaben;  die  von  beiden  Augen  zugleich  ge- 
sehenen unterscheiden  sich  oft  gar  nicht  und  nur  bisweilen  kaum  merklich 
von  den  nur  mit  einem  Auge  gesehenen.  Wenn  man  freilich  in  der  linken 
Hälfte  der  Figur  die  Buchstaben  weiß  und  den  Grund  schwarz  machen  würde, 
während  in  der  rechten  Hälfte  die  Buchstaben  schwarz  auf  weiß  bleiben,  so 
würden  uns  die  nur  vom  linken  Auge  gesehenen  Buchstaben  weiß  und  die 
nur  vom  rechten  gesehenen  schwarz  erscheinen,  die  von  beiden  Augen  zugleich 
gesehenen  aber  würden,  insoweit  es  überhaupt  vorübergehend  gelänge,  sie  zu 
genauer  binokularer  Deckung  zu  bringen,  das  Phänomen  des  Wettstreites  zeigen 
können,  wie  dies  bei  den  durch  Fig.  60  illustrierten  Versuchen  beschrieben 
wurde. 

Helmholtz  hat  nicht  beachtet,  daß  sich  aus  zwei  heterogenen  Lichtwirkungen 
auf  korrespondierende  Stellen  nur  eine  einfache  Farbe  ergibt,  die  allerdings  eine 
inkonstante  und  sogar  ziemlich  schnell  wechselnde  sein  kann,  sich  aber  nie  in 
zwei  gleichzeitig  auf  derselben  SehrichtungsHnie  erscheinende  unokulare 
Farben,    z.  B.    im    vorliegenden   Falle   in    ein    völliges    Weiß    und    ein    völliges 


§54.    Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder. 


239 


Schwarz  spaltet.  Damit  fällt  auch  eine  Hauptstütze  seiner  Theorie  des  Bino- 
kularsehens und  seiner  Polemik  gegen  die  Annahme  eines  angeborenen  Zu- 
sammenhanges zwischen  dem  Einfachsehen  der  Farben  und  der  Identität  der 
Sehrichtungslinien  zweier  Deckstellen.  Dies  möge  hier  erwähnt  sein,  weil 
V.  Kries  in  seinen  Zusätzen  zu  einem  kürzlich  erschienenen  Neudruck  der  ersten 
Auflage  des  Werkes  von  Helmholtz  wieder  für  dessen  Theorie  des  binokularen 
Sehens  eingetreten   ist. 


§  54.  Die  binokulare  Farbenmischung  bei  binokularer 
Deckung  inkongruenter  Bilder.  Bei  den  im  vorhergehenden  Para- 
graphen besprochenen  Fällen  wurden  kongruente  Figuren  auf  korrespon- 
dierenden Stellen  der  beiden  Netzhäute  abgebildet;  nur  in  der  Licht- 
stärke waren  die  Figuren  verschieden.  Viel  häufiger  ist  beim  gewöhnlichen 
Sehen  der  Fall,  dass  kleinere  oder  größere  korrespondierende  Bezirke   der 


Fig.  64. 


beiden  Netzhäute  mit  völlig  inkongruenten  Bildern  bedeckt  sind.  Bei  Be- 
trachtung naher  Dinge,  hinter  denen  noch  andere  sichtbar  sind,  bildet  die 
Inkongruenz  der  beiden  Gesamtnetzhautbilder  mit  Ausnahme  der  Bilder  des 
eben  fixierten  Objektes  sogar  die  Regel.  Auch  die  beiden  Netzhautmitten 
können  inkongruente  Bilder  erhalten,  wenn  ein  Ding,  das  dem  Gesichte 
näher  als  das  fixierte  liegt,  in  ungleichseitigen  Doppelbildern  erscheint. 
Trotz  der  großen  Mannigfaltigkeit  der  hierher  gehörigen  Tatsachen  genügen 
einige  wenige,  der  oben  erwähnten  Abhandlung  Panüm's  entlehnte  Beispiele 
zur  Einsicht  in  das,  was  dabei  bezüglich  der  binokularen  Farbenmischung 
besonders  wesenthch  ist. 

Bringt  man  zwei  Felder,  wie  sie  Fig.  64  in  verkleinertem  Maßstabe 
zeigt,  in  ein  Stereoskop,  und  ist  für  das  Scharfsehen  der  Grenzlinien 
zwischen  Weiß  und  Schwarz  gesorgt,  so  erhält  man  ein  binokulares  Bild 
etwa  von  der  Art  des  in  Fig.  65  dargestellten.     Man  sieht  ebensowohl  im 


240 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


ersten  Augenblick  als  bei  längerer  zwangloser  Betrachtung  stets  die  beiden 
sich  durchkreuzenden  Grenzlinien  zwischen  Weiß  und  Schwarz,  nie  aber 
entweder  nur  die  eine  oder  die  andere  der  beiden  zur  Deckung  gebrachten 
Figuren. 

Im  linken  oberen  Viertel  des  binokularen  Bildes  deckt  sich  unokulares 
Schwarz  mit  Schwarz,  im  rechten  unteren  Viertel  Weiß  mit  Weiß,  in  den 
beiden  anderen  Vierteln  aber  kommt  unokulares  Weiß  und  Schwarz  zur 
Deckung,  und  man  sieht  hier  ein  graues  Gemisch  aus  Schwarz  und  Weiß, 
welches  um  so  leichter  zu  glänzen  scheint,  je  weniger  genau  der  Forderung 
völliger  Homogenität  der  sich  deckenden  Flächen  entsprochen  ist.  Das 
Mischgrau  ist  bei  verschiedenen  Versuchen  bald  heller,  bald  dunkler  und 
geht   nach   der  Grenzlinie   des  schwarzen  Viertels  hin  durch  immer  hellere 

Zwischenstufen  in  ein  Weiß,   nach  der 
Fig.  65.  Grenzlinie  des  weißen  Viertels  hin  durch 

immer  dunklere  Stufen  in  ein  Schwarz 
über.  Diese  Übergänge  sind  bald 
schroffer,  bald  allmählicher. 

Während  nämHch  im  grüßten  Teile 
eines  solchen  grauen  Viertels  indifferentes 
Weiß  mit  indifferentem  Schwarz  gemischt 
ist,  mischen  sich  in  der  Nachbarschaft 
der  Grenzlinien  je  eine  Grenzfarbe  und 
eine  indifferente,  und  zwar  mischt  sich 
an  der  Grenze  des  weißen  Viertels  das 
Grenzschwarz  mit  dem  indifferenten 
Weiß  zu  einem  Schwarz,  und  an  der 
Grenze  des  schwarzen  Viertels  das 
Grenzweiß  mit  dem  indifferenten  Schwarz  zu  einem  Weiß;  mit  wachsen- 
dem Abstände  von  der  Grenzlinie  nimmt  hier  die  W^eißlichkeit ,  dort 
die  Schwärzlichkeit  des  Gemisches  ab  und  nähert  sich  dem  allgemeinen 
Mischgrau  des  Viertels.  In  der  Nähe  des  Kreuzungspunktes  der  beiden 
Grenzlinien  mischt  sich  Grenzweiß  mit  Grenzschwarz  zu  einem  bis  in 
die  Spitze  des  Winkels  reichenden  Grau.  Es  kommt  hier,  solange  die 
beiden  betroffenen  Sehfeldstellen  gleichartig  sind,  nie  zu  einem  derartigen 
Überwiegen  der  einen  Grenzfarbe  über  die  andere,  dass  eine  der  beiden 
hier  zusammenstoßenden  Grenzlinien  auch  nur  eine  kleine  Strecke  weit 
ganz  unsichtbar  würde,  sondern  es  sind  selbst  bei  langer  zwangloser  Be- 
trachtung beide  Grenzlinien  bis  zu  ihrem  Durchschnittspunkte  sichtbar.  Nur 
bei  längerem  Stillstande  der  Augen  sieht  man  bei  einer  nachfolgenden  kleinen 
Bewegung  derselben  infolge  des  Sukzessivkontrastes  an  der  einen  oder 
anderen  Grenzlinie  einen  sehr  hellen  oder  sehr  dunklen  Streifen,  welcher 
das  in  ihm  gelegene  Stückchen  der  Grenzlinie  unsichtbar  macht.    So  wenig 


i^  54.   Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder. 


241 


also  ein  Wettstreit  mit  völligem  Verschwinden  einer  der  beiden  Grenzfarben 
zu  sehen  ist,  ebensowenig  ein  Wettstreit,  bei  dem  abwechselnd  nur  eines 
der  beiden  unokularen  Bilder  sichtbar  wäre.    Auch  die  absichtlich  auf  eine 


Fig.  66. 


der  Grenzlinien  gerichtete  Aufmerksamkeit  vermag,  selbst  in  der  Nähe  des 
Kreuzungspunktes,  die  andere  nicht  zum  Verschwinden  zu  bringen. 

Fig.  66   zeigt,  links   einen   längsliegenden,   rechts   einen   querliegenden 
schwarzen  Streifen  auf  weißem  Grunde.     Bringt  man    diese  entsprechend 


Fig.  6: 


Fig.  6». 


vergrößerte  Figur  in  ein  Haploskop,  so  erhält  man  einen  Eindruck  nach  Art 
des  in  Fig.  67  abgebildeten.  Man  sieht  ein  Kreuz,  bestehend  aus  einem  mittlen 
tiefschwarzen  Quadrat  und  vier  Schenkeln,  die  an  ihrer  Ansatzstelle  nicht  wie 
im  übrigen  schwarz,   sondern  in  einem  abgeschwächten  Weiß   erscheinen 

Hering,   Lichtsinn.  4  6 


242  Lehre  vom  Lichtsinn. 

das  sich  scharf  von  dem  schwarzen  Mittelquadrat  absetzt  und  SQdann  durch 
die  verschiedenen  Zwischenstufen  des  Grau  hindurch  in  das  Schwarz  des 
übrigen  Schenkels  übergeht.  Dieser  Übergang  ist  bald  schroffer,  bald  mehr 
allmählich.  Dabei  bleiben  jedoch  die  Grenzlinien  der  Schenkel  bis  an  die 
Ecke  des  tiefschwarzen  Mittelquadrates  sichtbar. 

Würden  wir  mit  Hilfe  eines  durchsichtigen  Spiegelglases  [vgl.  S.  79} 
die  beiden  schwarzen  Streifen  auf  weißem  Grunde  sich  gleichzeitig  auf  einer 
und  derselben  Netzhaut  abbilden  lassen,  so  würden  wir  ebenfalls  ein  Kreuz 
mit  schwarzem  Mittelquadrat  sehen,  aber  die  Schenkel  würden  in  allen 
ihren  Teilen  hellgrau  gefärbt  erscheinen,  etwa  wie  in  Fig.  68. 

Wenn  das  linke  Auge  unter  sonst  ganz  gleichen  Umständen  statt  des 
querliegenden  schwarzen  Streifens  nur  den  homogenen  weißen  Grund,  das 
rechte    aber    den    längsliegenden    schwarzen   Streifen   sähe,    so  würde   im 
binokularen   Felde    nur    der    letztere,    und    zwar   in   seiner   ganzen   Länge 
schwarz  gefärbt  erscheinen,  weil  dies  die  (innere)  Grenzfarbe  seiner  beiden 
Grenzlinien   ist  und   diese  schwarze  Grenzfarbe  das  indifferente  Weiß  der 
korrespondierenden  Stelle   des   anderen  Sehfeldes   in   der  Mischung  beider 
weitaus  überwiegt.     Die  weiße  (äußere)  Grenzfarbe  seiner  beiden  Grenzlinien 
würde   sich  längs   des   ganzen  Streifens   mit   dem   korrespondierenden   in- 
differenten Weiß   des  Grundes  wieder  zu   einem  Weiß  mischen.     Letzteres 
ist,   wenn    dem   linken  Auge   zugleich   der    schwarze    querliegende  Streifen 
sichtbar  ist,   an   der  Stelle   der  Durchkreuzung  nicht   mehr  müghch;  denn 
das   Grenzweiß   des  längsliegenden   Streifens  mischt  sich  hier  nicht  mehr 
mit  dem   korrespondierend  gelegenen  indifferenten  Weiß,    sondern  mit  den 
(inneren)  schwarzen  Grenzfarben  der  beiden  Grenzlinien   des  querliegenden 
Streifens,   und  aus  der  Mischung  dieser  schwarzen  Grenzfarben  mit  jenen 
weißen  entsteht  das  grauliche  Weiß  an  der  Ansatzstelle  der  beiden  quer- 
liegenden  Schenkel    des  Kreuzes.     Dieses  Weiß    ist   um    so    deutlicher,  je 
breiter  der  querliegende  Streifen  und  je  entfernter  also  seine  Mittellinie  von 
seinen  beiden   Grenzlinien  ist.     Denn  um  so  mehr  kommt  an  der  Ansatz- 
stelle das  in  der  Nähe  dieser  Mittellinie  liegende  Grenzschwarz  des  quer- 
liegenden Streifens  gegenüber  dem  Grenzweiß  des  längsliegenden  in  Nachteil. 
Ganz    analog  verhält   es    sich  mit  der  Helligkeit  der  beiden  längsliegenden 
Schenkel    des    Kreuzes    an  ihren    Ansatzstellen.       Das    Gesagte    gilt    vom 
ersten  Eindrucke    und   unter    der   Voraussetzung,    dass    dabei   die    beiden 
unokularen    Sehfeldbezirke    in    gleichem    Zustande    und    die    Augen    beim 
Sichtbarwerden   der  Figur  nicht  in  Bewegung  sind.     Bei   fortgesetzter  Be- 
trachtung kommt   es    dann  vor,   dass   der  eine  Streifen  in  seiner  ganzen 
Länge  gleichmäßig   schwarz,   und   der   andere    gänzlich   durchbrochen   er- 
scheint, oder  seltener,  dass  nur  ein  Schenkel  des  Kreuzes  sich  mit  seinem 
Schwarz  ohne  Unterbrechung   in  das  Schwarz   des  kleinen  Mittelquadrates 
fortsetzt.     In  beiden  Fällen  genügt  es,  den  Blickpunkt  genau  parallel  zur 


§  54.  Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder.  243 

Richtung  des  ununterbrochen  erscheinenden  Streifens  zu  bewegen,  um  so- 
fort die  anfänglich  gesehene  Unterbrechung  desselben  wieder  herzustellen. 
Bei  dieser  Augenbewegung  verschiebt  sich  das  Bild  des  ununterbrochenen 
Streifens  auf  der  Netzhaut  in  sich  selbst  und  rückt  also,  abgesehen  von 
seinen  weitabliegenden  Enden,  nicht  auf  neue  Netzhautstellen,  das  Bild  des 
andern  Streifens  auf  der  andern  Netzhaut  aber  verschiebt  sich  senkrecht 
zur  eigenen  Richtung.  Dabei  wird  auf  der  einen  Seite  des  Streifenbildes 
ein  Netzhautstreifen,  der  soeben  noch  nur  das  schwache  Licht  des  schwarzen 
Streifens  empfing,  plötzlich  vom  starken  Lichte  des  weißen  Grundes  ge- 
troffen, auf  der  andern  Seite  ein  entsprechender  Netzhautstreifen,  der  so- 
eben noch  von  diesem  starken  Lichte  bestrahlt  war,  plötzlich  verfinstert: 
dort  wird  die  weiße  (äußere)  Grenzfarbe  des  Streifenbildes  plötzlich  noch 
heller,  hier  die  schwarze  (innere)  Grenzfarbe  plötzlich  noch  dunkler  und 
infolge  des  momentanen  Simultankontrastes  auch  die  Helligkeit  der  weißen 
(äußeren)  Grenzfarbe  erhöht.  Diese  auf  beiden  Seiten  des  Streifens  erfol- 
gende Helligkeitssteigerung  seines  Grenzweiß  verschafft  demselben  von  neuem 
das  Übergewicht  über  das  unverändert  gebliebene  Schwarz  des  anderen 
Streifens,  dessen  Netzhautbild  sich  nur  in  sich  selbst  verschoben  hat,  und 
lässt  denselben  wieder  ununterbrochen  erscheinen. 

Hiermit  steht  folgende  Thatsache  im  Einklang:  Blickt  man  genau  ent- 
lang der  Mittellinie  des  querliegenden  Kreuzbalkens  hin  und  her,  so  wird 
man  sehr  bald  den  längsliegenden  Balken  in  seiner  ganzen  Länge  schwarz 
und  den  querliegenden  durchbrochen  sehen;  verlegt  man  dagegen  den 
Blickpunkt  entlang  der  Mittellinie  des  längsliegenden  Kreuzbalkens,  so  er- 
scheint sehr  bald  der  querliegende  in  seiner  ganzen  Länge  schwarz  und 
der  andere  durchbrochen. 

Man  kann  auch  schon  auf  den  ersten  Blick  nur  den  einen  Streifen 
mit  Sicherheit  unterbrochen  und  den  andern  in  ganzer  Länge  schwarz 
sehen,  wenn  man  zuerst  z.  B.  die  linke  Hälfte  der  Figur  mit  einem 
homogenen  Blatt  von  der  Lichtstärke  des  weißen  Grundes  zudeckt  und 
dann  längere  Zeit  den  Mittelpunkt  des  querliegenden  Streifens  fixiert.  Dabei 
adaptiert  sich  die  betroffene  Stelle  des  rechtsäugigen  Sehfeldes  mehr  oder 
weniger  an  das  Streifenbild.  Entfernt  man  dann  das  weiße  Deckblatt  des 
anderen,  längsliegenden  Streifens,  so  empfängt  das  linke  Auge  den  frischen 
Eindruck  desselben  und  man  sieht  nun  sekundenlang  nicht  nur  diesen  Streifen 
in  seiner  ganzen  Länge  tiefschwarz,  sondern  auch  die  beiden  querliegenden 
Schenkel  des  Kreuzes  erst  in  einigem  Abstände  von  der  früheren  Durch- 
kreuzungsstelle beginnen;  auch  ist  ihre  Farbe  nicht  mehr  schwarz,  wie  sonst, 
sondern  nur  schwarzgrau. 

In  keinem  der  beschriebenen  Fälle  vermag  die  absichtlich  auf  den 
einen  oder  anderen  Balken  des  Kreuzes  oder  auf  irgendwelche  Stelle  einer 
Grenzlinie  gerichtete  Aufmerksamkeit   die  durch  Augenbewegungen  hervor- 

16* 


244 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


gerufenen  Änderungen  der  Erscheinungsweise  des  binokularen  Bildes  zu 
verhindern  und  ebensowenig  an  den  zuletzt  beschriebenen  Folgen  ein- 
seitiger Adaptation  im  somatischen  Sehfelde  etwas  zu  ändern.  Auch  um 
einen  Wettstreit  zweier  sich  schneidender  Grenzlinien  an  ihrer  Kreuzungs- 
stelle handelt  es  sich  nicht,  sondern  nur  um  die  Thatsache,  dass  bei  der 
binokularen  Mischung  die  Grenzfarben  einer  Grenzlinie  zweier  stärker 
verschiedener  Farben  im  Vorteil  sind  gegenüber  den  Grenzfarben  einer 
Grenzlinie  zweier  weniger  verschiedenen  Farben,  und  dass  die  .Grenz- 
farben einer  schärfer  gesehenen  Grenzlinie  im  Vorteil  sind  gegenüber  den 
Grenzfarben  einer  infolge  eines  unvollkommenen  Augenstillstandes  ver- 
waschen erscheinenden  Grenze. 

Fig.    69. 


Die  beiden  Beispiele  von  Kreuzung  unokular  gesehener  Grenzlinien  im 
binokularen  Felde  werden  hinreichen,  um  zu  zeigen,  wie  wichtig  es  ist, 
den  ersten  Eindruck  des  binokularen  Bildes  zu  erfassen,  und  wie  groß  der 
Einfluss  der  Augenbewegung  auf  die  Beschaffenheit  dieses  Bildes  ist.  Bei 
den  bisherigen  Untersuchungen  des  sogenannten  Wettstreites  der  Sehfelder 
hat  weder  das  Eine  noch  das  Andere  irgend  zureichende  Berücksichtigung 
gefunden. 

Analoge  Beobachtungen  wie  an  Fig.  66  kann  man  an  Fig.  69  machen, 
welche  die  beiden  Streifen  weiß  auf  schwarzem  Grunde  zeigt. 

Für  schmälere  Streifen  gilt  im  wesentlichen  dasselbe  wie  für  die 
Streifen  der  Fig.  66  und  Fig.  69,  nur  wird  es  dann  schwerer,  die  Hellig- 
keitsverschiedenheiten an  der  Kreuzungsstelle  zu  bemerken.  Bei  feinen 
Strichen  reduziert  sich  schließlich  das  kleine  Quadrat  an  der  Kreuzungs- 
stelle fast  auf  einen  Punkt,  und  weil  die  beiden  Grenzlinien  jedes  Striches 
einander  fast  unmittelbar  benachbart  sind  und  bis  an  jenes  minimale 
Quadrat    sichtbar  bleiben,    so    erkennt   man    schließlich   auch   nicht   mehr 


§  54.    Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder. 


245 


dass  in  unmittelbarer  Nähe  des  Kreuzungspunktes  die  Farbe  eine  hellere, 
oder  wenn  die  Striche  weiß  auf  schwarz  sind,  eine  dunklere  ist,  als  im 
Kreuzungspunkte  selbst.  Dabei  kommt  es' nicht  vor,  dass  einmal  der  eine 
xoder  andere  Strich  teilweise  oder  ganz  verschwindet,  auch  wenn  man  die 
Augen  einige  Zeit  möglichst  still  hält. 

Bringt  man,  wieder  nach  Panum's  Vorgang,  zwei  Scharen  paralleler 
Striche  von  verschiedener  Richtung  zu  binokularer  Deckung,  ohne  dafür 
gesorgt  zu  haben,  dass  sich  der  primäre  Eindruck  des  binokularen  Bildes 
streng  von  den  nachfolgenden  sondern  lässt,  verfährt  man  vielmehr  nach 
einer  der  gewöhnlich  haploskopischen  Methoden,  so  erhält  man  öfters  nicht 


Fig.  70. 


das  von  vornherein  zu  erwartende  Bild  eines  regelmäßig  quadratischen 
Gitters.  An  einzelnen  Stellen  erscheinen  nämlich  nur  die  Striche  der  einen 
Schar,  während  die  der  anderen  hier  fehlen.  In  Mark  ausgeprägter  Weise 
zeigt  dies  die  von  Panum  entlehnte  Fig.  70.  Hat  man  zuvor  auf  zwei  ein- 
ander entsprechenden  Stellen  der  beiden  Halbbilder  der  Figur  je  eine 
schwarze  Marke  gemacht,  um  den  beiden  Gesichtslinien  einen  Haltpunkt 
zu  geben  und  sie  in  bestimmter  Stellung  festzuhalten,  und  sieht  man  nun 
irgendwo  in  der  Nähe  des  Blickpunktes  die  Striche  der  einen  Schar  ver- 
schwinden, so  ist  man  nicht  imstande,  sie  dadurch  sofort  wieder  sichtbar 
zu  machen,  dass  man  seine  Aufmerksamkeit  den  noch  sichtbar  gebliebenen 
Teilen  der  teilweise  verschwundenen  Striche  zuwendet.  Man  muss  viel- 
mehr warten,  bis  die  verschwundenen  Teile  von  selbst  wieder  erscheinen. 
Nur    zufällig    kann    einmal    dieses   Wiedererscheinen    mit    der    Einstellung 


246 


Lehre  vom  Lichtsian, 


unserer  Aufmerksamkeit  zusammeafallea.  Wenn  man  jedoch,  wie  dies 
Helmholtz  empfahl,  sich  vornimmt,  die  Striche  einer  Schar  zu  zählen  und 
dabei  in  gewohnter  Weise  den  Blickpunkt  von  einem  zum  andern  springen 
lässt,  so  können  die  gezählten  Striche  fehlerfrei  erscheinen.  Dabei  ver- 
schieben sich  aber  die  Strichbilder  auf  der  Netzhaut,  und  der  Netzhaut- 
strich, welcher  das  Bild  des  eben  betrachteten  Striches  der  Figur  auf- 
nimmt, war  zwischendurch  von  dem  Lichte  des  weißen  Grundes  bestrahlt 
worden.  So  erzeugt  also  jeder  Strich  einen  neuen  primären  Eindruck. 
Die  andere  Strichschar  verschwindet  nun  während  der  Zählung  durchaus 
nicht  ganz,  sondern  wird  nur  stellenweise  lückenhaft.  Helmholtz  giebt  an, 
dass  'er   > vollkommen   willkürlich  imstande«   war,    seine    »Aufmerksamkeit 


Fig.  71, 


bald  dem  einen,  bald  dem  andern  Liniensysteme  zuzuwenden«,  und  »dass 
dann  dieses  System  für  einige  Zeit  allein  gesehen  wurde«,  »und  das  andere 
vollkommen«  verschwand.  Auch  Panum  sah  vorübergehend  die  eine  Strich- 
schar völlig  verschwinden.  Mir  ist  dies  nur  vorgekommen,  wenn  ich  einen 
Punkt  der  binokularen  Figur  längere  Zeit  fest  im  Auge  behielt,  so  dass 
kleine  unwillkürliche  Augenbewegungen  sich  bereits  durch  Nachbilderschei- 
nungen verrieten.  In  solchen  Fällen  sah  ich  einen  wirklichen  Wettstreit 
der  beiden  Strichscharen  im  ganzen  binokularen  Bilde,  d.  h.  es  war  nur 
je  eine  mit  völligem  Ausschluss  der  anderen  sichtbar,  doch  konnte  ich  deren 
Erscheinen  und  Verschwinden  nicht  willkürlich  beeinflussen.  Während  der 
Zeit,  wo  die  eine  Strichschar  verschwunden  ist,  kann  man  sie  nicht  zum 
Gegenstande    seiner  Aufmerksamkeit   machen.      Es  könnte   also   höchstens 


§  54.   Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder. 


247 


Fig.  72. 


( 
1 

l 

Fig.  73. 


248 


Lehre  vom  Lichtsihn. 


die  Vorstellung  ihres  Vorhandenseins  ihr  Wiedererscheinen  beschleunigen. 
Die  eben  allein  sichtbare  Strichschar  aber  fesselt  von  selbst  unsere  Auf- 
merksamkeit, und  ob  man  diese  Fesselung  absichtlich  verlängern  und  da- 
durch das  andere  Strichsystem  länger  unter  der  Schwelle  der  Sichtbarkeit 
zu  halten  vermag,  lässt  sich  begreiflicherweise  schwer  entscheiden,  um  so- 
schwerer,  als  kleine  unwillkürliche  Augenbewegungen,  die  sich  nicht  aus- 
schließen lassen,  gerade  hier  wegen  der  längeren  Adaptation  der  beiden, 
unokularen  Sehfelder  an  das  Bild  ihrer  Strichschar  besonders  bedeutungs- 
voll sind. 

Wenn  ich  dicht  unter  die  Glasplatte,  deren  Marke  ich  fixierte,  einen 
sogenannten  Momentverschluss  mit  großem  Diaphragma  angebracht  hatte 
und  das  Bild  nur  einen,  zur  ganz  deutlichen  Wahrnehmung  seines  mittlere» 

Fi£r.    74. 


Trennung  der  Rothgrünblinden  in  Ui 
dies  nicht  meine  Schuld.  Wie  ich  schd 
blindheit  (Jahrbuch  „Lotos"  1880)  wej 
sich  zwar  alle  Rothgrünblinden  darin, 
pfindung  fehlt,  „können  sich  aber,"  sc 
verschieden  verhalten,  was  denn  auch] 
lassung  gegeben  hat,  die  hierher  geh( 
zu  scheiden ,  welche  die  Anhänger  d( 
blinde  und  Grünblinde  bezeichnen, 
untersucht,  etc"  In  demselben  Vorti 
welche  sogenannte  „Roth-"  und  „Gri 
Verwechselungsgleichungen  und  der  Lj 
zeigen,  ausführlich    erörtert.     Es   ist 


Trennung  der  Rothgrünblinden  in  U 
dies  nicht  meine  Schuld.  Wie  ich  schJ 
blindheit  (Jahrbuch  „Lotos"  1880)  we] 
sich  zwar  alle  Apparates  'enden  darin, 
pfindung  Mort  zu  Tage  geth  aber,"  s(| 
verschied  bekommen,  die  Qüsnn  auch| 
lassung  die  Quarzplatte  hersrher  gehe 
zu  scheit  um  sofort  zu  sehemänger  d( 
blinde  unkeits unterschied  zeichnen, 
untersucht  $zt«n  Licbtesnselben  Vorti 
welche  sogenannte  ,.Roth-"  und  „Gri 
Vervvechselungsgleichungen  und  der  LJ 
zeigen,  ausführlich    erörtert.     Es   ist 


Teiles  hinreichenden  Bruchteil  einer  Sekunde  sichtbar  machte,  sah  ich  stets 
beide  Strichsysteme  ganz  gleich  deutlich.  Auch  hier  empfiehlt  es  sich,  die 
Versuchsbedingungen  durch  Benutzung  der  Figuren  72  und  73  zu  variieren. 
Wie  wenig  man  imstande  ist,  in  einem  durch  Deckung  inkongruenter 
Grenzliniensysteme  entstandenen  binokularen  Bilde  das  eine  oder  andere 
System  absichtlich  auf  Kosten  des  anderen  hervortreten  zu  lassen,  zeigt 
auch  der  durch  Fig.  74  dargestellte  Versuch.  Hat  man,  gleichviel  auf 
welche  Weise,  die  beiden  Hälften  dieser  Figur  zu  binokularer  Deckung  ge- 
bracht und  für  passende  Refraktion  gesorgt  (s.  S.  231),  so  ist  es  leicht,  die 
Gesichtslinien  bei  unverändertem  Konvergenzwinkel  zu  erhalten ,  weil  der 
größte  Teil  der  beiden  unokularen  Bilder  identisch  ist.  Nur  in  der  Mitte 
des  einen  befindet  sich  eine  kreisförmige  Lücke,  die  mit  einem  kreisförmigen 
Ausschnitt  eines  anderen  Textes  ausgefüllt  ist.    W>nn  ich  beim  Lesen  einer 


§  54.    Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder.  249 

« 

Zeile  an  der  Stelle  angekommen  bin,  wo  die  beiden  verschiedenen  Texte 
durcheinandergehen,  so  bin  ich  trotz  aller  Aufmerksamkeit  nicht  imstande, 
die  in  den  eben  gelesenen  Text  hineinpassenden  Worte  aus  der  Konfusion 
der  beiden  Texte  allein  hervortreten  zu  lassen  und  die  des  anderen  Textes 
zum  Verschwinden  zu  bringen,  und  zwar  sogar  auch  dann  nicht,  wenn  ich 
zuvor  den  zusammenhängenden  Text  gelesen  und  die  fraglichen  Worte  mir 
eingeprägt  habe. 

Jedenfalls  hat  Helmholtz  die  große  Bedeutung  der  örtlichen  Adaptation 
und  der  Augenbewegungen  auf  die  sogenannten  Wettstreitphänomene  nicht 
beachtet  und  den  Einfluss  der  willkürlichen  Aufmerksamkeit  weit  über- 
schätzt. Eine  neue  eingehende  Untersuchung  unter  Berücksichtigung  der 
im  Obigen  hervorgehobenen  Gesichtspunkte  ist  daher  sehr  wünschenswert, 
denn  auf  den  Beziehungen  der  beiden  unokularen  Sehfelder  untereinander 
beruht  unser  binokulares  Sehen,  und  zwar  sowohl  das  normale  als  das 
anomale. 

Schon  in  meinen  Beiträgen  zur  Lehre  vom  Ortssinn  der  Augen  habe 
ich  das  Bild,  welches  man  erhält,  wenn  man  mittels  einer  spiegelnden 
aber  durchsichtigen  Glastafel  auf  einer  und  derselben  Netzhaut  gleichzeitig 
die  geradeaus  liegenden  und  gespiegelten  Außendinge  sich  abbilden  lässt, 
in  Vergleich  gebracht  mit  dem  Bilde,  welches  beim  Zusammenwirken  zweier 
unkongruenter  Netzhautbilder  im  binokularen  Sehfelde  entsteht.  Ein  un- 
okularer Blick  durch  die  große  Glasscheibe  eines  Schaufensters  zeigt  uns 
hinter  dem  Fenster  bei  passenden  Beleuchtungsverhältnissen  nicht  nur  da- 
selbst befindliche,  sondern  zugleich  auch  auf  der  Straße  befindliche  und  nur 
gespiegelte  Dinge.  Ebenso  bieten  uns  die  sogenannten  Geisterphotographien, 
wie  sie  durch  nacheinander  erfolgtes  Photographieren  z.  B.  eines  Zimmers 
und  eines  Menschen  auf  dieselbe  Platte  hergestellt  werden,  ein  Bild  von 
der  Art,  wie  wir  es  bei  gleichzeitiger  Abbildung  direkt  gesehener  und  ge- 
spiegelter Außendinge  auf  derselben  Netzhaut  sehen. 

An  jedem  Punkte  der  Netzhaut  summiert  sich  unter  solchen  Umständen 
die  Lichtstärke  des  einen  Bildes  mit  der  kleineren  oder  größeren  des  anderen ;  y 

und  diese  allgemeine  Steigerung  der  Lichtstärken  des  zusammengesetzten 
Bildes  hat  zur  Folge,  dass  überall  da,  wo  eine  Grenzlinie  des  einen  Bildes 
auf  eine  homogene  Stelle  des  anderen  Bildes  fällt^  zwar  der  Unterschied 
der  beiden  von  den  Grenzlinien  geschiedenen  Lichtstärken  derselbe  bleibt, 
ihr  Verhältnis  aber  zu  Ungunsten  der  Deutlichkeit  des  Sehens  verändert 
wird.  Nur  wo  zwei  Grenzlinien  der  beiden  Bilder  zusammenfallen,  kann  in 
besonderen  Fällen  das  Gegenteil  eintreten.  Daher  sind  im  allgemeinen  die 
Helligkeitsunterschiede  und  entsprechend  auch  die  Deutlichkeit  des  Sehens 
im  zusammengesetzten  Bilde  kleiner  als  in  jedem  der  Einzelbilder.  Man 
kann  sich  hiervon  überzeugen,  wenn  man  mit  einem  schwarzen  Schirm 
bald    das    direkt  Gesehene,   bald   das  Gespiegelte  abblendet.     Zwar   ist  es 


250  Lehre  vom  Lichtsinn. 

möglich,  durch  passende  Auswahl  und  Beleuchtung  des  Gespiegelten  und 
des  direkt  Gesehenen  ein  zusammengesetztes  Bild  herzustellen,  aus  dem  wir 
an  keiner  Stelle  die  beiden  Einzelbilder  wieder  herauszufinden  vermögen; 
in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  aber  ist  uns  dies  wenigstens  an  einzeln3n 
Stellen  des  zusammengesetzten  Bildes  möglich,  auch  wenn  wir  nicht  Be- 
wegungen der  spiegelnden  Glasplatte  oder  der  auf  der  Netzhaut  abgebildeten 
Dinge  zu  Hilfe  nehmen.  Liegt  nicht  der  besondere  Fall. vor,  dass  das 
Spiegelbild  eines  ebenen  Dinges  mit  der  Ebene  eines  gleichfalls  ebenen  direkt 
gesehenen  zusammenfällt,  so  lässt  sich  auch  durch  bloße  Lageänderung  des 
Kopfes  und  die  dadurch  bedingte  parallaktische  Verschiebung  der  beiden 
Einzelbilder  eine  gesonderte  Wahrnehmung  derselben  erzielen. 

In  allen  Fällen  einer  derartigen  Deckung  zweier  verschiedener  Bild^ 
auf  derselben  Netzhaut  findet  nur  eine  Sonderung  der  in  den  beiden  Einzel- 
bildern enthaltenen  Grenzlinien  oder  Umrisse  statt,  nicht  aber  eine  Sonde- 
rung der  Farben;  an  jeder  Stelle  des  zusammengesetzten  Bildes  erscheint 
in  jedem  Augenblicke  nur  eine  Farbe.  Wenn  uns  die  Umrisse  des  einen 
Bildes  auf  Grund  erworbener  Motive  für  die  Tiefenwahrnehmung  ferner 
erscheinen  als  die  des  anderen,  als  ob  wir  das  erstere  durch  das  letztere 
hindurchsähen,  so  füllt  überall  nur  eine  Farbe  die  zwischen  den  Grenz- 
linien liegenden  Flächenteile.  Enthält  das  eine  Bild  schwarze  Buchstaben, 
so.  erscheinen  sie  da,  wo  ein  schwarzer  Streifen  des  anderen  Bildes  über 
sie  hinweggeht,  tiefer  schwarz  als  da,  wo  ein  grauer  oder  weißer  Streifen 
des  anderen  Bildes  sich  mit  ihnen  deckt,  und  nur  bei  ganz  oberflächlicher 
Betrachtung  werden  wir  diese  Unterschiede  da,  wo  sie  nur  klein  sind,  über- 
sehen. Wir  können  zwar  urteilen,  dass  die  Buchstaben  des  einen  Bildes 
eigentlich  alle  gleich  schwarz  sind,  und  dass  der  Streif,  der  sie  stellenweise 
heller  macht,  dem  anderen  Bilde  angehört,  wir  vermögen  aber  nicht  die 
beiden  sich  hier  deckenden  und  sich  deshalb  mischenden  Farben  gesondert 
hintereinander  zu  sehen. 

Das  letztere  ist  uns  nun  auch  bei  der  binokularen  Deckung  zweier 
inkongruenter  Bilder  unmöglich.  Denn  das  binokulare  Bild  zeigt  dabei, 
ähnlich  wie  das  eben  besprochene  zusammengesetzte  unokulare,  auf  jeder 
beliebigen  Sehrichtungslinie  in  jedem  Augenblicke  nur  eine  einfache,  durch 
binokulare  Mischung  entstandene  Farbe.  Wohl  aber  ist  hier  die  Sonderung 
der  beiden  durcheinander  geschobenen  Grenzliniensysteme  durch  den  relativ 
großen  Helligkeitsunterschied  zweier  unokularer  Grenzfarben  dicht  an  ihrer 
Grenzhnie  außerordentlich  erleichtert,  sowie  dadurch,  dass  da,  wo  an  der 
Kreuzungsstelle  zweier  unokularer  Grenzlinien  zwei  verschiedene  Grenz- 
farben sich  mischen,  die  Kontinuität  beider  Grenzfarben  oder  wenigstens 
der  einen  durch  eine  Heliigkeitsänderung  unterbrochen  erscheint.  Hierdurch 
wird  verhindert,  dass  zwei  sich  kreuzende  unokulare  Grenzhnien  ebenso 
gesehen  werden,   wie  wenn   sie   einem  und  demselben  System  angehörten. 


§  54.   Biaokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder.  251 

Dies  alles  gilt  für  jeden  der  kurzen  Stillstände  des  Doppelauges  bei  seinen 
sprunghaften  Seiten-  und  Höhenbewegungen;  bei  jeder  Konvergenzänderung 
kommt  auch  noch  die  gegenseitige  Verschiebung  der  beiden  unokularen 
Bilder  in  Betracht. 

Fixieren  wir  mit  beiden  Augen  eine  Marke  auf  einer  nahe  vor  unserem 
Gesichte  befindlichen  Fensterscheibe,  so  bildet  sich  die  ganze  durch  das 
Fenster  sichtbare  Landschaft  auf  den  beiden  Netzhäuten  nicht  korrespon- 
dierend ab,  ihre  beiden  unokularen  Bilder  erscheinen  im  binokularen  Bilde 
durcheinandergeschoben.  D,a  wir  die  sichtbaren  Häuser,  Bäume,  Berge  u.js.w. 
auch  bei  nur  unokularer  Betrachtung  nach  ihren  verschiedenen  Entfernungen 
räumlich  angeordnet  zu  sehen  vermögen,  und  jetzt  in  verschiedener  Ent- 
fernung und  nach  ganz  verschiedenen  Richtungen  Gelegenes  sich  auf  der 
korrespondierenden  Netzhautstelle  abbildet,  so  kann  jetzt,  in  Gemäßheit  des 
Gesetzes  der  identischen  Sehrichtung  zweier  korrespondierender  Netzhaut- 
punkte im  binokularen  Sehraume,  ein  nahes  Haus  in  derselben  Sehrichtung 
erscheinen  wie  ein  ferner  Berg.  Bei  passenden  Lichtstärken  beider  sehen 
wir  dann  den  Berg  durch  das  gleichsam  durchsichtige  näher  erscheinende 
Haus  in  der  Ferne,  wobei  bald  die  Einzelteile  des  Hauses,  bald  die  des 
Berges  besser  unterschieden  werden,  und  die  auf  gleicher  Sehrichtungslinie 
liegende  Farbe  des  Berges  und  die  des  Hauses  sich  zu  einer  binokularen 
Farbe  mischen,  nicht  aber  die  Farbe  des  einen  gesondert  hinter  der  des 
anderen  gesehen  wird.  Aber  dies  alles  bleibt  bei  gewöhnlichem  Sehen  meist 
unbeachtet,  weil  unsere  Aufmerksamkeit  nur  der  Marke  auf  dem  Fenster- 
glase oder  einer  auf  demselben  kriechenden  Fliege  zugewendet  ist,  und 
wir,  sobald  ein  der  Landschaft  angehöriges  und  deshalb  unokulares,  z.  B. 
nach  rechts  liegendes  Bild  unsere  Aufmerksamkeit  auf  'sich  zieht,  sofort 
das  Doppelauge  für  die  Ferne  einstellen  und  der  Stelle  zuwenden,  wo  uns 
das  unokulare  Bild  erschien.  Dabei  schiebt  sich  das  von  uns  beachtete 
nach  rechts  erschienene  unokulare  Bild  des  bezüglichen  Außendinges  mit 
dessen  vorher  unbeachtet  gebliebenen  zweiten  unokularen  zu  einem  ein- 
fachen binokularen  Bilde  zusammen,  und  während  wir  nun  dieses  betrachten, 
achten  wir  wieder  nicht  auf  das  jetzt  entstandene  Doppelbild  der  Marke 
oder'  Fliege. 

Betrachten  wir  mit  beiden  Augen  relativ  fern  gelegene  Dinge,  so  geben 
die  näheren  unokularen  Bilder,  von  denen  das  Analoge  gilt  wie  für  die 
unokularen  Bilder  ferner  Dinge  bei  Betrachtung  eines  näheren.  Auch  hierbei 
können  die  un okularen  Bilder  wie  durchsichtig  erscheinen.  Es  möge  dies 
noch  an  einem  besonderen  Beispiele  erläutert  werden. 

Die  scheinbare  Durchsichtigkeit  ungleichseitiger  Doppel- 
bilder. Bringt  man  zwischen  sein  Gesicht  und  eine  in  gewöhnlicher  Seh- 
weite befindliche  Schrift  einen  1 — 1,5  cm  breiten  schwarzen  oder  grauen 
Papierstreifen  (s.  Fig.  75),  dessen  Fläche  rechtwinklig  von  der  Medianebene 


252 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


des  Kopfes  durchschnitten  wird,  so  erscheint  der  Streifen  in  Doppelbildern , 
welche  bei  passender  Entfernung  desselben  von  der  Schrift  weit  genug  von- 
einander abliegen,  um  einen  Mittelteil  der  Schriftfläche  beiden  Augen  sichtbar 
zu  lassen.  Diesem  Teile  entspricht  in  Fig.  75  die  mit  h^^  bezeichnete  Strecke. 
Nach  links  und  rechts  von  diesem  binokular  lesbaren  Teile  der  Schrift  er- 
scheint dann  je  eines  der  Doppelbilder  (w^  ^"^  '^r)i  dessen  Ränder  man 
wahrnimmt,    während   durch   seine  Fläche  hindurch  die  nur  unokular  ab- 


Fig.    7; 


gebildete  Schrift  ebenfalls  ganz  deutlich  sichtbar  ist,  als  ob  man  sie  durch 
eine  schmale  Glasplatte  hindurch  sähe.  Noch  weiter  nach  links  und  rechts 
erscheint  wieder  ein  binokular  sichtbarer  Teil  der  Schriftfläche  [h  und  h). 
Man  kann,  ohne  durch  das  Doppelbild  gehindert  zu  sein,  die  ganze  Schrift 
lesen,  und  der  nicht  Unterrichtete  bemerkt  dabei  nicht,  dass  er,  während 
sein  Blick  eine  Zeile  durchmisst,  die  Schrift  anfangs  binokular,  dann  nur 
mit  dem  linken  Auge,  hierauf  wieder  binokular,  dann  nur  mit  dem  rechten 
Auge  und  schließlich  abermals  binokular  liest. 

Der  Durchschnittspunkt   der  Gesichtslinien   bleibt,    während  man   auf 
diese  Weise  eine  Zeile  abwechselnd  binokular  und  unokular  liest,  bei  nor- 


§  54.   Binokulare  Deckung  inkongruenter  Bilder. 


253 


malen  Augen  und  normaler  Kopfhaltung  auch  während  der  Zeit  des  nur 
unokularen  Lesens  auf  der  Schriftfläche. 

Wenn  man  seinen  Blick  entlang  einer  Linie  bewegt,  so  gleitet  er  nicht 


stetig    auf  derselben  hin. 


sondern  legt  seinen 


Weg   sprungweise  zurück. 


Ebenso  verhält  es  sich  beim  Lesen  einer  Schriftzeile.  Während  jedes 
Sprunges  kann  man  wegen  der  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  dabei  das 
Bild  auf  der  Netzhaut  verschiebt,  nichts  unterscheiden.  Erst  wenn  nach 
vollführtem  Sprunge  das  Auge  während  ganz  kurzer  Zeit  still  steht,  erkennt 


Fig.  76. 


man  die  einzelnen  Wortbilder.  Je  bekannter  uns  die  Schrift  und'die  Sprache 
ist,  desto  größer  ist  unter  sonst  gleichen  Umständen  die  Sprungweite  und 
desto  kleiner  die  Zahl  der  Sprünge,  die  der  Blick  zur  Durchmessung  einer 
Zeile  nötig  hat.  Infolge  der  sprungweisen  Blickbewegung  hindert  es  uns 
selbst  bei  Benutzung  eines  schwarzen  Papierstreifens  nicht  beim  Lesen,  dass 
da,  wo  die  Grenzlinie  eines  Doppelbildes  das  Bild  eines  Buchstabens  durch- 
schneidet, die  Grenzfarbe  des  Doppelbildes  die  weiße  Umgebung  des  Buch- 
stabens zuweilen  sehr  merklich  verdunkelt.  Denn  nur  zufällig  kann  es 
vorkommen,    dass  der  Blick  eine  solche  Stelle  als  vorübergehenden  Ruhe- 


i 


254  Lehre  vom  Lichtsinn. 

punkt  wählt.  Wenn  wir  aber  absichth'ch  den  Blick  auf  einer  Stelle  ruhen 
lassen,  wo  die  Grenzlinien  eines  schwarzen  Buchstabens  und  die  Grenzlinie 
eines  Doppelbildes  sich  durchkreuzen,  so  bemerken  wir  nicht  nur,  dass 
zuweilen  in  dem  ganzen,  durch  das  Doppelbild  hindurch  gesehenen  Buch- 
stabengebiete das  weiße  Papier  etwas  verdunkelt  erscheint,  und  dass  dies 
in  der  Nähe  der  Grenze  des  Doppelbildes  fast  immer  der  Fall  ist,  sondern 
wir  bemerken  auch,  dass  im  Wettstreit  der  weißen  Grenzfarbe  der  Buch- 
staben mit  der  dunklen  Grenzfarbe  des  Doppelbildes  bald  die  eine,  bald  die 
andere  das  Übergew^icht  erhält. 

Benutzen  wir  statt  des  grauen  oder  schwarzen  Papierstreifens  einen 
steifen,  ganz  ebenen  weißen  Streifen,  so  lässt  sich  derselbe  so  gegen  das 
durch  ein  Fenster  einfallende  Himmelslicht  neigen,  dass  seine  Farbe  der 
Farbe  des  bedruckten  oder  beschriebenen  Papieres  ganz  gleich  erscheint. 
Dann  ist  günstigenfalls  die  Grenze  des  Doppelbildes  gar  nicht  bemerkbar 
und  der  nur  mit  einem  Auge  gesehene  Teil  der  Schrift  erscheint  uns  dann 
ganz  ebenso  wie  der  dicht  daneben  befindliche  binokular  gesehene.  Wir 
haben  dann  wieder  den  in  §  51  besprochenen  Fall  vor  uns,  w^o  kleine, 
unokular  gesehene  schwarze  Felder,  d.  s.  hier  die  Buchstaben,  sich  mit 
einer  unokular  gesehenen,  nichts  Unterscheidbares  enthaltenden  Fläche 
decken,  deren  Farbe  die  gleiche  ist  wie  die  der  Umgebung  der  kleinen 
Felder. 

§55.  Der  >paradoxe  Versuch«  Fechners.  Beim  binokularen  Lesen 
einer  Druckschrift  auf  weißem  Papier  erhalten  beide  Netzhäute  fast  voll- 
kommen kongruente,  auf  korrespondierenden  Stellen  liegende  und  in  allen 
Einzelheiten  gleich  lichtstarke  Bilder.  Im  binokularen  Bilde  mischt  sich 
also  das  beiderseitige  gleiche  Schwarz  der  Buchstaben  wieder  zu  demselben 
Schwarz,  das  beiderseitige  Weiß  des  Grundes  wieder  zu  demselben  Weiß. 
Bringe  ich  vor  das  eine  Auge  ein  möglichst  reines  graues  Rauchglas,  welches 
nur  einen  passend  kleinen  Bruchteil  des  auffallenden  Lichtes  durchlässt,  so 
wird  dadurch  das  binokulare  Lesen  nicht  wesentlich  gestört.  Schließe  ich 
sodann  das  hinter  dem  Glase  befindliche  Auge  oder  verdecke  ich  noch 
I  besser  Glas  und  Auge  mit  einem  kleinen,  ganz  undurchsichtigen  Schirm, 
so  erscheint  sofort  das  Papier  heller,  obwohl  jetzt  das  eine  Auge  völlig 
verfinstert  ist  und  nur  das  andere  noch  Licht  empfängt.  Fechner,  der 
analoge  Versuche  zuerst  anstellte,  fand  dies  paradox,  weil  er  an  eine 
Summation  der  gleichzeitigen  Erregungen  beider  Augen  geglaubt  hatte,  und 
er  nahm  für  den  vorliegenden  Fall  eine  antagonistische  Beziehung  zwischen 
beiden  Augen  derart  an,  dass  unter  Umständen  die  Erregung  des  einen 
Auges  die  gleichzeitige  des  anderen  herabzusetzen  vermöge.  Nach  den  Er- 
fahrungen aber,  die  wir  in  diesem  Abschnitt  über  die  binokulare  Mischung 
tonfreier  Farben  gemacht  haben,    erscheint   das  Ergebnis  des  obigen  Ver- 


§  55.   Der  »paradoxe  Versuch«  Fechners.  255 

suches  nicht  nur  nicht  paradox,  sondern  ganz  im  Einklang  mit  jenen  Er- 
fahrungen. Solange  man  nämlich  durch  das  Rauchglas  die  Schrift  betrachtet, 
mischen  sich,  weil  die  unokujaren  Bilder  der  Buchstaben  sich  decken,  überall 
die  Buchstabenfarben  unter  sich  und  die  Farben  des  Grundes  unter  sich, 
und  da  insbesondere  das  unokulare  Bild  des  weißen  Grundes  im  Sehfelde 
des  bewaffneten  Auges  eine  minder  helle  Farbe  hat  als  im  Sehfelde  des 
anderen  Auges,  so  geht  aus  der  Mischung  beider  ein  minder  helles  Weiß 
des  Grundes  hervor  als  das  Weiß  im  Sehfelde  des  unbewaffneten  Auges. 
Verfinstere  ich  jetzt  das  eine  Auge  völlig,  so  tritt  im  Sehfelde  des  ver- 
finsterten Auges  an  die  Stelle  eines  mannigfach  differenzierten  Bildes  die 
Eigenfarbe  dieses  Auges,  während  im  Sehfelde  des  offenen  das  differenzierte 
Bild  mit  seinen  Grenzfarben  fortbesteht.  Für  die  binokulare  Farbenmischung 
kommt  aber  die  fast  homogene  Farbe  im  Sehfelde  des  verfinsterten  Auges 
in  ebenso  geringem  Maße  in  Betracht,  wie  wenn  wir,  statt  das  Auge  zu 
verfinstern,  ihm  eine  homogene,  beliebig,  aber  gleichmäßig  belichtete  Fläche 
,  dargeboten  hätten  (vgl.  §  51).  Die  Folge  ist,  dass  jetzt  im  binokularen 
Bilde  die  Helligkeit  des  vom  offenen  Auge  gesehenen  Weiß  des  Grundes 
nicht  mehr  durch  die  Zumischung  der  durch  das  Rauchglas  verdunkelten 
Farbe  des  anderen  Sehfeldes  herabgemindert  wird. 

Allerdings  muss  sich  infolge  der  völligen  Verfinsterung  der  zuvor 
schwach  belichtet  gewesenen  Netzhaut  des  einen  Auges  die  Pupille  des 
offen  gebliebenen  etwas  erweitern  und  also  seine  Netzhaut  etwas  stärker 
belichtet  werden.  Doch  hat  schon  Fechner  gezeigt,  dass  der  Versuch  auch 
dann  noch  mit  entschiedenem  Erfolge  gelingt,  wenn  man  den  Einfluss  der 
Pupillenänderung  durch  ein  dicht  vor  das  Auge  gehaltenes  Schirmchen  mit 
zureichend  kleiner  Öffnung  ausschließt. 

Die  Gestaltung  des  Sehfeldes  bei  völliger  Verfinsterung  des  mit  dem 
Rauchglase  versehenen  Auges  beschränkt  sich  übrigens  nicht  auf  die 
zwischen  den  Buchstaben  und  Zeilen  gelegenen  und  deshalb  den  Grenz- 
linien der  Buchstaben  nahen  Stellen,  sondern  auch  auf  größeren  buch- 
stabenfreien Stellen  ist  eine  Aufhellung  zu  bemerken.  Soweit  dieselbe  sich 
nicht  auf  die  eben  besprochene  Erweiterung  der  Pupille  zurückführen  lässt, 
ist  zu  bedenken,  dass  das  Gewicht  der  einem  offenen  Auge  erscheinenden 
Farben  viel  größer  ist,  als  das  Gewicht  der  Eigen  färbe  des  verfinsterten 
Auges  (vgl.  §  24),  und  dass  auch  die  buchstabenfreien  Stellen  fast  nie  ganz 
homogen  erscheinen.  Dies  kann  seinen  Grund  sowohl  in  einer  nicht  ganz 
homogenen  Beschaffenheit  der  Papierfläche  als  auch  in  den  sogenannten 
Mouches  volantes  des  Auges  haben,  insoweit  dieselben  wirklich  bewegliche 
sind;  denn  für  die  fixen  entoptischen  Figuren  adaptiert  sich  das  Auge  sehr 
schnell,  wie  später  zu  erörtern  sein  wird. 

Man  schiebe  bei  binokularer  Betrachtung  eines  bedruckten  Blattes  von 
der  linken  Seite  her  zwischen  Gesicht   und  Papier  ein   steifes  weißes  und 


256  Lehre  vom  Lichtsinn. 

ganz  ebenes  Papier  so  weit  vor,  dass  dem  linken  Auge  <Jer  ganze  be- 
druckte Teil  des  Blattes  verdeckt  wird,  während  er  dem  rechten  Auge 
sichtbar  bleibt,  wie  dies  Fig.  76  anschaulich  macht.  Neigt  man  dann  das 
vorgeschobene  Papier  so  gegen  das  einfallende  Licht,  dass  sein  Weiß  genau 
ebenso  hell  erscheint,  wie  das  Weiß  des  bedruckten  Blattes,  so  erscheint 
die  jetzt  nur  vom  rechten  Auge  gesehene  Schrift  nicht  merklich  verändert, 
höchstens  können  die  Buchstaben  eine  Spur  weniger  tiefschwarz  erscheinen, 
als  beim  binokularen  Lesen.  Es  liegt  hier  der  auf  S.  254  erörterte  Fall 
vor.  Auch  wenn  man  die  Lage  des  vorgeschobenen  Papieres  so  verändert, 
dass  es  lichtschwächer  wird,  oder  wenn  man  statt  des  weißen  ein  graues 
oder  schwarzes  Papier  vorschiebt,  verliert  die  Schrift  nicht  merklich  an 
Deutlichkeit.  Die  vollständige  Verfinsterung  des  Hnken  Auges  ist  also  nur 
ein  Grenzfall ;  das  Wesentliche  ist  hier  die  homogene  Beleuchtung  der 
linken  Netzhaut,  während  die  rechte  das  differenzierte  Bild  des  bedruckten 
Blattes  enthält. 

Es  lässt  sich   also   durch   eine   ganz    homogene  Beleuchtung^ 
der  Netzhaut  des  einen  Auges  seine  Beteiligung  am  Inhalte  des 
binokularen  Sehfeldes  in  ähnlicher  Weise  ausschließen,  als  wie 
durch  seine  völlige  Verfinsterung. 

Zwischen  der  ganz  homogenen  Belichtung  der  linken  Netzhaut  und 
dem  bei  bester  Akkommodation  möglichst  stark  differenzierten  Netzhaut- 
bilde eines  mit  schwarzen  Buchstaben  bedruckten  Papieres  giebt  es  alle 
denkbaren  Zwischenstufen.  Man  kann  durch  Vorsetzen  eines  sehr  dunklen 
Rauchglases  das  Netzhautbild  so  lichtschwach  und  den  Lichtstärkenunter- 
schied zwischen  Buchstaben  und  Grund  so  klein  machen,  dass  man  die 
Buchstaben  nur  noch  schwer  zu  unterscheiden  vermag.  Dann  hat  das 
linke  unokulare  Sehfeld  einen  fast  ebenso  minimalen  Anteil  km  binoku- 
laren Bilde,  wie  wenn  ersteres  gar  nicht  differenziert,  sondern  die  Netz- 
haut ganz  homogen  sehr  schwach  beleuchtet  wäre.  Die  völlige  Verfinste- 
rung des  linken  Auges  ändert  dann  nichts  Merkliches  am  binokularen  Bilde. 
Benutzt  man  weniger  dunkle  Rauchgläser,  so  kommt  man  zu  einer  Stufe 
der  Lichtabsorption,  bei  der  die  Differenzierung  im  linksäugigen  Sehfelde 
soweit  deutlich  wird,  dass  die  völlige  Verfinsterung  des  linken  Auges  be- 
reits eine  schwache  Erhellung  des  binokularen  Sehfeldes  herbeiführt,  wie 
sie  der  FECHNER'sche  Versuch  zeigte.  Diese  Erhellung  ist  bei  einem  be- 
stimmten Ausmaße  der  Absorption  durch  das  Rauchglas  am  deutlichsten, 
um  wieder  abzunehmen,  wenn  diese  Absorption  zu  gering  wird  und  sich 
die  Lichstärke  des  linksseitigen  Netzhautbildes  der  des  rechtsseitigen  zu  sehr 
nähert.  Denn  die  unokularen  Farben  jedes  Deckstellenpaares  sind  dann 
einander  bereits  so  ähnlich,  dass  ihre  Mischung  eine  binokulare  Farbe  er- 
giebt,  deren  Unterschied  von  der  einen  wie  von  der  andern  unokularen 
Farbe  zu  klein  ist,  um  deutlich  wahrgenommen  zu  werden. 


§  56.   Geschwindigkeit  der  Wertigkeitsänderung  der  Sehsubstanz  usw.      257 


IX.  Abschnitt  1). 

§  56.  Die  Geschwindigkeit  der  Wertigkeitsänderung  der 
Sehsubstanz  als  physisches  Korrelat  der  tonfreien  Farben  und 
Helligkeiten.  Schon  in  §23  (S.  104)  wurde  auseinander  gesetzt,  wie  das 
Überwiegen  der  Dissimilation  über  die  Assimilation  (Z)>  J.)  eine  absteigende, 
der  umgekehrte  Fall  {D<CiA)  eine  aufsteigende  Änderung  der  Wertigkeit 
der  Sehsubstanz  um  so  mehr  mit  sich  bringt,  je  größer  der  Unterschied 
D  —  A  ist,  während  bei  gleicher  Größe  der  beiden  Teilprozesse  des  Stoffwechsels 
{D  ==  Ä)  die  Wertigkeit,  gleichviel  auf  welcher  Stufe  sie  eben  steht,  keine 
Änderung  erfährt.  Wie  in  diesem  besonderen  Falle  dergleichen  Größe 
beider  Prozesse  die  Summe  derselben  (D  +  Ä)  sehr  verschieden  sein  kann, 
so  kann  auch  für  den  gewöhnlichen  Fall  der  ungleichen  Größe  [D^Ä) 
ihre  Summe  {D-{-A)  verschieden  sein.  Demnach  ist  die  Geschwindig- 
keit der  Wertigkeitsänderung  einerseits  von  dem  positiven  oder 
negativen  Werte  des  durch  i)  —  A  ausgedrückten  Unterschiedes, 
anderseits  von  der  Größe  der  gleichzeitigen  Dissimilation  und 
Assimilation  abhängig.  Ein  und  derselbe  Unterschiedswert  der  beiden 
Prozesse  bedeutet  also  für  die  Änderung  der  Wertigkeit  der  Sehsubstanz 
um  so  weniger,  je  größer  jeder  der  beiden  Prozesse  und  also  auch  D  '\-  A 
ist,  und  um  die  Geschwindigkeit  auszudrücken,  mit  welcher  sich  die  Wertig- 
keit bei  einem  bestimmten  Werte  von  D  —  A  ändert,  müssen  wir  den  Wert 
von  D  —  A  zur  gleichzeitigen  Größe  der  beiden  Prozesse  in  Beziehung 
setzen.  Dies  geschieht,  wenn  wir  die  Geschwindigkeit  der  Änderung  durch 
D—A 


D-i-A 


ausdrücken. 


4)  Nach  Ewald  Hering's  Tode  wurden  mir  die  auf  seine  Grundzüge  der  Lehre 
vom  Lichtsinne  bezüglichen  Aufzeichnungen  aus  dem  Nachlasse  der  Sichtung 
übergeben.  Wohl  fand  sich  ein  reiches,  wertvolles  Material  an  Beobachtungen, 
Messungen  und  Entwürfen,  aber  leider  nicht  Vieles,  das  ich  im  Sinne  des  Ver- 
storbenen als  druckfertig  ansprechen  durfte. 

Auch  für  das  hier  Veröffentlichte  ist  anzunehmen,  daß  er,  der  sich  bei  der 
Darstellung  nicht  genug  tun  konnte  und  immer  wieder  verwarf,  besserte  und  er- 
gänzte, während  der  Drucklegung  noch  manches  anders  gefaßt  haben  würde. 
Ich  selbst  habe  mich  zu  irgend  nennenswerten  Änderungen  nicht  für  befugt  ge- 
halten. — 

Dürfen  wir  also  an  das,  was  Ewald  Hering  ungedruckt  hinterlassen  hat, 
nicht  den  Maßstab  anlegen,  wie  an  ein  abgeschlossenes  Werk,  so  werden  doch 
die  hier  folgenden  Abschnitte  auch  als  Bruchstück  Allen  willkommen  sein,  die 
seine  seltene  Gabe  zu  würdigen  wissen,  frei  von  vorgefaßter  Meinung  anscheinend 
längst  erledigte  und  geklärte  Probleme  von  ganz  neuen  Seiten  in  Angriff  zu  nehmen 
und  so  nach  den  verschiedensten  Richtungen  anregend,  fördernd  und  klärend 
zu  wirken.  G.  Hess. 

Hering,  Lichtsinn.  -17 


258  Lehre  vom  Lichtsinn, 

Ist  im  besonderen  Falle  D=  A  und  also  D  —  ^4=0,  so  ist,  wie 
gesagt,  auch  die  Änderungsgeschwindigkeit  gleich  Null,  d.  h.  die  Wertig- 
keit der  Sehsubstanz  bleibt  dabei  ungeändert;  dem  entspricht  im  psychischen 
Sehfelde  das  mittlere  Grau  von  der  Helligkeit  0,5  (vgl.  §  22  S.  102).     Ist 

D^Äj  so  ist  D  —  A  eine  positive  Größe,  und   jy-jT^  drückt    dann    die 

Geschwindigkeit  der  dabei  stattfindenden  absteigenden  Änderung  aus. 
Je  größer  diese  Geschwindigkeit,  desto  heller  ist  die  tonfreie  Farbe,  desto 
näher  kommt  sie  der  Helligkeit  1 ,  d.  h.  dem  absoluten  Weiß.    Ist  dagegen 

J)  jI 

D<'A  und  hat  also  D  —  A  einen  negativen  Wert,  so  drückt    -    — -  die 

1)  "-p  A 

Geschwindigkeit  der  aufsteigenden  Änderung  aus.  Je  größer  diese  Ge- 
schwindigkeit, desto  größer  ist  die  Dunkelheit  der  Farbe  und  desto  kleiner 
ihre  Helligkeit,  desto  mehr  nähert  sich  letztere  dem  Null  wert  und  die 
Farbe  dem  absoluten  Schwarz. 

Jeder  einzelnen  Farbe  der  schwarz-weißen  Farbenreihe 
entspricht  also  eine  ganz  bestimmte  Geschwindigkeit  der  ab- 
oder  aufsteigenden  Wertigkeitsänderung,  und  ebenso  wie  durch 
das  Größenverhältnis  zwischen  Dissimilation  und  Assimilation 
(D:A)  lässt  sich  der  Helligkeitsgrad  der  tonfreien  Farbe  durch 
die  Geschwindigkeit  kennzeichnen,  mit  welcher  sich  dabei  die 
Sehsubstanz  in  ab-  oder  aufsteigender  Richtung  ändert.  Der 
einen  Hälfte  der  schwarz- weißen  oder  ton  freien  Farbenreihe  entsprechen 
als  somatische  Korrelate  die  verschiedenen  Geschwindigkeiten  der  abstei- 
genden, der  anderen  Hälfte  die  der  aufsteigenden  Änderung  der  Seh- 
substanz. 

Wir  vermögen  hiernach  lediglich  aus  der  Helligkeitsverschiedenheit 
zweier  Sehfeldstellen  zu  erschließen,  daß  im  somatischen  Sehfelde  der 
helleren  Stelle  eine  schnellere  Abnahme  bzw.  langsamere  Zunahme  der 
Wertigkeit  der  Sehsubstanz  entspricht  als  der  minderhellen,  während  gleiche 
Helligkeit  zweier  Stellen  uns  lehrt,  daß  im  somatischen  Sehfelde  die  Ge- 
schwindigkeit der  ab-  oder  aufsteigenden  Wertigkeitsänderung  beiderseits 
gleich  ist.'  Über  die  jeweilige  Größe  der  Prozesse  an  den  beiden 
Stellen  aber  sagen  uns  ihre  Helligkeiten  nichts  aus.  Denn  zwei 
nebeneinander  befindliche  Stellen  des  Gesichtsfeldes  können  uns  gleich  hell 
oder  gleich  dunkel  erscheinen,  obwohl  an  den  korrelativen  Stellen  des 
somatischen  Sehfeldes  die  beiden  Dissimilationen  unter  sich  und  die  beiden 
Assimilationen  unter  sich  verschiedene  Größe  haben,  wenn  nur  das 
Verhältnis  zwischen  D  u.  ^  an  beiden  Stellen  das  gleiche  ist;  und  an- 
derseits können  die  beiden  Stellen  ungleich  hell  oder  ungleich  dunkel 
erscheinen,  obgleich  sowohl  die  beiden  Dissimilationen  als  die  beiden  Assi- 
milationen je  unter  sich  gleich  groß  sind. 


§  57.   Die  terminalen  Strahlungen.  259 

§  57.  Die  terminalen  Strahlungen.  Man  denkt  sich  bekanntlich 
die  von  den  sichtbaren  Außendingen  in  unser  Auge  gelangenden  Strah- 
lungen aus  unzähligen  einfachen  Strahlungen  von  verschiedener  Schwingungs- 
zahl bzw.  Wellenlänge  und  von  verschiedener  Energie  zusammengesetzt 
(vgl.  Abschn.  I  §  2  S.  4).  Ein  solches  Strahlgemisch  erleidet  nun  auf 
seinem  Wege  von  der  Hornhaut  bis  zu  der  aus  den  Sehzellen  bestehenden 
Empfangsschicht  der  Netzhaut  mannigfache  Änderungen,  ehe  es  auf  die 
Sehzellen,  d.  h.  auf  die  Zapfen  und  Stäbchen  wirken  kann.  Warum  wir 
annehmen  müssen,  daß  die  Sehzellen  und  insbesondere  deren  Außenglieder 
der  Ort  sind,  wo  die  Strahlungen  erst  zu  einem  Reiz  für  die  Sehnerven- 
fasern werden,  ist  im  Anhang  zu  Kap.  XII  von  S.  Garten  auseinandergesetzt. 
Unter  Vermittlung  der  Sehzellen  erhalten  also  die  Strahlungen  erst  einen 
optischen  Reiz  wert,  und  deshalb  ist  es  für  alles  Weitere  von  grundlegen- 
der Bedeutung,  die  wesentlichsten  Änderungen  festzustellen,  denen  diese 
Strahlungen  auf  dem  Wege  von  der  Hornhaut  bis  zur  entscheidenden  Stelle 
unterworfen  sind.  Da  nur  die  in  die  Empfangsschicht  gelangten  Strah- 
lungen für  unsere  Gesichtswahrnehmungen  von  Bedeutung  sind,  so  habe 
ich  dieselben  zum  Unterschiede  von  den  in  die  Hornhaut  eintretenden  als 
die  terminalen  Strahlungen  bezeichnet.  In  demselben  Sinne  habe  ich 
das  terminale  Spektrum  eines  Strablgemisches  von  demjenigen  Spek- 
trum unterschieden,  welches  von  dem  entsprechenden  Strahlgemisch  vor 
seinem  Eintritt  ins  Auge  erzeugt  wird. 

Der  Bruchteil,  um  welchen  die  Energie  einer  einfachen  Strahlung  auf 
dem  Wege  bis  zu  den  Außengliedern  der  Zapfen  und  Stäbchen  vermindert 
wird,  ist  keineswegs  für  alle  Strahlungen  eines  Strahlgemisches  derselbe, 
daher  ändern  sich  in  zusammengesetzten  Strahlungen  auch  die  Verhält- 
nisse zwischen  den  Energien  der  einfachen  Strahlungen,  aus 
denen  das  Strahlgemisch  besteht.  Eine  Veränderung  dieses  Mischungsver- 
hältnisses bedingt  aber,  wie  wir  sehen  werden,  zugleich  eine  Änderung  des 
aus  den  einzelnen  Reizwerten  der  einfachen  Strahlungen  resultierenden  Ge- 
samtreizwertes des  Strahlgemisches. 

Dem  Energieverluste,  den  eine  Strahlung  durch  Absorption  erfährt, 
entspricht,  wie  wir  uns  vorstellen,  eine  von  der  Strahlung  geleistete  Ar- 
beit, d.  h.  die  Summe  sogenannter,  thermischer,  chemischer  oder  sonst- 
weicher von  der  Strahlung  geleisteter  Arbeit.  Insoweit  die  Strahlung  op- 
tisch wirkt,  handelt  es  sich  um  die  von  ihr  im  Empfänger  geleistete 
chemische  Arbeit. 

Hornhaut,  Linse  und  Glaskörper  absorbieren  als  wasserreiche  Medien 
ähnlich  wie  bloßes  Wasser,  daher  es  sich  fragt,  ob  unser  Unvermögen, 
die  sogenannten  ultraroten  Strahlen  des  Spektrums  wahrzunehmen,  nur 
darauf  beruht,  daß  sie  durch  Absorption  zu  sehr  geschwächt  werden,  um 
noch  wahrnehmbar  zu  sein,   oder  ob  Strahlen  von  so  großer  Wellenlänge 

47* 


2QQ  Lehre  vom  Lichtsinn. 

für  das  Sehorgan  überhaupt  keinen  optischen  Reizwert  besitzen.  Letzteren- 
falls  würden  sie  auch  dann  unsichtbar  bleiben  müssen,  wenn  sie  auf  ihrem 
Wege  bis  zu  den  Sehzellen  gar  keinen  Verlust  erhalten  hätten.  Ob  die 
ultravioletten  Strahlen  des  Spektrums,  wenn  sie  ungeschwächt  bis  in  die 
Sehzellen  gelangen  könnten,  uns  auch  dann  noch  gänzlich  unsichtbar  bleiben 
müßten,  ist  ebensowenig  zu  entscheiden;  denn  auch  diese  ultravioletten 
Strahlen  erfahren  auf  dem  Wege  bis  zu  den  Außengliedern  der  Sehzellen 
individuell  verschieden  große  Energieverluste. 

Durch  die  schon  beim  Neugeborenen  etwas  grünliche,  beim  Erwach- 
senen gelb  bis  braun  erscheinende  Linse  sind  individuell  verschieden  große 
Energieverluste  der  violett  wirkenden  Strahlen  bedingt;  die  nachgewiesene 
Fluoreszenz  der  Hornhaut,  der  Linse  und  der  Außenglieder  der  Sehzellen 
kommt  auf  Kosten  der  fluoreszierend  wirkenden  Strahlungen  zustande  und 
endlich  absorbiert  der  gelbe  Fleck,  welcher  wie  ein  gelber  Schirm  der  Seh- 
zellenschicht vorgelagert  ist,  wenigstens  für  den  zentralen  Teil  die  violetten 
Strahlen. 

Ob,  wenn  diese  Energieverluste  der  violett  wirkenden  Strahlen  nicht 
vorhanden  wären,  die  ultravioletten  Strahlen  noch  einen  optischen  Reizwert 
haben  würden,  läßt  sich  also  ebensowenig  wie  beim  Ultrarot  sagen. 

Für  unsere  weiteren  Eröterungen  kommen  jedoch  weder  ultrarote  noch 
ultraviolette  Strahlen  in  Betracht,  sondern  die  Reizwerte  derjenigen,  welche 
zwischen  dem  jeweiligen  sichtbaren  Anfang  und  Ende  eines  gegebenen  Spek- 
trums liegen.  Diese  unterliegen,  ehe  sie  bis  zu  den  Sehzellen  gelangen, 
der  selektiven  Absorption  seitens  der  beim  Menschen  mehr  oder  weniger 
auffallend  gefärbten  Linse  bzw.  auch  noch  des  gelben  Farbstoffes  der 
Macula  lutea,  worauf  ich  schon  im  Jahre  1885  in  einer  Abhandlung  über 
individuelle  Verschiedenheiten  des  Farbensinnes  nachdrücklich  hingewiesen 
habe.  Die  dadurch  bedingten  Energie  Verluste  der  bezüglichen  Strahlen 
sind  zwar  individuell  verschieden,  zuweilen  aber  höchst  bedeutend. 

Es  sei  mir  gestattet,  aus  der  soeben  zitierten  Abhandlung  einige  Sätze 
wörtlich  anzuführen,  in  denen  ich  Ergebnisse  meiner  damaligen  Untersuchungen 
kurz  zusammenfaßte. 

»Die  Färbung  der  Linse  ist  also  eine  ganz  allgemeine  und  konstante  Er- 
scheinung. An  den  Linsen  der  Neugeborenen  macht  sich  nur  erst  die  Absorp- 
tion der  violetten  Strahlen  bemerklich,  daher  die  grüngelbe  Farbe.  Je  mehr 
die  Pigmentierung  zunimmt,  desto  mehr  fällt  der  Vei-lust  auch  der  blauen  und 
grünblauen  Strahlen  ins  Gewicht,  die  Linse  erscheint  rein  gelb.  Endlich  wird 
auch  die  Absorption  der  grünen  Strahlen  merklich  und  die  Linse  nimmt  eine 
rotgelbe  Färbung  an«  ....  »Von  der  Makula  konnte  ich  bei  Neugeborenen 
(deren  Alter  4  Wochen  nie  überschritt)  nur  bisweilen  eine  Andeutung  bemerken. 
Vielleicht  wurde  sie  durch  die  Trübung  der  Netzhaut  verdeckt,  denn  Max  Schultze 
(s.  u.)  gibt  an,  in  der  Netzhaut  eines  während  der  Geburt  gestorbenen,  reifen 
Kindes   einen   gelblichen  Anflug   unter   dem  Mikroskop   gesehen  zu  haben«   .  .  . 


§  58.    Anpassung  des  Auges  an  die  jeweilige  Beleuchtung.  261 

»Schon  Max  Schültze  betonte  i)  die  großen  individuellen  Verschiedenheiten  der 
Makula  und  suchte  daraus  Verschiedenheiten  des  Farbensinnes  zu  erklären«. 

Die  Behauptung,  daß  die  Macula  lutea  während  des  Lebens  gar  nicht 
vorhanden,  sondern  nur  eine  Leichenerscheinung  sei,  läßt  sich  leicht  wider- 
legen, wie  später  ausführlich  geschehen  wird. 

Die  Farbe  der  menschlichen  Linse  hat  G.  Hess  im  Archiv  für  Augen- 
heilkunde (Bd.  61,  63  u.  64.  1908  u.  4  909)  eingehender  Untersuchung  unter- 
zogen und  unter  anderem  gezeigt,  daß  die  gelbe  Färbung  derselben  ohne 
störende  Beeinträchtigung  ihrer  Durchsichtigkeit  genügend  hohe  Grade  er- 
reichen kann,  um  durch  Absorption  vollständige  »Blaublindheit«  des  Auges 
herbeizuführen.  Derselbe  hat  dort  auch  messende  Bestimmungen  der 
Energie  Verluste  gemacht,  welche  gewisse  Strahlungen  beim  Durchgange 
durch  die  Linse  erleiden  und  insbesondere  in  seiner  zweiten  Abhandlung 
(Bd.  63  S.  165)  eine  treffliche  Methode  angegeben,  um  die  Linsenfärbung 
in  ihrem  Einflüsse  auf  das  Farbensehen  nicht  nur  an  solchen  Ausnahmefällen 
mit  tiefdunkler  Linse  nachzuweisen,  sondern  ihr  Verhalten  auch  unter  ge- 
wöhnlichen physiologischen  Verhältnissen  und  in  verschiedenen  Lebens- 
altern genauer  zu  verfolgen  und  sie  messend  zu  bestimmen.  Er  zeigte 
so  z.  B.,  daß  vielfach  schon  zwischen  dem  20. — 30.  Jahre  1/4  der  zu  den 
Versuchen  benützten  blauen  Strahlen  in  den  normalen  Linsen  absorbiert 
wird;  jenseits  des  50.  Jahres  wird  in  der  Regel  mehr,  zum  Teil  viel  mehr 
als  die  Hälfte  dieser  Strahlen  in  der  Linse  zurückgehalten. 

§  58.  Zum  Verständnis  der  Anpassungen  des  Auges  an  die 
jeweilige  Beleuchtung  ist  eine  genaue  Kenntnis  der  Art,  wie  die  Augen 
sich  beim  Betrachten  der  Außendinge  bewegen,  unerläßlich.  Beim  gewöhn- 
lichen Sehen  ändert  der  Blickpunkt  unaufhörlich  seinen  Ort  im  Gesichtsfelde ; 
denn  wir  richten  die  Augen  in  raschem  Wechsel  bald  auf  diese,  bald  auf  jene 
Stelle  der  Außenwelt.  Dabei  bewegen  sich  die  Augen  mit  großer  Geschwindig- 
keit aus  einer  Stellung  in  die  andere,  und  entsprechend  verschiebt  sich  das 
Bild  der  Außendinge  so  geschwind  auf  der  Netzhaut,  daß  es  unmöglich 
wird,  während  dieser  Verschiebung  etwas  deuthch  zu  sehen.  Dies  wird  erst 
durch  einen,  wenn  auch  nur  kurzen  Stillstand  des  Bildes  auf  der  Netzhaut 
möglich. 

Andererseits  kann  es  bei  offenen  Augen  zu  ungewöhnlich  lange  fest- 
liegenden Netzhautbildern  kommen,  ohne  daß  man  eigentlich  etwas  sieht, 
wenn  man  in  Gedanken  versunken  die  optische  Außenwelt  gar  nicht  be- 
achtet oder  auch  gedankenlos  vor  sich  hinstarrt.  Wer  mit  gespannter 
Aufmerksamkeit  auf  ein  schwaches  Geräusch  lauscht  oder  in  einem  Konzerte 


1)  Über  den  gelben  Fleck  der  Retina.    Bonn  1866. 


262  Lehre  vom  Lichtsinn. 

nur  auf  die  Musik  achtet  und,   wie  man  zu  sagen  pflegt  »ganz  Ohr  ist«, 
dessen  Augen  stehen  still  oder  er  hält  sie  geschlossen. 

Die  Augenbewegungen  sind  also  beim  gewöhnlichen  Sehen  sprunghaft 
und  keineswegs  stetig  verlaufend,  wie  man  sie  sich  einst  dachte.  Meist 
ohne  länger  als  einen  kleinen  Bruchteil  einer  Sekunde  auf  einem  Punkte 
zu  verweilen  macht  z.  B.  beim  Lesen  unser  Blick  in  rascher  Wiederholung 
kleine  Sprünge  nach  rechts,  und  wenn  die  Zeile  zu  Ende  geht,  einen  großen 
Sprung  nach  links  und,  falls  er  sein  Ziel  dabei  nicht  sogleich  erreicht,  noch 
einen  kleinen  Nachsprung. 

Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  überhaupt  immer  dann,  wenn  man  die 
Außendinge  aufmerksam  betrachtet,  um  sie  genauer  kennen  zu  lernen. 
»Ein  mehr  oder  minder  indirekt  gesehenes  Objekt  zieht«,  wie  ich  einst 
sagte  1),  »unwillkürlich  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich  oder  wird  von  vorn 
herein  willkürlich  zum  Gegenstande  derselben  gemacht.  Hierdurch  wird 
dieses  zunächst  indirekt  gesehene  Objekt  zum  Zielpunkte  einer  Bewegung 
der  Augen,  welche  sozusagen  ganz  von  selbst  der  Ortsveränderung  der 
Aufmerksamkeit  folgen.  Die  Bewegung  selbst  erfolgt  sehr  rasch  und  sozu- 
sagen in  einem  Sprunge.  Entsprechend  rasch  gleiten  die  Netzhautbilder 
über  die  Netzhaut,  viel  zu  rasch,  um  eine  Unterscheidung  der  bezüglichen 
Objekte  zu  gestatten.  Tatsächlich  unterscheidet  man  dieselben  nur  vor 
Beginn  und  gegen  Ende  oder  nach  Ende  der  Bewegung,  im  indirekten  oder 
direkten  Sehen.  Gibt  man  sich  Mühe,  die  zwischen  dem  Ausgangs-  und 
Endpunkt  einer  Blickbahn  gelegenen  Dinge  zu  unterscheiden,  so  hat  das 
lediglich  zur  Folge,  daß  man  statt  eines  großen  Blicksprungs  eine  Reihe 
kleinerer  ausführt.  Hiervon  überzeugt  man  sich  sehr  leicht,  wenn  man 
sich  ein  kleines  sehr  deutliches  Nachbild  auf  der  Stelle  des  direkten  Sehens 
erzeugt.  Da  dasselbe  auf  der  Netzhaut  festliegt,  so  erscheint  es  uns  immer 
dort,  wo  wir  eben  hinsehen.  Ich  bin  nicht  imstande,  den  Blick  mit  einer 
beliebigen,  ganz  gleichmäßigen  Langsamkeit  über  eine  bedruckte  oder 
unbedruckte  Seite  hinwegzuführen;  immer  geht  der  Blick  sprungweise  vor- 
wärts«. Wir  entnehmen  bei  diesem  sprungweisen  Sehen  unserem  jeweiligen 
Gesichtsfelde  eine  Menge  von  Stichproben,  aus  denen  wir  uns  ein  Gesamt- 
bild desselben  aufbauen;  mit  der  Zahl  dieser  Proben  wächst  die  Genauigkeit 
der  optischen  Wahrnehmung   der  Außendinge. 

Eine  stetige  Drehung  der  Augen  läßt  sich  am  einfachsten  dadurch  erzielen, 
daß  man  während  fester  Fixierung  eines  Punktes  den  Kopf  langsam  nach  reqhts 
oder  links,  nach  oben  oder  unten  wendet.  Dabei  drehen  sich  die  Augen,  der 
Kopfdrehung  entgegengesetzt,  in  ihren  Höhlen.  Ein  dauerhaftes  Nachbild  ge- 
stattet auch  hier,  das  Verhalten  der  Augen  zu  kontrollieren. 

i)  Über  Ermüdung  und  Erholung  des  Sehorgans,  v.  Graefes  Arch.  f.  Ophth. 
XXVII,  3.  S.  20. 


§  58.   Anpassung  des  Auges  an  die  jeweilige  Beleuchtung.  263 

Diese  Angaben  stützen  sich  auf  Beobachtungen,  die  ich  bereits  im 
Jahre  18791)  bei  einer  Untersuchung  der  Muskelgeräusche  des  Auges  ge- 
macht und  seitdem  vielfach  zum  Teil  mit  verbesserter  Methode  wiederholt 
habe.  Die  Augenmuskeln  erzeugen  ebenso  wie  jeder  andere  Muskel  während 
ihrer  Tätigkeit  Geräusche,  welche  man  deutlich  zu  hören  vermag.  Man 
verbindet  einen  dünnen  Kautschukschlauch  einerseits  mit  einem  kleinen 
Schalltrichter,  dessen  äußere  Öffnung  beiläufig  4  mm  im  Durchmesser  hat, 
andererseits  mit  einer  durchbohrten  sogenannten  Olive,  welche  man  in  den 
äußeren  Gehörgang  so  einbringt,  daß  sie  der  Haut  desselben  ringsum  dicht 
anliegt.  Während  beide  Augen  geöffnet  sind  und  der  musculus  orbicularis 
oculi  beiderseits  völlig  erschlafft  ist,  setzt  man  den  Schalltrichter  auf  das 
obere  oder  untere  Lid,  was  sich  bei  nicht  zu  tief  liegenden  Augen  leicht 
tun  läßt. 

Der  genannte  Muskel  gibt,  wenn  man  das  Auge  absichtlich  schheßt,  ein 
«0  starkes  schwirrendes  Geräusch,  daß  die  Geräusche  der  eigentlichen  Augen- 
muskeln übertönt  werden.  Auch  wenn  man  nur  das  nicht  behorchte  andere 
Auge  zukneift,  erschlafft  infolge  assoziierter  Innervation  der  Schließmuskel  des 
behorchten  nie  vollständig  und  gibt  noch  ein  störendes  Geräusch.  Sind  aber 
beide  Muskeln  völlig  erschlafft,  so  hört  man  bei  festem  Fixieren  eines  Außen- 
punktes noch  immer  ein  stetig  anhaltendes,  scheinbar  aus  größerer  Entfernung 
kommendes  Rauschen.  Dieses  Dauergeräusch,  wie  ich  es  benannte,  ist  dui'ch 
andauernde  Innervation  von  Augenmuskeln  bedingt  und  kommt  für  das  Folgende 
nicht  in  Betracht 2). 

»Während  man  dasselbe  beobachtet,  hört  man  nämlich  zwischendurch 
ganz  kurze,  dumpf  klappende  Geräusche,  welche  sich  mit  unregelmäßigen 
Intervallen  folgen.  Anfangs  überhört  man  dieselben  leicht,  weil  man  seine 
Aufmerksamkeit  zu  ausschließlich  dem  Dauergeräusche  zuwendet.  Diese 
Momentangeräusche,  wie  ich  sie  bezeichnen  will,  sind  am  besten  den 
Herztönen  zu  vergleichen.  Wenn  man  ein  ganz  unregelmäßig  schlagendes 
Herz*  in  einiger  Entfernung  von  der  Herzgegend  auskultieren  würde,  so 
müßte  man  ganz  ähnliche  Schallempfmdungen  erhalten. 

Die  Momentangeräusche  sind  nachweisbar  die  Folge  unabsichtlicher, 
ruckender  Bewegungen  des  Augapfels.  Man  ist  sich,  während  man  seine 
Aufmerksamkeit  dem  Dauergeräusche  zuwendet,  gar  nicht  bewußt,  wie 
unruhig  dabei  öfters  die  Augen  sind,  und  insbesondere  nicht  des  Umstandes, 
daß  ihre  Bewegungen  ruckweise  erfolgen.     Fixiert  man  einen  Punkt  ganz 


4)  Über  Muskelgeräusche  des  Auges.  Sitzungsbericht  der  Wiener  Akademie 
d.  Wissensch.   III.Abt.   Febr.  i879. 

2)  Wie  man  Störungen  vermeiden  kai^n,  welche  durch  die  Tätigkeit  am 
Knochengerüst  des  Kopfes  angreifender  Muskeln  entstehen  oder  in  einer  Zuleitung 
von  Muskelgeräuschen  der  Hand-  und  Armmuskeln  durch  die  den  Schalltrichter 
haltenden  Finger  begründet  sind,  habe  ich  am  angegebenen  Orte  auseinander- 
gesetzt. 


264  Lehre  vom  Lichtsinn. 

fest,  so  verschwinden  die  Momentangeräusche,  um  erst  wieder  aufzutreten, 
sobald  infolge  der  Ermüdung  oder  vorübergehender  Unachtsamkeit  wieder 
Bewegungen  des  Augaupfels  eintreten. 

Der  im  Fixieren  nicht  sehr  Geübte  tut  gut,  sich  ein  langdauerndes 
Nachbild,  z.  B.  von  einer  kleinen  weißen  Scheibe  auf  schwarzem  Grunde, 
zu  erzeugen  und  dann  erst  einen  markierten  Punkt  auf  einfarbigem  Grunde 
zu  fixieren:  er  wird  sich  dann  überzeugen,  daß  jedem  Momentangeräusche 
des  Auges  eine  Verschiebung  des  Nachbildes  entspricht.  Ebenso  bieten 
jene  mouches  volantes,  welche  durch  Augenbewegungen  in  leichte  wirkliche 
(nicht  bloß  scheinbare)  Bewegungen  versetzt  werden,  eine  bequeme  Kontrolle 
der  erwähnten  unabsichtlichen  Blickschwankungen. 

Sehr  gut  kann  man  die  Momentangeräusche  beim  Lesen  beobachten. 
Während  der  Blick  die  Zeile  entlang  scheinbar  stetig  gleitet,  verraten  die 
Momentangeräusche  die  ruckweise  erfolgende  Bewegung  des  Augapfels. 
Springt  der  Blick  vom  Ende  der  einen  Zeile  auf  den  Anfang  der  nächst- 
folgenden, so  vernimmt  man  ein  besonders  deutliches  Geräusch,  welches- 
aber  etwas  länger  ist  und  im  Gegensatze  zu  dem  kurzen  Klopfen,  wie  man 
es  gewöhnlich  hört,  etwas  Schabendes  oder  Reibendes  hat;  dasselbe  ver- 
hält sich  zu  den  sonstigen  Momentangeräuschen  etwa  so,  wie  ein  Herz- 
geräusch zu  einem  Herztone.« 

Ich  brauche  z.  B.  zum  aufmerksamen  Lesen  einer  Zeile  dieses  Hand- 
buches bei  20  cm  Abstand  meiner  Augen  vom  Blatte  durchschnittlich  3  Se- 
kunden. Klebe  ich  aber  eine  Anzahl  Blätter  einer  ganz  gleichen  Druck- 
schrift parallel  nebeneinander  auf  den  horizontal  liegenden  Papierstreifen 
eines  Kymographions,  halte  mit  der  Hand  eine  dünne  Glasplatte  dicht  über 
den  Papierstreifen,  fixiere  eine  mit  Schreibdiamant  auf  dem  Glase  angebrachte 
feine  Marke  ganz  fest  und  lasse  dann  den  Streifen  mit  3  Sekunden  Ge- 
schwindigkeit unter  dem  Glase  vorübergleiten,  so  vermag  ich  auch  bei  bester 
Beleuchtung  keinen  Buchstaben  zu  erkennen,  geschweige  denn  zu  lesen. 
Beim  gewöhnlichen  Lesen  verschieben  sich  die  Buchstabenbilder  noch  schneller 
auf  der  Netzhaut,  da  ein  Teil  der  Zeit  zu  den  kurzen  Stillständen  des 
Auges  während  des  Lesens  verbraucht  wird.  Es  versteht  sich,  daß  je 
nach  Form  und  Größe  der  Buchstaben,  je  nachdem  ich  an  dieselben  ge- 
wöhnt bin  oder  nicht  und  je  nach  der  Verständlichkeit  des  Inhaltes  einer 
Zeile  die  zum  Lesen  derselben  nötige  Zeit  sehr  verschieden  sein  kann. 

§  59.  Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder.  Unter 
ständigen  Netzhautbildern  verstehe  ich  die  von  den  Strahlungen  unbewegter 
Außendinge  auf  der  Netzhaut  eines  ganz  feststehenden  Auges  erzeugten 
Bilder.  Auch  wenn  die  von  einem  Außendinge  zum  Auge  gelangenden  op- 
tischen Strahlungen  ganz  unverändert  bleiben  und  etwaige  Änderungen  der 
Akkommodation  und  der  Pupille  abgelaufen  sind,  kommt  es  nicht  zu  einer 


§  59.    Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder.  265 

Konstanz  der  Lichtempfindung,  sondern  letztere  verändert  sich  stetig  in 
ganz  gesetzmäßiger  Weise.  Aus  der  großen  Mannigfaltigkeit  der  auf  diesen 
Änderungen  beruhenden  Tatsachen  können  hier  nur  einige  wenige  angeführt 
werden,  welche  sich  unter  möglichst  einfachen  Versuchsbedingungen  und 
ohne  ungewöhnliche  experimentelle  Hilfsmittel  beobachten  lassen. 

Vor  einem  Tische  sitzend  habe  man  ein  großes  ganz  ebenes  und  überall 
gleich  weißes  Blatt  vor  sich  ausgebreitet,  welches  womöglich  durch  ein 
mäßig  großes  Fenster  ohne  dicke  Fensterstäbe  gut  beleuchtet  ist.  Mit  der 
einen  Hand  halte  man  in  passender  Höhe  einen  langen  Bleistift  horizontal 
über  das  Blatt,  so  daß  er  seinen  Schatten  auf  die  weiße  Fläche  wirft. 
Je  nach  dem  Abstände  des  Bleisliftes  vom  Blatte  sind  die  Ränder  des 
Schattens  mehr  oder  weniger  verwaschen.  Fixiert  man  nun  anhaltend  bei 
ruhig  stehendem  Kopfe  einen  neben  dem  Schatten  mit  Tinte  markierten 
Punkt,  so  sieht  man  sehr  bald  zunächst  die  verwaschenen  Ränder  des 
Schattens  verschwinden,  während  der  übrige,  dunklere  Teil  desselben  sich 
aufhellt,  bis  unter  zunehmender  Aufhellung  der  ganze  Schatten  schließlich 
so  vollständig  verschwindet,  daß  die  Stelle,  auf  der  er  lag,  jetzt  genau 
ebenso  hell  erscheint,  wie  das  übrige  Blatt.  Das  Verbleichen  des  Schattens 
und  sein  völliges  Verschwinden  tritt  um  so  eher  ein,  je  geringer  seine 
Dunkelheit  schon  anfangs  und  je  weiter  die  fixierte  Marke  vom  Orte  des 
Schattens  entfernt  war.  Ist  der  Schatten  verschwunden,  so  bleibt  er  es 
auch  so  lange,  als  man  den  Blick  fixiert  un verrückt  festhält. 

Es  versteht  sich,  daß  man  durch  Befestigung  des  Bleistiftes  an  einer 
kleinen  mechanischen  Hand  und  durch  Benützung  einer  Kopfstütze  störende 
Verschiebungen  des  Schattens  oder  des  Kopfes  während  der  Fixierung  der 
Marke  besser  ausschließen  kann,  die  um  so  leichter  eintreten,  je  länger 
man  fixieren  muß.  Die  zum  Verschwinden  des  Schattens  nötige  Zeit  beträgt 
je  nach  dessen  Dunkelheit  und  je  nach  der  Lage  der  fixierten  Marke  relativ 
zum  Schatten  nur  kleine  Bruchteile  einer  Minute  oder  mehr  als  eine  Minute. 
Letzteres  gilt  insbesondere  für  den  Fall,  daß  der  fixierte  Punkt  innerhalb 
des  Schattens  oder  gar  auf  dessen  dunkelstem  Teile  liegt.  Ein  zu  dunkler 
Schatten  läßt  sich  dann  überhaupt  nicht  in  seiner  ganzen  Länge  zum  Ver- 
schwinden bringen,  weil  die  Augen  schließlich  zu  schwanken  beginnen; 
wohl  aber  können  die  vom  fixierten  Punkte  weiter  abliegenden  Endstücke 
unsichtbar  werden.  Es  kommt  also  wesentlich  darauf  an,  wie  weit  das 
Netzhautbild  des  Schattenteils,  um  dessen  Verschwinden  es  sich  handelt, 
vom  funktionellen  Mittelpunkte  der  Netzhaut  entfernt  ist;  je  mehr  dies  der 
Fall,  desto  früher  das  Verschwinden. 

Sobald  der  Schatten  verschwunden  ist,  hat  der  zweite,  nicht  minder 
wichtige  Teil  des  Versuches  zu  beginnen.  Während  man  den  gewählten 
Punkt  noch  weiter  fixiert,  entfernt  man  schnell  den  Bleistift  so  weit,  daß 
er  auf  die  Fläche  keinen  Schatten  mehr  wirft;  anstatt  des  Schattens  sieht 


266  Lehre  vom  Lichtsinn. 

man  jetzt  einen  hellen  Streif  auf  dem  Papier,  der  um  so  heller  ist,  je 
dunkler  der  Schatten  war,  und  dessen  Helligkeit  sich  von  den  Rändern 
ganz  in  derselben  Weise  abstuft  und  in  das  Weiß  des  Papieres  verliert, 
wie  anfangs  die  Dunkelheit  des  Schattens.  Kurzum,  der  helle  Streif  verhält 
sich  zum  anfänglicht^n  Schatten  wie  das  Negativ  der  Photographie  zum 
Positiv. 

Bei  dem  soeben  beschriebenen  Versuche  wurde  eine  auf  weißer  Fläche 
befindliche  dunkle  Stelle  durch  anhaltendes  Fixieren  zum  Verschwinden 
gebracht;  auf  der  hellen  Fläche  läßt  sich  aber  auch  durch  Zuspiegelung 
von  Licht  ein  Fleck  erzeugen,  der  noch  viel  heller  ist,  als  das  Weiß  des 
Papieres.  Zu  diesem  Zwecke  bringt  man  gegenüber  dem  Fenster  einen 
kleinen  Hohlspiegel  in  passender  Höhe  und  Entfernung  so  an,  daß  er  ein 
völlig  verwaschenes  Bild  des  Fensters  auf  der  weißen  Fläche  entwirft,  und 
verfährt  mit  diesem  hellen  Flecke  ganz  ebenso,  wie  zuvor  mit  dem  Schatten. 
Je  nach  der  mehr  oder  weniger  großen  Helligkeit  des  Fleckes  und  je  nach 
der  Lage  des  fixierten  Punktes  verschwindet  nun  früher  oder  später  auch 
ein  solcher  heller  Fleck  spurlos.  Verdeckt  man  dann  rasch  den  Spiegel, 
so  entsteht  plötzlich  an  Stelle  des  verschwundenen  hellen  ein  dunkler 
schattenähnlicher  Fleck,  der  sich  wieder  zum  anfangs  gesehenen  hellen 
Fleck  angenähert  ebenso  verhält,  wie  ein  photographisches  Negativ  zum 
Positiv. 

Statt  einer  weißen  kann  man  zu  diesen  Versuchen  auch  eine  beliebig 
graue,  ganz  ebene  und  matte  Fläche  benutzen. 

Immer  hat  man  die  Kopfhaltung  so  zu  wählen,  daß  die  Augen  während 
des  Fixierens  möglichst  wenig  von  der  ihnen  bequemsten  Mittelstellung 
abzuweichen  brauchen;  auf  diese  Weise  lassen  sich  die  unwillkürlichen 
Blickschwankungen  am  leichtesten  verhüten.  Auch  ist  zu  bedenken,  daß 
bei  langem  Fixieren  eines  Punktes,  wenn  keinerlei  Bewegungen  im  Gesichts- 
felde die  Aufmerksamkeit  wach  erhalten,  die  oberen  Lider  sich  allmählich 
zu  senken  und  eine  teilweise  Deckung  der  Pupille  herbeizuführen  pflegen, 
wodurch  die  vorausgesetzte  Konstanz  der  Lichtstärke  des  Netzhautbildes 
vereitelt  wird. 

Auch  scharf  umrissene  Teile  des  Gesichtsfeldes,  z.  B.  einen  scharf 
umgrenzten  Schatten  auf  hellem  Grunde  oder  einen  ebensolchen  hellen 
Streifen  auf  minder  hellem  Grunde  würde  man  auf  die  beschriebene  Weise 
zum  Verschwinden  bringen  können,  wenn  sich  jede,  wenn  auch  nur  mini- 
male Blickschwankung  beim  Fixieren  vermeiden  ließe.  Dies  ist  jedoch 
selbst  dem  Geübtesten  um  so  weniger  möglich,  je  länger  das  Fixieren  schon 
gedauert  hat.  Infolgedessen  verschiebt  sich  z.  B.  das  Bild  des  Schattens 
auf  der  Netzhaut,  einerseits  wird  eine  schmale,  bis  dahin  nur  schwach 
bestrahlte  Stelle  der  Netzhaut  plötzlich  stärker  bestrahlt,  andererseits  wird 
eine   stark   bestrahlt   gewesene   schwächer   bestrahlt,    und   weil    für  beide 


§  59.   Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder.  267 

Stellen  bereits  eine  mehr  oder  weniger  vorgeschrittene  Anpassung  erfolgt 
ist,  gilt  für  den  jetzt  verschobenen  Teil  des  Bildes  ganz  dasselbe,  was  für 
das  ganze,  nicht  verschobene  Netzhautbild  gilt,  wenn  wir  plötzlich  den 
schattenwerfenden  Stab  entfernen. 

Statt  daß,  wie  im  letzteren  Falle,  an  Stelle  des  ganzen  Schattens  ein 
heller  Streifen  auf  der  weißen  Fläche  erscheint,  zeigt  sich  jetzt  nur  ein 
hellerer  Saum  an  der  einen  Seite  des  Schattens  und  gleichzeitig  ein  dunk- 
lerer an  der  anderen  Seite  desselben.  Wäre  zufällig  einmal  die  unabsicht- 
liche Verlagerung  des  Blickpunktes  und  die  entsprechende  Verschiebung 
des  Netzhautbildes  so  groß,  daß  jetzt  das  ganze  Bild  des  Schattens  auf 
eine  neue  Netzhautstelle  fiele,  so  würden  am  anfänglichen  Orte  des  Schattens 
der  erwähnte  helle  Streifen,  das  ist  ein  negatives  Nachbild  und  gleichzeitig 
daneben  der  Schatten  mit  seiner  anfänglichen  Dunkelheit  erscheinen.  Eine 
so  starke  plötzliche  Verschiebung  des  Blickes  läßt  sich  nach  längerem 
Fixieren  absichtlich  herbeiführen,  wobei  man  sich  von  der  Richtigkeit 
■des  eben  Gesagten  überzeugen  kann.  (Zur  Vermeidung  von  Doppelbildern 
infolge  von  Konvergenzänderungen  stellt  man  solche  Versuche  zweckmäßig 
unokular  an). 

Nur  wenn  die  unabsichtliche  kleine  Verschiebung  der  Blickrichtung 
mit  der  Richtung  der  Mittellinie  des  Schattens  zusammenfällt,  und  sein 
Bild  sich  auf  der  Netzhaut  in  sich  selbst  verschiebt,  treten  die  beschrie- 
benen Säume  nicht  auf. 

An  einem  scharf  umgrenzten  runden  Schatten  oder  auch  an  einem 
ebensolchen  hellen  Fleck,  von  dem  ganz  das  Analoge  wie  von  dem  Schatten 
gilt,  beobachtet  man  bei  jeder  beliebigen  Richtung  der  unabsichtUchen 
Blickschwankung  auf  der  einen  Seite  einen  dunkleren,  auf  der  anderen  einen 
helleren  sichel-  oder  halbmondförmigen  Saum. 

Auch  das  Bild  eines  verwaschen  begrenzten  Schattens  oder  lichten 
Fleckes  verschiebt  sich  ein  wenig  während  jeder  unbeabsichtigten  kleinen 
Blickschwankung  auf  der  Netzhaut,  Dies  bleibt  aber  unbemerklich ,  weil 
dabei  im  Bezirke  der  Bildverschiebung  nur  minimale  Änderungen  der  Be- 
lichtung stattfinden,  welche  unter  der  Schwelle  der  Wahrnehmbarkeit 
bleiben. 

Wären  wir  also  imstande,  beim  Fixieren  eines  Außenpunktes  jede 
unabsichtliche  Augenbewegung  auszuschließen,  so  würde  es  zum  Zwecke 
unserer  Versuche  genügen,  auf  die  weiße  Fläche  einen  Streifen  oder  eine 
Scheibe  eines  Papieres  zu  legen,  das  dunkler  oder  heller  ist,  als  das  Weiß 
der  Fläche,  um  dieselben  nach  gebührender  Zeit  verschwinden  bzw.  nach 
rascher  Beseitigung  derselben  ihr  negatives  Nachbild  zu  sehen.  Ferner 
läßt  sich  erwarten,  daß  auch  ein  tiefschwarzes  Papierstück  auf  weißem 
Grunde  oder  ein  hellweißes  auf  schwarzem  scheinbar  verschwinden  würde, 
wenn  die  Fixierung  eines  Punktes  lange  genug  fortgesetzt  werden  könnte. 


268  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Wie  überraschend  schnell  bei  absolut  fester  Lage  des  Netzhautbildes 
kleine  Felder  desselben,  die  lichtschwächer  sind  als  ihre  Umgebung,  un- 
sichtbar werden  können,  lehrt  uns  die  Purkinjesche  Aderfigur.  Ist  auf  der 
Empfangsschicht  der  Netzhaut  eine  relativ  große,  überall  gleich  lichtstarke 
Fläche  abgebildet,  so  sind  die  hinter  einem  Netzhautgefäße  liegenden  Stellen 
schwächer  belichtet  als  die  übrigen  Teile  und  wir  würden  dementsprechend^ 
solange  wir  den  Blick  auf  eine  gleichmäßig  und  nicht  zu  stark  belichtete 
Fläche  richten,  die  bekannte  Aderfigur  deutlich  sehen,  wenn  nicht  sowohl 
die  von  den  Gefäßen  beschatteten  Stellen  als  ihre  ganze  Umgebung  sich 
ihrer  Belichtung  derart  angepaßt  hätten,  daß  die  beschatteten  Stellen  in 
derselben  Helligkeit  erscheinen,  wie  ihre  lichtstärkere  Umgebung,  und  also 
unsichtbar  geworden  sind. 

Die  üblichen  Methoden  zur  Sichtbarmachung  der  Gefäßschatten  be- 
ruhen darauf,  daß  der  Schatten  auf  andere  Stellen  der  Empfangsschicht 
geschoben  wird,  die  also  an  die  schwächere  Beleuchtung  nicht  angepaßt 
sind.  Wirft  man  in  bekannter  Weise  auf  die  temporale  Hälfte  der  Sklera 
mittels  einer  starken  Sammellinse  das  kleine  Bildchen  einer  starken  Licht- 
quelle, z.  B.  einer  Bogenlampe,  so  kann  man  die  Aderfigur  bis  in  ihre  feinsten 
Ausläufer  sehen.  Hält  man  dabei  das  Auge  ganz  ruhig  und  fest  auf  die 
Lichtquelle  und  die  Linse  gerichtet,  dann  verschwindet  die  ganze  Figur 
trotz  ihrer  anfänglichen  Schwärze  schon  nach  wenigen  Sekunden;  so  über- 
raschend schnell  adaptiert  sich  die  den  Schatten  empfangende  Stelle  und 
ihre  Umgebung  an  die  Verschiedenheit  ihrer  Belichtung.  Bewegt  man  je- 
doch das  Auge,  oder  verschiebt  man  bei  feststehendem  Auge  die  Linse, 
so  wird  die  jetzt  auf  nicht  adaptierte  Stellen  fallende  Schattenfigur  sofort 
wieder  sichtbar,  während  daneben  die  für  dieselbe  adaptiert  gewesenen 
Stellen  uns  als  ein  helles  negatives  Nachbild  der  dunkleren  Aderfigur  er- 
scheinen. Die  Schatten  der  großen  Gefäße  können  dann  ganz  ebenso  wie  wir 
dies  an  dem  beschriebenen  Bleistiftschatten  fanden,  einen  leuchtend  hellen 
Saum  zeigen.  Die  Geschwindigkeit  des  Verschwindens  erklärt  sich  hier  aus 
der  Schmalheit  des  Feldes. 

Viel  günstiger  sind  die  Bedingungen  für  das  durch'Anpassung  bewirkte 
scheinbare  Verschwinden  von  Außendingen,  wenn  dieselben  infolge  zu 
schwacher  Beleuchtung,  wie  z.  B.  bei  Abend-  oder  Morgendämmerung  schon 
von  vornherein  und  ehe  man  einen  Außenpunkt  zu  fixieren  beginnt,  nicht 
wie  bei  Tage,  mit  scharfen,  sondern  nur  mit  verschwommenen  Umrissen 
erscheinen.  Fixiert  man  unter  solchen  Umständen  einen  Punkt  des  Ge- 
sichtsfeldes, so  werden  die  Umrisse  der  Außendinge  zunehmend  noch  ver- 
schwommener, und  sowohl  die  anfangs  weiß  als  auch  die  schwarz  er- 
schienenen werden  immer  grauer,  bis  man  endlich  nur  ein  im  ganzen 
Gesichtsfeld  ausgebreitetes  Grau  von  überall  gleicher  Helligkeit  sieht. 

Ist  die  Abenddämmerung  soweit  vorgeschritten,   daß  schon  zahlreiche 


§  59.   Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder.  269 

Sterne  sichtbar  sind,  ohne  noch  die  funkelnde  Helligkeit  zu  zeigen,  wie 
in  einer  klaren  Nacht,  und  behält  man  z.  B.  den  hellsten  der  sichtbaren 
Sterne  fest  im  Auge,  so  mindert  sich  die  Zahl  der  gleichzeitig  sichtbaren 
mehr  und  mehr,  die  schwächstleuchtenden  und  die  der  Peripherie  des 
Gesichtsfeldes  näherliegenden  verschwinden  zuerst,  dann  auch  die  helleren 
imd  weniger  indirekt  gesehenen,  selbst  der  am  hellsten  gewesene  fixierte 
Stern  beginnt  zu  verbleichen  und  schließlich  kann  auch  er,  wenn  der  Blick 
nicht  zu  sehr  zu  schwanken  beginnt,  ganz  verschwinden.  Verlegt  man  ab- 
sichtlich den  Blickpunkt  ein  wenig,  so  werden  alle  Sterne  sofort  wieder 
sichtbar. 

Dieses  während  der  Abend-  und  Morgendämmerung  vorkommende  Ver- 
sehwinden eines  längere  Zeit  fixierten  kleinen  Außendinges  infolge  der  Ständig- 
keit seines  Netzhautbildes  darf  nicht  verwechselt  werden  mit  dem  sogenannten 
»zentralen  Verschwinden«  kleiner  Objekte  bei  allgemeiner  Dunkeladaptation  des 
ganzen  somatischen  Sehfeldes.  Läßt  man  während  einer  solchen  den  Blick  wie 
gewöhnlich  umherwandern,  so  kann  man  beobachten,  daß  kleine  Dinge  von 
sehr  geringer  Lichtstärke  zwar  indirekt  zu  sehen  sind,  aber  völlig  verschwinden, 
sobald  man  den  Blick  auf  sie  richtet  und  ihr  Netzhautbild  auf  die  Stelle  des 
direkten  Sehens  zu  liegen  kommt  (vgl.  §  38   S.  H7). 

Wenn  sich  an  eine  schwache  Bestrahlung  einer  Netzhautstelle  plötz- 
lich eine  starke  anschließt  oder  umgekehrt,  so  tritt  an  der  zugehörigen 
Stelle  des  Sehfeldes  nicht  genau  in  demselben  Zeitpunkte,  wo  die  Änderung 
der  Belichtung  erfolgt,  auch  schon  ein  entsprechend  heller  oder  dunkler 
Fleck  an  den  Platz  des  bisherigen,  sondern  zunächst  ein,  unter  Umständen 
sogar  sehr  auffallender,  sich  außerordentlich  geschwind  wiederholender 
Wechsel  zwischen  dunkler  und  heller  Farbe  (vgl.  §38  S.  167),  und  man 
bekommt  den  Eindruck,  als  ob  zwei  antogonistische  Kräfte  miteinander  in 
einem  hin-  und  herwogenden  Kampfe  lägen,  bis  schheßlich  die  eine  oder 
andere  siegreich  wird.  Die  eine  Kraft  entspricht  der  Reizkraft  oder  op- 
tischen Valenz  der  Strahlung,  die  andere  beruht,  wie  uns  der  VIL  Abschnitt 
lehrt,  auf  der  Induktion.  Auch  bei  minder  großen  und  minder  rasch  ver- 
laufenden Intensitätsänderungen  der  Bestrahlung  kann  man  bei  gehöriger 
Aufmerksamkeit  bemerken,  daß  der  durch  die  Intensitätsänderung  beding- 
ten neuen  Farbe  oder  HeUigkeit  wenigstens  eine  kurze  gegensinnige  Phase 
als  eine  Art  Vorschlag  vorangeht.  Nur  die  dann  dauernd  ins  Bewußtsein 
tretende  Farbe,  sei  sie  heller  oder  dunkler  als  die  vorangegangene,  kommt 
hier  für  uns  in  Betracht.  (Daß  auch  sie  trotzt  der  nun  konstant  bleiben- 
den Belichtung  sich  im  weiteren  Verlaufe  der  Anpassung  wieder  ändert, 
wurde  bereits  erwähnt.) 

Wenn  man  die  Intensitätsänderung  der  Bestrahlung  nicht  plötzlich 
herstellt,  sondern  langsamer  vollzieht  und. die  Sehsubstanz  also  sozusagen 
nicht  durch  einen  Stoß  erschüttert,  sondern  vorsichtig  in  den  neuen  Zu- 
stand hineindrängt,   so  falleö  die  erwähnten  Helligkeitsschwankungen  fort. 


270  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Nach  der  auf-  oder  absteigend  erfolgten  Intensitätsänderung,  dann 
konstant  gebliebenen  Belichtung  einer  Netzhautstelle  vergeht  bis  zur  Voll- 
endung der  Anpassung  eine  um  so  längere  Zeit,  je  grüßer  die  Intensitäts- 
änderung, d.  h.  ihr  positiver  oder  negativer  Zuwachs  der  Belichtung  war. 
Das  Zeichen  der  vollendeten  Anpassung  ist  das  völlige  Verschwinden  des 
Schattens  oder  hellen  Fleckes,  gleichviel  ob  wir  die  unterdes  eingetretene 
schwächere  gegensinnige  Helligkeitsänderung  der  ganzen  Fläche,  bemerkt 
haben  oder  nicht.  Erfolgt  schon  vor  vollendeter  Anpassung  eine  neue 
Änderung  der  Belichtungsstärke,  so  schreitet  entweder  die  Anpassung  im 
Sinne  der  ersten  Belichtung  weiter  fort,  oder  man  sieht  ein  negatives 
Nachbild,  welches  aber  jetzt  schwächer  entwickelt  ist,  als  bei  ungestörtem 
Fortgang  der  Anpassung  an  die  frühere  Stärke  der  Belichtung  der  Fall 
gewesen  wäre. 

Erklärung  der  Anpassung  an  ständige  Netzhautbilder.  Man 
hat,  wie  in  §  25  (S.  142 — 115)  gezeigt  wurde,  neben  der  Anpassung  der 
Sehsubstanz  als  einer  im  strengen  Sinne  nervösen  Substanz  eine  besondere 
Anpasssng  des  Empfängers  der  Netzhaut,  d.  h.  der  Stäbchen-  und  Zapfen- 
schicht, in  Betracht  zu  ziehen.  (Dies  gilt  für  die  örtliche  Anpassung  der 
einzelnen  Sehfeldstellen  wie  für  die  allgemeine  Anpassung  des  ganzen  Seh- 
feldes.) 

Die  Anpassung  des  Empfäjigers  an  gegebene  konstante  Bestrahlung 
ist  vollendet,  wenn  Verbrauch  und  Neubildung  des  Empfangsstoffes  in  den 
bestrahlten  Sehzellen  gleich  geworden  sind.  Die  dazu  erforderliche  Zeit, 
d.  i.  die  Anpassungszeit,  ist  um  so  länger,  je  größer  der  Unterschied  zwi- 
schen der  Stärke  der  anfänglichen  Bestrahlung  und  der  an  ihre  Stelle  ge- 
tretenen ist,  nicht  nur,  wenn  einer  schwächeren  Bestrahlung  eine  stärkere, 
sondern  auch,  wenn  einer  stärkeren  eine  schwächere  gefolgt  ist.  Der  stär- 
keren Bestrahlung  entspricht  ein  größerer  Empfangsstoffverbrauch  und  eine 
stärkere  Reizung  der  mit  den  Sehzellen  verbundenen  nervösen  Substanz, 
der  schwächeren  Bestrahlung  ein  kleinerer  Verbrauch  und  eine  schwächere 
Reizung.  Denn  nur  der  durch  chemische  Wirkung  der  Strahlung  auf  den 
Empfangsstoff  bedingte  Verbrauch  desselben  vermag  einen  Reiz  auf  die 
nervöse  Substanz  abzugeben,  während  seine  Neubildung  an  sich  keine  Wir- 
kung auf  dieselbe  hat.  Insofern  verhält  sich  der  Empfangsstoff  einer  Netz- 
hautstelle ähnlich  wie  ein  Herd,  dessen  Heizkraft  von  der  Menge  der  brennen- 
den und  nur  mittelbar  von  der  Menge  der  gleichzeitig  zugeführten  Kohle 
abhängt. 

Anderes  gilt  von  der  nervösen  Substanz.  Der  für  sie  beim  Verbrauch 
des  Empfangsstoffes  erzeugte  Reiz,  d.  h.  der  eigentliche  Sehreiz,  ist  zwar 
für  jedes  einer  bestrahlten  Sehzelle  funktionell  zugehörige  Element  der 
Sehsubstanz  ein  Antrieb  zur  gesteigerten  Dissimilierung,  aber  jede  Stei- 
gerung  der  Dissimilierung   eines  Elementes   mindert  infolge   der  Induktion 


§  59.   Anpassung  des  Auges  an  ständige  Netzhautbilder.  271 

die  DissimilieruDg  der  übrigen  Elemente  und  vermehrt  zugleich  deren  Assi- 
milierung so  lange,  bis  das  Verhältnis  zwischen  Dissimilierung  und  Assi- 
milierung {D :  Ä)  überall  dasselbe  und  damit  auch  die  Helligkeit  überall 
die  gleiche  geworden  ist.  Hiermit  ist  die  Anpassung  vollendet.  Dieser 
vollständigen  Anpassung  an  eine  gegebene  Bestrahlung  entspricht  also  zwar 
im  Empfänger  eine  Gleichheit  zwischen  Verbrauch  und  Ersatz  des  Empfangs- 
stoffes,  in  der  Sehsubstanz  aber  nur  eine  Gleichheit  des  Verhältnisses  zwi- 
schen Dissimilierung  und  Assimilierung,  wobei  die  Größe  derselben  und  das 
Gewicht  der  Empfindung  an  verschiedenen  Stellen  verschieden  sein  kann^ 
wie  dies  alles  in  früheren  Paragraphen  ausführlich  dargelegt  wurde. 

Die  Anpassung  der  Sehsubstanz  folgt  also  der  Anpassung  des  Em- 
pfängers und  obwohl  sie  sozusagen  viel  labiler  ist  als  der  Empfänger  und 
auf  eine  einmalige  starke  und  plötzliche  Sehreizbildung  infolge  plötzlicher 
Änderung  der  Lichtstärke  des  Netzhautbildes  mit  einer  ganzen  Reihe  von 
gegensätzlichen  Änderungen  ihres  Zustandes  zu  reagieren  vermag,  so  ver- 
rät sich  doch  diese  ihre  Eigenschaft  bei  kleineren  oder  nicht  zu  schnell 
verlaufenden  Änderungen  der  Lichtstärke  eines  Netzhautbildes  wenig  oder 
gar  nicht. 

Tritt  eine  Änderung  der  Bestrahlung  nicht  bloß  für  einen  Teil  der 
Netzhaut  ein,  sondern  ändert  sich  die  Gesamtbeleuchtung  der  eben  sicht- 
baren Außenwelt,  so  würde,  wie  schon  gesagt  wurde,  sich  das  ganze  so- 
matische Sehfeld  bis  zu  völliger  Gleichheit  der  Helligkeit  aller  seiner  Teile 
an  die  neue  Beleuchtung  anpassen,  wenn  es  uns  möglich  wäre,  das  Auge 
so  lange  in  genau  derselben  Stellung  festzuhalten,  und  zugleich  jede  Ver- 
änderung der  Lichtstärke  im  Gesamtnetzhautbilde  auszuschließen. 

Von  der  sukzessiven  Adaptation.  Unter  sukzessiver  Adaptation 
(vgl.  §  6)  verstehe  ich  im  allgemeinen  die  Anpassung  des  Sehorganes  an 
die  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes,  von  welcher  letzteren  die  Inten- 
sität und  Qualität  des  von  nicht  selbstleuchtenden  Dingen  zurückgeworfenen 
und  das  Netzhautbild  erzeugenden  Lichtes  abhängt.  Während  Aubert  unter 
Adaptation  nur  die  nach  völliger  Verfinsterung  des  Sehfeldes  bei  Dunkel- 
aufenthalt in  finsterem  Räume  und  also  bei  ganz  lichtfreier  Netzhaut  ein- 
tretende Zunahme  der  Lichtempfindlichkeit  verstand,  habe  ich  den  Begriff 
der  Adaptation  erweitert  und  von  der  Aubert  sehen  Dunkeladaptation  die 
Helladaptation  unterschieden.  Dem  Zustande,  in  dem  sich  nach  Aubert 
das  Sehorgan  bei  maximaler  Dunkeladaptation  befindet,  entspricht  der  Null- 
punkt der  Helladaptation  1) ,  und  man  hat  ebenso  viele  Stufen  derselben 
zu  unterscheiden,  als  es  Intensitätsstufen  der  allgemeinen  Beleuchtung  des 
Gesichtsfeldes  gibt,  insoweit  diese  Intensität  innerhalb  der  Grenzen  bleibt, 
bis  zu  denen  die  Adaptation  zu  folgen  vermag. 

1)  Über  Ermüdung  und  Erholung  des  Sehorganes.  Graefes  Arch.  Bd.  XXXVII.  3. 
S.  32. 


272  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Beim  gewöhnlichen  Sehen  ist,  wie  wir  sahen,  das  Auge  in  fortwähren- 
der sprungweiser  Bewegung.  Wegen  der  damit  verbundenen  Verschie- 
bungen des  Gesamtnetzhautbildes  empfängt  eine  und  dieselbe  Netzhautstelle 
in  raschem  Wechsel  die  Bilder  sehr  verschieden  lichtstarker  Außendinge. 
Doch  wird,  wenn  die  Gesamtbeleuchtung  der  Außendinge  eines  gegebenen 
Gesichtsfeldes  längere  Zeit  hindurch  sich  nicht  wesentlich  ändert,  auch  die 
durchschnittliche  Belichtungsstärke  einer  Netzhautstelle  sich  nicht  er- 
heblich ändern  und  um  die  Anpassung  an  den  durchschnittlichen  Wert 
der  sukzessiv  verschiedenen  Belichtungen  handelt  es  sich,  wenn  von  einer 
Anpassung  an  eine  bestimmte  Gesamtbeleuchtung  des  Gesichtsfeldes  beim 
gewöhnlichen  Sehen  die  Rede  ist. 

Den  verschiedenen  funktionellen  Eigentümlichkeiten  der  Einzelteile  des 
somatischen  Sehfeldes  entsprechend  befinden  sich  die  letzteren  bei  der- 
selben Gesamtbeleuchtung  (nach  vollendeter  Adaptation)  im  allgemeinen 
auf  verschiedenen  Stufen  der  Adaptation.  Deshalb  handelt  es  sich  eigent- 
lich nie  um  eine  überall  gleiche  Adaptation,  sondern  um  eine  Mannigfaltig- 
keit örtlicher  Anpassung  oder  lokaler  Adaptation,  wie  ich  sie  seiner- 
zeit bezeichnet  habe,  und  wenn  man  von  einer  erfolgten  Adaptation  an 
die  allgemeine  Beleuchtung  des  Gesichtsfeldes  spricht,  kann  man  nur  die 
Gesamtheit  der  gleichzeitig  in  den  verschiedenen  Bezirken  des  Sehfeldes 
bestehende  Adaptationsstufen  meinen. 

Wenn  die  Augen  einmal  ausnahmsweise  genügend  lange  keiner- 
lei aktive  odeT  passive  Bewegungen  ausführen,  und  wenn  gleichzeitig  alle 
eben  sichtbaren  Außendinge  festliegen  und  ihre  Lichtstärken  völlig  un- 
verändert bleiben,  so  wird  sich  jede  somatische  Sehfeldstelle  ebenfalls  an 
ihre  jetzt  wirklich  konstant  bleibende  Beleuchtungsstärke  adaptieren.  Da- 
bei wird,  weil  das  Gesamtnetzhautbild  gewöhnlich  in  seinen  einzelnen  Teilen 
von  verschiedener  Lichtstärke  ist,  auch  die  Anpassung  der  einzelnen  Seh- 
feldbezirke eine  verschiedene  sein  können.  Diese  Adaptation  bei  feststehen- 
dem Auge  eignet  sich  begreiflicherweise  zur  genaueren  Untersuchung  viel 
besser  als  die  Adaptation  an  die  durchschnittliche  Beleuchtungsstärke  bei 
bewegtem  Auge.  Doch  ist  das  längere  Fixieren  eines  Außenpunktes  ein 
unnatürlicher,  den  Augen  aufgezwungener  Zustand,  der  immer  wieder  durch 
kleine  unwillkürliche  Augenbewegungen  unterbrochen  wird.  Im  übrigen, 
abgesehen  von  diesem  absichtlich  herbeigeführten  langen  Stillstand  der 
Augen,  kommt  ein  solcher  gesunderweise  nur  vor,  wenn  wir  »gedanken- 
los« oder  »in  Gedanken  versunken«  vor  uns  hinstarren  und  gar  nicht 
auf  das  eben  Sichtbare  achten. 


Die  Beziehungen  zwischen  der  bunten  Qualität 
der  Farben  und  der  Schwingungszahl  der  optischen 

Strahlen. 

§  60.  Die  Verteilung  der  Farben  im  Spektrum.  Wie  schon  in 
§  12  erörtert  wurde,  läßt  sich  die  Gesamtheit  aller  möglichen  Farbentöne 
auf  einer  in  sich  zurücklaufenden  Linie  derart  angeordnet  denken,  daß  die 
Verschiedenheit  des  Tones  je  zweier  unmittelbar  benachbarter  Farben  minimal, 
die  Ähnlichkeit  aber  maximal  ist,  und  also  die  Farbentöne  überall  stetig 
ineinander  übergehen.  Zweckmäßig  wählt  man  als  geschlossene  Linie  einen 
Kreis.  Dieselbe  Reihenfolge  der  Farbentöne,  wie  sie  ein  solcher  sogenannter 
Farbenzirkel  zeigt,  finden  wir  im  Spektrum  wieder,  doch  fehlt  letzterem 
stets  ein  Teil  der  Töne  des  Farbenzirkels,  denn  es  endet  für  das  normale  und 
chromatisch  neutral  gestimmte  Auge  einerseits  mit  einem  ins  Gelbe  spielen- 
den Rot,  anderseits  mit  einem  Violett. 

Man  denke  sich  einen  in  genügender  Größe  ausgeführten  und  aus 
möglichst  freien  Farben  bestehenden  Farbenzirkel  in  100  oder  mehr  Sektoren 
zerschnitten,  so  würde  man  ebensoviele  kleine  Täfelchen  erhalten,  deren 
jedes  einen  anderen  Ton  hätte.  Diese  Täfelchen  könnte  man  regellos  durch- 
einandergeworfen einem  Laien  vorlegen,  der  nie  einen  Farbenzirkel  oder 
ein  Spektrum  gesehen,  aber. einen  guten  Farbensinn  hätte,  und  ihm  die 
Aufgabe  stellen,  die  Täfelchen  nach  den  ÄhnUchkeiten  ihrer  Farben  anein- 
anderzureihen: er  würde  die  Farben  ebenso  anordnen,  wie  sie  im  Spektrum 
aufeinanderfolgen.  Je  nachdem  einer  diese  Übereinstimmung  zwischen  der 
lediglich  durch  schlichte  Farbenvergleichung  gefundenen  mit  der  durch  das 
physikalische  Experiment  erzeugten  Farbenfolge  selbstverständlich  oder 
höchst  wunderbar  findet,  wird  man  an  seine  Äußerungen  über  Licht-  und 
Farbensinn  einen  sehr  verschiedenen  Maßstab  anzulegen  haben.  — 

Mit  der  Reihenfolge  der  Farben  ist  noch  nicht  deren  räumliche  Ver- 
teilung im  Spektrum  bestimmt.  In  einem  richtig  entworfenen  Farbenkreise 
hat  jeder  bestimmte  Farbenton  auch  einen  ganz  bestimmten  Ort,  weil  der 
Kreis  duich  die  vier  Urfarben  in  vier  gleich  große  Abschnitte  (Quadranten) 
geteilt  ist,    und  jeder  Punkt   eines   solchen  Abschnittes   einem  bestimmtcD 

Hering,  Lichtsinn.  4  8  * 


274  Lehre  vom  Lichtsinn. 

Verhältnis  der  beiden  Ähnlichkeitsgrade  entspricht,  welche  der  hier  liegende 
Farbenton  mit  den  beiden,  den  Quadranten  begrenzenden  Urfarben  hat.  Im 
Spektrum  ist  die  räumliche  Verteilung  stets  eine  ganz  andere  und  überdies 
je  nach  der  Art  seiner  Entstehung  verschiedene.  Während  z.  B.  der  Ort 
des  Urgrün  in  einem  prismatischen  Spektrum  für  ein  chromatisch  neutral 
gestimmtes  Auge  beiläufig  der  Mitte  des  ganzen  Spektrums  enspricht,  liegt 
das  Urgrün  im  Interferenzspektrum  dem  violetten  Ende  viel  näher  als  dem 
roten. 

Von  den  vier  bunten  Urfarben  des  Farbenzirkels  finden  wir  unter  ge- 
wöhnlichen Umständen  nur  drei  im  Spektrum  wieder,  nämlich  Urgelb, 
Urgrün  und  Urblau,  nicht  aber  das  Urrot.  Das  am  einen  Ende  des  Spek- 
trums erscheinende  Rot  spielt  deutlich  ins  Gelbe,  es  sei  denn,  daß  die  Netz- 
hautstelle, mit  der  man  es  sieht,  zuvor  mit  gelbwirkendem  Lichte  bestrahlt 
worden  war.  Solchenfalls  kann  es  allerdings  in  einem  Rot  erscheinen, 
welches  weder  gelblich  noch  bläulich  ist.  Für  ein  überall  chromatisch 
neutral  gestimmtes  Auge  aber  gibt  es  im  Spektrum  nur  die  zuerst  ge- 
nannten drei  Urfarben,  deren  Orte  im  Spektrum  ich  als  die  drei  Kardinal- 
punkte desselben  bezeichnet  habe. 

Während  im  allgemeinen  der  an  einer  Stelle  des  Spektrums  erscheinende 
Farhenton  sich  mit  der  Intensität  des  spektral  zerlegten  Lichtes  ändert, 
gilt  dies,  wie  sich  im  Folgenden  zeigen  wird,  nicht  für  die  Kardinalpunkte,  deren 
Farbenton  von  den  Änderungen  der  Lichtstärke  unabhängig  zu  sein  scheint, 
solange  die  chromatisch  neutrale  Stimmung  der  betroffenen  Sehstelle  be- 
steht. 

Durch  die  drei  Kardinalpunkte  wird  das  Spektrum  in  vier  Abschnitte 
geteilt,  einen  vom  Urgelb  bis  an  das  rote  Ende  reichenden  rot-gelben 
und  einen  vom  Urblau  bis  an  das  violette  Ende  reichenden  rot-blauen 
Abschnitt,  während  die  zwischen  dem  Urgelb  und  Urblau  liegende  Strecke 
durch  das  Urgrün  in  einen  grün-gelben  und  einen  grün-blauen  Ab- 
schnitt geteilt  wird.  Es  enthält  also  der  vom  Endrot  bis  zum  Urgrün  sich 
erstreckende  Teil  des  Spektrums  durchgängig  Farben  von  mehr  oder  minder 
deutlicher  Gilbe,  während  vom  Urgrün  bis  zum  End violett  alle  Farben  eine 
mehr  oder  minder  deutliche  Bläue  haben.  Die  zwischen  Urgelb  und  Ur- 
blau liegende  Strecke  umfaßt  alle  grünhaltigen  Farbentöne;  die  rothaltigen 
Töne  aber,  insoweit  sie  für  das  chromatisch  neutral  gestimmte  Auge  im 
Spektrum  enthalten  sind,  liegen  in  den  beiden  Endabschnitten. 

Die  schematische  Figur  möge  diese  Verteilung  der  Farbentöne  im  In- 
terferenzspektrum veranschaulichen  i).  Da  man  gewöhnt  ist,  sich  im  Spektrum 

des  Tageslichtes  mit  Hilfe  der  besonders  deutlichen  FBAUNHOFERSche  Linien 

i 

<)  Die  hier  erwähnte  Abbildung  hat  sich  im  Nachlasse  nicht  vorgefunden. 
Offenbar  bestand  die  Absicht,  die  Abbildung  auf  Tafel  I  mit  entsprechenden 
Änderungen  wiederzugeben.  Hess. 


§  6i .   Das  Interferenzspektrum  des  Himmelslichtes.  275 

zu  orientieren  und  nicht  die  Schwingungszahl,  sondern  die  Wellenlänge 
einer  einfachen  Strahlung  zur  Bezeichnung  derselben  zu  benutzen,  so  ist  die 
Lage  jener  Linien  mit  ihren  Wellenlängen  in  das  Schema  eingetragen.  Die 
rote  Kaliumlinie  769,9 /</t  einerseits  und  die  Linie  H2  393  ^/^  andererseits 
begrenzen  unser  Schema,  obwohl  das  sichtbar  Spektrum  unter  günstigen 
Bedingungen  beiderseits  noch  etwas  weiter  reichen  kann. 

Newton  unterschied  1  Farben  (rubens,  aureus,  flavus,  viridis,  caeru- 
leus,  indicus,  violaceus)  und  teilte  dementsprechend  den  Kreis  in  7  übrigens 
ungleich  lange  Teile,  die  er  mit  den  7  Intervallen  zwischen  den  8  Tönen 
einer  Oktave  in  einen  eigenartigen  Vergleich  brachte.  In  der  Mitte  jedes 
Bezirkes  oder  Bogens  sollte  die  entsprechende  Farbe  am  reinsten  sein,  an 
jeder  anderen  Stelle  des  Bogens  aber  um  so  mehr  nach  der  einen  oder 
anderen  von  den  benachbarten  Hauptfarben  neigen,  je  größer  der  Abstand 
der  Stelle  von  der  Mitte  ihres  Bezirkes  war.  Dieser  Anordnung  der  Farben- 
töne liegt  das  prismatische  Spektrum  zugrunde,  sie  paßt  schon  nicht  mehr 
auf  das  Diffraktionsspektrum;  ich  habe  sie  nur  deshalb  hier  angeführt,  um 
zu  zeigen,  daß  die  räumliche  Verteilung  der  Farbentöne  im  Spektrum  über- 
haupt nicht  maßgebend  sein  kann,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die 
Farbentöne  rationell  auf  einer  geschlossenen  Linie  anzuordnen,  was  meiner 
Ansicht  nach  nur  auf  dem  von  mir  betretenen  Wege  erreichbar  ist.  Jetzt 
handelt  es  sich  nur  darum,  die,  wie  wir  annehmen  müssen,  gesetzmäßigen 
Beziehungen  festzustellen,  welche  zwischen  jeder  einzelnen  der  einfachen 
Strahlungen  in  der  spektral  geordneten  Reihe  einerseits  und  der  im  rationellen 
Farbenkreise  geordneten  Reihe  der  Farbentöne  anderseits  bestehen. 

Für  den  physikahsch  Unterrichteten  verbindet  sich  leicht  mit  ver- 
schiedenen Farbentönen  des  Spektrums  der  Gedanke  an  bestimmte  Wellen- 
längen so  fest,  daß  er  schließlich  jeder  einzelnen  optischen  Strahlenart 
einen  bestimmten  Farbenton  zuschreibt  und  die  Strahlung  nach  letzterem 
benennt  statt  nach  ihrer  Schwingungszahl  oder  Wellenlänge.  Doch  der 
Farbton,  mit  welchem  unser  Sehorgan  auf  eine  Strahlung  bestimmter 
Wellenlänge  reagiert,  h"ängt  so  sehr  von  der  jeweiligen  Beschaffenheit  des 
Organs  und  der  Energie  der  Strahlung  ab,  daß  die  Bezeichnung  der  ver- 
schiedenen einfachen  Strahlen  mit  bestimmten  Namen  überhaupt  nur  unter 
Voraussetzung  ganz  bestimmter  Bedingungen  einen  Sinn  hat.  Denn  eine  und 
dieselbe  Strahlung  kann  je  nach  den  Umständen  in  allen  überhaupt  mög- 
hchen  Farbentönen  gesehen  werden. 

§  61.  Das  Interferenzspektrum  des  Himmelslichtes.  Da  im 
Interferenzspektrum  gleichen  Unterschieden  der  Schwingungszahlen  oder 
der  Wellenlängen  gleichgroße  Strecken  des  Spektrums  entsprechen,  so 
macht  dasselbe  die  Art  der  Abhängigkeit  des  Farbentones  von  der  Wellen- 
länge viel  anschaulicher  als  das  prismatische  Spektrum.    Es  ist  schon  des- 

48* 


o^ß  Lehre  vom  Lichtsinn. 

halb  zweckmäßig,  sich  zuerst  eine  Anschauung  des  Interferenzspektrums 
zu  verschaffen,  und  zwar  mit  Benutzung  des  Himmelslichtes.  Denn  da  das 
Sehor""an  des  Menschen  sich,  stammesgeschichtlich  betrachtet,  unter  der 
Wirkung  dieses  Lichtes  entwickelt  hat,  und  noch  heute  alle  nicht  von  der 
Sonne  stammenden  Belichtungen  unserer  Netzhaut  nur  als  Ausnahmen  zu 
o-elten  haben,  so  ist  auch  für  die  physiologische  Optik  die  Beschaffenheit 
des  Sonnen-  und  Himmelslichtes  von  höherer  Bedeutung,  als  die  der  künst- 
lichen Lichtquellen. 

EiQ  \ — 2  cm  hoher  Spalt  im  Fensterladen  eines  Dunkelzimmers,  durch 
welchen  das  Himmelslicht  zum  30  cm  vom  Spalte  entfernten  Auge  des 
Beobachters  gelangen  kann,  und  ein  vor  das  Auge  gehaltenes  Glasgitter 
o-enügen,  um  ein  Spektrum  erster  Ordnung  von  zweckmäßiger  Länge  zu 
erhalten.  Durch  Änderung  der  Breite  des  Spaltes  läßt  sich  die  Lichtstärke 
des  Spektrums  verkleinern  oder  vergrößern.  Nähert  man  das  Auge  dem 
Spalt,  so  verkürzt  sich  das  Spektrum,  seine  Farben  schieben  sich  mehr 
zusammen  und  seine  Helligkeit  wächst;  entfernt  man  das  Auge,  so  ver- 
längert sich  das  Spektrum,  seine  Farben  breiten  sich  aus  und  seine  Hellig- 
keit nimmt  ab.  Bei  passender  Lichtstärke  und  Enge  des  Spaltes  unter- 
scheidet man  leicht  die  Linien  C,  D,  E,  6,  F  und  G.  Die  Wellenlänge, 
welche  einer  zwischen  zwei  dieser  Linien  gelegenen  Stelle  entspricht,  läßt 
sich  üblicherweise  angenähert  bestimmen,  wenn  man  das  Verhältnis  ab- 
schätzt, in  welchem  der  gegenseitige  Abstand  der  beiden  Linien  durch  die 
fragliche  Stelle  geteilt  wird. 

Da  das  Pigment  der  Macula  lutea  insbesondere  die  blaugrün-,  blau- 
und  violettwirkenden  Strahlen  erheblich  absorbiert,  bevor  sie  zum  Seh- 
epithel der  Netzhaut  gelangen,  so  sieht  man  bei  Betrachtung  des  ent- 
sprechenden Spektralbezirkes  einen  dunklen  verwaschenen  Fleck  an  der 
Stelle,  welche  man  eben  anblickt.  Im  verhältnismäßig  hellen  Blaugrün 
eines  Spektrums  von  mittlerer  Helligkeit  ist  dieser  dunkle  Fleck  sehr  auf- 
fällig, im  schon  an  und  für  sich  dunklen  Violett  aber  zuweilen  kaum  noch 
kenntlich.  Auch  verschwindet  er  infolge  örtlicher  Adaptation  des  Auges 
(vgl.  §  59)  sehr  bald,  wenn  der  Blick  sich  länger  im  blauwertigen  Ab- 
schnitte des  Spektrums  aufhält,  wird  aber  sogleich  wieder  sehr  deutlich, 
wenn  man  zwischendurch  den  gelbwertigen  Abschnitt  betrachtet  hat.  Für 
die  richtige  Beurteilung  des  Farbentones  und  der  relativen  Helligkeit  der 
bezüglichen  Stelle  des  Spektrums  ist  diese  makulare  Absorption  sehr  stö- 
rend. Will  man  also  eine  Farbe  des  blauwertigen  Abschnittes  vom  Grün 
bis  zum  Endviolett  deutlich  sehen,  so  muß  man  bei  30  cm  Abstand  des 
Auges  vom  Spalte  den  Blickpunkt  2—3  cm  über  oder  unter  die  Stelle  des 
Spektrums  verlegen. 

Sehr  zweckmäßig  ist  es,  zwei  in  einer  Flucht  liegende,  z.  B.  bei  hori- 
zontaler Lage   des  Spektrums    senkrecht    übereinanderliegende    Lichtspalte 


i?  Gl.    Das  Interferenzspektrum  des  Himmelslichtes.  277 

im  Fensterladen  anzubringen,  und  zwar  so,  daß  ihr  gegenseitiger  Abstand, 
30  cm  Augenabstand  vorausgesetzt,  beiläufig  2  cm  beträgt.  Wenn  man 
beiden  Spalten  eine  verschiedene  Breite  gibt,  so  erhält  man  zwei  über- 
einanderliegende Spektren  von  entsprechend  verschiedener  Intensität  und 
kann  je  zwei  Stellen  gleicher  Wellenlänge  in  betreff  der  Verschiedenheit 
ihres  Aussehens  miteinander  vergleichen.  Dabei  kann  man  entweder  eine 
Stelle  des  einen  Spektrurps  fixieren  und  mit  der  indirekt  darüber  oder 
darunter  gesehenen  Stelle  des  anderen  vergleichen  oder  noch  besser  den 
Blickpunkt  auf  die  Mittellinie  des  finsteren  Zwischenraums  zwischen  den 
beiden  Spektren  verlegen  und  die  Farben  der  beiden  indirekt  gesehenen 
Stellen  gleicher  Wellenlänge  miteinander  vergleichen.  Auch  wenn  beide 
Stellen  noch  in  das  Bereich  der  Makularabsorption  fallen,  kann  es  sich 
wegen  der  vom  Zentrum  nach  der  Peripherie  rasch  abnehmenden  Pig- 
mentierung der  Makula  nur  noch  um  die  schwache  Absorption  von  zwei 
beiläufig  [gleich  schwach  pigmentierten  Stellen  handeln,  wodurch  das 
wahre  Verhältnis  zwischen  den  Lichtstärken  der  beiden  miteinander  ver- 
glichenen Stellen  gleicher  W^ellenlänge  praktisch  genommen  nicht  ver- 
ändert wird. 

Das  lichtstärkere  Spektrum  unterscheidet  sich  vom  lichtschwächeren 
in  besonders  auffallender  Weise  dadurch,  daß  es  gelber  und  blauer  erscheint 
als.  das  lichtschwache.  Wo  im  lichtschwachen  Spektrum  die  Farbe  eine 
nur  undeutliche  Gilbe  oder  Bläue  zeigt,  treten  beide  im  lichtstarken  deut- 
lich hervor  und  machen  sich  um  so  mehr  auf  Kosten  der  Röte  bzw.  Grüne 
geltend,  je  größer  die  Lichtstärke  ist.  Im  Spektrum  von  mittler  Licht- 
stärke sieht  man  das  reine  Gelb  ein  wenig  grtlnwärts  von  der  Linie  D, 
und  das  reine  Blau  etwas  violettwärts  von  der  Linie  F.  Im  lichtschwachen 
Spektrum  aber  ist  an  den  ebengenannten  Stellen  das  Urgelb  und  Urblau 
kaum  erkennbar:  vielmehr  geht  an  der  einen  Stelle  ein  Rötlichgelb  ohne 
deutliche  Einschaltung  von  Urgelb  in  ein  Grünlichgelb  über,  an  der  anderen 
Stelle  ein  Grünlichblau  ebenfalls  scheinbar  unmittelbar  in  ein  Rötlichblau. 
So  kommt  es,  daß  das  lichtschwache  Spektrum  in  drei  beiläufig  gleichlange 
Strecken  zerfällt,  nämlich  in  eine  vorwiegend  grünliche  Mittelstrecke,  eine 
violette  und  eine  vorwiegend  rötliche  Strecke.  ^Das  lichtschwache  pris- 
matische Spektrum  verhält  sich  ganz  ähnlich,  nur  daß  hier  wegen  der  mit 
abnehmender  Wellenlänge  wachsenden  Dispersion  die  vorwiegend  rötliche 
Strecke  nur  etwa  halb  so  lang,  die  violette  Strecke  aber  etwa  doppelt  so 
lang  ist  als  die  grünliche  Mittelstrecke. 

Das  mit  der  Lichtstärke  des  Spektrums  wachsende  Hervortreten  der 
Gilbe  oder  Bläue  aller  Zwischenfarben  hat  zur  Folge,  daß  dabei  ein  immer 
größerer  Teil  der  violetten  Strecke  sich  auffallend  bläut,  daß  ferner  die  grün- 
haltigen  Fvarben  der  Mittelstrecke  und  die  rothaltigen  Farben  der  lang- 
welligen Endstrecke  immer   gelblicher  werden,   um  so  mehr,  je  näher  sie 


278  Lehre  vom  Lichtsinn. 

der  urgelben  Stelle  sind.  So  wird  auf  der  einen  Seite  das  eigentliche 
Violett  immer  mehr  an  das  eine,  das  eigentliche  spektrale  Rot  an  das  andere 
Ende  des  Spektrums  gedrängt.  Zugleich  verlängert  sich  mit  wachsender, 
ein  gewisses  Mittelmaß  nicht  überschreitender  Lichtstärke  das  Spektrum 
beiderseits,  und  zwar  zunächst  nur  wenig  an  seinem  kurzwelligen,  viel 
bedeutender  an  seinem  langwelligen  Ende.  Hier  verwandelt  sich  der  vorher 
stark  mit  Schwarz  verhüllt  gewesene  Endteil  in  Orangerot,  und  neues  Spek- 
tralrot taucht  aus  dem  früheren  Dunkel  auf,  während  sich  am  anderen 
Ende  eine  geringe  Verlängerung  des  Violettes  zeigt. 

Fast  gar  keinen  Aufschluß  erhält  man  bei  den  eben  beschriebenen 
Beobachtungen  am  Gitterspektrum  über  die  von  der  Lichtstärke  abhängigen 
Farbenänderungen  der  kleinen  Strecke,  welche  zwischen  der  urblau  und 
urgrün  erscheinenden  Stelle  liegt.  Während  die  von  der  urblauen  Stelle 
ausgehende  Bläue  sich  mit  wachsender  Lichtstärke  immer  deutlicher  nach 
dem  kurzwelligen  Ende  hin  ausbreitet,  läßt  sich  ihre  Ausbreitung  in  der 
anderen  Richtung  auch  bei  indirekter  Betrachtung  des  Spektrums  nicht 
genauer  verfolgen.  Dies  hat  seinen  Grund  darin,  daß  der  Wellenlänge- 
unterschied zwischen  der  deutlich  urblau  und  der  bereits  deutlich  grün 
erscheinenden  Stelle  ein  verhältnismäßig  sehr  kleiner  ist.  Die  innerhalb 
dieser  Strecke  zu  erwartenden  ganz  dicht  zusammengedrängten  blau-grünen 
Zwischenfarben  entziehen  sich  der  Beobachtung  um  so  mehr,  als  die  durch 
absichtliche  und  unabsichtliche  Verlagerung  des  Blickpunktes  bedingten 
Wirkungen  des  chromatischen  Kontrastes  schon  an  sich  fortwährende 
Änderungen  der  Farbe  einer  beobachteten  Stelle  des  Spektrums  mit  sich 
bringen.  Nicht  ganz  so  ungünstig  ist  die  Sachlage  in  einem  prismatischen 
Spektrum  von  gleicher  scheinbarer  Länge,  weil  hier  die  fragliche  Strecke 
im  Verhältnis  zur  Länge  des  Spektrums  größer,  jedoch  immer  noch  zu 
klein  ist,  um  eine  genaue  Unterscheidung  der  fraglichen  Farbentöne  zu 
gestatten. 

Steigert  man  die  Lichtstärke  über  das  gewöhnliche  Mittelmaß  hinaus, 
so  nimmt  die  Vergilbung  des  langwelligen  Teiles  bis  in  die  Nähe  des  dem 
Urgrün  entsprechenden  Kardinalpunktes  noch  zu,  und  bei  einer  gewissen, 
fast  schon  blendend  wirkenden  Lichtstärke  scheint  das  Spektrum  wieder 
aus  drei  ungefähr  gleichlangen  Abschnitten  zu  bestehen,  einem  orange- 
farbenen, einem  schwach  grünlich-gelben  und  einem  weiß-blauen,  und  nur 
an  den  Enden  des  Spektrums  sieht  man  einerseits  noch  etwas  spektrales 
Rot,  anderseits  etwas  Violett.  Noch  größere  Lichtstärken  wirken  blendend 
und  gestatten  keine  sichere  Beobachtung. 

Selbstverständhch  läßt  sich  sowohl  das  prismatische  als  auch  das 
Gitterspektrum  durch  physikalische  Hilfsmittel  beliebig  vergrößern,  doch 
galt  es  zunächst,  auf  die  Besonderheiten  relativ  kurzer  und  überdies  mit 
einfachen  Mitteln  herzustellender  Spektren  hinzuweisen,  welche  in  mancher 


frHerstellung  und  Beobachtung  monochromatisch  beleuchteter  Felder.    279 

Beziehung    bessere  Aufschlüsse    geben,    als   die    in   großen  Spektroskopen 
erzeugten  1). 

§  62.  Herstellung  und  Beobachtung  monochromatisch  be- 
leuchteter Felder.  Der  Farbenton  der  eben  betrachteten  Stelle  des 
Spektrums  wird  durch  die  gleichzeitig  daneben  erscheinenden  Farben  und 
auch  dadurch  beeinflußt,  daß  unmittelbar  vorher  eine  andere  Stelle  des 
Spektrums  betrachtet  wurde.  Diese  Wirkungen  des  später  ausführlich  zu 
besprechenden  simiultanen  und  sukzessiven  Buntfarbenkontrastes  sind  aus- 
geschlossen, wenn  man  sich  die  einzelnen  Teile  des  Spektrums  gesondert 
zur  Anschauung  bringt. 

Im  Okularrohr  der  zur  Erzeugung  eines  prismatischen  Spektrums 
dienenden  Spektralapparate  lassen  sich  an  der  Stelle,  wo  das  Luftbild  des 
Spektrums  liegt,  zwei  von  außen  verschiebbare  Blenden  anbringen,  mit 
denen  man  von  beiden  Seiten  her  das  Spektrum  so  verdecken  kann,  daß 
nur  ein  nicht  allzu  schmaler,  durch  die  Okularlinse  vergrößerter  Streifen 
sichtbar  bleibt.  Viel  zweckmäßiger  ist  es  nach  dem  Vorgange  Maxwells 
das  Okularrohr  des  Fernrohrs  mit  einem  kurzen  verschiebbaren  Rohre 
ohne  Linse  zu  vertauschen,  das  an  seinem  äußeren  Ende  durch  einen 
Spaltapparat  verschlossen  und  so  eingestellt  ist,  daß  der  schmale  Spalt  in 
die  Ebene  des  spektralen  Luftbildes  zu  liegen  kommt.  Durch  Drehung  des 
Kollimators  kann  man  jeden  beliebigen  Teil  des  Spektrums  in  den  Spalt 
treten  lassen.  Bringt  man  das  Auge  dicht  an  den  Spalt,  so  sieht  man 
einen  Teil   der  dem  Auge  zugewendeten  Prismenfläche  gleichmäßig  in  der 


i)  Für  den  Physiker  sind  manche  an  kurzen  Spektren  anzustellende  und 
für  den  Physiologen  oder  Arzt  wichtige  Beobachtungen  meist  bedeutungslos  und 
begegnen  deshalb  leicht  einer  gewissen  Geringschätzung.  So  erwähnt  H.  Kayser 
in  seinem  Handbuch  der  Spektroskopie  L  Bd.  S.  491,  4  900,  eine  von  mir  zum  Nach- 
weis der  Blutfarbstoffe  empfohlene  einfache  spektroskopische  Vorrichtung  in  einer 
Weise,  die  sofort  erkennen  läßt,  daß  ihm  als  reinem  Physiker  der  eigentliche  Sinn 
dieser  Vorrichtung  ganz  entgangen  ist.  Dieselbe  besteht  lediglich  aus  einer  innen 
geschwärzten  Röhre,  an  deren  einem  Ende  sich  ein  Spalt,  am  anderen  Ende  ein 
kleines,  passend  gestelltes  gleichseitiges  Prisma, befindet,  durch  welches  das  ihm 
ganz  nahe  gebrachte  Auge  in  passender  Richtung  zu  blicken  hat,  um  das  äußerst 
kurze,  dafür  aber  sehr  lichtstarke  Spektrum  zu  sehen.  Ist  das  Licht  durch  eine 
vor  dem  Spalte  befindliche  schwache  Lösung  eines  Blutfarbstoffes  gegangen,  so 
erscheinen  die  charakteristischen  Absorptionsbänder  desselben  im  Spektrum  als 
feine  schwarze  oder  graue  Striche.  Man  kann  auf  diese  Weise  viel  geringere 
Spuren  des  gelösten  Farbstoffes  erkennen,  als  mit  Hilfe  der  gewöhnlichen  Spektral- 
apparate. Die  Empfindlichkeit  des  Apparates  übertrifft  auch  noch  die  kleinen 
seitdem  in  den  Handel  gebrachten  Spektroskope  mit  gerader  Durchsicht  und  kurzem 
Spektrum.  Schon  die  den  Ärzten  geläufige  Tatsache,  daß  das  Maximum  der  Seh- 
schärfe an  zweckmäßige  Beleuchtung  der  Sehprobe  gebunden  ist,  würde  auch 
ohne  Kenntnis  der  hier  maßgebenden  Gesetze  des  Helligkeitskontrastes  verständ- 
lich machen,  warum  für  den  besonderen  Zweck  der  kleine  Apparat  dem  größeren 
Spektralapparat  bedeutend  überlegen  ist. 


230  Lehre  vom  Lichtsinn. 

eben   eingestelllen  Farbe  leuchten   und  hat  den  Vorteil,  letztere  auf  einer 
größeren  Fläche  zu  sehen. 

Befindet  sich  dicht  vor  dem  vertikalen  Spalt  ein  horizontaler,  dessen 
beide  Schneiden  symmetrisch  zum  Mittelpunkte  des  vertikalen  ausgiebig 
verschiebbar  sind,  so  kann  man  bald  die  ganze,  bald  nur  einen  beliebigen 
Teil  der  durch  den  Vertikalspalt  ^tommenden  Lichtmenge  ins  Auge  ge- 
langen lassen  und  auf  diese  Weise  innerhalb  gewisser  Grenzen  die  Ab- 
hängigkeit des  Farbentones   von   der  Intensität   der  Strahlung   beobachten. 

Immerhin  läßt  sich  auf  diese  Weise  nur  ein  kleines,  von  den  Dimen- 
sionen des  Prismas  abhängiges  Farbenfeld  erzielen;  doch  kann  man  letzteres 
bedeutend  vergrößern,  wenn  man  zwischen  Spalt  und  Auge  ein  kurzes,^ 
für  kleine  Entfernungen  berechnetes  bildumkehrendes  Fernrohr  anbringt^ 
dessen  Objektivlinse  dicht  am  Spalte  liegt.  Man  sieht  dann  durch  die 
Okularlinse  die  Öffnung  einer  in  der  Brennweite  der  Linse  befindlichen 
Irisblende  im  jeweils  eingestellten  Farbentone  leuchten  und  kann  mit 
Hilfe  dieser  Blende  den  sichtbar  bleibenden  Teil  des  Feldes  beliebig  ein- 
engen. 

Leider  sind  alle  derartigen  Vergrößerungen  des  monochromatischen 
Feldes,  so  zweckmäßig  sie  in  vielen  Beziehungen  sind,  nur  für  die  lang- 
welligen Strahlungen  verwendbar;  denn  die  über  die  Strahlen  mittlerer  Brech- 
barkeit hinausliegenden  kurzwelligen  Strahlungen  erfordern,  besonders  bei 
künstlicher  Lichtquelle,  viel  zu  große  Breiten  des  Kollimatorspaltes,  wenn 
das  Farbenfeld  die  für  das  Auge  nötige  Helligkeit  haben  soll.  Je  breiter 
aber  der  Spalt,  desto  weniger  kann  von  eigentlich  monochromatischer  Be- 
leuchtung des  Farbenfeldes  die  Rede  sein. 

Denn  was  wir  in  der  physiologischen  Optik  eine  einfache  Strahlung 
zu  nennen  pflegen,  ist  keineswegs  eine  Strahlung  von  nur  einer  Schwin- 
gungsfrequenz, vielmehr  ein  Gemisch  von  Strahlungen  verschiedener  Schwin- 
gungszahl, um  so  mehr,  je  breiter  der  Kollimatorspalt  des  Spektroskopes 
ist.  Die  unzureichende  Intensität  der  zur  Verfügung  stehenden  Lichtquellen 
zwingt  uns  bei  Benutzung  kurzwelliger  Strahlungen  dem  Spalte  eine  ver- 
hältnismäßig große  Breite  zu  geben. 

Da  der  Farbenton  sich  mit  der  Schwingungsfrequenz  nicht  sprungweise^ 
sondern  stetig,  wenn  auch  in  verschiedenen  Spektralbezirken  mit  verschie- 
dener Geschwindigkeit  ändert,  so  läßt  sich  wenigstens  für  langwellige  Strah- 
lungen innerhalb  gewisser  enger  Grenzen  der  Spaltbreite  der  von  dem 
durchgelassenen  Strahlgemisch  erzeugte  Farbenton  demjenigen  Tone  gleich- 
setzen, welchen  eine  durch  die  Mittellinie  des  Spaltes  eintretende  homogene 
Strahlung  erzeugen  würde,  falls  ihre  Energie  der  Gesamtenergie  des  Strahl- 
gemisches gleich  wäre.  Da  nur  Spalte  benutzt  werden  dürfen,  deren 
Breite  durch  symmetrische  Verschiebung  ihrer  beiden  Schneiden  geändert 
wird,  so  ist  diese  sogenannte  mittle  Wellenlänge  leicht  bestimmbar. 


§  63.    Von  den  optischen  Valenzen  der  spektralen  Strahlungen.  281 

Das  in  unseren  Gegenden  selten  zur  Verfügung  stehende  direkte  Sonnen- 
licht ist  nur  zur  Herstellung  eines  sogenannten  objektiven  Spektrums  ver- 
wendbar. Die  Erzeugung  eines  solchen  mittels  künstlicher  Lichtquellen  ist 
umständlich  .und  zu  physiologisch-optischen  Zwecken  nur  ausnahmsweise 
erforderlich. 

§  63.  Von  den  optischen  Valenzen  der  spektralen  Strah- 
lungen. Das  Vermögen  einer  Strahlung,  im  somatischen  Sehfelde  be- 
stimmte Veränderungen  zu  bewirken,  mit  denen  bestimmte  Änderungen  im 
psychischen  Sehfelde  gesetzmäßig  verbunden  sind,  nenne  ich  das  Reiz- 
vermügen  oder  die  optische  Valenz  der  Strahlung.  Art  und  Größe 
solcher  Wirkung  hängt  einerseits  von  der  Art  und  Stärke  der  Strahlung, 
andererseits  von  der  Art  und  dem  jeweiligen  Zustande  des  bestrahlten  Seh- 
feldbezirkes ab.  Die  einzelnen  Flächenelemente,  in  die  man  sich  das  ganze 
somatische  Sehfeld  zerlegt  denken  kann,  sind  nicht  sämtlich  gleicher  Art, 
und  der  Zustand  oder,  wie  ich  es  nannte,  die  Stimmung  eines  und  des- 
selben Elementes  ist  keine  stetig  beharrende,  sondern  von  mehrfachen, 
ebenfalls  veränderlichen  Bedingungen  abhängig.  Eine  bestimmte  optische 
Valenz  läßt  sich  also  einer  Strahlung  nur  in  bezug  auf  ein  Sehfeld  dement 
von  bestimmter  Art  und  unter  Voraussetzung  eines  bestimmten  Zu- 
standes  des  Elementes  zuschreiben.  Als  solchen  Zustand  wählen  wir  für 
die  Untersuchung  der  bunten  Lichtwirkungen  wenigstens  zunächst  den  chro- 
matisch-neutralen i),  in  welchem  alle  Teile  des  somatischen  Sehfeldes 
sich  befinden,  wenn  das  Auge  so  lange  vor  jeder  buntwirkenden  Bestrah- 
lung geschützt  worden  ist,  bis  die  Nachwirkungen  vorhergegangener  bunt- 
wirkender Strahlungen  verschwunden  sind. 

Die  Bezeichnung  für  die  Art  einer  buntwirkenden  Valenz  oder,  kurz 
gesagt,  der  Buntvalenz  einer  Strahlung,  erfolgt  auf  Grund  der  Eigen- 
schaften der  Farbe,  welche  unter  dem  Einflüsse  der  Strahlung  an  der  be- 
troffenen Sehfeldstelle  entsteht.  Wenn  z.  B.  an  die  Stelle  des  nach  Her- 
stellung des  chromatisch-neutralen  Zustandes  sichtbar  gewesenen  tonfreien 
Eigengrau  unter  dem  Einfluß  der  Strahlung  eine  rote  Farbe  tritt,  so 
schreiben  wir  der  Strahlung  eine  Rotvalenz  zu,  bläut  sich  die  Stelle,  so 
hat  die  Strahlung  eine  Blauvalenz,  zeigt  sich  gleichzeitig  Röte  und  Bläue, 
so  hat  die  Strahlung  sowohl  eine  Blau-  als  eine  Rotvalenz.  Wir  benutzen 
also  die  Art  des  bunten  Bestandteiles  —  vgl.  §  14  —  der  erscheinenden 
Farbe  als  des  bewirkten  psychischen  Phänomenes  zur  Benennung  der 
buntwirkenden  Valenz  der  Strahlung.  Wie  wir  von  einem  roten,  gelben, 
grünen,    grauen   Bestandteil    einer    bunten   Farbe   sprechen,    so   auch   von 

1)  Der  chromatisch-neutrale  Zustand  der  Sehsubstanz  darf  nicht  mit  dem 
Zustande  ihrer  Mittelwertigkeit  verwechselt  werden.  Die  Sehsubstanz  kann  auf. 
jeder  Stufe  der  Wertigkeit  chromatisch-neutral  gestimmt  sein. 


282  Lehre  vom  Lichtsinn. 

ebensolchen  Bestandteilen  einer  bunt  wirkenden  Strahlungsvalenz.  Und  wie 
der  bunte  Bestandteil  einer  Farbe  sich  im  allgemeinen  wieder  als  aus  zwei 
urfarbigen  Teilen  bestehend  auffassen  läßt,  so  läßt  sich  auch  eine  bunt- 
wirkende Valenz  im  allgemeinen  in  zwei  urfarbig  wirkende .  Bestandteile 
oder  Urvalenzen  zerlegt  denken. 

Außer  der  buntwirkenden  müssen  wir  jeder  einfachen  Strahlung  auch 
eine  weißwirkende,  kurz  Weißvalenz,  zuschreiben,  weil  die  zunächst 
eigengraue  Sehfeldstelle  infolge  monochromatischer  Bestrahlung  nicht  nur 
bunt,  sondern  zugleich  auch  weißlicher  werden  kann.  Solange  es  sich  nur 
um  die  für  das  chromatisch-neutral  gestimmte  Auge  geltenden  Beziehungen 
handelt,  können  wir  von  den  weiß  wirken  den  Teilvalenzen  der  einfachen 
Strahlungen  vorerst  absehen. 

Es  liegt  im  Begriffe  der  optischen  Valenz,  daß  dieselbe  der  Intensität 
der  Strahlung  proportional  ist;  denn  unter  optischer  Valenz  eiper  Strah- 
lung ist  nicht  die  Art  und  Größe  ihrer  Wirkung  zu  verstehen,  welche,  wie 
gesagt,  je  nach  dem  Zustande  des  Sehorganes  verschieden  sein  kann,  son- 
dern nur  die  Art  und  Größe  des  Wirkungsvermögens,  welches  der 
Strahlung  bei  einem  ganz  bestimmten  Zustande  des  Sehorgans  eigen  ist. 
Die  Lichtempfmdung,  d.  h.  die  als  eine  Änderung  des  psychischen  Sehfeldes 
in  unser  Bewußtsein  tretende  Wirkung  der  Strahlung  ist  nicht  schon  in 
demselben  Augenblick  da,  in  welchem  die  letztere  auf  die  Netzhaut  wirkt, 
sondern  hat  eine  sog.  Entstehungszeit.  Der  infolge  einer  Änderung 
der  Netzhautbestrahlung  unter  Mitwirkung  der  Induktion  eintretende 
neue  Zustand  der  Sehsubstanz  bedarf,  wie  ich  schon  S.  167  bemerkte, 
einer  gewissen,  wenn  auch  kurzen  Zeit  zu  seiner  Herstellung.  Während 
dieser  Zeit  erfährt  der  höchst  labile  Zustand  der  lebendigen  Substanz  eine 
rasch  fortschreitende  Änderung  und  wird  trotz  gleichbleibender  Bestrah- 
lung von  Moment  zu  Moment  ein  anderer.  Erst  des  psychischen  End- 
ergebnisses dieser  Vorgänge  werden  wir  uns  gewöhnlich  bewußt.  Nur 
unter  besonderen  Umständen  und  bei'  gespannter  Aufmerksamkeit  ver- 
mögen wir  einzelne  Phasen  dieses  Geschehens  gleichsam  in  ihrem  Fluge 
zu  erhaschen,  wie  später  zu  erörtern  sein  wird. 

So  wenig  mit  der  Richtung  und  Größe  einer  Kraft,  welche  auf  ein 
Bewegliches  wirkt,  ohne  weiteres  auch  die  Bahn  und  Geschwindigkeit  der 
unter  der  fortwährenden  Wirkung  der  Kraft  erfolgenden  Bewegung  gegeben 
ist,  weil  für  letztere  mancherlei  andere  Bedingungen  mit  maßgebend  sind, 
so  wenig  ist  mit  dem  Verhältnis  zwischen  den  beiden  bunten  Urvalenzen 
einer  Strahlung  ohne  weiteres  auch  das  Verhältnis  gegeben,  welches  zwi- 
schen den  beiden  urfarbigen  Komponenten  der  von  der  Strahlung  erzeug- 
ten Empfindung  besteht. 

Wenn  sich  gezeigt  hätte,  daß  jede  einfache  Strahlung  bei  chromatisch- 
neutral  gestimmtem  Auge  nur  eine  und  also  ganz  bestimmte  bunte  Farbe 


§  63.    Von  den  optischen  Valenzen  der  spektralen  Strahlungen.  283 

zu  erzeugen  vermag,  so  hätte  dies  bewiesen,  daß  die  beiden  ur  färb  igen 
Komponenten  der  Farbe  zu  den  gleichnamigen  urfarbig  wirkenden  Valenzen 
der  Strahlung  und  folglich  auch  zur  Intensität  der  letzeren  proportional 
sind.  Wäre  dies  wirklich  der  Fall,  so  könnten  wir  jeder  einfachen  Strahlung 
ohne  weiteres  dasjenige  Grüßenverhältnis  ihrer  beiden  (physischen)  urfarbig 
wirkenden  Valenzen  zuschreiben,  welches  zwischen  den  beiden  (psychischen) 
urfarbigen  Bestandteilen  der  von  der  Strahlung  bewirkten  Farbe  besteht. 
Das  auf  der  oberen  Hälfte  der  Tafel  I,  S.  42  gegebene  Schema  eines  Farben- 
zirkels wäre  dann  zugleich  eine  übersichtliche  Darstellung  aller  Verhältnisse 
gewesen,  welche  zwischen  den  beiden  bunten  Urvalenzen  der  einfachen 
Strahlung  bestehen.  Wir  brauchten  nur  zu  jedem  Farbentone  des  Farben- 
zirkels die  Schwingungszahl  bzw.  Wellenlänge  der  einfachen  Strahlung  hin- 
zuzudenken, welche  diesen  Farbenton  erzeugen  würde.  Dächten  wir  uns 
ferner  diesen  Farbenzirkel  unter  Weglassung  der  im  Spektrum  fehlenden 
Farbentöne  geradlinig  gestreckt,  so  wäre  auch  für  jede  einfache  Strahlung 
das  Verhältnis  zwischen  ihren  beiden  urfarbig  wirkenden  Valenzen  an- 
schaulich gemacht. 

So  würde  es  sich,  wie  gesagt,  verhalten  haben,  wenn  für  das  neutral 
gestimmte  Auge  nur  die  Wellenlänge  jeder  einfachen  Strahlung  das  Be- 
stimmende für  den  von  ihr  erzeugten  Farbenton  wäre.  Doch  schon  bei 
Betrachtung  des  Gesamtspektrums  bemerkten  wir,  daß  "die  außerhalb  der 
•drei  Kardinalpunkte  liegenden,  zwischenfarbigen  Stellen  des  Spektrums  bei 
größeren  Intensitätsänderungen  ihren  Ton  sehr  merklich  änderten,  während 
dies  in  der  Gegend  eines  Kardinalpunktes  nicht  der  Fall  zu  sein  schien. 
Wenn  wir,  wie  im  vorigen  Paragraphen  beschrieben  wurde,  unter  Aus- 
schluß simultaner  und  sukzessiver  Kontrastwirkungen  die  Spektral  färben 
einzeln  auf  größeren  Feldern  erscheinen  lassen,  so  zeigt  sich  ebenfalls, 
daß  trotz  chromatisch-neutraler  Stimmung  des  Auges  rot-gelbe  und  gelb- 
grüne Farben  bei  größerer  Lichtstärke  gelber,  blau-rote  blauer  erscheinen 
als  bei  kleinerer  Lichtstärke,  während  eine  größere  Bläulichkeit  der  grün- 
blauen Farben  bei  größerer  Lichtstärke  zwar  bemerkbar,  aber  viel  weniger 
auffallend  ist.  Das  von  der  Strahlung  eines  Kardinalpunktes  erzeugte 
Gelb,  Grün  oder  Blau  aber  scheint  bei  größeren  Intensitätsänderungen  zwar 
seine  Freiheit,  nicht  aber  seinen  Ton  zu  ändern. 

Hiernach  gäbe  es  drei  einfache  Strahlungen,  welche  unabhängig  von 
ihrer  Intensität  den  bestimmten  Farbton  einer  Urfarbe  hervorrufen,  wenn 
sie  auf  das  chromatisch-neutral  gestimmte  Augen  wirken.  Die  Art  der 
bunten  Wirkung  dieser  Strahlungen  wäre  also  nur  an  ihre  Schwingungs- 
zahl oder  Wellenlänge  gebunden,  und  letztere  wäre  in  strengerem  Sinne  zu- 
gleich ein  Ausdruck  für  die  Art  der  bunten  Valenz  der  Strahlung. 

Anderes  gilt  von  den  Strahlungen,  durch  welche  eine  Zwischenfarbe, 
d.  h.   eine  Farbe  erzeugt  wird,   in   der  sich  zwei  urfarbige  Komponenten 


234  Lehre  vom  Lichtsinn. 

unterscheiden  lassen;  denn  das  Deutlichkeitsverhältnis  dieser  beiden  Bestand- 
teile ändert  sich  mit  der  Intensität  der  Strahlung.  So  kann  z.  B.,  wie  wir 
sahen,  an  derselben  Stelle  des  rot-gelben  Spektralabschnittes  bei  kleinen 
Intensitäten  der  rote  Bestandteil  der  Farbe  größer,  d.  h.  deutlicher  sein 
als  der  gelbe,  während  bei  größeren  Intensitäten  der  gelbe  Bestandteil 
überwiegt. 

Enthält  also  die  von  einer  einfachen  Strahlung  erzeugte  Farbe  zwei 
urfarbige  Bestandteile,  so  ergibt  sich  aus  der  Art  der  Farbe  zwar  die  Art 
der  beiden  entsprechenden  Teilvalenzen  der  Strahlung,  aber  über  das  Größen- 
verhältnis zwischen  diesen  Teilvalenzen  erhalten  wir  keinen  Aufschluß. 
Denn  der  vom  Deutlichkeitsverhältnis  ihrer  beiden  urfarbigen  Kompo- 
nenten bestimmten  Qualität  der  bunten  Farbe  entspricht  nicht  notwendig 
dasselbe  Größenverhältnis  zwischen  den  beiden  urfarbig  wirkenden  Teil- 
valenzen der  Strahlung. 

Als  den  Seh  feldbezirk,  in  welchem  wir  die  einfachen  Strahlungen  auf 
ihre  Buntvalenzen  untersuchen  wollen,  wählen  wir  im  allgemeinen  den 
fovealen  und  seine  nächste  Umgebung, .  kurz,  den  makularen  Bezirk,  weil 
hier  der  Farbensinn  am  vollkommensten  entwickelt  ist.  Die  morphologischen 
Verschiedenheiten  des  Sehepithels  innerhalb  dieses  Bezirkes  lassen  von  vorn- 
herein auch  funktionelle  Verschiedenheiten  innerhalb  desselben  erwarten,, 
denn  die  Verschiedenheiten  der  Sehfeldelemente  i)  können  eine  Ungleich- 
artigkeit  derselben  bedeuten.  Von  einer  bestimmten  Valenz  einer  Strah- 
lung läßt  sich  aber,  wie  oben  erörtert  wurde,  nur  in  bezug  auf  eine 
bestimmte  Art  der  Sehfeldelemente  sprechen.  In  der  Tat  besteht  eine  Un- 
gleichartigkeit  derselben,  wie  wir  später  sehen  werden,  auch  innerhalb 
des  makularen  Bezirkes,  jedoch  im  wesentlichen  nur  in  bezug  auf  die 
Weißvalenz  der  Strahlungen.  Betreffs  der  chromatischen  Funktion  aber 
läßt  sich  der  gesamte  Bezirk  als  gleichartig  nehmen,  weil  in  allen  Teilen 
desselben  bei  überall  gleicher  monochromatischer  Bestrahlung  auch  ein  und 
derselbe  Farbenton  erscheint,  und  etwaige  Verschiedenheiten  desselben  fast 
immer  unter  der  Schwelle  der  Wahrnehmung  bleiben.  Wir  dürfen  also 
den  einzelnen  einfachen  Strahlungen  in  bezug  auf  den  ganzen  Bezirk,  wenig- 
stens sehr  angenähert,  dieselbe  Buntvalenz  zuschreiben. 

§64.  Über  binäre  Strahlgemische.  Zwei  gleichzeitig  auf  dieselbe 
Netzhautstelle  fallende  Strahlungen  erzeugen,  wenn  sie  einem  und  demselben 
oder  zwei  benachbarten  Hauptabschnitten  (vgl.  S.  274)  des  Spektrums  ent- 
nommen sind,  durch  ihr  Zusammenwirken  einen  Farbenton,  welcher  auch 
durch  eine  einfache  Strahlung  erzeugt  werden  kann.    Die  Wellenlänge  der 

^)  Der  auf  S.  21  definierte  Begriff  des  Sehfeldelementes  deckt  sich  nicljt 
mit  dem  Begriffe  des  histologischen  Elementes  im  Sehepithel. 


§B'4.   über  binäre  Strahlgemische.  285 

letzteren  liegt  zwischen  den  Wellenlängen  der  beiden  zur  Mischung  ver- 
wendeten Strahlungen  und  zwar  je  nach  deren  Mischungsverhältnis  bald 
näher  der  einen,  bald  näher  der  anderen  Wellenlänge.  Solche  aus  zwei 
einfachen  Strahlungen  zusammengesetzte  Strahlungen  lassen  sich  als  zwei- 
fache oder  als  binäre  Strahlgemische  bezeichnen.  Wie  man  dieselben 
herzustellen  vermag,  wird  später  auseinandergesetzt.  Es  gilt  dabei,  den  Gang 
der  beiden  Strahlungen  so  zu  leiten,  daß  jede  von  beiden  ein  Außenfeld, 
d.  i.  das  Mischfeld,  ganz  gleichmäßig  erleuchtet,  und  daher  an  jedem 
Punkte  des  Feldes  das  Mischungsverhältnis  das  gleiche  ist. 

Zwar  lehrt  schon  die  bloße  Betrachtung  des  Mischfeldes,  daß  dessen^ 
Farbenton  im  Spektrum  zwischen  den  Farbentünen  der  beiden  Einzel- 
strahlungen liegt,  doch  ist  zur  genaueren  Feststellung  erforderlich,  neben 
dem  Gemische  zugleich  die  einfache  Strahlung  gleichen  Farben tones  sicht- 
bar zu  machen.  Zu  diesem  Zwecke  beleuchtet  man  nur  die  eine  Hälfte 
des  durch  die  Irisblende  passend  eingeengten  Gesichtsfeldes  des  S.  280  er- 
wähnten kleinen  Fernrohres  mit  dem  Strahlgemisch,  die  andere  mit  der 
zunächst  nach  Gutdünken  gewählten  einfachen  Strahlung  und  regelt  die 
Intensität  der  letzteren  oder  die  des  Gemisches  so,  daß  beide  Hälften  bei- 
läufig gleichhell  erscheinen.  Dabei  wird,  wenn  man  nicht  zufällig  schon 
die  richtige  einfache  Strahlung  gewählt  hatte,  der  Farbenton  beider  Hälften 
verschieden  sein.  Man  ändert  nun  in  der,  dieser  Verschiedenheit  ent- 
sprechenden Richtung  die  Wellenlänge  der  einfachen  Strahlung,  wonach 
sich  jedoch  wieder  ein  jetzt  kleinerer  Helligkeitsunterschied  zeigen  kann. 
Dieser  wird  abermals  beseitigt,  ev.  die  Wellenlänge  der  einfachen  Strahlung 
nochmals  berichtigt  usw.  Aber  nur  in  besonderen,  im  folgenden  näher  zu 
besprechenden  Fällen  gelingt  es,  die  Farben  beider  Hälften  einander  so  weit 
gleich  zu  machen,  daß  sie  weder  im  Farbentone  noch  im  Freiheitsgrade 
noch  in  der  Helligkeit  eine  merkliche  Verschiedenheit  zeigen,  und  auch 
dann  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  bei  gesteigerter  Unterschiedsempfindlich- 
keit  eine  Ungleichheit  doch  noch  bemerkbar  sein  würde.  Insbesondere  hat 
man  sich  zu  hüten,  das  kleine  Feld  länger  als  2 — 3  Sekunden  zu  fixieren, 
weil  dann  ein  Unterschied,  der  hei  gehöriger  Aufmerksamkeit  und  Übung 
beim  ersten  Blick  noch  ganz  leicht  bemerkbar  gewesen  wäre,  infolge  ört- 
licher Anpassung  der  betroffenen  Sehfeldstellen  schon  nach  wenigen  Sekun- 
den völlig  verschwunden  sein  kann. 

Die  Gleichheit  des  Farbentones,  auf  die  es  uns  hier  allein  ankommt, 
ist  sehr  schwer  festzustellen,  wenn  die  beiden  Farben  in  anderer  Beziehung 
verschieden  sind,  sei  es,  daß  die  eine  heller  oder  daß  sie  minder  frei,  d.  h. 
merklicher  mit  Weiß,  Grau  oder  Schwarz  verhüllt  erscheint  (vgl.  S.  52). 
Solche  bei  gleichem  Farbentone  merkliche  Heliigkeits-  und  Verhüllungsver- 
schiedenheiten lassen  sich  selbst  bei  sorgfältigstem  Verfahren  besonders 
dann  nicht  ausschließen,  wenn  die  beiden  Strahlungen  des  Gemisches  nicht 


286  Lehre  vom  Lichtsinn. 

demselben,  sondern  zwei  benachbarten  Hauptabschnitten  des  Spektrums  an- 
gehören, um  so  weniger,  je  größer  der  Unterschied  ihrer  Wellenlängen  ist. 
Für  die  Fälle  nun,  in  welchen  es  möglich  wird,  zwischen  dem  binären 
Gemisch  und  der  einfachen  Strahlung  eine  wenigstens  scheinbar  tadellose 
Gleichheit  der  Farbe  herzustellen,  d.  h.  eine  sogenannte  Farbengleichung 
und  nicht  eine  bloße  Gleichheit  des  Farbentones  zu  erzielen,  gilt  die  weitere 
sehr  wichtige  Regel,  daß,  wenn  man  bei  gleichbleibendem  Adaptationszustand 
des  Auges  die  Intensität  sämtlicher  drei  zur  Herstellung  der  Farbengleichung 
benutzten  Strahlungen  in  demselben  Verhältnis  steigert  oder  mindert,  beide 
Hälften  des  Farbenfeldes  ihre  Helligkeit,  ihre  Freiheit  und  ev.  auch  ihren 
Farbenton  in  ganz  gleicher  Weise  ändern,  so  daß  immer  eine  Farbengleichung 
fortbesteht.  Ebenso  wie  die  einfache  Strahlung  bei  Änderung  ihrer  Intensi- 
tät für  unser  Auge  ihren  Farbenton  ändern  kann,  gilt  dies  auch  für  den 
Ton  eines  binären  Strahlgemisches. 

Man  erreicht  die  gemeinsame  Intensitätsänderung  aller  drei  Strahlungen 
an  dem  auf  S.  280  beschriebenen  Mischapparate  in  der  einfachsten  Weise 
dadurch,  daß  man  den  »Querspalt«  weiter  oder  enger  macht  oder  auch  in 
minder  bequemer  Weise  mit  Hilfe  eines  in  der  Nähe  des  Querspalles  an- 
gebrachten Episkotisters. 

Daß  ein  Gemisch  aus  zwei  demselben  Hauptabschnitte  des  Spektrums 
entnommenen  Strahlungen  denselben  Farbenton  zeigen  kann,  wie  eine  ein- 
fache  im   Spektrum  zwischen   diesen  Strahlungen  gelegene,   und  daß   bei 
gemeinsamen  Intensitätsänderungen    aller    drei  Strahlungen    die  Gleichung 
zwischen  der  Farbe  des  Gemisches  und  der  einfachen  Strahlung  fortbesteht, 
erklärt  sich  einfach  durch  die  Annahme,  daß  jede  der  beiden  chroma- 
tischen Urvalenzen  des  Gemisches  die  Summe  der  gleichnamigen 
Urvalenzen  der  beiden  einfachen  Strahlungen  des  Gemisches  ist. 
Dann  versteht  sich  ohne  weiteres,  daß  die  chromatische  Wirkung  auf  die 
Sehsubstanz   seitens  des  Strahlgemisches  dieselbe  ist,   wie  seitens  der  ein- 
fachen Strahlung.    Ist  dann  auch  die  Summe  der  Weißvalenzen  der  beiden 
Strahlungen  des  Gemisches  nicht  merklich  verschieden  von  der  Weißvalenz 
der  einfachen  Strahlung,  so  versteht  sich  ferner,  daß  die  Wirkung  auf  die 
Sehsubstanz  nicht  bloß  in  chromatischer,  sondern  in  jeder  Beziehung  beider- 
seits gleich  oder  wenigstens  so  angenähert  gleich  ist,   daß  der  etwa  noch 
bestehende  Unterschied  unter  der  Schwelle   der  Merklichkeit  bleibt.     Eine 
solche  für  das  helladaptierte  Auge  hergestellte  Farbengleichung  kann,  weil 
sie  eigentlich  nur  eine  Farbentongleichung  ist,  zu  einer  Ungleichung  werden, 
wenn  an  die  Stelle  des  bestandenen  Adaptationszustandes  ein  anderer  tritt; 
denn  ihr  Fortbestehen  würde  zur  Voraussetzung  haben,  daß  die  Empfindlich- 
keit des  Auges  gegenüber  den  Weißvalenzen  aller  drei  benutzten  Strahlungen 
sich  mit  dem  Grade  der  Adaptation   in  demselben  Verhältnis  ändert,   wie 
gegenüber  den   chromatischen  Valenzen.     Dies  ist  jedoch,   wie  später  zu 


§  64.   Über  binäre  Strahlgemische.  287 

erörtern    sein  wird,   nicht   der  Fall.     Zunächst  beschäftigen   uns  hier  nur 
die  chromatischen  Valenzen. 

Über  die  Intensitäten,  d.  h.  die  Energiewerte  der  drei  bei  Herstellung 
solcher  Farbengleichungen  verwendeten  Strahlungen  sagt  uns  die  Gleichung 
nichts  aus.  Wir  erfahren  also  auch  nichts  darüber,  wie  sich  der  Energie- 
wert der  einfachen  Strahlung  zu  dem  des  ihr  gleichscheinenden  Gemisches 
verhält.  Nur  über  die  Verhältnisse  der  chromatischen  Valenzen  gibt  uns 
die  Gleichung  gewisse  Aufschlüsse.  Es  wäre  freilich  sowohl  in  theoretischer 
als  in  praktischer  Hinsicht  von  größer  Wichtigkeit,  wenn  wir  jede  der  drei 
zur  Gleichung  benutzten  Strahlungen  nicht  nur  durch  ihre  Wellenlänge, 
sondern  auch  durch  ihren  Energiewert  kennzeichnen  könnten.  Solange  uns 
aber  bei  unseren  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  zwischen  den  physi- 
kalischen Eigenschaften  des  Lichtes  und  seinen  psychischen  Wirkungen 
keine  zureichend  bequeme  und  sichere  Methode  zur  Messung  des  Energie- 
wertes  einer  Strahlung  zur  Verfügung  steht,  begnügen  wir  uns,  die  einzelne 
Strahlung  außer  durch  ihre  Wellenlänge  durch  die  Spaltbreite  zu  kenn- 
zeichnen, bei  welcher  die  Strahlung  verwendet  wird.  Dabei  ist  immer, 
vorausgesetzt,  daß  die  Lichtquelle,  durch  deren  spektrale  Auflösung  wir  die 
einzelnen  Strahlungen  gewinnen,  in  quantitativer  uud  qualitativer  Beziehung 
bei  jedem  Einzelversuche  wieder  die  gleiche  ist.  , 

Mischung  zweier  dem  rot-gelben  Spektralabschnitt  ent- 
nommenen Strahlungen.  Um  die  Ergebnisse  der  Mischung  zweier  dem- 
selben Hauptabschnitte  angehöriger  Strahlungen  an  einem  Beispiele  zu  er- 
läutern, wollen  wir  eine  Strahlung,  deren  mittlere  Wellenlänge  gleich  der 
Wellenlänge  der  Linie  C  (656  n(,i)  ist,  mit  einer  Strahlung  mischen, 
deren  Wellenlänge  gleich  derjenigen  der  Natriumhnie  D  (589  {.i}.i)  ist,  die  ich 
kurz  als  C-Strahlung  und  als  D-Strahlung  bezeichnen  will.  Da  beide  dem 
rot-gelben  Abschnitte  des  Spektrums  angehören,  so  hat  jede  von  beiden 
eine  rote  und  eine  gelbe  Urvalenz.  Die  einfache  Strahlung,  welche  bei 
einem  bestimmten  Intensitätsverhältnis  der  beiden  Strahlungen  des  Gemisches 
denselben  Farbenton  wie  dieses  zeigt,  habe  die  Wellenlänge  600  ^/^f  und 
diejenige  Intensität,  bei  welcher  beide  Feldhälften  einander  gleich  erscheinen. 
Aus  dieser  Gleichung  folgt,  daß  die  Summe  der  beiden  Gelbvalenzen  der 
Einzelstrahlungen  gleich  ist  der  Gelbvalenz  der  einfachen  Strahlung  von 
der  Wellenlänge  600  ^if^  und  ebenso  die  Summe  der  beiden  Rotvalenzen 
der  gemischten  Strahlungen  gleich  der  Rotvalenz  der  einfachen.  Angenommen, 
diese  Gleichung  wäre  hergestellt  und  man  vertauscht  nun  die  einfache 
Strahlung  mit  einer  solchen  von  größerer  Wellenlänge,  so  erscheint  dann 
das  entsprechende  Halbfeld  rötlicher  als  das  vom  Gemische  bestrahlte. 
Jetzt  genügt  eine  bloße  Intensitätsminderung  der  D-Strahlung  bei  ganz 
unveränderter  C-Strahlung,  um  dem  Strahlgemisch  denselben  Farbenton  zu 
geben,  den  die  einfache  Strahlung  zeigt,  und  bei  passend  gewählter  Inten- 


288 


Lehre  vom  Lichtsinn. 


sität  der  letzteren  besteht  wieder  eine  gute  Gleichung.  Ebenso  läßt  sich 
für  alle  übrigen  zwischen  600  uu  und  656  uu  liegenden  Strahlungen  durch 
alleinige  Verminderung  der  D-Strahlung  eine  gute  Gleichung  zwischen  dem 
Strahlgemisch  und  dem  einfachen  Lichte  herstellen.  Umgekehrt  kann  man 
durch  alleinige  Minderung  der  C-Strahlung  bei  ungeänderter  D-Strahlung 
dem  Strahlgemische  dieselbe  Farbe  geben,  in  welcher  irgend  eine  zwischen 
den  Wellenlängen  600  und  589  ^«a  liegende  Strahlung  bei  passender  In- 
tensität erscheint  1). 

Jede  von  allen  auf  diese  Weise  hergestellten  Gleichungen  sagt  in  betreff 
der  chromatischen  Valenzen  zwar  aus.  daß  die  Summe  der  Rotvalenzwerte 
der  beiden  gemischten  Strahlungen  gleichgroß  ist  wie  der  Rotvalenzwert 
der  einfachen  Strahlung  und  ebenso,  daß  die  Summe  der  Gelbvalenzwerte 
der  gemischten  Strahlungen  gleich  dem  Gelbvalenzwerte  der  einfachen; 
sie  sagt  jedoch  nichts  aus  über  die  Einzelwerte  der  Rot-  und  der  Gelb- 
valenzen in  den  drei  Strahlungen.  Die  Gleichung  lehrt  nur,  daß  die  beiden 
Rotvalenzwerte  .der  Strahlungen  des  Gemisches  in  bezug  auf  den  Rot- 
valenzwert der  einfachen  Strahlung  sozusagen  komplementär  sind,  d.h. 
daß  sie  sich  untereinander  zu  dem  Rotvalenzwerte  der  einfachen  Strahlung 
ergänzen,  und  daß  von  den  Gelbvalenzwerten  dasselbe  gilt. 

Mischung  zweier  einfacher  Strahlungen,  welche  zwei  ver- 
schiedenen, aber  aneinandergrenzenden  Hauptabschnitten  des 
Spektrums  entnommen  sind.  Für  die  Fälle,  in  denen  die  beiden  Strah- 
lungen des  Gemisches  zwei  verschiedenen  aneinandergrenzenden  Haupt- 
abschnitten angehören  und  also  im  Spektrum  eine  urfarbig  wirkende  Strah- 
lung zwischen  sich  haben,  mögen  als  erstes  Beispiel  die  Gemische  dienen, 
die  sich  aus  der  Strahlung  von  der  mittlen  Wellenlänge  671  ilijh,  das  ist 
die  Wellenlänge  der  roten  Lithiumhnie,  und  aus  einer  Strahlung  von  der 
mittlen  Wellenlänge  535  ^<^,  das  ist  die  Wellenlänge  der  gelbgrünen  Thal- 
liumlinie, herstellen  lassen.  Letztere  Strahlung  möge  kurz  als  TZ-Strahlung, 
«rstere  als  L*- Strahlung  bezeichnet  werden. 

Aus  diesen  beiden  Strahlurxgen  läßt  sich  ein  Gemisch  bilden,  das  dem 
helladaptierten  Auge  weder  grünhch  noch  rötlich,  sondern  rein  gelb  er- 
scheint. Lassen  wir  dann  die  Intensität  der  Li-Strahlung  unverändert, 
mindern  aber  die  Intensität  der  ^/-Strahlung,  so  wird  die  Farbe  des  Ge- 
misches rötlich  und  geht  mit  zunehmender  Minderung  der  TZ-Strahlung 
durch  Orange  hindurch   schließlich  in  Rot  über.     Lassen  wir  dagegen  die 

4)  Diese  Art  von  Änderung  des  Mischungsverhältnisses  zweier  Strahlungen 
ist  an  dem  von  Helmholtz  angegebenen  Apparate  für  spektrale  Farbenmischung 
nicht  möglich,  weil  bei  diesem  beide  Strahlungen  des  Gemisches  aus  demselben 
Kollimator  stammen,  der  nur  einen  Spalt  besitzt,  durch  dessen  Verbreiterung  die 
Intensität  beider  Strahlungen  zugleich  gesteigert  wird.  Es  läßt  sich  also  zwar 
jedes  beliebige  Mischungsverhältnis  zweier  Strahlungen  herstellen,  nicht  aber  die 
eine  unabhängig  von  der  anderen  verstärken  oder  schwächen. 


B^^^^^^^^^^^^^^^^4.    über  binäre  Strahlgemische.  ^^^^^^^^^^ 

T^Z-Strahlung  unverändert^  mindern  aber  mehr  und  mehr  die  Li-Strahlung, 
so  wird  das  Gelb  zunehmend  grünlicher.  Allen  auf  die  eine  oder  andere 
Weise  erzeugten  Farben  ist  also  eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Gilbe 
gemeinsam,  während  ihr  zweiter  bunter  Bestandteil  sich  in  einem  Teil  der 
Gemische  durch  eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Röte,  im  anderen  durch 
eine  mehr  oder  weniger  -deutliche  Grüne  kennzeichnet. 

Während  den  Farben  sämtlicher  Gemische,  deren  beide  Strahlungen 
aus  demselben  rot-gelben  Abschnitte  des  Spektrums  entnommen  waren, 
eine  mehr  oder  weniger  deutliche  Röte  ebenso  gemeinsam  war,  wie  eine 
mehr  oder  weniger  deutliche  Gilbe,  zeigen  also  die  Farben  der  aus  der 
Li'  und  der  TZ-Strahlung  erzeugten  Gemische  zwar  sämtlich  eine  gewisse 
Gilbe,  ihr  zweiter  bunter  Bestandteil  kann  aber  je  nach  dem'  Überwiegen 
der  einen  oder  der  anderen  Strahlung  ein  ganz  verschiedener  sein.  Zur 
Beobachtung  des  Gesagien  genügt  auch  hier  schon  die  alleinige  Betrachtung 
des  Mischfeldes  bei  beliebiger  Größe  desselben,  doch  ist  zur  genaueren 
Untersuchung  wieder  erforderlich,  neben  jedem  Gemische  die  einfache 
Strahlung  sichtbar  zu  machen,  deren  Farbenton  dem  des  Gemisches  gleich 
ist,  und  womöglich  wieder  eine  gute  Farbengleichung  herzustellen.  Dies 
ist  auch  bei  diesen  Gemischen  möglich,  wenn  das  Farbenfeld  klein  und  das 
Auge  im  Zustande  einer  guten  Helladaptation  ist.  Hat  jedoch  infolge  der 
Verfinsterung  des  übrigen  Gesichtsfeldes  die  Helladaptation  bereits  wieder 
erheblich  nachgelassen  oder  war  sie  schon  anfangs  ungewöhnlich  gering, 
besteht  also,  anders  gesagt,  eine  merkliche  Dunkeladaptation,  so  erscheint 
das  Gemisch  in  vielen  Fällen  weißlicher  als  die  einfache  Strahlung.  Dies 
erschwert  die  Feststellung  der  Gleichheit  des  Farbentones  und  mahnt  daran, 
die  anfängliche  Helladaptation  wieder  herzustellen.  Ist  das  Auge  genügend 
hell  adaptiert,  so  kann  man  auch  bei  diesen  Gleichungen  wieder  durch 
Änderung  des  Querspaltes  alle  drei  zur  Gleichung  benutzten  Strahlungen  in 
gleichem  Verhältnis  vergrößern  oder  verkleinern,  ohne  daß  eine  Ungleichheit 
des  Farbentones  oder  der  Verhüllung  beider  Feldhälften  bemerklich  ist. 

Bei  allen  eben  erwähnten  Gleichungen  addiert  sich  wieder  die  Gelb- 
valenz der  T/-Strahlung  zur  Gelbvalenz  der  Lz-Strahlung  und  die  Summe 
ist  wieder  gleich  der  Gelbvalenz  der  einfachen  Strahlung.  Anders  verhält 
es  sich  mit  der  Rotvalenz  der  einen  und  der  Grünvalenz  der  anderen 
Strahlung  des  Gemisches.  Bei  einem  einzigen  ganz  bestimmten  Mischungs- 
verhältnis erscheint  das  Gemisch  rein  gelb  und  hat  also  weder  Rot-  noch 
Grünvalenz,  sondern  nur  die  summarische  Gelbvalenz.  Die  Rot-  und  Grün- 
valenz sind  also  zwei  gleichgroßen  antagonistischen  Kräften  zu  vergleichen, 
aus  denen  sich  für  die  Sehsubstanz  keine  Resultierende  ergibt.  Ihre  Einzel- 
wirkungen heben  sich  bei  ihrem  Zusammentreffen  gegenseitig  auf.  Bei 
jedem  anderen  Mischungsverhältnis  ist  entweder  die  Rotvalenz  der  LaJ-Strah- 
lung   größer   als   die  Grünvalenz   der    ^/-Strahlung,    oder   das  Umgekehrte 

Hering,  Lichtsinn.  4g 


290 


Lehre  vom  Lichtsinu. 


findet  statt.  Dann  vermag  die  jeweils  kleinere  Urvalenz  einen  ihr  selbst 
«Gleichgroßen  Teil  der  anderen  aufzuheben  und  nur  der  jeweilige  Rest  der 
letzteren  bleibt  als  Rot-  oder  Grünvalenz  des  Strahlgemisches  übrig.  Das 
Größen  Verhältnis  dieses  Restes  zur  summarischen  Gelbvalenz  des  Gemisches 
bestimmt  die  Qualität  der  chromatischen  Valenz  des .  letzteren ,  und  die- 
jenige einfache  Strahlung,  in  welcher  dieses  Größen  Verhältnis  dasselbe  ist, 
zeigt  denselben  Farbenton  wre  das  Gemisch. 

Geben  wir  der  jeweils  größeren  von  den  beiden  antagonistischen  Ur- 
valenzen  das  -}-,  der  kleineren  das  —  Zeichen,  so  können  wir  den  bleibenden 
Rest  der  größeren  als  die  algebraische  Summe  der  beiden  Urvalenzen 
bezeichnen  und  das  Ergebnis  sämtlicher  Mischungsversuche  mit  der  Li-  und 
der  T/- Strahlung  dahin  zusammenfassen,  daß  sowohl  die  Gelbvalenzen 
beider  Strahlungen  als  die  Rotvalenz  der  einen  und  die  Grün- 
valenz der  anderen  sich  algebraisch  summieren. 

In  §  13  wurde  dargelegt,  daß  es  keine  bunte  Gesichtsempfmdung 
(Sehqualität)  gibt,  welche  zugleich  einen  gelben  und  einen  blauen  oder  zu- 
gleich einen  röten  und  einen  grünen  Bestandteil  zeigt.  Dies  besagt  zugleich, 
daß  es  auch  keine  einfache  oder  mehrfache  Strahlung  gibt,  welche  zugleich 
eine  gelbe  und  eine  blaue  Valenz  oder,  was  für  die  eben  besprochenen 
Strahlgemische  in  Betracht  kommt,  zugleich  eine  Rot-  und  eine  Grünyalenz 
hat.  Für  die  einfachen  Strahlungen  liegt  es  schon  im  Begriffe  der  Valenz, 
da  die  Art  der  urfarbigen  Bestandteile  der  von  einer  einfachen  Strahlung 
bewirkten  Farbe  das  Bestimmende  für  (lie  Art  der  urfarbigen  Teilvalenzen 
ist,  welche  wir  der  Strahlung  zuschreiben.  Für  die  zweifachen  Strahl- 
gemische versteht  es  sich  nunmehr  auch,  denn  wenn  gegenfarbige  Ur- 
valenzen sich  bei  der  Mischung  gegenseitig  ganz  oder  teilweise  aufheben 
und  nur  der  nicht  neutralisierte  Rest  der  größeren  auf  die  Sehsubstanz 
wirkt,  so  kann  das  Strahlgemisch  nie  zwei  gegenfarbige  Urvalenzen  zugleich 
enthalten.  Aus  unserer  Analyse  der  bunten  Farben  als  Sehqualitäten  ergab 
sich  nur  die  Erfahrungstatsache,  daß  Rot  und  Grün  sich  gegenseitig  aus- 
schließen, und  nur  deshalb  konnten  sie  dort  als  Gegenfarben  bezeichnet 
werden.  Die  soeben  beschriebenen  Mischungsversuche  haben  uns  nun  ge- 
zeigt, daß  sie  sich  deshalb  ausschließen,  weil  sie  sich  in  ihren  Wirkungen 
auf  die  Sehsubstanz  gegenseitig  aufheben.  Ihre  Bezeichnung  als  Gegen- 
farben wird  hierdurch  vollends  gerechtfertigt. 

§  65.  Die  Sehsubstanz.  Die  Valenzen  als  auf  das  Sehorgan  . 
wirkende  Kräfte.  Setzen  wir  wieder  den  Fall,  die  Sehsubstanz  befinde 
sich  in  chromatisch  neutraler  Stimmung  und  das  in  einem  Sehwinkel  von 
etwa  4°  erscheinende  Kreisfeld  des  kleinen  Fernrohrs  unseres  Spektroskopes 
sei  mit  einer  Strahlung  gleichmäßig  beleuchtet,  die  einem  der  drei  Kardinal- 
punkte des  Spektrums,    z.B.   dem   Urgelb  {hlh  (.tpi)   entspricht.      Fixieren 


§  65.   Die  Sehsubstanz.  291 

wir  einige  Zeit,  z.  B.  20  Sekunden  lang,  den  Mittelpunkt  des  leuchtenden 
Feldes,  und  setzen  dann  die  Stärke  der  Strahlung  durch  Verengerung  des 
Ouerspaltes  mit  mäßiger  Geschwindigkeit  mehr  und  mehr  herab,  so  ver- 
bleicht gleichzeitig  zusehends  das  Gelb,  wird  immer  weißlicher  und  hierauf 
tonfrei  weiß.  Aber  nur  einen  Augenblick  besteht  diese  tonfreie  Farbe,  dann 
wird  das  Kreisfeld  bläulich,  und  während  die  tonfreie  Komponente  der 
Empfindung  mehr  und  mehr  zurücktritt,  wird  das  Blau  freier  und  schöner. 

Stellt  man  denselben  Versuch  mit  der  dem  urblauen  Kardinalpunkte 
entsprechenden  Strahlung  an,  so  erscheint  das  Kreisfeld  zuerst  in  einem 
stark  mit  Weiß  verhüllten  Blau,  verliert  dann  während  der  Abschwächung 
der  Strahlstärke  mehr  und  mehr  an  Blaue,  wird  tonfrei  und  hierauf  immer 
deutlicher  gelb  oder  braun. 

Macht  man  drittens  den  Versuch  mit  der  urgrün  wirkenden  Strahlung 
des  Spektrums,  so  sieht  man  zunächst  ein  helles  weißliches  Grün,  das  bei 
Verminderung  der  Strahlstärke  sich  zunehmend  verhüllt,  vorübergehend 
tonfrei  wird  und  dann  in  weißliches  Rot  umschlägt. 

Bei  diesen  Versuchen  wird  also,  nachdem  die  bezügliche  Strahlung 
einige  Zeit  mit  unverminderter  Stärke  auf  die  betroffene  Netzhautstelle  ge- 
wirkt hat,  die  anfängliche  urfarbige  Empfindung  durch  bloße  Minderung  der 
Strahlstärke  in  eine  tonfreie  und  sodann  gegenfarbige  Empfindung  ver- 
wandelt. Die  bunte  urfarbige  Komponente  der  anfänglichen  Empfindung 
tritt  gegenüber  der  ton  freien  immer  mehr  zurück,  verschwindet  dann  ganz 
und  die  gegenfarbige  Komponente  tritt  mit  wachsender  Deutlichkeit  hervor. 
Übrigens  bemerkt  ein  aufmerksamer  Beobachter  schon  bevor  die  Strahlstärke 
vermindert  wird,  ein  Zurücktreten  der  bunten  Empfindungskomponente  gegen- 
über der  tonfreien. 

Währt  die  Fixierung  der  Mitte  des  von  der  einfachen  Strahlung  be- 
leuchteten Kreisfeldes  länger  als  wie  ich  dies  beispielsweise  angenommen 
habe,  so  genügt  eine  kleinere  Minderung  der  Strahlstärke,  um  die  gelbe 
bzw.  grüne  oder  blaue  Urfarbe  verschwinden  und  in  ihre  Gegenfarbe  um- 
schlagen zu  sehen;  ist  dagegen  die  Fixierungsdauer  kürzer,  so  erfolgt  der 
Umschlag  erst  bei  einer  größeren  Minderung  der  Strahlstärke.  Längere 
Dauer  des  Fixierens  wirkt  also  in  demselben  Sinne  wie'  größere  Minderung 
der  Strahlstärke.  (Auf  individuelle  Verschiedenheiten  sowie  die  jeweilige 
Disposition  des  Beobachters  wird  später  zurückzukommen  sein.) 

Die  in  weiten  Kreisen  der  Physiker  und  Physiologen  eingebürgerte 
Ansicht,  nach  welcher  für  den  farbentüchtigen  Netzhautbezirk  eines  nor- 
malen Auges  mindestens  zwei  (sogenannte  komplementäre)  einfache  Strah- 
lungen eines  Spektrums  von  nicht  allzu  großer  Helligkeit^)  zur  Erzeugung 


i)  Daß  bei  sehr  hohen  Strahlstärken  fast  alle  einfachen  Strahlungen  mit  Aus- 
nahme der  langwelligsten  weiß  erscheinen  können,  ist  längst  bekannt 

19* 


292  Lehre  vom  Lichtsinn. 

der.  weißen  Empfindung  nötig  sind,  trifft  also  hier  nicht  zu;  vielmehr  ver- 
mag man  auch  mit  nur  einer  einfachen  Strahlung  eine  tonfreie  Weiß- 
empfindung in  der  beschriebenen  Weise,  wenngleich  nur  vorübergehend, 
herbeizuführen,  und  dies  gilt  von  allen  einfachen  Strahlungen  des  Spektrums. 

Man  könnte  sich  versucht  fühlen,  die  beschriebenen  Tatsachen  irgend- 
wie aus  einer  mit  der  Dauer  der  Bestrahlung  zunehmenden  Ermüdung  für 
den  Reiz  der  Strahlung  erklären  zu  wollen.  Aber  eine  derartige  Auffassung 
scheitert  sofort  daran,  daß  man  auf  jeder  durch  die  Minderung  der  Strahl- 
stärke herbeigeführten  Stufe  der  Farbenänderung  die  ursprünglich  gesehene 
bunte  Farbe  sofort  wiederherstellen  kann,  wenn  man  die  Strahlstärke  wieder 
auf  ihre  anfängliche  Höhe  bringt.  Es  genügt,  in  dem  Augenblicke,  wo  das 
fixierte  Kreisfeld  eben  weiß  oder  bereits  in  der  Gegenfarbe  erscheint,  dem 
Querspalte,  von  dessen  Breite  die  Stärke  der  auf  das  Auge  wirkenden  Strah- 
lung abhängt,  rasch  wieder  die  ursprüngliche  Breite  zu  geben,  um  sofort 
auf  dem  Kreisfelde  den  anfangs  gesehenen  Farbenton  in  nahezu  unver- 
ändertem Freiheitsgrade  wieder  erscheinen  zu  lassen.  Dabei  wirkt  die 
Strahlung  nicht  nur  fort,  sondern  wird  während  des  Wiederansteigens  ihrer 
Stärke  auf  die  anfängliche  Höhe  sogar  gesteigert;  die  vermeintliche  Er- 
müdung müßte  dabei  noch  weiter  zunehmen  und  der  bereits  unkenntlich 
gewordene  Farbenton  müßte  nun  erst  recht  unter  die  Schwelle  der  Wahr- 
nehmung sinken. 

Auf  die  gleichzeitig  mit  den  Farbenänderungen  des  Kreisfeldes  ein- 
tretenden Änderungen  des  ganzen  übrigen  Sehfeldes  wird  später  zurück- 
zukommen sein.  Hier  handelt  es  sich  insbesondere  darum,  daß  während 
der  noch  andauernden,  wenngleich  geminderten  Bestrahlung  des  Kreisfeldes 
die  Gegenfarbe  der  anfangs  gesehenen  Farbe  mit  voller  Entschiedenheit 
erscheint. 

Die  optische  Valenz  einer  Strahlung  läßt  sich  als  eine  auf 
das  innere  Auge  wirkende  Kraft  betrachten.  Wenn  wir  nun  bei 
unserem  Versuche  sehen,  daß  das  einige  Zeit  mit  der  urgelb  wirkenden 
Strahlung  beleuchtet  gewesene  Kreisfeld  bei  Abschwächung  der  Strahlstärke 
sofort  seine  Gilbe  verliert  und  tonfrei  weiß  werden  kann,  so  können  wir 
sagen,  daß  die  vorhergegangene  gelbwirkende  Beleuchtung  in  dem  bestrahlten 
Gebiete  des  somatischen  Sehfeldes  eine  der  Gelbvalenz  der  Strahlung 
entgegenwirkende  Kraft  wachgerufen  hat,  durch  welche  die 
gelbwirkende  Kraft  aufgehoben  oder  neutralisiert  wird;  und 
wenn  wir  bei  noch  weitergehender  Abschwächung  der  Strahlung  das.  Kreis- 
feld blau  werden  sehen,  können  wir  sagen,  daß  die  in  der  lebendigen 
Substanz  des  bestrahlten  Gebietes  geweckte  Gegenkraft  jetzt 
ein  Übergewicht  über  die  gelbwirkende  Kraft  der  Strahlung 
gewonnen  hat  und  daß  sie  eine  blauwirkende  ist.  Je  länger  die  Be- 
strahlung dauert,   desto  weiter  entwickelt  sich   diese  antagonistische  Kraft 


§  65.   Die  Sehsubstanz.  293 

und  eine  desto  kleinere  Minderung  der  Strahlstärke  genügt  zur  Herstellung 
eines  Gleichgewichtes  zwischen  den  beiden  Kräften    bzw.   zu   einem  Über- 
zuwiegen der  blauwirkenden  Gegenkraft. 

Diese  Auffassung  der  optischen  Valenz  als  einer  auf  das  Sehorgan 
wirkenden  allonomen  Kraft,  auf  welche  dieselbe  mit  einer  autonomen  Gegen- 
kraft reagiert,  gibt  zwar  keine  Erklärung  der  beschriebenen  Tatsachen,  ist 
aber,  wie  sich  weiterhin  zeigen  wird,  in  mannigfacher  Beziehung  sehr  zu- 
treffend. 

Auch  andere  Erscheinungen  legen  uns  die  Auffassung  der  Strahlungen 
als  auf  das  Sehorgan  wirkender  Kräfte  nahe. 

Der  Mannigfaltigkeit  der  Farbentöne  entspricht  die  Mannigfaltigkeit  der 
geraden  Linien,  die  auf  einer  Ebene  von  einem  Punkte  derselben  ausgehen 
können.  Denkt  man  sich  diesen  Punkt  als  Mittelpunkt  des  auf  Tafel  I  dar- 
gestellten Farbenkreises,  so  gehört  jeder  Radius  zu  einem  bestimmten  Farben- 
tone des  Kreises  und  kann  als  Vertreter  dieses  Farbentones  gelten.  Wie 
man  auf  dem  Kompaß  vier  Hauptrichtungen  unterscheidet,  so  lassen  sich 
auch  hier  vier  Radien  als  Hauptradien  und  alle  übrigen  als  Zwischenradien 
bezeichnen.  Den  vier  Hauptradien  entsprechen  die  vier  bunten  Urfarben; 
der  urrote  Hauptradius  liegt  dem  urgrünen ,  der  urgelbe  dem  urblauen 
diametral  gegenüber,  und  dasselbe  gilt  überhaupt  von  je  zwei  gegenfarbigen 
Zwischenradien. 

Da  bei  chromatisch  neutral  gestimmtem  Auge  jede  optisch  wirkende 
einfache  Strahlung  einen  bestimmten  Farbenton  erzeugt  und  wir  ihr  des- 
halb eine  qualitativ  bestimmte  optische  Valenz  zuschreiben  können,  so  läßt 
sich,  abgesehen  von  den  Purpurtönen,  jeder  Radius  auch  als  Vertreter  einer 
solchen  Valenz  betrachten,  und  was  soeben  von  den  Farben  der  Haupt- 
und  Zwischenradien  gesagt  wurde,  gilt  dann  ebenso  von  den  bunten  Valenzen 
der  einfachen  Strahlungen. 

Erwägen  wir  endlich,  daß  jede  Strahlung  sich  als  eine  auf  das  Seh- 
organ wirkende  allonome  Kraft  ansehen  läßt,  auf  welche  die  lebendige 
Substanz  desselben  mit  der  Entwicklung  einer  autonomen  Kraft  antwortet, 
so  kann  jeder  Radius  auch  als  Symbol  der  Richtung  angesehen  werden,  in 
welcher  eine  dieser  Kräfte  wirkt,  und  der  Mittelpunkt  als  Angriffspunkt 
derselben.  Einer  aus  diesem  Punkte  auf  dem  Radius  abgetragenen  Strecke 
entspricht  dann  die  Größe  der  optischen   Valenz  oder  Kraft. 

Die  geschilderten  Versuche  haben  wieder  sehr  anschaulich  gemacht, 
daß  die  Farbe  nicht  eine  Eigenschaft  der  Strahlung  ist  und  von  der  letz- 
teren dem  Sehorgan  nur  mitgebracht  wird,  sondern  daß  sie  auf  einer 
Reaktion  des  Sehorgans  beruht  und  das  psychische  Korrelat  einer  von  der 
Strahlung  in  der  Sehsubstanz  bewirkten  physischen  Änderung  ist.  Ich  kann 
deshalb,  ohne  ein  Mißverständnis  befürchten  zu  müssen,  statt  von  einer 
gelb-,  blau- usw.  wirkenden  Kraft  kurz  von  einer  Blaukraft,  Gelbkraft  usw. 

Hering,   Lichtsinn. 


nqA  Lehre  vom  Lichtsiiin. 

sprechen,    wie    ich    bereits    von    einer    Gelbvalenz,"  Blauvalenz    usw.    ge- 
sprochen habe. 

Wenn  also  z.  B.  die  dem  gelben  Kardinalpunkte  des  Spektrums  ent- 
sprechende Strahlung  auf  die  chromatisch  neutral  gestimmte  Sehsubstanz 
wirkt  so  kann  ich  sagen,  es  wirke  jetzt  auf  letztere  eine  allonome  Urgelb- 
kraft  und  die  bei  Wirkung  derselben  sich  entwickelnde  Gegenkraft  kann 
ich  als  autonome  Urblaukraft  bezeichnen.  Wirken  beiderlei  Kräfte  gleich^ 
zeitig  auf  die  Sehsubstanz,  so  heben  sie  sich,  wenn  sie  im  besonderen 
Falle  gleichgroß  sind,  als  diametral  entgegengesetzte  Kräfte  in  ihrer  optischen 
Wirkung  vollständig  auf;  wenn  sie  aber  von  verschiedener  Größe  sind,  so 
bleibt  nur  die  Differenz  beider  Größen  im  Sinne  der  größeren  Kraft  wirksam. 

Hätten    wir    also    auf    dem    urgelben 
Fig.  77.  Radius  eine  der  Größe  der  allonomen 

^r  Urgelbkraft  entsprechende  Strecke  ab- 

getragen   und    wäre    die   entstandene 
Urblaukraft   die   kleinere  von   beiden, 
so  hätten  wir  jetzt  diese  Strecke  um 
.  den  entsprechenden  Betrag  zu  kürzen.; 
i  ^       falls  aber  die  Urblaukraft  die  größere 

wäre,  diese  auf  der  dem  blauen 
Radius  entsprechenden  Strecke  um  den 
Betrag  der  allonomen  Urgelbkraft  zu 
kürzen.  Letzteren  Fall  versinnlicht 
^  Fig.  77,  in  der  mg  die  Größe  der  zu 

einem  bestimmten  Zeitpunkte  bestehen- 
den allonomen  Urgelbkraft,  mb  die  Größe  der  zu  demselben  Zeitpunkte 
bestehenden  autonomen  Urblaukraft  und  mbi  den  durch  die  allonome  Kraft 
nicht  neutralisierten  und  daher  wirksam  gebliebenen  Rest  der  autonomen 
Kraft  bedeutet  {mb  —  mg  =  mb]). 


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