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BIHDHG LIST APR 1 19U
RÜNDZÜGE
DER
LEHRE VOM LICHTSINN
'^ilUW
VON
EWALD HERING f
PROFESSOR m LEIPZIG
MIT 77 TEXTFIGUREN UND 3 TAFELN
BERLIN
VERLAG YQN JULIUS ,SPRINGEi
1920
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Alle Hechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.
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Sonderabdruck aus dem Handbuch der Augenheilkunde
I. Teil XII. Kapitel.
I
Inhaltsverzeichnis.
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I. Abschnitt. Vom Wesen der Farben ^ j\
§ i . Die Farben als der Stoff der Sehdinge -1
§ 2. Die Farben als Sehqualitäten 2
§ 3. Die Farben als sogenannte Empfindungen 4
§ 4. Die Gedächtnisfarben 6
§ 5. Herstellung brauchbarer Farbenfelder -12
§ 6. Die angenäherte Farbenbeständigkeit der Sehdinge 13
§ 7. Die Farben als psychische Korrelate der physischen Regungen der
Sehsubstanz 20
II. Abschnitt. Das natürliche Farbensystem 23
§ 8. Grundsätze für die Ordnung der Farben 23
§ 9, Die Reihe der tonfreien Farben 25
§ 10. Symbolische Bezeichnung der tonfreien Farben 33
% M. Vergleichung von Farbenverschiedenheiten untereinander .... 35
§ 12. Die Reihe der Farbentöne 40
§ 13. Die Gegenfarben 48
§ 14. Die verhüllten bunten Farben 49 '
• § 1 5. Die Helligkeit der bunten Farben 57
IlT. Abschnitt. Über die Beziehungen zwischen den Unterschieden
der Lichtstärken der wirklichen Dinge und den ton-
freien Helligkeitsunterschieden der Sehdinge 62
§ 16. Messung der Lichtremission tonfreier Papiere 62
§ 1 7. Deutlichkeit des Sehens im Verlaufe eines Tages 68
§ 18. Einfluß der sukzessiven Anpassung des Auges auf die Deutlichkeit
des Sehens ^^
§ 1 9. Gleichen Unterschieden der Lichtstärken entsprechen nicht gleiche
Helligkeitsunterschiede '. . 74
§ 20. Entsprechen gleichen Verhältnissen der Lichtstärken der wirklichen
Dinge gleichgroße HeUigkeitsunterschiede der Sehdinge'? ... 81
§ 21. Grundlegendes zum Verständnis der Beziehung zwischen der
HeUigkeit der tonfreien Farbe und der Lichtstärke des Netz-
hautbildes 91
IV. Abschnitt. Vom somatischen Korrelate der tonfreien Farben, 100
§ 22. Der Stoffwechsel der Sehsubstanz als das somatische Korrelat der
Farben 4 00
§ 23. Die Selbststeuerung des Stoffwechsels der Sehsubstanz 103
IV Inhaltsverzeichnis.
Seit«
§ 24. Die Größe des Stoffwechsels der Sehsubstanz als das somatische
Korrelat des Gewichtes der Farbe 408
§ 25. Die Bedeutung der Empfangsstoffe der Netzhaut 142
V. Abschnitt. Die tonfreien Wechselwirkungen der Sehfeld-
stellen H5
§ 26. Vom simultanen Helligkeitskontraste 14 5
§ 27. Ein Apparat zur Untersuchung des simultanen Helligkeitskontrastes <2<
§ 28. Eine wichtige Folgerung aus den beschriebenen Kontrastversuchen 1 25
§ 29. Messende Versuche mittels Vergleichung umschlossener Felder . 126
§ 30. Die Simultananpassung als Ergebnis des Simultankontrastes . . 129
§ 31 . Beobachtung des simultanen HelHgkeitskontrastes ohne Vergleichs-
feld • 132
§ 32. Vom simultanen Grenzkontrast . . '. 135
VI. Abschnitt. Das falsche Licht im Netzhautbilde -141
§ 33. Die Ursachen der Abirrung des Lichtes im Auge ........ 141
§ 34. Einfluß des falschen Lichtes auf die DeutUchkeit -des Sehens . . 145
§ 35. Herabsetzung der Deutlichkeit bei dem Zusammenwirken des
falschen Lichtes und des verdunkelnden Kontrastes 149
§ 36. Die scharfen Umrisse der Seh dinge als Ergebnis der Wechsel-
wirkung der Sehfeldstellen 151
VII. Abschnitt. Zur Theorie der Wechselwirkung im somatischen
Sehfelde 159
§ 37. Das Gesetz der Induktion 159
§ 38. Die gegenseitige Induktion zweier Elemente der Sehsubstanz . . 163
§ 39. Die Induktion zwischen einem Element und dem Gesamtfelde der
Sehsubstanz . 167
§ 40, Der Einfluß der Induktion auf die Eigenhelligkeit des Sehorganes 169
§ 41. Die Beziehungen zwischen den Helligkeiten der Sehdinge und der'
Gesamtbeleuchtung der sichtbaren Außendinge ....... 171
^ 42. Graphische Darstellung der Beziehungen zwischen der Helligkeit
der Sehdinge und der Stärke der Gesamtbeleuchtung der Außen-
dinge 174
§ 43. Die Induktion als ein Hilfsmittel zur Selbststeuerung des Stoff-
wechsels der Sehsubstanz 182
§ 44. Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Stärke der
Gesamtbeleuchtung 183
§ 45, Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamt-
beleuchtung bei Gleichheit des endogenen und exogenen Gfe-
samtinduktes und Ungleichheit des D-Reizes der beiden Elemente 1 88
§ 4 6. Verschiedenheit der Helligkeit bei gleicher Lichtstärke und Gleich-
heit der Helligkeit bei verschiedener Lichtstärke zweier Außen-
dinge ^92
§47. Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuch-
tung bei ungleichem D -Reize und ungleichem exogenen Ge-
samtindukt 198
§ 48. Über die durch örtliche Änderungen der Netzhau tbelichtung be-
dingten HeUigkeitsänderungen. ■ 202
Inhaltsverzeichnis. V
Seite
§ 49. Ableitung des Ergebnisses der messenden Versuche von Hess und
Pretori aus der Theorie der Induktion 207
YIII. Abschnitt. Die binokularen tonfreien Farben 211
§ 50. Binokulare Mischung tonfreier Farben . 211
§ 51. Binokulare Mischung tonfreier Farben beim Doppeltsehen eines
kleinen Feldes auf andersfarbigem Grunde 216
§ 52. Einfluß der Grenzlinien auf die binokulare Mischung tonfreier
Farben 225
§ 53. Binokulare Deckung zweier kleiner Felder von gleicher Form, aber
ungleicher Farbe auf beiderseits gleichem Grunde 23i
§ 54. Die binokulare Farbenmischung bei binokularer Deckung inkon-
gruenter Bilder 239
§ 55. Der »paradoxe Versuch« Fechners 254
IX. Abschnitt.
§ 56. Die Geschwindigkeit der Wertigkeitsänderung der Sehsubstanz als
physisches Korrelat der tonfreien Farben und Helligkeiten . . 257
§ 57. Die terminalen Strahlungen 259
§ 58. Anpassung des Auges an die Jeweilige Beleuchtung 261
§ 55. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder 264
Die Beziehungen zwischen der bunten Qualität der Farben und
der Schwingungszahl der optischen Strahlen 273
§ 60. Die Verteilung der Farben im Spektrum ' 273
§ Gi. Das Interferenzspektrum des Himmelslichtes 275
§ 62. Herstellung und Beobachtung monochromatisch beleuchteter Felder 279
§ 63. Von den optischen Valenzen der spektralen Strahlungen .... 281
§ 64. Über binäre Strahlgemische 284
§ 65. Die Sehsubstanz. Die Valenzen als auf das Sehorgan wirkende
Kräfte 290
Hering. Lichtsinn.
I. Abschnitt.
Vom Wesen der Farben.
§ i. Die Farben als der Stoff der Sehdinge. Wenn wir im
beleuchteten Räume die Augen aufschlagen, sehen wir vor uns eine Mannig-
faltigkeit räumlich ausgedehnter Gebilde, die sich durch die Verschiedenheit
ihrer Farbe voneinander abgrenzen oder abheben, wobei das Wort Farbe
im weitesten Sinne genommen und auch Schwarz, Grau, Weiß, überhaupt
jedes Dunkel und jedes Hell darunter verstanden ist. Die Farben sind es,
welche die Umrisse jener Gebilde ausfüllen, sie sind der Stoff, aus dem das
unserem Auge Erscheinende sich vor uns aufbaut; unsere Sehwelt besteht
lediglich aus verschieden gestalteten Farben, und die Dinge, so wie wir sie
sehen, d. h. die Sehdinge, sind nichts anderes als Farben verchiedener
Art und Form.
Die ganze Sehwelt mit ihrem Inhalt ist ein Geschöpf unseres inneren
Auges, wie wir das nervöse Sehorgan (Netzhaut, Sehnerv und die bezüg-
lichen Hirnteile] nennen können, im Gegensatze zu dem dioptrischen Appa-
rat als dem äußeren Auge. Das schöpferische Vermögen unseres inneren
Auges schafft jene Farbengebilde unter dem Zwange der Anregungen, welche
es durch die von den wirklichen Außendingen in unser Auge geschickten
Strahlungen erhält. Die im Neuroepithel der Doppelnetzhaut, als dem
Empfangsorgane (Empfänger) des inneren Auges, von den wirklichen
Dingen entworfenen Bilder einerseits, und andererseits der ganze Reichtum
von Erfahrungen, welche wir über unsere Außenwelt gesammelt und welche
dauernde Spuren in der nervösen Substanz des inneren Auges zurück-
gelassen haben, bestimmen die Thätigkeit des unsere jeweilige Sehwelt auf-
bauenden inneren Auges.
Die strenge Unterscheidung zwischen den Sehdingen als Farbengebüden
und den wirklichen Dingen, zwischen der aus Farben aufgebauten Seh-
welt und der wirklichen Welt ist eine unerlässliche Vorbedingung für das
Verständnis des Sehaktes und seiner Gesetze. Inwiefern den Dingen, die
wir uns auf Grund unserer gesamten sinnlichen Erfahrungen als die wirk-
Hering, Lichtsinn. ^
2 Lehre vom Lichtsinn.
liehen denken und als solche zu bezeichnen pflegen, abgesehen von diesem
ihren Vorhandensein in unserem Denken ein von dem letzteren unabhängiges
Bestehen zukommt, ist eine Frage, von deren Beantwortung die begrifT-
liche Unterscheidung der Sehdinge von den wirklichen Dingen und eines
Sehraumes von einem wirklichen Räume ganz unabhängig ist.
Von den Formen, in welchen die Farben uns im Sehraume erscheinen,
also von den räumlichen Eigenschaften der Farben, handelt die Lehre vom
Raumsinne des Auges, von den Farben selbst aber als den verschiedenen
Qualitäten des Inhaltes oder Stoffes der Sehdinge handelt die Lehre vom
Lichtsinne, welche uns hier zu beschäftigen hat.
§ 2. Die Farben als Sehqualitäten. Der Ungelehrte nimmt das
Grün eines Baumblattes ohne weiteres für eine Eigenschaft des Blattes. Der
physikalisch Unterrichtete weiß jedoch, dass er dasselbe Blatt in einer
ganz anderen Farbe sehen könnte, wenn es nicht vom gewöhnlichen Tages-
lichte, sondern von einer andersartigen Lichtquelle beleuchtet wäre und
daher auch eine andersgeartete Strahlung in sein Auge zurückwerfen würde.
Weil ihm die Farbe an die Beschaffenheit des ins Auge gelangenden Lichtes
gebunden scheint, betrachtet er das Grün als eine Eigenschaft nicht des
Blattes, sondern der vom Blatte zurückgeworfenen Strahlung, und nennt
die letztere grün.
Der physiologisch Unterrichtete geht weiter. Er weiß, dass er das-
selbe Blatt, welches er, v/enn es sich auf dem mittlen Teile seiner Netz-
haut abbildet, grün sieht, auch gelb bezw. grau sehen kann, wenn sein
Bild auf hinreichend excentrische Netzhautstellen fällt; und schon aus dieser
einzigen Thatsache würde er schließen können, dass das Grün nicht eigent-
lich an die vom Blatte ins Auge geschickte Strahlung gebunden ist, son-
dern vielmehr an unser Sehorgan, welches das Vermögen besitzt, uns Grün
oder Gelb oder Grau sehen zu lassen, je nachdem die von dem Blatte
kommende Strahlung diese oder jene Netzhautstelle trifft. Er weiß ferner,
dass, wenn er einen Punkt des auf weißes Papier gelegten Blattes einige
Zeit un verrückten Blickes betrachtet und dann das Blatt wegnimmt, auf
dem Papiere ein rotes bezw. blaurotes Blatt, das sogenannte Nachbild des
Blattes, erscheinen kann, obwohl die bezügliche Stelle des Papieres ganz
dieselbe Strahlung in sein Auge schickt, wie das übrige weiß erscheinende
Papier. Es ist ihm ferner bekannt, dass er nach längerem Fixieren des
Blattes ein rotes Nachbild desselben auch dann noch sehen kann, wenn
er sein Auge schließt und verdeckt, dass also die Farbe nicht bloß während
der Wirkung eines Lichtes auf die Netzhaut, sondern auch bei Mangel
jeder Strahlung von unserem inneren Auge erzeugt werden kann. Mit dem-
selben Rechte also, mit welchem dem Laien das Grün als eine Eigenschaft
des Blattes, dem Physiker als eine Eigenschaft der von dem Blatte aus-
§ 2. Die Farben als Sehqualitäten. 3
gehenden Strahlung gilt, darf es dem Physiologen als eine Eigenschaft des
von dieser Strahlung im Sehorgan hervorgerufenen physiologischen Vor-
ganges gelten, und er könnte von einer grünen Regung der nervösen Sub-
stanz sprechen, wie der Physiker von grünen Strahlen und der Laie von
grünen Außendingen spricht.
Für den Psychologen endlich ist das Grün weder eine Eigenschaft des
Blattes, noch der Strahlung, noch der Regung des inneren Auges, sondern
vielmehr ein psychisches Phänomen, ein Bewusstseinsinhalt bestimmter Qua-
lität. Er lässt dasselbe zwar verbunden sein mit einem bestimmten ner-
vösen Prozess, aber er unterscheidet zwischen diesem als dem hinzu ge-
dachten physischen Korrelate des psychischen Phänomens und dem Phä-
nomen selbst. Wenn er von einem grünen Blatte, von einer grünen
Strahlung, einer grünen Regung des inneren Auges spricht, so ist er sich
bewusst, dass er dies nur etwa mit demselben Rechte thun darf, mit wel-
chem man von einem Weinstock, einer Weintraube, einer Weinflasche
spricht. Wie das Getränk Wein kein gemeinsamer Bestandteil des Stockes,
der Traube, der Flasche ist, so ist auch das Grün keine gemeinsame Eigen-
schaft des Blattes, der Strahlung und der nervösen Regung. Wir pflegen
eben Dingen oder Vorgängen, welche in einem genetischen oder auch nur
ganz äußerlichen Zusammenhange stehen, sehr häufig dasselbe Beiwort zu
geben.
Wir haben demnach streng zu unterscheiden zwischen den Farben
als Sehqualitäten oder sogenannten psychischen Phänomenen und den
näheren oder entfernteren physischen Bedingungen oder Veranlassungen
dieser Phänomene, und wir dürfen nie vergessen, dass das Auftreten einer
Farbe zunächst geknüpft erscheint an bestimmte Regungen des inneren
Auges, welche ihrerseits durch ins äußere Auge fallende Strahlungen ver-
anlasst, aber auch ohne solche aus ganz anderen, inneren Ursachen er-
weckt werden können.
So oft ich im folgenden von Schwarz, Weiß, Grün u. s.w., überhaupt von
Farben schlechtweg spreche, meine ich damit lediglich die bezügliche Seh-
qualität, nicht aber eine Strahlung oder einen Farbstoff. Ich werde jedoch
kein Bedenken tragen, von weißem Papier, rotem Glase u. s. w. zu sprechen,
womit immer gesagt sein soll, dass es sich um ein Papier bezw. ein Glas
handelt, welches unter den gewöhnlichsten Bedingungen des Sehens
weiß bezw. rot erscheint. Solche Zugeständnisse darf man dem Sprach-
gebrauche wohl machen. Auch von roten oder blauen Strahlungen darf
man sprechen, wenn man darunter solche versteht, die, ins Auge gelangt,
in der Mehrzahl der Fälle Rot oder Blau hervorrufen, wenn sie uns
auch in anderen Fällen ganz andere Farben veranlassen können. Aber
so weit sollte man nicht gehen, wie der große Meister der physiolo-
gischen Optik Helmholtz, die optischen Strahlungen selbst als Farben zu
4 Lehre vom Lichtsinn.
bezeichnen und z. B. von einfachen oder zusammengesetzten Farben da
zu sprechen, wo es sich nur um einfache oder zusammengesetzte Strah-
lungen handelt (1 und 2). Mit demselben Rechte könnte man die Farb-
stoffe Ultramarinblau und Chromgelb als einfache Farben und ihre grün
erscheinende Mischung als eine zusammengesetzte Farbe bezeichnen. Der-
artiges mag in einem Lehrbuch der Physik bezw. der koloristischen
Technik am Platze sein, wäre aber unzweckmäßig in einem Werke über
den Farbensinn.
Da Helligkeit ebenso wie Dunkelheit eine Eigenschaft der Farben
und nicht der Strahlungen oder der wirklichen Dinge ist, so werde ich auch
nicht, wie man noch vielfach thut, die Intensität oder Energie der Strah-
lungen als Helligkeit bezeichnen, sondern ganz ausschließlich nur den
Farben, als den Sehqualitäten, Helligkeit oder Dunkelheit zu-
schreiben; wenn ich aber von Lichtstärke spreche, hierunter ganz
ausschließlich die Energie der Strahlung verstehen, indem ich
dabei das Wort Licht in rein physikalischem Sinne nehme. Nach seinem
ursprünglichen Sinne bezeichnet dasselbe freilich das Sinnesphänomen und
nicht das physikalische Agens, welches die häufigste, wenn auch keines-
wegs die einzige Veranlassung des Phänomens ist.
Schwarz, Grau, Weiß, welche ich oben ebenfalls als Farben bezeichnet
habe, werden gewöhnlich als farblose Gesichtsempfmdungen von den Far-
ben im engeren Sinne unterschieden. Wenn wir jedoch die letzteren, näm-
[lich Rot, Gelb, Grün, Blau und ihre Zwischenfarben, also alle Farben von
bestimmtem »Farbenton« (Helmholtz) als bunte oder getönte Farben,
Weiß und Schwarz aber samt ihren grauen Zwischenstufen als ton-
freie oder ungetönte Farben bezeichnen, so könnten wir hier das AVort
Empfindung entbehren imd alle Qualitäten des Gesichtssinnes mit dem
einen Worte Farbe umfassen. Im allgemeinen werde ich dies im folgen-
den auch thun und nur da, wo dem an die übliche Terminologie ge-
wöhnten Leser ein Missverständnis erwachsen könnte, das Wort Empfin-
dung gebrauchen.
§ 3. Die Farben als sogenannte Empfindungen. Es steht nicht
im Einklang mit dem ursprünglichen Sinne des Wortes Empfindung, wenn
man die Farben als Empfindungen bezeichnet. Jenem Sinne entspricht es
wohl, zu sagen, man empfinde Schmerz, Wollust, Wärme, Kälte, nicht
aber, zu sagen, man empfinde Weiß, Rot oder Schwarz. Empfindungen
sind im Sinne unserer Sprache etwas, was man in oder an seinem Leibe
spürt, die Farben aber erscheinen stets außerhalb unseres Leibes und
insbesondere außerhalb unseres Auges. Wenn wir unsere eigene Hand
sehen, so erscheint uns ihre Fleischfarbe allerdings an einem Teile unseres
Leibes, doch aber außer unserem Auge, und wir sagen nicht, dass wir
§ 3. Die Farben als sogenannte Empfindungen. 5
ihre Farbe empfinden, sondern dass wir sie sehen. Denn die Hand
ist für den sie Sehenden auch nur ein Teil seiner Sehwelt, den er jedoch,
weil die Bewegungen der Hand unter seiner unmittelbaren Herrschaft stehen,
zu seinem leiblichen Ich rechnet. Für den Neugeborenen aber, dem das
erste Mal seine Hand ins Gesichtsfeld kommt, spielt dieselbe als Sehding
zunächst dieselbe Rolle wie die Hand eines anderen, neben ihm liegenden
Kindes, und er befindet sich zu seiner Hand in einem ähnlichen Verhält-
nis, wie der junge Hund zu seinem Schwänze, wenn er ihn einmal zufällig
sieht und nach demselben als nach etwas nicht zu ihm selbst Gehörigem
schnappt.
Soll ich aber im Anschluss an den Sprachgebrauch der Gelehrten die
Farben Empfindungen nennen, so muss ich auch, wenn ich eine Kirsche
sehe, sagen dürfen, dass ich eine rote rundliche Empfindung habe, und dass
der Ort dieser meiner Empfindung außerhalb meines Leibes auf dem gleich-
zeitig vor mir erscheinenden Baume ist, welcher hier auch nur als Sehding
in Betracht kommt (3, S. 345). Den physischen Vorgang, welchen die von
der Kirsche in mein Auge gesandte Strahlung in der nervösen Substanz
desselben veranlasst, denke ich mir allerdings in meinem Körper. Aber
dieser Vorgang ist eben keine Farbe; man kann ihn als das physiologische
Korrelat der Farbe bezeichnen, aber nicht selbst Farbe nennen, und welche
Vorstellungen immer man sich von diesem Vorgange machen möge, keinen-
falls wird selbst der Unkundigste sich denselben rot und rundlich denken
wie die Kirsche.
Man hat freilich auch den durch eine Strahlung veranlassten physio-
logischen Prozess in der Netzhaut bezw. im Sehnerven und Gehirn als Em-
pfindung bezeichnet und z. B., wie dies noch Helmholtz that, von einer
Leitung der Empfindung durch den Sehnerven zum Gehirn gesprochen, wie
man jetzt von einer Leitung der Erregung spricht. Wenn man sich einmal
darüber geeinigt hätte, könnte man freilich den Erregungsvorgang oder,
wie ich es vorhin nannte, die physische Regung unseres inneren Auges
Empfindung nennen; dann dürfte man aber nicht gleichzeitig auch das
Sinnesphänomen, hier also die Farbe, als Empfindung bezeichnen, wenn
man Missverständnisse und Unklarheiten ausschließen will.
Um die für uns im Dunkel liegende Entstehungsweise der Gesichtswahr-
nehmungen hat sich ein ganzer Kreis von Hypothesen gebildet. So sollte z. B.
die auf die Netzhaut fallende Strahlung in uns ein Etwas veranlassen, von dem
man nicht recht zu sagen wusste, ob es ein Physisches oder ein Psychisches
oder beides zugleich sei. Dieses Etwas sollte ursprünglich nicht raumhaft sein,
sondern erst infolge der Erfahrung räumliche Eigenschaften gewinnen. Ursprüng-
lich in den Augen oder im Gehirn sitzend sollte dieses Etwas dann in den
Außenraum hinaus projiziert werden. Solange es noch in unserm Körper bezw.
im Auge w'ar, oder solange es noch keine räumlichen Eigenschaften hatte, sollte
es »reine« Empfindung, war es bereits draußen, sollte es Vorstellung beziehungs-
6 Lehre vom Lichtsinn.
weise Wahrnehmung sein. Das sind Meinungen; Thatsache aber ist, dass uns,
soweit unsere Erinnerung zurückreicht, die Farben nie innerhalb unseres Auges
erschienen, dessen Bekanntschaft der Mensch überhaupt erst verhältnismäßig
spät macht; Thatsache ist ferner, dass unsere Außendinge, insoweit wir sie
sehen, lediglich aus Farben bestehen ; daher man also entweder aufhören
müsste, die Farben als Empfindungen zu bezeichnen, oder wenn man dies thut,
auch zugeben müsste, dass sie Empfindungen sind, welche ihren Ort außerhalb
unseres Leibes haben.
Will man die Farben entweder wegen ihrer räumlichen Eigenschaften oder
weil sie ihren Ort vor uns, nicht in uns und insbesondere nicht dort haben,
wo wir unser Auge fühlen oder uns dasselbe denken, Vorstellungen nennen,
so ist dies ebenfalls Sache der Übereinkunft. Zweckmäßiger aber scheint es
mir, das Wort Vorstellung auf die nicht in sinnhcher Frische und Unmittelbarkeit
erscheinenden, sondern nur gedächtnismäßig reproduzierten Farben und Sehdinge
zu beschränken.
Offenbar bestand in der Psychologie ein Bedürfnis, für die Farben, aus
denen die Sehdinge bestehen, eine Art Urzustand anzunehmen, in welchem sie
noch nicht durch die umbildende Hand der Erfahrung gegangen sind, und diesem
Rohstoffe einen anderen Namen zu geben, als dem psychisch weiter verarbeiteten ;
daher man jenen als reine Empfindung, diesen als Vorstellung oder W^ahrnehmung
bezeichnete. Da ich mir aber unter einer Farbe, die keinerlei räumliche Eigen-
schaften und also auch keinerlei Ausdehnung hätte, nichts Brauchbares zu denken
vermag, so weiß ich auch mit den »reinen« Gesichtsempfindungen, wenn sie
ganz unräumliche sein sollen, nichts anzufangen.
§ 4. Die Gedächtnis färben. Das, was wir in einem gegebenen
Augenblicke sehen, ist keineswegs nur bedingt durch die Art und Stärke
der ins Auge fallenden Strahlungen und den jeweiligen Zustand des gesamten
Netzhautapparates, vielmehr sind diese nur die sozusagen primären Ent-
stehungsfaktoren der durch die Strahlungen veranlassten Farben. Zu ihnen
gesellen sich die durch allerlei Nebenumstände geweckten Reproduktionen
des früher Erfahrenen, welche als sekundäre und gleichsam accidentelle
Faktoren das jeweilige Sehen mit bestimmen.
Denn wie der Klang, welchen das Anschlagen einer Klaviersaite erzeugt,
nicht bloß von der Art des Anschlags und von der Stimmung der Saite,
sondern auch von der elektiven Resonanz der übrigen Saiten und überhaupt
aller in der Nähe befindlichen resonierenden Teile abhängt, so sind auch
die Regungen, welche durch eine ins Auge fallende Strahlung in der ner-
vösen Substanz herbeigeführt werden, nicht bloß durch die Art und Stärke
der Strahlung, die angeborene Beschaffenheit und den jeweiligen Zustand
der zunächst betroffenen Teile bedingt, sondern auch durch die angeborene
oder erworbene Beschaffenheit aller mit den primär erregten in funktioneller
Verbindung stehenden Teile des inneren Auges (3, S. 565—69).
Der Laie ist, wie schon gesagt, überzeugt, dass die Außendinge be-
stimmte Farben besitzen, dass der Schnee weiß, der Ruß schwarz, das
§ 4. Die Gedächtnisfarben. 7
Gold gelb sei. Er schreibt diesen Farben ein vom Auge unabhängiges
Bestehen zu, bezeichnet sie als die wirklichen Farben der bezüglichen
Dinge und unterscheidet sie von den zufälligen Farben, welche dieselben
Dinge unter ungewöhnlichen Umständen, z. B. bei unzureichender oder von
der gewöhnlichen Tagesbeleuchtung stark abweichender Beleuchtung zeigen
können. Das Rot der Berggipfel beim Alpenglühen, die Leichenblässe eines
von Natriumlicht beleuchteten Gesichts, die bunten Flecke des Fußbodens,
auf welche das durch bunte Fensterscheiben gehende Sonnenlicht fällt, sind
solche zufällige Farben, die wir auf die jeweilige Art der Beleuchtung be-
ziehen und nicht für Eigenschaften der betroffenen Dinge nehmen. Wer
jedoch gelernt hat, dass der Schnee seine weiße, das Gold seine gelbe Farbe
den von ihnen zurückgeworfenen Strahlen des Tageslichtes zu danken hat,
kommt wohl gar zu der Ansicht, die wirkliche Farbe der Außendinge sei
eigentlich schwarz, weil ihm irrigerweise Schwarz nur soviel als ein voll-
ständiges Fehlen der Lichtstrahlen bedeutet. So oft er aber z. B. an den
Schnee denkt, stellt er sich denselben doch wieder weiß vor; und so ergeht
es allen, mögen sie viel oder gar nicht über das Wesen der Farben nach-
gedacht haben. Auch der Mineralog, für welchen der Schnee aus einer
Anhäufung kleiner farblos durchsichtiger Wasserkrystalle besteht, der
Chemiker, für den diese Krystalle wieder aus zahllosen Molekeln und Atomen
aufgebaut sind, ein Physiker, der keine Molekeln und Atome, sondern nur
Energien gelten lässt: sie alle verbinden zwangsweise mit der Vorstellung
des Schnees die weiße Farbe.
Denn die Farbe, in welcher wir ein Außending überwiegend oft gesehen
haben, prägt sich unserem Gedächtnis unauslöschlich ein und wird zu einer
festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes. Was der Laie die wirkliche Farbe
eines Dinges nennt, ist eine in seinem Gedächtnis gleichsam fest gewordene
Farbe desselben; ich möchte sie die Gedächtnisfarbe des Dinges nennen.
Damit scheint mir ausgedrückt, in welcher Weise diese sogenannte wirk-
liche Farbe entsteht, und wie sie notwendig von allerlei individuellen Zu-
fälligkeiten des von uns Erlebten einerseits und von der Beschaffenheit
unseres Sehorganes andererseits abhängt. Für den Farbenblinden z. B. muss
die »wirkliche« Farbe eines Außendinges in vielen Fällen eine ganz andere
sein als für den Menschen mit normalem Farbensinn. Auch wird die Ge-
dächtnisfarbe eines Dinges nicht eine ganz bestimmte sein müssen, sondern
sie wird ihrer Entstehung gemäß eine gewisse Schwankungsbreite haben
können.
Wie die Gedächtnisfarbe eines Dinges immer mit aufwacht, wenn durch
ein beliebiges anderes Merkmal desselben oder auch nur durch das Wort,
mit welchem wir das Ding bezeichnen, ein Erinnerungsbild desselben geweckt
wird, so wird sie ganz besonders wachgerufen, wenn wir das bezügliche
Ding wieder sehen oder auch nur zu sehen meinen, und sie ist dann für
g Lehre vom Lichtsinn.
die Art unseres Sehens mit bestimmend. Alle Dinge, die uns bereits aus
Erfahrung bekannt sind, oder die wir für etwas uns nach seiner Farbe
schon Bekanntes halten, sehen wir durch die Brille der Gedächtnisfarben
und deshalb vielfach anders, als wir sie ohne dieselbe sehen würden. Bei
der gewöhnlichen Flüchtigkeit des Sehens kann sogar die Gedächtnisfarbe
eines eben sichtbaren Dinges an die Stelle einer ganz anderen Farbe treten,
welche wir gesehen hätten, wenn jeder Anlass zur Reproduktion einer
Gedächtnisfarbe ausgeschlossen wäre, immer vorausgesetzt, dass wir der
Farbe nicht besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Große Fertigkeit besitzen
wir, die sogenannte wirkliche Farbe eines Dinges von den zufälligen Farben
desselben zu scheiden. So sondern sich für uns jene fein abgestuften
Schatten auf der Oberfläche eines Körpers, welche uiis die Wahrnehmung
seiner Form, seines Reliefs, seiner Entfernung mit vermitteln helfen, als
etwas Accidentelles von der Farbe der schattentragenden Fläche, und wir
meinen außer dem Dunkel des Schattens und durch ihn hindurch die »wirk-
liche« Farbe der Fläche zu sehen. Die an glatten Flächen auftretenden
Glanzfarben trennen sich in der Wahrnehmung gewissermaßen von den
»wirklichen« Farben der Fläche. Eine beschattete Stelle eines ebenen weißen
Blattes erscheint uns anders als ein grauer Fleck auf dem Papier, welcher
genau dieselbe Strahlung aussendet, wie die schattige Stelle ; ein heller Fleck
auf unserem Rocke ganz anders als eine zufällig stärker beleuchtete Stelle
desselben, und zwar auch dann, wenn die bezügliche Strahlung beidenfalls
dieselbe ist. Dies alles lässt sich leicht sehen, aber schwer beschreiben
(4, § 24).
Hänge ich z. B. an einen Coconfaden ein Papierschnitzel so auf, dass
es mittels einer passend angebrachten kleinen Glühlampe einen schwachen
Schatten auf mein Schreibpapier wirft, so sehe ich den Schatten als ein
zufällig auf dem Weiß liegendes Dunkel. Ziehe ich aber um den Kern-
schatten einen breiten schwarzen Strich, der den Halbschatten vollkommen
deckt, so sehe ich innerhalb des schwarzen Umrisses eine graue Stelle genau
so, wie wenn hier das weiße Papier mit Tusche grau gefärbt oder ein
Stück grauen Papiers mit schwarzem Rande auf das weiße Papier geklebt
wäre. Durch die Verdeckung des Halbschattens hat die dunklere Stelle
ein wesentliches Kennzeichen des Schattens verloren. Verschiebe ich nun
entweder das schattenwerfende Schnitzel oder das Papier ein wenig, so
verschiebt sich entsprechend der Schatten etwas gegen die schwarze Um-
randung, und dieselbe Stelle, die mir eben noch als ein graufarbiger
Fleck erschien, giebt mir sofort wieder den Eindruck eines beschatteten
Weiß. Es handelt sich dabei um ein wesentlich verschiedenes Sehen
und nicht etwa nur um unser Wissen von der Verschiedenheit der äußeren
Umstände.
Durch ein Loch im Fensterladen eines durch andere Fenster beleuch-
§ 4. Die Gedächtnisfarben. 9
teten Zimmers fällt das Sonnenlicht auf eine begrenzte Stelle meines
schwarzen Rockes: ich sehe einen grauen Fleck auf demselben und will
ihn abstauben. Sobald ich aber die Stelle etwas genauer betrachte, sehe
ich keinen Staubfleck mehr, sondern nur ein dem Schwarz des Rockes
aufliegendes Licht und bin selbst bei indirektem Sehen kaum im stände,
mir den ersten Eindruck wieder herzustellen. Oder ich gehe unter einem
dichten Laubdache einen Weg, auf dem an beschränkter Stelle durch eine
Lücke des Blätterdaches direktes Sonnenlicht fällt: im ersten Augenblicke
meine ich eine durch verschütteten Kalk weiß gefärbte Stelle zu sehen;
sobald ich aber genauer aufmerke, sehe ich kein Weiß mehr, sondern nur
ein auf dem graubraunen Boden liegendes Licht.
Man nehme am Fenster stehend in die eine Hand ein weißes, in die
andere ein graues Papier und halte dieselben bei kleinem gegenseitigen
Abstand zunächst horizontal nebeneinander. Beide Papiere sollen steif, ganz
eben, matt und undurchsichtig sein. Neigt man nun das graue Papier dem
Fenster zu, das weiße von demselben ab, so wird sehr bald das Netzhaut-
bild des grauen lichtstärker sein als das des weißen, aber obgleich man
die Helligkeitsänderungen bemerkt, sieht man doch das jetzt lichtstärkere
»wirklich« graue Papier noch grau und das jetzt lichtschwächere »wirklich«
weiße noch weiß. Betrachtet man jedoch die Papiere nur mit einem Auge
durch eine irgendwie fixierte Röhre, so gelingt es leicht, ihre Farben in
einer und derselben Ebene zu sehen, falls ihre beiden Bilder unmittelbar
und ohne Beschattung des einen aneinander grenzen, und von jedem Papier
nur noch ein Segment sichtbar ist. Jetzt sieht man das graue Papier heller
und das weiße dunkler, wie es einer Verschiedenheit der beiden Licht-
stärken entspricht. Die in beiden Fällen verschiedene Lokalisierungsweise
der Farbenflächen wirkt hier also mitbestimmend auf die gesehene Farbe.
Neigen wir ein graues oder weißes Papier abwechselnd dem Fenster zu
oder von ihm ab, so nehmen wir den sichtbar eintretenden Zuwuchs an
Weißlichkeit (Helligkeit) oder Schwärzlichkeit (Dunkelheit) der Fläche als
ein bloßes Accidens zu ihrer »wirklichen« Farbe; das weiße wie das graue
Blatt behält für uns die Farbe »die es wirklich hat«, wenn es auch zufällig
heller oder dunkler aussieht. Wir sehen also hier nicht die »wirkliche«
Farbe der Fläche sich ändern, wie dies der Fall ist, wenn auf der Fläche
aus irgendwelchem Grunde ein »Fleck« entsteht, sondern die der Fläche zu-
gehörige Farbe scheint uns fort zu bestehen, obwohl wir ihre Änderung that-
sächlich bemerken. In vielen Fällen wird sogar ein zufälliger Weißlichkeits-
oder Schwärzlichkeits- Zuwuchs einer Fläche als etwas von ihrer »wirk-
lichen« Farbe völlig Gesondertes gesehen: so z. B. wenn ein Schatten über
eine Fläche läuft oder ein bewegter spiegelnder Körper einen sich bewe-
genden Lichtfleck auf der Fläche erzeugt.
So sehen wir auch einen schlecht beleuchteten Winkel eines im übrigen
10 Lehre vom Lichtsinn.
gut beleuchteten Zimmers bedeckt oder erfüllt von einem Schwärzlichen,
hinter welchem wir das im Winkel Befindliche in seiner wirklichen Farbe
zu sehen meinen. Analoges gilt von allem, was sich im Hintergrunde eines
nur einseitig durch Fenster beleuchteten Zimmers befindet. Wenn es vollends
im Zimmer zu dämmern beginnt, legt sich ein zunehmendes Halbdunkel
zwischen uns und die entfernteren Dinge, durch welches hindurch wir die-
selben wie durch einen grauen Nebel sehen.
Das im Hintergrunde eines Zimmers Befindliche ist schlechter beleuchtet
als das in der Nähe des Fensters Liegende; dementsprechend müsste für
uns, wie man meinen könnte, die Farbe eines Dinges um so schwärzlicher
sein, je weiter es vom Fenster abliegt. Dies ist auch in deutlichster Weise
der Fall, wenn wir z. B. zwei ganz gleiche weiße Blätter in zureichend
verschiedener Entfernung vom Fenster hintereinander und parallel zu dessen
Fläche so aufstellen, dass wir durch eine dicht an ein Auge gehaltene Röhre
von beiden Papieren nur je ein halbkreisförmiges Stück und zwar beide in
derselben Ebene sehen; das eine erscheint dann weiß, das andere grau.
Betrachten wir aber die Papiere aus ganz demselben Standpunkte binokular
ohne Röhre, so sehen wir beide weiß.
Besonders belehrend ist folgender Versuch: Stelle ich mich mit dem
Rücken an ein Fenster, halte vor mich ein Stück matten dunkelgrauen
Papieres in vertikaler Lage und betrachte mit beiden Augen abwechselnd
dieses Papier und die dahinter liegende weißgetünchte Zimmerwand, so
erscheint mir letztere weiß, ersteres dunkelgrau, obwohl es wegen seiner
günstigeren Beleuchtung viel lichtstärker ist, als die Wand. Nun fixiere
ich, ohne die Lage des Papieres oder meines Kopfes irgendwie geändert
zu haben, mit nur einem Auge den oberen Rand des grauen Papieres und
bemühe mich die Farben des Papieres und der Wand in einer Ebene zu
sehen: jetzt erscheint mir allerdings die Wand dunlder als das Papier.
Sobald ich aber wieder nur die Wand betrachte, ohne gleichzeitig das
Papier besonders zu beachten oder umgekehrt, sehe ich wieder die Wand
weiß, das Papier dunkelgrau. Es lässt sich so einrichten, dass das graue
Papier bei einer bestimmten Lage genau dieselbe Lichtstärke hat, wie die
von ihm teilweise verdeckte Wand, was in der eben beschriebenen Weise
mit Hilfe einer Röhre leicht festgestellt werden kann. Trotzdem sehe ich
ohne Röhre bei abwechselnder binokularer Betrachtung der Wand und des
Papieres beide ganz verschieden, das näher erscheinende Papier grau, die
ferner erscheinende Wand weiß. Wenn ich aber den Rand des Papieres mit
nur einem Auge fest fixiere, und es mir gelingt, die Farbe der Wand in
derselben Ebene zu sehen wie die des Papieres, werden beide Farben
ganz gleich.
Mit der verschiedenen Lokalisierung geht also auch hier trotz ganz
gleicher Lichtstärke der beiden Flächen und unveränderter Stimmung des
§ 4. Die Gedächtnisfarben. 11
Auges ein verschiedenes Farbensehen einher. Bei alldem handelt es sich
nicht etwa um irgendwelche Erwägung der Beleuchtungsbedingungen, unter
welchen die gesehenen Dinge sich eben befinden, sondern darum, dass
der nervöse Apparat des Sehorganes im einen Falle anders auf genau
dieselbe Strahlung reagiert, als im anderen, weil durch Nebenumstände,
und zwar meist ebenfalls optische, beidenfalls verschiedene Reproduktionen
geweckt werden.
Dementsprechend werden die tonfreien Sehqualitäten auch verschieden
bezeichnet, je nachdem sie als Eigenschaften der Außendinge und als deren
> wirkliche« Farbe genommen werden, oder aber als etwas unabhängig
von der letzteren Bestehendes und für sie nur Accidentelles. Ersterenfalls
nennt man sie gewöhnlich weiß, grau, schwarz, letzterenfalls hell oder
dunkel, Licht oder Schatten bezw. Finsternis. Im allgemeinen giebt sich
der Mensch gar keine besondere Rechenschaft von der Farbe die er eben
sieht, er macht die Farben gar nicht zum Gegenstand besonderer Beachtung,
sondern er benutzt sie nur als Zeichen, an denen er die Dinge wieder
erkennt, und hierbei stellt sich ihm sofort auch die Gedächtnisfarbe der
wiedererkannten Dinge ein. Es giebt Kleiderstoffe, die im Tageslicht blau,
im Gas- oder elektrischen Glühlicht aber blaugrün aussehen, und es kommt
vor, dass der Träger eines derartigen Stoffes es sonderbar findet, wenn
man denselben bei künstlichem Lichte blaugrün nennt, da er selbst dies
noch gar nicht bemerkt hat; ja manche sehen ihn auch dann noch blau,
wenn man ihnen bereits gesagt hat, dass er blaugrün aussieht, obwohl sie
durchaus farbentüchtige Augen haben. Hierher gehört auch die That-
sache, dass, wenn man jemand nach der Farbe fragt, die er nachts bei
geschlossenen oder geöffneten Augen sieht, man fast ausnahmslos die
Antwort bekommt, dass ihm da alles schwarz erscheine. Dabei handelt es
sich nicht um eine Gedächtnisfarbe, sondern darum, dass der Gefragte sich
überhaupt noch nie davon Rechenschaft gegeben hat, was er unter den
erwähnten Umständen sieht, vielmehr von vornherein überzeugt ist, dass,
wo keinerlei Licht ist, nur Schwarz gesehen werden könne.
Die Mannigfaltigkeit der Thatsachen, an welchen sich der Einfluss der Er-
fahrung und der Gedächtnisfarben insbesondere, sowie der jeweiligen Art der
Lokalisierung auf das Farbensehen darlegen ließe, ist außerordentlich groß und
harrt noch einer umfassenden Darstellung. Dies gilt besonders von dem Ein-
flüsse der Art des räumhchen Sehens der Farben auf die letzteren. Denn ebenso
wie die Farben mitbestimmend werden können für die Lokahsierung nach der
Dimension der Tiefe (Abschattung und Luftperspektive), ebenso kann umgekehrt
die Art der Lokalisierung mitbestimmend werden für die Farben selbst. Hierbei
kommt mit in Betracht, daß die Farben, wie schon angedeutet wurde, nicht
nur flächenhaft, sondern auch raumhaft, d. h. als einen Raum nach allen drei
Dimensionen erfüllend gesehen werden können. Schlagende Beispiele liefert hier-
für ein durchsichtiger farbiger Glaswürfel, ein mit durchsichtiger farbiger Flüssig-
12 Lehre vom Lichtsinn.
keit gefülltes Glas oder ein Strahlkegel, welchen man mit Hilfe einer Sammellinse
in ein trübes oder ein klares, aber fluoreszierendes Medium wirft.
Einige in die Reihe der oben besprochenen gehörige Erschei-
nungen sind irrtümlich als Erscheinungen des Simultankontrastes
aufgefasst worden, mit denen sie nichts zu thun haben, worauf später
zurückzukommen sein wird. Hier galt es nur, an einigen Beispielen zu zeigen,
wie notwendig es ist, bei der Untersuchung des Lichtsinnes alles, was die Farben
unbeabsichtigter Weise zu beeinflussen und insbesondere die Sicherheit der Ver-
gleichung zweier Farben zu stören vermag, überall wo es erforderlich scheint,
soweit als möglich auszuschließen.
§ 5. Herstellung brauchbarer Farbenfelder. Eine ganz sichere
Vergleichung zweier Farben ist nur möglich, falls die Nebenumstände,
welche außer der Art und Stärke der beiden Strahlungen und der je-
weiligen Empfindlichkeit der bezüglichen Teile des Sehorganes auf die
Sehweise von Einfluss sein können, wenn auch nicht ausgeschlossen, so
doch für beide Farben ganz gleichwertige sind. Beide Farben sollen also,
abgesehen von ihrem Nebeneinander, in ganz analoger Weise lokalisiert
erscheinen, und jede der beiden Farben soll so völlig homogen sein, dass
sie an sich selbst keinerlei Verschiedenheiten zeigt und gar nicht als einem
bestimmten Außendinge angehörig, sondern nur als ein unabhängig von
einem bestimmten Träger für sich bestehendes ebenes oder raumfüllendes
Quäle gesehen wird. So lässt sich z. B. jede Hälfte des Gesichtsfeldes
eines Fernrohres in so gleichmäßiger Weise mit je einer tonfrei oder bunt
wirkenden Strahlung erleuchten, dass die beiden zu vergleichenden Farben
allen soeben gestellten Anforderungen entsprechen.
Benutzt man zur Herstellung eines Farbenfeldes Papier, so soll das-
selbe ganz eben sein, keinen Glanz haben und kein sogenanntes Korn zeigen.
Man macht das Papier dadurch eben, dass man es nach vorausgegangener
Befeuchtung über eine passend zugeschnittene Glasplatte spannt. Zeigt es
dann bei der gewünschten Sehweite noch ein Korn, so bringt man es in
größere Entfernung und stellt vor ihm in der gewünschten Sehw^eite einen
ebenen Papierschirm mit passend geformter Öffnung auf, für welche man,
eventuell mit Hilfe einer passenden Glashnse, das Auge akkommodiert: dann
wird bei passender Entfernung des durch die Öffnung hindurch sichtbaren
Papiers das Korn desselben untermerklich, und man sieht bei zweckmäßiger
Beleuchtung eine Farbenfläche von idealer Gleichartigkeit in der Ebene des
gelochten Schirmes.
Dasselbe Ziel erreicht man mit Hilfe des Farbenkreisels (vgl. § 16).
Infolge der raschen Rotation des Papiers verschwinden für das Auge alle
Unebenheiten und sonstige kleine Unregelmäßigkeiten, und nichts erinnert
mehr daran, dass wir ein bestimmtes Papier vor uns haben; der Unter-
schied zwischen der rotierenden und der unbewegten Papierscheibe ist oft
§ 6. Die angenäherte Farbenbeständigkeit der Sehdinge. 13
höchst überraschend. Alle zu solchen Versuchen benutzten Papiere sollen
so matt als möglich sein; glänzende Papiere sind nur unter ganz beson-
deren Umständen brauchbar.
Schöne Farbenfelder erhält man ferner durch bunte Gläser und Gelatine-
platten oder mit farbiger Flüssigkeit gefüllte Glasgefäße, welche aus Spiegel-
glasplatten zusammengesetzt sind. Dieselben werden hinter einem Schirm
mit rundem oder quadratischem Ausschnitt angebracht, und man blickt
durch letzteren auf einen hinter den farbigen Medien befindlichen gut be-
leuchteten, ganz ebenen weißen Schirm oder einen Spiegel, welcher einen
größeren Teil der klaren oder ganz gleichmäßig bewölkten Himmelsfläche
spiegelt. Bei sorgsamer Ausführung erhält man ein durchaus gleichartiges
Farben feld.
Endlich lassen sich, insoweit es sich um bunte Farben handelt, die
einzelnen Strahlungen des Spektrums zur Herstellung in sich ganz gleich-
artiger Farbenfelder verwenden. Entfernt man das Okular aus dem Fernrohr
eines gewöhnlichen Spektralapparates, setzt in die Gegend des Spektrums
eine Metallplatte mit einem feinen Spalte, dessen Schneiden in die Ebene
des Spektrums zu liegen kommen, und bringt das Auge dem Spalte mög-
lichst nahe, so sieht man die Fläche des Prismas in derjenigen Farbe
leuchten, welche dem in den Spalt fallenden Streifen des Spektrums eben
entspricht. Durch Drehung des GoUimators oder auch durch seitliche
Verschiebung des erwähnten Okularspaltes kann man sich alle einzelnen
Farben des Spektrums nacheinander in den feinsten Abstufungen zur An-
schauung bringen. Dem Farbenfelde giebt man eine kreisrunde Form da-
durch, dass man ein Diaphragma mit passender Öffnung nahe der Vorder-
fläche des Prismas anbringt. Man erhält jedoch auf diese Weise nur ein
kleines Farbenfeld, kann dasselbe aber, wenn nötig, mit Hilfe eines ent-
sprechenden Linsensystems vergrößern.
Der von mir benutzte Apparat gestattet die Herstellung eines Farbenfeldes,
welches auf eine Sehweite von 30 cm bezogen einen Durchmesser von 10 cm
hat, was einem Gesichtswinkel von etwa 19° entspricht.
§ 6. Die angenäherte Farben b'e ständigkeit der Seh-
dinge. Nicht um ein Schauen der Strahlungen als solcher handelt es
sich beim Sehen, sondern um das durch diese Strahlungen vermittelte
Schauen der Außendinge; das Auge hat uns nicht über die jeweilige Inten-
sität oder Qualität des von den Außendingen kommenden Lichtes, sondern
über diese Dinge selbst zu unterrichten. Dies vermag es freilich nur bei
einer zureichenden Beleuchtung derselben; die fortwährende Änderung dieser
Beleuchtung aber ist dazu nicht nur nicht erforderlich, sondern dieselbe
würde vielmehr dem Auge die Erfüllung seiner wesentlichen Aufgabe in
hohem Grade erschweren oder ganz unmöglich machen, wenn sie nicht
14 Lehre vom Lichtsinn.
durch ausgleichende Einrichtungen bis zu einem gewissen Grade unschädUch
gemacht würde. Diese ermöglichen es, dass wenigstens innerhalb gewisser
Grenzen der Beleuchtungsänderung die Außendinge ein ziemlich unverändertes
Aussehen bewahren, die weißen weiß, die grauen grau, die schwarzen
schwarz bleiben, so dass wir sie auch an der Farbe^ die sie uns hervor-
rufen, wiederzuerkennen vermögen (5, S. 335 — 38).
Wir schreiben, wie schon erörtert wurde, den Außendingen ganz be-
stimmte Farben zu, der Kreide die weiße, dem Schwefel die gelbe, der
Kohle die schwarze Farbe; wir sprechen von weißem Papier und von den
schwarzen Buchstaben einer Schrift. Die Farbe ist uns ein wesentliches
Attribut, eine ständige Eigenschaft dieser Dinge.
Bedenken wir dem gegenüber die großen alltäglich wiederkehrenden
quantitativen und qualitativen Verschiedenheiten der natürlichen oder künst-
lichen Beleuchtungen, bei denen ein deutliches Sehen möglich ist, so muss
es eigentlich überraschen, dass wir überhaupt die Farben als den Dingen
adhärierende und nicht als bloß accidentelle und daher einem fortwährenden
Wechsel unterworfene Eigenschaften nehmen, wie z. B. ihre Kälte, Kühle,
Wärme oder Hitze.
Das Papier eines Buches sehen wir bei jeder zum Lesen bequemen
Beleuchtung weiß und die Buchstaben schwarz, ebenso morgens, wie mittags
oder abends, und gleichviel ob wir bei blauem oder grauem Himmel oder
unter dem grünen Laubdache eines Waldes, ob wir bei Tageslicht, Gas-
licht, elektrischem Bogen- oder Glühlicht lesen. Die meisten bemerken selbst
große Verschiedenheiten zweier Beleuchtungen erst dann, wenn dieselben
nebeneinander oder rasch nacheinander zur Wirkung kommen.
Ich habe das Intensitätsverhältnis festgestellt, welches bei Tagesbe-
leuchtung zwischen dem vom >weißen« Papier und dem von den »schwarzen«
Buchstaben einer guten Druckschrift zurückgeworfenen Lichte besteht, und
dasselbe günstigen Falles beiläufig gleich 4 5:1 gefunden. Dies bedeutet
also, dass von der Flächeneinheit des unbedruckten Grundes nur 15 mal
soviel Licht zurückgeworfen wurde, als von der Flächeneinheit der Buch-
staben. Andererseits verglich ich einige Male die Intensität der Beleuchtung
meines Arbeitstisches am frühen Morgen, w^enn dieselbe zum ganz bequemen
Lesen eben zureichend war, mit der Beleuchtung desselben Tisches am
Mittag eines hellen Tages bei weißwolkigem Himmel und fand das Ver-
hältnis beiläufig gleich 1 : 50. Somit waren bei der Mittagsbeleuchtung
die schwarzen Buchstaben etwa dreimal lichtstärker als bei der Morgen-
beleuchtung das weiße Papier, und die Lichtstärke des letzteren betrug des
Morgens nur etwa 1/3 der Lichtstärke, welche die Buchstaben des Mittags
hatten. Trotz alledem aber erschienen bei der einen und bei der anderen
Beleuchtung die Buchstaben schwarz und das Papier w^eiß. Wäre die
Farbe oder, wie man hier auch sagen kann, die Helligkeit des Papiers und
§ 6. Die angenäherte Farbenbeständigkeit der Sehdinge. JL5
die Dunkelheit der Buchstaben nicht innerhalb weiter Grenzen unabhängig
von der Stärke der Beleuchtung, so hätten mir dieselben Buchstaben, welche
ich des Morgens schwarz sah, des Mittags weiß und sogar noch viel heller
erscheinen müssen als des Morgens das weiße Papier, oder es hätte mir
umgekehrt das »weiße« Papier des Morgens tiefer schwarz erscheinen
müssen, als des Mittags die Buchstaben.
Derartige Thatsachen kommen im Laufe eines jeden Tages zahllos zur
Beobachtung, aber eben weil sie alltäglich sind, werden sie als selbstver-
ständlich hingenommen. Es sei deshalb noch folgendes Beispiel für die
weitgehende Unabhängigkeit der Farbe von der allgemeinen Beleuchtung
angeführt, welches alle, denen ich es vorgeführt habe, in hohem Grade
überrascht hat, obwohl es um nichts merkwürdiger ist, als das soeben be-
sprochene Beispiel des weißen Papiers und der schwarzen Buchstaben.
Die eine Kathetenfläche des rechtwinkligen Holzprismas in einem
BouGUER'schen Photometer (Fig. 1) bedecke ich mit einem ganz ebenen,
nicht glänzenden braunen, die andere mit einem ebensolchen ultramarin-
blauen Papier, welche beide sorgfältig
für den Versuch ausgewählt worden ^^^' ^'
sind. Das braune Papier beleuchte
ich mittels eines Spiegels durch das
Licht der weißen Himmelsfläche, das
andere durch eine gewöhnliche Gas-
flamme oder eine Edisonlampe, wie
dies die Figur veranschaulicht. Durch
das vertikale Rohr des Photometers
betrachtet, erscheint bei passend ge-
wählter Intensität des künstlichen
Lichtes das »blaue« Papier genau ebenso wie das »braune«, d. h. ebenfalls
braun, weil in solchem Lichte die blauwirkenden Strahlen von den gelb-
wirkenden völlig übertönt werden. Schließe ich aber die Fensterladen, be-
leuchte das ganze Zimmer mit Gas- oder Edisonlampen und nehme beide
Papiere aus dem Apparat, so erscheint mir sofort das »blaue« Papier, ob-
wohl es nach wie vor von demselben künstlichen Lichte beleuchtet ist und
noch immer dasselbe Strahlgemisch in mein Auge schickt, nicht mehr braun,
sondern wieder blau, wie bei Tagesbeleuchtung, wenngleich dunkler, während
das »braune« Papier nach wie vor braun aussieht. Hierbei ist ganz gleich-
gültig, ob der Beobachter die »wirkliche« Farbe der Papiere kennt oder nicht.
Der Versuch zeigt, dass für unser Auge ein bei Tagesbeleuchtung blau
erscheinendes Papier auch bei der ganz andersartigen künstlichen Beleuch-
tung blau bleiben kann, obwohl es jetzt ein Strahlgemisch zurückwirft,
welches wir bei Tage auch nicht entfernt blau, sondern vielmehr braun
sehen. Hatten wir an dem mit schwarzen Buchstaben bedruckten weißen
Iß Lehre vom Lichtsinn.
Papier ein Beispi^ für die weitgehende Unabhängigkeit der ton freien Farhen
der Sehdinge von der Intensität der allgemeinen Beleuchtung, so haben
wir hier ein Beispiel für die weitgehende Unabhängigkeit einer bunten Farbe
eines Sehdinges von der Qualität der allgemeinen Beleuchtung.
Wenn wir im erwähnten Photometer die eine Hälfte eines bedruckten
Papiers mit 50mal stärkerem Tageslichte beleuchten, als die andere, so
sehen wir die erstere weiß mit schwarzen Buchstaben, die letztere schwarz
und ohne oder mit kaum erkennbaren Buchstaben ; sobald aber das ganze
Gesichtsfeld entweder mit dem starken oder mit dem schwachen Lichte
beleuchtet ist, erscheint beiderseits das Papier weiß, die Schrift schwarz.
Die angenäherte Konstanz der Farben der Sehdinge trotz großen quan-
titativen oder qualitativen Änderungen der allgemeinen Beleuchtung des
Gesichtsfeldes ist eine der merkwürdigsten und wichtigsten Thatsachen im
Gebiete der physiologischen Optik. Ohne diese angenäherte Konstanz würde
uns ein Stück Kreide an einem trüben Tage dieselbe Farbe zeigen, wie ein
Stück Kohle an einem sonnigen Tage, und im Laufe eines Tages würde es
alle möglichen zwischen schwarz und weiß liegenden Farben annehmen
müssen. Ebenso würde eine unter grünem Laubdache gesehene weiße Blume
dieselbe Farbe zeigen, wie ein grünes Baumblatt unter freiem Himmel, und
ein bei Tageslicht weißer Zwirnknäuel müsste bei Gaslicht die Farbe einer
Orange zeigen. Wenn sich in dieser Weise die Farben der Außendinge den
Änderungen der Beleuchtung entsprechend fortwährend ändern würden, so
w^ürde es gar nicht dazu kommen, dass die einzelnen Dinge be-
stimmte Farben für uns haben, welche wir als wesentliche
Eigenschaften derselben auffassen und als ihre wirklichen
Farben bezeichnen, vielmehr würden wir der Kreide oder der Kohle
das Weiß bezw. Schwarz ebensowenig als ein ständiges Attribut beilegen,
wie dem Eisen das Kalt oder Warm, welches uns von demselben je nach
seiner wechselnden Temperatur erzeugt und von uns als eine nur zufällige
Eigenschaft desselben genommen wird. Die Gedächtnisfarben würden
also gar nicht entstehen können (5, S. 338).
Dann könnte uns zwar die jeweilige Farbe, in der uns ein
bestimmtes Ding erscheint, zu einem Merkmal für die Intensität
oder Qualität seiner Beleuchtung werden, nicht aber zu einem
Merkmal des Dinges selbst. Nur weil innerhalb der zu einem bequemen
Sehen brauchbaren Beleuchtungen der Ruß stets schwarz, das Mehl stets
weiß aussieht, werden diese Farben für uns zu einem ständigen Merkmal
jener Dinge. Auf die Beleuchtung selbst aber pflegen wir gar nicht zu
achten, so lange dieselbe ein deutliches Sehen gestattet und nicht zu schwach
oder aber blendend ist.
Indem wir vorerst von den qualitativen Änderungen der allgemeinen
Beleuchtung und den bunten Farben ganz absehen, wollen wir uns nun
§ 6. Die angenäherte Farbenbeständigkeit der Sehdinge. 17
fragen, wie die angenäherte Konstanz der tonfreien Farben der Seh-
dinge trotz der fortwährend sich ändernden Stärke der Beleuchtung er-
müghcht wird.
Schon das äußere Auge besitzt in der Iris eine Anpassungsvorrichtung.
Jede Verkleinerung oder Vergrößerung der Pupillenfläche bedingt eine direkt
proportionale Verminderung oder Vermehrung des zur Netzhaut gelangenden
Lichtes, bedeutet also für das innere Auge dasselbe, wie eine gleichgroße
Abnahme oder Zunahme der Beleuchtungsstärke der Außendinge. Da nun
die Pupille sich verkleinert, wenn die Stärke der Beleuchtung wächst, und
sich vergrößert, wenn letztere abnimmt, so folgt, dass die bleibende Änderung
der Lichtstärke des Netzhautbildes kleiner sein wird, als die vorher-
gegangene Änderung der Beleuchtung des Gesichtsfeldes. Indessen findet
ein derartiger teilweiser Ausgleich der Beleuchtungsänderungen durch die
Pupille nicht entfernt so ausgiebig statt, dass sich schon hieraus das an-
genäherte Gleichbleiben der tonfreien Farben innerhalb der Grenzen der
zum deutlichen Sehen brauchbaren Beleuchtungsstärken ableiten ließe.
Vielmehr ist das wesentliche Mittel, die Farben der Sehdinge trotz dem
Wechsel der Beleuchtung des Gesichtsfeldes angenähert konstant zu er-
halten, in den Änderungen der Empfindlichkeit des Auges gegenüber dem
Lichte gegeben , wodurch sich das Sehorgan jeder innerhalb gewisser
Grenzen bleibenden Stärke der Gesamtbeleuchtung seiner Netzhaut derart
anzupassen vermag, dass selbst große Änderungen der Beleuchtung, wenn
sie nicht allzuschnell erfolgen, nur verhältnismäßig geringe Änderungen der
Farben der Dinge herbeiführen.
Diese Selbststeuerung der Lichtempfindlichkeit wird durch zwei ver-
schiedene Einrichtungen vermittelt, einerseits durch die Wechselwirkung der
somatischen Sehfeldstellen (vgl. § 7 u. 21), andererseits dadurch, dass das
innere Auge sich durch eine allmähliche Änderung seines Zustandes mit jeder
andauernden Gesamtbeleuchtung, sei dieselbe schwach oder stark, in eine Art
Gleichgewicht zu bringen vermag, vermöge dessen die Durchschnittshellig-
keit im Sehfelde immer wieder ungefähr dieselbe wird. Inwieweit dies
durch Änderungen der Aufnahmsfähigkeit des Empfangsorganes und inwie-
weit es durch eine anhaltende Zustandsänderung der Sehsubstanz (vgl. § 7)
selbst ermöglicht werden kann, wird später zu erörtern sein.
AüBERT (6) hat zuerst die allmähliche Anpassung der Lichtempfind-
lichkeit an die Beleuchtungsstärke eingehender untersucht und Adaptation
benannt. Ich habe dieselbe als successive oder Dauer-Anpassung bezeichnet
zum Unterschiede von der durch die Wechselwirkung der Sehfeldstellen ver-
mittelten Anpassung.
Diese Wechselwirkung besteht darin, dass die jeweilige Regung jedes
einzelnen somatischen Sehfeldelementes (vgl. § 7) mitbestimmend ist für
die Lichtempfindlichkeit der übrigen, und dass umgekehrt auch seine eigene
Hering, Lichtsinn. 2
j^g Lehre vom Lichtsinn.
Lichtempfindlichkeit von den gleichzeitigen Regungen der übrigen Elemente
mit abhängt. So kommt es, dass die durch das Licht in einem Sehfeld-
elemente hervorgerufene Änderung schon während ihrer Entstehung und in
dem Maße, als sie unter dem Einflüsse des Reizes sich entwickelt, um-
stimmend auf das übrige somatische Sehfeld wirkt und dessen Lichtempfind-
lichkeit mindert. Auf diese Weise wird die Lichtempfindlichkeit einer Seh-
feldstelle zu einer Funktion der Gesamtbeleuchtung der Netzhaut und
insbesondere um so kleiner, je stärker diese Beleuchtung ist.
Die durch diese Wechselwirkung bedingte Anpassung der Lichtempfind-
lichkeit vollzieht sich also nahezu gleichzeitig mit der Änderung der Be-
leuchtung, weshalb ich sie als simultane oder Moment- Anpassung benannt
habe, während die successive Anpassung das Fortbestehen einer stärkeren
bezw. schwächeren Beleuchtung zur Voraussetzung hat, daher man diese
Art der Anpassung auch als Ermüdung bezw. Erholung bezeichnet hat.
Wir können somit sagen, dass das Sehorgan sich der verschiedenen
Stärke der im Außenraume herrschenden Beleuchtung in dreifacher Weise
anzupassen vermag, und können eine Anpassung des äußeren Auges
mittels der Änderungen der Pupillenweite und eine Anpassung des
inneren Auges unterscheiden. Die letztere aber erfolgt in doppelter
Weise, erstens durch die Wechselwirkung der somatischen Sehfeldstellen
aufeinander und zweitens durch die Zustandsänderungen, welche das innere
Auge infolge andauernd stärker oder schwächer gewordener Gesamt-
belichtung der Netzhaut erfährt (Adaptation nach Aubert).
Da Aübert's bezügliche Untersuchungen sich darauf beschränkten, die
allmähliche Steigerung der Lichtempfindlichkeit nach dem Übertritt aus
einem beleuchteten in ein gänzlich lichtloses Dunkel-Zimmer festzustellen,
so gewöhnte man sich, unter Adaptation nur die Zunahme der Lichtempfind-
lichkeit im Finstern zu verstehen, obwohl sicher schon Aubert den Begriff
der Adaptation weitergefasst wissen wollte. Ich habe deshalb seinerzeit
der Dunkeladaptation die Helladaptation gegenübergestellt. Ausgehend
von der maximalen Lichtempfindlichkeit, welche das Auge während einer
finsteren Nacht annimmt, kann man von einer bis zu Mittag wachsenden
Helladaptation, und ausgehend von der kleinen Lichtempfindlichkeit, welche
sich bei maximaler Tagesbeleuchtung eingestellt hat, von einer bis in die
Nacht hinein zunehmenden Dunkeladaptation sprechen.
Handelt es sich nicht um den Vorgang der Anpassung, sondern um
den Zustand, in welchem sich das Auge infolge einer successiven Anpas-
sung eben befindet, so verstehe ich unter einem helladaptierten Auge ein
solches, welches für irgendeine zum deutlichen Sehen der Außendinge
brauchbare Beleuchtungsstärke angepasst ist, gleichviel wie stark oder
schwach die letztere im übrigen ist; unter einem dunkeladaptierten Auge
aber eines, das für eine zum deutlichen Sehen, wie z. B. zum bequemen
§ 6. Die angenäherte Farbenbeständigkeit der Sehdinge. 19
Lesen, unzureichende Beleuchtung angepasst ist, wobei es zwar noch
Außendinge zu unterscheiden, aber nicht mit der Deuthchkeit zu sehen ver-
mag, wie ein für eine brauchbare, stärkere Beleuchtung angepasstes.
In der letzten Zeit ist das Wort Adaptation vielfach in einem so engen Sinne
gebraucht worden, dass es sich zur Bezeichnung dessen, was ich hier als An-
passung des Auges für die jeweilige Beleuchtung benannt habe, gar nicht mehr
eignen würde. Man hat gesagt, der dem stäbchenlosen centralen Netzhautgebiete
entsprechende Teil des somatischen Sehfeldes besitze überhaupt kein Adaptations-
vermögen. Indem man auf diese Weise den für das Sehen wichtigsten Teil des
Sehfeldes ausschloss, ließ man die Adaptation nur noch für das indirekte Sehen
gelten, und schließlich bedeuteten für einzelne Autoren die verschiedenen Adap-
tationszustände nur noch einen verschiedenen Gehalt der Stäbchen an Sehpurpur,
d. h. man glaubte, abgesehen von der Pupille, aus den Änderungen des Purpur-
gehaltes der Stäbchen die ganze Anpassung des Auges an die Beleuchtungsstärke
des Gesichtsfeldes erklären zu können.
Durch das Zusammenwirken der besprochenen Regulierungsvorrichtungen
oder Selbststeuerungen werden die Farbenänderungen im Sehfelde in viel
engeren Grenzen gehalten als wie solche den Intensitätsänderungen der Be-
leuchtung gezogen sind; die Farbe, in der uns ein Außending erscheint,
bekommt abgesehen von den Grenzfällen eine gewisse Ständigkeit und wird
in unserem Gedächtnis zu einem bleibenden, integrierenden Bestandteil des
Dinges. Haben sich auf diese Weise die Gedächtnisfarben der Dinge ge-
bildet, so werden sie weiterhin ihrerseits von Einfluss auf die Art unseres
Sehens, und zu den soeben beschriebenen physiologischen Faktoren, welche
neben den eben wirkenden Strahlungen die Farbe der Sehdinge bestimmen,
gesellt sich also noch einer, den man nach der üblichen Terminologie als
einen »psychologischen« insofern bezeichnen könnte, als er auf bereits ge-
sammelten, in der nervösen Substanz fixierten individuellen Erfahrungen
beruht, während die erwähnten physiologischen Regulierungs-
vorrichtungen schon beim Erwerb dieser Erfahrungen in Funk-
tion sind und diese Erfahrungen erst mit ermöglichen.
Was ich in § 4 über den Einfluss der Gedächtnisfarben mitgeteilt
habe, könnte zu der Ansicht verführen, dass die angenäherte Konstanz der
Farben, die ich soeben auf physiologische Regulierungsvorrichtungen oder
Anpassungen zurückgeführt habe, überhaupt nur das Ergebnis einer »psycho-
logischen« Anpassung an die verschiedenen Beleuchtungen des Außenraumes
sei. W^enn wir z. B. den unbedruckten Saum eines im Hintergrunde des
Zimmers hängenden Kupferstiches nicht dunkelgrau sondern weiß sehen,
obwohl seine Lichtstärke vielleicht kleiner ist als diejenige eines in der
Nähe des Fensters befindlichen und uns dunkelgrau erscheinenden Papieres,
und wenn wir also im stände sind, die mit der Entfernung vom Fenster
zunehmende Schattigkeit oder Abnahme der Beleuchtungsstärke bei der Art
unseres Sehens gleichsam mit einzurechnen, so könnte man meinen, dasg
2*
20 Lehre vom Lichtsinn.
wir auch im stände seien, die im Laufe eines Tages eintretenden Zu- oder
Abnahmen der Gesamtbeleuchtung mit einzurechnen und die »wirklichen«
Farben der Dinge danach »abzuschätzen«.
Helmholtz war solcher Ansicht, und dieselbe ist in seiner Schule die
herrschende. Je Jnach der Art und Stärke der wirklichen oder auch ver-
meintlichen allgemeinen Beleuchtung sollen wir einen verschiedenen Maßstab
an unsere Lichtempfmdungen legen und danach die Farben der Außendinge
bemessen. Die Farbe, in welcher wir ein Ding sehen, soll also, gleichen
»Ermüdungszustand« des Sehorganes vorausgesetzt, ein Ergebnis dieser
Bemessung und deshalb bei gleicher »Intensität oder Qualität der Licht-
empfmdung« eine verschiedene, bei verschiedener »Empfmdungs-Intensität
oder Qualität« die gleiche sein können. Nicht die Art und das Ausmaß
der physischen Regungen der Sehsubstanz des inneren Auges soll hier das
Bestimmende für die im Sehfeld erscheinenden Farben sein, sondern ein
unbewusster Schluss, welchen wir aus der Intensität der allgemeinen Be-
leuchtung auf die »Körperfarben« ziehen.
Da wir jedoch nur auf Grund der Farben, in welchen wir die
Dinge sehen, zur Kenntnis der Beleuchtungsintensität als des angeblichen
Maßstabes unserer Abschätzungen kommen könnten, andererseits aber
eben diese Farben erst das Ergebnis dieser Abschätzungen sein sollen,
so bewegt sich die soeben geschilderte Auffassung in einem unfruchtbaren
Zirkel.
Dass die Art, in welcher wir die Außendinge sehen, in zuweilen über-
wältigender Weise durch unsere Erfahrung mitbestimmt wird, ist freilich
richtig; aber man darf nicht diejenigen angeborenen Funktionen des
Sehorganes, auf Grund deren diese Erfahrungen erst erworben
worden sind, selbst wieder als ein Produkt der Erfahrung hin-
stellen. Dies thut man aber, wie noch weiter gezeigt werden wird, wenn
man insbesondere die auf der Simultananpassung beruhenden Thatsachen
aus einem erworbenen, auf unbewussten Schlüssen und Urteilen beruhenden
»psychologischen« Anpassungsvermögen zu erklären versucht.
§ 7. Die Farben als psychische Korrelate der physischen
Regungen der Sehsubstanz. In einem für Ärzte geschriebenen Werke
braucht nifht weiter auseinandergesetzt zu werden, warum wir annehmen,
dass das Sehen, als ein psychisches Geschehen^ stets begleitet ist von
einem physischen Geschehen in der nervösen Substanz des inneren Auges,
und dass jeder Farbe eine bestimmte Regung des letzteren entspricht, welche
wir als das somatische Korrelat der Farbe bezeichnen können. Alles
Sehen ist also für den Physiologen gleichsam der psychische Ausdruck der
Regungen in der Sehsubstanz des inneren Auges^ wenn wir unter dieser,
wie ich dies seinerzeit gethan, den physischen Träger derjenigen Vorgänge
§ 7. Die Farben als psychische Korrelate der Regungen der Sehsubstanz. 21
verstehen, mit welchen die Farben als psychische Phänomene unmittel-
bar gegeben sind (4, § 25)^).
Den einzelnen Elementen des psychischen Sehfeldes als der Ge-
samtheit der jeweiligen aus den Farben bestehenden Sehdinge entsprechen
die korrelativen nervösen Elemente des inneren Auges, welche wir in ihrer
Gesamtheit als das somatische Sehfeld benennen können; den ein-
zelnen Elementen dieses somatischen Sehfeldes entsprechen die zugeordneten
Elemente der Stäbchen- und Zapfenschicht als der Trägerin des Netzhaut-
bildes; den einzelnen Elementen des jeweiligen Netzhautbildes entsprechen
die Einzelteile des Gesichtsfeldes oder Gesichtsraumes, wie ich den
jeweihgen Komplex der sichtbaren wirklichen Dinge im Gegensatze zum
psychischen Sehfeld oder Sehraum genannt habe. So ergiebt sich also
eine Kette von Relationen, an deren einem Ende das Farbengebilde oder
Sehding, am anderen das wirkliche Außending steht. Wir haben die Auf-
gabe, die Gesetze aller dieser Relationen oder funktionellen Zusammenhänge
möglichst festzustellen; mit anderen Worten: wir haben für all die ver-
schiedenen Sehqualitäten oder Farben die äußeren und inneren Bedingungen
aufzusuchen, unter denen sie zur Erscheinung kommen.
Der Zusammenhang zwischen den Außendingen und ihrem Netzhaut-
bilde ist uns Dank der hochentwickelten Dioptrik des Auges in allen Einzel-
heiten ziemlich genau bekannt. Über die Beziehungen zwischen dem Netz-
hautbilde als einem Komplexe räumlich verteilter Lichtenergien und den
Vorgängen in der Stäbchen- und Zapfenschicht als dem Empfangsorgane
oder Empfänger des inneren Auges haben uns die Entdeckungen des Seh-
purpurs, der Netzhautströme und der morphologischen Änderungen in der
Netzhaut durch Licht viel wichtiges gelehrt; doch über den Zusammenhang
zwischen diesen Vorgängen und den Regungen der Sehsubstanz giebt es
nur Vermutungen. Was endlich die Relationen zwischen diesen Regungen
und den jeweiligen Farben des Sehfeldes betrifft, so sind sie, weil es sich
hier nicht mehr um Beziehungen zwischen Physischem und Physischem,
sondern zwischen Physischem und Psychischem handelt, ganz anderer
Art und einer Feststellung um so schwerer zugänglich, als uns nur das
eine Glied dieser Beziehung, nämlich die ins Bewusstsein getretene Farbe
bekannt ist, während wir über das andere Glied, nämlich über die sogen,
psychophysischen Vorgänge in der Sehsubstanz, mit denen die Erscheinung
der Farbe unmittelbar verknüpft ist, nur Hypothesen machen können.
Ohne hier dem großen Rätsel des Zusammenhanges zwischen »Leib und
Seele« näher treten zu wollen, darf ich doch daran erinnern, dass diese »psycho-
physischen« Prozesse nicht als das Endglied der nervösen Regungen anzusehen
i) Später hat W. Kühne den Sehpurpur und andere lichtempfindliche Stoffe
des Sehepithels der Netzhaut als Sehstoffe bezeichnet, was dann zu einer Ver-
wechslung dieser Stoffe mit der Sehsubstanz im oben definierten Sinne geführt hat.
22 Lehre vom Lichtsinn.
sind, welche sich an die Reizung der Netzhaut anschheßen. Man dürfte sich
nicht vorstellen, dass mit ihnen das somatische Geschehen ein Ende finde, und
dafür ein psychisches Geschehen beginne, welches dann seinerseits wieder soma-
tische, z. B. motorische Vorgänge veranlassen könne, hi die Kette »materieller«
Hirnprozesse lässt sich, vom Standpunkte der Physiologie, nicht ein »immaterielles«
GHed eingeschoben denken. Deshalb sollte man auch nicht jene psychophysischen
Prozesse als die »terminalen« bezeichnen und sagen, dass sich dieselben »in
Empfindungen umsetzen«. Denn ein physischer Prozess kann sich wohl in einen
anderen physischen, nicht aber in einen psychischen umsetzen. Eine ununter-
brochene Reihe somatischer Vorgänge verbindet z. B. die durch ein starkes Licht
in der Netzhaut bewirkte Änderung mit den Muskelkontraktionen, durch welche
die schützende Hand vor das geblendete Auge geführt wird; dass mit all dem
ein psychisches Geschehen, ein Empfinden und Wollen einhergeht, darf den
Physiologen in dieser Annahme nicht beirren.
An die vom Lichte in den peripheren Endgliedern des nervösen Netzhaut-
apparates veranlassten Regungen knüpfen sich weiterhin unter Vermittelung des
Sehnerven die Regungen des Gehirnes, und wie schon in dem verwickelten
Nervensystem der Netzhaut »ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«, so noch
viel mehr im Gehirn. Wo aber schließlich in unserem Nervensystem diese
somatischen Regungen als eigentlich terminale ausklingen, davon erfahren wir
nur dann etwas, wenn der motorische oder sekretorische Apparat irgendwie
und irgendwo davon in merkliche Mitleidenschaft versetzt wird.
Es sei hier ein Gleichnis gestattet. Von dem vor einem Spiegel befind-
lichen Dinge erstrecken sich keine wirklichen Strahlungen bis zu dem hinter
dem Spiegel erscheinenden Bilde des Dinges, keine Kette physischer Vorgänge
verbindet das Ding mit seinem Spiegelbilde und die »terminalen Prozesse«,
in welchen die von dem Dinge ausgehende strahlende Energie als solche ihr
Ende findet, liegen diesseits des Spiegels. Und wie sich diese Energie nicht
hinter dem Spiegel in das dort erscheinende Bild umsetzt, ebensowenig setzt
sich die somatische Regung unserer Sehsubstanz irgendwie um in psychische
Regung. Solches anzunehmen scheint mir nicht besser, als die gespiegelten
Dinge hinter dem Spiegel zu suchen.
W^ohl dürfen wir ferner das Nervensystem insbesondere als den Träger der
Vorgänge betrachten, welche wir uns als die somatischen Begleiter des psychischen
Lebens denken, aber voreilig wäre es, nur die Hirnrinde als den Ort der »psycho-
physischen Prozesse« gelten zu lassen und alles übrige und hier insbesondere die
Netzhaut auszuschließen. Denn dass Einer auch nach Verlust der Netzhäute
noch optische Empfindungen haben kann, schließt nicht aus, dass unter nor-
malen Umständen auch die Regungen der Netzhaut zum somatischen Korrelat
der Gesichtsempfindungen gehören und also psychophysisch mitfungieren.
Aus dem oben Gesagten erklärt sich, dass man sich bisher bei der
Untersuchung des Lichtsinnes im wesentlichen darauf beschränken musste,
die Regeln festzustellen, nach welchen die jeweiligen Farben im Sehfelde
abhängen von der Beschaffenheit sowie von der räumlichen und zeitlichen
Verteilung der die Netzhaut treffenden Strahlungen, und aus diesen Regeln
einige Wahrscheinhchkeitsschlüsse auf die Bedeutung der bisher bekannt
gewordenen Änderungen zu machen, welche im Sehepithel durch das Licht
herbeigeführt werden. Gegeben sind uns also bei der Aufsuchung jener
§ 8. Grundsätze für die Ordnung der Farben. 23
Regeln einerseits die Farben als Sehqualitäten im oben (§ 2) definierten
Sinne, andererseits die von den Physikern angenommenen Ätherschwingungen
oder Strahlungen, insoweit dieselben optisch wirksam sind. Wir haben
es dabei, abgesehen von besonderen und fast ausschließhch künstlich
herbeigeführten Fällen nicht mit einfachen (homogenen), sondern mit zu-
sammengesetzten Strahlungen oder Strahlgemischen zu thun. Jedes
solche Strahlgemisch lässt sich in gewissem Sinne als aus einer Anzahl ein-
facher, durch ihre Schwingungszahl bestimmter Strahlungen zusammen-
gesetzt auffassen, deren Einzelenergien in bestimmtem Verhältnis zu einander
stehen. Dieser Mannigfaltigkeit der Strahlgemische, in welcher die einfache
oder homogene Strahlung als besonderer Fall erscheint, steht nun die
Mannigfaltigkeit der Farben gegenüber, und es erwächst uns also zunächst
die Aufgabe, welche die Physik betreffs der hier in Betracht kommenden
optischen Strahlungen bereits erfüllt hat, auch für die Mannigfaltigkeit der
Farben zu erfüllen und festzustellen, ob und welche Variablen sich in der-
selben feststellen lassen. Daher gilt es, die Farben oder Sehqualitäten auf
alle ihre unterscheidbaren Eigenschaften genau zu untersuchen, um sie nach
diesen ihren Merkmalen, ihren gegenseitigen Ähnlichkeiten und Verschieden-
heiten ordnen zu können, wie der Physiker die verschiedenen Strahlungen
längst nach ihren Variablen geordnet hat. Erst dann wird es möglich
sein, die Regeln oder Gesetze festzustellen, nach welchen die einzelnen
Variablen der Farben von den einzelnen Variablen der Strahlgemische ab-
hängig sind. Wie sich für die Physik aus der vergleichenden Untersuchung
der verschiedenen Strahlungen die Eigenschaften ergeben haben, bezüglich
welcher sie untereinander vergleichbar und mit Hilfe deren die einzelnen
Strahlungen eindeutig definierbar sind, so ergeben sich aus der vergleichenden
Untersuchung der Farben die Merkmale, bezüglich deren eine Vergleichung
bezw. Unterscheidung und eine Definition der einzelnen Farben möglich ist.
Seit ich vor mehr als 30 Jahren (4, § 38), insbesondere gegenüber der
von Helmholtz gegebenen Darstellung, eine ohne Rücksicht auf die jeweiligen
Entstehungsbedingungen der Farben durchzuführende, lediglich auf die Eigen-
schaften der Farben selbst gegründete Analyse und Ordnung derselben als eine
unentbehrliche Grundlage der Lehre von den Gesichtsempfindungen hingestellt
habe, hat diese Auffassung trotz anfänglichem Einspruch seitens verdienter
Autoritäten ziemlich allgemeine Geltung gewonnen; aber ihre prinzipielle Aner-
kennung hat nicht verhüten können, dass sie bei der Erörterung der Einzelheiten
immer wieder außer acht gelassen wird.
II. Absclinitt.
Das natürliche Farbensystem.
§ 8. Grundsätze für die Ordnung der Farben. Wenn es gilt,
die große Mannigfaltigkeit der Farben zu ordnen, um eine systematische
24 Lehre vom Lichtsinn.
Übersicht über dieselben und Bezeichnungen für sie derart zu gewinnen,
dass für jede einzelne in möglichst bestimmter Weise ein dem Leser ver-
ständhcher Ausdruck gegeben wird, welcher ihm ermöglicht, sich eben
diese Farbe mit einiger Genauigkeit innerlich zu reproduzieren, so ist er-
forderlich, dass wir zunächst ganz und gar von den Ursachen und Be-
dingungen ihrer Entstehung absehen. Nur die Farben selbst dürfen das
für ihre systematische Gruppierung Maßgebende sein, nicht aber z. B. die
physikalische BeschafTenheit der Strahlungen in qualitativer (Schwingungs-
dauer) oder quantitativer (Schwingungsamplitude) Hinsicht. Denn es kann,
wie schon gesagt, genau dieselbe Strahlung je nach den Umständen uns
bald diese, bald jene Farbe erwecken, und andererseits kann unter der
Wirkung ganz verschiedener Strahlungen genau dieselbe Farbe gesehen
werden, wofür später noch zahlreiche Beispiele anzuführen sein werden.
Da der Sehende meist nicht genauer auf die Farben als solche, sondern
nur auf die Dinge achtet, welche ihm als Träger der Farbe erscheinen, so
fehlt den Meisten die unerlässliche Vorbedingung für ein entgegenkommendes
Verständnis einer systematischen Farbenanalyse, nämlich die auf eigene,
besonders geübte Beobachtung sich gründende Erfahrung. So kommt es
z. B., dass es Vielen nicht möglich ist, genauer anzugeben, in welcher Be-
ziehung zwei einander nahe stehende Farben voneinander verschieden sind,
auch wenn deren Ungleichheit deutlich bemerkt wird. Die Methoden, mit
Hilfe deren eine gegebene Farbe nach allen hier in Betracht kommenden
Beziehungen stetig abgeändert oder durch eine zusammenhängende Reihe
von Übergängen in eine beliebige andere Farbe übergeführt werden kann,
sind nur Wenigen geläufig oder überhaupt zugänglich. Denn es handelt sich
bei der Analyse der Farben nicht, wie missverständlich gesagt worden ist,
um »innere Anschauung« oder »innere Beobachtung«, sondern im Gegenteil
darum, dass man sich Gelegenheit schafft, die Farben, sei es einzeln, sei
es zu mehreren nebeneinander vor sich zu sehen und ebenso zum Gegen-
stande »äußerer« Beobachtung und Vergleichung zu machen, wie andere
Außenobjekte der Beobachtung z. B. die Form der Sehdinge.
Da alle Einteilungsgründe für die Mannigfaltigkeit der Farben lediglich den
letzteren selbst zu entnehmen sind, so dürfen wir auch nicht, wie dies z. B.
noch Helmholtz gethan hat, »einfache« und »zusammengesetzte« Farben in
dem Sinne unterscheiden, dass wir unter ersteren diejenigen verstehen, welche
durch die verschiedenen Arten homogener Strahlungen erweckt werden, unter
»zusammengesetzten« aber diejenigen »Farbenempfmdungen«, welche uns ent-
stehen, »wenn eine und dieselbe Stelle der Netzhaut gleichzeitig von Licht
zweier oder mehrerer verschiedener Grade der Schwängungsdauer getroffen
wird« (2, S. 275 u. 3H). Wenn einerseits jeder Wellenlänge bezw. Schwingungs-
dauer der Strahlung eine ganz bestimmte Fai'be entspräche, wie dies freilich in
den Lehrbüchern der Physik meist angenommen wird, und wenn andererseits
durch zusammengesetzte Strahlungen nie Farben hervorgerufen würden, welche
auch durch einfache Strahlungen veranlasst werden können, so ließe sich die
§ 9. Die Reihe der tonfreien Farben. 25
Einteilung der Farben in die durch einfache und die durch zusammengesetzte
Strahlungen hervorgerufenen wenigstens einigermaßen rechtfertigen. Diese Voraus-
setzungen treffen aber auch nicht entfernt zu.
Wie schon eingangs erwähnt wurde, lassen sich die Farben in zwei
große Gruppen scheiden. Rot, Gelb, Grün, Blau und die Übergänge zwischen
je zweien dieser Sehqualitäten nannte Helmholtz Farben töne. Gleichviel ob
eine Farbe einen dieser Töne in ausgesprochener Weise oder nur andeutungs-
weise zeigt, immer können wir dieselbe als eine getönte oder bunte
Farbe von jenen Farben unterscheiden, welche keine Spur eines Farben-
tones zeigen. So erhalten wir also einerseits die Gruppe der getönten oder
bunten Farben, andererseits die Gruppe der tonfreien F^'arben, welche
sämtliche schwarze, graue und weiße Farben umfasst. Man hat diese beiden
Gruppen seither als farbige und farblose Gesichtsempfmdungen unterschieden.
Die Lehre von den tonfreien Farben hat man im engeren Sinne als
die Lehre vom Lichtsinne, die Lehre von den bunten Farben als die
Lehre vom Farbensinne bezeichnet.
Ich beginne mit der Betrachtung der tonfreien Farben.
§ 9. Die Reihe der tonfreien Farben. Sämtliche tonfreien Farben
lassen sich in einer Reihe derart angeordnet denken, dass an den einen
Endpunkt das reinste zur Anschauung zu bringende Schwarz, an den andern
das reinste uns vorkommende Weiß zu liegen käme, während dazwischen
alle möglichen Dunkelheits- bezw. Helhgkeitsstufen das Schwarz, Grau-
schwarz, Schwarzgrau, Grau, Weißgrau, Grauweiß und Weiß sich in stetiger
Folge aneinander reihen. Nach ihren beiden Endfarben kann man diese
tonfreie Reihe auch als die schwarz-weiße Farbenreihe benennen.
Man lege auf ein Fensterbrett das schönste mattweiße Papier, welches
man herstellen kann, und auf das Papier ein auf der einen Seite versilbertes
Deckgläschen, welches eine ganz reine Spiegelfläche darbietet. Stellt man
sich dann so vor das Fenster, dass sich in dem Deckglase eine gleichmäßig
helle Stelle des Himmels für das Auge spiegelt, so sieht man auf dem
Papiere ein kleines quadratisches Feld, dessen Weiß noch außerordentlich
viel reiner erscheint als das des Papieres, welches man jetzt als ein ins
Grau spielendes Weiß bezeichnen wird. Man hat hier den Vorteil, dass,
besonders bei nicht genauer Akkommodation, das vom Deckglase gespiegelte
Weiß in der Ebene des Papieres und als ein Bestandteil dieser Ebene
erscheint, worauf, wie wir sahen, bei der Vergleichung zweier Farben viel
ankommt.
Schlägt man mit einem Locheisen in ein weißes Kartenpapier ein Loch
mit ganz scharfem, weder aufgeworfenen noch eingedrückten Rande, legt
auf ein Fensterbrett einen größeren Spiegel und hält das Papier so zwischen
Auge und Spiegel, dass es den Rahmen desselben ganz verdeckt und mög-
26
Lehre vom Lichtsinii
liehst gut beleuchtet ist, so sieht man das vom gespiegelten Himmelslicht
erleuchtete Loch ebenfalls als ein kleines Feld von schönster Reinheit des
Weiß in der mehr graulichweiß erscheinenden Ebene des Papieres.
Es ist bei diesen Versuchen gleichgültig, ob die gespiegelte Stelle des
Himmels blau oder gleichmäßig bewölkt ist; man erkennt in dem kleinen weißen
Felde das Blau nicht. Selbst ein »tiefblauer« Himmel giebt unter den genannten
Umständen ein Weiß von überraschender Reinheit.
Will man sich auch noch alle Zwischenfarben zwischen dem an der
Stelle des Deckglases oder Loches erscheinenden reinen Weiß und dem
schon etwas graulichen Weiß des Papieres zur Anschauung bringen, so
nimmt man das in § 1 6 beschriebene kleine Polariphotometer vor das Auge,
nachdem man den Nicol desselben zunächst auf 0° eingestellt hat. Man
sieht jetzt das kleine rein weiße Feld fast ebenso wie zuvor; dreht man
aber den Nicol, so verliert das Weiß mehr und mehr von seiner anfäng-
lichen Reinheit, bis es schließHch unterschiedslos in dem minder reinen
Weiß des Papiers verschwindet. Dass daneben ein zweites Bild des kleinen
Feldes sichtbar ist, welches umgekehrt bei der Drehung des Nicol immer
reiner weiß wird, ist hier gleichgültig. Wer sich gewöhnt hat, alle Farben,
welche man als weiß zu bezeichnen pflegt, zusammenzuwerfen, ihnen allen
dieselbe Qualität zuzuschreiben und nur verschiedene »Intensitätsstufen«
dieser Qualität gelten zu lassen, wird sich auf die beschriebene Weise an-
schaulich machen können, dass die verschiedenen Stufen der Reinheit des
Weiß sich auch als verschiedene Qualitäten auffassen lassen, und verstehen,
was unter verschiedener Qualität der weißen Farben gemeint ist.
In anderer, von der oben beschriebenen grundsätzlich verschiedenen
Weise kann man sich die Abwandlung eines gegebenen Weiß einerseits nach
reineren Stufen des Weiß, andererseits nach dem Grau hin veranschaulichen,
wenn man durch ein in der Mitte eines größeren weißen Kartenblattes
befindhches Loch von \ — 2 cm Durchmesser nach einem, dem ersteren
ganz gleichen, z. B. auf dem Fensterbrett horizontal liegenden Kartenblatt
von oben hinabblickt. Hält man das gelochte Blatt zunächst ebenfalls
horizontal und so, dass es das darunter liegende nicht beschattet, so er-
scheint das Loch als ein kleines Feld von genau oder sehr angenähert dem-
selben Weiß wie seine Umgebung. Dreht man aber das gelochte Blatt
langsam um eine horizontale Achse mit seinem dem Fenster zugewandten
Rande nach unten, so wird die Farbe des kleinen Lochfeldes, dessen
Lichtstärke dabei ganz ungeändert bleibt, immer graulicher und
schließlich sogar schwärzlichgrau; dreht man dagegen das gelochte Blatt in
der entgegengesetzten Richtung, so wird die Farbe des kleinen Feldes immer
reiner weiß. Der ganze Farbenwechsel des Loches ist dabei auffallend
groß, und man kann sich auf diese Weise alle Zwischenfarben zwischen
einem ziemlich dunklen Grau und einem relativ sehr hellen reinen Weiß
§ 9. Die Reihe der toiifreien Farben. 27
nacheinander vorführen. Auf die Änderungen, welche bei diesem Versuche
die Farbe des gelochten Blattes selbst erfährt, kommt hier nichts an, es
handelt sich nur um die Änderung der Farbe des dem Loche entsprechenden
kleinen Feldes.
Eine ganz ähnliche Abwandlung eines Weiß nach einem reineren Weiß
bezw. nach einem Grau hin lässt sich erzielen, wenn man das gelochte
Blatt horizontal an einem Stativ befestigt, welches z. B. auf einem Sessel
steht, während man ein zweites ganz gleiches aber ungelochtes Blatt so
unter das gelochte hält oder halten lässt, dass es von letzterem nicht be-
schattet wird. Hat das untere Blatt dabei zunächst ebenfalls die horizontale
Lage, so erscheint das Lochfeld nahezu oder ganz gleich der übrigen Fläche
des gelochten Blattes. Lässt man aber das untere Blatt langsam in ganz
ähnlicher Weise drehen, wie beim vorigen Versuche das obere, so sieht
man das Weiß des Lochfeldes je nach der Richtung der Drehung entweder
immer reiner weiß oder immer graulicher und schheßlich sogar schwarz-
grau werden.
Hierbei wird die Änderung der Farbe des kleinen Feldes durch
Veränderungen der Stärke der von dem unteren beweglichen Blatte aus-
gesandten Strahlung herbeigeführt, bei dem vorhergehenden Versuche aber
blieb diese Strahlstärke ganz unverändert und die Farben-
änderung des kleinen Feldes wurde lediglich durch Änderung
der Strahlstärke des oberen beweglichen Blattes bewirkt. Nach
einer noch vielfach üblichen unzutreffenden Auffassung des Sachverhaltes
würde die Farbenänderung des Loches bei dem einen Versuche als eine
objektive, bei dem anderen als eine subjektive zu bezeichnen sein. Hier
kommt es zunächst nur darauf an, sich zu veranschaulichen, wie ganz
dieselbe Abwandlung der Farbe eines weißen Feldes durch zw^ei grundver-
schiedene Mittel erzielt werden kann, und dass die Farbenänderungen bei
beiden Versuchsweisen mit genau demselben unausweichlichen Zwange er-
folgen, daher es ganz gleichgültig ist, ob der Beobachter sich über die
physikalischen Bedingungen des Versuches klar ist oder nicht. Der Physiker
sieht bei dem erstbeschriebenen Versuche trotz seiner Überzeugung von der
unveränderten Lichtstärke des kleinen Feldes die Farbenänderungen desselben
ebenso wie das unerfahrene Kind, und alle Reflexionen und Urteile über
den Zusammenhang der Erscheinungen ändern hier nichts Wesentliches an
dem, was bei dem Versuche gesehen wird.
Aus den beiden hier nebeneinander gestellten Versuchen geht zugleich
hervor, wie einseitig man verfährt, wenn man das Grau als ein Weiß von
geringer Strahlstärke, als ein »lichtschwaches Weiß« (2, S. 324) definiert.
Von zwei nebeneinander in derselben Ebene erscheinenden Feldern wird
bei gleicher Empfindlichkeit der bezüglichen Teile des somatischen Sehfeldes
das lichtschwächere allerdings minder rein weiß bezw. grau erscheinen.
23 Lehre vom' Lichtsinn.
wenn das lichtstärkere weiß erscheint; aber bei genau derselben Strahl-
stärke kann ein kleines Feld auch bei Ausschluss jeder »Ermüdung« der
bezüglichen Sehstelle je nach den Nebenumständen bald weiß, bald grau,
bald sogar schwarz gesehen werden. Die Strahlstärke des Feldes ist
eben nur einer der verschiedenen Faktoren, welche die Farbe
desselben bestimmen.
Wir haben soeben gesehen, dass es eine ganze Reihe stetig ineinander
übergehender Farben giebt, für welche wir den Sammelnamen Weiß be-
nutzen ; beginnend mit dem reinsten Weiß, welches wir uns zur Anschauung
bringen können, erstreckt sich diese Reihe durch immer weniger reine und
dem Grau ähnlicher werdende Farben bis in jene Gegend der tonfreien
Farbenreihe, welche wir bereits nicht mehr als weiß, sondern als grauweiß,
weißgrau oder hellgrau bezeichnen. Es ist selbstverständlich innerhalb
gewisser Grenzen der Willkür anheimgegeben, welche Farben wir hierbei
noch als weiß und welche wir bereits als graulich benennen wollen.
Ein gegebenes grauweißes Feld lässt sich nun in ganz analogen Ver-
suchen, wie ich sie soeben für das Weiß beschrieben habe, durch immer
minder weißliche Stufen hindurch in Farben überführen, für welche die
Bezeichnung weißlichgrau nicht mehr, und die Bezeichnung schwärzlichgrau
noch nicht passend, vielmehr die Bezeichnung grau schlechtweg am an-
gemessensten erscheint. Wieder bilden diese Farben eine ganze Reihe,
welche weiterhin in die schon deutlich schwärzlichen Stufen des Grau
übergeht, bis wir zur Reihe jener Farben gelangen, welche wir unbedenklich
bereits als schwarz bezeichnen. An das Ende der ganzen Reihe gehört
dann das reinste Schwarz, welches wir uns anschaulich zu machen ver-
mögen.
Solch tiefes Schwarz sehen wir z. B,, wenn wir in ein mattschwarzes
steifes Blatt oder in eine mit schwarzem Samt oder Wollpapier überzogene
Papptafel ein Loch von mehreren Gentimetern Durchmesser schlagen, das
Blatt oder die Pappe als festschließenden Deckel eines tiefen, mit schwarzem
Samt ausgeschlagenen Kastens benutzen und denselben in einem gut be-
leuchteten Zimmer aufstellen. Das Loch eines solchen Dunkelkastens,
wie ich ihn im Folgenden kurz nennen will, erscheint dann, besonders auf
den ersten Blick, in einem tiefen, ganz auffallend reineren Schwarz, als
das schwarze Papier oder der schwärzeste Samt, auch wenn letzterer so
gebürstet und mit seinen Fasern gegen das Fenster so orientiert ist, dass
er möglichst wenig Licht zurückwirft. Im Vergleich mit dem Schwarz des
Loches erscheint der Samt selbst unter den günstigsten Umständen noch
mit einem deutlichen Stich ins Grau. Ist das Loch nicht zu groß, so kann
man sich mit Hilfe des Polariphotometers in der oben beschriebenen Weise
auch noch die ganze Reihe von Zwisehenfarben zwischen dem tiefen Schwarz
des Loches und dem minder reinen Samtschwarz zur Anschauung bringen.
§ 9. Die Reihe der tonfreien Farben. 29
Bei alledem habe ich vorausgesetzt, dass man den Samt aus einer Ent-
fernung betrachtet, welche die Wahrnehmung seiner Fasern ausschließt.
Das Schwarz ist ebenso eine Sehqualität wie jede andere Farbe, und
wenn man die letzteren Empfindungen nennt, so muss man auch das
Schwarz als eine Empfindung gelten lassen. »Wir unterscheiden,« sagte
schon Helmholtz, »die Empfindung des Schwarz deutlich von dem Mangel
aller Empfindung.« »Hinter unserem Rücken« sehen wir kein Schwarz,
sondern sehen wir überhaupt nicht. Dass wir aber ein tiefes Schwarz
nur dann sehen, wenn das Gesichtsfeld im übrigen gut beleuchtet ist, hat
Helmholtz dabei nicht erwähnt.
Es giebt freilich keine schwarzwirkenden Strahlungen, wie es weiß-
oder rotwirkende giebt; wenn man aber nur diejenigen Phänomene des
Gesichtssinnes als »Empfindungen« gelten lassen wollte, welche unter der
unmittelbaren Wirkung der Lichtstrahlen entstehen, so dürfte, wie wir
sehen werden, eine große Mannigfaltigkeit von Gesichtserscheinungen, welche
man jetzt unbedenklich als Empfindungen zu bezeichnen pflegt, diesen Namen
nicht mehr führen. Alle Farben sind für den Physiologen Erscheinungen,
nach deren physiologischem Korrelat er zu suchen hat, das Schwarz ebenso
wie das Weiß oder das Rot.
Man sollte auch nicht, wie dies noch Helmholtz that, sagen: »einen
Körper, der kein Licht reflektiert, wenn solches auf ihn fällt, nennen wir
schwarz. « Denn ganz abgesehen davon, dass wir uns einen solchen Körper
zwar denken können, dass aber bis jetzt keiner aufzeigbar ist, so könnte
jene Bemerkung ein grobes Missverständnis herbeiführen, weil ein Körper
eine relativ große Lichtmenge in unser Auge schicken und doch schwarz
erscheinen kann.
Man betrachte eine mit aller Sorgfalt berußte Fläche, das Prototyp
einer schwarzen Fläche für den Physiker, durch eine mit schwarzem Samt
ausgekleidete Röhre mit kleiner unterer Öffnung bei guter Beleuchtung, und
man wird das durch das offene Ende der Röhre sichtbare Feld grau oder
sogar weißlichgrau sehen, und zwar schon beim ersten Hineinschauen. Nach
längerem Augenschluss kann es sogar weiß gesehen werden. Der Physiker
mag dasjenige schwarz nennen, was seines Wissens möglichst wenig Licht
zurückwirft, für den Sinnesphysiologen aber ist nur das schwarz, was er
schwarz sieht, mag es viel oder wenig Licht ins Auge schicken.
Bei geschlossenem und vor jedem Lichteinfall geschützten Auge, sowie
in einem ganz lichtlosen Dunkelzimmer sieht man kein auch nur ange-
nähert reines Schwarz. Man stelle sich in einem gut beleuchteten Zimmer
vor den oben erwähnten Dunkelkasten, schließe und verdecke die Augen
so lange, bis jede Spur der meistens, wenn auch nur undeutlich, zurück-
bleibenden Nachbilder verschwunden ist, und gebe sich Rechenschaft von
dem, was man jetzt sieht. Dann öffne man die Augen und richte sie auf
30 Lehre vom Lichtsinn.
das Loch des Dunkelkastens, so wird man den großen Unterschied zwischen
der Farbe des Sehfeldes bei geschlossenem Auge und dem viel tieferen
Schwarz des Loches leicht erkennen.
Ein tiefes Schwarz entsteht nur, wenn gleichzeitig andere und insbe-
sondere benachbarte Teile des Sehfeldes weiß oder grau erscheinen, und
daher um so mehr, je stärker bis zu einer gewissen Grenze das Gesichts-
feld beleuchtet ist.
Wenn man in einer mondscheinlosen Winternacht bei eben erst be-
ginnender Morgendämmerung erwacht, so bemerkt man unter den noch
kaum unterscheidbaren Teilen des Sehfeldes keineswegs auch schwarze,
sondern alles erscheint zunächst in einem stellenweise etwas weißlicheren,
stellenweise etwas schwärzlicheren Grau. Erst in dem Maße als die Be-
leuchtung wächst und einzelne Teile des Sehfeldes eine immer deutlichere
Weißlichkeit gewinnen, werden gleichzeitig andere immer schwärzlicher,
bis endlich sowohl Weiß als Schwarz reiner hervortreten. Selbst die tiefste
Nacht ist für uns nicht schwarz, sondern grau, und erst der aufgehende
Tag scheidet für unser Auge Licht und Finsternis und zeigt uns neben
dem Hell das Dunkel, neben dem Weiß das Schwarz. Die herrschende
Ansicht, nach welcher mit wachsender Lichtstärke eines Außen-
dinges und seines Netzhautbildes notwendig auch die »Stärke«
der entsprechenden »Lichtempfindung«, das soll heißen, die
Helligkeit oder Weißlichkeit der korrelativen Stelle des Sehfeldes
wachsen müsse, gehört zu jenen Vorurteilen, welche dem Ver-
ständnis der Thatsachen des Gesichtssinnes ganz besonders hin-
derlich sind. —
Alle grauen Farben sind untereinander insofern verwandt, als sie
gleichzeitig an Schwarz und an Weiß erinnern; ein dunkles Grau erscheint
dem Schwarz ähnlicher als dem Weiß, ein helles Grau dem letzteren ähn-
licher als dem Schwarz, ein zwischen diesen beiden Grau liegendes kann
zweifelhaft lassen, ob es dem Weiß oder dem Schwarz ähnlicher ist. In
diesem Sinne können wir sagen, jedes Grau sei zugleich weißlich und
schwärzlich, bald mehr das eine, bald mehr das andere, oder im beson-
deren Falle, es sei beides in ungefähr gleichem Maße. Sehen wir zwei
verschieden reine Schwarz nebeneinander, so erinnert das minder reine
mehr oder weniger an Grau und also mittelbar an Weiß, und Analoges
gilt von zwei verschieden reinen weißen Farben. Gehen wir vom schwar-
zen Ende der tonfreien Farbenreihe nach dem Weiß hin, so sehen wir
die Schwärzlichkeit der Farbe immer mehr abnehmen, bis im reinsten
Weiß die letzte Spur von Schwärzlichkeit verschwindet. Durchlaufen wir
die Reihe umgekehrt vom weißen nach dem schwarzen Ende hin, so sehen
wir ebenso die Weißlichkeit der Farbe stetig abnehmen und schließlich ver-
schwinden.
§ 9. Die Reihe der tonfreien Farben. 31
Wir finden also in der ganzen Reihe nur zwei variable Merkmale oder
Eigenschaften, nämlich die Schwärze und die Weiße. Habe ich zwei verschie-
dene tonfreie Farben vor mir, so vermag ich ihre Verschiedenheit dadurch zu
kennzeichnen, dass ich sage, die eine sei etwas bezw. viel schwärzlicher als
die andere, oder die eine sei etwas bezw. viel weißlicher als die andere.
Freilich hat jedes bestimmte tonfreie Grau seine Qualität für sich und ist
weder weiß noch schwarz; es handelt sich aber hier nur um die ver-
schiedenen Grade der Ähnlichkeit mit dem reinsten Schwarz einerseits,
dem reinsten Weiß andererseits. So kann man auch, wenn man durch
einen Punkt einer vertikalen Ebene beliebig viele gerade Linien gelegt denkt,
sagen, die Richtung einer um 20" von der Vertikalen abweichenden Ge-
raden sei der vertikalen Richtung ähnlicher als der horizontalen, und die
Richtung einer um 45*^ geneigten Geraden sei der horizontalen ebenso ähn-
lich oder verwandt wie der vertikalen, sie habe ebensoviel vom Charakter
der einen wie der anderen, ebensoviel Horizontalität wie Vertikalität. Der
Einwand, dass eine Richtung doch nicht zugleich vertikal und horizontal
sein könne, dass sie stets einfach und nicht aus zwei Richtungen zusam-
mengesetzt sei, wäre hier ebensowenig am Platze wie der, dass ein Grau
nicht zugleich weiß und schwarz sein könile, und dass es eine einfache
und keine zusammengesetzte Empfindung sei.
Wenn man, wie dies auch jetzt noch vielfach geschieht, die qualita-
tive Verschiedenheit der tonfreien Farben nicht gelten lassen und hier nur
verschiedene Intensitätsstufen einer einzigen Qualität, d. h. der »weißen
Empfindung«, annehmen will, so kann man nur von stärkerem und schwä-
cheren Weiß sprechen und muss jedes Schwarz, welches noch nicht das
allerreinste und allerdunkelste ist, als ein schwächstes Weiß bezeichnen.
Wer sich so ausdrückt, denkt dabei gar nicht eigentlich an das, was er
sieht, sondern an ein sogenanntes weißes Strahlgemisch, das zu schwach
ist, um mehr zu bewirken als eine minimale Aufhellung d. i. Weißung
jenes absoluten Schwarz, welches er sich entweder als die eigentliche Grund-
farbe des Gesichtsfeldes bezw. des ganzen Weltraumes, oder aber als
die, einem absoluten Ruhezustande des inneren Auges entsprechende
Farbe des Sehfeldes vorstellt. W^äre eine solche Auffassung überhaupt
zulässig, so würde sich doch eine qualitative Verschiedenheit der einzelnen
tonfreien Farben insofern ergeben, als das, einer absoluten Strahlenlosigkeit
des Gesichtsfeldes oder aber einer absoluten Ruhe des inneren Auges ver-
meintlich entsprechende Schwarz doch nur in dem Maße in der Anschau-
ung zurücktreten könnte, als die »Intensität der Empfindung« sich steigert
und also das Weiß hervortritt.
Die Auffassung der verschiedenen tonfreien Farben als bloßer Inten-
sitätsstufen einer und derselben Sinnesqualität hat sich einerseits daraus
entwickelt, dass die helleren Farben im allgemeinen aufdringlicher sind als
32 Lehre vom Lichtsinn.
die dunkleren, was später zu erörtern sein wird, andererseits aus der be-
grifflichen Vermengung der Farbe mit dem physikalischen Agens, durch
welches ihr Erscheinen zumeist veranlasst wird. Alle Energien der Außen-
welt, welche, auf unsere Sinnesorgane wirkend, die bezüghchen Sinnes-
qualitäten in unser Bewusstsein treten lassen, hat die Wissenschaft in ihrer
Kindheit mit demselben Namen belegt, welchen bereits jene Sinnesqualitäten
führten. Eine Flüssigkeit, welche sauer schmeckt, nannte man eine Säure ;
das Agens, welches uns Wärmegefühl erzeugt, nannte man Wärme, und
die Strahlungen, welche, auf unser Auge wirkend, Licht und Farben des
Sehfeldes veranlassen, nannte man Licht. Die Geschichte der Physik ist
zugleich eine Geschichte des Kampfes mit den Vorurteilen, welche aus dieser
sprachlichen Identifizierung der Sinnesqualitäten mit ihren physikalischen
Ursachen entsprangen. Zu diesen Vorurteilen gehörte auch dieses, dass
alle jene Verschiedenheiten der Farbe, welche durch bloße Intensitäts-
verschiedenheiten der auf das Auge wirkenden Strahlung bedingt sind,
ebenfalls bloße Intensitätsverschiedenheiten einer und derselben Empfin-
dungsqualität seien.
Diese Auffassung fand weitere Nahrung in folgendem Umstände: So-
bald die ins Auge fallende Strahlung eine gewisse, von dem jeweiligen
Zustande des Sehorgans mit abhängige Intensitätsgrenze überschreitet, er-
zeugt sie lästige oder sogar schmerzhafte Empfindungen, welche jedoch,
da sie neben der eigentlichen optischen Sinnesqualität bestehen und nicht
Merkmale dieser selbst sind, auch nicht als Eigenschaften der eben gesehenen
Farbe bezw. der die Farbe tragenden Raumgebilde und also überhaupt nicht
als etwas außer uns Vorhandenes aufgefasst werden. Diese Empfindungen
nun werden mit wachsender Intensität der Strahlung ebenfalls immer stärker,
d. h. lästiger, schmerzlicher und ausgebreiteter, was wir ganz unmittelbar
und ohne jede Kenntnis des zu Grunde liegenden physikalischen Vorganges
auf die zunehmende Stärke eines auf uns wirkenden äußeren Reizes be-
ziehen. Die Farben an sich aber werden, da wir sie lediglich als Eigen-
schaften des im Sehfelde Unterscheidbaren nehmen, von dem Unbefangenen
gar nicht als die Folgen eines ihn treffenden äußeren Reizes aufgefasst.
Ein Mensch, der von Strahlungen oder Ätherwellen noch nichts weiß,
nimmt auch eine Flamme, solange er sie nur sieht, nicht als etwas auf
ihn Wirkendes, sondern lediglich als etwas im Außenraum Vorhan-
denes; ist er jedoch der Flamme so nahe, dass sie ihm Wärmegefühl
erzeugt, so nimmt er dieses Gefühl als eine Wirkung der Flamme und
also die letztere als etwas auf seine Haut Wirkendes; und das Analoge gilt,
wenn ihn die Flamme blendet und sein Auge belästigt. Solange eine
Strahlung nur Farbe, also nur eine optische Sinnesqualität z. B. Weiß
erzeugt, ist letzteres für den nicht weiter Unterrichteten nur ein Bestand-
teil seiner optischen Außenwelt, nicht aber ein Agens, eine Kraft, ein Reiz,
§ 10. Symbolische Bezeichnung der tonfreien Farben. 33
die auf ihn wirken und seinen Empfindungszustand mehr oder weniger
ändern.
Es scheint mir daher unrichtig, wenn Helmholtz (2, S. 441 — 443) die
»Empfindung der HelHgkeit« auf den »Lichtschmerz« zurückführen will, welcher,
wie er meint, »wohl ausnahmslos eine gleichzeitig vorhandene Lichtempfindung
begleitet«. Auf diese Weise lässt sich seine Ansicht, nach welcher die ver-
schiedenen Helligkeitsgrade der tonfreien Farben bloße Intensitätsstufen einer und
derselben Sinnesquahtät sein sollen, gegenüber der seinerzeit von mir entwickelten
Auffassung nicht rechtfertigen.
§ 10. Symbolische Bezeichnung der ton freien Farben.
In dem Maße als sich die Beschaffenheit einer tonfreien Farbe der Be-
schaffenheit des reinen Weiß nähert, entfernt sie sich zugleich von der
des reinen Schwarz, je größer ihre Ähnlichkeit mit dem ersteren ist,
desto kleiner ihre Ähnlichkeit mit dem letzteren. Daher ist jede tonfreie
Farbe charakterisiert durch das Verhältnis, in welchem diese beiden Ähn-
lichkeiten zueinander stehen, und wenn wir die Größe ihrer Ähnlichkeit
mit dem reinen Schwarz, d. i. ihre Schwärzlichkeit oder Schwärze, durch
das Zeichen S, die Größe ihrer Ähnlichkeit mit dem reinen Weiß, d. i. ihre
Weißlichkeit oder Weiße, durch das Zeichen W ausdrücken, so ist das Ver-
W S
hältnis -^ oder — — ein Symbol für die Qualität der bezüglichen Farbe.
Dass hier diese Symbole keinen »Bruch« und also in keiner Weise eine
Größe bezeichnen, sondern lediglich ein Verhältnis, braucht wohl kaum
W S
besonders bemerkt zu werden; die Symbole -—- und -r— sind daher durch-
aus gleichbedeutend. Nicht als ob wir beim Sehen der Farbe die beiden
Glieder dieses Verhältnisses sondern und die gesonderten untereinander ver-
gleichen würden: wir sehen vielmehr nur eine bestimmte Qualität, ohne
uns dabei des Verhältnisses ihrer Ähnlichkeiten mit dem reinen Weiß und
Schwarz besonders bewusst zu werden. Gleichwohl leitet uns dieses Ver-
hältnis bei der Wahl der Bezeichnung für die verschiedenen tonfreien Farben;
wir nennen ein Grau schwärzlich, wenn es dem Schwarz ähnlicher oder
näher verwandt erscheint als dem Weiß, und weißlich, wenn das Gegenteil
der Fall ist.
Wie wir ferner bildHch sagen können: je näher eine Farbe dem reinen
Weiß steht, desto ferner steht sie dem reinen Schwarz, so können wir uns
auch auf der Strecke 5 iv (Fig. 2), wenn wir deren Endpunkt s als Symbol
des allerdings nur gedachten und nie mit Sicherheit anschaulich zu machenden
absoluten Schwarz, den Endpunkt w als Symbol des ebenfalls nur gedachten
absoluten Weiß nehmen, sämtliche tonfreie Farben derart angeordnet denken,
dass mit dem Abstände von s die Schwärzlichkeit der Farben stetig ab-,
die Weißhchkeit stetig zunimmt, und zwar beides derart, dass gleichen
Hering, Lichtsinn. 3
34
Lehre vom Lichtsinn.
Zuwüchsen der Weißlichkeit bezw. der Schwärzlichkeit gleich-
große Lagenunterschiede auf der Strecke s w entsprechen.
Wie nun jedem Orte innerhalb der Strecke sw ein bestimmtes Verhältnis
Fig. 2.
^^/
^U
ti
rv
seiner beiden Abstände von ä einerseits und von w andererseits entspricht,
so auch jeder tonfreien Farbe ein bestimmtes Verhältnis zwischen ihrer
Weißlichkeit und ihrer SchwärzHchkeit. Wenn also die Weißlichkeit der
durch die Strecke sw repräsentierten Farben proportional ihrem Abstände
von s, ihre Schwärzlichkeit proportional ihrem Abstände von %o wächst, so ließe
sich die Qualität jeder einzelnen Farbe durch das Verhältnis dieser beiden
Abstände ausdrücken. Die im Punkte d (Fig. 2) liegende Farbe z. B. wäre
sd
wd
durch das Streckenverhältnis — , oder — r gekennzeichnet, vi^elches zugleich
wd sd
das Verhältnis der dem Punkte d entsprechenden Ordinaten der beiden
parallelen Geraden sw^ und s^ w ist.
Wollten wir einseitig verfahren und nur die Weißlichkeit der Farbe zur
Grundlage ihrer Bezeichnung machen, so zeigt uns die soeben erörterte schema-
tische Anordnung der tonfreien Farben die theoretische Möglichkeit, die Qua-
lität jeder beliebigen tonfreien Farbe auch durch eine Zahl zu bezeichnen. Geben
wir nämlich dem Abstände des absoluten Weiß vom absoluten Schwarz, welcher
Abstand also dem denkbaren Maximum der Verschiedenheit zweier tonfreien
Farben entspricht^ beispielsweise den Wert 2, so entspricht dem Werte \ das
in der Mitte der schematischen Farbenreihe liegende Grau [m Fig. 2), welches
dem absoluten Schwarz ebenso ähnlich ist, wie dem absoluten Weiß bezw. von
beiden gleichstark verschieden ist; dem Werte 0,33 .. . ein Dunkelgrau (c^Fig. 2),
dessen Weiße sich zur Schwärze verhält wie 1:2; dem Werte 1,33 .. . ein
Hellgrau, dessen Weiße sich zur Schwärze verhält wie 2:1 u. s. f. Der
numerische Ausdruck für die Weißlichkeit einer tonfreien Farbe F ergäbe
sich also aus dem ihr entsprechenden Verhältnis W: S nach der Formel
F
Der wesentliche Unterschied dieser Art, die Weißlichkeit oder Helligkeit
einer tonfreien Farbe numerisch definiert zu denken, von derjenigen, welche
§ n. Vergleichung von Farbenverschiedenheiten untereinander. 35
sich aus der Auffassung dieser Farben als bloßer Intensitätsstufen einer und der-
selben Sehqualität ergiebt, liegt darin, dass wir für die Größe der Farbenver-
schiedenheit zwischen dem Nullpunkt und dem Maximum der Weißlichkeit oder
Helligkeit einen endlichen Wert einsetzen und mit demselben das absolute
Weiß bezeichnen, während diesem nur gedachten Weiß, wenn es als Intensitäts-
stufe und daher als das absolute Maximum der Intensität angenommen wird, der
Wert oo zukommen würde.
Zwischen 0 und \ liegt dieselbe Menge numerisch ausdrückbarer Ver-
hältnisse wie zwischen \ und oo, denn jedem diesseits \ gelegenen entspricht
jenseits \ das umgekehrte Verhältnis. So liegen auch auf der ideellen Farben-
linie (Fig. 2) zwischen dem absoluten Schwarz [s] und dem mittleren Grau {m)
ebensoviel verschiedene Farben, wie zwischen letzterem und dem absoluten
Weiß [w).
Die tonfreie oder schwarz-weiße Farbenreihe ist vergleichbar der Gesamtheit
aller Gemische, welche sich aus zwei, in jedem beliebigen Verhältnis mischbaren
Dingen herstellen lassen: beide stellen eine eindimensionale Mannigfaltigkeit dar,
und in der Mannigfaltigkeit der tonfreien Farben sind in solchem Sinne reines
Weiß und Schwarz die beiden Variablen oder Mischelemente. Ich habe jedoch
Leser gefunden, welche von einem Gemisch verlangten, dass jeder seiner Bestand-
teile als solcher im Gemisch fortbestehe bezw. aufzeigbar sei. Nun ist freilich
richtig, dass jemand, der nie ein Schwarz oder W^eiß gesehen hätte, auch in einem
Grau nie etwas Schwärzliches oder Weißliches finden würde, während er in
einem Gemisch von Linsen und Bohnen beide finden würde, auch wenn er sie
nie gesondert gesehen hätte. Jedes Gleichnis hinkt, aber es ist das gesunde
Bein, auf welchem es fußt, nicht das kranke.
§ 11. Vergleichung von Farbenverschiedenheiten unter-
einander. Auf einer in der beschriebenen Weise geordneten ideellen Farben-
reihe oder Farbenhnie würde der gegenseitige Abstand zweier Farben zu-
gleich ein Maß ebensowohl für die Verschiedenheit wie für die Ähnlichkeit
derselben sein, denn die Größe ihrer Verschiedenheit wäre direkt propor-
tional, die Grüße ihrer Ähnlichkeit umgekehrt proportional ihrem gegen-
seitigen Abstände; Farbenpaare von gleichgroßer Verschiedenheit ihrer beiden
Einzelfarben, kurz gesagt äquidifferente Farbenpaare, gleichviel welcher
Teilstrecke der Farbenreihe sie angehören, ob der schwarzen, der grauen
oder der weißen, würden Farbenpaare von gleichgroßem Abstand ihrer
beiden Einzelfarben in der Farbenreihe sein ; einer doppelt so großen Ver-
schiedenheit entspräche ein doppelt so großer Abstand der bezügUchen Orte
in der Reihe u. s. w. Man brauchte also nur den gegenseitigen Abstand
zweier beliebig gewählter Farben der Reihe als Maßeinheit zu nehmen, um
für die Verschiedenheit zweier beliebiger anderer Farben ein durch Zahlen
ausdrückbares Maß zu erhalten.
Da das für die Endpunkte einer solchen schematischen Farbenreihe
angenommene absolute Weiß und Schwarz nicht aufzeigbar und nur
Gedankendinge sind; da ferner eine und dieselbe Strahlung je nach den
Nebenumständen in sehr verschiedenen tonfreien Farben gesehen werden
3*
36 Lehre vom Lichtsinn.
kann, und wir nicht im stände sind, diese Nebenumstände derart konstant
zu erhalten, dass mit der bestimmten Strahlung auch immer dieselbe Farbe
wiederkehren müsste: so wäre es schon aus diesen beiden Gründen un-
möglich, die oben angenommene ideelle Farbenreihe z. B. durch eine ent-
sprechende Reihe tonfreier Pigmente für das Auge in korrekter Weise zu
verwirklichen, und zwar auch dann unmöglich, wenn für eine ganz kon-
stante Beleuchtung derselben gesorgt wäre. Die* Bedeutung einer
solchen nur gedachten Reihe der tonfreien Farben liegt also
nur darin, dass man sich an derselben klar machen kann, in-
wiefern man an die Verschiedenheit zweier tonfreien Farben
eine Art Maß anzulegen vermag.
Haben wir z. B. im Sehfelde drei tonfreie Farben f^^^ f^^ f^ nebenein-
ander vor uns, von denen f^ weißlicher als Z*^, aber minder weißlich als f^
ist, und finden wir die Verschiedenheit von f^ und f^ entschieden größer
als die von /^ und /"p, so vermögen wir gleichwohl nicht zu sagen, um
wieviel diese Verschiedenheit größer ist als die andere. Wohl aber kann
der Fall eintreten, dass es uns nicht möglich ist, mit Bestimmtheit zu
sagen, die eine Verschiedenheit sei größer als die andere, dass wir also
beide beiläufig gleich finden.
Angenommen nun, man hätte eine sehr große Anzahl kleiner Täfelchen
zur Verfügung, deren tonfreie Farben sich in äußerst feinen Abstufungen
von einem möglichst dunklen Schwarz bis zu einem möglichst hellen Weiß
erstrecken, und man hätte zunächst z. B. zwei graue, ganz deutlich, aber
nicht allzusehr verschiedene Täfelchen ^ und (q nebeneinander gelegt, von
welchen ^ das lichtstärkere wäre, so könnte man ein drittes noch licht-
stärkeres Täfelchen /^ aussuchen, welches neben f^^ gelegt von diesem bei-
läufig ebenso verschieden erscheint, wie f^ von /J,, sodann ein viertes aber-
mals lichtstärkeres /*^, welches neben f^ gelegt wieder von diesem ebenso stark
abzustechen scheint, wie /^ von Z'^, und so fort, solange man noch passende,
immer lichtstärkere Täfelchen fände. In analoger Weise könnte man auf
der anderen Seite von /J^ immer lichtschwächere Täfelchen Z"^, /), f\ ....
anreihen, bis zum lichtschwächsten noch eben passenden, welches zu finden
wäre. Würde der Grund, auf welchem man die Täfelchen geordnet hat,
überall ganz gleich sein, die Beleuchtung ganz konstant bleiben, und auch
die Stimmung des Auges während des ganzen Versuches sich nicht wesent-
lich ändern, würden endlich die Täfelchen behufs der Vermeidung des Grenz-
kontrastes fs. u.) nicht dicht aneinander gelegt, sondern je ein schmaler
und überall gleichbreiter Streifen des Grundes zwischen ihnen freigelassen,
so würde sich auf diese Weise eine w^enigstens einigermaßen beständige
Stufenreihe tonfreier Farben herstellen lassen, auf welcher die Verschieden-
heit je zweier Nachbarfarben überall angenähert gleichgroß erscheint.
Nimmt man die Größe (den Grad) dieser Verschiedenheit als Maßeinheit
% i^. Vergleichung von Farbenverschiedenheiten untereinander. 37
und setzt sie ^= i, so würde die Verschiedenheit zweier Farben, welche
eine dritte zwischen sich hätten, =2, die Verschiedenheit zweier Farben,
welche zwei andere zwischen sich hätten, = 3 zu setzen sein u. s. w.
Kurzum die Größe der Verschiedenheit je zweier beliebiger auf einer solchen
Farbenskala vertretenen Farben wäre der Zahl der Stufen, welche von der
einen zur anderen führt, proportional zu setzen.
Ferner könnte man die Verschiedenheit zweier Nachbarfarben der Skala
gleichsam hälften, wenn man ein Täfelchen fände oder herstellte, welches
zwischen sie gelegt, von beiden in gleichem Grade verschieden erscheint.
Eine so auf den halben Wert gebrachte Verschiedenheit könnte man aber-
mals hälften u. s. w., bis die Verschiedenheit der bezüghchen Täfelchen nur
noch eben merklich und also unter den gegebenen Bedingungen nicht weiter
teilbar wäre.
In dieser Weise wäre also eine Art Messung der Verschiedenheit zweier
tonfreien Farben auf Grund einer bestimmten, als Maßeinheit gewählten
Verschiedenheitsgröße durchführbar; mit welchem Grade von Sicherheit oder
vielmehr Unsicherheit, kann hier dahingestellt bleiben. Immer aber
würde es sich dabei nur um eine messende Vergleichung von
Farbenverschiedenheiten, nicht aber um eine Messung der Far-
ben selbst handeln; wir könnten die Größe oder den Grad der Verschieden-
heit zweier Farben durch eine Zahl ausdrücken, für die Weißlichkeit und
Schwärzlichkeit der einzelnen Farbe aber hätten wir keinen zahlenmäßigen
Ausdruck gewonnen.
Ein solcher wäre wie schon oben erwähnt nur denkbar, wenn wir die
Farbenskala entweder bis zum absoluten Schwarz oder bis zum absoluten
Weiß fortzusetzen vermöchten. Aber diese beiden Farben sind wie gesagt
nur Gedankendinge, und wieviel äquidifferente Farbenstufen immer wir unter
Benutzung aller hier denkbaren Kunstgriffe unserer Skala an beiden Seiten
noch anzureihen vermöchten, nie könnten wir behaupten, dass wir mit dem
dunkelsten Schwarz, welches wir hergestellt hätten, das dunkelste, für die
Anschauung überhaupt mögliche, geschweige denn das, nur denkbare, ab-
solute Schwarz erreicht hätten, und ebensowenig würde selbst das hellste
von uns erzielte Weiß als das hellste überhaupt mögliche oder gar als das
absolute Weiß gelten müssen.
Unserer Farbenskala würden also die beiden Endstrecken und damit
einerseits der Nullpunkt der Weißlichkeit, andererseits der Nullpunkt der
Schwärzlichkeit fehlen, und wir könnten also auch nicht für eine in unserer
Farbenskala vertretene Farbe die Zahl der als Maßeinheiten genommenen
äquidifferenten Farbenstufen, welche zwischen sie und das absolute Schwarz
zu liegen kämen, als Maß für ihre Weißlichkeit oder Helligkeit, und ebenso-
wenig die Zahl der Farbenstufen, welche sie vom absoluten Weiß trennen,
als Maß für ihre Schwärzlichkeit oder Dunkelheit benutzen.
38 Lehre vom Lichtsinn.
Aber auch wenn wir dies könnten, würden wir abermals nur einer
Farben Verschiedenheit Ausdruck geben, nämhch der Verschiedenheit
zwischen der bezüglichen Farbe und dem absoluten Schwarz bezw. Weiß.
Keineswegs aber dürfte man die Farbe selbst als eine Grüße nehmen und
meinen, die fragliche Zahl sei ein Ausdruck für diese Grüße, Wie der Ort
eines Punktes auf einer Geraden selbst keine Grüße hat, sondern nur sein
Abstand von einem zweiten Orte auf der Geraden quantitativ bestimmbar
ist, so hat auch die Farbe als eine bloße Qualität keine Grüße oder Inten-
sität, und nur ihre Verschiedenheit von einer anderen Farbe lässt sich quan-
titativ auffassen.
Da jede im Sehfeld oder Sehraum erscheinende Farbe eine Fläche oder einen
Raum füllt und wären dieselben auch noch so klein, so kann man allerdings
von der extensiven Größe einer Farbe sprechen; aber das Quantitative liegt hier
in der räumlichen Ausdehnung, während die Farbe nur eine Qualität des bezüg-
lichen Flächen- oder Raumteiles ist : die Farben sind sozusagen die Qualitäten
des Sehfeldes oder Sehraumes, kurz, die optischen Raumqualitäten.
Wenn ich von zwei tonfreien Farben sage, die eine sei weißlicher als
die andere, so nehme ich die Weißlichkeit der Farbe allerdings als etwas
Quantitatives, wie ich den Ort als etwas Quantitatives nehme, wenn ich von
zwei Orten sage, der eine sei weiter nach rechts als der andere. Ersteren-
falls liegt das Quantitative in der mehr oder weniger großen Ähnlichkeit mit
reinem Weiß bezw. in der Verschiedenheit von reinem Schwarz, letzterenfalls
in dem mehr oder minder großen Abstände von meiner Medianebene oder
sonst welcher Ebene, auf welche ich das Links oder Rechts beziehe. Was
Fechner und Helmholtz als »Intensität einer Lichtempfindung« bezeichnet
haben, entspricht eben der Weißlichkeit derselben. Aber so unzutreffend
es wäre, von zwei verschieden weit nach rechts liegenden Punkten zu sagen,
der eine sei intensiver als der andere, so unzutreffend ist es, der weißlicheren
von zwei Farben eine grüßere Intensität zuzuschreiben.
Ebenso wie ich die eine von zwei tonfreien Farben als die weißlichere
bezeichnen kann, kann ich die andere als die schwärzlichere bezeichnen.
Letzterenfalls halte ich mich an die mehr oder minder große Ähnlichkeit
der Farben mit dem Weiß, anderenfalls an die Ähnlichkeit mit Schwarz.
Das Merkmal der Schwärze ist deutlicher in der einen, das der W^eiße deut-
licher in der anderen gegeben, und dem entspricht ihre qualitative Ver-
schiedenheit. Gebrauche ich statt der Worte Weißlichkeit und Schwärzlich-
keit die Worte Helligkeit und Dunkelheit und bezeichne die weißliche Farbe
als die hellere, so liegt das Missverständnis, dass es sich dabei um eine
Intensitätsverschiedenheit der beiden Empfindungen handle, um so näher,
als sehr gewühnlich das Wort Helligkeit promiscue sowohl für die Weißlich-
keit der »Empfindung« als auch für die Intensität der sie veranlassenden
Strahlung benutzt worden ist. Deshalb ist es unzweckmäßig, die Intensität
% M. Vergleichung von Farbenverschiedenheiten untereinander. 39
einer optischen Strahlung als deren Helligkeit zu bezeichnen, vielmehr sollte
man dieses Wort nur auf die, durch die Strahlung veranlasste Farbe an-
wenden.
Der erste, der eine Skala äquidifferenter Farbenstufen herzustellen versuchte,
war Plateau (7, S. 468). Zu einem weiß- und einem schwarzpigmentierten
Quadrate suchte er dasjenige mittelgraue, welches für das Auge von beiden
gleichstark verschieden erschien, sodann ein hellgraues, welches von dem weißen,
und ein dunkelgraues, welches von dem schwarzen ebenso stark abstach wie
von dem mittelgrauen. So erhielt er eine Skala von fünf beiläufig äquidifferenten
Farben. Indem er absah von »der kleinen Lichtmenge«, welche von dem schwarzen
Quadrate reflektiert wurde, und »von der schwachen Lichtempfindung, welche
die Augen selbst im vollständigsten Dunkel wahrnehmen«, setzte er die »Inten-
sität« der dem schwarzen Quadrat entsprechende Empfindung = 0 und die In-
tensität der dem nächstliegenden dunkelgrauen Quadrate entsprechenden Empfin-
dung = \ und kam so zu dem Ergebnis, »dass die Intensitäten der den fünf
Farben entsprechenden Empfindungen, vom Schwarz bis zum Weiß, sich zuein-
ander verhalten wie 0, 1, 2, 3, 4«, und dass also z. B. das hellgrau erscheinende
Quadrat eine »Empfindung hervorbringt, deren Intensität gleich ist drei Vierteln
der weißen Empfindung«. Er meint also, dass wenn statt des schwarz bemalten
Quadrates »ein ganz lichtleerer Raum genommen würde« und »die schwache
Lichtempfindung«, welche nicht von physikalischen, sondern von »physiologischen
Aktionen herrührt«, beseitigt werden könnte, das dann gesehene Schwarz dem
wahren Nullpunkt der Empfindung entsprechen und das Versuchsergebnis dann
noch »ein wenig genauer« sein würde.
Als der erste Versuch einer messenden Vergleichung von Farbenverschieden-
heiten schien mir die Untersuchung Plateau's hier besonders erwähnenswert;
denn thatsächlich handelt es sich dabei um die Messung von Farbenverschieden-
heiten, nicht wie Plateau meint, um eine Messung der Farben (»Empfindungs-
intensitäten«) selbst.
Übrigens bezweckte Plateau bei seinen Versuchen nicht, wie wir im obigen,
eine Untersuchung der P'arben und ihrer Verschiedenheiten als solcher, und die
Herstellung seiner Farbenskala war ihm nicht Selbstzweck, vielmehr sollte ihm
dieselbe nur dazu dienen, ein Gesetz für die Abhängigkeit der »Intensität der
Lichtempfindung« von der Intensität der sie erzeugenden Strahlung zu finden,
worauf später zurückzukommen sein wird.
Plateau hat auch bereits den Vorschlag gemacht, die zu den fraghchen
Untersuchungen nötigen tonfreien Farben nicht mit Pigmenten, sondern mit Hilfe
des Farbenkreisels herzustellen. Auf seine Anregung hat sodann Delboeuf (8)
diese Methode benutzt, um auf einer Kreisfläche drei konzentrische Ringe von
verschiedener Farbe derart herzustellen, dass die Farbe des mittleren Ringes von
der Farbe des ihn umschließenden Ringes ebenso stark abwich, wie von der
Farbe des von ihm umschlossenen Ringes. Auch diese Versuche bezweckten
nur die Auffindung eines Gesetzes der Beziehung zwischen den Lichtintensitäten
und den »Empfindungsintensitäten«. Dasselbe gilt von den mit drei nebenein-
ander rotierenden Kreiseln ausgeführten Untersuchungen von A. Lehmann und
H. Neiglick (9).
Zu demselben Zwecke experimentierte Ebbinghaus (1 0, S. 1 008) wieder mit
tonfreien Pigmenten. Er stellte sich eine Stufenreihe von sieben äquidifferenten
Farben auf Papierscheiben her, und indem er sich die Mannigfaltigkeit der ton-
40 Lehre vom Lichtsinn.
freien Farben auf einer Geraden angeordnet und jede einzelne Farbe, wie ich
dies seinerzeit gethan hatte (4, § 22), durch einen bestimmten Ort auf dieser
Geraden sjmboUsiert dachte, bezeichnete er seine Farbenskala als eine Reihe
>äquidistanter Helligkeiten« und sagt ganz im Sinne dieser Auffassung: »die
Anschauung der Helligkeitsdistanzen verhält sich zu derjenigen der einzelnen
Helligkeiten sehr ähnlich wie die Anschauung einer räumlichen Strecke zu der-
jenigen der einzelnen Orte.« Doch hat er später wieder von den einzelnen
tonfreien Farben als von verschiedenen »Empfindungsstärken« gesprochen und
das, was ich qualitative Verschiedenheiten nannte, als »Stärkeverschiedenheiten
der Empfindungen« bezeichnet, weil seiner Ansicht nach »kein Anlass vorliegt,
diesen Sprachgebrauch anzutasten« (i1, S. 50 6).
Als eine Reihe äquidifferenter Helligkeiten wollte schon Fechner (4 2, \. Teil,
S. 158) die Skala der Sterngrößen angesehen wissen, welche die Astronomen
lediglich auf Grund des Aussehens der Sterne schon lange vor der photometrischen
Untersuchung ihrer Lichtstärken unterschieden haben. Aber obwohl der Gesichts-
winkel der Fixsterne gleich Null gesetzt werden kann, erscheinen dieselben doch
nicht bloß verschieden hell, sondern auch verschieden groß und zwar auch dann,
wenn das Auge auf natürliche oder künsthche Weise für parallele Strahlen mög-
lichst gut eingestellt ist. Hiermit steht auch das von den Astronomen gewählte
Wort Sterngröße in Einklang. Wenn dem Auge alle Fixsterne von ganz gleicher
Größe oder vielmehr Kleinheit und nur verschieden hell erscheinen würden, was
thatsächlich nicht der Fall ist, so würde man wahrscheinlich gar nicht von ver-
schiedener Größe der Sterne gesprochen haben. Bei der Unterscheidung der
Sterngrößen kommt also nicht bloß der Lichtsinn, sondern auch der Raumsinn
des Auges in Frage, und jedenfalls ist bisher nicht bewiesen worden, dass die-
selbe ausschließlich mit Hilfe des Lichtsinns erfolge.
Wie es sich erklärt, dass mit der Lichtstärke der Sterne außer ihrer Hellig-
keit auch ihre scheinbare Flächengröße wächst, wird später erörtert werden.
§ 12. Die Reihe der Farbentöne. Jede bunte Farbe kann bei
gleicher Qualität ihres bunten Merkmals, das ich im Einklang mit Helmholtz
als ihren Ton bezeichne, mehr oder weniger weißlich, graulich oder
schwärzlich, gleichsam durch Weiß, Grau oder Schwarz in verschiedenem
Grade verschleiert oder verhüllt sein. Bunte Farben, welche solche Ver-
hüllung nicht ohne weiteres bemerken lassen, will ich freie Bunt färben
(couleurs franches) nennen; diejenigen aber, welche neben ihrem Farbenton
eine mehr oder riiinder deutliche Weißlichkeit, Graulichkeit oder Schwärz-
lichkeit zeigen, mögen verhüllte heißen.
Die möglichst freien Buntfarben werden gewöhnlich als gesättigte
Farben bezeichnet. Da aber seit Helmholtz unter Sättigung auch eine
Eigenschaft der bezüglichen Strahlungen verstanden worden ist, da
Helmholtz ferner zum Kriterium einer gesättigten Farbe nur das Fehlen
einer deutlichen Weißlichkeit oder Graulichkeit, nicht aber auch das Fehlen
einer deutlichen Schwärzlichkeit gemacht hat, so werde ich zur Vermeidung
von Missverständnissen das Wort »gesättigt« gar nicht gebrauchen. Die
klarste Definition eines Wortes nutzt erfahrungsgemäß wenig, wenn dasselbe
dem Leser bereits in einer anderen Bedeutung geläufig geworden ist;
§ 12. Die Reihe der Farbentöne. 41
unwillkürlich verbindet er immer wieder mit dem Worte die alten Vor-
stellungen.
Die bunten Farben, mögen sie mehr oder weniger frei sein, lassen
sich nach ihrem Farbentone auf einer in sich zurücklaufenden Reihe, einem
sogenannten Farbenzirkel, derart geordnet denken, dass die Verschieden-
heit des Tones je zweier unmittelbar benachbarter minimal, die Ähnlichkeit
maximal ist, so dass die Farbentöne überall stetig ineinander übergehen.
Nehmen wir auf einem solchen Farbenzirkel eine beliebige Farbe als
Ausgangspunkt, z. B. ein Rot ähnlich demjenigen, mit welchem ein Spektrum
am langwelligen Ende gewöhnlich beginnt, so sehen wir die in der einen
Richtung sich anreihenden roten Farben immer deutlicher gelblich werden,
während die Rötlichkeit der Farbe entsprechend zurücktritt, bis wir durch
Orange und Goldgelb hindurch zu einem Gelb gelangen, welches keine Spur
mehr von der noch im Orange so deutlichen Röte zeigt. An dieses Gelb
schließen sich andere gelbe Farben an, welche mehr und mehr ins Grün
spielen (Schwefelgelb, Kanariengelb); weiterhin tritt (wie im Saftgrün) hinter
der immer deutlicher werdenden Grünlichkeit die Gelblichkeit mehr und
mehr zurück und wir gelangen endlich zu einem Grün, welches völlig gelb-
frei erscheint. Diesem Grün folgen grüne Farben^ die bereits ins Blau
spielen (Wassergrün), weiter wird die Bläulichkeit der Farben immer stärker,
die Grünlichkeit immer schwächer (Wasserblau), bis wir ein Blau erreichen,
welches gar keine Grünlichkeit mehr zeigt. An dieses Blau schließen sich
blaue Farben von mehr und mehr wachsender Rötlichkeit und entsprechend
abnehmender Bläulichkeit an (Blauviolett, Rotviolett, Purpurrot), bis in einem
bestimmten Rot die letzte Spur von Bläulichkeit verschwindet. Diesem Rot
folgen sodann spurweis gelblich werdende rote Töne, bis wir wieder jenes
Rot erreichen, von dem wir ausgingen.
Wie schon aus dieser Beschreibung hervorgeht, finden sich in der zu
einem Zirkel geschlossenen Farbentonreihe vier ausgezeichnete Stellen:
erstens die Stelle desjenigen Gelb, welches keine Spur von Rötlichkeit mehr
zeigt, andererseits aber auch noch keine Spur von Grün erkennen lässt;
zweitens die Stelle desjenigen Blau, von dem dasselbe gilt. Diese beiden
Farbentöne mögen als Urgelb und Urblau bezeichnet werden. Ebenso
können wir drittens dasjenige Rot und viertens dasjenige Grün, welche
weder irgend bläulich noch irgend gelblich sind, als Urrot und Urgrün
benennen.
Sämtliche Farbentöne lassen sich auf dem Zirkel so ordnen, dass die
genannten Urfarbentöne denselben in seine vier Quadranten teilen, wie
dies Taf. I anschaulich machen soll. Dieselbe stellt in der unteren Figur
einen Farbenzirkel dar, auf welchem allerdings nur eine sehr beschränkte
Zahl von bunten, leider zum Teil stark verhüllten Farben wiedergegeben
ist, diese jedoch in der, einem idealen Farbenzirkel entsprechenden Folge
42 Lehre vom Lichtsinn.
der Farbentöne ^). Man sieht sofort, dass allen auf der linken Hälfte dieses
Zirkels liegenden Farben eine mehr oder weniger deutliche Gelblichkeit oder
Gilbe, allen auf der rechten Hälfte gelegenen eine mehr oder minder deut-
liche Bläue gemeinsam ist, während alle der oberen Hälfte angehörenden
in verschiedenem Maße der Deutlichkeit grünlich oder grün, alle Farben
der unteren Hälfte aber rötlich oder rot sind. Wir unterscheiden dement-
sprechend eine gelbhaltige und eine blauhaltige, und ebenso eine
rothaltige und eine grünhaltige Hälfte des Farbenzirkels.
Jeder Quadrant eines solchen aus möglichst vielen und gleich freien
Farbentönen bestehenden Zirkels wird gebildet von den zwischen je zwei
Urfarben liegenden Zwischentönen. Greifen wir irgendeine solche
Zwischenfarbe, z. B. ein beliebiges Orange heraus und suchen uns klar
zu machen, welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede zwischen dem
Tone dieses Orange und den nach beiden Seiten angrenzenden Farben-
tönen bestehen. Ähnlich sind alle Farbentöne dieser kleinen Strecke in-
sofern, als sie erstens alle rötlich und zweitens alle gelblich sind, und zwar
nimmt, wenn wir die Farben in der einen Richtung durchmustern, die Röte
zu und die Gilbe ab, während in der entgegengesetzten Richtung die Gilbe
zu- und die Röte abnimmt. Was die einzelnen Farbentöne dieser Strecke
unterscheidet, ist also lediglich das verschiedene Verhältnis
der Deutlichkeit ihrer Röte zur Deutlichkeit ihrer Gilbe.
Ganz anders verhält es sich, wenn wir eine Urfarbe, z. B. das Urgelb,
mit den sich beiderseits anreihenden Farbentönen vergleichen. Da finden
wir, dass die Gilbe, welche im Urgelb am ausgesprochensten ist, nach
beiden Richtungen hin abnimmt, und dass dafür in der einen Richtung
eine immer deutlicher hervortretende Röte, in der anderen Richtung eine
zunehmende Grüne bemerkbar ist. Die nach der einen Seite an das Urgelb
grenzenden Farben zeigen also neben ihrer Gilbe eine Eigenschaft, von
welcher in den nach der anderen Seite angrenzenden keine Spur bemerk-
lich ist; denn jene spielen ins Grüne, diese ins Rote, und das Urgelb bildet
den Wendepunkt, vor welchem die Grünlichkeit aufhört und hinter welchem
die Rötlichkeit beginnt. Nur eine bunte Eigenschaft, die Gilbe, ist allen
Farben dieser kleinen Strecke gemeinsam, während den Farben einer zwischen
zwei Urfarben liegenden Strecke stets zwei bunte Merkmale gemeinsam
sind, deren eines in demselben Maße an Deutlichkeit gewinnt, als das
andere verliert.
Denkt man sich den beschriebenen Farbezirkel derart gehälft et, dass
die Teilungslinie nicht durch zwei Urfarben, sondern zwei beliebige einander
1) Die das Urrot und Urgrün vertretenden Farbentöne der Figur haben bei
Tageslicht für mein Auge noch einen Stich ins Gelb. Eine größere Freiheit der
Farben wäre nur erreichbar gewesen, wenn man auf Lichtbeständigkeit der Pig-
mente verzichtet hätte.
Graefe-Saemisch , Handbuch, 2. A . , I.Teil ,XII. Kap.
Tafeil. ^^
zu S.4^2.
h:r= 0,15:0,25
Verlag v.WUlielmljigeliTiaim Inleipzig.
I.itLAnst vE.AJiirikB Jeipzig
§ 12. Die Reihe der Farbentöne. 43
gegenüberliegende Zwischenfarben geht, z. B. durch ein bestimmtes Violett
und ein bestimmtes Grün-Gelb, und vergleicht die Farbentöne je einer
Hälfte untereinander, so findet man kein allen diesen Tönen gemeinsames
buntes Merkmal. Nahe dem einen Ende der einen Hälfte sehen wir dann
rotviolette oder Purpurtöne, nahe dem anderen Ende grüngelbe Töne, und
die ersteren haben mit den letzteren nichts gemeinsames in ihren bunten
Eigenschaften. In der anderen Hälfte finden wir nahe dem einen Ende
derselben blauviolette Töne, nahe dem anderen Ende gelbgrüne, und aber-
mals zeigen die letzteren keine Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit den
ersteren. Wir mögen den Zirkel hälften wie wir wollen, immer stoßen
wir, wenn die Teilungslinie nicht durch zwei Urfarben geht, auf Farben,
welche mit gewissen anderen Farben derselben Hälfte keinerlei buntes
Merkmal gemeinsam und daher mit denselben keinerlei Ähnlichkeit des
Farbentones haben. Auf diese Weise erkennen wir abermals, dass eine
rationelle Einteilung des Farbenzirkels oder Gruppierung der Farbentöne
auf Grund ihrer inneren Verwandtschaft nur mit Hilfe der genannten vier
Urfarben möglich wird.
Wenn wir eine Farbe sehen, deren Ton einem der vier Urfarbentöne
sehr nahe steht, so können wir zweifelhaft sein, ob ihr Ton dem der be-
züglichen Urfarbe genau entspricht oder nicht. Haben wir aber eine ganze
Reihe nach ihrer Verwandtschaft geordneter z. B. roter Farbentöne derart
vor uns, dass am einen Ende der Reihe ein ganz deutlich bläuliches, am
anderen Ende ein ganz deutlich gelbliches Rot liegt und dazwischen alle
durch das Urrot hindurch gehenden Übergangstöne, so kommen wir,
wenn wir die Reihe langsam z. B. vom bläulich -roten Ende her durch-
mustern, stets zu einem Rot, welches insofern einen Wendepunkt in der
Reihe bildet, als hier jede Bläulichkeit aufhört und weiterhin die Gelblich-
keit beginnt. Durchläuft unser Blick die Reihe vom anderen Ende her, so
kommt es sehr gewöhnfich vor, dass das, dem Wendepunkte entsprechende
Rot, in welchem die Gelblichkeit eben aufhört, dem gelblichroten Ende der
Reihe etwas näher liegt, als die bei der ersten Art der Durchmusterung
für das Urrot gefundene Stelle. Dies ist eine Folge des successiven Farben-
kontrastes; das Auge, welches soeben gelbliches Rot gesehen hat, sieht in-
folge des Kontrastes dort bläuliches Rot, wo ihm Urrot oder gelbliches Rot
erscheinen würde, wenn es zuvor Bläulichrot gesehen hätte. Überhaupt
hängt es von der jeweiligen chromatischen Stimmung des Auges, über
welche später zu sprechen sein wird, wesentlich mit ab, welche Farbe von
einer bestimmten Strahlung hervorgerufen wird, daher es schon deshalb un-
möglich wäre, für jede Urfarbe ein ganz bestimmtes Pigment oder eine
ganz bestimmte Strahlung als diejenigen zu bezeichnen, durch welche diese
Urfarbe unter allen Umständen hervorgerufen werden müsse.
Dazu kommen noch, sofern es sich um zusammengesetzte Strahlungen
44
Lehre vom Lichtsinn.
handelt, die Verschiedenheiten des Tageslichtes, von welchem das bezüg-
hche Pigment beleuchtet wird, und endlich die individuellen Verschieden-
heiten des Farbensinnes. Jede Farbe und also auch eine Urfarbe ist, wie
wir schon sahen, nicht an eine bestimmte Strahlung, sondern an eine be-
stimmte Regung unseres inneren Auges gebunden, und nur, wenn die
Stimmung des letzteren wieder genau dieselbe ist, wird auch eine be-
stimmte Strahlung wieder genau dieselbe Art der Regung und dement-
sprechend genau dieselbe Farbe erwecken.
Denken wir uns die Reihe der Farbentöne, welche im idealen Farben-
zirkel zwischen zwei Urfarben z. B. Urgelb und Urrot liegen, auf einer
Geraden (RG Fig. 3) angeordnet, an deren beiden Endpunkten die beiden
so können wir die verschiedenen Grade der Ähnlichkeit^
welche die einzelnen Zwischen-
Fig. 3.
Gt
Urfarben liegen.
farbentöne mit denen der beiden
Urfarben haben, durch das bei-
stehende Schema (Fig. 3) dar-
stellen. Das Viereck EB^ G^ G
sei durch die Diagonale i?i G in
eine untere rote [BB^ G) und
eine obere gelbe [GG^B^ Hälfte
geteilt. Zu jedem Punkte der
Geraden BG, z. B. zum Punkte r,
gehört eine Ordinate [rg\ welche einesteils im roten, anderenteils im gelben
Teile des farbigen Vierecks liegt; das Verhältnis dieser beiden Ordinatenteile
ist für jeden Punkt der Geraden ein anderes und drückt das für den bezüg-
lichen Farbenton charakteristische Deutlichkeitsverhältnis der Röte zur Gilbe
aus. Wir sehen den gelben Ordinatenteil in dem Maße wachsen und den
roten abnehmen, in welchem die Ähnlichkeit der bezüglichen Farbe mit dem
Urgelb wächst und die Ähnlichkeit mit dem Urrot abnimmt.
Eine derartige schematische Darstellung der Ähnlichkeits - oder Ver-
wandtschaftsverhältnisse der Farbentöne lässt sich auf den ganzen Farben-
zirkel anwenden, wie dies die obere Figur auf Taf. I zeigt. Zugleich giebt
dieses Schema eine passende Unterlage für die Bezeichnung der Zwischen-
farbentöne. Es genügt, dies an einem Quadranten des Farbenzirkels zu
erläutern :
Sämtliche zugleich dem Urrot und dem Urgelb verwandten Farbentöne
lassen sich als rot-gelbe oder gelb-rote bezeichnen, womit zunächst über das
Verhältnis ihrer Röte zur Gilbe nichts ausgesagt sein soll. Sind diese
beiden Merkmale in dem Farbentone beiläufig gleich deutlich, so könnte
man ihn unter Benutzung des Gleichheitszeichens rot = gelb oder gelb = rot
nennen. Überwiegt die Röte offenbar die Gilbe, so bezeichnet der Sprach-
gebrauch die Farbe als gelbrot und im umgekehrten Falle als rotgelb, was
§ 12. Die Reihe der Farbentöne. 45
sich auch durch gelb <^ rot, bezw. rot <^ gelb ausdrücken ließe. Hat end-
lich der überwiegend rötliche Farbenton nur einen deutlichen Stich ins
Gelbe, so nennt man ihn gelblichrot (gelb <[ <[ rot), und ist der Ton ganz
überwiegend gelblich und spielt nur ins Rot, so heißt er rütlichgelb
(rot < <Z gelb).
Auch könnte man, wie dies einst H. Spencer vorgeschlagen hat, die
einzelnen Farbentöne des Farbenzirkels in analoger Weise benennen, wie
die Himmelsrichtungen auf der Windrose, indem man an die Stelle der
vier Haupt-Himmelsrichtungen die vier Urfarbentöne setzt.
Immer aber handelt es sich bei diesen Farbenbezeichnungen nur um
das, w^as man eben an der Farbe sieht, nicht um das Strahlgemisch oder
das Pigment, von denen die bezügliche Farbe veranlasst wurde und an
welches man vielleicht dabei denkt.
Man hat bestritten, dass den von mir als Urfarben bezeichneten Farben-
tönen eine ausgezeichnete Stellung in der Farbenreihe zukomme, und behauptet,
dass man mit demselben Rechte jeden anderen Farbenton eine Urfarbe nennen
könne; nur zufällige, gar nicht im Wesen der Farben begründete Umstände
hätten dahin geführt, vier Farbentöne bezw. Gruppen einander nahestehender
Farbentöne mit besonderen Worten (Rot, Gelb, Grün, Blau) zu bezeichnen.
Es lässt sich mit dem, der solches behauptet, nur unter der Voraussetzung
sprechen, dass derselbe ebenso sieht, wie wir selbst, dass also die Qualitäten
seines Gesichtssinnes dieselben sind, wie die des unserigen, und dass Unterschiede
und Ähnlichkeiten, die wir zwischen den einzelnen Sinnesphänomenen finden,
auch für den anderen vorhanden sind. Es mag sein, dass für einige von denen,
die mir nicht zugestimmt haben, das Bunte in den Phänomenen des Gesichts-
sinnes angeborenermaßen weniger entwickelt ist, wie es ja auch bei gewissen
Augenleiden vorkommt, dass das Bunte immer weniger und schließlich gar nicht
mehr gesehen wird, sondern nur noch Weiß, Grau und Schwarz. Zum Teil
mögen auch lang eingewurzelte Vorstellungen und Meinungen zu einem Hindernis
des Verständnisses dessen geworden sein, was ich meine. Aber auf solche
Ursachen lassen sich keineswegs alle Einwendungen zurückführen, die man mir
gemacht hat. Denn dieselben sind zu einem großen Teile derart, dass sie das
Wesentliche meiner Auffassung gar nicht treffen, sondern nur die zufällig ge-
wählte Art der Darstellung. So habe ich gesagt, man könne die Zwischenfarben,
z. B. Orange, als zusammengesetzte oder gemischte bezeichnen zum Unterschiede
von den Urfarben als einfachen Farben. Dagegen wurde eingewendet, dass es
zusammengesetzte Gesichtsempfindungen nicht gebe, und dass Orange eine ebenso
einfache Empfindung sei wie Rot oder Gelb. Mir scheint es hier völlig gleich-
gültig zu sein, ob man von zusammengesetzten Empfindungen sprechen will oder
nicht, und ob man die Phänomene des Gesichtssinnes überhaupt Empfindungen
nennen will. Es handelt sich lediglich darum, dass diesen Phänomenen gewisse
Merkmale oder Eigenschaften zukommen, dass bestimmte Merkmale oder Eigen-
schaften ganzen Gruppen dieser Phänomene gemeinsam sind, wenn auch den
einzelnen Gliedern einer Gruppe in verschiedenem Maße der Deutlichkeit, und
dass eben hierauf die mehr oder minder große Ähnlichkeit der einzelnen Glieder
einer Gruppe beruht. So charakterisiert eine gewisse Röte und eine gewisse
Bläue alle zwischen dem Urrot und dem Urblau liegenden Töne des Farbenzirkels.
46 Lehre vom Lichtsinn.
Ob ich nun die Röte und Bläue des Violett als Bestandteile oder Komponenten,
oder ob ich sie als Merkmale oder Eigenschaften des Violett bezeichne, scheint
mir hier gleichgültig. Wesentlich aber scheint mir, dass man Violett und Orange
nicht in demselben Sinne als Merkmale des Urrot nehmen kann, wie Gelb und
Rot als Merkmale des Orange, oder Blau und Rot als solche des Violett, obwohl
das Rot in der Farbenreihe ganz ebenso zwischen Orange und Violett steht, wie
Orange zwischen Rot und Gelb oder Violett zwischen Rot und Blau.
Die später zu besprechende Thatsache, dass man durch Mischung eines
blauen Farbstoffes mit einem gelben ein grünaussehendes Gemisch erhält,
kann den, der eine strenge begriffliche Scheidung zwischen der Farbe als
Sinnesqualität und dem als Träger der Farbe erscheinenden Farbstoffe noch
nicht vorgenommen hat, vielleicht verführen, einem Grün zugleich Gilbe
und Bläue zuzuschreiben, obwohl die Beobachtung lehrt, dass ein ganz
gleichartiges grünes Farbenfeld nie in deutlicher Weise zugleich gelblich
und bläulich aussieht. Man kann wohl zweifelhaft sein, ob man ein gegebenes
Grün für Urgrün nehmen dürfe oder ob es nicht doch vielleicht spurweise
gelblich oder bläulich sei. Niemand aber wird behaupten wollen, dass ein
Grün in deutlicher Weise zugleich gelblich und bläulich sein könne, wie ein
Violett zugleich bläuUch und rötlich erscheint, und niemand wird versuchen,
ein Grün als Blaugelb oder Gelbblau in demselben Sinne zu bezeichnen,
wie man ein Violett unbedenklich als Rotblau oder Blaurot bezeichnet.
Aber möge man der hier vertretenen Auffassung zustimmen oder nicht,
so ist doch unbestreitbar, dass sie uns das Mittel giebt, die verschiedenen
Farbentöne verständlich zu benennen. Dies wird eben nur dadurch mög-
lich, dass in den bunten Farben vier variable Eigenschaften angenommen
werden, nämlich die Röte, Gilbe, Grüne und Bläue, und so die entsprechen-
den vier Farbentöne zur Grundlage der Nomenklatur gemacht werden.
Sobald man nur drei Variable, z. B. Rot, Grün und Violett, gelten lässt
und auf diese eine Nomenklatur zu gründen versucht, überzeugt man sich
sofort von der Unbrauchbarkeit des Verfahrens. Man muss dann z. B.
Gelb als ein Rotgrün oder Grünrot, Blau als ein Violettgrün oder Grünviolelt
bezeichnen. Dass man dadurch dem Uneingeweihten ganz unverständlich
würde, wäre zwar störend, aber in theoretischer Hinsicht gleichgültig. Nicht
gleichgültig aber wäre, dass bei solcher Bezeichnungsweise die Namen der
Farben gar nicht zum Ausdruck bringen, in welcher Art und in welchem
Grade die letzteren unter sich verwandt erscheinen.
Übrigens wird später dargelegt werden, dass den vier Variabein des
Farbentones, welche ich angenommen habe, auch vier physiologische Variable
entsprechen, womit dann die Einwände gegen meine Auffassung auch denen
gegenüber ihre Erledigung finden werden, welche die F'arben nicht nach
ihrer Beschaffenheit, sondern auf Grund korrelativer physiologischer Prozesse
ordnen wollten.
§ 4 2. Die Reihe der Farbentöne. 47
Schon AuBERT (6, S. 186) sagte im Jahre 1865: »Wollen wir uns über
die Farbenempfindungen verständigen, so genügen als Ilauptbezeichnungen die
Worte Schwarz, Weiß, Rot, Gelb, Grün und Blau, die ich daher als Prinzipal-
empfindungen oder Prinzipalfarben bezeichnen möchte.« »Die Zusammensetzungen
und sonstigen Modifikationen jener Worte genügen, um alle unsere Farben-
empfindungen auszudrücken oder wenigstens auf die Prinzipalempfindungen in
verständlicher Weise zu beziehen.« Auch E. Mach (13, S. 321), auf dessen Unter-
suchungen zurückzukommen sein wird, nahm Rot, Gelb, Grün, Blau als »Grund-
farbenempfindungen« an, »da man nur in diesen bei der bloßen Betrachtung
keine anderen Farben erkennt« ^).
Helmholtz stand einer lediglich auf die Eigenschaften der Farben selbst
gegründeten Analyse derselben durchaus ablehnend gegenüber. »Welch trügerisches
Mittel,« wandte er mir ein (2, S. 380), »die angebhche innere Anschauung in
solchen Dingen ist, zeigt am besten das Beispiel von zwei solchen Autoritäten,
wie Goethe und Sir D. Brewster, die beide glaubten, im Grün das Blau und
Gelb zu sehen, aus denen sie es, getäuscht durch die Erfahrungen an Maler-
farben, gemischt glaubten.« Was sich Helmholtz hier unter »innerer An-
schauung« gedacht hat, ist mir nicht verständlich. Wenn ich offenen Auges
zw^ei vor mir erscheinende Farben vergleiche, so geschieht dies mittels einer
»äußeren Anschauung« und auf Grund solcher Vergleichungen beruht eben die
Analyse der Farben als Sehqualitäten. Der h'rtum Goethe's und Brewster's
V v. Kries hat neuerdings irrtümlicherweise von einer »Vierfarbentheorie«
Aubert's gesprochen (Handb. d. Physiol. von Nagel, III. Bd., S. 146). Aber dieser
um die Lehre vom Licht- und Farbensinn so verdiente Forscher hat nie irgend-
welche Farbentheorie entwickelt; er hat lediglich einen »Einteilungsgrund« für die
Mannigfaltigkeit der Farben gesucht, »um sich verständigen zu können«, und dem-
entsprechend »besonders hervorragende oder sich oft wiederholende Empfindungen
zur Basis genommen«, wie man dies »seit den ältesten Zeiten« gethan habe. Erst
später habe man »die Ursachen als Einteilungsgrund benutzt oder die Verschieden-
heit der zuleitenden Organe oder Nerven«. Bei der Erklärung der Thatsachen,
insbesondere der Nachbilder und des Kontrastes, hat sich Aubert »im ganzen der
BRÜCKE-HELMHOLTz'schen Auffassung angeschlossen« (6, S. 389). Die YouNo'sche
Dreifarbentheorie hat er eingehend und durchaus nicht ablehnend diskutiert; von
einer eigenen Theorie ist aber in Aubert's Schriften nichts zu finden. Der Aus-
druck »Vierfarbentheorie« ist zuerst von mir gebraucht worden, als Donders einer
von mir entwickelten Theorie eine andere, ebenfalls auf der Annahme von vier
bunten Urfarben (Rot, Gelb, Grün, Blau) beruhende entgegengestellt hatte. Dürfte
man die von Aubert benutzte Nomenklatur als eine Vierfarbentheorie bezeichnen,
so wäre auch nicht Aubert, sondern die Sprache als Autor derselben zu nennen,
denn dieselbe hat Rot, Gelb, Grün und Blau längst als die Hauptfarben aus der
Mannigfaltigkeit der bunten Farben herausgehoben. Später hat Aubert der von
mir entwickelten Theorie, welche ich insbesondere als die Theorie der Gegen-
farben bezeichnet habe, in allen irgend wesentlichen Punkten ausdrücklich zu-
gestimmt und dieselbe seiner Darstellung der Lehre vom Licht- und Farbensinn
in der ersten Auflage dieses Handbuches zu Grunde gelegt. Eine Rechtfertigung
seines früheren Standpunktes lag für ihn in der Meinung, dass die Theorie der
Gegenfarben und die YouNO-HELMHOLTz'sche Dreifarbentheorie »sehr wohl mit
einigen Modifikationen nebeneinander bestehen könnten, wenn man den Er-
regungs Vorgang streng unterscheide vom Empfin dungs Vorgang « , und für
ersteren die Dreifarbentheorie, für letzteren die von mir entwickelte gelten ließe.
Nachher ist auch Donders für eine solche Fusion der YouNc'schen Theorie und
seiner eigenen Vierfarbentheorie eingetreten.
48 Lehre vom Lichtsinn.
lässt sich ebenso gut als ein weiterer Beweis dafür anführen, dass man den
Mitteln und Methoden, durch welche man sich eine Farbe zur Anschauung ge-
bracht hat, keinen Einfluss auf die Beurteilung der Farben als solcher gestatten
darf. Eine beherzigenswerte Mahnung giebt uns der Irrtum Goethe's aller-
dings. Er zeigt, einen wie großen Einfluss hier vorgefasste Meinungen und
durch dieselben geweckte Associationen auf unser Urteil nehmen können; und
wenn es mir nicht gelungen wäre, auch noch auf einem ganz anderen als dem
oben eingeschlagenen Wege, zu zeigen, dass Weiß, Schwarz, Gelb, Blau, Rot
und Grün die Variabein des Lichtsinnes sind, so würde ich als Physiologe
seinerzeit Bedenken getragen haben, dies mit solcher Bestimmtheit anzunehmen,
wie ich es gethan habe.
§ 13. Die Gegenfarben. Der Farbenzirkel zeigt uns, wie jede der
vier bunten Urfarben durch eine Reihe stetig ineinander übergehender Zwischen-
töne verbunden ist, daher wir eine rot-gelbe, gelb-grüne, grün-blaue und blau-
rote Reihe von bunten Zwischen färben oder -tönen unterscheiden. Dagegen
giebt es keine Reihe von rot-grünen oder gelb-blauen Zwischentünen, und also
keine Farbe, deren Ton gleichzeitig dem Urrot und Urgrün, oder gleichzeitig
dem Urgelb und Urblau ähnlich oder verwandt erscheint. Keine Farbe ist
deutlicherweise rötlich und grünlich, keine gelbhch und bläulich zugleich,
Röte und Grüne schheßen sich ebenso aus wie Gilb^ und Bläue. Von einer
Farbe, welche etwas Rotes an sich hat, können wir zu einer Farbe, die
mehr oder weniger grünlich ist, durch eine stetige, bunte Farbenfolge nur
auf dem Umwege über das Urgelb oder das Urblau gelangen, und von einer
irgendwie gelblichen zu einer bläulichen Farbe führt eine stetige Reihe von
Farbentönen nur über das Urrot oder über das Urgrün.
Die erwähnten vier Reihen von Zwischentönen verhalten sich ähnlich
wie die schwarz-weiße Farbenreihe, auf welcher wir ebenfalls vom Schwarz
zum Weiß durch eine stetige Reihe von Zwischenfarben gelangen können,
deren jede einerseits dem Schwarz, andererseits dem Weiß mehr oder
weniger verwandt erscheint. Zwischen Rot und Grün aber, oder zwischen
Gelb und Blau giebt es keine analoge Farbenreihe. Ein freies Rot lässt
sich durch stetig zunehmende Verhüllung mit einer tonfreien Farbe, z. B.
mit einem Grau, in dieses überführen, und dieses Grau wieder durch stetige
Abnahme der Verhüllung in freies Grün, und Analoges gilt von Gelb und
Blau; aber es handelt sich hierbei abermals nicht um eine Farbenreihe, in
welcher jedes Glied etwas von der bunten Qualität der beiden Endglieder
Rot und Grün bezw. Gelb und Blau an sich hat. Denn von der freien
roten Farbe ausgehend sehen wir die Röte der Farbe immer mehr schwinden,
ohne dass sich gleichzeitig eine entsprechend wachsende Grünlichkeit zeigt,
vielmehr muss erst die Röte im Grau gänzlich verschwunden sein, ehe
jenseits dieses Grau die Grünlichkeit beginnen kann.
Da also Röte und Grüne, bezw. Gilbe und Bläue in keiner Farbe gleich-
zeitig deutlich sind, sich vielmehr gegenseitig auszuschheßen scheinen, habe
§ U. Die verhüllten bunten Farben. 49
ich dieselben als Gegenfarben bezeichnet. Hiermit soll zunächst lediglich
die Art ihres Vorkommens gekennzeichnet sein ohne jede Beziehung auf
irgendwelche Erklärung.
Es werden später einige besondere Umstände zu besprechen sein, unter
welchen man meinen kann, eine Farbe zu sehen, welche gleichzeitig rötlich
und grünlich oder gelblich und bläulich ist; vorerst möge es bei der soeben
aufgestellten Regel sein Bewenden haben.
Zwei Zwischenfarbentüne, welche zwei einander gegenüber liegenden
Quadranten des Farbenzirkels angehören, z. B. dem rot-gelben und dem
grün-blauen, sind in doppelter Beziehung gegenfarbig; gehören sie jedoch
zwei nebeneinander liegenden Quadranten an, wie z. B. dem rot-gelben und
dem grün-gelben, so sind sie nur in einer Beziehung gegenfarbig.
Es erscheint von vornherein höchst auffällig, dass es z. B. zwischen
Rot und Grün nicht ebenso eine Reihe bunter Zwischenfarben giebt, wie
zwischen Rot und Gelb oder zwischen Rot und Blau, dass es also keine
Farben giebt, welche uns in ähnlicher Weise zugleich rötlich und grünlich
erscheinen, wie das Orange zugleich rötlich und gelblich oder das Grau
zugleich weißlich und schwärzlich. Wir dürfen daraus schließen, dass im
inneren Auge ein physiologischer Prozess, dessen psychisches Korrelat von
gleichzeitig deutlicher Röte und Grüne bezw. Gilbe und Bläue wäre, ent-
weder überhaupt nicht oder nur unter ganz besonderen, ungewöhnlichen
Bedingungen möglich ist.
§ i4. Die verhüllten bunten Farben. Wenn eine bunte Farbe
in deutlicher Weise weißlich, graulich oder schwärzlich erscheint, nenne ich
sie, wie schon gesagt, eine verhüllte Farbe. So oft zwei Farben zwar
denselben Farbenton zeigen, doch aber verschieden erscheinen, beruht dies
darauf, dass ihre Verhüllung entweder nur verschiedenen Grades oder ver-
schiedener Art oder beides zugleich ist. Da die Verhüllung der bunten
Farbe mit jeder beliebigen, der schwarz-weißen Farbenreihe angehörigen
Farbe und in allen denkbaren Graden bis zum fast völligen Verschwinden
des Farbentones möglich ist, so entspricht jedem einzelnen Farbentone eine
Mannigfaltigkeit verhüllter Farben, welche viel größer und höherer Ordnung
ist, als die Mannigfaltigkeit der Farbentöne selbst.
Man kann sagen, es lasse sich an jeder deutlich verhüllten bunten Farbe
ein bunter und ein schwarz - weißer Bestandteil unterscheiden, und das
Deutlichkeitsverhältnis dieser beiden Bestandteile oder Merkmale entspreche
dem Verhüllungsgrade der bunten Farbe. Je ähnlicher letztere dem Weiß,
Schwarz oder einem beliebigen Grau ist, desto größer ist, so lässt sich
bildlich sagen, ihr schwarz-weißer, desto kleiner ihr bunter Bestandteil.
Es handelt sich also auch hier wieder nur um einen Ausdruck für das
Ausmaß der Ähnlichkeit, welchen z. B. ein gegebenes Grau -Rot einerseits
Hering, Lichtsinn. 4
50 Lehre vom Lichtsinn.
mit dem freien Rot gleichen Tones, andererseits mit dem bezüglichen
Grau hat.
Denkt man sich an die eine Ecke r (Fig. 4) eines Dreieckes ein ganz
freies Rot von bestimmtem Tone, an die zweite Ecke w ein ganz reines
Weiß und an die dritte s ein ganz reines Schwarz gestellt, so kann man
sich auf der von r zn w führenden Linie alle möglichen Stufen des Über-
ganges von jenem freien Rot zum reinen Weiß, und auf der die Ecken
r und s verbindenden Linie alle Übergänge zwischen
Fig. 4. dem freien Rot und dem reinen Schwarz angeordnet
denken. Mit wachsender Entfernung vom freien
Rot würden also die so angeordneten Farben einer-
seits immer mehr durch Weiß, andererseits durch
Schwarz verhüllt erscheinen, bis schließlich im
reinen Weiß oder Schwarz die letzte Spur von
Röte verschwände. Zugleich ließe sich bei ent-
sprechender Anordnung der Farben der Ort (z. B. q)
eines bestimmten weißverhüllten Rot durch das
Verhältnis [rq : qw) seiner Abstände einerseits vom
freien Rot und andererseits vom reinen Weiß charakterisieren.
Auf der dritten Seite [sw) des Dreieckes kann man sich ferner die
ganze Reihe der schwarz-weißen Farben so angeordnet denken, wie dies in
§40 erörtert wurde. Dann entspricht jedem Punkte dieser Seite ein be-
stimmtes Weiß, Grau oder Schwarz, und auf jeder Geraden (z. B. rg)^ welche
ein bestimmtes Schwarz- Weiß mit dem Orte des freien Rot verbindet, lassen
sich alle Übergänge zwischen dem letzteren und dem ersteren, also alle
Grade der Verhüllung mit eben diesem Schwarz- Weiß f^) in stetiger Folge
untergebracht denken. Würden dann auch auf dieser Geraden die ver-
hüllten Farben so geordnet sein, dass der Ort jeder einzelnen durch das
Verhältnis [ry : yg) seiner Abstände von dem Orte des freien Rot und dem
Orte des bestimmten Schwarz-Weiß [g] den Verhüllungsgrad der Farbe aus-
drückt, so würden auf jeder zur Seite ws parallelen Geraden, z. B. auf ^(j
Farben von gleich starker Verhüllung zu liegen kommen, in denen allen
das Verhältnis der bunten Komponente der Farbe zur schwarz -weißen
dasselbe wäre.
Ein solches Verhüllungsdreieck, wie ich es nenne, würde die ganze
Mannigfaltigkeit der, einem bestimmten Farbentone entsprechenden ver-
hüllten Farben in erschöpfender Weise darbieten. Freilich ließe sich, selbst
unter der Voraussetzung einer ganz bestimmten Beleuchtung und Augen-
stimmung, nur ein sehr beschränkter Teil des Dreieckes durch Pigmente
darstellen, u. a. schon deshalb, weil weder ein ganz freies Rot noch ein
ganz reines Weiß oder Schwarz zur Anschauung gebracht werden könnte.
Aber es ist wichtig, sich wenigstens teilweise die hier summarisch erörterte
§ 4 4. Die verhüllten bunten Farben. 51
Verhüllungsreihe irgendwie zu veranschaulichen, und ich darf hier um so
mehr etwas ausführlich sein, als gerade in betreff der verhüllten Farben die
in physikalischer Hinsicht so ausgezeichnete Darstellung von Helmholtz
so manches schuldig bleibt, was aus dem Gesichtspunkte einer reinlichen
Scheidung der Farben als Sehqualitäten von den optischen Stralilungen und
deren Intensitäten und »Qualitäten« verlangt werden darf.
Die Verhüllung einer bunten Farbe mit Weiß oder Grau oder Schwarz
nannte AuBERT (6, S. 108) Nuancierung^ und auch ich habe seinerzeit dieses
Wort in diesem Sinne gebraucht. Leider hat Aubert, verführt durch Grass-
mann's Darstellung, außer den »Farbennuancen« auch noch »Farbenintensitäten«
unterschieden, was sich gar nicht folgerichtig durchführen lässt, insbesondere
nicht betreffs der »Nuancierung« mit Schwarz.
Um einer, durch die hier von mir gewählte Bezeichnungsweise be-
günstigten einseitigen Auffassung der verhüllten Farben zu begegnen, ist
es zweckmäßig zu bedenken, dass der Begriff der Verhüllung sich nicht nur
auf das bunte Merkmal (die bunte Komponente) der Farbe, sondern auch auf
ihr schwarz-weißes Merkmal (die schwarz-w^eiße Komponente) anwenden lässt.
Denken wir uns z. B. eine deutlich ins Graue spielende rote Farbe. Eine
solche lässt sich auch auffassen als ein bestimmtes Grau, welches mehr
oder weniger mit Rot verhüllt ist; sie lässt sich ferner auffassen als ein
mit einem bestimmten Schwarz -Rot verhülltes Weiß oder umgekehrt als
ein mit Weiß verhülltes Schw^arz-Rot. Endlich lässt sie sich auffassen als
mit einem bestimmten Weiß-Rot verhülltes Schwarz oder als mit Schwarz
verhülltes Weiß-Rot. Macht man sich dies in jeder Hinsicht klar und übt
man sich darin, eine solche wechselnde Auffassung auf die einzelnen ver-
hüllten Farben, die man vor sich hat, bezw. auf die verschiedenen Ver-
hüllungsreihen derselben anzuwenden, benutzt man ferner zur Verhüllung
einer und derselben bunten Farbe ganz verschiedene Methoden, welche bald
diese bald jene Komponente der Farbe vorwiegend zu variieren gestatten, so
wird man schließlich lernen, bei der Betrachtung der Farben von der Art ihrer
Herstellung ganz abzusehen, sich lediglich an die gegebenen Farben selbst
zu halten und nicht immer wieder die jeweilige Beschaffenheit der eben
vorliegenden Strahlungen zur Charakterisierung der Farben mit herbei-
zuziehen.
So wenig sich der Freiheitsgrad einer bunten Farbe genauer bestimmen
lässt, so wenig lässt sich von einer uns als besonders frei erscheinenden
Farbe behaupten, dass ihre Freiheit eine absolute sei. Nur wenn wir zwei
Farben gleichen Tones, aber zureichend verschiedener Freiheit vor uns
haben, können wir mit Sicherheit angeben, welche die freiere ist. Die durch
annähernd oder vollkommen homogene Strahlungen veranlassten Farben sind
bei passend gewählter Energie der Strahlung besonders frei, womit nicht
gesagt sein soll, dass die mittels gewisser farbiger Gläser oder Flüssigkeiten
4*
52 Lehre vom Lichtsinn.
hergestellten Farbenfelder nicht unter günstigen Umständen denselben Grad
von Freiheit erreichen könnten. Erleuchtet man aber z. B. das Gesichtsfeld
eines Fernrohres in später zu besprechender Weise mit einem homogenen
Lichte und steigert oder mindert dann für die eine Hälfte des zunächst
in schöner freier Farbe erscheinenden Feldes die Intensität der Strahlung,
so zeigt sich die Farbe der einen Hälfte freier als die der anderen, und
zwar je nach den Umständen bald die stärker bald die schwächer be-
leuchtete. Hat man zunächst nur die eine Hälfte des Feldes homogen
erleuchtet und macht dann in der anderen Hälfte die Gegenfarbe sichtbar,
so steigert sich sofort die Freiheit der Farbe der ersten Hälfte in auf-
fallender Weise.
Die Verhüllung einer einzeln gesehenen bunten Farbe muss schon eine
relativ beträchtliche sein, wenn sie uns sofort als solche zum ßewusstsein
kommen soll. Übung fällt hier sehr ins Gewicht; aber auch der Geübteste
vermag wohl von zwei nebeneinander erscheinenden Farben gleichen Tones
und gleicher Art der Verhüllung leicht anzugeben, welche von beiden die
freiere sei, aber bei Farben verschiedenen Tones oder verschiedener Art der
verhüllenden schwarz- weißen Farbe ist ihm dies oft unmöglich. Erscheinen
zwei bunte Farben äußerst wenig verschieden, so vermag er zuweilen nicht
zu sagen, ob die merkliche Verschiedenheit auf verschieden großer Freiheit
oder auf verschiedener Art der verhüllenden schwarz-weißen Farbe beruht,
worauf schon Aubert hingewiesen hat.
Wenn ich also von freien Farben spreche, so gilt der Begriff der Frei-
heit nur relativ. Nach meiner Ansicht ist jede uns wirklich vorkommende
Farbe mehr oder weniger verhüllt, aber erst wenn die Verhüllung eine ganz
deutliche ist, nenne ich die Farbe eine verhüllte.
Verhüllung bunter Farben mit Schwarz. Hier ist zuerst an das
zu erinnern, was in § 9 über die Entstehungsbedingungen des Schwarz
gesagt worden ist. Wie ein tieferes Schwarz überhaupt nur dann im Seh-
felde erscheint, wenn gleichzeitig an anderen Stellen des letzteren helle
Farben gesehen werden, so gilt dies auch von den ins Schwarz gehenden
bunten Farben. Blickt man durch eine dicht an's Auge gesetzte innen
samtschwarze Röhre mit enger unterer Öffnung auf eine schön buntfarbige
z. B. blaue Fläche und schwächt dann die Beleuchtung der letzteren all-
mählich ab, so wird doch die Öffnung nie schwarzblau erscheinen, mag man
die Lichtstärke der Fläche auch noch soweit herabsetzen. Der Versuch
lässt sich am bequemsten in einem Zimmer anstellen, welches nur durch
ein großes stellbares Diaphragma Licht empfängt. Man thut zur Vermeidung
von Nachbildern gut, nicht während der ganzen Dauer der allmählichen
Verfinsterung der Fläche durch die Röhre zu blicken, sondern nur mit
längeren Zwischenpausen die einzelnen Stufen der Änderung zu beobachten,
welche die blaue Farbe dabei zeigt. Je strahlschwächer die Fläche geworden
§ 14. Die verhüllten bunten Farben. 53
ist, desto mehr verliert ihre Farbe an Freiheit, und wenn die Bläue schon
fast oder ganz geschwunden ist, erscheint die weißlich oder graulich ge-
wordene Öffnung doch noch deutlich heller als das übrige Sehfeld, bis sie
schließlich mit dem Dunkel des letzteren verschwimmt, ohne jemals schwarz-
blau oder blauschwarz geworden zu sein. Alle anderen buntfarbigen Felder
verhalten sich ähnlich, und nur darin sind sie verschieden, dass das Bunte
bei dem einen früher, bei dem anderen später bis zur Unkenntlichkeit ver-
bleicht. Gewisse bunte Farben sind bis kurz vor dem völligen Verschwinden
des Feldes noch an ihrem Ton erkennbar, andere werden schon verhältnis-
mäßig bald tonfrei. Hierauf wird später ausführlich zurückzukommen sein.
Übrigens vermag keine Beschreibung die eigene Beobachtung dieser Er-
scheinungen zu ersetzen.
So kann man sich leicht überzeugen, dass man keine, wenn auch
anfangs möglichst freie bunte Farbe durch bloße Abschwächung der sie
erzeugenden Strahlung nach dem Schwarz hin abzuwandeln vermag, so
lange gleichzeitig das übrige Gesichtsfeld verfinstert ist. Dies gilt auch von
solchen Farbenfeldern, welche durch eine homogene Strahlung erzeugt
wurden. In § 5 wurde kurz erörtert, wie man sich jede einzelne Farbe
des Spektrums gesondert zur Anschauung bringen kann. Durch Verengung
des Spaltes, welcher die bezügliche Strahlung liefert, kann man die Stärke
der letzteren bis zum Verschwinden herabsetzen und sich überzeugen,
dass man auch auf diese Weise bei Abschluss jeden anderweiten Lichtes
nie ein Schwarzblau, Schwarzgrün, Schwarzrot, Braun (s. u.) zu sehen
vermag, welche Farben uns im beleuchteten Räume doch oft genug be-
gegnen.
Sollen also schwarzverhüllte Farben im Sehfelde erscheinen, so darf
dasselbe nicht im übrigen dunkel sein. Dementsprechend gelingt die Ab-
wandlung jeder bunten Farbe nach dem Schwarz hin schon in folgender
einfacher Weise. Man schlägt in ein steifes weißes Papier ein Loch von
einigen Gentimetern im Durchmesser und hält es in der Nähe des Fensters
derart gegen das einfallende Licht, dass es besonders günstig beleuchtet
ist. Durch das Loch blickt man von oben auf die darunter befindliche,
zunächst ebenso gegen das Fenster orientierte möglichst freifarbige Fläche,
welche um eine horizontale, parallel zur Fensterebene liegende Achse ge-
dreht werden kann, was man im Notfall aus freier Hand thut. In dem
Maße, als dabei die Fläche vom Fenster ab- und dem Zimmer zugewendet
wird, nimmt die Stärke der von ihr zurückgeworfenen Strahlung ab, wobei
man das Loch immer schwärzlicher werden sieht. Warum bei derartigen
Versuchen die benutzte Pigmentfläche ganz matt und durchaus eben, und
das Auge für die Entfernung des Loches und nicht der Pigmentfläche
akkommodiert sein soll, wurde in § 5 erörtert. Um die Verdunklung der-
selben möglichst weit treiben zu können, bleibt man etwas ferner vom
54
Lehre vom Lichtsinn.
Fig. 5.-
Fenster und hält das von den Seiten kommende Licht durch kleine schwarze
Schirme von der Pigmentfläche ab.
Sehr bequem ist für derartige Versuche die in Fig. 5 im Vertikal durch-
schnitt skizzierte Vorrichtung, d. i. ein Kasten, welcher nach dem Fenster hin
offen ist, so dass das Himmelslicht auf eine in ihm befindliche, um eine hori-
zontale Achse drehbare Glastafel fallen kann, welche mit dem farbigen z. B.
orangefarbenen Papier überzogen ist. Auf
der oberen Wand des Kastens liegt ein
steifes, undurchsichtiges, oben mit mattem
weißen Papier überzogenes Blatt mit einem
runden Loch, auf welches, wenn nötig,
eine Dunkelröhre aufgesetzt werden kann,
wie dies Fig. 5 zeigt. Ist die Röhre ent-
fernt und liegt die Glasplatte so, wie in
der Figur, so sieht man von oben her ein
kreisrundes orangefarbenes Feld in der
Ebene des weißen Papieres. Dreht man
jetzt die Glasplatte zurück, so verhüllt sich
das Orange zunehmend mit Schwarz, wird
zunächst hellbraun, dann dunkelbraun und
schließlich bräunlichschwarz. Setzt man
dann, ohne im übrigen
irgend
etwas zu
einem weißen
Hintergrunde
ändern, die Dunkelröhre auf, so sieht man
durch dieselbe sofort wieder ein leuchtendes
Orange, welches sich ebenso schnell aber-
mals in Braunschwarz verwandelt, wenn
die Dunkelröhre wieder entfernt wird: ein
selbst den Kenner immer von neuem über-
raschendes Schauspiel.
Sehr leicht lassen sich bunte Farben
mit Hilfe des Farbenkreisels beliebig mit
Schwarz verhüllen, wenn man den Kreisel
in einem gut beleuchteten Zimmer vor
aufstellt und einen immer größeren Teil einer
auf den Kreisel gebrachten bunten Scheibe mit Sektoren eines tiefschwarzen
Papieres verdeckt. Die so erzielten Übergangsfarben zwischen bunter Farbe
und Schwarz sind um so schöner, je freier bei ruhender Scheibe die bunte
Farbe des einen und je dunkler die schw^arze Farbe des anderen Scheiben-
sektors erscheint. Die Fülle überraschend schöner dunkler Farben, die man
sich auf diese Weise zur Anschauung bringen kann, ist unerschöpflich.
Auch die durch spektrale homogene Strahlungen erzeugten Farbenfelder
lassen sich schwärzen, wenn ihre unmittelbare Umgebung gut beleuchtet ist
§ 14. Die verhüllten bunten Farben. 55
und z. B. weiß erscheint. Man erreicht das u. a. leicht mit Hilfe eines zu
diesem Zwecke eingerichteten LuMMEn'schen Würfels. Ein kleines buntes
Feld erscheint dabei umgeben von einem breiten w^eißen Ringe; schwächt
man die homogene Strahlung, welche das kleine Feld erleuchtet, mehr und
mehr ab, während das Weiß des umgebenden Ringes unverändert bleibt,
so wird ein Blau des kleinen Feldes schwarzblau, ein Grün schwarzgrün
u. s. w. Man erhält auf diese Weise schwarzverhüllte Spektralfarben, die
man, wie oben erörtert wurde, trotz aller Abschwächung der bezüglichen
Strahlung nie erzielen kann, solange die ganze Umgebung des bunten Feldes
verfinstert ist.
Auch ohne jede Änderung der Strahlung lässt sich ein buntes
Feld, lediglich durch Beleuchtung seiner Umgebung, mit Schwarz verhüllen.
Man kann diese Verhüllung in jedem beliebigen Grade herbeiführen, wenn
man z. B. zwei durch eine Thüre verbundene Zimmer zur Verfügung hat,
deren eines, das Beobachtungszimmer, weiße W^ände hat und sich beliebig
verfinstern lässt. Macht man in die ebenfalls weißgestrichene oder mit
weißem Papier beklebte Thüre ein Loch, hinter welchem sich ein farbiges
Glas befindet, und beleuchtet das Loch mittels eines im anderen Zimmer
stehenden weißen Schirmes nur soweit, dass es eben anfängt in einer schön
freien Farbe zu erscheinen, so kann man durch stufenweise wachsende
Erleuchtung des Beobachtungszimmers diese Farbe entsprechend stufenweise
schwärzen und schließlich bei voller Beleuchtung des Zimmers in fast reines
Schwarz verwandeln, und zwar dies alles so schnell, dass eine irgend er-
hebliche Successivanpassung des Auges an die jeweilige Gesamtbeleuchtung
sich nicht entwickeln kann. Im folgenden soll diese Versuchsmethode als
die Zweizimmermethode bezeichnet werden.
Erleuchtet man die eine Hälfte des Gesichtsfeldes eines kleinen Fern-
rohres mit einem homogenen Lichte in passender mäßiger Stärke, und sieht
man das Halbfeld z. B. als ein freies Orange, so verwandelt sich dasselbe
sofort in Braun d. i. ein mit Schwarz verhülltes Orange, wenn man auf der
anderen Hälfte ein helles Weiß erscheinen lässt.
Jede deutlich gelbhaltige Farbe, sei sie durch eine homogene oder
zusammengesetzte Strahlung bewirkt, lässt sich durch Schwärzung in ein
Braun verwandeln. Je näher dabei die schwarz -weiße Komponente der
Farbe dem absoluten Schwarz liegt, desto schöner ist das Braun. Ein
orangefarbenes Feld wird durch entsprechende Verhüllung mit Schwarz
kastanienbraun, noch rötlichere Farbentöne (Feuerrot) geben Rotbraun,
grünlichgelbe Farbentöne Olivenbraun, d. i. ein grünliches Braun.
In schlagender Weise zeigen die letzterwähnten Versuche, wie unzu-
reichend es ist, die schwarzverhüllten Farben , wie z.B. das Braun, als
> lichtschwache Farben« zu bezeichnen. Unter solchen Farben verstand
Helmholtz die durch Strahlungen von geringer Energie erzeugten. Ein in
B6
Lehre vom Lichtsinn.
oben beschriebener Weise durch die Dunkelrühre gesehenes gelbes Pigment-
feld kann durch bloße Abschwächung der Beleuchtung nie in Braun ver-
wandelt werden; es wird dabei vielmehr immer weißlicher, verliert weiterhin
-seine Gilbe vollständig und unterscheidet sich dann von seiner Umgebung
nur noch durch seine etwas größere Weißlichkeit. Das für das Braun
charakteristische Merkmal, nämlich die Schwärze, kommt auf diese Weise
nie neben dem gelben Merkmal (dem Farbenton) deutlich zum Vorschein.
Hierauf wird an anderer Stelle zurückzukommen sein.
Gewöhnlich werden nur solche bunte Farben als schwärzlich bezeichnet,
welche schon sehr stark mit Schwarz verhüllt sind, deren Ähnlichkeit mit
dem reinen Schwarz daher sofort auffällt: die weniger mit Schwarz oder
Schwarzgrau verhüllten pflegt man dunkelfarbig zu nennen. Dass die
Sprache für die braunen Farben ein uraltes Wort besitzt, steht im Einklang
mit der großen Häufigkeit der braunen Farben in der Natur.
Es sei hier wieder daran erinnert, dass man bei den im obigen und im
folgenden beschriebenen Versuchen soweit möglich alle diejenigen Vorsichts-
maßregeln treffen soll, welche in § 5 erwähnt und insbesondere als Mittel zur
AusschHeßung der Gedächtnisfarben bezeichnet worden sind. Obgleich diese
Versuche den mitgeteilten Erfolg auch dann haben, wenn man jene Maßregeln
vernachlässigt, so ist derselbe doch bei Einhaltung derselben zuweilen noch
schlagender und überdies besser vor allerlei Einwendungen geschützt, welchen
eine von der gewohnten abweichenden Auffassung ausgesetzt zu sein pflegt.
Verhüllung bunter Farben mit Weiß. Zur Herstellung verschie-
dener Stufen der Farbenreihe, welche von einer freien bunten Farbe zu
einem ton freien Weiß führt, eignet
Fig. 6. sich insbesondere die Methode der
Zuspiegelung. Die horizontale Ober-
fläche des in Fig. 6 skizzierten
Apparates sei mit schwarzem Samt
überzogen. Auf die eine Seite
der vertikalen, auf der Mittellinie
dieser Fläche stehenden unbelegten
Spiegelglasplatte legt man in die
Nähe derselben das mit buntem
Papier überkleidete 2 cm breite und
4 cm lange Täfelchen, dessen Farbe
mit Weiß verhüllt werden soll, und
zwar mit der Langseite paraflel zur Glasplatte in \ cm Abstand von der-
selben; auf die andere Seite ein mit grauem Papier überkleidetes Täfelchen
von ganz gleicher Form und zwar so, dass sein Spiegelbild sich für den
auf derselben Seite befindlichen Beobachter mit dem direkt gesehenen bunten
Täfelchen möglichst genau deckt. Die Farbe des letzteren erscheint jetzt
§ 15. Die Helligkeit der bunten Farben. 57
weißlicher, und um sie mit der zuvor gesehenen vergleichen zu künnen,
legt man ein zweites ganz gleiches buntes Täfelchen rechts oder links neben
das erste. Dies ist besser, als wenn man das gespiegelte graue Täfelchen
so legt, dass sein Spiegelbild das bunte nur teilweise deckt. Schon aus
größerer Entfernung sieht man die Farbe des einen bunten Täfelchens etwas
weißlich, und je mehr man sich dem Apparat nähert und je kleiner also
der Winkel zwischen der Blicklinie und der Glasplatte wird, desto mehr
verhüllt sich die Farbe mit Weiß, und noch stärker wird diese Verhüllung,
wenn man das graue Täfelchen mit einem weißen vertauscht.
Andere Methoden zur Erzielung weißverhüllter Farben werden später
gelegentlich zur Sprache kommen. Dahin gehört das Weißlichwerden ge-
wisser bunter Farben bei starken Steigerungen der Energie der korrelativen
Strahlung, ferner das Weißlichwerden einer Spektralfarbe, wenn der bezüg-
lichen Strahlung eine gegenfarbig auf die Netzhaut wirkende zugemischt wird,
die Entstehung weißverhüllter Farben infolge gewisser Daueranpassungen
u. s. w. Hier kam es nur darauf an, den Leser auf eine möglichst einfache
Methode aufmerksam zu machen, die ihm ermöglicht, sich eine Fülle weiß-
verhüllter Farben verschiedenen Tones mühelos zur Anschauung zu bringen.
Die merklich weißverhüllten Farben werden häufig als helle, z. B. als
hellblau, hellgrün bezeichnet. Bläulichrote stark mit Weiß verhüllte Farben
werden rosa genannt.
Verhüllung bunter Farben mit Grau. Zur Veranschaulichung
bunter, mit einem beliebigen Grau verhüllter Farben eignet sich der Farben-
kreisel (vgl. § 16). Die geschlitzte Scheibe eines bunten Papieres von
möglichst freier Farbe wird mit einer schwarzen und einer weißen Scheibe
kombiniert. Da den freiliegenden Sektoren dieser drei ineinandergesteckten
Scheiben jedes beliebige Verhältnis gegeben werden kann, so lässt sich auf
diese Weise eine unerschöpfliche Menge von Farben vorführen, welche, in
verschiedenem Grade mit diesem oder jenem Grau verhüllt sind.
Absichtlich habe ich in diesem Paragraphen noch keine Rücksicht darauf
genommen, dass bei den beschriebenen Verhüllungsmethoden einer bunten Farbe
in gewissen Fällen eine unbeabsichtigte Änderung des Tones derselben eintreten
kann; hiervon wird an einer anderen Stelle zu sprechen sein.
§ 15. Die Helligkeit der bunten P'arben. In der Reihe der
tonfreien Farben bestimmt sich die Helligkeit bezw. Dunkelheit der Farbe
lediglich durch das Verhältnis zwischen ihrer Weiße und ihrer Schwärze.
Nicht so einfach verhält es sich bei den bunten Farben, deren Helligkeit
oder Dunkelheit nicht nur durch die Art ihrer schwarz-weißen Komponente,
sondern auch durch die bunte Komponente mitbestimmt ist.
Sehr gewöhnlich werden bunte Farben, welche an Schwarz erinnern,
dunkel genannt,, man spricht von dunkelrot, dunkelblau u. s. w., wo es
58 Lehre vom Lichtsinn.
sich um ein mit Schwarz oder Schwarzgrau verhülltes Rot oder Blau
handelt. Von zwei freien Farben gleichen Tones nennt man die eine
heller, die andere minderhell oder dunkel, ohne sich genauere Rechenschaft
davon zu geben, wodurch sich eigentlich die eine Farbe von der anderen
unterscheidet. Thatsächlich beruht jede Helligkeitsverschiedenheit zweier
Farben gleichen Tones auf einer qualitativen Verschiedenheit derselben in-
sofern, als entweder die eine Farbe freier ist als die andere, oder als bei
gleicher Freiheit die eine mehr an Schwarz bezw. Weiß erinnert als die
andere, oder dass beide Verschiedenheiten zugleich gegeben sind.
Wer die im vorhergehenden Paragraphen besprochenen Methoden zur
Verhüllung der bunten Farben eingehender zur Anwendung bringt, kommt
zur Erkenntnis, dass eine bunte Farbe ohne Änderung ihres Tones in sehr
verschiedener W^eise heller werden kann; ein Schwarzrot z. B. dadurch,
dass das verhüllende Schwarz immer mehr zurück-, und das Bunte der
Farbe entsprechend hervortritt, oder dadurch, dass an die Stelle des ver-
hüllenden Schwarz ein Schwarzgrau, Grau oder Weißgrau tritt, ohne dass
dabei die Freiheit des Rot sich zu ändern braucht.
Da mit wachsender Stärke der veranlassenden Strahlung unter sonst
gleichbleibenden Umständen die Farbe heller wird, so vermengte sich un-
absichtlich die Vorstellung einer zunehmenden Strahlungsintensität mit der
Vorstellung wachsender Farbenhelligkeit^ und da die erstere eine nur quan-
titative Änderung ist, gewöhnte man sich, auch die letztere als eine solche
zu nehmen, und versäumte die Untersuchung der mit jeder Helligkeitsänderung
gegebenen qualitativen Änderung der Farbe.
Nehmen wir ein mit einem Grau von beiläufig mittler Helligkeit ver-
hülltes Blau an und denken uns sodann bei ganz unveränderter Deutlich-
keit der Bläue und also gleichbleibendem Verhüllungsgrade an die Stelle der
mittelgrauen Komponente eine weißgraue gesetzt, so wird die Farbe jetzt
heller sein; dagegen würde sie dunkler sein, wenn ihre mittelgraue Kom-
ponente durch eine schwarzgraue ersetzt worden wäre. Wie aber wird sich
die Helligkeit der Farbe verhalten, wenn wir uns bei" unveränderter grauer
Komponente und gleichem Verhüllungsgrade an die Stelle der blauen Kom-
ponente eine andere bunte, z. B. eine gelbe, gesetzt denken? Würde bei
solchem Tausch die Helligkeit der Farbe unverändert bleiben?
Dies würde nur dann der Fall sein müssen, wenn der Farbenton als
solcher keinen Einfluss auf die Helligkeit der Farbe hätte, und also die
Helligkeit einer bunten Farbe lediglich von dem Verhüllungsgrade und der
Art der schwarz-weißen Komponente der Farbe abhängig wäre.
Hiergegen aber spricht schon die Erfahrung, dass ein freies oder wie
man zu sagen pflegt, »schönes, sattes« Blau stets dunkler ist als ein freies
Gelb. Man suche sich z. B. aus seiner Sammlung bunter Papiere alle bei-
läufig urblauen und urgelben und aus diesen wieder das »schönste« blaue
§ 15. Die Helligkeit der bunten Farben. 59
und gelbe heraus, überziehe damit je ein kleines Glastäfelchen und lege
dieselben nebeneinander, so wird das blaue dunkler erscheinen als das
gelbe. Findet man zu einem möglichst freien Urblau ein Urgelb, von dem
man nicht zu sagen weiß, ob es heller oder dunkler ist als das Blau, so
wird ein Farbentüchtiger auch bei nur einiger Übung in der Farbenanalyse
bemerken, dass das Gelb minder frei ist, als das Blau, dass es mehr oder
weniger graulich oder schwärzlich ist. Hat er dagegen neben einem mög-
lichst freien Gelb ein Blau vor sich, das ihm nicht entschieden dunkler
erscheint als das Gelb, so wird er sehen, dass es weißlich ist. Oder man
stelle auf ein niedriges Tischchen vor dem Fenster ein Stativ mit horizon-
talem Arm, welcher ein steifes graues Blatt (etwa 20X20 cm) so hält,
dass es horizontal und etwa 50 cm über dem Tischchen liegt. In der
Mitte dieses Blattes befinde sich ein Loch von 2 — 3 cm Durchmesser.
Ferner seien zwischen dem Loche und der Tischplatte zwei kleine, um je
eine horizontal und parallel zur Fensterfläche laufende Achse drehbare
Glastafeln, deren eine mit dem blauen, die andere mit dem gelben Papier
überzogen ist, so übereinander angebracht, dass man von oben herabschauend
das Loch als ein halb blaues und halb gelbes Farbenfeld in der Fläche des
grauen Papieres sieht (vgl. § 5). Liegt die eine Glasplatte so weit über
der anderen, dass sie letztere nicht beschattet, so lässt sich die Stärke des
von jeder Platte ins Auge geschickten Lichtes durch Drehung derselben um
ihre horizontale Achse innerhalb weiter Grenzen variieren. Sind zunächst
beide Platten horizontal, so erscheint die blaue Hälfte des Farbenfeldes
dunkler als die gelbe. Dreht man jetzt die gelb überzogene Platte vom
Lichte ab, so wird die gelbe Hälfte des Farbenfeldes dunkler und man
kann sie soweit dunkler machen, dass man nicht mehr zu sagen weiß,
welche Hälfte des Farbenfeldes die dunklere ist: dann wird man aber auch
zugleich sehen, dass das Gelb der einen Hälfte viel weniger frei erscheint
als das Blau der anderen. Es lässt sich übrigens so einrichten, dass der
Beobachter gar nicht weiß, was unter dem Loche vorgeht. So oft die
Platte gedreht wird, soll man wegblicken und überhaupt das Loch nie
irgend länger fixieren.
Man überbrücke das horizontal liegende Loch eines am Fenster
stehenden Dunkelkastens (vgl; § 16) mit zwei 1,5 cm breiten Glasstreifen in
solchem Abstände voneinander , dass bei Betrachtung derselben durch das
Polariphotometer (s. § 1 6) das ordinäre Bild des einen Streifens dicht neben
dem extraordinären des anderen erscheint. Der mittlere Teil des einen
Glasstreifens sei mit einem ebenfalls 1 ,5 cm breiten und 3 cm langen Stück
des blauen, der mittlere Teil des anderen mit einem ebenso großen Stück
des gelben Papiers beklebt. Dann sieht man durch das Polariphotometer
ein quadratisches, halb blaues, halb gelbes Farbenfeld. Ist der Nicol auf
45° eingestellt und also das Verhältnis der Lichtstärken der beiden Pigment-
ßO Lehre vom Lichtsinn.
flächen dasselbe, wie bei Betrachtung mit freiem Auge, so erscheint die
blaue Hälfte des Farbenfeldes dunkler als die gelbe; durch Drehung des
Nicol lässt sich dann die Lichtstärke des blauen Bildes steigern, die des
gelben schwächen. Sobald man unsicher wird, welche der beiden Farben
die hellere ist, wird man zugleich bemerken, dass das Blau jetzt entweder
freier erscheint, als das Gelb, oder wenn dies nicht auffallend wäre, dass
es weißlich erscheint im Vergleich zum Gelb, welches daneben ins Grau
spielt. Auch hier soll man jede längere Betrachtung des Farbenfeldes ver-
meiden und nur nach größeren Pausen schnell die Farben vergleichen. Bei
diesem Versuche liegen die Farbenfelder in dunkler, bei dem vorher-
gehenden lagen sie in heller Umgebung.
Schon aus den soeben besprochenen Thatsachen scheint mir hervor-
zugehen, dass zwei Farben verschiedenen Tones, auch wenn sie ganz gleich
frei wären, nicht notwendig auch gleiche Helligkeit zeigen müssten. Ich
meine, dass es sich hier um etwas handelt, was im Wesen der verschie-
denen Farbentöne und insbesondere der vier bunten Urfarben begründet und
nicht auf irgendwelche nur accidentelle Umstände zurückzuführen ist. Wie
das Weiß an sich eine helle, das Schwarz eine dunkle Sehqualität ist, so
ist, meine ich, auch das Gelb an sich eine helle, das Blau an sich eine
dunkle Sehqualität. Auch ein schönes, d. h. möglichst freies Urrot finde
ich heller, als das freieste Urgrün, welches ich mir herzustellen vermag;
doch ist mir der Helligkeitsunterschied hier viel weniger auffallend, als bei
freiem Gelb und Blau.
Auf Grund des Gesagten und anderer, später zu besprechender That-
sachen und Erwägungen finde ich w^ahrscheinlich , dass wir drei qualitativ
verschiedene Hell zu unterscheiden haben, das Weiß, das Gelb und das
Rot, und ebenso drei Dunkel verschiedener Art, das Schwarz, das Blau
und das Grün. Dementsprechend habe ich seinerzeit dem Gelb und Rot
ein Eigenhell, dem Blau und Grün ein Eigendunkel zugeschrieben.
Helligkeit ist hiernach eine den drei Urqualitäten des Gesichtssinnes Weiß,
Gelb und Rot, Dunkelheit eine den drei Urqualitäten Schwarz, Blau und
Grün inhärente Eigenschaft. Könnte aus irgendeiner gegebenen blauen
Farbe ohne jede anderweite Änderung nur die Bläue schwinden, so würde
die Farbe heller werden, und könnte aus einer gegebenen gelben Farbe nur
die Gilbe schwinden, so würde sie dunkler werden, und beidenfalls würde
nur der schwarz-weiße Bestandteil übrig bleiben, der jeder uns wirklich
vorkommenden und auch der relativ freiesten bunten Farbe noch eigen ist.
Einer absolut frei gedachten bunten Urfarbe dürften wir ebensowenig je
nach den Umständen verschiedene Grade der Dunkelheit oder Helligkeit zu-
schreiben, wie dem absolut frei gedachten Schwarz oder Weiß. Ein zu-
nächst absolut freies Schwarz lässt sich mehr oder weniger mit Weiß
verhüllt und also ins Grau spielend denken, aber das Schwarz an und für
§ 15. Die Helligkeit der bunten Farben. 61
sich könnte nicht das eine Mal heller, das andere Mal dunkler sein, und
dasselbe gilt vom absolut frei gedachten Urblau oder Urgrün. Ein zunächst
absolut frei gedachtes Weiß lässt sich in verschiedenem Maße mit Schwarz
verhüllt denken, aber an und für sich könnte es nicht bald heller, bald
dunkler sein, und dasselbe gilt vom absolut frei gedachten Urgelb und
Urrot.
Die Helligkeit oder Dunkelheit einer bunten Farbe ist nach dieser
Auffassung das Ergebnis des Eigenhell und Eigendunkel der einzelnen Ur-
farben, welche als die Urkomponenten jener Farbe gemäß dem verschiedenen
Verhältnis ihrer Deutlichkeit die Qualität der Farbe bestimmen. Jeder uns
wirklich vorkommenden Farbe ist ein bestimmtes Hell-Dunkel eigen, und je
nachdem uns das Hell oder das Dunkel derselben deutlicher ist, nennen wir
sie eine helle oder eine dunkle. Für die schwarz-weißen Farben ist dies von
vornherein klar: je nachdem uns ihre schwarze oder ihre weiße Komponente
deutlicher ist, bezeichnen wur die Farbe als eine helle oder eine dunkle.
Eine bunte Farbe lässt sich im allgemeinen als aus vier Urkomponenten
bestehend auffassen, zwei bunten und den beiden tonfreien (Weiß und
Schwarz); nur den Farben vom Tone einer Urfarbe ist nur eine bunte
Urkomponente eigen. In jeder rot-gelben Farbe, z. B. Orange, hätten wir
somit drei helle Urkomponenten (Rot, Gelb, Weiß) und eine dunkle (Schwarz)
zu unterscheiden, in jeder grün-blauen aber drei dunkle (Grün, Blau, Schwarz)
und eine helle (Weiß). Die rot-blauen und grün-gelben Farben aber würden
zwei helle und zwei dunkle Urkomponenten haben.
Aus dem Gesagten ergeben sich u. a. folgende Regeln:
Wenn zwei Farben gleichen Tones und gleicher Freiheit verschieden
hell sind, so ist dies in der Verschiedenheit ihrer schwarz-weißen Komponente
begründet.
Zwei Farben von verschiedenem Ton können trotz gleicher Freiheit
und gleicher Art ihrer schwarz -weißen Komponente verschieden hell sein.
Bei gleicher Art der schwarz-weißen Komponente ist eine gelbe, rote
oder gelb-rote Farbe um so heller, eine blaue, grüne oder blau-grüne um
so dunkler, je deutlicher das Bunte der Farbe im Vergleich zur schwarz-
weißen Komponente ist.
In der kurzen Skizze einer Theorie des Lichtsinnes, welche ich im
Jahre 1874 veröffentlicht habe, war angenommen, dass bunte Farben,
gleichviel welchen Tones, bei ganz gleichem Grade der Verhüllung und
ganz gleicher Art ihrer schwarz-weißen Komponente gleichhell erscheinen
würden. Ich bin jedoch bald von dieser Ansicht zurückgekommen, wie ich
auch im Jahre 1886 gelegentlich (14, S. 18 und 19) bereits mitgeteilt habe.
Franz Hillebrand, welcher nachher mit mir über die vorliegende Frage
arbeitete, hat das, was ich hier das Eigenhell oder Eigendunkel der Farben-
töne genannt habe, als specifische Helligkeit derselben bezeichnet (15).
62 Lehre vom Lichtsinn.
Irrtümlich ist die Angabe von Helmholtz (2, S. 378), nach welcher ich
»die Empfindung der Helligkeit mit der Weißempfindung identifiziert« und be-
hauptet haben soll, >mit der reinen Blau- oder Gelbempfindung sei keine Em-
pfindung von Helligkeit verbunden«. Diese Angabe ist mir um so unverständ-
licher, als ich in der erwähnten Skizze über den Einfluss, welchen die bunte
Komponente einer Farbe auf deren Helligkeit hat, in ganz besonders ausführ-
licher und ein derartiges Missverständnis völlig ausschließender Weise ge-
sprochen habe.
III. Absclmitt.
Über die Beziehungen zwischen
den Unterschieden der Lichtstärken der wirklichen Dinge und den
tonfreien Helligkeitsunterschieden der Sehdinge.
§ 16. Messung der Lichtremission tonfreier Papiere. Im
vorigen Abschnitte haben uns nur die Farben oder Sehqualitäten als solche
ohne Rücksicht auf die äußeren oder inneren Ursachen ihres Eintretens
beschäftigt und wir nahmen die optischen Strahlungen nur zu Hilfe, um
uns das Objekt unserer Untersuchung, nämlich die einzelnen Farben oder
Farbenreihen zur Anschauung zu bringen. Nunmehr kommen wir zur
Erörterung der Regeln oder Gesetze, nach welchen die Farben von den
das Auge treffenden Strahlungen abhängen, und zwar sollen zunächst in
diesem Abschnitte nur die schwarz-weißen Farben in ihrer Abhängigkeit
von der Stärke der bezüglichen Strahlungen in Betracht gezogen werden.
Für einen Teil der hier zu besprechenden Thatsachen ist die Feststellung
des Intensitätsverhältnisses der Strahlungen notwendig, welche von den
beobachteten Flächen ins Auge geschickt werden, daher zunächst einige
dazu dienende Methoden zu erörtern sind.
Von verhältnismäßig seltenen Ausnahmen abgesehen geben die Außen-
dinge unserem Auge nur zurückgeworfenes Licht, welches sie von der be-
leuchteten Himmelsfläche oder von den beleuchteten Zimmerwänden u. s. w.
oder endUch unmittelbar von der Sonne oder künstlichen Lichtquellen em-
pfangen haben und zu einem mehr oder w^eniger großen Teile regelmäßig
oder unregelmäßig reflektieren. Bei unveränderter Lage unseres Auges
und des beleuchteten Außendinges einerseits, unveränderter Form, Lage
und Art der Beleuchtungsquellen andererseits ist die Lichtmenge, welche
ein Flächenelement von dem empfangenen Lichte uns zusendet, proportional
zur Intensität der Beleuchtung. Dies bedeutet zugleich, dass die Unter-
schiede der Lichtstärken je zweier Teile des Gesichtsfeldes proportional mit
der Stärke der Gesamtbeleuchtung wachsen und abnehmen.
Eine Fläche, welche bei beliebiger Richtung des auffallenden Lichtes nur
vollkommen zerstreutes Licht zurückgeben würde, könnten wir eine absolut
matte nennen. Die beleuchteten Papierflächen, mit denen wir unsere Unter-
§ 4 6. Messung der Lichtremission tonfreier Papiere. 63
siichungen vielfach anstellen werden, zeigen jedoch meist noch einen in
Betracht kommenden Rest von regelmäßiger Reflexion. Als matte Flächen
im besten Sinne des Wortes sind eine gut berußte oder eine mit dem
Rauche brennenden Magnesiums geweißte Fläche zu bezeichnen; doch sind
dieselben so empfindlich gegen jede Berührung, dass sie nur in ganz be-
sonderen Fällen brauchbar sind.
Die möglichst matten Papierflächen, mit denen wir es zu thun haben
werden, sind entweder solche, welche von allen leuchtenden homogenen
Strahlungen angenähert denselben Bruchteil zurückgeben, so dass das
remittierte Strahlgemisch fast dieselbe Zusammensetzung hat, wie das auf-
fallende ; oder sie besitzen für die verschiedenen Strahlenarten ein verschie-
denes Remissionsvermögen. Ersteres gilt mit mehr oder weniger großer
Annäherung von den bei Tageslicht weiß, grau und schwarz erscheinenden,
letzteres von den bunten Papieren.
Das Remissionsvermögen einer Fläche ist zu unterscheiden von
der für unser Auge in Betracht kommenden Lichtstärke derselben, d. i.
die von der Flächeneinheit in der Richtung nach unserer Pupille ausge-
sandte Lichtmenge. Die letztere steigt und fällt wie gesagt proportional
mit der Beleuchtung der Fläche, während das Remissionsvermögen, welches
sich nach dem Verhältnis des remittierten zum auffallenden Lichte bemisst,
dabei unverändert bleibt. Das Remissionsvermögen ist ferner streng zu
unterscheiden von der Helligkeit der Fläche ; denn diese ist nach
unserer Definition eine Eigenschaft der Farbe, welche durch das von
der Fläche auf unsere Netzhaut geschickte Licht in unserem Sehfelde ver-
anlasst wird.
Für unsere Untersuchungen an ebenen tonfreien Papieren ist die
Kenntnis der Lichtstärke der gesehenen Fläche (im soeben definierten Sinne)
meist nicht erforderlich, sondern nur die Kenntnis des Verhältnisses,
in welchem die Lichtstärken zweier oder mehrerer Teile einer ebenen Fläche
zueinander stehen, z. B. zweier in derselben Ebene liegender und von der-
selben Lichtquelle möglichst gleichstark beleuchteter tonfreier (weißer, grauer
oder schwarzer) Papiere, wenn unsere Gesichtslinie beiläufig rechtwinklig
zu deren Ebene liegt. Deshalb bedürfen wir auch nicht der Kenntnis des
Remissionsvermögens selbst, sondern nur des Verhältnisses zwischen
den Remissionsvermögen der verschiedenen Papiere.
Dementsprechend setzen wir das Remissionsvermögen desjenigen von
den benutzten Papieren, welches den größten Bruchteil des empfangenen
Lichtes zurückwirft und also das größte Remissionsvermögen hat, gleich
360, benutzen dieses unter gewöhnlichen Umständen weiß erscheinende
Papier als Normalpapier und bemessen hiernach das Remissions vermögen
der übrigen weißen, grauen oder schwarzen Papiere. Einem Papiere, welches
unter genau denselben Versuchsbedingungen nur halb soviel Licht als wie
64
Lehre vom Lichtsinn.
das Normalpapier in der Richtung nach unserer Pupille hin zurückschickt,
schreiben wir also das Remissions vermögen 180 zu u. s. w.
Zur Bestimmung dieses relativen Remissionsvermügens bedienen wir
uns entweder des Farbenkreisels oder eines Polariphotometers.
Die Messung am Kreisel erfolgt nach einem im wesentlichen schon
von Adolf Fick (16) angegebenen Verfahren.
Wenn man am Farbenkreisel eine weiße Kreisscheibe, an deren Peri-
pherie ein von zwei Radien und einem Parallelkreise begrenzter Ringsektor
ausgeschnitten ist (vgl. Fig. 7), vor einem völlig lichtlosen Hintergrunde
schnell genug rotieren lässt, so erscheint die Scheibe von einem dunkleren
Fig. 7.
Fig. 8.
Ringe umsäumt. Die Farbe desselben ist nach dem TALBOx'schen Gesetz
gleich der Farbe einer Fläche, deren Lichtstärke sich zur Lichtstärke der
weißen Scheibe ebenso verhält, wie die Bogenlänge des vom peripheren
Ringe der letzteren noch vorhandenen Sektors zum ganzen Ringe (von 360°).
Fertigen wir also die w^eiße Scheibe aus
unserem Normalpapier, legen auf dieselbe
eine kleinere Scheibe des zu untersuchenden
Papiers, von welcher die erstere mit Aus-
schluss des freibleibenden Ringsektors ver-
deckt wird (vgl. Fig. 8), und geben diesem
Sektor eine solche Bogenlänge, dass während
des Rotierens Ring und Scheibe genau dieselbe
Farbe zeigen, so drückt uns die nach Graden
bemessene Bogenlänge des Ringsektors das
relative Remissionsvermögen oder, wie ich
es kurz nennen will, den Kreisel wert
(K W) des untersuchten Papieres aus.
Um die passende Bogenlänge des Ringsektors der Normalscheibe zu
finden, benützt man zunächst eine solche mit zu kleinem Ringsektor, so
dass beim Rotieren der periphere Ring dunkler erscheint als die aufliegende
Scheibe des zu untersuchenden' Papiers. Unter die Normalscheibe legt man
sodann eine zweite mit gleichgroßem oder etwas kleinerem Ringsektor so,
dass der hintere Ringsektor zunächst vom vorderen verdeckt wird, durch
§ 16. Messung der Lichtremission tonfreier Papiere.
65
Verschieben der beiden Scheiben gegeneinander aber mit einem immer
bis während des Rotierens
größeren Teile sichtbar gemacht werden kann,
Ring und Scheibe dieselbe Farbe zeigen.
Zur Herstellung eines möglichst
lichtfreien Hintergrundes für die rotierenden Scheiben dient nach dem Vor-
gänge Adolf Fick's (16) ein länglicher Kasten von quadratischem Querschnitt
oder ein Rohr, von beispielsweise 80 cm Länge und 30 cm Querdurch-
messer, welche abgesehen von einer, an der einen Querfläche befindlichen
Öffnung gänzlich geschlossen und innen mit schwarzem Sammet ausgekleidet
sind. Aus der relativ kleinen Öffnung kehrt nahezu gar kein Licht zurück.
Fig. 8 zeigt einen vor der Öffnung eines solchen Dunkelkastens aufge-
stellten Kreisel mit der zu eichenden Scheibe und dem die letztere über-
ragenden Sektor des weißen Normalpapieres. Hat man auf diese Weise
den Kreiselwert eines grauen Papiers bestimmt, so kann man nach einer
zweiten einfacheren Methode mit Hilfe dieses geeichten und des Normal-
papiers den Kreiselwert jedes anderen Papieres feststellen. Erscheint das-
selbe, auf den Kreisel gebracht, heller als das geeichte, so fertigt man
aus dem letzteren und aus dem Normalpapier je eine größere Scheibe,
durchschneidet (nach dem Vorgange Masson's)
beide vom Zentrum bis zur Peripherie ent- ' ^^^- ^•
lang einem Radius und steckt die so ge-
schlitzten Scheiben derart ineinander, dass
von jeder nur ein Sektor sichtbar ist, während
ihre peripheren Ränder sich decken. Auf
diese Doppelscheibe legt man eine kleinere
Scheibe des zu untersuchenden Papiers, wie
dies Fig. 9 zeigt. Während des Rotierens
erscheint nun diese Innenscheibe von einem
entweder helleren oder dunkleren Ringe um-
geben. Durch passende Änderung des Sek-
torenverhältnisses der großen Scheiben aber
kann man es dahin bringen, dass Ring und Innenscheibe ganz gleich
erscheinen. Der Kreiselwert [K W) der Innenscheibe ist dann leicht zu
berechnen.
Beispiel: Zur Gleichung zwischen Ring und Innenscheibe sei erforderlich ein
Sektor von i 5 0 ^ des Normalpapiers und ein Sektor von 210° des geeichten
grauen Papiers. KW des letzteren betrage 81, K TFdes ersteren beträgt 360.
210X81
Demnach ist K TFdes Papiers der Innenscheibe = 1 50 H = 1 97,25.
^ 360
Ist das zu untersuchende Papier dunkler als das bereits geeichte, so
muss man die Scheiben^ welche den Außenring geben sollen, aus dem zu
untersuchenden und dem Normalpapier anfertigen, die kleinere Innenscheibe
aber aus dem geeichten.
Hering, Lichtsinn. 5
66
Lehre vom Lichtsinn.
Übrigens Ihut man gut, sich nicht mit der Eichung eines einzigen
Papiers nach der ersterwähnten Methode zu begnügen, sondern aus der
Reihe der zur Verfügung stehenden tonfreien Papiere mehrere nach dieser
Methode zu eichen und die Ergebnisse dieser Messungen mit Hilfe der
zweiten Methode zu kontrollieren, überhaupt durch zweckmäßige Kombination
beider Methoden die unvermeidlichen Fehler der Einzelmessungen möglichst
zu eliminieren.
Fig. iO.
Als Kreisel kann jede zureichend schnell rotierende Achse dienen, die
über das eine Achsenlager hinausragt, hier mit einem Schraubengewinde
versehen ist und nahe dem freien Ende eine kleine ebene Metallmanschette
trägt. Die mit einem passenden centralen Loche versehenen Scheiben
werden auf das Endstück der Achse geschoben und mittels einer Schrauben-
mutter an die Manschette angepresst. Zweckmäßig ist es, den Apparat so
einzurichten, dass die Scheiben ebensowohl in horizontaler als in vertikaler
Lage rotieren können. Fig. 1 0 zeigt einen von mir benutzten Farbenkreisel
mit zwei Scheiben, der in beiden Lagen verwendbar ist und ebensowohl
mit der Hand als durch einen Motor in Gang gesetzt werden kann.
Die Drehungsgeschwindigkeit muss mindestens so groß sein, dass auch bei
beliebig indirektem Sehen und rasch hin- und herbewegtem Auge an der Scheibe
§ 16. Messung der Lichtremission tonfreier Papiere. 67
keinerlei Flimmern bemerkbar ist. Die hierzu nötige Geschwindigkeit ist sehr
verschieden je nach der absoluten Lichtstärke der Papiere, dem Unterschiede
bezw. Verhältnisse dieser Lichtstärken, der Lichtstärke ihrer Umgebung, dem
Größenverhältnis der Sektoren, dem Anpassungszustande des Auges und wohl
auch der Individualität des Auges, daher sich eine bestimmte Zahl nicht angeben
lässt. Wenn sich an dem gegebenen Kreisel die erforderliche Drehungsgeschwin-
digkeit, die bei starker Beleuchtung über 60 Drehungen in der Sekunde hinaus-
gehen kann, nicht erreichen lässt, kann man jeden Sektor durch zwei von z. B.
halber Größe ersetzen, so dass bei jeder Umdrehung ein mehrmaliger Sektoren-
wechsel erfolgt. Hierzu braucht man also die doppelte Scheibenzahl.
Der Kreisel darf vom Beobachter erst dann betrachtet werden, wenn er
die nötige Drehungsgeschwindigkeit bereits erreicht hat, daher es zweckmäßig
ist, ihn in der Zeit von einer Beobachtung zur anderen durch einen vorgesetzten
grauen Schirm zu verdecken.
Hinter bezw. unter den MAssoN'schen Scheiben muss sich stets eine unge-
schlitzte Scheibe aus nicht zu dünnem Papier befinden, und die Drehung muss
in der Richtung erfolgen, bei welcher der Luftwiderstand die Scheiben nicht
aufblättert, sondern vielmehr aneinander drückt. Ist also der Kreisel nur in
einer Richtung drehbar, so müssen die Scheiben dementsprechend ineinander
geschoben sein.
Wenn das Normalpapier oder die untersuchten Papiere eine noch in Be-
tracht kommende Lichtmenge durchlassen, so ist ihr Kreiselwert mit von ihrer
Unterlage abhängig und man benutzt sie dann nur in wenigstens doppelter Lage.
Die kleinen Scheiben werden zweckmäßiger Weise mit einer Maschine aus-
geschnitten (gestanzt), weil sonst ihr Umriss während der Drehung keine scharfe
Linie bildet. Das Loch der großen Scheibe wird mittels eines Locheisens aus-
geschlagen. Zum Schlitzen der Scheiben dient eine horizontale Metallscheibe mit
centralem cylindrischen Zapfen vom Durchmesser des Loches der Scheibe. Nach-
dem letztere aufgelegt ist, wird über den Zapfen ein kleiner Hohlcjlinder ge-
schoben, welcher seitlich von seiner unteren Öffnung ein kurzes horizontales
Lineal trägt, dessen eine, abgeschrägte Kante einem Radius der Scheibe ent-
spricht. Das entlang dieser Kante geführte Messer schlitzt die Scheibe genau
radial.
Mit dem Polariphotometer , wie ich es nennen will, lässt sich die
relative Lichtstärke oder der Kreisel wert einer ganz ebenen und homogenen
tonfreien Papierfläche in folgender Weise messen:
Man denke sich den erwähnten Dunkelkasten auf dem Fußboden
stehend, so dass die mit der Öfi'nung versehene Fläche oben liegt. Auf
letztere legt man ein ganz ebenes Stück des Normalpapieres derart, dass
ein Teil der lichtlosen Öffnung von dem geradlinig begrenzten Papiere ver-
deckt wird. Durch ein über der Öffnung aufgestelltes doppelbrechendes
Prisma erscheint das Papier ( W) doppelt, wie es Fig. i 1 darstellt, in welcher
das nur von unterbrochenen Linien begrenzte Rechteck e beispielsweise das
extraordinäre, das Rechteck o das ordinäre Bild bedeuten möge. Dem
Streifen w entspricht also jetzt die halbe Lichtstärke des Normalpapiers.
Man schiebt nun von der anderen Seite her ein ebenfalls geradlinig be-
grenztes Stück des zu eichenden Papieres P soweit über die Öffnung, dass
68
Lehre vom Lichtsinn.
¥
rv^
r
p
die Grenzlinie seines ordinären Bildes (o) die des extraordinären Bildes [e]
des Normalpapieres eben berührt. Der Streifen ^ dieses Bildes hat die
halbe Lichtstärke des untersuchten Papieres. Ein über dem doppelbrechenden
Prisma befindlicher Nicol sei zu-
Fig. 11. nächst so orientiert, dass er die
extraordinären Bilder und also
auch den Streifen w vollständis^
auslöscht, die ordinären Bilder
aber und also den Streifen j) in
der maximalen Lichtstärke sehen
lässt. Wird der Nicol aus dieser
Lage soweit gedreht, bis der
dabei zunehmend heller werdende
Streifen lö dem sich zunehmend
Q a verdunkelnden Streifen p ganz
gleich erscheint, und ist cp der
hierzu erforderliche Drehungswinkel, so ist der Kreiselwert des untersuchten
Papieres = 360 tg'^ cp.
Nach dieser Methode lässt sich auch mit Hilfe jedes bereits geeichten
Papieres statt des Normalpapieres der Kreiselwert eines beliebigen Papieres
bestimmen, wenn statt des Kreiselwertes 360 des Normalpapieres der des
geeichten in die Formel eingesetzt wird.
Beide Papiere sollen ganz eben sein und in derselben Ebene liegen, und
die durch die Achse des Photometers gehende Gesichtslinie soll senkrecht auf
dieser Ebene stehen. Um das Auge vor anderweitem Lichteinfall zu schützen,
wird über den oberen Randteil des den Nicol enthaltenden Rohres ein hohler,
luftgefüllter Kautschukring geschoben, welcher sich Uchtdicht und so fest an die
Umgebung des Augapfels anschmiegt, dass das Rohr während der Drehung in
dem Ringe gleitet. Insoweit das von den Papieren zurückgeworfene Licht nicht
völlig frei von polarisiertem ist, ergiebt sich ein Messungsfehler.
Als Normalpapier leistet ein mattes Barjtpapier gute Dienste. Lichtlose
schwarze Papiere giebt es nicht, auch die lichtschwächsten haben noch einen
erheblichen Kreiselwert. Ich fand denselben im Mindestfalle gleich 6. Das mit
schwarzem Wollstaub belegte Tapetenpapier (Wollpapier) hat zwar zuweilen einen
noch etwas geringeren Kreiselwert, reißt aber leicht bei großer Drehungsge-
schwindigkeit, weil es relativ schwer und meist aus schlechtem Papier hergestellt
ist; doch ist es nicht so empfindlich wie ein ganz mattes schwarzes Papier,
welches sehr leicht glänzende Flecken bekommt. Eine mittels einer Gasflamme
hergestellte Rußfläche fand ich bei gleicher Beleuchtung bestenfalls nur sehr
wenig lichtschwächer als das Wollpapier.
§ 17. Deutlichkeit des Sehens im Verlaufe eines Tages.
Wenn innerhalb der Grenzen brauchbarer Beleuchtung die in § 6 erörterte
Farbenbeständigkeit der Sehdinge eine genaue wäre, so würden unter
§ 17. Deutlichkeit des Sehens im Verlaufe eines Tages. 69
sonst gleichen Umständen bei Änderungen der Beleuchtungsstärke auch
alle Farben unterschiede oder, wie wir hier auch sagen können, alle
Helligkeitsunterschiede unverändert bleiben. In der That lehrt die Er-
fahrung, dass trotz der täglichen sehr großen Intensitätsänderungen der
Beleuchtung, die sich im allgemeinen sehr langsam vollziehen, die Hellig-
keitsunterschiede der Sehdinge sich nur wenig ändern, weil das Auge mit
seinen Anpassungen den Änderungen der Beleuchtung folgt. Insoweit aber
doch bei Änderungen der Beleuchtung eines im übrigen (in sich und in
bezug auf den Ort des Auges) unveränderten Gesichtsfeldes eine Zu- oder
Abnahme der Helligkeitsunterschiede eintritt, müssen auch Änderungen der
bezüglichen Helligkeiten selbst erfolgen, sei es dass von je zwei Farben die
eine weißlicher d. i. heller, oder schwärzlicher d. i. dunkler wird, während
die andere unverändert bleibt, oder dass beide sich in derselben Richtung,
aber in verschiedenem Maße ändern, oder endlich, dass die eine heller und
die andere dunkler wird als zuvor. Alle diese Fälle kommen bei Ände-
rungen der Gesamtbeleuchtung eines im übrigen unveränderten Gesichts-
feldes thatsächlich vor.
Gleiches Außending, gleiche Schärfe seines Netzhautbildes und gleiche
Aufmerksamkeit vorausgesetzt ist die Deutlichkeit des Sehens grüßer oder
kleiner, je nachdem die Farbenverschiedenheiten, d. h. also bei tonfreien
Farben ausschließlich die Helligkeits Verschiedenheiten der korrelativen Seh-
dinge grüßer oder kleiner sind. Nicht auf die Helligkeiten bezw. Dunkel-
heiten an sich, sondern lediglich auf ihre Verschiedenheiten kommt es hierbei
an. Was am meisten von seiner Umgebung absticht, fällt auch zumeist
ins Auge. Eine Schrift ist unter sonst gleichen Umständen um so deut-
licher, je dunkler sie im Vergleich zum Papier erscheint; Buchstaben, welche
grau auf weißem Grunde oder schwarz auf grauem Grunde erscheinen, sind
minder bequem zu lesen als die schwarz auf Weiß erscheinenden. Wenn
wir bei einer »guten« Beleuchtung deutlicher sehen als bei einer zu schwachen,
so beruht dies nicht, wie das gewühnlich angenommen wird,
darauf, dass ersterenfalls alle Dinge heller erscheinen, son-
dern darauf, dass alle Farbenverschiedenheiten jetzt grüßer
sind als bei der zu schwachen Beleuchtung.
Ist eine Schrift mangelhaft beleuchtet, so liest sie sich schwierig, auch
wenn sie relativ groß ist, weil die Farbenverschiedenheit zwischen Buch-
staben und Grund zu klein ist. Das Sehen der Schrift bei schwacher Be-
leuchtung ermüdet an sich nicht, wohl aber das Lesen derselben; es handelt
sich nicht um eine Ermüdung des Auges, sondern des Gehirns; die An-
spannung der Aufmerksamkeit ist das Ermüdende, nicht der Lichtreiz. Wir
gehen in solchem Falle mit der Schrift näher ans Fenster, nicht um feinere
Einzelheiten an den Buchstaben sehen zu künnen, was nur bei zu kleiner
Schrift nütig wäre, sondern um die Buchstaben leichter vom Grunde zu
70 Lehre vom Lichtsinn.
unterscheiden. Wenn man ein beschriebenes oder bedrucktes Blatt zur
einen Hälfte gut, zur anderen schlecht beleuchtet, so sieht man, dass die
Farbenverschiedenheit zwischen Buchstaben und Grund auf der ersteren
Hälfte größer ist als auf der letzteren.
Die günstigste Beleuchtung ist also nicht bloß dann von Vorteil, wenn
es sich um die Wahrnehmung feiner Einzelheiten handelt, sondern auch,
wenn uns auf letztere gar nichts ankommt. Für die feinen Einzelheiten
ist die bessere Beleuchtung allerdings absolut unentbehrlich, für das übrige
aber nur relativ. Schon ehe bei abnehmendem Tageslicht die zarten Haar-
striche der Buchstaben untermerklich werden, beginnt beim Lesen eine gewisse
Anstrengung.
Der Grüße der Verschiedenheit zweier tonfreier Farben entspricht auf
der theoretischen Farbenlinie (vgl. §11) ihr gegenseitiger Abstand. Die
Grüße dieser Farbenabstände ist also unter sonst gleichen Umständen das
bestimmende für die Deutlichkeit des Sehens; auf welchen Orten jener
Farbenlinie die bezüglichen Farben liegen, ob näher dem schwarzen oder
dem weißen Ende derselben, ist bei gleichem Abstand der Farben für die
Deutlichkeit unwesentlich. Ein dunkles Gebilde kann auf einem dunklen
Grunde deutlicher gesehen werden, als ein helles von ganz gleicher Form
und Grüße auf einem hellen Grunde, wenn nur ersterenfalls der Abstand
zwischen der Farbe des Dinges und der des Grundes, d.i. hier also der
Dunkelheitsunterschied, grüßer ist als letzterenfalls der Helligkeitsunterschied.
Die tägliche Erfahrung lehrt, dass die Grüße der Farbenverschieden-
heiten unter sonst gleichbleibenden Umständen von der Stärke der Beleuch-
tung abhängig ist. Wenn wir bei noch ganz finsterer Nacht erwachen,
unterscheiden wir zunächst von den Außendingen gar nichts, sondern sehen
das ganze Sehfeld lediglich erfüllt von jenen schwachen, mehr oder minder
unstetigen, wolkigen oder fleckigen Farben, welche man als das Eigen-
grau (Eigenhell oder Eigendunkel) des längere Zeit verfinstert gewesenen
Auges bezeichnen kann. Warten wir nun den Tagesanbruch ab, so tauchen
allmählich einzelne grüßere Teile des Gesichtsfeldes mit noch ganz ver-
waschenen Umrissen aus jenem Eigengrau wie aus einem Nebel auf. Ob-
wohl schon jetzt kein Teil des Gesichtsfeldes ganz lichtlos ist, sondern alle
Außendinge bereits mehr oder weniger Licht ins Auge schicken, so sehen
wir doch trotz der hochgesteigerten Lichtempfindlichkeit des lange verfinstert
gewesenen Auges die lichtschwächsten Teile des Gesichtsfeldes keineswegs
an Helligkeit zunehmen, sondern vielmehr um so dunkler hervor-
treten, je heller die lichtstärkeren werden. Das mit der zuneh-
menden Beleuchtung bemerkliche Wachsen der Farbenverschiedenheiten der
sichtbaren Dinge ist also keineswegs dadurch bedingt, dass die Helligkeiten
aller dieser Dinge zunehmen — nur aber die der lichtschwächeren lang-
samer als die der lichtstärkeren — , sondern während die Helligkeit der
§ \1. Deutlichkeit des Sehens im Verlaufe eines Tages. 71
relativ lichtstarken über das anfängliche Eigenhell des Auges immer mehr
hinauswächst, sinkt die der relativ sehr hchtschwachen unter jenes Eigen-
hell hinab, so dass sie mit zunehmender Beleuchtung immer
dunkler, schwärzlicher und schließlich tiefschwarz erscheinen
können, obwohl ihre geringe Lichtstärke mit der zunehmenden
Beleuchtung ebenfalls gewachsen ist.
Während also beim Beginn der Morgendämmerung die Farben aller
Teile des Sehfeldes auf einer relativ kleinen, zur grauen Mittelstrecke der
theoretischen Farbenlinie gehörigen Strecke zusammengedrängt sind, dehnt
sich die Strecke der gesehenen Farben bei zunehmender Beleuchtung des
Gesichtsfeldes nach beiden Seiten hin, nicht nur in den Bezirk der w^eißen,
sondern auch den der schwarzen Farben, immer weiter aus, und damit
wächst zugleich die Größe aller Farbenverschiedenheiten der Sehdinge. An
jeder großen Druckschrift kann man unter den beschriebenen Umständen
bemerken, wie die Farbenverschiedenheit zwischen den Buchstaben und dem
Papier mit abnehmender Dämmerung zusehends wächst, die Buchstaben
schwärzer werden und das Papier weißer.
Mit diesem Wachsen aller Helligkeitsverschiedenheiten ist nun auch
die wachsende Deutlichkeit des Sehens gegeben. Auf einem Felde, welches
anfangs überall beiläufig dieselbe Farbe (dieselbe Helligkeit bezw. Dunkel-
heit) zeigte, treten jetzt immer zahlreichere, anfangs nur eben merkliche,
später immer deutlichere Verschiedenheiten hervor, d. h. man sieht immer
mehr Einzelheiten; in den dunklen Bezirken eines Kupferstiches z. B. zeigen
sich immer schwärzere, in den hellen Bezirken immer weißere Einzelheiten,
immer deutlichere Abstufungen der Helligkeit bezw. Dunkelheit.
W^enn dann mit zunehmender Sonnenhöhe die Beleuchtung stärker
und stärker wird, so werden die dadurch bedingten Zunahmen der Farben-
unterschiede immer weniger merklich, und ohne besonders darauf gerichtete
Aufmerksamkeit kann man leicht zu der Meinung kommen, dass, wenn ein-
mal die Beleuchtung eine gewisse mäßige Stärke erreicht hat, das weitere
Wachsen derselben eine Zunahme der Farbenunterschiede nicht mehr mit
sich bringe. Demgegenüber braucht nur daran erinnert zu werden, dass
man eine z. B. zum Lesen oder Schreiben völlig bequeme Beleuchtungs-
stärke nicht mehr zureichend findet, sobald man sich mit feineren Dingen
und zarteren Helligkeitsabstufungen beschäftigen will, als wie solche beim
Lesen oder Schreiben in Betracht kommen. Man beseitigt dann wohl einen
Fenstervorhang oder rückt näher an das Fenster. Dass man nun besser
sieht, verdankt man, abgesehen von dem leicht auszuschließenden Einflüsse
einer etwaigen Pupillenverengung, der Vergrößerung der Farben unter-
schied e. Dieselbe beruht vorwiegend darauf, dass die lichtstärkeren Teile
des Gesichtsfeldes jetzt weißer erscheinen, während, was man übersehen
hat, die lichtschwachen teils unverändert, teils schwärzlicher erscheinen als
72 Lehre vom Lichtsinn.
zuvor. Die äußerst feine Schraffierung eines Kupferstiches oder einer Photo-
typie kann bei einer im übrigen ganz bequemen Beleuchtung unmerklich
sein, bei gesteigerter Beleuchtung aber deutlich werden, weil der unter-
merkliche Farbenunterschied zwischen Linien und Grund sich zu einem
merklichen vergrößert hat. An feinen, sogenannten schwarzen Linien auf
weißem Grunde kann man bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit sehen,
dass dieselben bei schwächerer Beleuchtung eigentlich grau und erst bei
guter Beleuchtung schwarz erscheinen.
Alle diese, infolge wachsender Farbenverschiedenheiten eintretenden
Zunahmen der Deutlichkeit des Sehens erfolgen allerdings auf Kosten der
Konstanz der Farben der Sehdinge. Da aber dabei, soweit es sich
nur um das Gebiet der brauchbaren Beleuchtungen handelt,
alles Weiße nur noch weißer, das Schwarze nur noch schwärzer
wird und alles Graue grau bleibt, wenn es sich auch in ein
weißlicheres oder schwärzlicheres Grau verwandeln kann, so
bewahren die Außendinge dabei doch wenigstens im wesent-
lichen ihre Farben, wie es dem in § 6 erörterten Satze von der
angenäherten Farbenbeständigkeit der Sehdinge entspricht.
§ 18. Einfluss der successiven Anpassung des Auges auf die
Deutlichkeit des Sehens. Betritt man nach längerem Aufenthalte in
einem gut beleuchteten Räume einen nur schwach beleuchteten, oder setzt
man die Beleuchtung des ersteren schnell und erheblich herab, so unter-
scheidet man zunächst weniger, bezw. gar nichts. Sehr bald aber wächst
das Unterscheidungsvermögen wieder, anfangs schnell, dann immer lang-
samer, bis es die ihm durch das Ausmaß der jetzt herrschenden Beleuchtung
gezogene Grenze erreicht hat. Gleichwohl bleibt, wenn die Herabsetzung
der Beleuchtung eine erheblichere war, die Deutlichkeit des Sehens auch
dann noch ganz merklich hinter derjenigen zurück, welche bei der stärkeren
Beleuchtung bestand.
Kehrt man jetzt aus dem schwach beleuchteten Räume in den stark
beleuchteten zurück oder verstärkt die Beleuchtung des ersteren wieder, so
fühlt man sich mehr oder weniger geblendet und unterscheidet zunächst
abermals weniger, bis die Deutlichkeit des Sehens allmählich wieder ihr
anfängliches Maß erreicht.
Jede schnelle und größere Änderung der Beleuchtungsstärke des Gesichts-
feldes bedingt also zunächst eine sehr merkliche Herabsetzung der Deutlich-
keit des Sehens; erst wenn das Auge sich an die neue Beleuchtung gewöhnt
und sich derselben vollständig angepasst hat, leistet es in bezug auf die
Deutlichkeit des Sehens das 31aximum dessen, was ihm bei der gegebenen
Beleuchtung möglich ist.
Die angeführten Thatsachen lehren zugleich, dass das längere Zeit im
§ 18. Einfluss d. successiven Anpassung auf d. Deutlichkeit d. Sehens. 73
schwächer beleuchteten Räume gewesene Auge im stärker beleuchteten
trotz der größeren Lichtstärke aller Außendinge anfangs sogar weniger
leistet, als zuvor bei der schwachen Beleuchtung, und dass umgekehrt das
für ein stark beleuchtetes Gesichtsfeld adaptierte Auge für das schwach
beleuchtete solange fast unbrauchbar ist, bis es sich für letzteres wieder
angepasst hat. Die verschiedenen Grade der allgemeinen Be-
leuchtung erfordern also verschiedene Anpassungszustände des
Auges, und umgekehrt entspricht jedem Anpassungszustande
eine besondere für diesen Anpassungszustand optimale Beleuch-
tungsstärke, wenn das Auge das unter den gegebenen Verhält-
nissen mögliche Maximum der Deutlichkeit des Sehens er-
reichen soll.
Dieses Maximum ist bei verschiedenen Anpassungszuständen und den
zugehörigen optimalen Beleuchtungsstärken ein verschiedenes und also im
allgemeinen ein nur relatives. Ein für schwache Beleuchtung angepasstes
Auge erreicht bei keiner und also auch nicht bei der zugehörigen optimalen
Beleuchtungsstärke so hohe Deutlichkeitsgrade des Sehens wie ein für
stärkere Beleuchtung angepasstes. Nur bei einem bestimmten Ausmaß der
Beleuchtung, welches man als das absolute Optimum der Dauer-
beleuchtung bezeichnen kann, erreicht nach erfolgter Anpassung die
Deutlichkeit des Sehens ihr absolutes Maximum. Für verschiedene
Augen aber ist jenes absolute Optimum ein verschiedenes, weil individuelle
Eigentümlichkeiten für dasselbe mitbestimmend sind. Jeder wird aus eigener
Erfahrung wissen, dass es für sein Auge ein Ausmaß der Dauerbeleuchtung
giebt, bei welchem er am deutlichsten sieht, die Dinge am mühelosesten
unterscheidet und am meisten Einzelheiten an denselben wahrnimmt, und
dass jede erheblich unter diesem Optimum zurückbleibende oder über das-
selbe hinausgehende Dauerbeleuchtung die Deutlichkeit des Sehens merklich
beeinträchtigt.
Die vollständige Anpassung des Auges an eine gegebene Stärke der
allgemeinen Beleuchtung bedingt also, bei gleicher Schärfe des Netzhaut-
bildes, an sich noch nicht die von dem bezüglichen Auge überhaupt erreich-
bare größte Deutlichkeit des Sehens, denn diese ist zugleich an die absolut
optimale Beleuchtungsstärke gebunden ; vielmehr ist der Zustand vollständiger
Anpassung an eine gegebene Beleuchtung dadurch charakterisiert, dass das
Auge dabei andauernd mit der relativ größten, ihm bei der gegebenen
Beleuchtung möglichen Deutlichkeit sieht.
Würde das Auge bei einer schnelleren Änderung der Beleuchtungsstärke
sofort mit der dem neuen Beleuchtungsstande entsprechenden relativ maxi-
malen Deutlichkeit sehen, so würden wir hierin keinen Anlass finden, von
einer successiven Anpassung des Auges zu sprechen; hierzu zwingt uns
jedoch die Thatsache, dass das Auge nach eingetretenem Beleuchtungswechsel
74 Lehre vom Lichtsinn.
eine gewisse Zeit, die Anpassungszeit braucht, ehe das relative Maximum
der Deutlichkeit des Sehens erreicht wird. Es weist dies darauf hin, dass
sich während dieser Anpassungszeit innere Änderungen des Auges vollziehen,
durch welche dasselbe erst für die neue Beleuchtungsstärke eingerichtet
wird. Wenn freilich die Zu- oder Abnahme der Beleuchtung so langsam
vor sich geht, dass diese inneren, die successive Anpassung ausmachenden
Änderungen mit denen der Beleuchtung gleichen Schritt zu halten vermögen,
so kann es scheinen, als wäre das Auge ein ohne weiteres für sehr ver-
schiedene Beleuchtungsstärken eingerichtetes Organ.
Wir können innerhalb gewisser Grenzen der Beleuchtungsstärke soviel
Stufen der successiven Anpassung unterscheiden, wie Stufen der Beleuchtung.
Der stärkeren allgemeinen Beleuchtung und der zugehörigen höheren An-
passungsstufe entspricht bis zu einer gewissen Grenze auch ein höheres
Maß der Deutlichkeit des Sehens. Wächst aber die Beleuchtungsstärke über
jene Grenze hinaus und vermag das Auge mit seiner Anpassung nicht weiter
zu folgen, so nimmt auch die Deutlichkeit des Sehens nicht mehr zu und
weiterhin sogar wieder ab.
§ 19. Gleichen Unterschieden der Lichtstärken entsprechen
nicht gleiche Helligkeitsunterschiede. Es giebt eine ganze Litteratur
über die Frage, nach welchem Gesetze die »Intensität der Empfindung« mit
der Lichtstärke der korrelativen Stelle des Gesichtsfeldes bezw. ihres Netz-
hautbildes wachse. Man setzte dabei als selbstverständlich voraus, dass
eine Zunahme der Lichtstärke ganz allgemein auch eine Zunahme der Hellig-
keit bedinge, während doch, wie bereits in § 17 gezeigt worden ist, oft
genug trotz einer Zunahme der Lichtstärke ein Dunkler werden der bezüg-
lichen Sehfeldstelle eintritt. Man setzte zweitens voraus, dass die Helligkeit
als eine Intensitätsgröße betrachtet werden könne, während sie sich doch,
wie in § 10 dargelegt wurde, ebensowenig als eine Größe nehmen lässt,
wie ein Ort auf einer Geraden. Nur Helligkeits- bezw. Dunkelheitsunter-
schiede lassen eine vergleichende Größenbestimmung und also ein an-
genähertes Maß zu, wie sich auch Lageverschiedenheiten zweier Orte
messen lassen.
Schon diese Andeutungen genügen, ganz abgesehen von vielem anderen,
was noch zur Sprache kommen wird, um darzuthun, dass die eingangs
erwähnte Frage falsch gestellt ist. Wohl aber darf man fragen,
nach welchen Regeln oder Gesetzen die Größe oder Deutlichkeit des Unter-
schiedes zweier tonfreien Farben oder, wie man hier auch sagen kann,
ihr Helligkeits- oder Dunkelheitsunterschied abhängig sei von der Größe des
Unterschiedes der beiden korrelativen Lichtstärken im Gesichtsfelde bezw.
im Netzhautbilde.
Zunächst ließe sich denken, dass gleichgroßen Unterschieden der Licht-
§ 19.
Lichtstärkenunterschied und Helligkeitsunterschied.
75
stärken auch gleichgroße Unterschiede der Helligkeit entsprechen. Obgleich
leicht darzuthun ist, dass diese Annahme falsch wäre, scheint es mir doch
nicht überflüssig, die Mangelhaftigkeit der gewöhnlich gegen dieselbe ange-
führten Beweise darzulegen. Dabei sollen zunächst insbesondere solche
Helligkeitsunterschiede in Betracht gezogen werden, welche für uns zwischen
zwei nebeneinander und nicht bloß nacheinander gesehene Helligkeiten be-
stehen.
Man stelle in zunächst verfinstertem Zimmer auf einen Tisch nahe
dessen Rande einen schmalen weißen Schirm [w w)^ ferner nahe dem gegen-
überliegenden Rande eine Reihe von fünf oder mehr brennenden Kerzen
[F^ bis Fr,) von der halben Höhe des Schirmes, und endlich zwischen
Fig. 12.
Schirm und Kerzen einen mattschwarzen vertikalen Stab auf, wie es Fig. 12
zeigt. Ob die Kerzenflammen von gleicher Lichtstärke sind oder nicht, ist
hier gleichgültig. Verdeckt man alle Kerzen außer der mittleren (F^)^ so
sieht man auf dem weißen Schirm einen schwarzgrauen oder, wenn die
Wand und alles im Zimmer befindliche schwarz ist, einen schwarzen
Schatten des Stabes. Sobald man jetzt eine zweite Kerzenflamme frei
macht und den Schirm mitbeleuchten lässt, verliert der Schatten sehr auf-
fallend an Schwärze, auch wird der weiße Grund deutlich heller; aber der
Farbenunterschied zwischen dem Schatten und seiner Umgebung ist jetzt
bedeutend kleiner als anfangs, obwohl die Schattenstelle und ihre Umgebung
einen gleichgroßen Zuwuchs an Lichtstärke erfahren haben und also die
Differenz ihrer Lichtstärken die gleiche geblieben ist. Das beschriebene
Verhalten wiederholt sich in schwächerem Maße, wenn man eine dritte
Flamme freigiebt, in noch schwächerem, wenn auch das Licht der vierten
7ß Lehre vom Lichtsinn,
Flamme zugelassen wird u. s. w. Der Unterschied des Schaltens von seiner
Umgebung wird also dabei immer geringer. Wenn man schließlich einen
Fensterladen öffnet und das volle Tageslicht auf den Schirm fallen lässt,
verschwindet der Schatten gänzlich, obwohl auch jetzt noch der Unterschied
zwischen der Lichtstärke des Schattenortes und seiner Umgebung derselbe
ist, wie bei Beginn des Versuches, wo nur eine Flamme den Schirm be-
leuchtete. Durch Wiederverschluss des Fensterladens und folgCAveise Aus-
schaltung der einzelnen Flammen lässt sich der Versuch in umgekehrter
Richtung wiederholen und der wieder w^achsende Unterschied des Schattens
von seiner Umgebung beobachten.
Der Versuch zeigt also, dass hier bei gleichbleibendem Unterschiede
der Lichtstärke zweier Teile der Schirmfläche die Farbenverschiedenheit
derselben um so kleiner ist, je grüßer die beiden Lichtstärken sind. Jede
neuhinzukommende Lichtquelle erteilt der Schattenstelle für das Auge einen
größeren Helligkeitszuwuchs als der umgebenden Schirmfläche. Dement-
sprechend holt die in größeren Sprüngen wachsende Helligkeit der
Schattenstelle die in kleineren Sprüngen wachsende der Umgebung schließ-
hch ein, und beide werden gleich, während die Sprünge, welche dabei die
Lichtstärken machten, auf der Schattenstelle stets dieselben waren wie
auf deren Umgebung.
Wenn eine bei hellem Tage angezündete Straßenlaterne keine Schatten
erzeugt, w^enn die Sterne tagsüber auch bei klarstem Himmel unsichtbar
sind, obwohl sich ihr Licht zum Lichte der »Himmelsfläche« bei Tage
ebenso addiert wie während der Abend- oder Nachtdämmerung, und also
der Intensitätsunterschied zwischen dem Lichte eines Sternortes und dem
Lichte seiner Umgebung derselbe bleibt: so beweisen diese und analoge
Thatsachen zwar ebenso wie der beschriebene Versuch, dass hier gleich-
großen Differenzen der Lichtstärken zweier Außendinge nicht auch gleich-
große Helligkeitsverschiedenheiten der bezüglichen Sehdinge entsprechen,
aber alle solche Thatsachen schließen nicht ohne weiteres die Möglichkeit
aus, dass letzteres doch der Fall sein würde, wenn die hier unvermeidlich
gewesenen Änderungen des Anpassungszustandes der Augen ausgeschlossen
wären.
Zu diesen Änderungen gehört zunächst das Pupillenspiel. Wenn z. B.
der Durchmesser der Pupillen bei der Betrachtung des lichtstarken Tag-
himmels nur 2, bei Betrachtung des Nachthimmels aber 6 mm betrüge, und
die Pupillenfläche also letzterenfalls 9 mal größer wäre als ersterenfalls, so
würde bei Nacht im Netzhautbilde die Differenz zwischen den Lichtstärken
eines Sternortes und seiner Umgebung 9 mal so groß sein als bei Tage,
auch wenn sie am Himmel selbst, photometrisch genommen, bei Nacht
nicht größer wäre als bei Tage. Denn durch die Erweiterung der Pupille
wird zwar das Verhältnis der Lichtstärken zweier Teile des Netzhaut-
§ 19. Lichtstärkenunterschied und Helligkeitsunterschied. 77
bildes nicht geändert, wohl aber ihre Differenz proportional mit der Zu-
nahme der Pupillenfläche vergrößert. Einem 9 mal größeren Unterschiede
der Lichtstärken müsste aber nach der oben zurückgewiesenen Hypothese
ein entsprechend größerer Helligkeitsunterschied entsprechen. Somit könnte
ein bei kleiner Pupille untermerklicher Unterschied bei großer Pupille sehr
merklich werden.
Wenn nun auch zweifellos die Unsichtbarkeit eines Sternes am Tag-
himmel im wesentlichen nicht darauf beruht, dass dabei die Pupille viel
enger ist als bei Nacht, so zeigt doch dieser Fall besonders deutlich, wie
notwendig es bei allen hier in Betracht kommenden Beobachtungen eigent-
lich wäre, den Einfluss der durch die veränderte Lichtstärke des Gesichts-
feldes bedingten Pupillenänderung auszuschließen. Thut man dies, indem
man dicht vor das Auge ein kleines Diaphragma setzt, dessen Öffnung
kleiner ist, als unter den gegebenen Umständen der Durchmesser der Pupille
werden kann, so ändert sich freilich an den besprochenen Erscheinungen
nichts hier wesentliches.
Viel stärker fällt, um zunächst bei den Sternen zu bleiben, folgendes
ins Gewicht: Wer wie Fechner, Helmholtz und ihre Nachfolger (vgl. die
Lehr- und Handbücher der Physiologie) annimmt, dass bei gleichem Reize
die Stärke der »Erregung« des Auges seiner »Erregbarkeit« beiläufig pro-
portional ist, hat zu bedenken, dass dann die Änderungen der Erregbarkeit
auf die Unterschiede der Erregungsstärken einen ganz analogen Einfluss
haben w^ürden, wie die Änderungen der Pupille auf die Unterschiede der
Lichtstärken im Netzhautbilde, d. h. einer z. B. 10 mal größeren Erregbarkeit
würden, wenn alles übrige gleichbleibt, 10 mal größere Unterschiede der
Erregungsstärken entsprechen. Setzen wir einmal die Erregbarkeit bei
Tage =1, die Lichtstärke der Himmelsfläche =200 und den Zuwuchs
an Lichtstärke, welcher durch einen bestimmten Stern für seinen Ort an
der Himmelsfläche bedingt ist, =: 1 , so würden die beiden, den Lichtstärken
200 und 201 entsprechenden Erregungsstärken ebenfalls = 200 und 201,
und ihr Unterschied = 1 zu setzen sein. Wäre dann die Dämmerung
soweit fortgeschritten, dass die Lichtstärke der Himmelsfläche nur noch = 5,
die Erregbarkeit aber unterdessen 10 mal größer geworden wäre, so wäre
die der Himmelsfläche entsprechende Erregung =50, die dem Sternorte
entsprechende =60 und der Unterschied beider = 10, also lOmal größer
als bei Tage. Dann wäre aber die Annahme die nächstliegende, dass dem
größeren Erregungsunterschied auch ein größerer Helligkeitsunterschied ent-
spricht, und dass die Unsichtbarkeit der Sterne bei Tage auf dem zu kleinen
absoluten Unterschiede der beiden bezüglichen »Erregungen« beruht.
Es war also kein glücklicher Griff, wenn Feconer (12, L S. 142) die
Unsichtbarkeit der Sterne bei Tage als einen guten Beweis dafür anführte,
dass für die Helligkeitsunterschiede im Sehfelde nicht die Unterschiede,
78 Lehre vom Lichtsinn.
sondern die Verhältnisse der bezüghchen Erregungsstärken das Maß-
gebende seien.
Was soeben an einem extremen Beispiele erörtert wurde, gilt mehr oder
minder auch von den anderen oben erw^ähnten Thatsachen. Denn bei allen
kommt infolge veränderter Gesamtbeleuchtung eine Veränderung des An-
passungszustandes und der »Erregbarkeit« in Betracht. Je länger z. B. bei
dem Versuche mit dem schattenwerfenden Stabe die Zeit zwischen dem
Freigeben der einen und der nächstfolgenden Flamme ist, desto besser wird
sich unterdessen das Auge für die bereits gesteigerte Beleuchtung successiv
angepasst haben, so dass jede neu hinzukommende Flamme das Auge in
einem anderen Anpassungszustande findet, als die vorhergehende. Sind die
Zwischenzeiten zu kurz, als dass solche Successivanpassung wesentlich in
Betracht kommen kann, so wird doch die allgemeine Steigerung der Be-
leuchtung, wie sie durch jede neue Kerzenflamme bedingt ist, von der ent-
sprechenden simultanen, auf Wechselwirkung der Sehfeldstellen beruhenden
Anpassung begleitet sein und die Lichtempfindlichkeit dadurch sofort weiter
herabgesetzt werden.
Gleichviel wie man sich diese thatsächlich eintretenden Änderungen
der Lichtempfindlichkeit erklären will, es bleibt sicher, dass, wer die Art
der Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von denen der Lichtstärke
untersuchen will, in erster Linie, soweit irgend möglich, dafür zu sorgen
hat, dass das Sinnesorgan, dessen Reaktionen auf die verschie-
denen Lichtstärken zu vergleichen sind, sich nicht in der Zeit
von einer Reaktion zur anderen irgend wesentlich verändert
hat, sondern dass sämtliche zur Anwendung kommenden Lichtstärken das
Organ in demselben Zustande treffen. Thut er dies nicht, so gleicht er
einem Manne, welcher Messungen mit einem Thermometer machen will,
dessen lockere Skala sich gegen die Quecksilbersäule in nicht kontrollierter
oder gar nicht kontrollierbarer Weise in der Zeit von einer Ablesung zur
anderen verschiebt.
Alle Beobachtungen also, bei denen sich die Gesamtbeleuch-
tung in der Zeit von einer Beobachtung zur anderen geändert
hat, sind zur Entscheidung der hier besprochenen Frage nicht
einwandsfrei bezw. gar nicht verwendbar. Bei den folgenden Be-
obachtungen oder Versuchen sind nun die eben erwähnten Einwendungen
ausgeschlossen.
Hinter der Flamme eines Bunsenbrenners befinde sich ein zur rechten
Hälfte weißer, zur linken Hälfte schwarzer Kartonstreifen: sobald man nach
der Flamme blickt, sieht man dieselbe, soweit sie vor dem schwarzen
Grunde erscheint, hell, während sie vor dem weißen Grunde kaum oder
gar nicht sichtbar ist.
Hinter die große Flamme einer Spiritus-Dochtlampe bringe man ein
§ 11'. Lichlstärkenunterschied und Helligkeitsunterschied. 79
steifes weißes oder graues Papier, auf welches ein schmales Stück belegten
Spiegelglases geklebt ist; die Ebene des Papieres mit dem Spiegel sei so
gewählt, dass sich in letzterem für das Auge des Beobachters ein Stück
des gleichmäßig hellen Himmels spiegelt: soweit die Flamme vor dem
Spiegel liegt, ist sie unsichtbar, vor dem grauen oder weißen Papier aber
erscheint sie leuchtend.
Hätte man vollends bei diesen Versuchen vor jeder Beobachtung
zwischen sich und die Flamme einen geichmäßig grauen Schirm zureichend
lange gehalten und die Augen schon vor der Entfernung des Schirmes
passend gerichtet, so würden selbst für einen peinlichen Kritiker die oben
erhobenen Bedenken beseitigt sein.
Eine kleine möglichst dünne unbelegte Spiegelglasplatte (z. B. ein ge-
schliffenes Deckglas) sei so gegen ein Fenster geneigt, dass sich in ihr für
den Beobachter ein Teil der gleichmäßig hellen Himmelsfläche spiegelt, wenn
er auf ein hinter bezw. unter dem Glase in passender Entfernung befind-
liches und zureichend beleuchtetes bedrucktes Blatt blickt. Auf dem Teile des
Blattes, wo sich das gespiegelte Himmelslicht zu dem von dem Papier und
seinen Buchstaben kommenden Lichte addiert, sieht der Beobachter die
Buchstaben weniger von dem weißen Grunde abstechen, sie sind ihm minder
deutlich, und w^enn die Schrift zureichend klein bezw. das zugespiegelte
Licht zureichend stark ist, gar nicht mehr lesbar. Da wie gesagt bei
gleicher Schärfe des Netzhautbildes sowie gleicher Form und Grüße der
Buchstaben die Deutlichkeit einer Schrift lediglich von der Grüße des Unter-
schiedes der Farbe abhängt, in welcher einerseits die Buchstaben, anderer-
seits deren Umgebung erscheinen, so haben wir in der größeren oder
geringeren Deutlichkeit der Schrift zugleich ein Merkmal für den grüßeren
oder kleineren Betrag dieses Unterschiedes.
Die Methode der Lichtzuspiegelung eignet sich überhaupt ganz vorzüg-
lich zur Untersuchung der Beziehungen zwischen den Intensitätsverschieden-
heiten des Lichtes und den korrelativen Helligkeitsunterschieden im Seh-
felde. Lässt man einen weißen Papierschirm sich an einer unbelegten Spiegel-
glasplatte spiegeln, so kann man durch Verstärkung oder Abschwächung
der den Schirm beleuchtenden Lichtquelle oder durch Änderung des Winkels,
welchen die Schirmfläche mit der Einfallsrichtung des sie treffenden Himmels-
lichtes bildet, die Mengen des dem Auge zugespiegelten Lichtes in fein ab-
gestufter Weise abändern; andererseits kann man durch passende Einrich-
tungen ganz unabhängig von der Menge des zugespiegelten Lichtes die
Beleuchtung der durch die Glasplatte beobachteten Schrift, Photographie,
oder was sonst benutzt wird, verstärken oder abschwächen. Dass man
beim Blicken durch die Glasplatte eigentlich zwei, ein wenig gegeneinander
verschobene Bilder der gespiegelten Fläche erhält, ist für die meisten hier
in Betracht kommenden Versuche ganz unwesentlich.
80
Lehre vom Lichtsinn.
Man überklebe die eine Hälfte einer Glastafel mit einer Skala tonfreier
Papiere, die andere Hälfte teils mit tiefschwarzem, teils mit unmittelbar
angrenzendem schwarzgrauen Papier in der Weise, wie es Fig. 13 zeigt,
und stelle auf die Grenzlinie [GG] der beiden Hälften ein vertikales unbelegtes
Spiegelglas von der Größe der ersterwähnten Glastafel. Blickt man dann
durch das Spiegelglas auf
die Skala, so sieht man im
allgemeinen den von dem
Spiegelglase entfernteren
Teil der Skala, auf welchen
das Spiegelbild des schwarz-
grauen Papieres fallt, heller
als den dem Spiegelglase
näheren Teil, und der
Helligkeitsunterschied
beider Teile einer Stufe ist
um so deutlicher (größer),
je lichtschwächer die be-
zügliche Stufe ist. Bei
gleichbleibendem Standort
des Körpers vor dem Appa-
rate sind diese Helligkeits-
unterschiede um so größer,
je höher sich die Augen
über der Ebene der Skala
befinden, und wenn man den immer aufrecht gehaltenen Kopf durch
zunehmende Kniebeugung abwärts bewegt, so w^erden die Helligkeitsunter-
schiede immer kleiner und zuerst auf der lichtstärksten Stufe der Skala,
dann auf der nächst unteren u. s. f. unmerklich, obwohl der Lichtstärken-
unterschied auf allen Stufen der Skala derselbe ist, von einem kleinen hier
nicht in Betracht kommenden Fehler abgesehen.
Will man diesen kleinen Fehler vermeiden und zugleich in strengster Weise
für immer gleichen Anpassungszustand der Augen sorgen, so befestigt man die
Spiegelglasplatte an einem Träger derart, dass ihr unterer Rand das Papier
nicht berührt, sondern einige Millimeter über demselben liegt. Sodann schiebt
man zwei ganz gleiche, große und steife graue Blätter von links und rechts her
über die Papierfläche, bis ihre parallelen Ränder in dem Punkte zusammentreffen,
auf den man bei der nachher anzustellenden Beobachtung den BHck richten will.
Nachdem man dann längere Zeit hindurch die graue Fläche der Blätter zwang-
los betrachtet hat, fixiert man jenen Punkt und zieht sofort die beiden Blätter
mit mäßiger Geschwindigkeit nach rechts und links zur Seite. Dann ist man
sicher, dass die Netzhautstelle, mit der man beobachtet, vor jeder Einzel-
beobachtung immer wieder unter derselben Lichtwirkung gestanden hat. Durch
quere Verschiebung der unteren Glasplatte lässt sich dann auch vor jeder Einzel-
§ 20. Lichtstärkenverhältnis und Helligkeitsunterschied. 81
beobachtung bei unveränderter Kopflage eine andere Stufe der Skala an den-
selben Beobachtungsort bringen.
Wo immer ein Spiegelbild auf einer teils lichtschwächeren, teils licht-
stärkeren Fläche gesehen wird, tritt es auf der ersteren deutlicher hervor
als auf der letzteren, auch wenn die durch das Spiegelbild bedingten Licht-
zuwüchse auf beiden Teilen der Fläche ganz gleich groß sind. Jede Spiegel-
glasscheibe eines Schaufensters, jeder Flügel eines nach innen geöffneten
Fensters giebt Gelegenheit dies zu bestätigen.
Das Ergebnis aller derartigen Versuche ist also, dass auch bei unver-
ändertem Anpassungszustande des Auges gleichen Unterschieden der Licht-
stärken nicht auch gleich deutliche Helligkeitsunterschiede entsprechen,
sondern dass die letzteren um so weniger auffällig sind, je größer bei
gleichbleibenden Unterschieden die Lichtstärken sind.
Neuerdings hat Petri^x auf Grund einer sorgfältigen, mit Sv. Johansson
ausgeführten Untersuchung angegeben (17, S. 86), »dass die Größe des eben
merklichen Unterschiedes bei derjenigen Intensität der Reize, welche ein weißes,
von diffusem Tageslichte voll beleuchtetes Papier besitzt, etwa dieselbe ist, wie
bei einer 3 3 mal geringeren Intensität«. Es muss besonders hervorgehoben
werden, dass bei dieser Untersuchung dafür gesorgt war, das Auge vor jeder
Einzelbeobachtung wieder möglichst genau in denselben Anpassungszustand zu
bringen. Hätte das angegebene, in durchaus zuverlässiger Weise, aber unter
besonderen , ungewöhnlichen Umständen gewonnene Ergebnis eine allgemeine
Gültigkeit, so müsste z. B. bei dem soeben besprochenen Spiegelungsversuch der
durch das zugespiegelte Licht erzeugte Helligkeitsunterschied auf den licht-
schwächsten Stufen der Skala ebenso deutlich sein, wie auf den lichtstärksten,
und auch auf beiden gleichzeitig eben merklich bezw. eben unmerklich werden,
was jedoch nicht entfernt der Fall ist. Petrin und Johansson vermehrten oder
verminderten auf einer sehr kleinen runden Stelle (von nur 50' Gesichtswinkel)
einer großen gleichmäßig grauen Fläche ganz plötzlich und nur für Ys Sekunde
die Lichtstärke und zwar auf der einen Hälfte der Stelle stärker als auf der
anderen, so dass also die Lichtstärken beider Hälften verschieden wurden. Der
kleinste dabei noch merkliche Unterschied dieser beiden Lichtstärken wurde be-
stimmt. Sie fanden ihn beiläufig ebenso groß, wenn die Lichtstärken der beiden
etwas verschiedenen Hälften des kleinen Kreisfeldes der Lichtstärke eines weißen
Papieres ganz nahe kamen, wie wenn sie 3 3 mal geringer waren und also der
eines schwarz erscheinenden Papieres beiläufig entsprachen. Wie dieses Ergebnis
aus den besonderen Versuchsbedingungen zu erklären ist, wird sich weiterhin
herausstellen.
§ 20. Entsprechen gleichen Verhältnissen der Lichtstärken
der wirklichen Dinge gleichgroße Helligkeitsunterschiede der
Seh dinge? Eine zweite naheliegende Hypothese über die Beziehungen
zwischen den Unterschieden der Lichtstärken und den Unterschieden der
korrelativen Farben (Helligkeiten) ist die, dass gleichgroßem Unterschiede
der letzteren dasselbe Verhältnis der Lichtstärken entspreche. Nahe
Hering, Lichtsinn. 6
g2 Lehre vom Lichtsinn.
liegend ist diese Annahme, weil bei Änderungen der allgemeinen Beleuchtung
zwar die Unterschiede der Lichtstärken der Einzelteile des Gesichtsfeldes
sich proportional der Zu- oder Abnahme der Beleuchtungsstärke ändern,
die Verhältnisse der Lichtstärken aber dieselben bleiben, und man es
zweckmäßig linden kann, wenn auf diese Weise die Deutlichkeit des
Sehens, wenigstens innerhalb weiter Grenzen, von den Intensitätsänderungen
der allgemeinen Beleuchtung unabhängig gemacht wäre.
Fechner war der Ansicht, dass dieser Hypothese, abgesehen von mini-
malen oder übermäßig großen Lichtstärken allgemeine Gültigkeit zukomme.
Die in § 1 7 besprochenen Thatsachen haben uns jedoch schon gezeigt, wie
mit der Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes die Deutlichkeit des Sehens
zu- und abnehmen kann, und dass also hierbei demselben Verhältnis je
zweier Lichtstärken nicht immer derselbe Unterschied der beiden kor-
relativen Helligkeiten entspricht. Wir haben ferner in § 18 erfahren,
welch großen Einfluss der jeweilige Anpassungszustand des Auges auf
die Deutlichkeit des Sehens hat. Demnach ist jetzt zu prüfen , in-
wieweit die erwähnte Annahme für den Fall unveränderter Beleuchtung
des Gesichtsfeldes und bei unverändertem Anpassungszustande des Auges
Geltung hat.
Haben wir ein Gesichtsfeld mit konstanter Beleuchtung vor uns und
lassen innerhalb eines engeren Bezirkes unseren Blick umherwandern, so
bleibt (abgesehen von ganz besonderen Fällen) der allgemeine Anpassungs-
zustand des Auges unverändert. Wenn also dabei die zu vergleichenden
Helligkeitsunterschiede bezw. Lichtstärkenpaare gleichzeitig in einem
solchen Bezirke gegeben sind und wir unseren Blick abwechselnd bald dem
einen, bald dem anderen Paare zuwenden, so ist der Forderung einer
unveränderten Beleuchtung des Gesichtsfeldes und eines gleichbleibenden
allgemeinen Anpassungszustandes des Gesamtauges genügt. Dann lässt sich
nur noch verlangen, dass auch der besondere somatische Sehfeldbezirk,
mit welchem man beobachtet, sich vor jeder Einzelbeobachtung wieder
genau in demselben Zustande befinde. Man erreicht auch dies, wenn man
zureichende Pausen zwischen die einzelnen Beobachtungen einschiebt und
während der Pausen den Blick auf einer ganz gleichartigen, vorübergehend
vor das Beobachtungsfeld gebrachten Fläche von passender Lichtstärke
ruhen lässt (vgl. § 26).
Schon in § 1 1 (S. 39) wurde erwähnt, dass zuerst Plateau versucht
hat, eine Stufenreihe tonfreier Pigmentfarben herzustellen, in welcher je
zwei Nachbarstufen beiläufig gleich stark voneinander abstachen und also
gleichgroßen Helligkeitsunterschied zeigten. Ähnliche Versuche hat später
Ebbinghaüs (10, S. 1006) mit besonderer Sorgfalt angestellt und zugleich die
Verhältnisse der Lichtstärken bestimmt, welche zwischen je zwei Nachbar-
stufen seiner achtstufigen Reihe bestanden. Die verschieden pigmentierten
§ 20. Lichtstärkenverhältnis und Helligkeitsunterschied. 83
Papiere ^) kamen als Scheiben von 2 cm Durchmesser auf einem möglichst
lichtschwachen Grunde und »bei diffuser Tagesbeleuchtung« zur Anwendung.
Die lichtstärkste Scheibe war, wie er angiebt, beiläufig 100 mal lichtstärker
als die lichtschwächste 2). Als Quotienten der beiden Lichtstärken je zweier
Nachbarstufen der Reihe ergaben sich, von der lichtschwächsten bis zur
lichtstärksten fortschreitend, folgende: 2.25; 2.M; 2.05; 1.77; 1.72;
1.68; 1.98.
Wüsste man, zwischen welchen Grenzen die Verhältnisse der Licht-
stärken innerhalb der Reihe sich hätten abändern lassen, ohne dass der
Eindruck der Gleichwertigkeit der sieben Helligkeitsunterschiede verloren
gegangen wäre, so würde der Wert obiger Versuchsergebnisse noch wesent-
lich größer sein. Aber auch ohne dies darf man aus denselben schließen,
dass unter den gegebenen Bedingungen gleichen Helligkeitsunterschieden mit
viel größerer Annäherung gleiche Verhältnisse der Lichtstärken ent-
sprachen als gleiche Unterschiede derselben.
Denselben Schluss durfte man aus den Versuchsreihen Delboeuf's (8) und
den sehr sorgfältigen Versuchen von Lehmann und Neiglick (9) ziehen, bei
welchen es galt, zwischen zwei gegebenen mehr oder minder stark ver-
schiedenen Helligkeiten die mittle Helligkeit herzustellen und zugleich die
Verhältnisse zwischen den drei bezüglichen Lichtstärken zu bestimmen.
Die solcher mittlen Helligkeit entsprechende Lichtstärke lag stets der mittlen
Proportionalen der beiden anderen Lichtstärken näher als dem arith-
metischen Mittel derselben, obwohl die Versuchsbedingungen sehr ver-
schiedene waren.
Schon Fechner hatte die von den Astronomen ganz unabhängig von
jeder Messung der Lichtstärken aufgestellte Reihe der Sterngrößen als eine
Skala äquidifferenter Helligkeiten angenommen und aus den späteren photo-
metrischen Bestimmungen der Lichtstärken der einzelnen Sterngrößen ab-
zuleiten versucht, dass zwischen je zwei Nachbarstufen in der Skala der
Sterngrößen immer wieder dasselbe Verhältnis der Lichtstärken bestehe.
Leider aber lässt sich bei der Schätzung der Sterngrößen der Einfluss des
Raumsinns nicht sicher ausschließen, wie dies schon in § 1 1 erörtert wurde.
Allen diesen Thatsachen stehen jedoch andere gegenüber, aus denen
ein gewaltiger Einfluss der absoluten Größe eines Lichlslärkenpaares auf
die Deutlichkeit seines Helligkeitsunterschiedes hervorgeht, und zwar bei
unveränderter Pupille und gleichem Stande der successiven Adaptation.
i) Nach einigen Proben zu urteilen, welche ich der Güte des Herrn Kollegen
Ebbinghaus verdanke, waren diese Papiere von einer kaum zu übertreffenden
Vollkommenheit. Dagegen ließen die auf meine Veranlassung fabrikmäßig her-
gestellten Serien grauer Papiere leider viel zu wünschen übrig. Zu besonderen
Zwecken musste ich Helligkeitsskalen auf photographischem Wege herstellen lassen.
2) Das Remissionsvermögen des schwärzesten Papieres, welches mir zur
Verfügung stand, verhielt sich zu dem des weißesten nur wie 4 : 72.
6*
84 Lehre vom Lichtsinn.
In besonders auffallender Weise zeigen dies folgende Beobachtungen,
welche den Helligkeitsunterschied zwischen einer »weißen« Papierfläche und
einer darauf befindlichen » schwarzen « Schrift oder Zeichnung betreffen.
Das Verhältnis der beiden hier in Betracht kommenden Lichtstärken, des
Papieres einerseits und der Buchstaben andererseits, durfte, wie in § 6, S. 1 4
erwähnt wurde, beiläufig gleich 15:1 geschätzt werden. Jedenfalls bleibt
das Verhältnis bei allen Beleuchtungsstärken der Papierfläche dasselbe, so-
fern der weiße Grund und die »schwarzen« Buchstaben oder Striche gleich
matt sind. Es müsste deshalb, wenn ihre Helligkeitsunterschiede lediglich
vom Verhältnis ihrer Lichtstärken abhingen, auch die Deutlichkeit der Buch-
staben oder Striche wenigstens innerhalb weiter Grenzen der Beleuchtungs-
stärke dieselbe bleiben. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.
Wenn man ein kleines fein schraffiertes oder mit Perlschrift bedrucktes
Blatt in der Mitte knickt und so vor sich hält, dass die eine Hälfte einem
Fenster zugekehrt ist, dann ist diese Hälfte hchtstärker als die andere,
und man kann das Verhältnis der Lichtstärken beider Hälften innerhalb
weiter Grenzen abändern, je nachdem man den Knickungswinkel größer
oder kleiner wählt, oder bei gleichem Winkel die Lage der Flächen zur
Einfallsrichtung des Lichtes ändert, oder sich mit dem Blatte vom Fenster
entfernt bezw. demselben nähert. Vergleicht man nach Befestigung des
Papieres in der gewählten Lage die eine Hälfte der Schrift mit der anderen,
so bemerkt man bei irgend erheblicher Differenz der Lichtstärken beider
Hälften, dass die auf der lichtstärkeren sichtbare Schraffierung auf der
lichtschwächeren unsichtbar ist, bezw. dass, wenn die Perlschrift auf der
ersteren eben noch lesbar ist, dies auf der anderen Hälfte nicht mehr der
Fall ist. Analoges beobachtet man, wenn man die eine Hälfte des nicht
geknickten Blattes auf irgend eine Weise beschattet.
Noch besser ist es, einen schmalen Streifen des bedruckten oder fein
schraffierten hinreichend steifen und nicht glänzenden Blattes über das licht-
freie Loch eines Dunkelkastens (vgl. § 16, S. 65) zu brücken und durch
ein dazu geeignetes Polariphotometer zu betrachten. Die getrennt neben-
einander erscheinenden Bilder, welche man dabei von dem einfachen Ob-
jekte erhalten kann, bieten den Vorteil, dass sie abgesehen von der ver-
schiedenen Lichtstärke ganz identisch sind, daher man korrespondierende
Stellen derselben in bezug auf die Deutlichkeit der Schrift oder der Schraffie-
rung miteinander vergleichen kann. Zu diesen Beobachtungen musste ich
jedoch ein Polariphotometer benutzen, in welchem das doppelte Bild nicht
wie in dem früher beschriebenen (§ 1 6, S. 67) durch ein doppeltbrechendes
Prisma, sondern durch einen großen Kalkspat (von nahezu 75 mm Länge
und 40 mm Seitenlänge seiner Endflächen) erzeugt wurde; denn das doppelt-
brechende Prisma gab nicht zwei bei gleicher Lichtstärke gleichscharfe
Bilder.
§ 20. Lichtstärkenverhältnis und Helligkeitsunterschied. 85
War der Streifen in der Nähe des Fensters von dem hellen weißlichen
Himmel beleuchtet, so sah ich eine äußerst feine Schraffierung auf dem
helleren Bilde noch deutlich, auf dem dunkleren aber nicht mehr, wenn
der Nicol auf 30° stand, was einem Verhältnis der Lichtstärken beider
Bilder gleich ^'3 entspricht. Aber auch bei einem Verhältnis gleich 1/2
gelang es mir günstigenfalls noch, feinste Einzelheiten des lichtstärkeren
Bildes zu sehen, die im lichtschwächeren unkenntlich waren. Eine sichere
Grenze lässt sich hier, wie bei solchen Grenzfällen überhaupt, nicht
angeben.
Beleuchtet man eine kleine Stelle einer schon gut beleuchteten feineren
Druckschrift oder dergl. mit Hilfe eines kleinen Spiegelchens noch stärker
oder wirft man auf die Stelle mittels einer Konvexlinse den Zerstreuungs-
kreis einer kleinen Lichtquelle und entfernt dann das Auge so weit, dass
die Schrift trotz bester Akkommodation im allgemeinen eben unleserlich
wird, so ist sie auf der stärker beleuchteten Stelle noch lesbar.
Absolut größeren Lichtstärken entsprach also bei diesen Versuchen, trotz
ganz gleich bleibendem Verhältnis derselben sowie gleicher Pupillenweite
und gleicher Gesamtanpassung des Auges, eine größere Deutlichkeit der
Helligkeitsunterschiede; im letzterwähnten Falle sogar schon dann, wenn
die Lichtstärken im einen Bilde nur dreimal bezw. sogar nur doppelt so
groß waren, als im anderen.
Analoge Ergebnisse erhält man an Diapositiven, welche ein sehr feines
Detail zeigen. Hält man ein solches Diapositiv in passendem Abstände vor
eine gut beleuchtete halb w^eiße halb graue Fläche von z. B. Ys der Licht-
stärke der weißen, oder bringt man dicht unter die eine Hälfte ein dunkel-
graues, unter die andere ein hellgraues oder ganz ungefärbtes Glas und
hält das Ganze vor eine gleichmäßig weiße Fläche, so erkennt man auf
der heller erscheinenden Hälfte des Diapositivs noch feinere Einzelheiten
als auf der anderen Hälfte. Um einen sicheren Vergleich zu haben, sucht
man sich eine bestimmte besonders geeignete Stelle des Bildes aus und
schiebt dieselbe bei der einen Beobachtung vor den weißen, bei der nächsten
vor den grauen Hintergrund, bezw. schiebt man bald das dunklere, bald
das hellere Glas unter die Stelle, während jetzt der Hintergrund ganz gleich-
mäßig weiß ist.
Um bei allen solchen Versuchen ganz streng der Forderung zu genügen,
dass das Auge unmittelbar vor jeder Beobachtung sich wieder in demselben
Anpassungszustande befinde, kann man das Sehobjekt zwischen je zwei
Einzelbeobachtungen immer wieder durch graue Schirme verdecken, auf
welchen der Blick während der zureichend langen Pausen der Beobachtung
zwanglos zu ruhen hat. Dass die Gesamtbeleuchtung während einer
Beobachtungreihe dieselbe bleiben soll , bedarf kaum wieder der Er-
wähnung.
86 Lehre vom Lichtsinn.
Fechner giebt (12, I. T. S. 1 40) an, dass ihm »benachbarte Wolkennuancen,
die nur einen spurweisen Unterschied für das Auge darbieten«, durch graue
Gläser, die nur Y7 des Lichtes durchließen, »mindestens noch ebenso merkHch
waren, als bei freiem Auge«. Derartige Versuche sind seitdem öfters angestellt
worden, teils mit analogem, teils mit abweichendem Ergebnis (z. B. von Helm-
HOLTz). Für unseren Zweck sind sie unbrauchbar, weil dabei die Gesamt-
beleuchtung der Netzhaut bedeutend verändert wird. Fechner bemerkt selbst
(12, I. T. S. 144), dass er »bei Vornahme oder Wegnahme der Gläser ein
momentanes Undeutlicherwerden des Unterschiedes erfuhr, was jedoch beidesfaJis
schnell vorüberging«. Die Zeit, welche nach jedem Beleuchtungswechsel ver-
fließen musste, ehe Fechner den fraglichen Unterschied wieder bemerkte, war
eben diejenige, welche das Auge brauchte, um sich der neuen Beleuchtung wieder
zureichend anzupassen.
Dabei will ich bemerken, dass mir die Helligkeitsunterschiede auf sehr licht-
starken weißen Wolken beim Sehen durch ein passendes graues, dicht vor das
Auge gehaltenes Glas deutlicher sein können als bei freiem Auge. Die optimale
Beleuchtungsstärke des Gesichtsfeldes (s. § 18) ist letzterenfalls für mich bereits
überschritten. Man muss bedenken, dass schon eine »graue« Wolke sehr viel
lichtstärker ist als gleichzeitig ein in der Nähe des Fensters befindliches »weißes«
Papier.
Viel besser, doch auch nur in begrenzter Weise, stimmen die folgenden
Beobachtungen zu der hier geprüften Hypothese.
Es ist schon vielfach untersucht worden, inwieweit einem nur eben-
merklichen Unterschiede zweier tonfreier Farben oder Helligkeiten ein kon-
stantes Verhältnis der beiden korrelativen Lichtstärken entspricht. Da jedoch
bei diesen Versuchen nicht dafür gesorgt war, dass der Anpassungszustand
unmittelbar vor jeder Einzelbeobachtung immer wieder derselbe und die
Gesamtbeleuchtung des Auges während der ganzen Beobachtungsreihe un-
verändert war^), so sind die Ergebnisse dieser Versuche für die uns hier
beschäftigende Frage nicht ohne weiteres verwertbar. Die folgenden Versuche
aber genügen der soeben gestellten Forderung und unterscheiden sich
von jenen älteren insbesondere dadurch, dass die benutzten
Lichtstärkenpaare nicht nacheinander, sondern nebeneinander
im Gesichtsfelde gegeben sind. Dies gestattet eine viel raschere und
bequemere Übersicht über die beiläufigen Grenzen, innerhalb deren bei der
gewählten Beleuchtung der Objekte gleichen Verhältnissen ihrer Lichtstärken
gleich merkliche Helligkeitsverschiedenheiten im Sehfelde entsprechen.
Eine 4 cm breite und 1 8 cm lange Glasplatte trägt auf ihrem mittlen
Teile eine z. B. sechsstufige Skala tonfreier Farben, bestehend aus ganz
matten 15 mm breiten Papierstreifen, einem schwarzen (Kreiselwert 6) am
einen, einem weißen (Kreiselwert 360) am anderen Ende und dazwischen
vier nach ihrer Lichtstärke passend abgestuften grauen. Die Glasplatte ist
an beiden Seiten scharf abgeschliffen und ebenso scharf sind die Papier-
1) Eine Ausnahme machen die oben (S. 81) erwähnten Versuche von Petren.
§ 20. Lichtstärkenverhältnis und Helligkeitsunterschied. 87
streifen seitlich abgeschnitten, was für den Versuch von besonderer Wichtig-
keit ist.
Diese möglichst gut vom Himmelslicht beleuchtete Skala wird über das
Dunkelloch eines großen Dunkelkastens gebrückt und durch das mit seiner
Mitte stets senkrecht über die Beobachtungsstelle gebrachte Polariphotometer
betrachtet. Dieses ist zur Skala so orientiert, dass das extraordinäre Bild
derselben in rechtwinklig zum Längsrande der Skala gehender Richtung
verschoben erscheint und zwar z. B. um die Hälfte der Skalenbreite. Hierbei
decken sich also die beiden Bilder zur Hälfte und man sieht drei Skalen
von halber Breite, eine mittlere hellste und zwei seitliche minder helle.
Die mittlere hat dieselbe Lichtstärke für das Auge, wie sie die bei Null-
stellung des Nicol einfach gesehene Skala hat. Die Lichtstärken aller ein-
zelnen Stufen einer seitlichen Skala haben zu den Lichtstärken der ihnen
entsprechenden Stufen der mittleren Skala dasselbe Verhältnis.
Wäre es nun richtig, dass der Helligkeitsunterschied je zweier Farben,
bei gleichem Verhältnis der korrelativen Lichtstärken innerhalb weiter
Grenzen unabhängig von der absoluten Größe dieser Lichtstärken ist, so
müsste der Helligkeitsunterschied zwischen je einer Stufe der mittlen Skala
und der entsprechenden unmittelbar angrenzenden Stufe einer seitlichen
Skala überall gleich groß sein. Solange diese Unterschiede noch leicht
merklich sind, lässt sich meist nur sagen, dass sie auf den dunkelsten
Stufen minder auffallend sind, als auf den übrigen. Bringe ich aber zwischen
je zwei Beobachtungen den Nicol seiner Nullstellung immer näher, so wird
auf der einen Seite der Unterschied zuerst auf der dunkelsten und dann auch
auf der nächstfolgenden Stufe (Y20 der Lichtstärke des Weiß), zuweüen
auch noch auf der zweitfolgenden (1/9 der Lichtstärke des Weiß) unbemerk-
bar, während er auf den übrigen noch merklich ist. Für die letzteren
wage ich auf Grund meiner mehr beiläufig angestellten Beobachtungen
vorerst nicht zu sagen, ob der Unterschied auf allen gleichzeitig unter-
merklich wird oder vielleicht auf der letzten weißen Stufe etwas eher als
auf einer minder hellen. Auf einer siebenstufigen, photographisch her-
gestellten Skala, deren Endweiß nur 15 mal lichtstärker war, als ihr End-
schwarz, verschwand auf den 5 helleren Stufen der Unterschied gleichzeitig,
nur auf den zwei dunkelsten etwas früher.
Ein analoges Ergebnis liefert folgender Versuch. Eine beiläufig 6 cm
breite Skala tonfreier, 15 mm breiter Papierstreifen ist auf eine kleine,
die Skala oben und unten überragende Holzplatte geklebt, aus deren Längs-
mittelteil ein daumenbreiter Streifen (von der Länge der Skala) ausgeschnitten
ist. Über diese Längslücke laufen die Papierstreifen frei und ganz eben
hinweg und jeder hat in seiner Mitte ein haarscharf ausgeschlagenes Loch
von 2 mm oder 4 mm Durchmesser. Die Löcher sind fast absolut lichtlos,
wenn die Skala über der Öffnung eines tiefen Dunkelkastens (s. § 1 6, S. 65)
88
Lehre vom Lichtsinn.
liegt. Durch das über der Skala befindliche Polariphotometer betrachtet
erscheinen die beiden Bilder der Skala genau rechtwinklig zum Rande der
Skala gegeneinander verschoben und decken sich zum größeren Teile. Man
sieht also eine breite hellere Skala zwischen zwei schmäleren lichtschwäche-
ren, welche letzteren für das Folgende nicht weiter in Betracht kommen.
Auf jeder Stufe der ersteren erscheinen, als doppeltes Bild des bezüglichen
Loches, zwei kleine runde dunkle Flecke. Ist der Nicol auf 45° eingestellt,
so hat jedes der beiden Lochbilder die halbe Lichtstärke seiner Umgebung,
dreht man ihn aus dieser Lage zurück, so wird die Lichtstärke des einen
Lochbildes vermehrt, die des anderen vermindert.
^^S-^'*- Bei einer gewissen Annäherung an die Nullstellung
sieht man bereits, dass die Lochbilder der einen
Reihe auf den dunkelsten Stufen der Mittelskala
minder deutlich sind, als auf den übrigen, obwohl
das Verhältnis zwischen der Lichtstärke eines Loch-
bildes zur Lichtstärke seiner Umgebung auf allen
Stufen der Skala dasselbe ist. Bei weiterer Annähe-
rung an die Nullstellung verschwand stets zuerst
das bezügliche Lochbild auf der dunkelsten Stufe,
sodann auch das auf der nächsten Stufe (1/33 der
Lichtstärke des Weiß), während die übrigen noch
merklich blieben. Von letzteren gilt wieder das beim
vorigen Versuche Gesagte.
Ganz ähnliche Ergebnisse erhielt ich nach fol-
gender Methode. Eine von tiefem Schwarz (Kreisel-
wert 6) bis zum besten Weiß (Kreiselwert 360)
gehende, wieder sechsstufige Skala tonfreier Papiere
ist auf einer Glasplatte tadellos aufgeklebt. Vor
dieser vertikal stehenden und in vertikaler Richtung
verschiebbaren Skala steht in passendem Abstände
ein vertikaler mattschwarzer Stab aus Holz oder
Metall, dessen Länge und Dicke sich nach den Dimen-
sionen der Skala zu richten hat. Eine sehr schmale,
ebenfalls lotrechte Lichtquelle erzeugt auf der, von einer zweiten viel stärkeren
Lichtquelle gleichmäßig beleuchteten Skala einen durch alle Stufen derselben
verlaufenden schmalen Schatten (vgl. Fig. 1 4) i). Durch Verkürzung oder
Verlängerung der schmalen Lichtquelle kann die Deutlichkeit des Schattens
gemindert oder gemehrt werden. Hat man auf diese Weise den Schatten auf
irgend einer Stufe der Skala eben merklich gemacht, so kann man zugleich
i) Die Figur U ist zwar auf photographischem Wege hergestellt, kann aber,
wie kaum gesagt zu werden braucht, die Verhältnisse der Lichtstärken des Originals
nicht genau wiedergeben und soll nur zur Erläuterung der Methode dienen.
§ 20. Lichtstärkenverhältnis und Helhgkeits unterschied. 89
feststellen, ob und inwieweit er auf den anderen Stufen sichtbar ist. Das
Verhältnis der Lichtstärke der Schattenstelle zur Lichtstärke ihrer Umgebung
ist bei sorgfältiger Einrichtung des Versuchs auf allen Stufen der Skala das-
selbe, aber die absoluten Lichtstärken sind auf jeder Stufe andere. Um sicher
zu sein, dass der Teil der Skala, auf welchem man den Schatten eben sieht
oder sucht, stets in genau derselben Weise beleuchtet wird, kann man die
einzelnen Stufen durch vertikale Verschiebung der Skala immer an genau
denselben Ort bringen. Ist die schmale Lichtquelle in allen ihren Teilen
gleich lichtstark und der Skala zureichend fern, so ist diese Vorsichts-
maßregel überflüssig. Als die kleinere Lichtquelle diente mir entweder ein
mit Mattglas gedeckter schmaler Spalt in einem Fensterladen, der sich
durch einen Schieber beliebig verkürzen ließ, oder ein im elektrischen Strome
glühender vertikaler Platindraht, von welchem eine beliebig lange Strecke
durch ein vertikal verschiebbares Schirmchen abgeblendet werden konnte.
Als die starke Lichtquelle diente das durch ein bzw. zwei Fenster in das
weißgetünchte Zimmer fallende Himmelslicht.
Auch hier war der Schatten, wenn er infolge zunehmender Verkleinerung
der kleinen Lichtquelle bereits überall nur wenig von seiner Umgebung ab-
stach, auf den schwarzen und schwarzgrauen Stufen der Skala entschieden
minder deutlich als auf den übrigen, und verschwand auf jenen bereits,
wenn er auf den übrigen noch schwach merklich war.
Um einige denkbare Fehlerquellen auszuschließen, habe ich die Skala auch
horizontal gestellt, so dass der Schatten stets nur auf eine Stufe der Skala
fiel und durch Horizontalverschiebung der letzteren auf jede beliebige Stufe ge-
bracht werden konnte, ohne seinen Ort zu ändern. Der gleichzeitig vom Fenster
erzeugte sehr diffuse Schatten lag dabei auf einer anderen Stufe und kam nicht
weiter in Betracht. Das Versuchsergebnis war hierbei dasselbe wie bei verti-
kaler Skala.
Schon längst hat man zu dem gleichen Zwecke ebenmerkliche Schatten ver-
wendet (vgl. insbesondere die Litteratur bei Fechner <2, I. Teil, S. Ml — 'ISI),
aber in einer ganz anderen Weise. Es wurden dabei zwei Kerzenflammen be-
nutzt ; die eine, um dui'ch Änderung ihres Abstandes von einer weißen Fläche deren
Lichtstärke zu variieren, die andere entferntere, um den Schatten zu erzeugen.
Diese Versuche konnten nicht in einem beliebig stark beleuchteten Zimmer an-
gestellt werden, sondern nur in einem Dunkelzimmer, und man änderte dabei
durch die Verschiebung der näheren Flamme immer wieder die Lichtstärke der
weißen Fläche und damit auch die Gesamtbeleuchtung der Netzhaut und den
Anpassungszustand des Auges. —
Die obigen Beobachtungen zerfallen in mehrere Gruppen. In der ersten
handelte es sich um die Wahrnehmung sehr schmaler lichtschwacher Felder
(Striche, Buchstaben) auf einem viel lichtstärkeren Grunde, in der letzten
um die Unterscheidung größerer Flecke oder Streifen auf einem Grunde
von verhältnismäßig wenig verschiedener Lichtstärke. In der ersten
Gruppe ergab sich bei gleichbleibendem Verhältnis der Lichtstärken ein so
90 Lehre vom Lichtsinn.
bedeutender Einfluss der Grüße der letzteren auf die Deutlichkeit der Hellig-
keitsunterschiede, dass zuweilen schon die bloße Verdoppelung bezw.
Halbierung aller Lichtstärken genügte, um vorher unmerkliche Einzelheiten
merklich, bezw. merklich gewesene unmerklich zu machen, und zwar bei
einer Größe dieser Lichtstärken, wie sie beim gewöhnlichen Sehen einer
gut beleuchteten Schrift oder Zeichnung in Betracht kommen. In der letzten
Gruppe zeigte sich die Ebenmerklichkeit eines Unterschiedes zweier Licht-
stärken bei gleichbleibendem Verhältnis derselben innerhalb eines weiteren
Gebietes der Lichtstärken von deren absoluter Größe unabhängig. Dies
könnte freilich zum Teil der unvollkommenen Homogenität der benutzten
Papierflächen zu danken sein. Ein äußerst schwacher Schatten, der auf
einer am Kreisel rotierenden Papierfläche noch sichtbar ist, kann unkennt-
lich werden, sobald die Scheibe stillsteht und das Korn des Papieres merk-
lich wird. Ich habe deshalb die Skalen auch auf rotierenden Kreiselscheiben
hergestellt, doch waren die Ergebnisse im wesentlichen dieselben.
Dass die Beobachtungen an sehr feinen Feldern (Perlschriften, Schraffie-
rungen) zu einem ganz andern Ergebnis führen, als die Beobachtungen
an größeren Feldern, wird sich später erklären. Zunächst galt es nur,
in möglichst einfacher Weise die fragliche Hypothese an verschiedenen
Stichproben aus der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Thatsachen zu
prüfen.
Das übereinstimmende Ergebnis aller in diesem Paragraph angeführten
Thatsachen ist, dass der Satz, nach welchem gleichen Verhältnissen der
Lichtstärken gleichgroße Unterschiede der korrelativen Helligkeiten ent-
sprechen sollten, sich bald gar nicht, bald nur innerhalb verhältnismäßig
enger Grenzen der jeweils gegebenen Lichtstärken bestätigen ließ, wenn
man die Änderungen des Sehorganes, wie sie durch allgemeine Simultan-
und Successivanpassung herbeigeführt werden, soviel als möglich ausschloss.
Doch ist nachdrücklich zu betonen, dass dieser Satz immerhin der Wahrheit
sehr viel näher kommt, als die im vorigen Paragraph besprochene Annahme,
nach welcher gleichen Unterschieden der Lichtstärken gleiche Helligkeits-
unterschiede entsprechen würden.
Absichtlich habe ich überall das Hauptgewicht nicht auf die bloße
Ebenmerklichkeit der Helligkeitsunterschiede, sondern auf ihre mehr oder
weniger große Deutlichkeit überhaupt gelegt, denn auf letztere kommt es
beim gewöhnlichen Sehen im wesentlichen an ; die Ebenmerklichkeit ist nur
der besondere Fall des Minimums der Deutlichkeit.
Auch habe ich vorerst noch keine Rücksicht darauf genommen, dass
unter sonst gleichbleibenden Umständen die Deutlichkeit bezw. Ebenmerk-
lichkeit auch von der benützten Netzhautstelle, sowie davon abhängig ist,
ob und wie sich das Bild auf der Netzhaut bewegt, entweder infolge von
Augenbewegung oder einer Bewegung des bezüglichen Außenobjektes.
§ 21. Zur Theorie der Beziehung zwischen Lichtstärke und Helligkeit. 91
Der Thatsache, dass die DeutHchkeit des Sehens sowohl dann abnehmen
kann, wenn die Lichtstärken über ein gewisses Maß hinaus-, als wenn sie unter
ein gewisses Maß hinabgehen, hat sich selbstverständlich auch Fechner nicht
verschlossen. Aber gerade deshalb müsse es, so meinte er (8, I. Teil, S. 146),
schon aus mathematischen Gründen ein gewisses Intervall geben, wo die Deut-
lichkeit unverändert bleibt. »Nur dass sich die große Ausdehnung eines solchen
Intervalles nicht nach bloß mathematischem Gesichtspunkte voraussehen ließ.«
Diese »große Ausdehnung« aber schrumpft sehr zusammen, wenn man die von
Fechner nicht beachteten Fehlerquellen zu vermeiden lernt.
Für Fechner war der Satz, nach welchem gleichen Verhältnissen je zweier
Lichtstärken gleichgroße Helligkeitsunterschiede entsprechen sollten, ein notwen-
diger Folgesatz seines psjchophysischen Grundgesetzes, welches ganz allgemein
für alle Beziehungen zwischen Physischem und Psychischem gelten sollte, und
also auch für die Beziehungen zwischen den Größen der im inneren Auge durch
das Licht bewirkten »Erregungen«, die den Reizen direkt proportional sein sollten,
und den »Empfmdungsstärken«, als welche er die Helligkeiten auffasste. Jenes
Grundgesetz selbst aber war nach seiner Ansicht ebensowenig erklärbar, wie
damals nach allgemeiner Ansicht das Gravitationsgesetz Newton 's, mit welchem
es Fechner in Parallele stellte. Nur so konnte es kommen, dass man es
weiterhin als etwas SelbstverständUches hinnahm, so oft man fand, dass Licht-
stärkenpaaren von gleichem Verhältnis beiläufig gleiche Helligkeitsunterschiede
entsprachen, und nur insoweit nach einer Erklärung suchte, als solches nicht
der Fall war.
§ 21. Grundlegendes zum Verständnis der Beziehung zwi-
schen der Helligkeit der tonfreien Farbe und der Lichtstärke
des Netzhautbildes. Angeregt durch E. H. Weber's Untersuchungen
ȟber die kleinsten Verschiedenheiten der Gewichte, die wir mit den Tast-
sinn, der Länge der Linien, die wir mit dem Gesicht, und der Töne, die
wir mit dem Gehöre unterscheiden können« (18, S. 546), stellte Fechner
(12, L T. S. 546) den Satz auf, »dass die Größe des Reizzuwuchses gerade
im Verhältnisse der Größe des schon zugewachsenen Reizes ferner wachsen
muss, um noch dasselbe für das Wachstum der Empfindung zu leisten«,
oder »dass gleiche relative Reizzuwüchse gleichen Empfindungszuwüchsen
entsprechen«, und nannte diesen Satz, obwohl ihn Weber nie ausgesprochen
hat, das WEBER'sche Gesetz i). Angewendet auf die Lichtempfindungen
1) E.H.Weber glaubte aus seinen Untersuchungen schließen zu dürfen, dass
für die Unterscheidbarkeit zweier abwechselnd gehobener oder auf die Hand ge-
setzter Gewichte, sowie zweier nacheinander betrachteter Linien nicht der Unter-
schied, sondern das Verhältnis derselben maßgebend sei. Dass gleichen Ver-
hältnissen zweier Gewichte oder Linien unabhängig von deren Größe gleichgroße
Unterschiede der korrelativen Empfindungen entsprechen sollen, hat er nie be-
hauptet. Es wäre dies auch, wie sich betreffs der Linien unmittelbar versteht,
eine paradoxe Behauptung gewesen, da wir offenbar nicht einmal ein ungleich-
seitiges Dreieck im richtigen Verhältnis seiner drei Seiten sehen könnten, wenn
die Längen seiner Seiten für die optische Wahrnehmung dasselbe Verhältnis hätten,
wie die Logarithmen ihrer wirklichen Längen. Für die Gewichte liegt die Para-
doxie nicht so offen zu Tage, ist aber im Grunde dieselbe (5).
92 Lehre vom Lichtsinn.
besagte dies im Sinne J'echner's, dass gleichen Verhältnissen der Reiz-
stärken gleichgroße Unterschiede der »Intensitäten« der korrelativen Licht-
empfindungen entsprächen, oder anders ausgedrückt, dass die »Intensi-
tät der Lichtempfmdung« proportional dem Logarithmus der Reizstärke
wüchse.
Wenn jedoch, wie in § 9 — 1 1 dargelegt wurde, die tonfreien Farben
nicht als bloße Intensitätsstufen einer und derselben Empfindungsqualität,
sondern als unter sich qualitativ verschieden zu gelten haben, so wird da-
durch für die Beziehungen zwischen den Lichtstärken des Netzhautbildes
und den korrelativen Helligkeiten im psychischen Sehfelde eine gänzlich
veränderte Grundlage geschaffen. Die Möglichkeit aber, diese Beziehungen
zwischen den Farben als Qualitäten und den Lichtstärken als Quantitäten
rechnerisch darzustellen, ist deshalb gegeben, weil sich, wie in § 10 ge-
zeigt wurde, die Qualität jeder tonfreien Farbe durch ein bestimmtes Ver-
hältnis zweier Variabein ausdrücken lässt, aus denen, als ihren Kompo-
nenten, die Farbe gleichsam zusammengesetzt ist. Auf diese Weise wird die
Qualität der tonfreien Farbe auf eine quantitative Beziehung zwischen zwei
Variabein zurückgeführt und die rechnerische Behandlung des hier vorlie-
genden Problems ermöglicht.
Dachten wir uns alle tonfreien Farben auf einer endlichen Geraden
als der ideellen Farbenlinie nach ihrer Helligkeit bezw. Dunkelheit so ge-
ordnet, dass an den einen Endpunkt das absolute Schwarz, an den anderen
das absolute Weiß zu liegen kam, und gleichen Abständen oder Lageunter-
schieden zweier Farben gleich große Verschiedenheiten derselben ent-
sprachen, so war durch das Verhältnis der beiden Komponenten W und S
einer Farbe zugleich deren Ort auf der Farbenlinie bestimmt (vgl. Fig. 2,
S. 34). Als dieser Ort galt uns der Punkt, dessen Abstand vom schwarzen
Ende der Farbenlinie sich zum Abstände vom weißen Ende ebenso verhielt
wie W:S.
Bis dahin erschien die Farbe nur durch dieses Verhältnis charakterisiert.
Wenn wir jedoch in einseitiger Weise nur die Weißlichkeit oder Helligkeit
der tonfreien Farbe in Betracht zogen, so konnten wir den Abstand ihres
Ortes vom schwarzen Endpunkte der Farbenlinie als ein Maß der Hellig-
keit der Farbe benutzen, sofern wir diesen Abstand auf die gewählte Länge
der ganzen Farbenlinie bezogen, d. h. als den entsprechenden Bruchteil
dieser Linie nahmen. Betrüge also z. B., wie in Fig. 2 (S. 34), der Abstand
des Ortes h vom schwarzen Endpunkt der Farbenlinie Vs der ganzen Länge
derselben und würden wir diese Länge ganz beliebig = 1 setzen, so wäre
die Helligkeit der dem Punkt h entsprechenden Farbe ebenfalls = 2/3.
Setzen wir die Länge der Farbenlinie =100, so ließe sich die Helligkeit
jeder Farbe in Prozenten angeben. Allgemein gesagt: Ist W der Abstand
des Farbenortes vom schwarzen, S sein Abstand vom weißen Endpunkt
§ 21. Zur Theorie der Beziehung zwischen Lichtstärke und Helligkeit, 93
der Farbenlinie, und also die ganze Länge der letzteren = W-\-Sj so ist
W
die Weißlichkeit oder Helligkeit der bezüglichen Farbe = -= — - i).
rV -j— o
Die Helligkeit (bezw. Dunkelheit) einer tonfreien Farbe lässt sich also
auf Grund des Verhältnisses ihrer Komponenten ohne Rücksicht auf
die absolute Grüße der letzteren eindeutig bezeichnen. Bei gleichem
Verhältnis der Komponenten kann aber die Grüße derselben sehr ver-
schieden gedacht werden, und es erhebt sich die Frage, ob einer Farbe
bei unverändertem Verhältnis ihrer Komponenten und also unveränderter
Qualität, bald diese bald jene Grüße der Komponenten eigen sein kann.
Diese Frage wird später aus einem andern Gesichtspunkte nochmals zu er-
heben sein, wenn wir von den somatischen Korrelaten der Farben d. h.
von den physiologischen Vorgängen zu handeln haben werden, an welche
die Farben als psychische Phänomene geknüpft sind (vgl. § 24). Hier
müge es genügen, darauf hinzuweisen, dass sowohl psychologische als psy-
chophysiologische Überlegungen dazu nütigen, einer und derselben Farbe
eine verschieden große psychische Bedeutung zuzuerkennen, je nachdem bei
gleichem Verhältnis ihrer Komponenten der Wert der letzteren grüßer oder
kleiner ist. Ein und dieselbe Farbe kann, wie ich einst gesagt habe (4,
§ 29), ein sehr verschiedenes psychisches Gewicht haben. Je nachdem
^ ) Wie ich erfahren habe, ist diese Art der Bezeichnung der Helligkeit einigen
Lesern des § 4 0 nicht recht verständlich geworden. Es sei mir deshalb gestattet,
das eigentlich sehr einfache Prinzip dieser Bezeichnungsweise an einem, dem
praktischen Leben entnommenen Beispiele zu erläutern.
Messing ist ein Gemisch aus Kupfer [K) und Zink {Z) und hat je nach dem
Verhältnis, in dem dieselben gemischt sind, eine verschiedene Qualität (»Rot-
messinge, »Gelbmessing«, *Weißmessing«]. Zur Bezeichnung dieser Qualität kann
man entweder das Mischungsverhältnis [K:Z) benutzen oder aber angeben, wel-
cher Bruchteil des Messings aus Kupfer, bezw. welcher Bruchteil aus Zink besteht,
und auf diese Weise sozusagen den Grad der Kupfrigkeit bezw. der Zinkigkeit des
Messings ausdrücken. Verhielte sich z. B. in dem Gemisch K.Z=^Z:l, oder
TT' q q
anders gesagt, wäre ^ = -— , so wäre die Kupfrigkeit des Gemisches = 0,3
Zi 1 3 -j- 7
7
und seine Zinkigkeit = 0,7. Ob ich den einen oder anderen Ausdruck zur
° 3 + 7 '
Bezeichnung der Qualität wähle, ist gleichgültig und lediglich Sache der Ver-
einbarung.
So lässt sich denn auch die Qualität einer tonfreien Farbe, in der sich
die weiße zur schwarzen Komponente wie 3 : 7 verhält, durch dieses Verhältnis
1-^ = — oder 7^ = — ) ausdrücken. Man kann aber auch den Grad der Weiß-
I W 3 \
lichkeit U— ö = ^ ^1 ' ^- i- ^^® HelHgkeit, zur Bezeichnung der Farbe be-
nutzen, darf jedoch dabei nicht vergessen, dass sich dieselbe Farbe ebenso gut
durch den Grad ihrer Schwärzhchkeit ( ,. . .^^ = — ■ — | , d. i. ihre Dunkelheit,
\Ä+ TF 3 -}-7/ ' '
bezeichnen ließe.
94 Lehre vom Lichtsinn.
ihr Gewicht groß oder klein ist, sind auch ihre Komponenten entsprechend
groß oder klein; denn das Gewicht einer Farbe ist die Summe der Ge-
wichte der Komponenten. Während vom Verhältnis der Komponen-
ten die Qualität der Farbe abhängt, wird die Energie, mit wel-
cher sie sich in unser Bewusstsein drängt, kurz gesagt die Auf-
oder Eindringlichkeit der Farbe durch das Gewicht derselben
bestimmt. Wollen wir also eine im psychischen Sehfelde gegebene ton-
freie Farbe erschöpfend bezeichnen, so dürfen wir uns nicht mit der An-
gabe des Verhältnisses ihrer beiden Komponenten begnügen. So wäre
W 3
durch die Gleichung -~ = — wohl die Qualität bezw. die daraus ableitbare
^ S 2
Helligkeitlr-— — ^= 0,61 der Farbe bestimmt, noch nicht aber ihr Gewicht,
Tr= 6
während durch die Doppelgleichung — die bezügliche Farbe in jeder
Beziehung charakterisiert ist. Denn wir ersehen aus dieser Doppelgleichung
nicht nur die Qualität und die Helligkeit I — 0,6i der Farbe, sondern
auch ihr Gewicht (6 + 4 = 10). Überall, wo es nicht bloß auf die Qualität
und die Helligkeit bezw. Dunkelheit einer Farbe ankommt, müssen wir uns
zu ihrer Bezeichnung einer solchen Doppelgleichung bedienen. —
Mögen unsere Augen offen oder geschlossen sein, möge unser Gesichts-
feld in tiefster Finsternis liegen oder beliebige Strahlungen auf unsere Netz-
haut schicken, immer haben alle Stellen unseres psychischen Sehfeldes, so-
bald wir überhaupt auf dasselbe achten, irgendwelche Farbe; denn aus
Farben besteht unser Sehfeld und ohne Farben giebt es kein solches.
Die Farben, welche bei gänzlich verfinsterten Augen unser Sehfeld
bilden, nannten wir die Eigenfarben desselben, und es wurde schon er-
wähnt, dass an verschiedenen Stellen des Sehfeldes die Eigenfarbe gleich-
zeitig eine verschiedene und an derselben Stelle eine mit der Zeit mehr
oder weniger schnell wechselnde sein kann. Gleichviel nun, welche Eigen-
farbe eine Sehfeldstelle eben hat, es tritt, sobald die Netzhaut vom Lichte
der Außenwelt getroffen wird, an die Stelle dieser sozusagen autonomen
Farbe im allgemeinen eine andere, allonome Farbe. Unter der Wir-
kung des Lichtes ändert sich also das Verhältnis W: S an der bezüg-
lichen Stelle des psychischen Sehfeldes, was rein theoretisch betrachtet ent-
weder durch einseitige Änderung des Wertes der weißen Komponente bei
gleichbleibender schwarzer, oder durch Änderung der letzteren bei gleich-
bleibender weißer, oder endlich durch gleichzeitige Änderung beider Kom-
ponentenwerte möglich wäre. Welcher von diesen Fällen der Wirklichkeit
entspricht, wird später zu erörtern sein. Hier sei zunächst die denkbar
einfachste Annahme sremacht, dass infolsre der Bestrahlung der Netzhaut
§21. Zur Theorie der Beziehung zwischen Lichtstärke und Helligkeit. 95
nur die weiße Komponente der Farbe ihren Wert ändert und zwar der-
art, dass der Zuwuchs, den sie dabei erhält, unter sonst gleichbleibenden
Umständen der wirkenden Lichtstärke direkt proportional ist, während die
schwarze Komponente dabei unverändert bleibt. Ob dies in Wirklichkeit
vorkommen kann, bleibt zunächst ganz unberücksichtigt; denn es gilt hier
nur zu zeigen, wie aus der im Obigen entwickelten Auffassung des Wesens
der tonfreien Farben sich das verständlich machen lässt, was einst Fechner
aus seinem psychophysichen Grundgesetze zu erklären versuchte.
Auf der Geraden LL (Fig. 1 5) als Abscissenachse möge die Größe der je-
weiligen weißen Komponente der Farbe durch eine nach oben, die der
schwarzen durch eine nach unten gerichtete Ordinate ausgedrückt werden.
Fig. ^ö.
Die beiden dem Punkte 0, als dem Nullpunkte des Koordinatensystemes,
entsprechenden Ordinaten w und s seien zunächst gleichgroß, womit zu-
gleich gesagt ist, dass als die unmittelbar vor der Bestrahlung bestehende
Eigenfarbe das mittle Grau von der Helligkeit 0,5 angenommen ist. Auf
der Abscissenachse sind die Lichtstärken eingetragen, und es ist als Einheit
der Lichtstärke diejenige genommen, durch welche die weiße Komponente
einen ihrem anfänglichen Werte w gleichen Zuwuchs erfährt und also auf
den Wert '^w gebracht wird. Die jetzt erscheinende allonome Farbe wäre
'iw
also durch 2i^:s, ihre HeUigkeit durch
und ihr Gewicht durch
s -\-'iw
tw -\- s ausgedrückt. Kurzum es würde durch ein Licht / die weiße Kom-
ponente auf den Wert w -{- Iw ^= w[l-\' \) gebracht werden, so dass die
nunmehr erscheinende Farbe durch w(l -{- 1 ) : ** , ihre Helligkeit durch
w(l-^ 1
w[l-\- \)-{-s
, und ihr Gewicht durch w[l-\- \) -\- s auszudrücken wäre.
96
Lehre vom Lichtsinn.
In Fig. 15 wäre uns also unter den angenommenen Bedingungen für
jede beliebige Lichtstärke durch das Verhältnis der oberen Koordinate zur
unteren die Qualität der Farbe und mittelbar ihre Helligkeit, durch die
Summe beider Ordinalen aber das Gewicht der Farbe gegeben. Der ent-
sprechende Ort der
Farbe auf einer
ideellen Farben-
linie wäre der-
jenige , dessen
Abstand vom
schwarzen End-
punkte sich zum
Abstand vom
weißen Endpunkte
ebenso verhält, wie
die obere Koordi-
nate des bezüg-
lichen Abscissen-
punktes zur un-
teren.
Somit macht
die Figur 15 zu-
gleich anschau-
lich, dass das Ge-
wicht der Farbe
linear mit der
Lichtstärke
wüchse, und zwar
wären seine Zu-
wüchse hier gleich
den durch die
Lichtstärke be-
dingten Zuwüch-
sen zur weißen
Komponente der
Farbe.
Statt wie im
Obigen von dem
mittlen Grau als Eigenfarbe auszugehen, könnten wir eine beliebige dunklere
Farbe als die unmittelbar vor der Bestrahlung vorhandene Eigenfarbe wählen,
und müssten dann den Ordinalen des Nullpunktes ein entsprechend anderes
Verhältnis geben.
§ 21. Zur Theorie der Beziehung zwischen Lichtstärke und Helligkeit. 97
In welcher Weise nun die Helligkeit der Farbe von der eben wirken-
den Lichtstärke abhängig wäre, möge die Fig. 16 veranschaulichen. In
derselben bedeutet die Gerade SW die ideelle Farbenlinie, auf welcher alle
tonfreien Farben derart angeordnet sind, dass gleichen Lageverschieden-
heiten zweier Farben gleiche Helligkeitsunterschiede derselben entsprechen.
Punkt S ist hiernach der Ort des absoluten Schwarz von der Helligkeit 0,
Punkt JV der Ort des absoluten Weiß von der maximalen Helligkeit 1.
Punkt S ist zugleich der Nullpunkt eines Koordinatensystems, auf dessen
Abscissenachse LL wir uns wieder die Lichtstärken abgetragen denken,
während die entsprechenden Farben- oder Helligkeitsorte in die Farben-
linie als Ordinatenachse einzutragen sind. Aus dem Abstände eines solchen
Farbenortes vom Fußpunkt S der Farbenlinie ergiebt sich die zum bezüg-
lichen Abscissenpunkte gehörige Ordinate. Als Lichteinheit ist wieder die-
jenige Lichtstärke genommen, welche unter den gegebenen Bedingungen
der vor der Bestrahlung bestehenden weißen Komponente W der Eigen-
farbe einen dieser Komponente gleichgroßen Zuwuchs erteilt i).
Die obere Kurve veranschaulicht die Beziehungen zwischen den Unter-
schieden der Lichtstärken und den Helligkeitsunterschieden der korrelativen
Farben für den Fall, w^o die vor jeder Bestrahlung vorhandene Eigenfarbe
immer wieder das Mittelgrau und also W=S ist, die untere Kurve für
W 1
den Fall, wo die Eigenfarbe eine dunklere und zwar -— = — , und also die
o z
1 I
Helligkeit derselben = -; = — ist. Jede Kurve ist em Teilstück des
^ 1-1-2 3
einen Zweiges einer gleichseitigen Hyperbel, deren eine Asymptote irTF
dem Ordinatenwert 1 d. h. dem der maximalen Helligkeit entspricht.
Man ersieht aus beiden Kurven, wie gleichen Unterschieden der Licht-
stärken um so kleinere Helligkeitsunterschiede der bezüglichen Farben ent-
sprechen, je größer die beiden Lichtstärken sind, wie die Helligkeit anfangs
schneller und dann immer langsamer mit der Lichtstärke wächst und sich
asymptotisch der Helligkeit 1 nähert.
Da bei Änderungen der Stärke der allgemeinen Beleuchtung zwar die
Unterschiede der Lichtstärken im Netzhautbilde sich ändern, die Verhält-
nisse derselben aber unter sonst gleichbleibenden Umständen unverändert
bleiben (vgl. § 20), so möge auch die Art, in welcher die Helligkeitsunter-
schiede der Farben von der Stärke der allgemeinen Beleuchtung des Ge-
sichtsfeldes unter den hier gemachten Voraussetzungen abhängig sein würden,
für die beiden soeben besprochenen Fälle durch die entsprechenden Kurven
anschaulich gemacht werden.
i; Welche Länge man der Farbenlinie {SW) relativ zur gewählten Einheit
der Abscissenwerte giebt, ist gleichgültig.
Hering, Lichtsinn. 7
98
Lehre vom Lichtsinn.
In Fig. 1 7 sind auf der Abscissenachse LL die Lichtstärken jetzt der-
art abgetragen, dass nicht gleichen Unterschieden, sondern gleichen
Verhältnissen derselben gleichgroße Strecken entsprechen, wobei
ganz willkürlich die Lichtstärke 1 als der Ausgangspunkt für die Abmes-
sungen nach rechts und links genommen ist. Als jeweilige Ordinate gilt
wieder der Abstand des Ortes der bezüglichen Farbe vom Endpunkte S
der Farbenlinie. Der Nullpunkt des Koordinationssystems ist jetzt nach links
in unendliche Ferne gerückt.
Fig. M.
fßi*
Eine auf diese Weise gewonnene Kurve hat, wie sich von vornherein
versteht, zwei parallele Asymptoten, erstens wieder die Gerade TTTF, deren
Abstand von der Abscissenachse der maximalen Helligkeit 1 entspricht,
und zweitens diejenige Gerade, deren Abstand von der Abscissenachse der
bei der Lichtstärke 0 bestehenden Eigen färbe entspricht. Für die obere
Kurve ist die Helligkeit der letzteren, wie schon gesagt, gleich V2> für
die untere gleich 1/3 angenommen.
Je steiler ein Kurvenstück verläuft, desto größer ist bei
gleichem Verhältnis zweier Lichtstärken der Helligkeitsunter-
schied der beiden zugehörigen Farben. Man sieht, wie der, einem
konstanten Lichtstärkenverhältnis entsprechende Helligkeitsunterschied bei
§ 2i. Zur Theorie der Beziehung zwischen Lichtstärke und Helligkeit. 99
den kleinsten Lichtstärken minimal ist, mit der Zunahme der absoluten
Lichtstärken anfangs langsam, dann immer schneller und in einem bestimm-
ten Bereiche der Lichtstärken am schnellsten wächst, um über diesen Be-
reich hinaus erst schnell und dann immer langsamer wieder abzunehmen.
Die Kurven zeigen ferner, wie in demjenigen Bereiche der Licht-
stärken, wo einem konstant bleibenden Verhältnisse derselben
die grüßten Helligkeitsunterschiede entsprechen, diese Unter-
schiede nahezu unabhängig sind von der absoluten Lichtstärke,
so dass hier mit größter Annäherung gleichen Verhältnissen der
Lichtstärken auch äquidifferente Farbenpaare und also gleiche
Helligkeitsunterschiede entsprechen.
Denken wir uns, die Netzhaut empfange das Bild zweier aneinander-
grenzender Flächen des Außenraumes, deren beide Lichtstärken bei den ver-
schiedensten Stärken ihrer gemeinsamen Beleuchtung dasselbe Verhältnis
behalten; denken wir ferner, wir würden diese Flächen bei den verschie-
denen Beleuchtungen immer wieder mit denselben Netzhautteilen betrachten,
und die Eigenfarbe der korrelativen Sehfeldstellen wäre vor jeder Einzel-
betrachtung der Fläche immer wieder dieselbe. Auf Grund der Kurven
wäre dann zu erwarten, dass ein Helligkeitsunterschied der beiden Flächen
bei minimalen Beleuchtungen derselben nicht merklich sein, bei entsprechend
stärkeren aber deutlich und immer deutlicher werden würde, dass er ferner
innerhalb eines bestimmten Bereiches der Beleuchtungsstärken sein Maxi-
mum erreichen und innerhalb dieses Bereiches konstant bleiben würde, bis
bei noch stärkeren Beleuchtungen die Größe und Deutlichkeit des Hellig-
keitsunterschiedes wieder abnehmen müsste.
In Wirklichkeit liegen freilich die Dinge nicht so einfach, wie hier aus
methodischen Rücksichten vorerst angenommen wurde. Wir werden sehen,
dass die Farbe einer Sehfeldstelle selbst unter sonst ganz gleichbleibenden
Umständen keineswegs nur von der Belichtungsstärke der bezüglichen Netz-
hautstelle, sondern auch von der gleichzeitigen Belichtung der übrigen Netz-
haut abhängig ist, und dass unter dem Einflüsse der Belichtung nicht nur
die weiße, sondern sofort auch die schwarze Komponente der Farbe ihren
Wert ändern kann. Aber das Gesetz, nach welchem die Helligkeitsunter-
schiede von den Unterschieden der Lichtstärken abhängen, bleibt dabei,
wie sich später zeigen wird, wenigstens in seinen Grundzügen dasselbe, und
immer ergiebt sich ein bald weiteres, bald engeres Gebiet der Lichtstärken,
innerhalb dessen gleichen Verhältnissen der Lichtstärken angenähert gleiche
Helligkeitsunterschiede der korrelativen Farben (äquidifferente Farbenpaare)
entsprechen, ein Gebiet also, für welches das WEBER'sche Gesetz praktisch
genommen gültig sein würde.
Hier sollte nur gezeigt werden, dass meine Auffassung des Wesens
der tonfreien Farben einen ganz anderen Weg zum Verständnis der von
7*
:^QQ Lehre vom Lichtsinn.
F^CHNER jenem Gesetze untergeordneten Thatsachen eröffnet, als es der
von ihm selbst eingeschlagene war.
Die im Vorhergehenden gemachte Annahme, dass die weiße Komponente
der tonfreien Farbe unter der Wirkung des Lichtes einen der Stärke desselben
direkt proportionalen Zuwuchs erfährt, steht in Analogie mit der, insbesondere
von Fechner vertretenen und noch herrschenden Annahme, nach welcher während
der Lichtwirkung zu einer stetigen, durch einen innern Reiz bewirkten »Er-
regung« des Sehorganes ein der Lichtstärke proportionaler Zuwuchs hinzugefügt
werden soll. Das psychische Korrelat dieser Erregung aber, nämlich die »Inten-
sität oder HelHgkeit der Lichtempfmdung«, sollte nach Fechner der Stärke jener
Erregung nicht proportional sein, sondern nur logarithmisch mit derselben wachsen.
Unter den hier von mir vorläufig gemachten Voraussetzungen aber
bestände bei sonst ganz gleichbleibenden Umständen eine durchgängige
direkte Proportionalität zwischen der physiologischen und der
psychischen Wirkung des Lichtes, welche letztere allerdings nur die weiße
Komponente der tonfreien Farbe betreffen würde, während dabei die schwarze,
wie vorläufig angenommen wurde, einen konstanten Wert behalten könnte.
Wer die Konsequenzen des FECHNER'schen Gesetzes kennt, wird schon be-
merkt haben, dass nach der hier entwickelten Auffassung die negativen Licht-
empfindungen Fechner's nicht existieren.
IV. Abschnitt.
Vom somatischen Korrelate der tonfreien Farben.
§22. Der Stoffwechsel der Sehsubstanz als das somatische
Korrelat der Farben. Ich gehe, wie schon in § 7 betont wurde, von
der Voraussetzung aus, dass jeder Farbe in gesetzmäßiger Weise ein ganz
bestimmter Vorgang in der nervösen Substanz des Sinnesorganes entspricht.
Denn ohne die Annahme einer solchen gesetzmäßigen Beziehung wäre es
müßig, die Sinnesphänomene zum Gegenstande physiologischer Erwägungen
zu machen.
Bezeichnen wir diejenigen Teile des inneren Auges, an deren Zustände
die Farben des psychischen Sehfeldes unmittelbar geknüpft sind, als die
Sehsubstanz, so dürfen wir sagen, es entspreche jeder Farbe eine ganz
bestimmte Regung des bezüglichen Teiles dieser Substanz derart, dass Farbe
und Regung unabänderlich an einander gebunden sind. Hiernach findet
das stoffliche Geschehen in der Sehsubstanz seinen psychischen Ausdruck
durch die jeweiligen Farben des Sehfeldes, und letztere finden ihren phy-
sischen Ausdruck durch gleichzeitig in der Sehsubstanz ablaufende Vorgänge ;
der Mannigfaltigkeit der einen entspricht bis ins Einzelne die Mannigfaltig-
keit der anderen.
Die Physiker haben die optischen Strahlungen mit den Namen derjenigen
Farben belegt, welche uns unter gewöhnlichen Umständen durch diese Strah-
lungen erweckt werden; mit größerem Rechte dürften wir, wie schon eingangs
§ 22. Vom somatischen Korrelate der tonfreien Farben. 101
bemerkt wurde, die, den verschiedenen Farben korrelativen Regungen der Seh-
substanz nach diesen Farben benennen. Denn während uns eine und dieselbe
Strahlung unter verschiedenen Nebenbedingungen sehr verschiedene Farben er-
wecken kann, entspricht jeder bestimmten optischen Regung der nervösen Sub-
stanz nur eine ganz bestimmte Farbe. Es erscheint in der That der Kürze
wegen nicht unzweckmäßig, von einer schwarzen, grauen, roten Regung der
Sehsubstanz zu sprechen. Die bezügliche Regung wird auf diese Weise ganz
eindeutig bezeichnet, und ein Missverständnis ist hier nicht zu fürchten.
Im Sinne der soeben entwickelten Auffassung haben wir für die Reihe
der schwarz-weißen oder tonfreien Farben eine entsprechende Reihe unter
einander verwandter Regungen der Sehsubstanz anzunehmen. Wie sich die
Mannigfaltigkeit jener Farben als eine solche mit nur zwei Variablen be-
trachten heß, durch deren gegenseitiges Verhältnis die einzelne Farbe be-
stimmt wird, so werden wir auch für die Mannigfaltigkeit der korrelativen
Prozesse in der Sehsubstanz zwei dem Schwarz und W^eiß entsprechende
Variable anzunehmen haben, von deren gegenseitigem Verhältnis, wie dort
die Beschaffenheit der F^arbe, so hier die Beschaffenheit der korrelativen
physischen Regung abhängt.
Das Wesen des Lebens liegt in physischer Hinsicht im Stoffwechsel der
lebendigen Substanz, bei welchem einerseits Stoffe entstehen, welche von
der lebendigen Substanz als etwas ihr fremd gewordenes ausgesondert werden,
andererseits aber und zwar gleichzeitig Stoffe aufgenommen, von der leben- .
digen Substanz angeeignet und zu Bestandteilen ihrer selbst gemacht werden.
Den letzteren Vorgang hat man unter Erweiterung eines alten aus der
Pflanzenphysiologie stammenden Begriffs als Assimilation benannt, und
nach diesem Vorbilde habe ich seinerzeit für den erstgenannten Vorgang
die seitdem gebräuchHch gewordene Bezeichnung Dissimilation gewählt
(i, § 27).
»Indem wir, so sagte ich, diese beiden Vorgänge begrifflich trennen,
dürfen wir uns doch nicht dazu verführen lassen, sie als zwei wirklich nur
nebeneinander laufende Prozesse aufzufassen, und uns die lebendige Sub-
stanz etwa wie eine innerlich ruhende Masse vorzustellen, welche nur von
der einen Seite her verbraucht und von der anderen Seite her wieder auf-
gebaut wird. Wir haben uns vielmehr Assimilation und Dissimilation als
zwei innig ineinander verflochtene Prozesse zu denken, welche den, seinem
eigentlichen Wesen nach unbekannten Stoffwechsel der lebendigen Substanz
ausmachen und in allen kleinsten Teilen der letzteren zugleich stattfinden,
daher diese Substanz nichts Stetiges oder Ruhendes, sondern ein immer
mehr oder minder innerlich Bewegtes, sich Regendes darstellt« (19, S. 35).
Nimmt man nun an, dass dieser Stoffwechsel der lebendigen Sehsub-
stanz das somatische Korrelat der Farben des Sehfeldes ist, so eröffnet sich
die Möglichkeit, eine Fülle bis dahin zusammenhangslos nebeneinander ver-
zeichneter Thatsachen unter einen einheitlichen, umfassenden Gesichtspunkt
102 Lehre vom Lichtsinn.
zu bringen, aus dem ihre gegenseitige Beziehung und ihr innerer Zusam-
menhang ersichtlich und bis zu einem gewissen Grade verständlich wird.
So viel leistet für heute diese Annahme, dass es in methodischer Hinsicht
fast gleichgültig erscheint_, inwieweit sie der Wahrheit nahe kommt. Denn
in ihrem Lichte tritt an die Stelle des Konglomerates vereinzelt festgestellter
Thatsachen ein organisch gegliedertes und in sich geregeltes Getriebe, in
dem die Bedeutung des einzelnen Gliedes aus seinem Zusammenhange mit
den übrigen klar wird. Deshalb ist auch der methodische Wert der An-
nahme nicht an ihre Richtigkeit gebunden, und wenn Manche meinen Ver-
such einer Theorie des Lichtsinns nur deshalb von vornherein ablehnten,
weil sie über das Wesen des Lebens, über die psychophysischen Prozesse
und über die Beziehungen zwichen Leib und Seele anders dachten als ich,
so ließen sie außer acht, dass der Wert einer Hypothese von dem abhängt,
was sie leistet, nicht aber von den Vorstellungen, die sich der Einzelne
vom wahren Wesen des von der Hypothese umfassten Geschehens macht.
Beschränken wir uns wieder zunächst auf die tonfreien Farben, so
finden wir in der Dissimilation und Assimilation der Sehsubstanz zwei
Variable ihres Stoffwechsels, die sich als die somatischen Korrelate der
beiden Variabein Weiß und Schwarz betrachten lassen. Mit demselben
Rechte oder Unrechte, mit dem wir irgend ein gegebenes Grau in eine
weiße und eine schwarze Komponente zerlegt denken konnten, lässt sich
der Stoffwechsel der Sehsubstanz als aus den genannten beiden Teilpro-
zessen bestehend denken. Hier wie dort handelt es sich um die begriff-
liche Spaltung eines zunächst einheitlich Gegebenen, welches je nach dem
Überwiegen der einen oder der anderen seiner beiden gedachten Kompo-
nenten nach zwei entgegengesetzten Richtungen zu variieren vermag. Wie
in den verschiedenen tonfreien Farben das Verhältnis der Deutlichkeit der
Weiße und Schwärze {W: S) ein verschiedenes ist, so im korrelativen Stoff-
wechsel das Verhältnis zwischen der Größe der Dissimilation und der gleich-
zeitigen Assimilation (Z) : ^). Sind beide gleich groß, so entspricht dieser
Stoffwechselweise das mittle Grau, in welchem die Schwärze und Weiße
gleich deutlich oder gleich undeutlich sind. Ist die Dissimilation größer
als die Assimilation, so ist in demselben Verhältnis in der korrelativen
Farbe die Weiße deutlicher als die Schwärze, und gilt für den Stoffwechsel
der Sehsubstanz das Umgekehrte, so gilt es auch für die korrelative
Farbe.
Der Gesamtheit aller jener denkbaren Verhältnisse zwischen Ä und D,
in denen Ä größer ist als D, entspricht die vom reinsten Schwarz bis zu
dem oben erwähnten Mittelgrau reichende Hälfte der tonfreien Farbenreihe,
und der Gesamtheit aller Verhältnisse, in denen D größer als A, die von
jenem Mittelgrau bis zum reinsten Weiß sich erstreckende andere Hälfte
der Farbenreihe.
§ 23. Selbststeuerung des Stoffwechsels der Sehsubstanz. 103
Auf der ideellen Farbenlinie, auf der wir uns sämtliche tonfreie Farben
systematisch geordnet dachten (vgl. § 1 0 u. 11), entsprach jeder einzelnen
Farbe ein bestimmter Ort, und das Verhältnis der beiden Abstände dieses
Ortes vom schwarzen und weißen Endpunkt der Linie war uns ein Aus-
druck für das Verhältnis der Deutlichkeit der beiden Komponenten der Farbe.
Die Helligkeit oder den Weißlichkeitsgrad der Farbe aber konnten wir aus-
drücken durch das Verhältnis ihres Abstandes vom schwarzen Endpunkte
der Farbenlinie zu der willkürlich gewählten Länge derselben, d. h. durch
W
— — • Dieses Verhältnis aber ist nach dem oben Gesagten zugleich das
Verhältnis, welches im korrelativen Stoffwechsel zwischen der Größe der
Dissimilation und der Gesamtgröße des Stoffwechsels als der Summe der
gleichzeitigen Dissimilation und Assimilation besteht, d. h. es ist
W D
In dieser einfachen Weise lassen sich nach meiner Auffassung die Be-
ziehungen zwischen der Qualität bezw. Helligkeit einer tonfreien Farbe und
dem korrelativen Stoffwechsel der Sehsubstanz zum Ausdruck bringen.
§ 23. Die Selbststeuerung des Stoffwechsels der Sehsub-
stanz. Wenn eine lebendige Substanz nur unter dem Einfluss ihrer zu-
nächst als konstant angenommenen Lebensbedingungen steht, denen sie voll-
ständig angepasst ist, und wenn alle nur gelegentlichen und vorübergehen-
den Reize ausgeschlossen sind, so bezeichne ich ihren Stoffwechsel bezw.
ihre Dissimilation und Assimilation als autonome. Denn obgleich sich
auch jene Lebensbedingungen als den Stoffwechsel mitbedingende konstante
Reize auffassen lassen, empfiehlt sich doch die übliche Unterscheidung der-
selben von den nur gelegentlich oder wenigstens inkonstant wirkenden
Reizen im engeren Sinne, denen freilich streng genommen auch jede
Änderung einer bis dahin konstant gewesenen Lebensbedingung beizu-
zählen ist. Sobald aber der Stoffwechsel der lebendigen Substanz mit unter
der Einwirkung eines gelegentlichen Reizes steht, nenne ich ihn allonom.
Im Sinne dieser Auffassung ist der Stoffwechsel der Sehsubstanz ein
allonomer, so oft Licht ins Auge fällt, und ein autonomer, so oft die Augen
der Einwirkung des Lichts vollkommen entzogen sind, und auch sogenannte
inadäquate (mechanische, chemische, elektrische) Reize nicht in Betracht
kommen.
Die psychischen Korrelate dieses autonomen Stoffwechsels sind alle
Farben, jedes Hell und jedes Dunkel, die wir bei Ausschluss des Lichts
und anderer gelegentlicher Reize sehen, insbesondere das sogenannte Eigen-
licht des Auges, und die bei Verfinsterung desselben sichtbaren Nach-
104 Lehre vom Lichtsinn.
bilder. Alle diese Farben lassen sich als autonome bezeichnen, zum Unter-
schied von den allonomen Farben, welche unter der Mitwirkung des Lichts
entstehen.
Der Begriff der autonomen bezw. allonomen Farbe deckt sich keineswegs
mit dem der »subjektiven« bezw. »objektiven« Farbe, denn als subjektive Farben
gelten der naiven Auffassung außer den autonomen auch alle diejenigen, welche
nicht den sogenannten wirklichen Farben der Außendinge oder der bezüglichen
Lichtstrahlen entsprechen, sondern die vermeintUche Folge einer »optischen
Täuschung« über diese »objektive« Farbe sind, wie z. B. bei offenem Auge gesehene
Kontrastfarben.
Für die Mannigfaltigkeit der allonomen Farben konnte man ohne wei-
teres die ins Auge fallenden Strahlungen verantwortlich machen, für die
Mannigfaltigkeit der autonomen bietet sich keine so bequeme Erklärung.
Auch die Art der Abhängigkeit der ersteren vom Lichte lässt sich nur ver-
stehen, Avenn man sie nicht als ein bloßes Produkt der einfallenden Strah-
lung, sondern als das psychische Abbild der durch das Licht mitbestimmten
Lebensregungen der Sehsubstanz betrachtet, von deren jeweiliger Stimmung
die erscheinende Farbe nicht weniger abhängig ist, als vom eben einwir-
kenden Lichte.
Diejenige Beschaffenheit der Sehsubstanz, welche sie nach hinreichend
langem Schutze des Auges vor jedem Licht angenommen hat, und wobei
ihre autonome Dissimilation und Assimilation durchschnittlich gleich groß
sind, wenn sie auch infolge kleiner Inkonstanz der Lebensbedingungen
zwischen engen Grenzen um den Punkt genauen Gleichgewichts hin- und
herschwanken, bezeichne ich als die mittelwertige Beschaffenheit.
Denken wir uns nun, es werde jetzt infolge einer Belichtung ,der Netzhaut
das Verhältnis zwischen Dissimilation und Assimilation zu Gunsten der
ersteren geändert, so wird dabei die Sehsubstanz eine Änderung erfahren,
insofern dabei ihr chemischer Aufbau, oder wie sonst man es nennen
will, geändert wird. Diese absteigende Änderung, wie ich sie genannt
habe, wird um so schneller erfolgen, je größer der Oberschuss der Dissi-
milation über die Assimilation (D — A) ist, und wird um so größer werden,
je länger ein solcher Überschuss besteht. Dabei durchläuft die Substanz
eine Reihe von Beschaffenheiten, w^ eiche ich als unterwertige bezeichnet
habe. Wird dann der durch die Belichtung der Netzhaut für die Sehsub-
stanz gegebene Reiz zur Steigerung der Dissimilation (D-Reiz) durch Ver-
finsterung der Augen wieder beseitigt, so bleibt die Substanz zunächst als
eine unterwertige zurück, und ihre Unterwertigkeit ist um so größer,
je größer zuvor der D-Oberschuss war und je länger ein solcher bestand.
Jede lebendige Substanz besitzt das Vermögen, aus einem solchen durch
D-Reize herbeigeführten Zustand der Unterwertigkeit nach Aufhören des
Reizes in den der Mittelwertigkeit zurückzukehren, wenn nur ihre Lebens-
§ 23. Selbststeuerung des Stoffwechsels der Sehsubstanz, 105
bedingungen fortbestehen. Diese Rückkehr (restitutio in integrum) ermög-
licht sie durch eine gesteigerte Assimilation, und wir dürfen annehmen,
dass diese Steigerung der autonomen Assimilation um so bedeutender ist,
je unterwertiger die Substanz unter dem Einfluss des D-Reizes geworden
war. An die Stelle des während der Reizung bestandenen D-Überschusses
tritt jetzt ein A-Überschuss (A — D), der eine aufsteigende Änderung
der Substanz mit sich bringt, wobei letztere die erwähnte Reihe
der unterwertigen Beschaffenheiten in umgekehrter Richtung
wieder durchläuft, um so in den Zustand der Mittel Wertigkeit zurück-
zukehren. Je mehr sie sich dieser Beschaffenheit wieder nähert, desto
kleiner wird der jeweilige A-Oberschuss, desto kleiner die Geschwindigkeit
der aufsteigenden Änderung, bis schließlich Assimilation und Dissimilation
wieder gleich sind und die Substanz wieder mittelwertig ist.
Je mehr sich die Sehsubstanz unter dem Einflüsse eines D-Reizes ab-
steigend verändert und also unter wertig wird, desto kleiner wird ihre
Eignung oder Disposition d zur Dissimilation, desto größer ihre Dispo-
sition a zur Assimilation, und wenn alle ihre Lebensbedingungen derart
geblieben sind, dass sie der geänderten Disposition (Stimmung) durch ein
entsprechend geändertes Ausmaß der autonomen Dissimilation bezw. Assi-
milation voll genügen kann, so findet durch die jeweilige Größe der letzteren
diese Disposition ungestörten Ausdruck. Dasselbe Zeichen ö lässt sich dann
ebensowohl für die Größe der jeweiligen D-Disposition als für die entspre-
chende Größe der autonomen Dissimilation gebrauchen, und das Analoge
gilt für das Zeichen a. Jede Stufe der Unter Wertigkeit ist also durch ein
bestimmtes Verhältnis zwischen ö und a d. h. der autonomen D- und A-
Disposition charakterisiert. Im Zustande der Mittel Wertigkeit ist ö = a^ und
wenn wir für diesen Zustand beide gleich \ setzen, so lässt sich jede Stufe
der Unterwertigkeit durch einen echten Bruch — ausdrücken, weil jetzt (5 <[ 1 ,
und a ^ I sein muss.
Mit dem Satze, dass mit zunehmender Unterwertigkeit die Disposition
der Sehsubstanz zur iVssimilierung größer, zur Dissimilation aber kleiner
wird, ist noch nichts über das Gesetz ausgesagt, nach w^elchem die eine
zunimmt, wenn die andere abnimmt. Ich habe die nächstliegende und ein-
fachste Annahme gemacht, dass die Disposition zur Assimilation mit der
Unterwertigkeit um eben soviel wächst, als die Disposition zur Dissimilation
abnimmt, und dass also die Summe ihrer beiden Werte eine konstante ist.
Setzen wir diese Konstante gleich 2, so ist a == 2 — ö und d = 2 — a.
Wer das Bedürfnis fühlt, mit dem Begriffe der Assimilation und Dissimi-
lation schon heute bestimmtere physikalisch-chemische Vorstellungen zu
verbinden, wird diese Annahme wohl auch naheliegend finden. Übrigens
aber würde eine andere Annahme am Wesen meiner Theorie nichts ändern.
106 Lehre vom Lichtsinn.
Die mit der Wertigkeit wechselnde D- bezw. A-Disposition der Seh-
substanz lässt sich auch als deren D- bezw. A-Erregbarkeit bezeichnen, und
die hier als konstant angenommenen Lebensbedingungen, unter denen die
Substanz dissimiliert und assimiliert, lassen sich als ein konstanter, auf die-
selbe wirkender innerer Reiz auffassen. Setzt man diesen gleich 1 , so
ergiebt sich ebenfalls, dass D-Erregbarkeit und autonome Dissimilation
gleich zu setzen sind, und ebenso A-Erregbarkeit und autonome Assimilation.
Von der D-Erregbarkeit der Sehsubstanz ist das wechselnde Vermögen des
Empfangsapparates der Netzhaut zur Umsetzung von Lichtenergie in einen D-Reiz
zu unterscheiden, kurz gesagt, die Anspruchsfähigkeit oder Empfänglichkeit des
Sehorgans für das Licht (vgl. § 25).
Jedem Grade der Unterwertigkeit ist also im Vergleich mit dem Zu-
stande der Mittelwertigkeit eine in bestimmtem Maße geminderte D-Erreg-
barkeit und autonome Dissimilation [d) und eine in bestimmtem Maße ge-
steigerte A-Erregbarkeit und autonome Assimilation (a) eigen, und durch
das Verhältnis ö : a dieser beiden Erregbarkeiten ist der Grad der Unter-
wertigkeit ebenfalls gekennzeichnet. Sobald nun auf die Sehsubstanz ein
D-Reiz (r) wirkt, so gesellt sich zur autonomen Dissimilation ein allo-
nomer Zuwuchs, dessen Größe einerseits dem Reiz, andererseits der D-Er-
regbarkeit proportional und also = dr gesetzt werden möge. Somit würde
sich für jedes Zeitelement die ganze während der Wirkung eines D-Reizes
stattfindende Dissimilation aus der Gleichung D = ö -\- ör = d {'\ -^ r) er-
geben, wenn der Stoffwechsel jedes Elementes der Sehsubstanz ganz un-
abhängig wäre von dem seiner Umgebung, was freihch, wie wir sehen
werden, keineswegs der Fall ist.
Da, wie wir annahmen, die Sehsubstanz ihre Assimilation autonomer
Weise um so mehr verstärkt, je unterwertiger sie infolge der Wirkung eines
D-Reizes geworden ist, und da also der Grad der eben bestehenden Unter-
wertigkeit durch eine bestimmte Größe der autonomen Assimilation charak-
terisiert ist, so wird sich die Steigerung der Assimilation schon während
der Dauer eines Lichtreizes in dem Maße geltend machen, als sich dabei
die Unterwertigkeit entwickelt. Dies bedeutet eine entsprechende Verklei-
nerung des durch den Reiz bedingten D-Überschusses und also auch der
Geschwindigkeit der absteigenden Änderung. So wird also die durch
den Lichtreiz gesetzte Alteration selbst zu einem Hemmnis
ihres weiteren Fortschreitens, und dies um so mehr, als sich mit
der zunehmenden Unterwertigkeit gleichzeitig die D-Erregbarkeit und mit
ihr der durch den D-Reiz bedingte Zuwuchs der Dissimilation verkleinert.
Hierdurch wird der D-Überschuss noch mehr vermindert und die abstei-
gende Änderung noch mehr verlangsamt. Wir haben also hier ein Beispiel
für jenes Vermögen der lebendigen Substanz, welches ich seinerzeit als das
der inneren Selbststeuerung oder Selbstregulierung ihres Stoffwechsels
§ 23. Successive Anpassung der Sehsubstanz. 107
bezeichnet habe. Heute ist der Begriff der Selbststeuerung des Stoffwech-
sels jedem Biologen geläufig geworden.
Die successive Anpassung des Stoffwechsels der Sehsubstanz
an einen konstant wirkenden D-Reiz. Die soeben erörterte Einrich-
tung, vermöge deren die durch einen andauernden D-Reiz bedingte ab-
steigende Änderung der Sehsubstanz sich in dem Maße, als sie sich ent-
wickelt, selbst verlangsamt, muss schließlich zum völligen Aufhören einer
weiteren Änderung führen. Indem nämlich mit zunehmender Unterwertig-
keit der Substanz die Dissimilation immer kleiner, die Assimilation immer
größer wird, kommt es schließlich dahin, dass (5(1+ r) = a wird, womit
gesagt ist, dass jetzt Assimilation und Dissimilation gleichgroß sind und
gleichgroß bleiben, solange der D-Reiz unverändert fortwirkt.
Sobald dieser Zustand eines allonomen Gleichgewichts erreicht ist,
hat sich also der Stoffwechsel und die Sehsubstanz dem stetig fortwirkenden
D-Reize vollkommen adaptiert. Die autonome Assimilation ist jetzt
^ 1 und die Dissimilation ebenfalls. Hierdurch unterscheidet sich der Zu-
stand des allonomen, unter der Wirkung eines konstanten D- Reizes be-
stehenden Gleichgewichts, von dem des autonomen Gleichgewichts, bei
dem « = (5 == 1 ist.
Je stärker der stetig wirkende D-Reiz ist, um so unterwertiger wird
die Sehsubstanz werden müssen, ehe diese vollständige Anpassung an den
Reiz eintritt. Immer aber wird dabei wieder D = A und die er-
scheinende Farbe das Mittelgrau sein.
Würde nach erfolgter vollständiger Anpassung an den Reiz r an die
Stelle desselben ein schwächerer, aber weiterhin wieder ganz konstant
bleibender Reiz treten, so würde, wie leicht zu übersehen ist, sofort eine
aufsteigende Änderung der Sehsubstanz beginnen, die Unterwertigkeit der-
selben sich mindern, ihre A-Erregbarkeit abnehmen, ihre D-Erregbarkeit
zunehmen^ und dies alles so lange, bis abermals D == A geworden wäre.
Wieder wäre jetzt die Substanz und ihr Stoffwechsel an den Reiz voll-
ständig angepasst, aber entsprechend der geringeren Stärke des D-Reizes
wäre jetzt die vollständig angepasste Sehsubstanz nicht so stark unterwertig,
wie sie es bei der vollständigen Anpassung an den stärkeren Reiz war.
Der vollständigen Anpassung der Sehsubstanz an einen stetig wirken-
den D-Reiz entspricht also eine um so tiefere Stufe der Wertigkeit der
Substanz, je stärker jener Reiz ist; die dem Zustande vollständiger An-
passung korrelative Farbe aber ist immer wieder das genaue Mittelgrau.
Wollte man die unter dem Einfluss eines anhaltend wirkenden D-Reizes
erfolgende Abnahme der D-Erregbarkeit und der Helligkeit der Farbe als die
Folge einer sogenannten »Ermüdung« bezeichnen, so müsste man bedenken,
dass die durch diese »Ermüdung« bedingte Abnahme der Helligkeit nie weiter
gehen könnte, als bis zum erwähnten Mittelgrau, und nie dazu führen könnte,
108 Lehre vom Lichtsinn.
dass der fragliche Reiz als dunkleres Grau oder gar als Schwarz empfunden
würde.
Die vollständige Anpassung der Sehsubstanz an einen stetig wirkenden
D-Reiz zeigt uns, wie ausgiebig dieselbe sich vermöge der Selbstregulierung
ihres Stoffwechsels vor einer zu weit gehenden Alteration zu schützen ver-
mag, wenn nur die Bedingungen für eine zureichende Assimilierung fort-
bestehen. Es wird später dargelegt werden, inwieweit die bereits früher
kurz geschilderten und dort auf eine Successiv- oder Daueranpassung des
Sehorgans zurückgeführten Thatsachen sich aus der soeben theoretisch ent-
wickelten Anpassung der Sehsubstanz an dauernde D-Reize erklären lassen.
Doch kann dies erst dann versucht werden, wenn wir den Einfluss der
Wechselwirkung der somatischen Sehfeldstellen auf deren Stoffwechsel
kennen gelernt haben. Es schien mir methodisch zweckmäßig, dem Leser
zunächst ein theoretisches Bild von dem Verhalten einer Sehsubstanz zu
geben, deren Stoffwechsel an jeder Stelle unabhängig wäre von dem Stoff-
wechsel ihrer Umgebung.
§ 24. Die Größe des Stoffwechsels der Sehsubstanz als das
somatische Korrelat des Gewichtes der Farbe. Im Vorhergehenden
wurde im wesentlichen nur das jeweilige Verhältnis zwischen den beiden
Teilprozessen des Stoffwechsels der Sehsubstanz in Betracht gezogen, nicht
aber auch die Größe der Assimilation und Dissimilation, welche bei dem-
selben Verhältnis sehr verschieden gedacht werden kann. Soll aber der
Stoffwechsel (Jer Sehsubstanz das somatische Korrelat der Farbe als des
psychischen P^iänomens sein, so muss es auch für die Größe des Stoff-
wechsels ein psychisches Korrelat geben.
Dass bei demselben Verhältnisse zwischen Dissimilation und Assimilation
die Größe beider eine sehr verschiedene sein kann, ist nicht nur von vorn-
herein denkbar, sondern ergiebt sich auch, wie schon aus dem im vorigen
Paragraph Erörterten hervorgeht, als eine notwendige Folge des Grundge-
dankens unserer Hypothese. Die Erwägung nun, dass auch der Größe des
jeweiligen Stoffwechsels der Sehsubstanz eine psychische Bedeutung zu-
kommen müsse, eröffnete mir seinerzeit die Möglichkeit, ein Thatsachen-
gebiet, das mir bis dahin einer physiologischen Auffassung ganz unzugäng-
lich schien, einer solchen zu unterwerfen. Die Verschiedenheit der Größe
des Stoffwechsels bei sonst gleicher Beschaffenheit desselben lieferte mir näm-
lich den Schlüssel für ein Rätsel, welches für mich darin lag, dass eine
und dieselbe Farbe oder Helligkeit sich mit so verschiedener Energie in
unser Bewusstsein zu drängen vermag, je nachdem sie einen Teil des cen-
tralen oder des peripheren Sehfeldes bildet, je nachdem sie uns ferner
bei offenem oder gedecktem Auge erscheint u. a. m. Von dem leuchtenden
Weiß und den schönen bunten Farben der Nachbilder, welche man, sei es
§ 24. Größe des Stoffwechsels und Gewicht der Farbe. 109
von nur momentanen oder länger auf derselben Stelle verharrenden Netz-
hautbildern im nachher verflnsterten Auge erhalten kann, wissen die meisten
Menschen nichts, obwohl sie dieselben sehen, wenn man ihre Aufmerksamkeit
darauf gelenkt hat. Man hat zur Erklärung dieser Thatsache darauf hin-
gewiesen, dass wir, um mit Helmholtz zu sprechen (1, S. 432), »erst lernen
müssen, unseren einzelnen Empfindungen die Aufmerksamkeit zuzuwenden,
und dies für gewöhnlich nur für die Empfindungen lernen, die uns als
Mittel zur Erkenntnis der Außenwelt dienen. Nur zu diesem Zwecke haben
die Sinnesempfindungen eine Wichtigkeit für uns im gewöhnlichen Leben,
die subjektiven Empfindungen sind meist nur für die wissenschaftliche
Untersuchung interessant«. Diese Bemerkungen enthalten freilich viel Rich-
tiges, aber sie passen nicht auf die Farben des peripheren Sehfeldes, denn
diese sind keine »subjektiven«, sondern ebenso »objektive« wie die des
centralen. Auch wäre es gewiss für den Neugeborenen, der so unendlich
viel zu erlernen hat, sehr ersprießhch, wenn von vornherein dafür gesorgt
wäre, dass das zur weiteren Erforschung seiner Außenwelt besonders ge-
eignete centrale Netzhautbild sich ihm vorwiegend aufdrängte, und er nicht
erst lernen müsste, es aus der Fülle des gleichzeitig Erscheinenden heraus-
zufinden und seine Aufmerksamkeit auf ihm zu sammeln; wenn ferner die
allonomen Empfindungen des ofi'enen beleuchteten Auges entsprechend ihrer
Bedeutung für seinen Verkehr mit der Außenwelt ihm ganz von selbst leichter
und deutlicher ins Bewusstsein treten würden als die autonomen Licht- und
Farbenerscheinungen des verfinsterten Auges, obwohl dieselben an Helligkeit
und Mannigfaltigkeit so manchen Farben des ofi'enen Auges nicht nachstehen.
Dass die Nachbilder, das gewöhnliche Eigenlicht und andere bei ver-
finstertem Auge auftretende Phänomene so vielen Menschen unbekannt blei-
ben, hat man auch aus einer zu geringen »Intensität« d. h. hier Helligkeit
derselben zu erklären versucht. Aber die tonfreien Farben solcher Nach-
bilder gehören, ebenso wie die bei belichteten Augen gesehenen, beiden
Hälften der tonfreien Farbenlinie und keineswegs nur der dunkleren Hälfte
derselben an, und ihre Helligkeit ist zuweilen eine sehr bedeutende. Auch
dass die Farben des peripheren Sehfeldes durchschnittlich viel weniger ins
Bewusstsein oder richtiger gesagt ins bewusste Gedächtnis gelangen, als wie
die des centralen, kann nicht darauf beruhen, dass sie weniger »intensive«
d. h. hier weniger helle Gesichtsempfindungen wären als die letzteren, denn
bei Tage ist die durchschnittliche Helligkeit der Farben selbst in der Nähe
der Sehfeldgrenze nicht kleiner, und sie sind nicht schwärzlicher als in der
Sehfeldmitte. Ebenso können die Grenzen des Sehfeldes nicht dadurch
bedingt sein, dass die »Intensität« der Lichtempfindungen hier auf ihren,
angeblich dem tiefsten Schwarz entsprechenden Nullpunkt sinkt; denn an
der Grenze des Sehfelds und über sie hinaus wird nicht schwarz, sondern
überhaupt nicht gesehen.
1\Q Lehre vom Lichtsinn.
Die soeben besprochenen Thatsachen sowie viele andere später zu
erörternde erklären sich, wie ich meine, aus einem Satze, welchen ich
schon im Jahre 1874 (4, § 29) ausgesprochen und als ein »psychophy-
sisches Grundgesetz« bezeichnet habe. Auf den Gesichtssinn ange-
wendet besagt jener Satz, dass die Eindringlichkeit oder Auffällig-
keit, welche einer Sehqualität oder Farbe zukommt, unter
sonst gleichen — gleich günstigen oder gleich ungünstigen —
Bedingungen zukommt, von der Grüße des korrelativen Stoff-
wechsels in der Sehsubstanz abhängig ist.
Die Größe dieses Stoffwechsels bestimmt hiernach das, was ich da-
mals als das Gewicht der Farbe bezeichnet habe, und diesem Gewichte
entspricht unter sonst gleichbleibenden Umständen die Energie, mit der sich
die Farbe unserem Bewusstsein aufdrängt. Ich sage: unter sonst gleichblei-
benden Umständen, denn das Gewicht der Farbe kann nur eine der mannig-
fachen Bedingungen sein, von deren Gunst oder Ungunst die Stellung ab-
hängt, die eine Farbe des Sehfeldes jeweils in unserem Bewusstsein ein-
nimmt.
Alle Farben, welche wir normaler Weise bei geschlossenen und vor
Licht geschützten Augen oder auch offenen Auges im lichtlosen Räume
sehen, die grauen, weißen und bunten Farben der unter solchen Umständen
erscheinenden Nachbilder sind ihrer Qualität nach dieselben, wie die bei offenen
Augen unter der Wirkung des Lichtes entstandenen, aber ihr Gewicht und
das Maß des korrelativen Stoffwechsels der Sehsubstanz ist letzterenfalls
ein größeres, und auch bei belichtetem Auge kann dieselbe Farbe, je nach
den Bedingungen ihres Entstehens, ein verschiedenes Gewicht haben, worauf
noch öfters zurückzukommen sein wird.
Für die Einheit der Sehsubstanz bemisst sich die Größe des Stoff-
wechsels nach der Menge des in der Zeiteinheit von ihr aufgenommenen
und abgegebenen Stoffes. Je größer die einer Flächeneinheit des somati-
schen Sehfeldes entsprechende Menge der Sehsubstanz ist, desto größer ist
unter sonst gleichen Umständen der Stoffwechsel. Der größere Reichtum
des centralen, somatischen Sehfeldes an Sehsubstanz, im Vergleich mit dem
peripheren Sehfelde, bedingt also in ersterem einen durchschnittlich größeren
Stoffwechsel und entsprechend größeres Gewicht der Farbe. Dabei kann
im excentrischen Sehfelde der Stoffwechsel im Einzelfalle größer und die
Farbe gewichtiger sein als im centralen, weil, wie gesagt, die Stoffwechsel-
größe überdies abhängig ist von der Stärke der wirkenden D-Reize.
Aber noch ein dritter Faktor ist für die Größe des Stoffwechsels mit
bestimmend, nämlich die im Vorhergehenden zunächst als völlig konstant
angenommenen Stoffwechselbedingungen. Wenn z. B. die normaler Weise
stets zureichende Versorgung der Sehsubstanz mit dem zur Assimilierung
nötigen Ersatzmaterial eine Störung erfährt und deshalb andauernd gemindert
§ 24. Größe des Stoffwechsels und Gewicht der Farbe. Hl
ist, so wird auch die Assimilation nicht mehr in der normalen Weise
stattfinden, und die Wertigkeit der Sehsubstanz so lange abnehmen, bis
wieder das durchschnittliche Gleichgewicht zwischen geminderter Assimi-
lation und der infolge schwacher Assimilation ebenfalls geminderten
Dissimilation hergestellt ist. Ebenso wie eine mangelhafte Zufuhr von
A- Material, könnte irgend welche andere Beeinträchtigung der normalen
Assimilation zu einer Herabsetzung der Größe des Stoffwechsels und des
Gewichts der korrelativen Farbe führen. Dies wird sich an der Grenze des
somatischen Sehfeldes, wo wegen der geringen Menge von Sehsubstanz die
Stoffwechselgrüße und das Gewicht der Farbe ohnedies schon entsprechend
kleiner sind, am ehesten bemerklich machen, und zwar durch eine nach Maß-
gabe der Störung mehr oder weniger deutliche Einengung der Sehfeldgrenze.
Hiernach erscheint die normale Lage der nach den üblichen Methoden
bestimmten Sehfeldgrenzen als wesentlich mit abhängig von der Ungestört-
heit der übrigen Assimilationsbedingungen und insbesondere auch von der
normalen Zufuhr der Assimilationsstoffe.
Für die Qualität der Farbe, welche von einem bestimmten, durch
Licht verursachten D-Reiz an einer Stelle des Sehfelds herbeigeführt wird,
ist die dieser Stelle eigene Menge der Sehsubstanz gleichgültig. Denn der
D-Zuwuchs, welchen dieser Reiz r in der Sehsubstanz erzeugt, ist stets
proportional der autonomen Dissimilation (5, die Größe der Dissimilation
also gleich ^ -|- ^r und die entstehende Farbe dem Verhältnis d -\- ör \ a
entsprechend. Die Werte von d und of, d. h. hier die der autonomen
Dissimilation und Assimilation aber sind notwendig proportional der Menge
der Sehsubstanz, welche der bezüglichen Stelle des somatischen Sehfeldes
eigentümlich ist. So oft also an zwei somatischen Sehfeldstellen das Verhält-
nis zwischen ihrer autonomen Dissimilation und Assimilation das gleiche ist,
bewirkt derselbe D-Reiz an beiden Stellen dieselbe Farbe i), gleichviel, ob die
Menge der Sehsubstanz an beiden Stellen gleich oder beliebig verschieden ist.
Schon im § 9 (Seite 31) wurde darauf hingewiesen, wie die im all-
gemeinen größere Aufdringlichkeit der helleren Farben die Ansicht begünstigt
hat, dass die verschiedenen tonfreien Farben nur verschiedene Intensitäts-
stufen einer und derselben Sehqualität seien. Diese größere Aufdringlich-
keit erklärt sich also nach meiner Auffassung daraus, dass unter sonst
gleichen Umständen alle übermittelhellen Farben ein um so größeres Ge-
wicht haben, je heller sie sind, was im VH. Abschnitt noch weiter zu be-
legen sein wird. Für den nach meiner Ansicht auf die Farbe nicht an-
wendbaren Begriff der Intensität bietet also das Gewicht der Farben in
gewissem Sinne einen Ersatz.
\) In §29 meiner Mitteilungen >zur Lehre vom Lichtsinne« (4) habe ich das,
was ich unter Gewicht einer Empfindung verstehe, in einer meines Erachtens zu-
reichend verständlichen Weise auseinandergesetzt. Unter ausdrücklicher
X12 Lehre vom Lichtsinn.
§ 25. Die Bedeutung der Empfangstoffe der Netzhaut. Im
Anschluss an Boll's Entdeckung des Sehpurpurs und seine eigenen Unter-
suchungen über die »Chemie des Sehepithels« und die »photochemische
Zersetzung in der sehenden Netzhaut« entwickelte W. Kühne eine »opto-
chemische Hypothese« (20, S. 326). Er erachtete das Sehepithel als Träger
photochemisch zersetzlicher Stoffe, welche er als Sehstoffe bezeichnete,
deren Zersetzung direkt oder indirekt den eigentlichen Reiz für die nervöse
Substanz bedingen sollte. Um der immer wiederkehrenden Verwechslung
dieser Sehstoffe mit der Sehsubstanz vorzubeugen, will ich dieselben als
Empfangstoffe der Netzhaut benennen. Dass der Sehpurpur ein solcher
Empfangstoff sei, nahm Küdne zwar als höchst w^ahrscheinlich, doch nicht
als zwingend bewiesen an, fand aber die Annahme noch überdies vorhan-
dener farbloser Empfangstoffe »unbedingt« erforderlich. Als ich meine
Mitteilungen »zur Lehre vom Lichtsinne« veröffentlichte, war der Sehpurpur
noch unbekannt, und ich musste mich damals begnügen, mich denen anzu-
schließen (4, § 27), welche im Gegensatze zu Herschel, Melloni und See-
beck die Wirkung des Lichtes auf die nervöse Substanz des Auges als eine
chemische ansahen. Erst Boll's und Kühne's Entdeckungen schufen^ mir
eine Grundlage zu einer weiteren Differenzierung der bis dahin nur sum-
marisch behandelten Anpassung des inneren Auges und die Möglichkeit,
neben der Anpassung der Sehsubstanz als einer im strengen Sinne nervösen
Substanz eine besondere Anpassung des Empfängers der Netzhaut d. h. der
Stäbchen- und Zapfenschicht in Betracht zu ziehen. Denn wenn die Seh-
zellen besondere Stoffe enthalten, welche vermöge einer teilweisen Zersetzung
durch Licht dasselbe erst zu einem Reize für die nervöse Substanz machen,
der als ein Dissimilationsreiz den Stoffwechsel der Sehsubstanz beeinflusst.
Berufung auf diese Erörterung wies ich in § 27 darauf hin, »dass psychophysische
Prozesse von sehr verschiedener Größe dieselbe Empfindung geben können, weil
es überall (wo es sich wie damals in § 27 nur um die Art der Empfindung han-
delt) nicht auf die absolute Größe dieser Prozesse, sondern lediglich auf ihr gegen-
seitiges Verhältnis ankommt«. Gleichwohl fand ich einst in einer Abhandlung
über die Gesichtsempfindungen die Bemerkung, dass durch meine oben citierte
Behauptung das eigentliche Wesen des von mir vertretenen Prinzips, nach wel-
chem, um Mach's Worte zu benützen (13, L S. 320), »gleichen psychischen Prozessen
gleiche physische und ungleichen, ungleiche entsprechen sollen« geradezu auf-
gehoben werde. Der Autor dieses Einwandes hat denselben später wiederholt
und endlich neuerdings wieder bemerkt, dass nach meiner Ansicht »die Empfin-
dung nur von dem Verhältnis abhängen solle, in dem die beiden Prozesse (D und
A) jeweils verwirklicht sind, während es auf die Intensität beider nicht ankommen
soll«. Schließlich ist mir auch von anderer Seite dieser vermeinthche Verstoß
gegen die Logik vorgehalten worden.
Nun denke man sich einen Metallgießer, der einem Kunden zwei Stücke
Messing von gleicher Legierung, aber verschiedenem Gewicht vorlegt und ihm
versichert, beide Stücke seien »dasselbe« Messing: Was würde dieser Mann sagen,
falls der Kunde ihm einwendete, diese Behauptung enthalte einen offenbaren Wider-
spruch, denn das eine Stück wiege zwei, das andere nur ein Pfund.
§ 25. Größe des Stoffwechsels und Gewicht der Farbe. 113
so wird neben dem specifischen Absorptionsvermögen jener Stoffe auch
deren jeweilige Menge für den optischen Reizwert des Lichtes mitbestim-
mend sein. Würde bei einer anhaltend konstanten und relativ starken Be-
lichtung einer Netzhautstelle mehr von dem Empfangstoffe verbraucht als
gleichzeitig gebildet, so müsste der Gehalt der Sehzeilen an diesem Stoffe
abnehmen und also ein zur absorbierten Lichtmenge proportionaler Reiz-
wert des Lichtes solange herabgesetzt werden, bis der Verbrauch dem
gleichzeitigen Ersätze wieder gleich geworden wäre. Auf diese Weise könnte
die Sehsubstanz vor einer zu lange währenden übermäßigen Reizung ge-
schützt werden. Wenn aber dann an die Stelle der starken Belichtung
eine andauernd schwache träte, so würde fortan weniger von dem Empfang-
stoffe zersetzt als gebildet, seine Menge würde wieder zunehmen und der
Reizwert des Lichtes sich solange steigern, bis wieder das Gleichgewicht
zwischen Verbrauch und Ersatz des Empfangstoffes hergestellt wäre.
Wegen der fortwährenden Bewegungen des Auges wechselt die Be-
leuchtung der einzelnen Netzhautstellen auch dann unaufhörlich, wenn die
Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes eine konstante ist. Doch ist dabei
für alle Netzhautstellen der Durchschnittswert ihrer wechselnden Beleuch-
tung beiläufig derselbe, und zwar ist er proportional zur jeweiligen Stärke
der konstanten Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes. Infolge des beschrie-
benen Anpassungsvermögens des Empfangsorganes würde nun trotz großen
Verschiedenheiten der Gesamtbeleuchtung der Reizwert jenes Durchschnitts-
wertes der Netzhautbeleuchtung für die Sehsubstanz schließlich immer
wieder derselbe werden, weil das Empfangsorgan sich für die eben herr-
schende Beleuchtung des Gesichtsfeldes vollständig adaptiert hätte.
So würde es sich verhalten, wenn die Produktion des Empfangstoffes
eine quantitativ konstante wäre. Es würde dann zwar der jeweilige Ge-
halt der Sehzellen an solchem Stoffe ein sehr verschiedener und zwar bei
anhaltend starker Beleuchtung ein kleiner, bei anhaltend schwacher ein
großer sein, aber die Größe des Verbrauches wäre nach jedesmaliger
Anpassung des Empfängers an die Beleuchtung immer wieder dieselbe.
Anders würde es sich verhalten, wenn die Produktion der Empfangstoffe,
je nachdem die Netzhaut belichtet oder verfinstert ist, eine quantitativ ver-
schiedene wäre, was große Wahrscheinlichkeit für sich hat. Denn es ist
nicht anzunehmen, dass während der Nachtruhe, wobei das Auge stunden-
lang ganz verfinstert sein kann, die Bildung der Empfangstoffe ungeschwächt
fortdauere und dieselben sich proportional zur Dauer der Verfinsterung im
Sehepithel anhäufen. Wer noch einen besonderen Beweis dafür verlangen
sollte, dass letzteres nicht der Fall ist, der könnte auf die später zu be-
sprechenden Versuche Aubert's und Anderer über den zeitlichen Verlauf der
Dunkeladaptation verwiesen werden. Wenn aber die Empfangstoffe sich nur
bis zu einer gewissen Grenze anhäuften, während ihre Produktion gleichwohl
Hering, Lichtsinn. 8
•^1^ Lehre vom Lichtsinn.
ungeschwächt weiter ginge, so müssten sie, sobald eine bestimmte Grenze
erreicht ist, im verfinsterten Auge irgendwie in demselben Maße immer
wieder zerstört oder abgeführt werden, in welchem sie produziert werden.
Es liegt keinerlei Grund vor, dies anzunehmen. Vielmehr wird jeder, der
sich die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit von Selbstregulierungen der Le-
bensprozesse und anderer physikalisch-chemischer Prozesse vergegenwär-
tigt, mit mir wahrscheinlich finden, dass bei anhaltender Finsternis die
weitere Bildung und Anhäufung der Empfangstoffe früher oder später auf-
hört, sei es dass ihre Anhäufung selbst irgendwie zu einem Hindernis für
ihre weitere Produktion wird, sei es dass ein während der Belichtung be-
stehender Anreiz zu ihrer Bildung infolge der Verfinsterung des Auges in
Wegfall kommt. Auch wird später eine Thatsache zu besprechen sein,
welche es wahrscheinlich macht, dass sich im Sehorgan infolge der Be-
lichtung eine funktionelle Hyperämie entwickelt, wie solche von vielen nicht
stetig fungierenden Organen bekannt ist, und dass diese Hyperämie eben-
falls auf nervösem Wege eingeleitet wird. Dies würde in Einklang sein mit
der Annahme, dass die Bildung der Empfangstoffe mit in Abhängigkeit steht
von der Belichtung der Netzhaut.
Ebensowenig wie der Stand des Wassers in einem Gefäße, welches
einen gleichzeitigen Zu- und Abfluss hat, uns Aufschluss über die in der
Zeiteinheit zu- und abfließende Wassermenge giebt, ebensowenig können
wir aus dem jeweiligen Gehalt des Sehepithels an Empfangstoff das Aus-
maß des eben stattfindenden Verbrauches des letzteren ableiten, und wie trotz
einem niedrigen Wasserstande ein starker Wasserzufluss deshalb stattfinden
kann, weil gleichzeitig ein ebensjD starker Abfluss besteht, kann mit einem
sehr kleinen Gehalt an Empfangstoff eine relativ starke Produktion des-
selben verbunden sein, wenn die Stärke der Belichtung einen, der Produk-
tion gleich starken Verbrauch desselben bewirkt.
Ich habe den Eindruck erhalten, als ob diejenigen, welche wegen der
schwächeren Rotfärbung der Netzhaut belichtet gewesener Augen annehmen, dass
bei Tage weniger Sehpurpur verbraucht werde als während der Dämmerung,
nicht beachtet hätten, dass ein geminderter Purpurgehalt des Seh-
epithels an und für sich gar nichts für einen geminderten Ver-
brauch desselben beweist. An anderer Stelle wird hierauf zurückzu-
kommen sein.
Schon Kühne sprach von einem »Sehen ohne Sehpurpur«, weil er in der
Netzhaut von Fröschen und Kaninchen, welche vor dem Tode längere Zeit in un-
gewöhnlich lichtstarker Umgebung gelebt hatten, keinen Sehpurpur sehen konnte.
Er hat wohl nicht bedacht, dass jede zureichend verdünnte Lösung eines Farb-
stoffes farblos erscheint, und dass, wenn man den Purpurgehalt des für starke
Dämmerung angepassten Empfangsorganes = \ setzt, derselbe bei einer hundert-
mal stärkeren Beleuchtung weniger als Yjoq zu betragen brauchte, damit beiden-
falls dieselbe Lichtmenge absorbiert, gleichviel Sehpurpur zersetzt und die nervöse
Substanz der Netzhaut gleichstark gereizt würde.
§ 26. Vom simultanen Helligkeitskontraste. 115
Der Reiz wert einer das Auge treffenden tonfrei wirkenden Strahlung
hängt also erstens von der Größe der Pupille, zweitens wahrscheinlich vom
Gehalt der belichteten Netzhautstelle an Empfangstoff ab. Der Reiz er folg
der Strahlung aber, d. h. der Zuwuchs, den die Dissimilation der Seh-
substanz erfährt, ist nach unserer Annahme einerseits diesem Reizwerte,
andererseits der jeweiligen D-Erregbarkeit (ö) der Sehsubstanz direkt pro-
portional. Durch drei ganz verschiedene Mittel zugleich könnte somit dieser
D-Zuwuchs an die jeweilige Stärke der Beleuchtung des Gesichtsfeldes
successiv angepasst werden, nämlich durch entsprechende Änderung erstens
der Pupille, zweitens der Menge eines Empfangstoffes und drittens der
D-Erregbarkeit der Sehsubstanz. Hierauf also würde die successive An-
passung des Sehorganes an die Beleuchtung beruhen.
V. Abschnitt.
Die tonfreien Wechselwirkungen der Sehfeldstellen.
§ 26. Vom simultanen Helligkeitskontraste ^). Wenn ein
kleines graues Feld, z. B. ein Papierschnitzel, auf einem weißen Papier
dunkler grau, auf einem schwarzen heller grau erscheint, als auf einem
gleichgrauen Papier, oder wenn es auf rotem Papier grünlich, auf gelbem
bläulich aussieht, so pflegt man solche sogenannte Kontrasterscheinungen
als Täuschungen über die »wirkliche« Farbe des Schnitzels zu bezeichnen,
während man diejenige Farbe, die es auf gleichgrauem Grunde zeigt, als
seine wirkliche Farbe gelten lässt.
Die genauere Beschreibung und die verschiedenen Erklärungen der-
artiger sogenannter optischer Täuschungen bildeten lange Zeit den aus-
schließlichen Inhalt der Abhandlungen über den Simultankontrast. Diese
Erklärungen aber gründeten sich teils auf die ältere Annahme [Johannes
Müller (23), J. Plateau (24), bezw. Th. Fechner (25)J, dass die Farbe,
welche infolge der Bestrahlung einer Netzhautstelle gesehen wird, nicht
allein von der Art und Stärke dieser Bestrahlung, sondern vermöge einer
physiologischen Wechselwirkung der Netzhautstellen auch von der Art und
Stärke der gleichzeitigen Bestrahlung der Umgebung jener Netzhautstelle
abhänge; teils auf eine neuere, insbesondere von Helmholtz vertretene An-
nahme, dass es sich bei solchen Kontrasterscheinungen nur um Urteils-
täuschungen handele, während die »Empfindung« selbst dabei gar nicht
beeinflusst werde.
Den Gedanken, dass die Erscheinungen des Simultankontrastes nicht
bloß auf »optische Täuschungen« hinauslaufen, sondern der Ausdruck einer
1) Zusammenstellungen der Litteratur finden sich besonders bei J. Plateau (21
und A. TSCHERMAK (22).
8*
11Q Lehre vom Lichtsinn.
wesentlichen Lebenseigenschaft des Sehorganes sind, finde ich besonders
bei Plateau und E. Mach betont (13, I), doch haben dieselben diesen Ge-
danken in anderer Weise durchgeführt, als wie ich es im Folgenden ver-
suchen werde.
Die wichtigsten Folgen jener Wechselwirkungen äußern sich gar nicht
in Kontrasterscheinungen, d. h. in dem vermeintlichen Falschsehen der
»wirklichen« Farben der Außendinge. Vielmehr beruht gerade das soge-
nannte richtige Sehen dieser Farben sehr wesentlich mit auf diesen Wechsel-
wirkungen, und es ist noch viel wichtiger, die letzteren da zu
erforschen, wo wir gar nichts von ihnen zu bemerken meinen,
als da, wo sie uns als Kontrasterscheinungen auffallen. Der
Wechselwirkung der somatischen Sehfeldstellen verdanken
wir zu einem wesentlichen Teile sowohl unsere Sehschärfe (vgl.
VL Abschnitt) als auch die Möglichkeit, die Außendinge an ihrer
Farbe wieder zu erkennen (vgl. § 6). Da überhaupt die genauere Be-
kanntschaft mit den Folgen dieser Wechselwirkungen eine der wesentlich-
sten Grundlagen für das Verständnis der Art unseres Sehens ist, so werde
ich dieselben um so mehr etwas eingehender erörtern , als sie in den
Lehr- und Handbüchern nur als optische Täuschungen behandelt zu werden
pflegen.
Zuerst mögen diejenigen Folgen der Wechselwirkung besprochen wer-
den, welche durchaus den Eindruck von Störungen einer »richtigen« Wahr-
nehmung der Außendinge machen, und zwar will ich mich hier wieder auf
das Gebiet der tonfreien Farben beschränken, wo sich die Wechselwirkung
durch den sogenannten Helligkeitskontrast verrät.
Die beiden kleinen grauen Kreisfelder der Fig. 1 , Taf. H sind bei gleicher
Beleuchtung von gleicher Lichtstärke; dennoch erscheint das auf weißem
Grunde liegende auffallend schwärzlicher als das vom Schwarz umgebene.
Schlägt man in ein beliebiges Papier zwei runde Löcher, welche nach Größe
und Abstand den beiden Kreisfeldern entsprechen, und legt das Papier so
auf die Figur, dass von derselben nur die beiden Kreisfelder sichtbar blei-
ben, so erscheinen dieselben in gleicher Farbe, wie es der Gleichheit ihrer
Lichtstärken entspricht.
In Fig. 2, Taf. H haben die beiden grauen Kreisfelder dieselbe Licht-
stärke wie in Fig. i , Taf. H, sie erscheinen jedoch in der ersteren weniger
untereinander verschieden als in der letzteren, wo die Verschiedenheit der
beiden umschließenden Felder eine viel größere ist als in Fig. 2; denn es
gilt die Begel, dass gleich lichtstarke umschlossene Felder um so ver-
schiedener erscheinen, je größer der Unterschied der Lichtstärke der. beiden
sie umschließenden Felder ist.
Die kleinen Kreisfelder in Fig. 4, Taf. H sind ebenfalls sämtlich von
gleichem Remissionsvermögen und daher bei gleicher Beleuchtung von
Graefe-Saemiseh, Handbuch, 2. Aufl., I. Teil, III. Band, Kap. XII. Tafel II.
Zu Seite 110
"WM
äSUk
w
Fiff. 1,
Fig. 2.
Fig. 3.
Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig.
§ 26. Vom simultanen Helligkeitskontraste. 117
derselben Lichtstärke. Man sieht hier, wie in der Richtung von unten nach
oben die Schwärzlichkeit, in der entgegengesetzten Richtung die Weißlich-
keit der Kreisfelder zunehmend größer wird, und wie auffallend der Hellig-
keitsunterschied zwischen dem untersten und dem obersten Kreisfelde ist.
Während in den soeben erwähnten Figuren die beiden zu vergleichen-
den grauen Felder erheblich von einander entfernt sind, berühren sich in
Fig. 3, Taf. II die beiden umschlossenen, hier hakenförmigen und ebenfalls
gleich lichtstarken Felder mit ihren Spitzen ; gleichwohl erscheinen sie eben-
falls sehr verschieden.
Man kann sich die kleinen grauen Felder in beliebiger Form aus mattem
grauen Papier herstellen und sie auf einen möglichst großen, zur einen Hälfte
weißen oder hellgrauen, zur anderen schwarzen oder dunkelgrauen Grund legen;
doch hat dies den störenden Übelstand, dass sie bei seitlicher Beleuchtung einen
helleren bezw. dunkleren Saum zeigen und nicht als integrierende Bestandteile
der übrigen Fläche, sondern als gesonderte Objekte erscheinen. Es ist deshalb
zweckmäßig, durch passende Brillengläser dafür zu sorgen, dass man nicht für
die Entfernung der Felder akkommodieren kann. Dadurch werden ihre Um-
risse verwaschen, und zugleich verschwindet das etwa vorhandene Korn der
Papiere.
Die Figuren auf Taf. 11 zeigen bereits, in wie hohem Grade die Hellig-
keit eines kleinen Feldes mit abhängt von der Helligkeit seiner Umgebung;
doch lässt sich sogar ein kleines weißes Feld ohne Änderung
seiner Lichtstärke durch bloße Änderung der Lichtstärke der
gesamten Umgebung in ein schwarzes, und umgekehrt ein
schwarzes in ein weißes verwandeln. Man schlage in der Mitte
eines ganz undurchscheinenden weißen Kartenpapieres von etwa 30 cm im
Geviert ein rundes Loch von beiläufig 8 mm Durchmesser und halte es vor
sich, während man bei hellem Tage mit dem Rücken am Fenster steht
und nach einer 5 — 6 m entfernten und dementsprechend schlechter be-
leuchteten weißen Wand oder einen an der Wand befestigten weißen Schirm
blickt, von denen also nur ein kleiner Teil durch das Loch sichtbar ist.
Hält man zugleich dicht an das Auge eine beiläufig 25 cm lange, mit schwar-
zem Samt oder Wollpapier ausgekleidete Röhre, welche am anderen Ende
eine ebenfalls mit Samt belegte Manschette trägt, und drückt das Karten-
papier im Umkreise des Loches dicht an diese Manschette, so erscheint
das Loch weiß; sobald man aber die Röhre entfernt, erscheint es schwarz.
Dieser Farbenwechsel ist ein außerordentlich überraschender. Der Einfluss
der Pupillenänderung lässt sich durch ein in der Nähe des Augenendes der
Röhre eingesetztes Diaphragma ausschUeßen, dessen Öffnung nur 2 mm im
Durchmesser hat.
Überhaupt lässt sich sagen, dass bei Tage ein kleines Feld bei passen-
der konstanter Lichtstärke jede zwischen einem nicht allzutiefen Schwarz
und einem ziemlich reinen Weiß liegende tonfreie Farbe annehmen kann,
118 Lehre vom Lichtsinn.
je nachdem seine Umgebung mehr oder weniger lichtstark ist. Mit wach-
sender Lichtstärke der Umgebung ändert sich in der Farbe des kleinen
Feldes das Verhältnis der Schwärze zur Weiße immer mehr zu Gunsten
der Schwärze, mit abnehmender Lichtstärke der Umgebung zu Gunsten
der Weiße.
Die soeben besprochenen Thatsachen pflegt man zwar meistens als
Erscheinungen des simultanen Helligkeitskontrastes zu bezeichnen, bei der
gewöhnlichen Art des Sehens aber, wobei der Blick zwanglos umher springt,
hat dieser Kontrast eine doppelte Ursache. Erstens wird ein Netzhautbild
von gleichbleibender Lichtstärke, wenn es infolge einer Augenbewegung auf
Netzhautstellen geschoben wird, welche soeben schwächer belichtet waren,
weißlicher oder minder schwärzlich gesehen, als wenn es auf Netzhautstellen
übertritt, welche zuvor stärker belichtet waren: die unter diese Regel fallen-
den Erscheinungen gehören zu denen des successiven Kontrastes oder, wie
ich kürzer sagen will, des Nachkontrastes. Zweitens wird ein auf der-
selben Netzhautstelle verharrendes Bild, wenn es von einem lichtschwächeren
umschlossen ist, weißlicher oder minder schwärzlich gesehen, als wenn es
von einem lichtstärkeren umgeben ist: die hierher gehörigen Erscheinungen
sind solche des reinen Nebenkontrastes d. h. des simultanen Helligkeits-
kontrastes im engeren Sinne.
Die oben besprochenen Kontrasterscheinungen sind also, wenn man
wie gewöhnlich mit bewegtem Blicke beobachtet, teils durch Nachkontrast,
teils durch Nebenkontrast bedingt; sie sind Erscheinungen des gemischten
Kontrastes.
Zunächst gilt es, den Nebenkontrast, welcher uns jetzt allein beschäf-
tigen soll, streng gesondert vom Nachkontraste zu untersuchen, wie dies
besonders Helmholtz wenigstens teilweise durchführte (s. I, S. 392). Streng
lässt sich dem dadurch entsprechen, dass die ganze Fläche, auf der sich
die Kontrasterscheinung zeigen soll, erst dann sichtbar gemacht wird, wenn
die Augen bereits eine feste Lage angenommen haben, welche dann wäh-
rend der im allgemeinen nur kurz (1 — 2 Sekunden) zu bemessenden Be-
obachtungszeit unverändert beizubehalten ist. Ein länger fortgesetztes Be-
obachten mit festgehaltenem Blicke vermag das Ergebnis wesentlich zu
ändern.
Man schiebe über die Figur \ (Taf. H) von rechts und links je ein
graues Blatt bis an die Grenzlinie zwischen dem Schwarz und Weiß, so
dass diese unter sich ganz gleichen Deckblätter längs der Grenzlinie zu-
sammenstoßen, und mache am Rande des einen Deckblattes einen kleinen
Ausschnitt an der Stelle, unter der sich die auf der Grenzlinie der Figur
angebrachte schwarze Marke befindet. Fixiert man einige Zeit mit einem
oder beiden Augen die letztere und zieht sodann bei unveränderter Augen-
stellung die beiden Deckblätter mit mäßiger Geschwindigkeit nach rechts
§ 26. Vom simultanen Helligkeitskontraste.
119
und links zur Seite, so sieht man sofort die beiden grauen Kreisfelder in
verschiedener Farbe, wenn auch nicht in demselben Maße, wie bei gewöhn-
licher Betrachtung. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, dass die Netzhaut-
stellen, auf welche die Bilder der Kreisfelder fallen, zuvor hinreichend lange
in ganz gleicher Weise belichtet waren, und ein Nachkontrast infolge von
Augenbewegungen ist ausgeschlossen. Im Folgenden wird stets eine
vor Einmischung des Nachkontrastes möglichst schützende
Versuchsweise vorausgesetzt.
Der Blickpunkt ist mitten zwischen die zu vergleichenden Felder zu
verlegen, damit sich die letzteren auf möglichst gleichwertigen Netzhaut-
stellen abbilden.
AuBERT imd E. Mach haben bei einzelnen Versuchen den Einfluss der Blick-
bewegung dadurch ausgeschlossen, dass sie die Beobachtungsfläche nur momentan
Fig. -1 8.
Fig. t9.
durch einen starken elektrischen Funken beleuchteten. Ich selbst habe vielfach
einen sogenannten Momentverschluss der Photographen benutzt, nachdem ich
für besonders starke Beleuchtung der Beobachtungsfläche gesorgt hatte. Beide
Methoden gestatten jedoch nur eine sehr begrenzte Verwendung. Vorzügliche
Dienste leistet die folgende, auch nur in besonderen Fällen anwendbare Methode:
Man befestigt die Kontrastfigur auf einem schwarzen Karton, durchsticht beide
an dem zur Fixierung bestimmten Punkte mit einer feinen Nadel und beleuchtet
das Loch von hinten durch eine sehr schwache Lichtquelle. Empfängt nun die
Kontrastfigur ihre Beleuchtung ausschließlich durch eine Öffnung im Fenster-
laden oder durch eine Lampe, die sich leicht verdecken lassen, so fixiert man
zunächst bei Ausschluss der Beleuchtung das allein leuchtende Loch und giebt
dann plötzlich die Beleuchtung wieder frei. Andere Methoden zur Ausschheßung
des Nachkontrastes werden gelegentlich zur Sprache kommen.
Der zweiten wichtigen Bedingung, dass die kleinen Felder als integrie-
rende Teile der übrigen Fläche erscheinen, lässt sich in einzelnen Fällen
mit Hilfe des Farbenkreisels genügen. Fig. i8 ist ein möghchst treues
120
Lehre vom Lichtsinn.
Abbild!) einer rotierenden Kreiselscheibe, auf welcher der schmale grau-
weiße Ring in der äußeren schwarzen Zone und der dunkler graue in der
inneren weißen Zone von gleichem Kreiselwert sind. Fi^. \ 9 stellt die ent-
sprechende unbewegte Kreiselscheibe dar.
^o*
Um den Nachkontrast auszuschließen, bringt man vor der Scheibe einen, von
einem Träger gehaltenen feinen Draht an, dessen Spitze, wenn man sie mit einem Auge
fixiert, einen Punkt der Grenzlinie der weißen und schwarzen Zone deckt, und
hält hinter diesen Draht ein steifes graues Blatt so lange, bis der Kreisel die
nötige Geschwindigkeit erreicht hat. Dann zieht man das Blatt weg, während
man das Drahtende weiter fixiert.
Eine zweckmäßige Herstellungsweise solcher Kreiselscheiben ist folgende:
Auf eine größere schwarze Scheibe wird eine kleinere weiße gelegt, nachdem
aus beiden je zwei Fenster in Form eines schmalen Ringsektors von 90° aus-
geschnitten sind, wie dies Fig. 4 9 zeigt. Unter der größeren schwarzen Scheibe
Fig. 20.
Fig. 21
Hegt eine gleichgroße weiße und zwischen dieser und der schwarzen noch eine
große schwarze von der in Fig. 20 dargestellten Form. Durch passende Lagerung
der letzteren kann man die weiß erscheinenden Ringsektoren der erstgenannten
Scheibe beliebig verkleinern. Ebenso lassen sich die schwarz erscheinenden
Ringsektoren der kleinen weißen Scheibe durch eine untergelegte kleine weiße
Scheibe von der Form der Fig. 2 \ beliebig kürzen. Man kann in dieser Weise
sowohl auf der weißen als auf der schwarzen Zone der rotierenden Scheibe
graue Ringe von einer innerhalb gewisser Grenzen beliebigen Helligkeit herstellen
und zu jedem Grau des Ringes der weißen Zone einen ihm gleichscheinenden
für die schwarze Zone finden. Als ich z. B. an einem hellen Tage die schwarzen
Ringsektoren in der weißen Zone mit 90° eingestellt hatte, musste ich die
weißen in der schwarzen Zone bis auf 9° reduzieren, um für das unbewegte
Auge gleiche Helligkeit beider Ringe zu erzielen. Hierbei war der Kreiselwert
des einen Ringes beiläufig siebenmal größer als der des anderen.
4) Über das Photographieren rotierender Kreiselscheiben vergleiche E. Mach
(<3, L S. 306), welcher dasselbe zuerst vorgenommen hat.
§ 27. Untersuchung des simultanen Helligkeitskontrastes.
121
§ 27. Ein Apparat zur Untersuchung des simultanen Hellig-
keitskontrastes. Um sowohl die Lichtstärken zweier miteinander zu
vergleichender umschlossener Felder als auch die Lichtstärken der sie um-
schließenden Flächen innerhalb ziemlich weiter
Grenzen leicht verändern zu können , habe Fig. 22.
ich mich vielfach einer schon wiederholt er-
wähnten Methode bedient, die sich kurz als
die Lochmethode bezeichnen lässt. Fig. 22
stellt schematisch einen Vertikalschnitt durch
einen Apparat dar, welcher eine vielseitige
Anwendung dieser Methode gestattet.
Man denke sich einen offenen , innen
mattgeschwärzten Kasten von 60 cm Länge,
36 cm Breite und 24 cm Tiefe, der auf die
eine kürzere Seitenwand gestellt ist. Die
dabei nach oben liegende Wand ist durch
einen Rahmen [rr Fig. 23) ersetzt, auf dem
gewöhnlich ein halb mit mattschwarzem, halb
mit mattweißem Papier bedeckter steifer, auf
seiner Unterseite geschwärzter Karton liegt.
In der Nähe der Grenzlinie der schwarzen
und der weißen Hälfte ist jederseits ein rundes
Loch von beiläufig 12 mm Durchmesser ge-
schlagen, wie dies Fig. 23 versinnlicht. Diese Löcher sind im Karton ein
klein wenig grüßer als in dem aufliegenden weißen und schwarzen Papier.
Aus letzteren müssen sie mit einem sehr scharfen Locheisen so ausge-
schlagen werden, dass ihr Rand weder eingedrückt noch aufgeworfen ist.
Der Beobachter steht hinter dem in
passender Höhe aufgestellten Kasten
und blickt von oben auf denselben
herab, so dass für ihn die schwarze
und weiße Hälfte der oberen Fläche
nach rechts und links liegen. Etwas
oberhalb der Unterfläche des Kastens
befindet sich in demselben rechts und
links je eine, an einer horizontalen
Achse befestigte dünne Metallplatte,
auf welche mit weißem oder grauem Papier überzogene Glastafeln auf-
gelegt werden. Das Abgleiten derselben bei schräger Stellung der sie
tragenden Metallplatte ist durch vorspringende Ränder der letzteren ver-
hindert. Diese beiden Tragplatten berühren sich fast in der Mitte des
Kastens. Wenn nötig können sie durch einen kleinen Riegel an der Unter-
Fig. 23.
122
Lehre vom Lichtsinn.
fläche so verkoppelt werden, dass sie gemeinschaftlich wie eine einfache
Platte von doppelter Größe um die horizontale Achse drehbar sind. Damit
der Beobachter die Lage der Platten ändern kann, ohne sich bücken zu
müssen, trägt die Achse einer jeden außen eine Rolle, welche mittels Schnur-
lauf durch eine zweite, am oberen Teile des Kastens befindliche Rolle be-
wegt werden kann, wie
Kastens veranschaulicht.
dies die in Fig. 24 skizzierte Seitenfläche des
'&•
Fig. 25.
Fig. 24.
r
i
o
T
\
>.
Von den auf den Tragplatten liegenden Tafeln empfangen die beiden
Löcher für den Beobachter ihr Licht, so dass sie ihm, besonders bei un-
vollkommener Akkommodation, als graue bezw. weiße oder schwarze runde
Flecke auf der oberen schwarzen bezw. weißen Fläche erscheinen. Die
Stärke der Beleuchtung jedes Loches lässt sich durch Änderung der Neigung
der entsprechenden unteren Tafel zur Einfallsrichtung des Himmelslichtes
innerhalb weiter Grenzen variieren.
Befindet sich die Nasenwurzel in passender Höhe senkrecht über dem
Mittelpunkte der oberen Fläche des Apparates, und fixiert man diesen
§ 27. Untersuchung des simultanen Helligkeitskontrastes. 123
Punkt, so ist bei zureichendem Abstände der beiden Löcher von einander
für beide Augen das rechtseitige Loch ausschließlich von der rechtseitigen,
das linke ausschließlich von der linkseitigen unteren Tafel beleuchtet, wie
dies Fig. 25 veranschaulicht. Beobachtet man mit nur einem Auge, so
dürfen die beiden Lücher einander beliebig nahe sein; das Auge soll sich
dann senkrecht über dem Mittelpunkte der oberen Fläche befinden. Ein
Kopfhalter sichert die passende Augenlage. Der Blickpunkt soll in der Mitte
zwischen den beiden Lüchern liegen, so dass beide indirekt gesehen werden.
Für besondere Versuche kann im Apparat ein unter 45° zum oberen
Karton geneigtes Spiegelglas {s) und zugleich vor den obersten Teil der
offenen Seite des Apparates eine matte Glastafel (m) so angebracht werden,
wie dies Fig. 22 zeigt. Das durch das Mattglas eindringende Licht wird
an dem Spiegelglase reflektiert und gesellt sich für das Auge des Beobachters
zu dem von den unteren Papierflächen kommenden Lichte, so dass beide
Lücher einen gleich großen Zuwuchs zu ihrer Lichtstärke erhalten.
Bei allen Versuchen wird gleiche Dauer der Beobachtungszeit, z. B.
eine Sekunde, und zwischen je zwei Beobachtungen eine so lange Pause vor-
ausgesetzt, dass alle Nachwirkungen des vorhergegangenen Versuchs ver-
schwunden sind. Die Einmischung des durch Augenbewegungen bedingten
Nachkontrastes lässt sich durch Benutzung von Deckblättern in der oben
(S. 1 1 8) beschriebenen Weise ausschließen. Es empfiehlt sich, durch passende
Brillengläser dafür zu sorgen, dass man für die Lücher nicht genau akkom-
modieren kann. Von den sehr mannigfaltigen Versuchen, die sich an diesem
Apparate behufs einer vorläufigen Orientierung über die Regeln des Hellig-
keitskontrastes anstellen lassen, seien nur die folgenden erwähnt.
L Sind die beiden, zunächst horizontal liegenden Tragplatten mit zwei
ganz gleichen z. B. weißgrauen Tafeln belegt, so erscheinen die beiden
Lücher trotz der Gleichheit ihrer Lichtstärke verschieden, man kann sie
aber gleich erscheinen machen, wenn man entweder der, dem dunkler er-
scheinenden Loche zugehürigen Tafel eine entsprechend günstigere Neigung
zum einfallenden Lichte giebt, oder der anderen Tafel eine entsprechend
ungünstigere.
Hat man die beiden Tragplatten in dieselbe Ebene gebracht und ver-
koppelt, unter das Loch im Weiß ein hellgraues, unter das Loch im Schwarz
ein dunkelgraues Papier aufgelegt, so künnen bei passender Wahl der beiden
Papiere die beiden Lücher trotz der großen Verschiedenheit ihrer Licht-
stärken ganz gleich erscheinen. In der Verschiedenheit ihres Kreiselwertes
hat man eine Art Maß für die Stärke der Kontrastwirkung.
n. Die eine Hälfte der oberen Fläche bestehe aus weißem, die andere
aus schwarzgrauem Papier, und den Lüchern habe man durch passende
Wahl und Lage der unteren Papierflächen eine beiderseits gleiche graue
Farbe gegeben. Mindert man dann durch gleichmäßige Beschattung beider
i[24 Lehre vom Lichtsinn.
Hälften der oberen Fläche die Lichtstärken derselben in demselben Ver-
hältnis, so erscheint nachher das Loch im Weiß heller als das Loch im
Dunkelgrau. Macht man die Löcher^ durch Drehung der diesem helleren
Loche entsprechenden unteren Tafel wieder gleich, so erscheint nach Wieder-
aufhebung der Beschattung dieses Loch dunkler als das andere. Eine er-
hebliche Änderung der Gesamtbeleuchtung der Netzhaut lässt sich dadurch
vermeiden, dass man nur die nähere Umgebung der beiden Löcher mit
Hilfe eines kleinen, an einem Drahte befestigten Papierquadrates gleichstark
beschattet.
Dieser Versuch liefert ein Beispiel dafür, dass die Gleichfarbigkeit
(gleiche Helligkeit oder Dunkelheit) der beiden verschieden
lichtstarken umschlossenen Felder nicht lediglich an ein be-
stimmtes Verhältnis der Lichtstärken der umschließenden Felder
gebunden ist, sondern bei gegebenem Verhältnis dieser Lichtstärken auch
eine bestimmte absolute Größe derselben voraussetzt.
HL Nachdem in der oben beschriebenen Weise das Spiegelglas und
das Mattglas im Apparate angebracht worden sind, mindert man zunächst
das durch das Mattglas eindringende Licht durch Vorsetzen eines passend
ausgewählten möglichst tonfreien Rauchglases von der Größe des Matt-
glases. Die obere Papierfläche sei zur einen Hälfte schwarz, zur anderen
weiß. Giebt man nun den beiden Löchern durch passende Wahl und Lage
der unteren Tafeln eine beiderseits gleiche graue Farbe und hält dann von
dem Mattglas alles Licht durch einen schwarzen Karton ab, so wird die
Lichtstärke beider Löcher um denselben Betrag vermindert. Das Loch
im Schwarz erscheint nun dunkler als das Loch im Weiß. Macht
man beide Löcher durch passende Drehung der, dem Loch im Schwarz
entsprechenden unteren Papierfläche wieder gleich und entfernt dann den
das Mattglas deckenden Karton, so erhalten beide Löcher einen gleich großen
Lichtzuwuchs. Nun erscheint das Loch im Schwarz heller als das
Loch im Weiß.
Erscheinen also zwei umschlossene Felder, deren umschließende ver-
schiedene Lichtstärken haben, gleich hell, und erteilt man sodann den
beiden umschlossenen denselben Lichtzuwuchs, so werden sie ungleich und
zwar zeigt das in der lichtstarken Umgebung liegende einen kleineren
Helligkeitszuwuchs als das andere. Dementsprechend ist, wenn beide um-
schlossene Felder denselben Helligkeitszuwuchs erhalten sollen, für das
in der lichtstarken Umgebung liegende ein größerer Lichtzuwuchs erforder-
lich, als für das Feld mit lichtschwacher Umgebung. Dieser Versuch zeigt,
dass bei gegebenen Lichtstärken der umschließenden Felder das Gleich-
erscheinen der beiden umschlossenen nicht an eine bestimmte Lichtstärken-
verschiedenheit der letzteren gebunden ist, sondern dass es auch auf die
absoluten Größen ihrer Lichtstärken mit ankommt.
§ 28. Folgerung aus den beschriebenen Kontrastversuchen. 125
§ 28. Eine wichtige Folgerung aus den beschriebenen Kon-
trastversuchen. Die bisher besprochenen Kontrasterscheinungen lehrten,
dass ein umschlossenes Feld bei derselben Lichtstärke durch jede Steigerung
der Lichtstärke seiner Umgebung dunkler, durch jede Minderung derselben
heller gemacht werden kann.
Dementsprechend sahen wir, dass, um zwei umschlossenen Feldern,
deren umschließende verschieden lichtstark sind, dieselbe Helligkeit zu geben,
für das in lichtstärkerer Umgebung liegende eine größere Lichtstärke er-
forderlich ist, als für das in lichtschwächerer Umgebung befindliche; und
wenn wir dann den beiden gleich erscheinenden Feldern einen gleich großen
positiven bezw. negativen Helligkeitszuwuchs erteilen wollten, so musste der
positive bezw. negative Zuwuchs der Lichtstärke für das in der lichtstärkeren
Umgebung liegende Feld grüßer sein als für das andere. Kurzum die Er-
hellbarkeit des umschlossenen Feldes erwies sich als eine Funktion der
Erhellung seiner Umgebung.
In allen diesen Fällen hatte das umschlossene Feld eine andere Licht-
stärke als das umschließende, und zwar war bald das erstere, bald das
letztere das lichtstärkere. Es ist jetzt noch der besondere Fall zu erwägen,
in welchem beide Felder zunächst dieselbe Lichtstärke haben und zu-
sammen als eine Fläche von überall gleicher Helligkeit erscheinen. Jeder
beliebige, innerhalb einer solchen Fläche liegende Einzelteil derselben lässt
sich als ein umschlossenes und die übrige Fläche als das umschließende
Feld ansehen und steht also unter dem, seine Helligkeit mindernden Ein-
flüsse der Lichtstärke dieses umschließenden Feldes, welche hier gleich
groß ist wie seine eigene. Infolgedessen wird er minder hell erscheinen,
als er erscheinen würde, wenn seine Umgebung eine kleinere oder gar keine
Lichtstärke besäße. Da dies von allen Einzelteilen der Fläche gilt, so
Wird die ganze Fläche minder hell erscheinen, als ohne die
gegenseitige verdunkelnde Wirkung ihrer Einzelteile der Fall
sein würde.
So führen uns also die beschriebenen Thatsachen zu der Folgerung,
dass eine gegenseitige Beeinflussung nicht bloß zwischen Fel-
dern von verschiedener Lichtstärke besteht, sondern auch
zwischen solchen von gleicher Lichtstärke und entsprechend
gleicher Helligkeit, in Fällen also, wo von einem Kontraste gar nicht
gesprochen werden kann, da der Begriff des Kontrastes das Vorhanden-
sein eines Unterschiedes in sich schließt. Das Folgende wird weitere Be-
weise hierfür bringen.
Die beschriebenen Erscheinungen des simultanen Helligkeitskontrastes haben
die Vermutung angeregt, dass die durch Belichtung einer Netzhautstelle bewirkte
»Erregung« durch die gleichzeitige Belichtung ihrer Umgebung irgendwie und
126 Lehre vom Lichtsinn.
irgendwo im nervösen Apparat teilweise gehemmt, unterdrückt, aufgehoben werde
oder wie sonst man es ausdrücken will. Es ist sogar daran gedacht worden,
auf diese Weise zu erklären, warum eine bestimmte z. B. ebenmerkhche Stei-
gerung der Helligkeit einer belichteten Fläche einen um so größeren Licht-
zuwuchs erfordert, je größer die Lichtstärke der Fläche schon ist (sogenanntes
WEBER'sches Gesetz). Wenn aber durch die hemmende Wirkung, welche die
einzelnen Teile einer gleichmäßig belichteten Fläche gegenseitig auf einander aus-
üben, ein um so größerer Teil der direkten Lichtwirkung aufgehoben würde, je
lichtstärker die Fläche ist, so wäre daraus noch nicht erklärt, warum nicht zu
einem ebenmerkhchen Zuwuchs der »Erregung« bei jedem beliebigen schon
vorhandenen Ausmaße derselben immer derselbe Lichtzuwuchs genügen sollte.
Von zwei antagonistischen Kräften könnte der Überschuss der größeren ganz
unabhängig davon zur Wirkung kommen, wie groß im übrigen die beiden Kräfte
sind. Wüchse die hemmende Kraft, mit welcher die Einzelteile der Fläche auf-
einander wirken, z. B. proportional mit der Stärke ihrer Belichtung, so würde
dies bezüglich der »Erregung« nur ebensoviel bedeuten, wie wenn diese Belich-
tung stets um denselben Bruchteil ihrer Stärke vermindert würde; der nicht
aufgehobene Rest der Lichtwirkung würde also der Lichtstärke proportional sein,
und gleichen Zuwüchsen der Lichtstärken im Netzhautbilde würden immer gleiche
Zuwüchse der Erregungen entsprechen. Warum können solche gleiche Erregungs-
zuwüchse nicht auch gleiche Helligkeitszuwüchse bewirken? Was zu erklären
war, bleibt also nach wie vor unerklärt.
§ 29. Messende Versuche mittels Vergleichung umschlos-
sener Felder. Im Vorhergehenden wurde bereits beiläufig erwähnt, wie
man für die Wirkung des Simultankontrastes eine Art Maß dadurch zu
gewinnen vermag, dass man dieselbe durch eine entgegengesetzt wirkende
Änderung einer Lichtstärke wieder aufhebt. Sind also zwei Felder gleicher
Lichtstärke durch Simultankontrast ungleich hell geworden, so kann man
entweder durch Steigerung der Lichtstärke des dunkleren oder durch Min-
derung der Lichtstärke des helleren beide Felder wieder gleich hell bezw.
gleich dunkel machen; der positive oder negative Zuwuchs an Lichtstärke,
welcher dazu erfordert wird, dient als Maß der Kontrastwirkung. Ganz
abgesehen davon, dass die Mittel zur Herstellung messbarer Lichtstärken
und deren Änderung sehr verschiedener Art sein können, stehen auch im
übrigen so viele verschiedene Wege zu derartigen Untersuchungen offen, dass
selbst eine ganz kurze Skizzierung derselben zu viel Raum fordern würde.
Es sei nur daran erinnert, wie groß die Zahl der variablen Bedingungen ist,
welche das Ergebnis beeinflussen. Die Größe, Form und gegenseitige Lage
der Lichtfelder, der Ort ihrer Bilder auf der Netzhaut, die Beleuchtung der
übrigen Netzhaut, der Anpassungszustand des Auges im Momente des Sicht-
barwerdens der Felder, die Dauer der einzelnen Beobachtung: dies alles
beeinflusst das Ergebnis dieser Versuche, welche überdies an die Aufmerksam-
keit, Übung und Objektivität des Beobachters große Anforderungen stellen.
Ich begnüge mich mit der kurzen Beschreibung der großen messenden
§ 29. Messende Versuche mittels Vergleichung umschlossener Felder. 127
Versuchsreihe von Hess und Pretori (26), meines Wissens der einzigen
bisher veröffentlichten i).
Zur Durchführung größerer messender Versuchsreihen ist eine Methode
erforderlich, welche gestattet, die Lichtstärken sowohl der beiden größeren
dicht aneinander grenzenden umschließenden Felder als die der beiden
Fig. 26.
kleineren umschlossenen unabhängig von einander und innerhalb weiter
Grenzen messbar zu variieren. Hierzu eignet sich eine von mir entworfene
Vorrichtung, bei welcher die Lochmethode mit einer alten photometrischen
Methode kombiniert wurde. An einem solchen in großem Maßstabe herge-
stellten Apparate haben Hess und Pretori ihre Versuche durchgeführt. Als um-
schließende Felder dienen zwei ebene,
vertikal aufgestellte, durch brennen- . Fig. 27.
des Magnesium angeweißte iO cm
hohe Flächen F,F (Fig. 26 und 27),
welche unter einem Winkel von 90°
zusammenstoßen und von zwei seit-
lichen, in mehr als 4 m langen
Tunneln verschiebbaren Lichtquellen
beleuchtet werden. In jeder dieser
Flächen ist ein als umschlossenes
Feld dienendes viereckiges Loch (/,/) -^ —
von 1 cm Höhe, durch welche Löcher
man auf ein zweites Paar ebenfalls
angeweißter und unter 90"^ zusammenstoßender Flächen (/",/") sieht. Dies
zweite Flächenpaar ist undurchbrochen, seine Flächen sind parallel zu
den anderen, und ebenfalls durch je eine besondere verschiebbare Licht-
quelle beleuchtet. Die beiden vorderen rechtwinklig zusammenstoßenden
Flächen erscheinen dem 50 cm entfernten Auge des Beobachters als zwei
\) Die messenden Kontrastversuche von A. Lehmann (9) und von Ebbing-
HAüs (10) betreffen den gemischten, nicht den reinen Simultankontrast.
128 Lehre vom Lichtsinn.
in derselben Vertikalebene befindliche Quadrate, und in der Mitte jedes
Quadrates ist, wenn die hinteren Flächen andere Lichtstärken haben als die
vorderen, das bezügliche Loch als ein scharf begrenztes kleines quadrati-
sches Feld sichtbar, das in der Ebene der großen Quadrate zu liegen
scheint. Zu jeder der vier Flächen kann ausschließlich nur das Licht der
für sie bestimmten Lichtquelle gelangen. Der ganze Versuchsraum ist ver-
finstert und insbesondere auch das Auge des Beobachters in den zureichend
langen Pausen zwischen den einzelnen, je eine Sekunde währenden Beob-
achtungen. Auf die ausführliche Beschreibung des Apparates und der Vor-
sichtsmaßregeln zur Verhütung jeder Einmischung des Successivkontrastes
u. s. w. kann hier nur verwiesen werden. Die Beleuchtungsintensität konnte
zwischen \ und 5000 variiert werden, wobei die benutzte Einheit = 0,12
der Hefner-Alteneck 'sehen Lichteinheit war.
Bei jeder einzelnen Versuchsreihe wurde zunächst beiden umschließen-
den Flächen gleiche Lichtstärke und beiden umschlossenen ebenfalls gleiche,
aber von jener verschiedene Lichtstärke gegeben; dann wurde die Beleuch-
tung des rechten umschlossenen Feldes mannigfach geändert und immer
wieder diejenige Lichtstärke seines umschließenden Feldes gesucht, bei
welcher das erstere infolge des Kontrastes wieder die anfängliche, der des
linken umschlossenen Feldes gleiche Helligkeit annahm. Der Durchführung
von 17 solchen Versuchsreihen folgten dann noch zahlreiche Kontrollver-
suche bei abgeändertem Verfahren.
Es ergab sich aus diesen Versuchen, dass der zur Konstanthaltung der
Farbe des Infeldes, wie das umschlossene kurz heißen möge, erforder-
liche Beleuchtungszuwuchs stets angenähert proportional zur jeweiligen Be-
leuchtung des Umfeldes war. Als z. B. die anfängliche Beleuchtung des
rechten Infeldes gleich 300 Lichteinheiten war, betrugen die zur Konstant-
haltung der Farbe des Infeldes erforderlichen Beleuchtungszuwüchse desselben
stets ziemlich genau die Hälfte der jeweiligen Beleuchtungszuwüchse des
Umfeldes. Doch galt dieser Kontrastkoeffizient 0,5 eben nur für den
besonderen Fall,, wo die Anfangsbeleuchtung des Infeldes 300 Lichteinheiten
betrug; der Kontrastkoeffizient war grüßer bei stärkerer und kleiner bei
schwächerer Anfangsbeleuchtung des Infeldes. Als dieselbe z. B. 500 Ein-
heiten betrug, war er beiläufig 0,55; bei 37 Einheiten nur 0,35. Es sind
dies Mittelwerte, welche sich aus den Versuchsreihen mit Wahrscheinlichkeit
ableiten lassen ; sie gelten selbstverständlich nur für die besonderen Versuchs-
bedingungen (Größe der Felder und Adaptationszustand des Auges) und
werden hier nur erwähnt, um eine ungefähre Vorstellung von der Art ihres
Wachsens mit der Anfangsbeleuchtung des Infeldes zu geben.
Bei diesen Versuchen wurde also angenommen, dass das linksseitige, wäh-
rend jeder Versuchsreihe unverändert belichtete Infeld, dem das rechtsseitige
Infeld immer wieder gleichzumachen war, trotz der Veränderung der Belichtungen
§ 30. Die Simultananpassung als Ergebnis des Simultankontrastes. 129
des rechtsseitigen Um- und Infeldes seine Farbe nicht ändere. Strenge Gültig-
keit kann diese Annahme nicht haben, weil sich eine Kontrastwirkung der variabel
belichteten rechtsseitigen Felder auf die linksseitigen nicht ausschließen lässt.
Gegenüber der relativ gewaltigen Kontrastwirkung aber, welche das rechtsseitige
Umfeld auf sein Infeld ausübte, durften kleine Kontrastwirkungen auf das ent-
fernte Infeld der anderen Seite vorerst vernachlässigt werden.
§ 30. Die Sinnultananpassung als Ergebnis des Simultan-
kontrastes. Die von Hess und Pretori gefundene Regel einer angenäherten
Proportionalität zwischen den positiven bezw. negativen Beleuchtungszu-
wüchsen eines Umfeldes und den zur Konstanthaltung der Farbe seines
Infeldes nötigen positiven bezw. negativen Zuwüchsen zur Beleuchtung des
letzteren bietet Veranlassung, an einem besonders einfachen Beispiel das zu
erläutern, was ich in § 6 als simultane Adaptation bezeichnet habe.
Nehmen wir an, es seien unter den im vorigen Paragraphen beschrie-
benen Umständen beide Um- und Infelder zunächst gar nicht beleuchtet,
so würde der Beobachter, wenn er das Auge aufschlägt, an ihrer Stelle
nur die Eigenfarbe seines Sehfeldes sehen. Wäre dann vor der nächsten
Beobachtung das rechte Umfeld irgendwie belichtet worden, so würde er
dessen Infeld dunkler sehen, als die zuvor von ihm gesehene Eigenfarbe
war. Um das Infeld trotz dieser verdunkelnden Wirkung des beleuchteten
Umfeldes wieder wie vorher und also in der Eigenfarbe des Auges erscheinen
zu lassen, müsste es mit einem bestimmten Bruchteil der jeweiligen Be-
lichtung des Umfeldes belichtet werden, d. h. die Lichtstärken beider
Felder müssten in demjenigen Verhältnis zu einander stehen,
welches dem hier eben geltenden Kontrastkoeffizienten ent-
spricht.
Man denke sich nun als Infeld statt des Loches ein graues Papier,
dessen Kreiselwert zum Kreiselwert des umgebenden Magnesiaweiß gerade
in diesem, durch den Kontrastkoeffizienten ausgedrückten Verhältnis steht.
Dieses Lichtstärkenverhältnis würde bei jeder beliebigen gemeinsamen Be-
leuchtung des Um- und Infeldes dasselbe bleiben. Da es dem hier gelten-
den Konstrastkoeffizienten entspricht, so würde der Beobachter, so oft er
das zwischendurch wieder verfinstert gewesene Auge aufschlägt, bei jeder
beliebigen gemeinsamen Beleuchtung des Um- und Infeldes das letztere immer
wieder in derselben Farbe und zwar in demjenigen Grau sehen, dessen
Helligkeit gleich der Durchschnittshelligkeit der Eigenfarbe seines dunkel-
adaptierten Auges wari).
1) Das Eigenhell des verfinsterten Auges erscheint mir nicht als eine vor
den Augen befindliche graue Fläche, sondern als ein raumhafter unsteter Licht-
nebel. Vielleicht würde es besser gelingen, es flächenhaft zu sehen, wenn es
eine wahrnehmbare Grenze zum Rahmen hätte, denn sobald es Nachbilder ent-
hält, wird es für mich zur Fläche. Es ist weder homogen noch stetig, sondern
Hering, Lichtsinn. 9
130 Lehre vom Lichtsinn.
Wir hätten hier also ein Beispiel für die in § 6 erwähnte Konstanz
der Farbe eines Außendinges trotz verschiedener Gesamtbe-
leuchtung des Gesichtsfeldes und, wie hier hinzugefügt werden muss,
auch trotz einem und demselben Anpassungszustande vor jeder Öffnung des
Auges, ein Beispiel aber, welches in seiner ausnahmsweisen Einfachheit seine
Erklärung sogleich mit sich bringt. Dieselbe liegt wie gesagt darin, dass
das Verhältnis zwischen den Lichtstärken des Um- und Infeldes zufällig
gerade dasjenige ist, bei welchem die mit der gemeinsamen Beleuchtung
wachsende und an und für sich verdunkelnde Wirkung des Umfeldes auf
das Infeld durch die ebenfalls wachsende Lichtstärke des letzteren immer
wieder kompensiert wird.
Es ist auch ohne weiteres ersichtlich, dass wenn das als Infeld die-
nende graue Papier eine größere relative Lichtstärke (größeren Kreiselwert)
hätte, als wie sie dem eben geltenden Kontrastkoeffizienten entspricht, seine
Farbe bei zunehmender gemeinsamer Beleuchtung zunehmend weißlicher
(heller) erscheinen müsste. Denn die verdunkelnde Wirkung der wachsenden
Lichtstärke des Umfeldes würde dann unzureichend sein, die erhellende
Wirkung der gleichzeitig wachsenden Lichtstärke des Infeldes immer wieder
genau zu kompensieren. Ebenso ist ersichtlich, dass wenn wir das Infeld
aus einem Grau von kleinerer relativer Lichtstärke (kleinerem Kreiselwert)
gebildet hätten, als wie sie der Kontrastkoeffizient fordert, dieses Grau
mit wachsender gemeinsamer Beleuchtung immer schwärzlicher
werden müsste.
So giebt also dieser einfache Fall von simultaner Kontrastwirkung auch
den Schlüssel für die nach den üblichen Ansichten über das Wachsen der
Helligkeit mit der Lichtstärke paradox erscheinende Thatsache, dass wenn
wir unser dunkeladaptiertes Auge vor einem, entsprechend der gesteigerten
Lichtempfindlichkeit schwach beleuchteten Gesichtsfelde öffnen, nur ein Teil
der beleuchteten Dinge uns weißlicher (heller) erscheint als das kurz zuvor
gesehene Eigengrau unseres Auges, ein anderer Teil dieser Dinge aber, ob-
wohl auch sie Licht in unser Auge schicken, uns sofort schwärzlicher
erscheint, als dieses Eigengrau (vgl. S. 30 u. 70).
Denn aus der Mannigfaltigkeit verschieden lichtstarker Felder, welche
das eben gegebene Gesichtsfeld zusammensetzen, können wir ein beliebiges
auswählen und es uns als Infeld, seine Umgebung bezw. das ganze übrige
Gesichtsfeld aber als sein Umfeld denken. Aus den sämtlichen Einzelwir-
fleckig, wolkig und an derselben Stelle abwechselnd weißlicher und schwärzlicher.
Wie man von einer Meeresebene spricht, obgleich seine Oberfläche stets mehr
oder weniger auf- und abwogt, so spreche ich von der jeweiligen Durchschnitts-
farbe des Sehfeldes. Würde sich uns bei verfinstertem Auge das Sehfeld als
eine homogene Fläche darstellen, so würde man sich leichter mit Anderen über
seine Farbe verständigen können.
§ 30. Die Simultananpassung als Ergebnis des Simultankontrastes. 131
kungen der Einzelstellen dieses Umfeldes, besonders aber aus denen der
nächst benachbarten Stellen wird ein summarischer verdunkelnder Einfluss
auf unser Infeld resultieren. Wäre nun der Reizwert der Lichtstärke des
Infeldes zufällig gerade so groß, dass seine erhellende Wirkung der ver-
dunkelnden des Umfeldes das Gleichgewicht hält, so würde uns das Infeld
in derselben Helligkeit erscheinen wie zuvor das Eigengrau des Auges; ist
aber dieser Reizwert kleiner, so wird das Infeld dunkler als dieses Eigen-
grau gesehen werden, also schwärzlicher bezw. schwarz. Was von dem
einen Einzelfelde gilt, muss auch von jedem anderen gelten; doch wird je
nach seiner Lage im Gesichtsfelde und je nach den Remissionswerten seiner
nächsten Umgebung der für dasselbe geltende Kontrastkoeffizient ein ver-
schiedener und also auch der zur Konstanthaltung seiner Farbe erforder-
liche eigene Remissionswert ein anderer sein.
Die Versuche von Hess und Pretori wurden mit dunkeladaptiertem
Auge angestellt, aber auch für das helladaptierte gelten analoge Erwägungen
wie die eben angestellten. Es genügt zu wissen, dass bei einer Änderung
der gemeinsamen Beleuchtung eines Um- und Infeldes, welche zu rasch
erfolgt, als dass ihr die Successiv-Anpassung des Auges zu folgen vermag,
drei Möglichkeiten für die Farbe des Infeldes vorliegen. Je nach dem
Werte des für letzteres eben geltenden Kontrastkoeffizienten, ferner je nach
dem Verhältnis zwischen den Remissionswerten der beiden Felder, und end-
lich je nach dem unmittelbar vor jener Änderung gegebenen Stande der
successiven Adaptation, kann sich die Helligkeit der Infeldfarbe bald steigern,
bald mindern, bald unverändert bleiben. Immer wird im Gesichts-
felde ein Einzelfeld denkbar oder wirklich vorhanden sein kön-
nen, welches trotz der Änderung der Gesamtbeleuchtung seine
Farbe nicht ändert, für dessen mitgeänderte Lichtstärke also das Auge
infolge des Simultankontrastes sofort wieder derart angepasst ist, dass
ihm die Farbe desselben wieder ebenso wie vor der Beleuchtungsänderung
erscheint.
Eine strenge Gültigkeit der von Hess und Pretori aufgestellten Regel
ist hierzu nicht erforderlich. Das Wesentliche dieser momentanen oder
simultanen Anpassung des Auges liegt darin, dass bei schneller Stei-
gerung der Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes und also auch der Netz-
haut nicht alle Farben der Außendinge weißlicher werden, dass vielmehr
gewisse Dinge ihre Farbe sehr wenig oder gar nicht ändern, andere ihre
Farben in der Richtung nach dem absoluten Weiß hin viel weniger ändern,
als ohne die Simultananpassung der Fall sein müsste, noch andere sogar
schwärzlicher werden; dass ferner bei schneller Minderung der Gesamtbe-
leuchtung ebenfalls gewisse Dinge ihre Farbe wenig oder gar nicht ändern,
andere minder weißlich und noch andere minder schwärzlich werden, als
ohne diese Anpassung zu erwarten wäre.
9*
J^32 Lehre vom Lichtsinn.
Dass nicht nur das Umfeld auf das relativ kleine Infeld, sondern auch
letzteres auf das erstere wirkt, brauchte hier vorerst nicht berücksichtigt zu
werden, wird aber später (Vil. Abschnitt) die nötige Beachtung finden. Es schien
mir wichtig^ bei der obigen Erörterung von jeder Hypothese über das Wesen der
Wechselwirkungen abzusehen, die Feststellung einer Simultananpassung lediglich
durch die beschriebenen Thatsachen des Simultankontrastes zu begründen und so
von jeder Theorie dieser Erscheinungen unabhängig zu machen. Auch wurde im
ganzen V. Abschnitt der Einfachheit wegen an der einseitigen Auffassung fest-
gehalten, als ob es sich beim Simultankontraste nur um ein Mehr oder Weniger
einer verdunkelnden Wirkung, nicht aber auch mit um erhellende Kon-
trastwirkungen handeln könne (vgl. den VII. Abschnitt).
§ 31. Beobachtung des simultanen Helligkeitskontrastes
ohne Vergleichs feld. Wenn es sich nicht um Vergleichung der Hellig-
keiten zweier in verschieden lichtstarker Umgebung befmdUcher Felder, son-
dern um Beobachtung der Helligkeitsänderungen handelt, welche ein und
dasselbe umschlossene Feld trotz gleichbleibender eigener Lichtstärke wäh-
rend einer Änderung der Lichtstärke seiner Umgebung zeigt, so verdient
ein klassischer Versuch von Fechner (25) zuerst erwähnt zu werden.
Stellt man auf eine weiße Fläche ein Petschaft oder einen Stab und
in verschiedenem Abstände von demselben zwei brennende Kerzen, so sieht
man zwei Schatten. Auf den von der näheren bezw. stärkeren Flamme ge-
worfenen, welcher der dunklere ist, mache man eine schwarze Marke und
bringe zwischen den Stab und die nähere Flamme einen kleinen Schirm,
so dass dieser Schatten verschwindet. Fixiert man nach zureichender Pause
die Marke und entfernt dann den Schirm, so verdunkelt sich plötzlich die
unmittelbar zuvor gleich hell wie ihre Umgebung erschienene Schattenstelle,
d. h. man sieht wieder den grauen oder schwarzgrauen Schatten, obwohl
die Lichtstärke der entsprechenden Stelle des weißen Papieres ganz unver-
ändert geblieben ist.
Auch die Lochmethode erweist sich hier vielseitig verwendbar. Man
benutzt z. B. einen großen undurchscheinenden, mit einem Loche versehenen
weißen Schirm, hinter dem sich in zureichendem Abstand ein zweiter klei-
nerer weißer Schirm von derselben Oberflächenbeschaffenheit befindet. Jeder
Schirm muss ganz unabhängig vom andern beliebig stark beleuchtet werden
können.
Zunächst regle man z. B. beide Beleuchtungen so, dass das Loch im
Vorderschirm genau dieselbe Helligkeit zeigt, wie dieser Schirm selbst,
welchenfalls es bei ganz sauberer Beschaffenheit seiner Ränder unsichtbar
werden kann. Nachdem das Auge sich an die gewählte z. B. mittle Licht-
stärke angepasst hat, fixiert man einen behebigen markierten Punkt des
Vorderschirmes und lässt dann die Beleuchtung des letzteren schnell
abschwächen oder verstärken: immer wieder wird man überrascht sein
durch die Helligkeitsänderungen des Loches, dessen eigene, nur von der
§ 31. Beobachtung d. simultanen Helligkeitskontrastes ohne Vergleichsfeld. 133
Beleuchtung des Hinterschirmes abhängige Lichtstärke ganz unverändert
geblieben ist. Nach erfolgter Einstellung des Loches auf gleiche Helligkeit
mit dem Vorderschirm sind sogar bei kleinen Änderungen der Licht-
stärke des letzteren die Helligkeitsänderungen des Loches viel
auffälliger als die des Schirmes selbst und zwar auch dann,
wenn man auf letzteren besonders achtet.
Eine andere von mir vielfach verwendete Versuchsmethode, auf die
noch öfter zurückzukommen sein wird, ist die folgende. Gesetzt man hat
zwei, durch eine Thür verbundene Zimmer zur Verfügung, welche beliebig
beleuchtet oder verfinstert werden können. In der Thüre sei in passender
Höhe eine Öffnung, und der eben erwähnte weiße Vorderschirm sei dicht
an der Thüre so angebracht, dass sein Loch vor diese Öffnung zu liegen
kommt. Im zweiten Zimmer befindet sich in hinreichendem Abstände von
der Thüre der Hinterschirm auf einem Stativ, so dass ihm eine beliebige
Lage zu dem seitlich liegenden lichtgebenden Fenster oder einem im Fen-
sterladen befindlichen verstellbaren Diaphragma bezw. zu einer künstlichen
Lichtquelle gegeben werden kann.
Man giebt z. B. dem Vorderschirm die bestmögliche Beleuchtung und
lässt die des Hinterschirmes soweit mindern, bis das Loch des ersteren
eben schw^arz wird. Nach längerem Verweilen des Auges auf einer größeren
grauen Fläche fixiert man einen Punkt des Vorderschirmes oder auch des
Loches und lässt das vordere Zimmer schnell verfinstern: dabei leuchtet
das eben noch schwarz erschienene Loch auf und erscheint in einem hellen
Weiß. Nun fixiert man einen anderen Punkt des Vorderschirmes und lässt
denselben sofort wieder in der früheren Weise beleuchten: jetzt verdunkelt
sich das soeben noch weiß erschienene Loch und wird wieder schwarz.
Bei alledem kann seine eigene Lichtstärke durchaus unverändert geblieben
sein; denn das etwa vom Gesichte des Beobachters zu dem Hinterschirme
gelangende Licht kommt hier nicht in Betracht und lässt sich übrigens
durch eine schwarze Samtmaske ausschließen, und auch die Veränderung
der Pupillenweite spielt dabei keine wesentliche Rolle. Hält man bei diesen
Versuchen ein Diaphragma, dessen Loch nur 2 mm Durchmesser hat, dicht
vor das Auge, so ändert sich der Erfolg nicht merklich.
Die soeben beschriebenen Versuche sind besonders für diejenigen von
Wichtigkeit, welche im Anschluss an Helmholtz u. A. geneigt sind, die Er-
klärung des reinen Nebenkontrastes in »Urteilstäuschungen« zu suchen.
Hierher gehört eine Thatsache, die vielen Lesern schon bekannt sein
wird. Blickt man bei weit vorgeschrittener Dämmerung durch ein Fenster
nach dem noch schwach erhellten Himmel, so wird derselbe sofort schwarz,
wenn das Zimmer plötzlich stark erleuchtet wird.
Beobachtungen an zwei gleich großen Feldern verschiede-
ner Lichtstärke. Bis hierher wurden nur Fälle in Betracht gezogen,
134 Lehre vom Lichtsinn.
in denen kleine Felder von größeren umschlossen vv^aren, weil dabei aus
noch zu besprechendem Grunde die Erscheinungen des reinen Nebenkon-
trastes besonders eindringliche sind. Derselbe kommt jedoch bei jeden
zwei aneinander grenzenden Feldern verschiedener Lichtstärke in Betracht,
mögen ihre Größen und ihr Größenverhältnis wie immer sein.
Ein besonderer Fall ist der einer gleichen Größe beider Felder. Mit
Hilfe passender Vorrichtungen, wie solche später zu beschreiben sein wer-
den, lässt sich jede Hälfte des Gesichtsfeldes eines Fernrohres unabhängig
von der anderen in bequem zu regelnder Weise beleuchten. Giebt man
zunächst beiden Hälften die gleiche Lichtstärke so, dass das ganze Feld in
demselben mäßig hellen Weiß erscheint, und vergrößert sodann die Licht-
stärke der einen Hälfte, während man unter Fixierung der Grenzlinie auf
die andere achtet, so sieht man diese unverändert gelassene Hälfte deutlich
an Helligkeit verlieren und ihr Weiß verwandelt sich in ein zunehmend
schwärzlicher werdendes Grau. Bringt man wieder beide Hälften auf die
gleiche anfängliche Lichtstärke zurück und vermindert dann nach zureichend
langer Pause die Lichtstärke der einen Hälfte, so sieht man die andere
heller werden und ihr Weiß verwandelt sich in ein immer reiner werden-
des Weiß. Es ändern sich hierbei gleichzeitig beide Hälften, stärker die-
jenige, deren Lichtstärke verändert wird, schwächer die andere von un-
veränderter Lichtstärke.
Versuche nach Analogie des soeben beschriebenen sollen stets nur an solchen
Farbenfeldern angestellt werden, welche nicht an einen bestimmten Träger der
Farbe erinnern. Blickt man z. B. durch eine Dunkelröhre auf ein mattschwarzes
Papier, so erscheint dasselbe heller, und wer es nicht zuvor ohne die Bohre
gesehen hat, nimmt es für ein graues Papier. Schiebt man dann auf dem
schwarzen Papier ein weißes soweit in das Gesichtsfeld der Bohre, dass es dessen
eine Hälfte einnimmt, so kann man von verschiedenen Beobachtern verschiedene
Angaben erhalten. Der eine sagt, das Papier der anderen Hälfte sei jetzt schwarz
geworden, ein anderer, es habe seine Farbe nicht geändert. Hier treten die
Gedächtnisfarben (§ 4) mit ins Spiel. Daher haben solche Versuche wohl psy-
chologisches, aber vorerst noch kein physiologisches Interesse. Ich erwähne
dies nur, um ein Beispiel für die Vermengung der Kontrasterscheinungen mit
solchen Erscheinungen zu geben, welche durch Einmischung einer auf indivi-
dueller Erfahrung beruhenden Beproduktion bedingt sind.
Überhaupt könnten Thatsachen von der Art der in diesem Paragraphen
besprochenen zu Gunsten der Ansicht verwertet werden, nach welcher alle simul-
tanen Helligkeitskontraste darauf beruhen sollten, dass sich dabei »der Begriff
des Weiß« verschiebt. Da sich aber dieser »Begriff des Weiß« nicht nach zwei
entgegengesetzten Bichtungen zugleich verschieben kann, so versagt diese Art
von Erklärung von vornherein in allen den Fällen, wo sich wie in den in § 26
beschriebenen Fällen innerhalb einer und derselben Kontrastfigur gleichzeitig eine
Erhellung und eine Verdunkelung durch Simultankontrast zeigt. Wollte man
aber in solchen Fällen doch behaupten, dass der »Begriff des Weiß« sich gleich-
zeitig für die eine Hälfte der Figur in der einen, für die andere in der anderen
§ 32. Vom simultanen Grenzkontrast. 135
Richtung verschieben könne, so müsste man sich doch der Mühe unterziehen,
die Gesetze dieser rein lokalen Begriffsverschiebungen festzustellen und also
das Analoge von dem zu thun, was vs^ir im Obigen versucht haben.
Das Weitere wird übrigens so zwingende Beweise gegen die früher übliche
und noch immer wenigstens teilweise verteidigte Erklärung des Nebenkontrastes
aus »unbewussten Urteilen oder Schlüssen« bringen, dass mir eine ausführliche
Kritik derartiger Auffassungen nicht mehr nötig erscheint.
Die Beobachtung des Nebenkontrastes an einem Felde, das aus zwei
gleich großen, verschieden lichtstarken Hälften besteht, zeigt uns, dass wir
bei allen früher besprochenen Kontrasterscheinungen einer einseitigen Auf-
fassung insofern gefolgt sind, als wir immer nur einen Einfluss des um-
schließenden Feldes auf das umschlossene in Betracht gezogen haben. Ab-
sichtlich habe ich bisher keine Rücksicht darauf genommen, dass wenn
es sich um eine gegenseitige funktionelle Abhängigkeit der somatischen
Sehfeldstellen handeln soll, die jeweilige Regung im umschlossenen Sehfeld-
bezirke auch auf die Regung im umschließenden von Einfluss sein kann.
Im Falle gleicher Größe der beiden aufeinander wirkenden Felder ist es
gleichgültig, welches von beiden wir zum »kontrastwirkenden« und welches
zum »kontrastleidenden« wählen wollen. Aber aus zwei Gründen em-
pfahl es sich, bei der Vorführung der Kontrasterscheinungen nicht mit
diesem einfachsten Falle zu beginnen. Erstens können wir uns bei dem-
selben von der durch Kontrast bewirkten Helligkeitsänderung nicht auf
Grund einer Simultanvergleichung mit einem dritten Felde überzeugen, das
nicht derselben Kontrastwirkung unterliegt, sind vielmehr auf die successive
Vergleichung der anfänglichen mit der durch Kontrast veränderten Hellig-
keit angewiesen. Zweitens sind die durch Simultankontrast bewirkten Hel-
ligkeitsänderungen auf einem kleinen an zwei Seiten oder allseitig von dem
»kontrastwirkenden« Felde umschlossenen Bezirke viel stärker, als an einem
nur einseitig von gleich großem wirkenden Felde begrenzten. Dies hat
seinen Grund darin, dass, wie sogleich zu erörtern sein wird, die Stärke der
Wechselwirkung zweier somatischen Sehfeldelemente mit deren gegenseiti-
gem Abstand rasch abnimmt. Hierfür wird der nächste Paragraph Belege
bringen.
§ 32. Vom simultanen Grenzkontrast. Wenn Felder von un-
gleicher Lichtstärke aneinandergrenzen, so sieht man unter günstigen Um-
ständen, und zwar zuweilen auch bei Ausschluss jedes Nachkontrastes, in
der Nähe der Grenzlinie des lichtstärkeren Feldes eine Zunahme seiner Hellig-
keit, welche an der Grenzlinie selbst ihr Maximum erreicht, während um-
gekehrt die Helligkeit des lichtschwächeren Feldes an der Grenzlinie am
kleinsten ist und mit dem Abstände von derselben schnell zunimmt. Be-
sonders deutlich ist dieser Grenzkontrast auf einem schmalen Felde von
gleichmäßiger Lichtstärke, welches zwischen einem lichtstärkeren und einem
136
Lehre vom Lichtsinn.
lichtschwächeren liegt; die Helligkeit eines solchen wächst von der einen
Grenze bis zur anderen. Solche schmale Felder lassen sich leicht auf
einem Farbenkreisel herstellen (vgl. Helmholtz i, S. 413). Wenn man z. B.
eine Scheibe, wie sie Fig. 28 um die Hälfte verkleinert darstellt, zureichend
schnell rotieren lässt, so erscheint sie wie Fig. 1 , Taf. HI, welche ein photo-
typisches Abbild der rotierenden Scheibe ist. Die einzelnen konzentrischen
Ringe, deren Lichtstärke stufenweise von außen nach innen abnimmt, er-
scheinen derart abschattiert, dass jeder an der Grenze des nächst größeren
Fig. 28.
und lichtstärkeren Ringes dunkler, an der Grenze des nächst kleineren und
lichtschwächeren heller ist, als in seiner Mittelzone. In Wirklichkeit ist die
Lichtstärke jedes Ringes in seiner ganzen Breite dieselbe, wovon man sich
überzeugen kann, wenn man aus einem grauen Papier ein Fenster in Form
eines Ringsektors ausschneidet, welcher genau auf einen Ring der Figur
passt, so dass beim Auflegen des Papieres nur der entsprechende Teil
dieses Ringes sichtbar ist.
Die Bedingungen für die Wahrnehmung des Grenzkontrastes sind hier
besonders günstige, weil der Kontrast an der einen Grenze jedes Ringes in
entgegengesetztem Sinne wirkt als an der anderen.
er-
^
1 Grasfe-Saemisch^ Handbuch, 2. Aufl., T. Teil, III. Band, Kap. XII.
Tafel III.
Zu Seite 136 u. 141.
Fig. 1
Fiff. 2.
Verlag von Wilhelm Engelniann in Leipzig.
§ 32. Vom simultanen Grenzkontrast. 137
Um festzustellen, inwieweit die Erscheinung auch bei Ausschluss des
Nachkontrastes sichtbar ist, stellt man wieder nahe vor der Scheibe einen
stumpf endenden Draht auf, schiebt dicht hinter denselben ein steifes graues
Blatt, welches die Scheibe verdeckt, lässt dann die Scheibe rotieren und
fixiert mit einem Auge das womöglich etwas glänzende Drahtende. Wird
dann das graue Blatt schnell weggezogen, so sieht man günstigenfalls und
zwar sofort eine ungleiche Helligkeit innerhalb des hinter dem Drahtende
erscheinenden Ringes, besonders dann, wenn sich das erstere auf einen
Punkt der Mittellinie des Ringes projiziert. Übrigens aber kann man dabei
auch an weiter indirekt gesehenen Ringen Grenzkontraste wahrnehmen.
Bei diesen durchaus nicht leichten Beobachtungen gilt es, besonders
den ersten Eindruck zu erfassen, weil bei etwas längerem festen Fixieren die
Ringe sehr bald in ihrer ganzen Breite gleich hell werden. Fixiert man
aber nicht ganz fest, so mischt sich sofort wieder der Nachkontrast ein.
Am überzeugendsten hat auf mich die folgende Beobachtung gewirkt.
Die rotierende Scheibe war direkt von der Sonne beschienen; dicht vor
meinem Auge befand sich ein Momentverschluss, welcher mir die Scheibe
nur während Y40 Sekunde sichtbar machte. Dabei sah ich den Grenzkon-
trast deutlich und zwar auch noch im Nachbilde (III. Phase). Nie aber ist
die Erscheinung bei Ausschluss der Augenbewegungen so eindringlich wie
beim Sehen mit bewegtem Blicke.
Eine vorläufige Erklärung des Grenzkontrastes ergiebt sich aus der
Annahme, dass die einzelnen Elemente des somatischen Sehfeldes unter ein-
ander derart in Beziehung stehen, dass die durch Bestrahlung bedingte
Regung eines Elementes auf die gleichfalls durch Bestrahlung gereizten
Elemente seiner Umgebung um so stärker wirkt, je näher sie dem
ersteren sind. Da sich diese Wechselwirkung, wie schon in § 28 erwähnt
wurde, nicht bloß zwischen verschieden stark, sondern auch zwischen gleich
stark gereizten Elementen geltend macht, so werden die einzelnen Teile
eines gleichmäßig belichteten Sehfeldbezirkes sich gegenseitig verdunkelnd
beeinflussen und minder hell erscheinen, als ohne diese Wechselwirkung
der Fall wäre. Die nahe der Grenze eines Feldes befindlichen Elemente
werden jedoch, wenn dasselbe an ein lichtschwächeres grenzt, von seilen
der Elemente des letzteren minder stark verdunkelnd beeinflusst sein, als
von selten der dem eigenen Felde angehörigen Elemente, weil diese stärker
belichtet sind als jene. Dagegen sind die von der Grenze weiter abliegen-
den Elemente des lichtstärkeren Feldes allseitig von stärker belichteten
umgeben und daher einer stärkeren Verdunkelung ausgesetzt, als die Grenz-
elemente desselben Feldes. Die Folge ist, dass das lichtstärkere Feld an
der Grenze eine größere Helligkeit zeigt als im übrigen. Umgekehrt können
die der Grenze näher liegenden Elemente des lichtschwächeren Feldes einer
stärkeren Verdunkelung unterliegen, als seine weiter abliegenden, weil
138
Lehre vom Lichtsinn.
letztere allseitig, erstere aber nur einseitig von schwächer belichteten Ele-
menten beeinflusst sind.
So versteht man, dass an der Grenze zweier Felder von verschiedener
Lichtstärke das lichtstärkere eine nach der Grenzlinie hin zunehmende, das
lichtschwächere eine abnehmende Helligkeit zeigt, wie dies in Fig. i , Taf. III
auch bei Ausschluss des Successivkontrastes bemerklich ist, wenn gleich hier
wegen der mangelhaften Homogeneität der einzelnen Ringe nicht so erheb-
lich wie auf der rotierenden Scheibe selbst.
Die bei obiger Erklärung des Grenzkontrastes gemachte Voraussetzung, dass
das Ergebnis der Wechselwirkung der Sehfeldstellen stets in einer Verdunklung
bestehe, wäre nach einer im VIL Abschnitt mitzuteilenden Theorie der Wechsel-
Fig. 29.
Wirkung nur insoweit zutreffend, als es sich ausschließlich um übermittelgraue
Felder handelt, d. h. also um solche, deren Weißlichkeit größer ist als ihre
Schwärzlichkeit, während für untermittelgraue Felder eine Erhellung durch
Wechselwirkung in Betracht käme. Hier kam es zunächst nur darauf an,
überhaupt verständlich zu machen, wie infolge der Wechselwirkung der Sehfeld-
stellen ein Grenzkontrast entstehen kann. Ob die Helligkeit des helleren Feldes
in der Nähe seiner Grenze deshalb zunimmt, weil es hier weniger verdunkelt,
oder aber, weil es hier stärker erhellt wird als im übrigen, ändert nichts an
der vorerst allein in Betracht kommenden Thatsache, dass es an der Grenze
heller ist als im übrigen. Die analoge Erwägung gilt mutatis mutandis betreffs
der nach der Grenze hin zunehmenden Schwärzlichkeit des dunkleren Feldes.
Daraus dass die Wirkung des Nebenkontrastes in der Nähe der Grenz-
linie zweier Felder von verschiedener Lichtstärke besonders deutlich ist, erklärt
sich die Deutlichkeit desselben auf kleinen umschlossenen Feldern. Befindet
§ 32. Vom simultanen Grenzkontrast. 139
sich z. B. in einem Felde von sonst gleichmäßiger Lichtstärke ein schmaler
Streifen, welcher lichtsehwächer oder lichtstärker ist als das übrige Feld, so
wirkt der Grenzkontrast von zwei Seiten her verdunkelnd bezw. erhellend auf
ihn, und wenn die Kontrastwirkung nur proportional mit dem Abstände von
der Grenzlinie abnähme, so würde diese Wirkung in jedem Punkte des Streifens
gleich groß sein und der letztere ganz gleichmäßig verdunkelt bezw. erhellt er-
scheinen müssen. Doch ist uns das Gesetz, nach welchem im vorhegenden
Falle die Kontrastwirkung mit dem Abstände von der Grenzlinie abnimmt, nicht
bekannt.
Liegt ein kleines kreisförmig umschlossenes Feld auf einem Felde von an-
derer Lichtstärke, so erstreckt sich der Grenzkontrast von der Peripherie her
sozusagen konzentrisch ins Innere des Feldes und dasselbe wird von allen Seiten
her verdunkelt bezw. erhellt.
Fig. 30.
Ein weiteres Beispiel für die Abnahme des Simultankontrastes mit der
Entfernung liefert Fig. 29, auf die zuerst L. Hermann aufmerksam machte
(31, S. 19). An jeder indirekt gesehenen Kreuzungsstelle zweier weißer
Streifen erscheint bei bewegtem Blick ein sehr verwaschener grauer Fleck,
weil diese Stelle in viel umfassenderer Weise von gleich lichtstarken Teilen
umgeben ist, als jede andere gleichgroße Stelle der weißen Streifen (vgl.
VIL Abschnitt). Die Erscheinung verschwindet rasch beim Festhalten des
BUckes, und zwar infolge einer lokalen Anpassung, die später zu besprechen
sein wird. Doch ist sie in den ersten Momenten nach dem Sichtbarwerden
der Figur auch bei unbewegtem Auge in den indirekt gesehenen Teilen der
Figur bemerklich und gehört insoweit mit zu den Erscheinungen des reinen
X40 Lehre vom Lichtsinn.
Simultankontrastes; als ich die Figur ins direkte Sonnenhcht legte und
nur durch 1/40 Sekunde sichtbar machte, konnte ich die grauen Flecke im
indirekten Sehen wahrnehmen.
Das Gegenstück zu Fig. 29 ist Fig. 30, in welcher an den Kreuzungs-
stellen der schwarzen Streifen ein hellerer Fleck erscheint. —
Grenzt ein lichtstärkeres Feld an ein lichtschwächeres, so fällt die
Lichtstärke des ersteren gleichsam senkrecht zu der des lichtschwächeren
Feldes ab. Ein Grenzkontrast kann sich aber, wenigstens bei bewegtem
Blicke, auch dann zeigen, wenn dieser Abfall ein allmählicher ist und die
Hochebene der größeren Lichtstärke sozusagen mittels einer mehr oder
weniger steilen Böschung in die Tiefebene der kleineren Lichtstärke über-
geht. Dies gilt z. B. für die folgenden Fälle, bei welchen der Abfall
ein allmählicher ist. Sie gehören zu den Kontrasterscheinungen, welche
E. Mach in einer Reihe von Mitteilungen (13, 1865 — 1868 und 1906)
beschrieben und diskutiert hat i). Obwohl diese Erscheinungen nach
meiner Ansicht viel mehr dem successiven als dem simultanen Kon-
traste zu verdanken sind , will ich sie doch schon hier zur Sprache
bringen, weil es Mach gelungen ist, einzelne derselben, wenngleich minder
deutlich, auch bei Beleuchtung mit dem elektrischen Funken wahrzu-
nehmen.
Wenn der Schatten der Kante eines besonnten undurchsichtigen Schir-
mes oder dergl. auf eine zureichend von letzterem entfernte homogene graue
oder weiße Fläche fällt, so sieht man an der Grenze des im vollen Sonnen-
lichte liegenden Teiles die Helligkeit desselben zunehmen, so dass er hier
durch einen helleren Streifen vom Halbschatten geschieden erscheint, ob-
wohl in Wirklichkeit seine Lichtstärke bis an die Grenze des Halbschattens
dieselbe ist. Dagegen erscheint der Kernschatten nahe seiner Grenze
schwärzlicher als im übrigen, so dass er durch einen dunkleren Streifen
von dem beginnenden Halbschatten getrennt erscheint, obwohl auch der
Kernschatten überall von gleicher Lichtstärke ist.
<) Diese Mitteilungen sind reich an interessanten Beobachtungen und scharf-
sinnigen Versuchen und enthalten eine Reihe wichtiger Anregungen, haben aber
wenig Beachtung gefunden. Infolgedessen ist ein Teil der von Mach entdeckten
Thatsachen später als neu beschrieben worden. Er hat das Problem der simultanen
Kontrastwirkung allgemein behandelt und kürzlich (1 3 V, S. 634) das »Thatsächliche«
seiner Beobachtungen in folgender Weise zusammengefasst : >Die Beleuchtung einer
Netzhautstelle wird nach Maßgabe der Abweichung dieser Beleuchtung von dem
Mittel der Beleuchtungen der Nachbarstellen heller, beziehungsweise dunkler
empfunden, je nachdem ihre Beleuchtung ober, beziehungsweise unter jenem
Mittel liegt. Das Gewicht der Netzhautstellen in jenem Mittel ist hierbei als mit
der Entfernung von der betrachteten Stelle rasch abnehmend zu denken.« Ich
werde auf diese von Mach aufgestellte Regel sowie auf seine treffenden Be-
merkungen über die Bedeutung der Wechselwirkung der Sehfeldstellen für das
Sehen der Konturen zurückkommen.
§ 33. Die Ursachen der Abirrung des Lichtes im Auge. 141
Diese Erscheinungen des Grenzkontrastes sind jedoch nur dann auf-
%llend, wenn man in zwangloser Weise und also mit bewegtem Blicke
beobachtet. Sie verschwinden auch schnell wieder, wenn man einen Punkt
der Fläche fest fixiert. Tauchen sie dann wieder auf, so kann man sicher
sein, dass das Auge sich wieder bewegt hat. Markiere ich auf der teil-
weise beschatteten Fläche in oder neben dem Halbschatten einen Punkt,
lasse durch einen größeren Schirm die Sonne abhalten, fixiere nach längerer
Pause jenen Punkt und lasse dann sofort letzteren Schirm schnell weg-
ziehen, so sehe ich nichts von der beschriebenen Kontrasterscheinung, so-
lange ich das Auge ganz ruhig halle. Andere Beobachter bestätigten mir
dies, womit nicht ausgeschlossen sein soll, dass unter besonders günstigen
Umständen die Erscheinung auch ohne Mithilfe des Nachkontrastes wahr-
genommen werden kann.
Wenn ein Zimmer das Licht des freien Himmels durch einen im
Fensterladen befindlichen schmalen Ausschnitt erhält, dessen Breite mittels
eines Schiebers geändert werden kann, und man stellt ihm gegenüber einen
weißen von einem zweiten Schirme teilweise beschatteten Schirm auf, so
lässt sich dem Halbschatten eine beliebige Breite geben und die anderweite
Beleuchtung des beschatteten Schirmes durch ein zweites Fenster von ver-
änderlicher Größe regeln. Dies ist für die genauere Untersuchung des
Phänomens von besonderem Werte. Fig. 2, Taf. HI ist die Kopie eines
unter solchen Umständen photographierten Halbschattens. Sie ist nicht
ganz treu, veranschaulicht aber gut das Wesentliche der Erscheinung.
Auch mit einer ruhig brennenden Kerze und zwei kleinen verschieb-
baren Schirmen lassen sich in einem Dunkelzimmer solche Erscheinungen
sehr gut hervorbringen, wobei man das Licht der Kerze vom Auge abzu-
halten hat. Durch eine zweite Kerze lässt sich auch hier dem beschatteten
Schirm eine variable Lichtstärke geben.
Über andere Methoden vgl. Mach, welcher auch rasch rotierende Schei-
ben und Cylinder benutzt hat, um analoge Verteilungen der Lichtstärke auf
einer Fläche herbeizuführen.
VI. Abschnitt.
Das falsche Licht im Netzhautbilde.
§ 33. Die Ursachen der Abirrung des Lichtes im Auge. Die
große Abhängigkeit der Sehschärfe von der Beleuchtung der Sehproben,
welche so weit geht, dass bei Ausschluss einer Änderung der allgemeinen
Adaptation schon die lokale Herabsetzung der Beleuchtung auf halbe
Stärke eine merkliche Herabsetzung der Sehschärfe herbeiführen kann
(vgl. § 21), steht in auffälligem Widerspruche zu der herrschenden Ansicht,
142 Lehre vom Lichtsinn.
nach welcher bei gleichbleibendem Verhältnisse zweier Lichtstärken der
Unterschied der von ihnen erzeugten Lichtempfindungen innerhalb weiter
Grenzen von der absoluten Größe der Lichtstärken unabhängig sein soll.
Sie führt, wie in § 36 näher dargelegt werden soll, zu dem Schlüsse, dass
das Netzhautbild auch bei bester Akkommodation des normalen Auges ein
viel ungenaueres ist, als man anzunehmen pflegt, und dass seine Konturen
viel verwaschener sind, als sie dank der Wechselwirkung der Sehfeldstellen
uns erscheinen. Dies nötigt dazu, die Ursachen der Ungenauigkeit des
Netzhautbildes im normalen und gut akkommodierten Auge eingehender zu
erörtern, ehe wir zur Theorie jener Wechselwirkung übergehen.
Fällt direktes Sonnenlicht durch ein kleines Loch im Fensterladen eines
Dunkelzimmers, so sieht man bekanntlich die Bahn des Lichtes schwach
leuchtend infolge der in der Zimmerluft schwebenden Staubteilchen, während
in reiner Luft diese Bahn unsichtbar bleibt. In reinem Wasser oder Glas
aber ist, wenn anderes Licht vom Auge abgehalten wird, die ganze Bahn
eines Sonnenstrahlbündels sichtbar. »Jede feste und flüssige durchsichtige
Substanz, welche wir kennen, zerstreut kleine Mengen des Lichtes, welches
durch sie hindurchgeht, jiach allen Seiten und erscheint deshalb, wenn
starkes Licht durch sie hindurchgeht, selbst schwach erleuchtet.« (Helm-
HOLTZ 2, S. 553.) Ohne jede Vorsichtsmaßregel konnte ich im Dunkel-
zimmer den Weg eines Sonnenstrahlbündels, das ich durch ein Jenenser
Glas gehen ließ, deutlich leuchten sehen, und zwar nicht infolge jener
Fluorescenz, welche bei manchen Glassorten vorkommt, und sich durch
die Farbe verrät.
»Man kann sich,« sagt Helmholtz 1. c, »bei objektiven Versuchen mit
Glaslinsen leicht überzeugen, dass das diffus zerstreute Licht immer am
stärksten in der Nähe des regelmäßig gebrochenen Lichtbündels ist und
schwächer wird, je weiter man sich von diesem entfernt. Lässt man
Sonnenlicht durch die Öfl'nung eines schwarzen Schirmes auf eine ent-
fernte Linse fallen, und fängt das Bild der hellen Öffnung auf einem weißen
Schirme auf, so sieht man das helle Bildchen von einem weißen Nebel-
schein umgeben, der auch sichtbar wird, wenn man das Bild der hellen
Öffnung selbst dicht am Rande des Schirmes vorbeigehen lässt. Jener
weiße Nebelschein ist also keine im Auge entstehende Irradiation, sondern
eine objektive Erscheinung. Noch besser sieht man es, wenn man in dem
Schirm eine kleine Öffnung macht, die man dem Bilde der hellen Öffnung
nahe bringt, ohne sie aber damit zusammenfallen zu lassen. Blickt man
durch die Öffnung des Schirmes nach der Linse, so erscheint diese desto
heller erleuchtet, je näher man dem optischen Bilde der Lichtquelle
kommt. «
Nach alledent ist von vornherein zu erwarten, dass von jedem, die
optischen Medien des Auges durchsetzenden Lichtbündel ein kleiner Teil
§ 33. Die Ursachen der Abirrung des Lichtes im Auge. 143
selbst dann diffus zerstreut werden würde, wenn dieselben ebenso »homogen«
wären, wie reines Wasser oder Glas. Thatsächlich aber gesellt sich noch
die viel stärkere zerstreuende Wirkung der mangelhaften Homogeneität der
Hornhaut und der Linse, sowie die Wirkung der entoptischen Objekte im
Glaskörper, eventuell an der Vorderfläche der Hornhaut und im Kammer-
wasser hinzu. Jeder Augenarzt weiß, dass, wenn man starkes Licht durch
eine Konvexlinse in der Corneal- oder Linsensubstanz sammelt, dieselben
weißlich trübe erscheinen.
So giebt schon allein die mangelhafte Homogeneität der optischen Medien
des Auges reiche Gelegenheit dazu^ dass ein kleiner Bruchteil des von
einem Außendinge kommenden Lichtes gleichsam von der richtigen Bahn
abirrt und außer der Stelle des bezüglichen Netzhautbildes einen kleineren
oder größeren Bezirk der umgebenden Netzhaut fälschlich mit beleuchtet.
Auch auf die Beugung des Lichtes am Pupillenrande ist hier zu verweisen
(Helmholtz).
Um sich unter ganz gewöhnlichen Umständen bei Taganpassung des
Auges eine Anschauung von der Ausbreitung des diffus abirrenden Lichtes
zu verschaffen, halte man einen mattschwarzen, mit einem kleinen Loche
versehenen Schirm in mittler Sehweite so vor ein Fenster, dass letzteres
bis auf das Loch dem Auge gänzlich verdeckt wird, und durch das Loch
ein entsprechend kleines Stück des hellen Himmels erscheint. Zunächst
verdeckt man auch das Loch durch einen dahinter gehaltenen mattschwarzen
Schirm. Zieht man dann letzteren bei festgestelltem Auge weg, so sieht
man sofort um das leuchtende Loch einen hellen Saum, der in unmittel-
barer Nähe des Loches am hellsten ist, und sich mit abnehmender Hellig-
keit, je nach den Umständen mehr oder weniger weit sichtbar, in das
dunkle Sehfeld erstreckt. Da der das Loch umgebende Lichthof viel breiter
sein kann, als das Loch selbst, und man sich die ganze nach Entfernung
des Schirmes sichtbare, vom Fenster umrahmte Himmelsfläche aus kleinen
Teilflächen zusammengesetzt denken kann, deren jede denselben Sehwinkel
hat, wie das Loch, und ebenso wie dieses einen Lichthof zu erzeugen ver-
mag, so ergiebt sich, dass innerhalb des Netzhautbildes jede einzelne Netz-
hautstelle unter dem Einflüsse ganzer Scharen solcher Lichthöfe steht. Auf
diese Weise gewinnt man eine Vorstellung von der großen Menge falschen
Lichtes, welches sich über die Netzhaut ergießen kann.
Eine Flamme oder andere intensive Lichtquelle erscheint uns vor einem
finsteren Hintergrunde schon bei Tage von einem großen leuchtenden Hofe
umgeben, wieviel mehr des Abends in einem mangelhaft erleuchteten Zimmer.
In einem Dunkelzimmer vermag selbst ein kleines intensiv leuchtendes
Außending, abgesehen von seiner Bildstelle und deren nächster Umgebung,
auch die ganze übrige Netzhaut hinreichend zu beleuchten, um das ganze
Sehfeld heller erscheinen zu lassen. Je lichtempfindlicher das Auge durch
144 Lehre vom Lichtsinn.
Dunkelanpassung geworden ist, eine desto geringere Lichtintensität eines
Außendinges ist erforderlich, um sein abirrendes Licht wahrzunehmen. Bei
maximaler Lichtempfmdlichkeit kann sogar der scheinbar paradoxe Fall
eintreten, das ein kleines, im sonst ganz lichtfreien Gesichtsfelde liegendes
lichtschwaches Objekt, wenn es sich auf der Netzhautgrube abbildet, nicht
unterschieden werden kann, während seine Umgebung infolge des falschen
Lichtes hell erscheint, weil das längere Zeit verfinstert gewesene Auge für
die excentrischen Teile des Gesichtsfeldes viel lichtempfindlicher ist als für
den fixierten. Ein solcher Fall tritt insbesondere ein, wenn das kleine sehr
lichtschwache Objekt vorwiegend oder ausschließlich kurzwelliges Licht aus-
sendet, welches in trüben Medien viel mehr zerstreut wird als langwelliges.
Man sieht hier das falsche Licht, nicht aber das auf der Netzhautgrube
liegende Bild, von dem es abgeirrt ist.
Eine zweite wesentliche Ursache falschen Lichtes ist das von jeder
beleuchteten Netzhautstelle zerstreut reflektierte und die ganze übrige Netz-
haut schwach bestrahlende Licht. Erzeugt man sich im Dunkelzimmer auf
einer möglichst excentrischen Netzhautstelle das Bildchen einer Flamme, so
bestrahlt dasselbe bekanntlich wieder die übrige Netzhaut so erheblich, dass
die Blutgefäße derselben einen sichtbaren Schatten auf die Empfangschichte
der Netzhaut werfen, der bei jeder Verschiebung des leuchtenden Netz-
hautbildchens seinen Ort etwas ändert.
Eine besonders günstige Bedingung für die Bestrahlung der Gesamt-
netzhaut durch ein lichtes Netzhautbild ist dann gegeben, wenn letzteres
auf die Eintrittstelle des Sehnerven zu liegen kommt, wo die Lichtabsorp-
tion durch das Pigment wegfällt. In einem Dunkelzimmer befinde sich
eine brennende Kerze oder noch besser ein elektrisches Glühlicht in einer
Mattglaskugel. Man verdeckt ein Auge und richtet das andere so, dass
Flamme oder Glühlicht sich im blinden Flecke abbilden, sichert durch eine
Marke an der Wand den Fixierpunkt und verdeckt sodann durch einen
kleinen Schirm die Lichtquelle für das offene Auge. Sobald man den Schirm
wieder entfernt, sieht man das ganze Gesichtsfeld aufleuchten und zwar
weitaus am stärksten in der dem blinden Flecke entsprechenden Gegend,
ohne doch die Flamme oder elektrische Lampe selbst wahrzunehmen.
Eine dritte Quelle falschen Lichtes ist für die Netzhaut das durch die
Sklera und die Iris ins Auge dringende Licht. Bei stärkerer seitlicher Be-
leuchtung des Augapfels oder schwacher Pigmentierung seiner Vorderhälfte
ist die auf diese Weise eindringende und die ganze Netzhaut bestrahlende
Lichtmenge sogar sehr erheblich, worauf gelegentlich zurückzukommen
sein wird.
Mit alledem sind die Anlässe zu einer, der Lichtverteilung im Gesichts-
felde nicht entsprechenden Lichtverteilung im Netzhautbilde noch nicht er-
schöpft. Es kommt hinzu, dass die Umrisse der Einzelteile des Netzhaut-
§ 34. Einfluss des falschen Lichtes auf die DeutUchkeit des Sehens. 145
bildes stets mehr oder weniger verwaschen, mindestens nie so scharf sind,
wie man es auf Grund der theoretischen Dioptrik des Auges anzunehmen
pilegt. Dies wird später näher zu erörtern sein.
Nie darf man vergessen, dass eine gänzlich unbeleuchtete Stelle auf
der Netzhaut unmöglich ist, solange andere Stellen derselben irgendwie be-
leuchtet sind. Das Netzhautbild des Loches in dem früher beschriebenen
Dunkelkasten ist, abgesehen von dem minimalen aus dem Kasten zurück-
kommenden Licht, noch außerdem um so stärker belichtet, je mehr be-
leuchtete Dinge sich außer ihm auf der Netzhaut abbilden.
Bei gegebenem Gesichtsfelde ist die Stärke alles falschen Lichtes direkt
proportional zur Stärke der Beleuchtung des Gesichtsfeldes und zum Flächen-
werte der Pupille.
§ 34. Einfluss des falschen Lichtes auf die Deutlichkeit des
Sehens. Wie im § 19 gezeigt worden ist, wird der Helligkeitsunterschied,
mit welchem uns zwei verschiedene Lichtstärken erscheinen, unter sonst
gleichbleibenden Umständen verkleinert, wenn man beiden Lichtstärken
einen gleich großen Zuwuchs erteilt. Ebenso muss die Deutlichkeit sich
mindern, wenn die verschiedenen Lichtstärken der Einzelteile eines Netz-
hautbildes einen beiläufig gleichen Zuwuchs durch das über sie ergossene
diffus abirrende Licht erfahren, und so die relativen Unterschiede ihrer
Lichtstärken und damit zugleich die Helligkeitsunterschiede verkleinert
werden.
Das Gesichtsfeld sei beleuchtet, ohne dass das durch die Fenster ein-
fallende Himmelslicht oder das beleuchtende künstliche Licht unsere Netz-
haut direkt zu treffen vermag. Von jedem, einem beleuchteten Flächen-
elemente des Gesichtsfeldes entsprechenden Strahlbündel irrt also schon
beim Durchgang durch die optischen Medien des Auges ein, wenn auch
noch so kleiner Teil nach den verschiedensten Richtungen, insbesondere
aber in die Umgebung des jenem Elemente zugehörigen Netzhautbildes ab,
und letzteres bestrahlt wieder, wenn auch noch so schwach, die ganze
übrige Netzhaut. Aus der Summation aller dieser minimalen abirrenden
Lichtmengen ergiebt sich erstens eine über die ganze Netzhaut ausgebreitete
falsche Beleuchtung, welche sich überall dem Lichte der Netzhautbilder
hinzufügt, und zu diesem allgemeinen falschen Lichte gesellt sich an der
Grenze des einzelnen Netzhautbildes noch das von eben diesem Bilde ab-
geirrte Licht, welches dicht an der Grenzlinie am stärksten ist und all-
mählich abnehmend in das allgemeine abgeirrte Licht übergeht. Das letztere
verdankt seine Entstehung der Gesamtheit des auf der Netzhaut Abgebil-
deten, das örtlich abgeirrte Licht aber ist ein Abkömmling des einzelnen
Netzhautbildes ; es umgiebt mit derselben relativen Stärke das hchtschwächste
wie das lichtstärkste Bild, bemerklich aber wird es unter sonst günstigen
Hering, Lichtsinn. 4 0
146 Lehre vom Lichtsinn.
Umständen nur insoweit, als es von einem lichtstärkeren Bilde auf eine
lichtschwache Umgebung abirrt.
Wo immer falsches Licht sich über ein Netzhautbild ausbreitet, mindert
es zwar die Deutlichkeit des Sehens, doch macht sich dies nur in beson-
deren Fällen störend bemerkbar, wenngleich es dem aufmerksamen Beob-
achter viel häufiger begegnet. Wenn freilich die Lichtquellen, welche unser
Gesichtsfeld beleuchten, selbst einen Bestandteil desselben ausmachen, und
die Fenster, durch die das Ilimmelslicht einfällt, oder die brennende Lampe
sich gleichzeitig mit den beleuchteten Dingen auf der Netzhaut abbilden,
dann wird das falsche Licht so stark, dass es uns, wie man zu sagen
pflegt, blendet. Auch wenn die Lichtquelle nicht so intensiv ist, dass
sie eine schmerzhafte oder wenigstens unangenehme Empfindung hervor-
ruft, wird sie doch unbequem dadurch, dass sie das deutliche Sehen be-
einträchtigt und zwar um so mehr, je lichtschwächer die übrigen Netz-
hautbilder im Vergleich zum Bilde der Lichtquelle sind. Ein am Zwischen-
pfeiler zweier Fenster hängendes Bild wird unkenntlich, wenn dem Beschauer
zu beiden Seiten desselben der helle Himmel erscheint; die Modellierung
der Fensterstäbe verschwindet vollständig vor dem hellen Hintergrunde des
Himmels; das Lesen einer feinen, nahe zur Lampe gehaltenen Schrift wird
zuweilen erst möglich, wenn ein Schirm das direkte Licht vom Auge ab-
hält; das Licht einer Blendlaterne, welches bei nächtlicher Dämmerung
direkt in unser Auge fällt, macht uns blind für alles, was sonst im näheren
Umkreise noch erkennbar gewesen wäre.
Wenn in solchen Fällen die neben der Lichtquelle sichtbaren Dinge
durchaus nicht ungewöhnlich hell, sondern zuweilen sogar durch Kontrast
verdunkelt erscheinen, so liegt der Irrtum nahe, ihre Undeutlichkeit nicht auf
abgeirrtes Licht, sondern ausschließlich auf diese Verdunkelung zu beziehen.
Solche Auffassung ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Umgebung des licht-
starken Dinges nicht nur undeutlicher, sondern zugleich auch heller gesehen
wird, wie z. B. in den folgenden Fällen:
Man klebe auf einen fingerbreiten Streifen mattschwarzen Papiers einige
graue Papierschnitzel und halte den Streifen mit ausgestreckter Hand gegen
den hellen Himmel, während man mit der anderen Hand einen großen
mattschwarzen Papierschirm hinter den Streifen bringt. Die jetzt ganz
deutlichen Schnitzel werden sofort unsichtbar, sobald man den Schirm ent-
fernt, zugleich aber wird der nun vom hellen Himmel umschlossene Streifen
sichtlich viel heller.
An einem sehr hellen Tage befestigte ich an der Zimmertüre einen
großen Bogen schwarzen Papieres, auf welchen verschiedene kleine Scheiben
(4 cm Durchmesser) und Schnitzel von weißen und verschiedenen grauen
Papieren geklebt waren. In der ausgestreckten Hand eine brennende Kerze
haltend, betrachtete ich aus 4 bis 5 m Entfernung mit einem Auge das
§ 34. Einfluss des falschen Lichtes auf die Deutlichkeit des Sehens. 147
schwarze Papier, während ich von der Seite her die Flamme langsam der
Blicklinie näherte. Sofort verschwanden zuerst die dunkelgrauen, beim
Näherkommen des Flammenbildes die hellgrauen und schließlich auch die
weißen Scheiben und Schnitzel, während sich zugleich über den schwarzen
Grund eine Helligkeit ausbreitete. Dabei erschien meinem schwach kurz-
sichtigen Auge die Flamme scharf abgegrenzt, und eine weiße Scheibe ver-
schwand bereits, wenn das ihr genäherte Flammenbild noch um seinen
Durchmesser von derselben entfernt schien. Sah ich durch eine Brille die
Scheiben u. s. w. scharf, wobei der ümriss der Flamme nur ein wenig ver-
waschen war, so verschwanden die weißen Scheiben, ihren jetzt schärferen
Umrissen entsprechend, nicht vollständig, aber nahezu.
Stellt man den Versuch an einem trüben Tage oder bei schwacher
künstlicher Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes an, so wird die gleich-
zeitige Steigerung der Helligkeit und Minderung der Deutlichkeit in der
Nähe der Flamme noch viel auffälliger.
Im allgemeinen wird allerdings das von lichtstarken Netzhautbildern
abgeirrte Licht nicht als solches bemerklich , . weil es durch die ver-
dunkelnde Kontrastwirkung solcher Bilder ausgeglichen oder übertönt wird.
Die erhellende Wirkung des falschen Lichtes und die ver-
dunkelnde des Simultankontrastes sind überall mit einander
im Kampfe.
Man verdecke sich, vor dem Fenster stehend, den mäßig hellen Himmel
durch einen großen mattschwarzen Schirm und halte einen ebenfalls matt-
schwarzen etwa 5 mm breiten Streifen in mittler Sehweite vor den Schirm.
Entfernt man dann bei feststehendem Auge den Schirm, so hellt sich der
zuvor schwarz erschienene Streifen sichtlich auf. Es ergießt sich in diesem
Falle das abirrende Licht von zwei Seiten her über das Netzhautbild des
Streifens, zwei Säume falschen Lichtes kommen auf seinem Bilde zur
Deckung und zwar mit um so lichtstärkeren Teilen, je schmäler der Streifen
und also auch sein Netzhautbild ist.
Jetzt ersetze man unter sonst ganz gleichen Umständen den »schwarzen«
Streifen durch einen »weißen«, der durch ein zweites seitliches Fenster gut
beleuchtet ist und weiß erscheint, so lange der schwarze Schirm dem Be-
obachter den Himmel verdeckt. Entfernt man jedoch den Schirm, so sieht
man bei nicht allzu großer Lichtstärke des Himmels den fixierten weißen
Streifen sicH plötzlich infolge des Kontrastes stark verdunkeln, obwohl sich
jetzt zu seinem eigenen Lichte ebenfalls wieder das falsche Licht gesellt
und also sein Netzhautbild um genau ebenso viel lichtstärker wird, wie es
zuvor das Netzhautbild des schwarzen Streifens wurde. Jetzt wird also
die erhellende Wirkung des falschen Lichtes nicht nur unterdrückt, sondern
sogar übertroffen durch die verdunkelnde Wirkung des Kontrastes. Wenn
aber ein schwarzer d. h. relativ lichtschwacher Streifen sich infolge der
10*
148 Lehre vom Lichtsinn.
Erleuchtung seiner Umgebung aufhellt, ein weißer und also relativ licht-
starker sich dabei verdunkelt, so folgt, dass es einen Streifen von be-
stimmter mittler Lichtstärke geben müsste, welcher bei Entfernung des
schwarzen Schirmes sich weder deutlich verdunkeln noch deutlich erhellen
würde, weil die erhellende Wirkung des falschen Lichtes und die verdun-
kelnde des Kontrastes sich das Gleichgewicht halten.
Dies alles steht in Einklang mit dem, was wir im § 29 und zwar rein
empirisch aus den messenden Kontrastversuchen abgeleitet haben. Wir
fanden dort, dass es bei Steigerung der Lichtstärke in der Umgebung eines
kleinen umschlossenen Feldes möglich ist, dessen Kontrastverdunkelung
durch einen ganz bestimmten Zuwuchs seiner Lichtstärke aufzuheben, und
dass bei gleicher Steigerung der Lichtstärke der Umgebung zu solcher Kom-
pensierung ein um so größerer Zuwuchs zum Lichte des umschlossenen
Feldes nötig ist, je lichtstärker das letztere von vornherein war. Bei den
eben beschriebenen Versuchen bleibt der Lichtzuwuchs, welchen der Streifen
(das umschlossene Feld) durch das falsche Licht erhält, immer derselbe,
gleichviel welche Lichtstärke der Streifen selbst hat. Dieser Lichtzuwuchs
aber ist nur bei einer ganz bestimmten Lichtstärke des Streifens eben ge-
nügend, der Konstrastverdunkelung das Gleichgewicht zu halten. Ist der
Streifen lichtschwach, und das gilt von dem schwarzen Streifen, so
erhält er durch das falsche Licht einen stärkeren Zuwuchs als zur Kom-
pensierung der Kontrastwirkung nötig wäre, daher er sich aufhellt. Ist der
Streifen lichtstark, wie dies von dem weißen gilt, so genügt das ihm zu-
wachsende falsche Licht nicht, die Kontrastwirkung zu kompensieren, daher
er sich verdunkelt.
Es ist bemerkenswert, dass in den hier besprochenen Fällen von Sichtbar-
keit des falschen Lichtes die Wirkung desselben sich im Sehfelde nicht als eine
Änderung der sogenannten »wirklichen«, flächenhaften Farbe der bezügUchen
Sehdinge zeigt. So erscheint uns der erwähnte leuchtende Hof der Flamme als
ein dieselbe umgebender heller Nebel vor dem dunklen Hintergrunde auch dann,
wenn wir in letzterem noch verschiedene Dinge zu unterscheiden vermögen,
nicht aber als eine Verwandlung der Farbe dieser Dinge in eine hellere Farbe.
Auch bei dem Versuche mit dem leuchtenden Loch im schwarzen Schirm oder
mit dem schwarzen Streifen vor der leuchtenden Himmelsfläche erhalten wir
nicht den Eindruck, als verwandle sich plötzlich die vorher schwarze Farbe
der das Loch umgebenden Teile des Schirmes oder die schwarze Farbe des
Streifens in eine graue. Vielmehr scheint sich ein accidentelles Helles vor oder
auf die Fläche der bezüglichen Teile zu legen, durch welches hindurch die
schwarze Farbe derselben sichtbar ist. Ich selbst vermag allerdings die Ver-
wandlung des flächenhaften Schwarz in ein ebenfalls flächenhaftes Grau zu sehen,
und von einem Maler, der den Eindruck im Bilde wiederzugeben versuchen
wollte, würde dies wohl auch gelten; den meisten Menschen aber fällt solches
schwer; ganz abgesehen davon, dass viele auf Befragen nicht das aussagen,
was sie sehen, sondern das, was sie über das Gesehene denken.
§ 35. Zusammenwirken des falschen Lichtes und des Kontrastes. 149
§ 35. Herabsetzung der Deutlichkeit bei dem Zusammen-
wirken des falschen Lichtes und des verdunkelnden Kontrastes.
Es ist die Ansicht ausgesprochen worden, dass jede Herabsetzung der
centralen Sehschärfe, welche infolge gesteigerter Belichtung excentrischer
Netzhautstellen eintritt, aus der Vermehrung des falschen Lichtes zu er-
klären sei, welches die centrale Netzhaut dabei empfängt. Wenn die unter
solchen Umständen undeutlicher werdenden Sehdinge gleichzeitig heller
erscheinen, als wie dies ohne die excentrische Belichtung der Netzhaut der
Fall wäre, dann ist diese Ansicht sicher zutreffend; wenn aber dieses
Hellerwerden fehlt, oder gar ein gleichzeitiges deutliches Dunklerwerden der
centralen Sehdinge eintritt, so kann unter Umständen die verdunkelnde
(schwärzende) Wirkung des Simultankontrastes einen viel größeren Anteil
am Undeutlichwerden jener Sehdinge haben als die an sich erhellende
(weißende) Wirkung des falschen Lichtes.
Während in den oben besprochenen Fällen, in denen die Quellen der
Beleuchtung, wie das Himmelslicht oder eine Flamme, sich gleichzeitig mit
dem übrigen Inhalte des Gesichtsfeldes auf der Netzhaut abbildeten, die
verdunkelnde Kontrastwirkung der lichtstarken Netzhautbilder auf das übrige
lichtschwächere Sehfeld überkompensiert werden konnte durch den starken
Zuwuchs falschen Lichtes, zeigt sich beim gewöhnlichen Sehen im allge-
meinen das Gegenteil, d. h. die verdunkelnde Wirkung der lichtstarken
Teile des Netzhautbildes kompensiert oder überkompensiert die an sich er-
hellende Wirkung des gesteigerten falschen Lichtes. Wäre letzteres nicht
möglich, so könnte es nie zu einer sichtbaren Verdunkelung durch Simultan-
kontrast kommen, wofür wir doch schon so schlagende Beispiele kennen
gelernt haben. Diese Verdunkelung eines Sehfeldbezirkes durch Kontrast
kann unter günstigen Umständen so weit gehen, dass die Deutlichkeit der
in dem Bezirke erscheinenden Sehdinge sehr auffallend gemindert bezw. bis
zur Unkenntlichkeit herabgesetzt wird. Hierfür zwei Beispiele:
Ich stelle mich mit dem Rücken an's Fenster und bringe dicht an mein
Auge eine innen mattschwarze 30 cm lange Röhre (Dunkelröhre) und dicht
an das andere Ende derselben ein großes steifes, gänzlich undurchscheinen-
des weißes Blatt mit einem centralen Loche von 10 — 12 mm Durchmesser.
Durch letzteres blicke ich nach einem Kupferstich an der mir gegenüber
befindlichen Wand, oder nach dem Inhalt eines an derselben stehenden
offenen Schrankes mit allerlei kleinen Dingen, die ich scharf und deutlich
sehe. Indem ich die Mitte oder den Rand des Loches fixiere, entferne ich
rasch die Röhre, während das weiße Blatt an seinem Platze bleibt: sofort
sehe ich an der Stelle des Loches einen grauschwarzen oder schwarzen
Fleck, in welchem zunächst nur wenig oder nichts zu unterscheiden ist.
Nachträglich tauchen einzelne Teile des zuvor Gesehenen mit ganz ver-
schwommenen Umrissen aus dem Dunkel auf, aber alle feineren Einzelheiten
150 Lehre vom Lichtsinn.
bleiben noch unsichtbar. Diese unter Umständen ganz gewaltige Minderung
der Deutlichkeit des Sehens von Dingen, deren Lichtstärke nicht kleiner
geworden ist, erklärt sich vorwiegend aus der starken Verdunkelung durch
Kontrast.
Allerdings erhält das Netzhautbild der durch das Loch sichtbaren Dinge
beim Wegnehmen der Rühre einen erheblichen Zuwuchs an falschem Lichte,
der den verschiedenen Lichtstärken der einzelnen Teile des Bildes hinzu-
gefügt wird und die relativen Unterschiede ihrer Lichtstärken mindert, was
an sich schon eine Minderung ihrer Farbenunterschiede und also auch
der Deutlichkeit des Sehens bedingen könnte. Dieser Lichtzuwuchs könnte
jedoch nur erhellend wirken, während doch alles durch das Loch Sicht-
bare vielmehr sehr stark verschwärzt erscheint. Diese Verschwärzung ist
eine derartige, dass dadurch die Farbenunterschiede der fraglichen Seh-
dinge gemindert werden und entsprechend auch die Deutlichkeit des Sehens
(vgl. VIL Abschnitt). Der Einfluss der Pupillenänderung lässt sich in der
früher beschriebenen Weise ausschließen.
Wer etwa doch der Meinung sein sollte, dass die große Herabsetzung
der Sehschärfe, wie sie bei diesem Versuche eintritt, nur durch das von '
dem weißen Blatte auf das Netzhautbild des Loches abirrende Licht be-
dingt werde, und dass die Verschwärzung des Loches und der durch das-
selbe sichtbaren Dinge lediglich auf eine »Urteilstäuschung« zurückzuführen
sei, der betrachte die zuvor durch das Loch sichtbar gewesenen Dinge nach
Entfernung des weißen Schirmes durch eine schräg gehaltene unbelegte
Spiegelglasplatte, in der sich ein zur Seite gehaltenes gut beleuchtetes weißes
Blatt spiegelt. Das gespiegelte Licht legt sich dann wie ein Schleier auf
die gesehenen Dinge und mindert ebenfalls ihre Deutlichkeit; aber um sie
durch diese Verweißung ihrer Netzhautbilder auch nur angenähert so un-
deutlich zu machen, bedarf es einer Menge des zugespiegelten Lichtes,
welche viel größer ist, als die Menge des falschen Lichtes unter den Be-
dingungen des obigen Versuches sein konnte.
Ein zwar nicht so auffälliges, aber nicht minder belehrendes Beispiel
für die Herabsetzung der Deutlichkeit durch Kontrast ist das folgende: Von
einem mit kleinen Buchstaben bedruckten weißen Blatte schneide ich den
unbedruckten Rand ab und lege das Blatt so über das in Tischhöhe be-
findliche lichtlose Loch eines am Fenster stehenden Dunkelkastens, dass das
Loch zur Hälfte verdeckt ist. Über dem Loche befindet sich in passender
Höhe das früher beschriebene Polariphotometer so orientiert, dass z. B. das
extraordinäre Bild über das ordinäre nach rechts hinausragt und zwar für
die eben gewählte Sehweite mit einem 1 6 mm breiten Streifen. Durch
passende Stellung des Nicol vermindere ich die Lichtstärke des überragen-
den Streifens soweit, dass ich die Buchstaben, welche sich nahe seinem
rechten, an das Schwarz des Loches grenzenden Rande befinden, eben noch
§ 36. Die Entstehung scharfer Umrisse durch Wechselwirkung. 151
erkenne: dann sind seine nahe dem linken Rande liegenden Buchstaben
bereits unkenntHch, weil sie hier der verdunkelnden Kontrastwirkung des
angrenzenden Weiß unterliegen, welches den hier übereinander liegenden
beiden Bildern entspricht. Auch sehe ich den Streifen nahe seinem linken
Rande merklich schwärzlicher als an seinem rechten Rande, und zwar dies
alles auch dann, wenn ich jeden successiven Kontrast ausschließe. Schiebe
ich von rechts her ein weißes Blatt soweit über den offenen Teil des Loches,
dass der hnke Rand seines ordinären Bildes dicht am rechten Rande des
eben besprochenen viel lichtschwächeren Streifens erscheint, so werden nun
auch die an diesen Rand grenzenden Buchstaben schwerer kenntlich.
Die Verminderung der Deutlichkeit des centralen Sehens
infolge von Belichtungen excentrischer Netzhautteile kann also
sowohl durch Vermehrung des falschen Lichtes als durch die
Wechselwirkung der Sehfeldstellen herbeigeführt werden. Da
überdies, ganz abgesehen von dem leicht auszuschließenden Einflüsse der
Pupillenänderung, der jeweilige Anpassungszustand des inneren Auges bei
allen diesen sogenannten Blendungserscheinungen wesentlich mitbestimmend
ist, so erklärt sich, dass die verschiedenen Untersucher der letzteren, ins-
besondere Uhthoff und Dep^ne (27), Heymans (28), Bürschke (29 und 30)
zu sehr verschiedenen Ansichten über das Wesen der »Blendung« gelangen
konnten.
Die Wechselwirkung der Sehfeldstellen und die durch dieselbe bedingte
Verschwärzung des centralen Sehfeldbezirkes hat sich in den zuletzt besprochenen
Fällen als Ursache einer Verminderung der Sehschärfe gezeigt. Wir werden
jedoch weiterhin sehen, in wie hohen Maße beim gewöhnlichen Sehen gerade
diese Wechselwirkung unsere Sehschärfe erhöht und die lokale Abirrung des
Lichtes unschädlich macht,
§ 36. Die scharfen Umrisse der Sehdinge als Ergebnis der
Wechselwirkung der Sehfeldstellen. Dass ein gutes Auge wirkhch
scharfe Umrisse der Außendinge auch als scharfe sieht, pflegt man auf
eine entsprechende Genauigkeit der Netzhautbilder zurückzuführen und
schreibt damit dem dioptrischen Apparate des Auges eine Leistung zu, die
weit über sein Können hinausgeht. Mancherlei Thatsachen zwingen zu
dem Schlüsse, dass die Einzelteile des Netzhaulbildes auch im besten Auge
keineswegs durch so scharfe Grenzen geschieden sind, wie sie die Sehdinge
zeigen können.
Wäre es die Genauigkeit des Netzhautbildes, der wir die scharfen
Umrisse unseres Sehfeldinhaltes verdanken, so müssten uns bei guter Ak-
kommodation zwei scharf aneinander grenzende Teilstücke des Gesichts-
feldes auch bei Herabsetzung der allgemeinen Beleuchtung solange mit
scharfer Grenze erscheinen, als ihre beiden Farben (Helligkeiten) für
uns noch deutlich verschieden sind. Denn an der Genauigkeit oder Schärfe
152
Lehre vom Lichtsinn.
des Netzhautbildes wird durch die Minderung seiner Lichtstärke nichts ge-
ändert, falls wir den etwaigen Einfluss einer Pupillenerweiterung dadurch
ausschließen, dass wir ein Diaphragma von zureichend kleiner ÖfTnung
dicht vor das Auge bringen. Gleichwohl wirkt auch unter solchen Um-
ständen eine stärkere Herabsetzung der allgemeinen Beleuchtung des Ge-
sichtsfeldes sofort auf unser Sehen der Umrisse ähnlich wie eine mangel-
hafte Akkommodation. Die vorher scharf gewesenen Grenzlinien der Seh-
dinge werden dabei immer verwaschener und undeuthcher auch dann,
wenn ihre jetzt allerdings verkleinerten Farbenunterschiede noch relativ
große und viel größer sind, als die kleinsten Unterschiede von Farben,
die uns bei guter Beleuch-
Fig. 31. tung der Außendinge soeben
noch durch scharfe Grenzen
geschieden erschienen sind.
Man bringe dicht vor das
Auge ein Diaphragma von \
bis 2 mm Durchmesser und
halte in einem Zimmer, das
von einer einzigen Lampe er-
hellt wird, das Schachbrett-
muster der Fig. 31 in deut-
licher Sehweite so vor sich
hin, dass das volle Licht der
nahen Lampe darauf fällt;
dann drehe man sich soweit
um sich selbst, dass das
Muster vom Körper vollständig
beschattet und nur noch durch
das schwache an den Wänden
reflektierte Licht erleuchtet wird. Jetzt wird man kein einziges sauber be-
grenztes Viereck mehr sehen, sondern nur verwaschene Umrisse, und wenn
die Zimmerwände sehr wenig Licht zurückgeben, sogar nur dunkle und helle
Flecke, die zwar an Vierecke erinnern, aber weder deutlich gezeichnete
Seiten noch scharfe Ecken haben. Ja es kommt bei noch schwächerer
Beleuchtung sogar dahin, dass man gar nicht mehr sagen könnte, ob die
ganz unsicher umgrenzten schwarzen und weißen Flecke, die man sieht,
regelrechte Quadrate oder andere Figuren sind, wenn man sie nicht zuvor
bei guter Beleuchtung gesehen hätte.
Hat man ein Dunkelzimmer neben einem gut beleuchteten zur Ver-
fügung, so stelle man sich in ersterem dicht an die offene Thüre, so dass die
in der einen Hand gehaltene Figur zunächst voll beleuchtet wird und ganz
scharf erscheint, dann schließe man mit der andern Hand die Thüre so
§ 36. Die Entstehung scharfer Umrisse durch Wechselwirkung. 153
weit, dass nur noch spärliches Licht auf die Figur fällt, und man wird in
der bequemsten Weise die soeben beschriebene höchst auffallende Herab-
setzung der Deutlichkeit der Umrisse beobachten können.
Der Farbenunterschied zwischen den helleren und dunkleren Teilen
der Figur ist bei alledem noch sehr deutlich, nur ihre Grenzen sind es
nicht mehr. Das Netzhautbild aber hat unter den gegebenen Bedingungen
bei der schwächsten Beleuchtung dieselbe Schärfe wie bei der stärksten.
Aus den jetzt herrschenden Lehren ist nicht zu verstehen, wie bei
ungeänderter Schärfe des Netzhautbildes die bloße Herabsetzung seiner
Lichtstärke die Grenzen zwischen den hellen und dunklen Teilen des
korrelativen Sehfeldes verwaschen und unkenntlich machen kann, obgleich
ein ganz deutlicher Helligkeitsunterschied der Felder noch immer vorhanden
ist. Nach diesen Lehren könnten allerdings durch die Herabsetzung der
Beleuchtung, sobald dabei die untere Gültigkeitsgrenze des WEBEa'schen Ge-
setzes überschritten wird, die Helligkeitsunterschiede im Sehfelde ab-
nehmen und also, wenn sie von vornherein klein waren, schwerer bemerklich
oder gar unbemerklich werden. Wir haben es aber in Fig. 31 mit einer
Sehprobe zu thun, deren Einzelheiten zunächst sehr große i) und bei den
dann benützten schwachen Beleuchtungen auch noch ganz deutliche Hellig-
keitsverschiedenheiten zeigen, während doch bei guter Beleuchtung anein-
andergrenzende Teile des Sehfeldes, deren Helligkeitsverschiedenheiten sehr
viel kleiner sind, noch scharfe Grenzen haben können.
Die Undeutlichkeit der Umrisse bei der herabgesetzten Beleuchtung
lässt sich auch nicht aus der »fleckigen Verteilung des Eigenlichtes«
(Helmholtz H, S. 409) erklären. Denn bei unserem Versuche ist das Auge
zur Zeit der Herabsetzung der Beleuchtung im Zustande einer Dauer-
anpassung für gute Beleuchtung, besonders dann, wenn der Versuch an
einem hellen Tage angestellt wird. Die Ungleichheiten und Unstetigkeiten
der Eigenfarbe des Auges spielen erst dann eine erhebliche Rolle, wenn
dasselbe längere Zeit gar nicht oder äußerst schwach belichtet worden ist
und sich die successive Dunkeladaptation bereits entwickelt hat. Von dem
centralen relativen Skotome, welches einem solchen dunkeladaptierten Auge
eigen ist, bemerkt man nichts bei unserem Versuche. Die indirekt ge-
sehenen Teile der Figur zeigen nicht bessere Umrisse oder auffallend
größere Verschiedenheiten zwischen den helleren und dunkleren Stellen als
wie die direkt betrachteten. Es ist in dieser Hinsicht sehr belehrend, den
Versuch in der oben beschriebenen Weise im Dunkelzimmer anzustellen,
i) Die schwarzen Quadrate der Fig. 3\ sind, wenn regelmäßig reflektiertes
Licht möglichst ausgeschlossen ist, infolge der Glättung des Papieres bedeutend
lichtschwächer als es bei derselben Beleuchtung die Buchstaben einer Druckschrift
auf einem matten Papiere sind, wie solches früher ausschließlich zum Drucken
benutzt wurde.
j^54 Lehre vom Lichtsinn.
nachdem man längere Zeit das eine Auge vor jedem Lichte geschützt, das
andere aber im gut beleuchteten Räume gebraucht hat. Man vermag dann,
während die eine Hand durch Veränderung der Thürspalte die Beleuchtung
regelt und die andere die Figur hält, durch Verschluss des hell- oder des
dunkeladaptierten Auges bei entsprechend schwachen Beleuchtungen die für
beide Augen sehr verschiedenen Erscheinungsweisen der Figur herbei-
zuführen.
Wenn wir zwei in Wirklichkeit scharf von einander abgegrenzte Felder
verschiedener Lichtstärke zwar in deutlich verschiedenen Farben, aber
nicht durch eine scharfe Grenzlinie, sondern durch ein Zwischengebiet ge-
schieden sehen, in welchem die hellere Farbe des einen Feldes in die
dunklere des anderen übergeht, so muss dies auf die Vermutung führen,
dass auch im Netzhautbilde die Lichtstärke des einen Feldes nicht scharf
von der des anderen abgesetzt ist, sondern dass ein alimählicher Übergang
der einen Lichtstärke in die andere besteht. Bei mangelhafter Akkommo-
dation oder ungewöhnlich weiter Pupille wäre uns dies selbstverständlich.
Wenn wir aber trotz guter Akkommodation und zureichend engem Dia-
phragma doch die Grenzlinie noch verwaschen sehen, obwohl sie sofort
scharf erscheint, sobald wir ohne jede Änderung der Akkommodation und
des Diaphragmas die Lichtstärke der beiden Felder in demselben A^erhältnis
vergrößern, so lässt sich dies nur aus einer veränderten Reaktionsweise
unseres inneren Auges erklären. Der etwaige Verdacht, dass das Auge bei
Herabsetzung der Beleuchtung seine Akkommodation ändere, ist für meine
Person schon dadurch ausgeschlossen, dass die Akkommodationsbreite meines
presbyopischen Auges nahezu gleich Null ist.
So kommen wir also zu dem Schlüsse, dass das Netzhautbild jeder
solchen Grenzlinie auch bei bester Akkommodation an sich ein verwaschenes
ist, dass aber unser inneres Auge das Vermögen besitzt, auf Grund eines
solchen unvollkommenen Linienbildes, bei zureichender Lichtstärke desselben,
im psychischen Sehfelde eine scharfe Grenze zwischen den beiden bezüg-
lichen Farben herzustellen und so aus verwaschen umrissenen Teilen des
Netzhautbildes scharf umrissene Sehdinge zu schaffen.
Dieses Vermögen verdankt unser Sehorgan der Wechselwirkung der
Sehfeldstellen. Das Netzhautbild ist stets verwaschen; gleich dem Photo-
graphen aber, der eine mangelhafte Kopie retouchiert, korrigiert die
Wechselwirkung das Bild der Außendinge, indem sie dort, wo durch Ab-
irrung Licht verloren geht, den dadurch bedingten Helligkeitsverlust mehr
oder minder entsprechend ersetzt, dort aber, wo das abgeirrte Licht fälsch-
lich hingerät, es durch Verdunkelung unschädlich macht. Nicht dem diop-
trischen Apparate verdanken wir z. B. die Schwärze und die Deutlichkeit der
Umrisse dieser Buchstaben, sondern den Wechselwirkungen im somatischen
Sehfelde.
§ 36. Die Entstehung scharfer Umrisse durch Wechselwirkung. 155
Denken wir uns das Gesichtsfeld als ein Mosaik von Flächenelementen,
deren jedes denselben kleinen Gesichtswinkel hat, wie der Querschnitt eines
Zapfens der Netzhautgrube, und also zu einem solchen korrelativ ist, so heße
sich theoretisch die Forderung stellen, dass jeder Zapfen nur von dem einen,
korrelativen Elemente des Gesichtsfeldes belichtet werde. In Wirklichkeit
bestrahlt jedoch infolge der lokalen Abirrung das Licht eines solchen Gesichts-
feldelementes einen ganzen Komplex von Zapfen, und wird ein und derselbe
Zapfen stets gleichzeitig von einem ganzen Komplexe jener Gesichtsfeld-
elemente bestrahlt. Das Licht eines Fixsternes, dessen Gesichtswinkel
gleich Null gesetzt werden darf, sammelt sich im Auge nicht in einem
Punkte, sondern in einem kleinen Räume, welcher selbst bei bester Akkom-
modation von der Empfangsfläche der Netzhaut in einer kleinen Fläche
durchschnitten wird, die auch im günstigsten Falle viel grüßer ist, als der
Querschnitt eines Zapfens. Auch fordert das, was wir über die Grenzen
des Auflösungsvermögens (32, S. 16) unseres Sehorgans wissen, durchaus
nicht, dass das von einem »Punkte« der Außenwelt kommende Licht wieder
in einem »Punkte« oder auch nur in einem Sammelraume vom Querschnitt
eines Zapfens vereinigt werde.
Unsere Erfahrungen z. B. über den kleinsten Gesichtswinkel des gegen-
seitigen Abstandes zweier lichter Punkte auf finsterem Grunde, die wir
eben noch räumlich zu sondern vermögen, verlangen freilich, dass der-
jenige Zapfen, welcher im Mittelpunkte der von einem leuchtenden Außen-
punkte bestrahlten Zapfengruppe liegt, wesentlich stärker beUchtet sei als
seine nächsten Nachbarn. Wenn aber die zwei, den beiden Außenpunkten
entsprechenden stärkst bestrahlten Zapfen einen Zapfen zwischen sich haben,
dessen Belichtung auch nur ein wenig schwächer ist, als ihre eigene, so
wird für den Beobachter zwischen zwei helleren Stellen eine minder helle
Stelle bemerklich werden können, womit eine räumliche Sonderung der
ersteren gegeben ist.
Da sich nicht feststellen lässt, wie groß das von einem Flächenelemente
des Gesichtsfeldes infolge lokaler Abirrung bestrahlte Feld auf der Emp-
fangsfläche der Netzhaut ist, und in welcher Weise z. B. das von jenem
Elemente ausgehende Licht sich innerhalb der von ihm bestrahlten Gruppe
von Zapfen um den mittleren stärkst bestrahlten verteilt, so müssen wir
uns mit einer schematischen Erwägung der Frage begnügen, in welcher
Weise trotz der ungenauen Abbildung der Außendinge die scharfen Umrisse
der Sehdinge zu stände kommen können.
Denken wir uns mit Helmholtz für jeden Punkt der von der Außen-
welt bestrahlten Netzhautfläche die Stärke des ihn treffenden Lichtes durch
eine, dieser Stärke proportionale Ordinate ausgedrückt, so wird durch die
Gesamtheit dieser Ordinaten eine Fläche bestimmt, welche wir mit E. Mach
als die Lichtintensitätsfläche oder Lichtfläche des Netzhautbildes
256 Lehre vom Lichtsinn.
bezeichnen können. Ein gleichmäßig lichtstarkes ebenes Außenfeld, welches
durch eine scharfe Grenze von einem ganz finsteren Felde geschieden wäre,
würde bei streng stigmatischer Vereinigung der von einem Punkte des
ersteren Feldes kommenden Lichtes auf der als Ebene gedachten Empfangs-
fläche eine zu derselben parallele Lichtfläche geben, deren Durchschnitt in
Fig. 32 durch die Gerade ahc dargestellt sei. Wenn aber in Wirklichkeit
jedem kleinsten Elemente des Außenfeldes ein kleiner Lichthügel mit relativ
breiter Basis entspricht, so wird sich aus der Summation dieser elementaren
Lichthügel auf der Netzhaut eine Lichtfläche ergeben, deren Querschnitt
beispielsweise der Kurve ahdf entsprechen möge. Das Licht, welches theo-
retisch genommen die leere Ecke hcd zu füllen hätte, erfüllt dann als
falsches Licht die Ecke de f.
Ganz ähnlich wird es sich verhalten, wenn ein lichtstärkeres Außen-
feld an ein zwar nicht lichtloses, aber lichtschwächeres grenzt. Statt dass
im Punkte c die höhere Lichtfläche ahc des Netzhautbildes senkrecht zu
Fig. 32.
der niederen efg abfällt, sinkt sie entsprechend der Kurve hdf nur all-
mählich zu derselben hinab. Doch sei ausdrücklich betont, dass diese
willkürlich entworfene Kurve höchstens insofern der Wirklichkeit ent-
sprechen könnte, als sie anfangs langsam, dann schneller und schließlich
wieder langsamer absinkt.
Erinnern wir uns jetzt des in § 32 über den simultanen Grenzkontrast
Mitgeteilten, wobei es sich ebenfalls um je zwei aneinander grenzende
Flächen verschiedener Lichtstärke handelte, aber die lokale Abirrung des
Lichtes noch nicht berücksichtigt zu werden brauchte. Wir sahen dort,
dass die lichtstärkere Fläche nach der Grenze hin wegen des hier besonders
starken Kontrastes eine ansteigende, die lichtschwächere eine absinkende
HeUigkeit zeigen kann. Obgleich sich dies hauptsächlich als eine Folge des
Nachkontrastes erwies, so fand es sich doch zuweilen unter besonders
günstigen Umständen auch bei Ausschluss jeder Blickbewegung und daher
als eine alleinige Folge der Wechselwirkung. Wenn aber im Netzhaut-
bilde, wie soeben auseinandergesetzt wurde, infolge lokaler Abirrung die
I
§ 36. Die Entstehung scharfer Umrisse durch Wechselwirkung. 157
Lichtstärke der lichtstärkeren Fläche in Wirklichkeit nach der Grenzlinie
hin abnimmt und die der lichtschwächeren Fläche zunimmt, so müsste
auch im Sehfelde die erstere Fläche eine nach der Grenze hin abnehmende
und die andere Fläche eine zunehmende Helligkeit zeigen, falls dies nicht durch
die Wechselwirkung der beiden Grenzbezirke vereitelt würde. Da diese auf
die Helligkeiten entgegengesetzt wirkt, als wie die lokale Abirrung des
Lichtes, so werden durch sie die Folgen der letzteren mehr oder weniger
kompensiert. Könnte dies zureichend genau der Fall sein, so würden uns die
beiden Flächen in der Nähe ihrer Grenze etwa ebenso erscheinen, wie es der
Fall sein müsste, wenn es weder eine Abirrung des Lichtes noch eine Wechsel-
wirkung, der Sehfeldstellen gebe. Das der Ecke hcd (Fig. 32) entsprechende
Defizit an Licht im Netzhautbilde würde im Sehfelde durch einen ent-
sprechenden Zuwuchs an Helligkeit, der der Ecke def entsprechende falsche
Lichtzuwuchs durch einen negativen Helligkeitszuwuchs oder einen Dunkel-
heitszuwuchs kompensiert. Übersteigt jedoch der Einfluss der Wechsel-
wirkung das Ausmaß der Abirrung des Lichtes, so ergiebt sich die in § 32
beschriebene Erscheinung eines simultanen Grenzkontrastes, d. h. eine nach
der Grenzlinie hin zunehmende Helligkeit des lichtstärkeren und eine ab-
nehmende des lichtschwächeren Feldes. Wenn dagegen infolge zu schwacher
Beleuchtung und entsprechend geringer Größe der absoluten Lichtstärken
das Ausmaß der Wechselwirkung zur beiläufigen Kompensation unzu-
reichend wird (vgl. den VH. Abschnitt), so treten die Folgen der Abirrung
des Lichtes mehr und mehr hervor und es zeigt sich eine nach der Grenz-
linie hin abnehmende Helligkeit der lichtstärkeren und eine zunehmende der
lichtschwächeren Fläche; die beiden Helligkeiten gehen sehr allmählich in-
einander über, und ihre Grenze ist also verwaschen, wie sich dies auch
bei unserem Versuche an dem Schachbrettmuster zeigte.
Für die allgemein verbreitete Ansicht, dass die scharfen Umrisse der Seh-
dinge der Schärfe des Netzhautbildes zu danken sind, wird man vielleicht auch
die Autorität von Helmholtz anführen wollen. Allerdings sagt derselbe (I, S. 2<5;
II, S. 2 55): »Es können lichte Punkte wahrgenommen werden, deren Netzhaut-
bild sehr viel kleiner ist, als ein empfindendes Netzhautelement« und beruft
sich dabei auf die Fixsterne. Wollte man diese Bemerkung wörtlich nehmen,
so stände sie in auffallendem Widerspruche damit, dass Helmholtz selbst die
Größe des Zerstreuungskreises zu berechnen versucht hat, welche ein mit ge-
mischtem Lichte leuchtender Außenpunkt infolge der chromatischen Aberration
auf der Netzhaut erzeugt, wenn das Auge für die »grüngelben Strahlen« akkom-
modiert ist. Es ergab sich ihm ein Durchmesser des Zerstreuungskreises von
0,0426 mm, der also »fast zehnmal größer ist als (nach damaliger Annahme)
die Dicke der Zapfen« (I, S. 216; II, S. 257). Das Netzhautbild eines Fix-
sternes, das »sehr viel kleiner« sein sollte als der Durchschnitt eines Zapfens,
war also nur eine theoretische Fiktion. Richtig aber bleibt trotzdem, dass
Helmholtz die Genauigkeit des Netzhautbildes sehr überschätzte. Dass von
einem monochromatisch leuchtenden Flächenelemente, dessen Gesichtswinkel
158
Lehre vom Lichtsinn.
gleich dem eines Zapfen quer Schnittes ist, bei vollkommener Akkommodation ein
einziger Zapfen ausschließlich beleuchtet werden könne, hat er offenbar für mög-
lich gehalten. Dass dies aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist, geht daraus hervor,
dass man das Undeuthchwerden der Konturen bei Herabsetzung der Beleuchtung
in der oben beschriebenen Weise auch dann wahrnimmt, wenn man durch
Farbenfilter blickt, welche ein angenähert monochromatisches Licht durchlassen.
Das Gesichtsfeld muss dabei anfangs intensiv beleuchtet sein, entweder durch
die unverhüllte Sonne oder ein sehr starkes künstliches Licht. Die chromatische
Aberration macht also das Netzhautbild nicht viel verwaschener, als es schon
bei monochromatischer Beleuchtung ist.
Nach der Berechnung von Helmholtz würde infolge der chromatischen
Aberration die Lichtfläche des Netzhautbildes einer gleichmäßig hchtstarken
Außenfläche an ihrem Rande den in Fig. 3 3 durch die Kurve afg wieder-
gegebenen Querschnitt haben (i, S. <35; 2, S. 167). Er geht dabei von der
Voraussetzung aus , dass alle Strahlen gleicher W^ellenlänge eines Außenpunktes
sich im Auge wieder in einem Punkte vereinigen, und zwar die Strahlen mitt-
lerer Wellenlänge auf der für die Wahrnehmung des Lichtes wesentlichen Fläche
der Netzhaut, die ich oben als
Fig. 33. Empfangsfläche bezeichnete, die
Strahlen ivleinerer Wellenlänge vor,
diejenigen größerer Wellenlänge
hinter dieser Fläche, so dass sie
auf dieser Zerstreuungskreise bil-
den. Die Kurve afg hat die Eigen-
tümlichkeit, »dass sie in ihrer Mitte
bei /", entsprechend dem wirklichen
Orte des Randes , ganz steil ab-
fällt«. »Dieser plötzliche Abfall der
Helligkeit^) am Rande der Fläche
macht« nach Helmholtz »für das
Auge die Lage des Randes scharf
erkennbar, wenn auch eine gewisse Menge Licht sich noch weiter verbreitet.«
Hierzu bemerkte schon E. Mach, dass er nach seinen Erfahrungen über Kontrast-
wirkungen »auch noch den Übergang (der Lichtflächej von konkav zu konvex und
den Wendepunkt bei f für sehr wesentlich halte« (vgl. § 32, S. 140). Damit
hat er zuerst darauf hingewiesen, dass die Wechselwirkung der Sehfeldstellen
einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Umrisse der Sehdinge hat. Er
lässt dabei freilich die von Helmholtz angenommene stigmatische Vereinigung
der von einem Außenpunkte kommenden Strahlen gleicher Wellenlänge gelten, so
dass für das Sehen bei monochromatischer Beleuchtung diese Wechselwirkung
betreffs der Konturenbildung keine wesentliche Rolle mehr spielen, sondern nur
die S. 136 beschriebene Erscheinung eines Grenzkontrastes bewirken könnte. Ich
glaube im Obigen gezeigt zu haben, dass dem Gedanken Mach's eine viel um-
fassendere Bedeutung zukommt.
Nach der Darstellung von Helmholtz würde von der theoretisch gefor-
derten, senkrecht abfallenden Seitenwand de der Lichtfläche trotz der chroma-
tischen Aberration doch noch der mittlere Teil (bei f) erhalten und als scharfe
Grenze sichtbar sein, und nach Mach hätte dann der Kontrast nur noch die
\) Unter Helligkeit versteht Helmholtz hier die Lichtstärke.
§ 37. Das Gesetz der Induktion im somatischen Sehfelde. 159
Abstumpfung der beiden Kanten zu korrigieren. Nach meiner Auffassung aber
wird der Ort der im Abirrungsgebiet erscheinenden Grenze durch die Wechsel-
wirkung mitbestimmt. Daher dieser Ort nicht notwendig mit dem theoretischen
Orte der Grenzlinie zusammenfällt, sondern je nach den Umständen bald nach
der einen, bald nach der anderen Seite davon abweicht, und bald die licht-
stärkere, bald die lichtschwächere Fläche auf Kosten der anderen vergrößert
erscheint.
TU. Abschnitt.
Zur Theorie der Wechselwirkung im somatischen Sehfelde.
§ 37. Das Gesetz der Induktion. Wenn die Helligkeit bezw.
Dunkelheit einer tonfreien Farbe des psychischen Sehfeldes von dem Ver-
hältnisse zwischen der an korrelativer Stelle der Sehsubstanz bestehenden
Dissimilation und Assimilation abhängt, so kann ein Hellerwerden der Farbe
ebensowohl durch Steigerung der Dissimilation bei gleichbleibender Assimi-
lation, als durch Minderung der letzteren bei unveränderter Dissimilation,
als endlich auch durch eine passende gleichzeitige Änderung beider Kom-
ponenten des Stoffwechsels bedingt sein. Analoges gilt mutatis mutandis
für ein Dunklerwerden der Farbe. Schon deshalb wäre die Verdunkelung
oder Erhellung einer Sehfeldstelle durch Nebenkontrast in sehr verschiedener
Weise denkbar, wenn man die Kontrasterscheinungen ohne gleichzeitige
Berücksichtigung der übrigen Leistungen des Lichtsinnes betrachten wollte.
Je mehr man aber auch diese, die mit der Beleuchtungsstärke des Gesichts-
feldes wachsende Deutlichkeit und Eindringlichkeit des Sehfeldinhaltes, die
Simultananpassung, die Nachbilderscheinungen u. s. w. mit in Betracht zieht,
desto mehr engt sich der Kreis der hier von vornherein denkbaren An-
nahmen ein. Es würde viel Raum erfordern, wenn ich alle von mir auf
ihre Brauchbarkeit durchprüften Hypothesen mitteilen bezw. ihre Zurück-
weisung begründen wollte. Ich muss mich begnügen, eine Hypothese zu
erörtern, welche das Wesentliche der hierher gehörigen Erscheinungen kurz
zusammenzufassen, die einzelne Erscheinung daraus abzuleiten und das
ganze Gebiet auch rechnerisch zu behandeln gestattet.
Diese Hypothese geht davon aus, dass der Stoffwechsel jedes Einzel-
teiles oder Elementes der Sehsubstanz auch den Stoffwechsel seiner Um-
gebung mit beeinflusst, indem die Änderung des ersteren eine gegensinnige
Änderung des letzteren herbeiführt; dass demgemäß auch umgekehrt der
Stoffwechsel jedes Elementes mitbestimmt wird durch den jeweiligen Stoff-
wechsel seiner Umgebung. Unter Umgebung eines Elementes ist hier das
übrige Sehfeld insoweit zu verstehen, als sich in demselben die mit der
Entfernung abnehmende Wirkung des Elementes noch merklich erstreckt,
kurz der ganze Wirkungskreis des letzteren. Jedes innerhalb dieses
IQQ Lehre vom Lichtsinn.
Gebietes liegende Element vermag umgekehrt auch auf das erstgenannte
Element zu wirken.
Das Maßgebende für die Wirkung eines Elementes der Seh-
substanz auf die Umgebung ist die Grüße des Unterschiedes
zwischen seiner gleichzeitigen Dissimilation und Assimilation.
Jedes Element, dessen Dissimilation größer ist als seine Assimilation {D^Ä)^
induziert in seiner Umgebung einen Zuwuchs zu derjenigen Assimilation,
welche ohnedies hier stattfinden würde; jedes Element, dessen Assimilation
grüßer ist als seine gleichzeitige Dissimilation {D<CÄ)^ induziert in der Um-
gebung einen Zuwuchs zu der daselbst anderweitig bedingten Dissimilation.
Hiermit soll zugleich ausgesprochen sein, dass ein Element der Sehsubstanz,
in welchem Dissimilation und Assimilation gleichgroß sind, und also die
Sehsubstanz unverändert verharrt, auch keinerlei Wirkung auf den Stoff-
wechsel der Umgebung hat.
Die induzierte Wirkung ist in unmittelbarer Nähe des induzierenden
Elementes, also in den nächsten Nachbarelementen am stärksten, nimmt mit
dem Abstände vom ersteren nach einem nicht näher bekannten Gesetze
rasch ab, erstreckt sich aber vielleicht, wenn auch nicht sicher nachweis-
bar, bis an die Grenzen des Sehfeldes.
Aus dem Gesagten folgt, dass die Farbe des psychischen Sehfeldes in
der Nähe einer Farbe von übermittler Helligkeit {W^ S) schwärzlicher
(minder hell bezw. dunkler), in der Nähe einer Farbe von untermittler
Helligkeit (W<^S) aber weißhcher (heller bezw. minder dunkel) ist, als
ohne die erwähnte Induktion der Fall sein würde, während die Farbe von
genau mittler Helligkeit [W=S)j das mittle Grau, ohne Einfluss auf die
Farbe der Umgebung ist.
Der D- oder A-Überschuss ist, wie im § 24 besprochen wurde, trotz
gleicher Qualität [D : Ä) der Farbe bei verschiedenem Gewichte (D -f- Ä)
derselben verschieden groß. Hieraus folgt, dass die Stärke der Induktion
nicht lediglich durch die Helligkeit oder Dunkelheit der induzierenden Farbe,
sondern auch durch das Gewicht derselben mit bestimmt wird. Bei glei-
chem Gewichte wirkt allerdings eine Farbe um so stärker induzierend auf
ihre Umgebung, je näher auf der ideellen Farbenlinie ihre Helligkeit dem
absoluten Weiß, bezw. ihre Dunkelheit dem absoluten Schwarz liegt; bei
gleicher Qualität (Helligkeit bezw. Dunkelheit) der Farbe aber wächst die
Stärke der Induktion direkt proportional mit dem Gewichte der Farbe.
Nach der üblichen Auffassung künnte von einer Kontrastwirkung nur
zwischen zwei nach Helligkeit oder Dunkelheit verschiedenen Farben die
Rede sein. Dementsprechend suchte Helmholtz die hierher gehürigen Er-
scheinungen zu einem großen Teile daraus zu erklären, dass »wir geneigt
sind, diejenigen Unterschiede, welche in der Anschauung deutlich und sicher
wahrzunehmen sind, für grüßer zu halten als solche, welche entweder in
§ 37. Das Gesetz der Induktion im somatischen Sehfelde. Ißl
der Anschauung nur unsicher heraustreten oder mit Hilfe der Erinnerung
beurteilt werden müssen« (1, S. 392 und 2, S. 543). Aber schon im § 28
haben uns die Thatsachen zu dem Schlüsse geführt, dass auch gleichhelle
tonfreie Farben sich gegenseitig beeinflussen können, weshalb es passender
erschien, statt von Kontrast zwischen zwei Farben, von einer Wechsel-
wirkung derselben zu sprechen. Die soeben gemachte und im folgenden
noch weiter zu begründende Annahme, dass nicht nur die Helligkeit der
tonfreien Farben, sondern auch ihr Gewicht, welches doch auf die Hellig-
keit derselben keinen Einfluss hat, den sogenannten Helligkeitskontrast
mit bestimmen kann, nötigt uns vollends, den Begriff der Kontrastwirkung
hier viel weiter zu fassen, als dies üblicherweise geschieht. Demgemäß
spreche ich unter Benutzung einer schon von Brücke angewandten Be-
zeichnung von einer Induktion statt von einem simultanen Kontraste^:.
Da jeder negative Zuwuchs, den die Dissimilation eines Elementes
durch Induktion seitens seiner Umgebung erfährt, mit einem gleichzeitigen
positiven Zuwuchs zur Assimilation verbunden ist, so wirkt hier die In-
duktion auf doppelte Weise verdunkelnd, kurz gesagt als eine Dunkel-
induktion. Erhält dagegen die Dissimilation des Elementes durch Induk-
tion einen positiven Zuwuchs, womit sich stets ein negativer Zuwuchs zur
Assimilation verbindet, so bedingt dies auf doppelte Weise eine Erhellung
der Farbe und es besteht dann eine Hellinduktion.
Der induzierte negative Zuwuchs zur Dissimilation ist nach meiner
Annahme unter normalen Verhältnissen gleich groß wie der gleichzeitige
positive Zuwuchs zur Assimilation, und ebenso ist der positive D-Zuwuchs
gleich dem negativen ^4-Zuwuchs. Dabei ist also vorausgesetzt, dass alle
übrigen Bedingungen eines normalen Verlaufes der Dissimilation und iVssi-
milation erfüllt sind (vgl. § 24 S. 110 — 111).
Jeden durch Induktion bedingten negativen oder positiven Zuwuchs
zur Dissimilation oder Assimilation will ich im folgenden als ein Indukt
bezeichnen.
Das in einem Elemente p der Sehsubstanz eben bestehende Indukt ist
das summarische Ergebnis der unzählbaren gleichzeitigen Wechselwirkungen,
die zwischen diesem Elemente einerseits und sämtHchen Elementen seiner
Umsebuns: andererseits stattfinden. Je nachdem in einem der letzteren ein
\) In den Zeilen 6—10 der vorigen Seite (bzw. der letzten Seite der II. Lie-
ferung dieser Grundzüge) fehlen die im folgenden berichtigten Texte gesperrt
gedruckten Worte: »Jedes Element, dessen Dissimilation größer ist als seine
Assimilation (Z)>J.), induziert in seiner Umgebung einen positiven Zuwuchs
zu derjenigen Assimilation und einen negativen zu derjen igen Dissimila-
tion, welche ohnedies hier stattfinden würde ; jedes Element, dessen Assimilation
größer ist als seine gleichzeitige Dissimilation (Z)<J.), induziert in der Umgebung
einen positiven Zuwuchs zu der daselbst anderweit bedingten Dissimilation
und einen negativen zur Assimilation.«
Hering, Lichtsinn. W
162 Lehre vom Lichtsinn.
I^-Überschuss {D^A) oder ein ^-Überschuss (D<^Ä) besteht, ist das
durch die Wechselwirkung zwischen ihm und dem Elemente e in letzterem
erzeugte Einzelindukt ein Dunkel- oder ein Hellindukt. Da in der Umge-
bung eines Elementes hell- und dunkelinduzierende Elemente gleichzeitig vor-
handen sein können, die in entgegengesetztem Sinne auf den Stoffwechsel
des Elementes induzierend wirken und sich deshalb mehr oder weniger
in ihrer Wirkung aufheben, so hat man sich das aus allen diesen Einzel-
indukten erwachsende Gesamtindukt als die algebraische Summe
sämtlicher Einzelindukte zu denken. Dasselbe möge mit J bezeichnet
werden.
Jedes Indukt, welches einen negativen Zuwuchs zur Dissimilation oder zur
Assimilation bedingt, lässt sich als etwas die Dissimilation bzw. Assimilation
minderndes, jedes einen positiven Zuwuchs bedingende Indukt als etwas den
bezüglichen Teilprozess des Stoffwechsels förderndes auffassen. Steht einer dieser
beiden Prozesse eines Elementes gleichzeitig unter einem solchen mindernden und
einem fördernden Einflüsse, so heben sich die letzteren teilweise oder im beson-
deren Falle ganz auf. Für die Rechnung verhalten sie sich daher wie negative
und positive Größen, und ihre algebraische Summe ergiebt den tatsächlichen
Wert des für das fragliche Element geltenden Gesamtinduktes /. Ehe aber
dieses Gesamtindukt rechnerisch verwertet werden kann, ist es nötig, die Wechsel-
wirkung zwischen nur zwei, vom ganzen übrigen Sehfelde unabhängig gedachten
Elementen der Sehsubstanz theoretisch zu erörtern, was im nächsten Paragraphen
geschehen soll.
Jeder in einem Elemente der Sehsubstanz bestehende D-Überschuss
bedingt eine absteigende Änderung der Wertigkeit des Elementes (vgl. § 23
S. 1 04). Daher besagt das oben ausgesprochene Gesetz der Induktion zu-
gleich, dass jede absteigende Änderung eines Elementes einer in seiner Um-
gebung anderweit bedingten absteigenden Änderung entgegenwirkt und
dieselbe entweder nur verlangsamt oder zum Stillstand bringt oder dieselbe
sogar in eine aufsteigende verwandelt, eine in der Umgebung schon be-
stehende aufsteigende Änderung aber beschleunigt, bezw. eine solche hervor-
ruft, wenn an und für sich Gleichgewicht zwischen Dissimilation und
Assimilation bestehen würde. Das Analoge gilt mutatis mutandis für ein
induzierendes Element, in welchem ein ^-Überschuss und also eine auf-
steigende Änderung stattfindet.
Man könnte das Grau, welches dem Gleichgewichte zwischen Dissi-
milation und Assimilation entspricht als die tonfreie Mittelfarbe, jede hellere
Farbe als eine helle im engeren Sinne, jede dunklere F'^arbe als eine dunkle
im engeren Sinne bezeichnen. Die eine Hälfte der tonfreien Farbenreihe
würde hiernach sämtliche »helle«, die andere Hälfte sämtliche »dunkle«
Farben enthalten. Jeder absteigenden Änderung einer Stelle des Sehsubstanz-
feldes entspräche also an der korrelativen Stelle des psychischen Sehfeldes
eine »helle«, jeder aufsteigenden Änderung eine »dunkle« Farbe der ton-
freien Farbenreihe. Demnach verwandelt die Hellinduktion eine helle Farbe
§ 38. Gegenseitige Induktion zweier Elemente der Sehsubstanz. 163
in eine minderhelle oder in die Mittelfarbe oder sogar in eine dunkle, und
von der Dunkelinduktion gilt das Gegenteil.
Wie es möglich wird, dass der Stoffwechsel einer Stelle des somatischen
Sehfeldes je nach seiner Art und Größe mitbestimmend wirkt auf Art und Größe
des Stoffwechsels der Umgebung, wissen wir nicht. Als ein anatomisches
Substrat für die Bahnen solcher Wirkung bietet sich uns sowohl im Gehirn als
in der Netzhaut der histologische Zusammenhang ihrer Nervenelemente dar. Auf
einen solchen hat bereits im Jahre 18 65 E. Mach hingewiesen, als er sich
auf Grund seiner Kontrastversuche der Annahme einer Wechselwirkung der
Netzhautstellen anschloss (13, I. S. 3 1 7).
Vorerst handelt es sich aber noch nicht darum, diese Wechselwirkung selbst
zu erklären, sondern darum, aus der Annahme einer solchen die Thatsachen zu
erklären. Es war also zunächst das Gesetz zu suchen, nach welchem die so-
matischen Sehfeldstellen sich gegenseitig in ihrem Lebensprozesse als dem
physischen Korrelate der Farben beeinflussen. Der besonders von Helmholtz
gemachte Versuch, die hierher gehörigen Thatsachen ohne Rücksicht auf das
somatische Geschehen unter ein brauchbares Gesetz zu bringen, ist gescheitert.
§ 38. Die gegenseitige Induktion zweier Elemente der Seh-
substanz. Nach unserer Annahme ist der gegenseitige Abstand zweier
Empfangselemente der Netzhaut maßgebend für die gegenseitige Ab-
hängigkeit der denselben zugeordneten Elemente der Sehsubstanz, derart
dass mit jenem Abstände diese Abhängigkeit nach einem uns unbekannten
Gesetze abnimmt. Jedem räumlichen Abstände zweier Empfangselemente
der Netzhaut entspricht sozusagen ein bestimmter funktioneller Abstand
der zugeordneten Elemente der Sehsubstanz.
Wir wollen uns zunächst zwei Elemente e und e von gleichem Gehalt
an Sehsubstanz denken, die zwar untereinander in Wechselwirkung ständen,
aber von dem Geschehen in allen übrigen Elementen des Sehsubstanzfeldes
ganz unabhängig wären, und wollen die jeweilige Größe ihrer Dissimilation
mit D und 2>, die der Assimilation mit Ä und A bezeichnen. Der durch
D — A ausgedrückte Oberschuss oder Unterschied im Elemente e induziert
in e das Indukt i, der Überschuss oder Unterschied D — A im Elemente e
induziert in e das Indukt i.
Die tonfreie Dissimilation und Assimilation finden gleichzeitig in der-
selben Substanz statt und sind also nicht derart gegensätzhch, dass das
Bestehen der einen das gleichzeitige Bestehen der anderen ausschlösse.
Wohl aber schließt selbstverständlich ein eben bestehender D-Überschuss
einen gleichzeitigen J.-Überschuss aus und umgekehrt. Dementsprechend
kann man zwar zu rechnerischem Zwecke einen D-Überschuss als
einen positiven, einen JL-Überschuss als einen negativen Über-
schuss oder Unterschiedswert bezeichnen und auf diese Weise
Gleichungen entwickeln, welche für Dunkel- und Hellinduktion zugleich
gelten, nicht aber darf man die Assimilation selbst als eine ne-
gative Dissimilation in die Rechnung einführen.
41*
164 Lehre vom Lichtsinn.
Die Grüße des Induktes i oder i ist nach meiner Annahme
unter normalen Umständen der des induzierenden Überschusses
(Unterschiedes) direkt proportional und beträgt einen, je nach dem
gegenseitigen Abstände der beiden Elemente verschiedenen, äußerst kleinen
Bruchteil des induzierenden Oberschusses. Dieser bei gegebenem Abstände
konstante Bruchteil möge als der für den funktionellen Abstand der beiden
Elemente gültige Induktionskoeffizient mit /^ bezeichnet werden. Dem-
entsprechend ist
im Elemente e: im Elemente e:
i = k(jy — A) i = k(D-A] (1)
Die Dissimilation und Assimilation eines Elementes würde, wenn es
keine Induktion gäbe, nur durch seine Wertigkeit und den jeweiligen 7>-Reiz
bestimmt sein, wie dies in § 23 dargelegt wurde. Es wurde dort die
lediglich von der Wertigkeit abhängige autonome Dissimilation eines
Sehsubstanzelementes mit ^, seine autonome Assimilation mit a bezeichnet.
Die autonome Dissimilation drückte zugleich die jeweilige 7) -Erregbarkeit
des Elementes gegenüber einem D-Reize aus, und es ließ sich deshalb der
Zuwuchs, den die autonome Dissimilation durch den Reiz r erhält, gleich
ör setzen i). Wären also die beiden Elemente e und e in ihrem Stoffwechsel
voneinander unabhängig, so würden für ihre Dissimilation und Assimilation
folgende Gleichungen gelten:
I)=.Ö-i- dr 1> = d' -f (fr
Ä= a A = a
Infolge der gegenseitigen Induktion ändern sich diese Werte der
Dissimilation und Assimilation, und wir müssen die Indukte i und i mit in
Rechnung bringen. Demnach ist
Dc=ö-\-dr — i j)=(f-{-ör — i]
A = a -\-i A = ci -\- i J ^ '
D — Ä= d ~ a -i- ör — 'Z i D~A=ö — a-i- ör — 2 i
Aus diesen Gleichungen und den oben angeführten Gleichungen (1)
i = k (D ~A) i = k{D — Ä)
lässt sich der Wert von i bezw. / ableiten, dem ich im Hinblick auf Spä-
teres folgenden Ausdruck geben will:
k
- 4^2" [(^ - « - 2 Mc5 - «)] + 4-^^-, {ör - 2 k ör)
L-4^2-[(^"-«-2M^-«)]+|_^^,,(c5r~2/.d>)
(3;
Innerhalb der Grenzen der normalen Stoffwechselbedingungen lässt sich,
wie in § 2 3 besprochen wurde^ die Summe der autonomen Dissimilation und
\) J" ist hier nicht als Variationszeichen, sondern als Faktor anzusehen.
§ 'iS. Gegenseitige Induktion zweier Elemente der Sehsubstanz. 165
Assimilation eines Sehsubstanzelementes als eine Konstante betrachten, die ich
behufs bequemer Darstellung gleich 2 setzte. Hiernach ist die jeweilige Wertig-
keit der Sehsubstanz schon durch den Wert von ö oder « allein gekennzeichnet,
und man kann in obiger Gleichung d — cc durch 2 {ö — I ) und ö — « durch
2 (ö — i ) ersetzen. Diese sowie die anderen möglichen Umformungen der
Gleichungen lasse ich unberücksichtigt.
Wären also die Wertigkeiten und die Reize der beiden Elemente e
und e sowie der für ihren funktionellen Abstand geltende Induktionskoeffi-
zient k gegeben, so ließe sich aus obigen Gleichungen für jedes der beiden
Elemente die Größe seines Induktes ableiten.
Auf Grund der Gleichungen (2)
würden sich dann auch die Grüßen der Dissimilation und Assimilation jedes
Elementes und daraus wieder (vgl. § 22 S. 103) die tonfreien Farben und
Helligkeiten der zugehörigen Stellen des psychischen Sehfeldes ergeben.
Je nachdem aus Gleichung (3) für das Indukt i ein positiver oder nega-
tiver Wert folgt, bestände für das Element e eine Dunkel- oder eine Hellinduk-
tion. Ist nämlich i eine negative Größe, so ergiebt sich, dass
D = ö-^dr—[—i)
.4 = « + (— i)
und dass also die Dissimilation einen positiven, die Assimilation einen negativen
Zuwuchs durch die Induktion erhält, woraus für die korrelative Farbe ein Hellig-
keitszuwuchs folgt. Das Analoge gilt für das Element e.
Wie die Gleichung (3) lehrt, setzt sich der Wert des Induktes i (bezw. i)
aus zwei Teilen zusammen, deren erster, im folgenden mit Iq bezeichneter,
das endogene Teiiindukt genannt werden kann, weiter, abgesehen von
dem Induktionskoeffizienten /j, nur von der, durch die Wertigkeit bedingten
Größe der autonomen Dissimilation und Assimilation der beiden Elemente
abhängt. Wenn das Auge ganz unbelichtet, und also die Reize r und r
gleich Null wären, so würde dieses endogene Teiiindukt allein die Größe
des Induktes i bestimmen. Für das unbelichtete Auge wären also
t =^ i
k
■l = tn =
\{ö — a — 2k(ö — a)\
[4)
und für den Fall, dass beide Elemente dieselbe Wertigkeit hätten, wäre
Das endogene Indukt wäre also in beiden Elementen gleich und proportional
zum ünterschiedswerte ö — a.
-^Qß Lehre vom Lichtsinn.
Der zweite im folgenden mit *,. oder i^ bezeichnete Teil von l oder i
möge das exogene Teilindukt heißen, weil sein Wert mit von den beiden
Reizen r und r abhängig ist. Bei unveränderten Wertigkeiten der beiden
Elemente, aber geänderten Reizwerten ist also nur das exogene Teilindukt
geändert. Für dasselbe gilt die Gleichung
k
[ör — ^ k ör)
^ 1 — 4 Ä:2
(5)
Im Hinblick auf die weiteren Erörterungen sei noch hervorgehoben,
dass sich aus der letzteren Gleichung u. a. folgende Sätze ergeben:
l. Je größer der eigene D-Reiz des einen Elementes im Vergleiche mit
dem D-Reize des anderen ist, desto kleiner ist sein eigenes exogenes
Indukt und desto größer das exogene Indukt im anderen Elemente.
n. Ein positiver (bezw. negativer) Zuwuchs zum D-Reize des einen Ele-
mentes bedingt in diesem einen proportionalen negativen (bezw.
positiven) Zuwuchs zu seinem exogenen Indukt und einen posi-
tiven (bezw. negativen) Zuwuchs zum exogenen Indukte des anderen
Elementes.
III. Wenn beide D-Reize im gleichen Verhältnisse vergrößert oder ver-
kleinert sind, so ist auch das exogene Indukt in beiden Elementen in
demselben Verhältnis vergrößert oder verkleinert.
IV. Wenn die beiden Reize gleiche Größe r haben, so verwandelt sich
die Gleichung (5) in
'V = (tT,.f(^-^*<')
*V = (4z:^)'-(^--2^'»
In jedem der beiden Elemente ist dann das exogene Indukt propor-
tional zum gemeinsamen Reize r.
V. Wenn die Wertigkeit der beiden Elemente gleich ist, so verwandelt
sich Gleichung (5) in
v = (t4i;^)<'(^-2'-)
Dann ist in beiden Elementen das Indukt proportional zur Wertigkeit ö.
VI. Ist nicht nur die Wertigkeit, sondern auch der D-Reiz in beiden
Elementen gleichgroß, so ergiebt sich
V = ir = (t^u) ^ '•
§ 39. Induktion zwischen einem Element und dem Gesamtfelde. 167
Das exogene Indukt ist dann in beiden Elementen das gleiche und
proportional zu ihrer Wertigkeit und ihrem D-Reiz.
Der infolge einer Änderung der Netzhautbeleuchtung unter Mitwirkung
der Induktion eintretende neue Zustand der Sehsubstanz bedarf einer ge-
wissen, wenn auch kurzen Zeit zu seiner Herstellung. Steigt oder sinkt
der D-Reiz eines Elementes und damit zugleich der, die Stärke der Induk-
tion bestimmende Unterschiedswert D — A sehr schnell, so kann sich, wie
später zu erörtern sein wird, das durch die Gleichung ausgedrückte Indukt
in merklicher Weise oszillatorisch entwickeln. Immer vergeht eine gewisse
kleine Zeit, bis die Sehsubstanz auf den, der geänderten Netzhautbelichtung
entsprechenden neuen Zustand eingestellt ist^). Freilich ist auch diese
Einstellung eine nur vorübergehende. Denn jedes Überwiegen der Dissi-
milation über die Assimilation ist mit einer Abnahme, jedes Überwiegen
der Assimilation mit einer Zunahme der Wertigkeit verbunden. Der unter
Mitwirkung der Induktion entstandene neue Zustand ist daher auch bei
unveränderter Fortdauer der neuen Belichtung kein beständiger.
§ 39. Die Induktion zwischen einem Element und dem
Gesamtfelde der Sehsubstanz. Der im letzten Paragraphen ange-
nommene Fall einer gegenseitigen Induktion zwischen zwei Elementen, die
unabhängig von allen übrigen lediglich unter sich in Wechselwirkung stän-
den, kann zwar in Wirklichkeit nicht vorkommen 2)^ giebt aber eine Grund-
lage für die Untersuchung der Induktion zwischen einem Elemente einerseits
und dem es umgebenden Gesamtfelde andererseits, welche Untersuchung
uns die Erklärung der im III. und V. Abschnitte beschriebenen Tatsachen
ermöglichen soll.
Die folgenden Erörterungen behalten ihre Gültigkeit auch dann, wenn
die von einem Elemente ausgehende Wirkung sich nicht bis an die äußerste
Grenze des Gesamtfeldes erstreckte, und also jedem Elemente nur ein mehr
oder weniger begrenzter Wirkungskreis zukäme.
Ein Element e steht gleichzeitig mit allen übrigen in ähnlicher Wechsel-
wirkung, wie mit dem im vorigen Paragraphen allein in Betracht gezogenen
i) Schon bei Besprechung der Erscheinungen des reinen Simultankontrastes
habe ich betont, dass man z.B. die Deckblätter von den auf Tafel II dargestellten
Kontrastbildern nicht allzuschnell wegziehen soll.
2) Selbst wenn keinerlei Abirrung des Lichtes [vgl. § 33) bestände und es
dementsprechend möglich wäre, dass nur zwei Elemente der Empfangsfläche
Licht empfingen und nur zwei Elemente der Sehsubstanz gereizt würden, und
wenn zugleich alle übrigen Elemente mittelwertig wären, und daher von
vornherein in ihnen weder D- noch J.-Überschüsse beständen, würden doch die
beiden allein gereizten Elemente den Stoffwechsel ihrer Umgebung durch Induk-
tion ändern und diese Änderungen wieder auf sie selbst zurückwirken müssen.
Demnach wäre der im vorigen Paragraphen gesetzte Fall auch dann nicht ver-
wirklicht.
168 Lehre vom Lichtsinn.
Elemente e, jedoch mit dem Unterschiede, dass seinen mannigfach A-er-
schiedenen funktionellen Abständen von den übrigen Elementen ebenso
mannigfach verschiedene Induktionskoeffizienten {k] entsprechen, und dass
jedes der übrigen Elemente, ebenso wie das Element e selbst, wieder von
sämtlichen Elementen der Sehsubstanz durch Induktion beeinflusst wird.
Es erteilt und empfängt jedes Element soviele Einzelindukte, als Elemente
außer ihm vorhanden sind, und aus der algebraischen Summation aller
dieser Einzehndukte entsteht in jedem Element das Gesamtindukt J,
dessen Größe in den einzelnen Elementen gleichzeitig verschieden sein kann.
Letzteres folgt unter gewöhnlichen Umständen schon aus der A^erschieden-
heit der jD-Reize, welche gleichzeitig auf die verschiedenen Elemente wirken,
anderenteils ist es durch die Verschiedenheit ihrer jeweiligen Wertigkeit
bedingt. Ganz besonders die Reize und Wertigkeiten der Nachbarn eines
Elementes werden für die Größe seines Gesamtinduktes maßgebend sein.
Somit tritt jetzt an die Stelle des minimalen Induktes «', das dem
Elemente e zukam, als wir es lediglich mit dem Elemente e in Wechsel-
wirkung und von allen übrigen unabhängig dachten, das Gesamtindukt J,
und für die Dissimilation und Assimilation jedes Elementes gelten nunmehr
nach Analogie der Gleichung (2) in § 38 die Gleichungen
D = ^~ -j- dr — J und Ä = cc -^ J
Aus diesen Gleichungen würden sich dann auch für die korrelative
Stelle des psychischen Sehfeldes die Gleichungen für die daselbst erschei-
nende Farbe sowie für die Helligkeit und das Gewicht der Farbe ableiten
lassen. Denn wie früher (S. 34 1) und 1 03) dargelegt wurde, lässt sich
durch das Verhältnis zwischen der in einem Element der Sehsubstanz
eben stattfindenden Dissimilation und Assimilation [D : A) die Qualität {W: S)
der korrelativen tonfreien Farbe eindeutig bezeichnen, desgleichen durch
die Weißlichkeit oder Helliijkeit | --^ | und durch I) + .1 das
D -{- Ä ^ \ W-h S f
Gewicht ( W -j- S) der Farbe.
Ebenso wie wir uns im vorigen Paragraphen das im Elemente e durch
die Induktion seitens des Elementes e bedingte Einzelindukt i in einen
endogenen Teil Iq und einen exogenen i^, zerlegt dachten, lässt sich auch
das summarische Gesamtindukt / als aus Jq und J^ bestehend ansehen.
Jq ist das endogene Gesamtindukt, d. h. die algebraische §umme der sämt-
hchen minimalen endogenen Einzelindukte, welche das Element von allen
anderen Elementen empfängt, und analogerweise ist J,. das exogene Ge-
samtindukt, d. h. die algebraische Summe aller für das Element geltenden
exogenen Einzelindukte. Während J^ lediglich von den im allgemeinen
i) Auf S. 34 Z. 3 u. 5 von unten ist statt des F ein H zu setzen.
§ 40. Einfluss der Induktion auf die Eigenhelligkeit des Sehorganes. 169
verschiedenen Wertigkeiten der anderen Elemente abhängt, ist /,. zugleich
von sämtlichen im fraglichen Zeitpunkt auf diese Elemente wirkenden
D-Ke'izen abhängig.
Da also / = Jg -{- /,., so ist
D = d -\- ör — Jg — Jj., und A = a -{- Jg -\- /,. .
Hiernach ist auch die Dissimilation und Assimilation in je einen endo-
genen Teil Dg bezw. Äg und einen exogenen Teil D,. bezw. A,. zerlegbar,
und zwar ist t^ ^ t .
Dg=Ö — Jg Ag = C(-{-Jg
und
D,= d,-J, A, = J,.
Die jeweilige Größe der Dissimilation und Assimilation aber ergiebt
sich aus
D = Dg-{-d,.— J, und A=^Ag-i-J,..
Wäre also für ein beliebiges Element der Sehsubstanz die Wertigkeit,
der es treffende D-Reiz und das ihm zukommende endogene und exogene
Gesamtindukt gegeben, so wäre hieraus für die bezügliche Stelle des psy-
chischen Sehfeldes die Farbe F, deren Helligkeit H und Gewicht G aus
folgenden Gleichungen ableitbar:
F oder W : S={Dg-{- Ör ~ J^):{Ag-\- J,
W-i- .S d 4- « + (5r
oder wenn wir wieder ö + « = 2 setzen (vgl. S. 1 05)
2 -i-dr ^ '
G^=2 4-()r.
Das Gewicht der tonfreien Farbe einer Sehfeldstelle ist also unab-
hängig von den in der Sehsubstanz eben bestehenden Induktionen und eine
lineare Funktion des Produktes aus der Wertigkeit und dem D-Reize des
bezüglichen Elementes der Sehsubstanz.
§ 40. Der Einfluss der Induktion auf die Eigenhelligkeit
des Sehorganes. Nach der hier entwickelten Theorie der Induktion wirkt
nicht die Bestrahlung des Sehepithels als solche induzierend, sondern der
Stoffwechsel der Sehsubstanz, der zwar unter Vermittlung des Sehepithels
durch das Licht verändert wird, aber auch bei Ausschluss jedes äußeren
Reizes fortwährt. Verhielte es sich anders, so könnte im unbelichteten
Sehorgane keine Induktion stattfinden. Dass aber auch da Induktionen
erfolgen, solange die Sehsubstanz noch nicht allenthalben in den Zustand
der Mittel Wertigkeit zurückgekehrt ist, lehren uns die später zu besprechen-
den Nachwirkungen der Bestrahlunsr im verfinsterten Auge.
170 Lehre vom Lichtsinn.
Zu diesen gehört auch folgende Erscheinung: Wenn wir einige Zeit
hindurch den Augen eine weitausgedehnte Fläche von überall möglichst
gleicher Lichtstärke, z. B. eine weiße, nicht von der Sonne beschienene
Zimmerwand dargeboten oder im hellen Zimmer sitzend vor jedem Auge
ein gut angepasstes halbkugelig geformtes Mattglas oder Milchglas ge-
tragen haben, und nachher die Augen lichtdicht bedecken, so sind zunächst
alle Teile der Sehsubstanz im Zustande mehr oder minder großer Unter-
wertigkeit und es besteht überall ein entsprechender ^-Überschuß. Gäbe
es jetzt keine Induktion, so wäre in allen Elementen der Sehsubstanz die
Dissimilation und die Assimilation lediglich eine autonome, die Eigenfarbe
jeder Stelle des Sehfeldes wäre nur durch das Verhältnis d'-a, und die
V V
Helligkeit dieser Farbe durch ^,— - — = — bestimmt. Infoke der Induktion
o -j- « 2
seitens seiner Umgebung aber erhält das Element das endogene Gesamt-
indukt J"o, welches, da überall ein ^-Überschuss besteht, ein Hellindukt
ist. In jedem Elemente ist daher D = d -\- Jq, ä = a — /(,, und die der
korrelativen Stelle des psychischen Sehfeldes eigene Helligkeit H= — -^
oder .^ , also, da /^ ein Hellindukt ist, größer, als sie ohne die In-
duktion sein würde.
In der That sehen wir unter den eben erwähnten Umständen nach
der Verfinsterung der Augen keineswegs ein tiefes Schwarz, wie dies nach
der üblichen Ermüdungslehre zu erwarten wäre, sondern die Eigenfarbe
unseres Auges ist jetzt nur mehr oder weniger schwärzlich-grau und wird
weiterhin nicht etwa dunkler, sondern noch heller.
Hat man die Augen vor ihrer Verfinsterung ungewöhnlich stark be-
lichtet, z. B. die Himmelsfläche oder eine besonnte Mauer- oder Schnee-
fläche betrachtet, so sind die Bedingungen des gewöhnlichen Sehens mit
helladaptiertem Auge überschritten, und es können später zu besprechende
außergewöhnliche Erscheinungen auftreten.
Nach der üblichen Ansicht wäre das offene Auge tagsüber in einem
Ermüdungszustande, der einen um so höheren Grad hat, je stärker die
Beleuchtung der uns umgebenden Dinge ist. Der stetige »innere Licht-
reiz«, welcher auch bei gänzlicher Verfinsterung unverändert fortbestehen
soll, müsste dann wegen der sehr herabgesetzten »Erregbarkeit« der Netz-
haut eine so schwache »Erregung« derselben bewirken, dass die Eigen-
farbe jenem absoluten Schwarz sehr nahe kommen müsste, welches nach
dieser Lehre dem Fehlen jeder »Erregung« entsprechen würde. Dies ist,
wie gesagt, nicht der Fall.
Durch die beschriebene wechselseitige Hellinduktion im reizfreien unter-
wertigen Sehsubstanzfelde wird die aufsteigende Änderung der Sehsubstanz
§ 4i. Beziehungen zwischen Helligkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchtung. 171
verlangsamt und letztere erreicht die Mittelwertigkeit später, als wie dies
ohne Induktion der Fall sein würde. In dem Maße aber, als die anfäng-
liche Unterwertigkeit sich wieder vermindert, wird auch die Eigenhelligkeit
wieder grüßer und nähert sich der Helligkeit des mittlen Grau, durch wel-
ches die Mittelwertigkeit charakterisiert ist.
§ 41. Die Beziehungen zwischen den Helligkeiten der Seh-
dinge und der Gesamtbeleuchtung der sichtbaren Außendinge»
Es ist anzunehmen, dass das Licht nur deshalb ein Reiz für die Seh-
substanz ist, weil es im Sehepithel teilweise absorbiert wird, und dass
daher nur ein in andere Energieart umgesetzter Teil der Strahlungsenergie
als JD-Reiz r in Rechnung kommt. Die Menge der absorbierten Energie
ist von der jeweiligen Beschaffenheit und Menge des absorbierenden Em-
pfangstoffes abhängig und zur Energie der auffallenden Strahlung pro-
portional. Hiernach lässt sich mit Wahrscheinlichkeit auch der D-Reiz
zur Lichtstärke der bezüglichen Netzhautbildstelle proportional setzen,
welche Lichtstärke bei gleicher Pupillenweite wieder zur Lichtstärke des
auf der Netzhautstelle abgebildeten Außendinges proportional ist.
Infolge dieser durchgängigen Proportionalität giebt uns die in § 39
entwickelte Gleichung
H^
Dq 4- dr — J^
2 4- ()>
Aufschluss über die Art der Abhängigkeit der Helligkeiten im psychischen
Sehfeld sowohl von den Lichtstärken im Netzhautbilde, als zugleich auch
von den Lichtstärken der abgebildeten Außendinge, oder wie man zu sagen
pflegt, über den Zusammenhang zwischen »objektiver« und »subjektiver«
Helligkeit.
Man denke sich ein bei wiederholter Betrachtung in allen räumlichen
Beziehungen unverändertes Gesichtsfeld, das nur aus nicht selbstleuchtenden
Dingen von gleichbleibendem Remissionsvermögen (vgl. § 16) besteht, dazu
eine unverändert bleibende Lage des Auges und eine Gesamtbeleuchtung,
die nur in ihrer Stärke, nicht aber in der Art ihrer Verteilung über das
Gesichtsfeld veränderlich ist, so dass die Lichtstärken aller Teile desselben
stets in gleichem Verhältnis zu- oder abnehmen, wenn die Gesamtbeleuch-
tung zu- oder abnimmt. Ein solches Gesichtsfeld, in dem also auch die
Verhältnisse zwischen den Lichtstärken seiner Einzelteile bei wiederholter
Betrachtung immer wieder dieselben wären, möge als ein stabiles be-
zeichnet werden. Auch das Gesamtnetzhautbild eines solchen Gesichtsfeldes
ist insofern ein stabiles, als die Verhältnisse zwischen den Lichtstärken seiner
Einzelteile sowohl von der Stärke der Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes,
als auch von der jeweiligen Pupillenweite, kurz gesagt, von der Stärke der
Gesamtbeleuchtung der Netzhaut unabhängig und also stabil sind.
172 Lehre vom Lichtsinn.
Insoweit der i)-Reiz, den eine Strahlung unter Vermittlung der Em-
pfangschichte der iNetzhaut auf die Sehsubstanz ausübt, bei gleichbleibender
Empfänglichkeit zur Energie der Strahlung proportional ist, entspricht der
Stabilität der Lichtstärkenverhältnisse im Netzhautbilde auch eine Stabilität
der Reizstärkenverhältnisse. Dabei können wegen Verschiedenheit der Em-
pfänglichkeit der einzelnen Netzhautstellen die Verhältnisse der Z)- Reizstärken
andere sein als die Verhältnisse der Lichtstärken; es kommt hier nur darauf
an, dass erstere bei jeder Stärke der Gesamtbeleuchtung dieselben bleiben.
In § 38 (S. 166, III) wurde für zwei Elemente e und e der Sehsubstanz,
die betreffs der Induktion lediglich voneinander abhängig wären, dargelegt,
dass, wenn bei unveränderten Wertigkeiten [6 und 6) der beiden Elemente
die Stärken ihrer beiden Z)-Reize (r und r) im gleichen Verhältnisse ge-
ändert wären, das exogene Indukt jedes Elementes in demselben Verhältnis
vergrößert oder verkleinert wäre, in welchem die beiden Reize vergrößert
oder verkleinert sind. Das Analoge muss nun auch für das in § 39
besprochene exogene Gesamtindukt J,. jedes Elementes gelten,
weil Jy, die algebraische Summe sämtlicher exogenen Einzel-
indukte des Elementes ist. Es wird also, wenn die D-Reize sämt-
licher Elemente der Sehsubstanz in gleichem Verhältnisse geändert sind,
in demselben Sinne und Verhältnisse auch das exogene Gesamtindukt jedes
Elementes geändert sein. Mit anderen Worten: Die Größe des exo-
genen Gesamtinduktes (/^) eines Elementes ist bei stabilem Ge-
sichtsfelde proportional zur Gesamtbeleuchtung der Netzhaut,
wenn zugleich auch das somatische Sehfeld ein stabiles ist,
d. h. die Empfänglichkeiten aller Einzelteile der Empfangschichte und die
Wertigkeiten aller Teile des Sehsubstanzfeldes unverändert sind.
Unter solchen Umständen haben also die Werte von r und Jy als
proportional zur Stärke der Gesamtbeleuchtung der Netzhaut zu gelten,
und ist deshalb das Verhältnis zwischen r und /,. ein unver-
änderliches. Bezeichnen wir durch n den Koeffizienten, mit w^elchem
wir den Wert von ^r versehen müssen, um den Wert von J,. auszu-
drücken, so ist Jy = ndr und ör — Jy = ör (1 — w), wobei zu bemerken
ist, dass der Wert von n nie auf o herabsinken könnte, weil dies das
Fehlen jeder Induktion bedeuten würde und nie bis auf 1 ansteigen könnte,
weil damit gesagt wäre, dass die Dissimilation trotz gegebenem D-Reiz r
keinen Zuwachs erfahre.
Die in § 39 S. 168 entwickelten Gleichungen für die Assimilation und
Dissimilation, die Farbe F und ihre Helligkeit //verwandeln sich nunmehr in
die Gleichungen ^ _ D^^{-Sr (I —n); A = .4^ + nör
F-^[Do-^ör(\-n}]:[Ä, + nör]
§41. Beziehungen zwischen Helligkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchtung. 173
Aus der letzten Gleichung ist ersichtlich, dass in dem besonderen
Falle, wo ^^' = 1 — n ist, die Helligkeit unter den genannten Umständen
ganz unabhängig von r und also auch von der Gesamlbeleuchtung der
Netzhaut wird und, da Do = ö — Jq ist, nur noch durch die Wertigkeit
des fraglichen Elementes und das von den gleichzeitigen Wertigkeiten
aller übrigen Sehfeldelemente abhängige endogene Gesamtindukt Jq be-
stimmt wird.
Diese durch ^ ausgedrückte Helligkeit ist also dieselbe, welche an
der fraglichen Stelle auch dann gesehen würde, wenn die Netzhaut ganz
unbelichtet wäre, d. h. sie ist die eben bestehende Eigenhelligkeit
des fraglichen Elementes der Sehsubstanz, sofern außer dem Lichte
auch jeder zufällige, nichtoptische Reiz ausgeschlossen ist. Während aber
bei unbelichteter Netzhaut das Gewicht der jeweiligen Eigenfarbe nur
= (5 + ") d. h. =2 wäre, ist das Gewicht der nach Qualität und Hellig-
keit gleichen Farbe, welche uns im besprochenen Falle bei offenem Auge
an der bezüglichen Stelle des Gesichtsfeldes erscheint = 2 -|- dr.
In jedem stabilen Gesichtsfelde kann es also, gleichbleibende
Empfänglichkeiten und Wertigkeiten im somatischen Sehfelde
vorausgesetzt, eine oder auch mehr Stellen geben, deren Hellig-
keit von der jeweiligen Stärke der Gesamtbeleuchtung des Ge-
sichtsfeldes und der Netzhaut unabhängig ist, und die uns des-
halb bei jeder beliebigen schwachen oder starken Gesamtbe-
leuchtung in derselben Helligkeit erscheinen, sofern die Stärke
der Beleuchtung nicht etwa das Leistungsvermögen unseres Sehorganes
überschreitet.
Aus der Gleichung D^-f^,. (i_,,)
ergibt sich ferner, dass, wenn 1 — n kleiner als -^ ist, die Helligkeit
der tonfreien F^arbe, in der wir die bezügliche Stelle des sta-
bilen Gesichtsfeldes sehen, umso kleiner und also ihre Dunkel-
heit umso grüßer ist, je stärker die Gesamtbeleuchtung der
Netzhaut ist, und dass nur dann, wenn 1 — n größer als -y ist,
mit der größeren Stärke dieser Gesamtbeleuchtung auch eine
größere Helligkeit H einhergeht.
Ob also bei gegebenen W^ertigkeiten sämtlicher Elemente der Seh-
substanz und gegebenen Empfänglichkeiten sämtlicher Elemente des Em-
pfangsfeldes die Helligkeit eines Außendinges bei stärkerer Gesamtbeleuch-
tung des Gesichtsfeldes größer oder kleiner als bei schwächerer, oder im
174 Lehre vom Lichtsinn.
besonderen Falle bei allen Beleuchtungsstärken dieselbe ist, hängt unter nor-
malen Umständen lediglich von der jeweiligen Verteilung der Lichtstärken
im übrigen Gesichtsfelde ab.
Diese Folgerungen aus dem Induktionsgesetze stehen, wie noch im
einzelnen zu erörtern sein wird, mit den in § 17 S. 70 — 72 beschriebenen
Tatsachen in Einklang, dagegen in schrofYem Widerspruche zu der land-
läufigen Behauptung, dass die Helligkeit aller eben sichtbaren Außendinge,
gleiche »Erregbarkeit« des Auges vorausgesetzt, mit der Stärke der Be-
leuchtung stets zunehme, sei es nach dem FECiiNEa'schen Gesetze oder nach
einer anderen Regel. Wollte man bei dieser Behauptung unter Helligkeit
die Lichtstärke der Außendinge verstehen, so würde man nur etwas
Selbstverständliches aussagen ; will man aber als Helligkeit eine Beschaffen-
heit der »Empfindung« bezeichnen, welche uns das von einem Außendinge
zur Netzhaut gelangte Licht erweckt, so behauptet man für die weit über-
wiegende Mehrzahl der Fälle von einem großen Teil der eben sichtbaren
Außendinge das Gegenteil von dem, was wahr und wirklich ist; denn eine
stärkere Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes und der Netzhaut kann nicht
bloß eine gesteigerte, sondern auch eine geminderte Helligkeit eines Außen-
dinges bedingen.
§ 42. Graphische Darstellung der Beziehungen zwischen
der Helligkeit der Sehdinge und der Stärke der Gesamtbeleuch-
tung der Außendinge. Wie im vorigen Paragraphen dargelegt wurde,
drückt die Gleichung
2-i-ör ^^
das Gesetz aus, nach welchem bei gegebenem Zustande des Sehorganes und
gegebenem Gesichtsfelde die Helligkeit eines Sehdinges von der Stärke der
Gesamtbeleuchtung der Netzhaut abhängt. Dies möge nun durch einige
Kurven anschaulich gemacht werden.
Wir denken uns also ein stabiles Gesichtsfeld und ein stabiles soma-
tisches Sehfeld, wie es im vorigen Paragraphen definiert wurde; damit sind
zugleich die Werte von (5, Dq und n gegeben. Als einzige Variable bleibt
die zur jeweiligen Gesamtbeleuchtung der Netzhaut proportionale Grüße
von r übrig, welche auf der Abszissenachse eines rechtwinkeligen Koordi-
natensystems abgetragen wird. Die Helligkeitswerte sind auf der Ordinaten-
achse abzutragen^ auf welcher der Nullpunkt S dem absoluten Schwarz und
also der Helligkeit 0, der Punkt W dem absoluten Weiß und also der
maximalen Helligkeit 1 entspricht, wie dies schon in § 21 S. 97 erörtert
wurde. Wie groß wir die dem Einheitswerte von r entsprechende Abs-
zisse nehmen, ist ebenso willkürlich wie die Länge, welche wir der ton-
freien Farbenlinie SIV auf der Ordinatenachse geben.
§ 42, Beziehungen zwischen Helligkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchtung. 175
Ist die Beleuchtungsstärke des Gesichtsfeldes und also auch r gleich
Null, so verwandelt sich unsere Gleichung in
2 •
Dies bedeutet, dass die Helligkeit der dem bezüglichen Elemente e der
Sehsubstanz entsprechenden Stelle des psychischen Sehfeldes nur noch von
der eben bestehenden Wertigkeit des Elementes e einerseits und von den
Wertigkeiten sämtUcher Elemente seiner Gesamtumgebung andererseits ab-
hängig ist (vgl. § 40). Der dieser Helligkeit entsprechende Punkt
der tonfreien Farbenlinie SW ist der Anfangspunkt der zu be-
stimmenden Kurve.
Um mit dem einfachsten Falle zu beginnen, sei angenommen, dass
sämtliche Elemente der Sehsubstanz sich im Zustande der Mittelwertigkeit
befinden und daß also überall d =: 1 und d — « = 0 sei. VV^enn solchen-
falls das Gesichtsfeld ganz unbeleuchtet wäre, so wäre auch D — ^ = 0,
denn es gäbe nirgends in der Sehsubstanz einen D- oder ^4-Überschuß
und folglich auch keinerlei Induktion. Dann wäre für das Element e
D^^d= 1, und ^^'^=.0,5.
Ist jedoch das Gesichtsfeld beleuchtet, v^obei seine einzelnen Teile beliebig
verschiedene Lichtstärke haben können, so ist auch der für das Element e
geltende Wert der Konstanten fi in die Gleichung (7) einzusetzen. Der-
selbe ist von der Verteilung der Lichtstärken auf der Netzhaut abhängig
und in Gemäßheit der Theorie stets ein echter Bruch. Jedem möglichen
Wert von n entspricht dann eine besondere Kurve, und alle diese Kurven
gehen von demselben Punkte (0,5) der Ordinatenachse aus. So ergiebt
sich eine ganze Schar von Helligkeitskurven, deren jede ein Stück
einer gleichseitigen Hyperbel ist.
In Figur 34 sind aus dieser Schar nur die Kurven dargestellt, welche
den am rechtseitigen Rande der Figur angemerkten fünf n-Wevien 0.2,
0.4, 0.5, 0.6, 0.8 und überdies der rein theoretischen Vollständigkeit
wegen auch noch die Kurven für die beiden Grenzfälle, wo n = i, oder
= 0 wäre, was in Wirklichkeit ausgeschlossen ist.
Die oberste Kurve der Figur würde für den Fall gelten, wo w = 0
wäre, und also keinerlei exogenes Indukt bestände; sie wurde bereits in
§ 21 Fig. 16 abgebildet.
Um in die ungewohnte Methode einzuführen, nach welcher die Beziehungen
zwischen Lichtstärke und Helligkeit zu behandeln sind, wenn man die verschie-
denen tonfreien Helligkeiten nicht als Intensitätsstufen einer qualitativ gleichen
Empfindung, sondern als qualitativ verschiedene Empfindungen gelten lässt, habe
ich nämhch bereits in § 2 I S. 95 — 9 9 eine graphische Darstellung solcher Be-
ziehungen gegeben. Es geschah dies noch ohne jede Rücksicht auf die erst
176
Lehre vom Lichtsinn.
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§ 42. Beziehungen zwischen Helligkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchtung. 177
im IV. Abschnitte dargelegte Hypothese über die somatischen Korrelate der ton-
freien Farben und unter vorläufiger Weglassung der durch die Wechselwirkung
der Sehfeldstellen bedingten Verwickelungen, mit dem Hinweise auf die spätere
Erörterung derselben. Es wurde angenommen, daß durch die Belichtung ledig-
lich die weiße Komponente der jeweiligen Eigenfarbe des unbelichteten Auges
einen der Intensität der Belichtung proportionalen Zuwuchs erhalte, die schwarze
Komponente der Eigenfarbe aber unbeeinflusst bleibe. Nunmehr haben wir an
die Stelle der weißen Komponente der letzteren die entsprechende Größe von
ö, an Stelle der schwarzen die Größe von a gesetzt und den durch die Be-
lichtung bedingten Zuwuchs mit ör bezeichnet. Gäbe es keine Wechselwirkung,
so würden wir, nur mit veränderten Größen, für H dieselben Gleichungen er-
halten, wie die in § 21 aufgestellten.
Die unterste Kurve unserer Figur 34 veranschaulicht den anderen,
in Wirklichkeit ebenfalls ausgeschlossenen Grenzfall, bei welchem n = 1
und daher r (i — n) = 0, also der durch den D-Reiz r bedingte Zuwuchs
zur Dissimilation des Elementes e durch das exogene Dunkelindukt seitens
des übrigen Sehfeldes ganz aufgehoben wäre.
Die Zwischenräume zwischen je zwei Kurven der Fig. 34 hat man
sich durch alle die Kurven erfüllt zu denken, für welche der Wert von n
zwischen den zu den beiden Kurven gehörigen Werten liegen würde. Jede
Kurve verläuft um so flacher, je mehr sich der zugehörige Wert von n
demjenigen nähert, bei welchem \ — m = ^- ist, und an die Stelle der
Kurve eine Gerade tritt. Durch diese Gerade, welche die Linie der
unveränderlichen Helligkeit heißen möge, ist ausgedrückt, dass bei
diesem Werte von n und irgendwelcher, wenn auch noch so starken, je-
doch nicht schädigenden Beleuchtung des gegebenen Gesichtsfeldes, die ton-
freie Farbe der bezüglichen Sehfeldstelle immer dieselbe Qualität und also
auch Helligkeit hat. Nur in einer Beziehung ist diese Farbe nicht auf der
ganzen Linie, d. h. bei allen Beleuchtungsstärken des Gesichtsfeldes dieselbe,
nämlich inbetreff ihres Gewichtes; denn dieses wächst mit der Stärke der
Gesamtbeleuchtung der Netzhaut und ist eine Hneare Funktion derselben,
n unserer G leichung ist das jeweilige Gewicht der Farbe durch den Nenner
2 + ör ausgedrückt (vgl. § 39 S. 169).
Die ganze Kurvenschar der Fig. 34 ist durch die Linie der unver-
änderlichen Helligkeit in zwei Kurvengruppen geteilt, eine obere, dem Ge-
biete der übermittlen Helligkeiten, und eine untere, dem Gebiete der unter-
mittlen Helligkeiten angehörige Gruppe. Man sieht, dass es ganz von dem
Werte n abhängt, ob mit der Stärke der Gesamtbeleuchtung die Helligkeit
des Elementes, für welches die Kurven unserer Figur gelten, wächst oder
abnimmt oder ganz unverändert bleibt. In jeder Kurve der oberen Gruppe
wächst, abgesehen von letzterem Falle, mit der Stärke der Gesamtbeleuchtung
die der jeweiligen Ordinate entsprechende Helligkeit anfangs am meisten,
Hering, Lichtsinn. 42
178 Lehre vom Lichtsinn.
weiterhin immer weniger, und die Kurve nähert sich dabei immer mehr
einer zur Abszissenachse parallelen Geraden, welche die Asymptote der
Kurve und am rechtseitigen Rande der Figur durch den Wert der zur
Kurve gehörigen Konstanten 71 bezeichnet ist. Auf der schwarzweißen
Farbenlinie S W entspricht jeder solchen Asymptote die durch 1 — n aus-
drückbare Helligkeit.
Analoges gilt für jede Kurve der unteren Gruppe, jedoch mit dem
Unterschiede, dass hier mit steigender Stärke der Gesamtbeleuchtung der
Netzhaut die Helligkeit der bezüglichen Sehfeldstelle immer mehr abnimmt,
d. h. ihre Farbe sich mehr und mehr verschwärzt, und also ihre Dunkel-
heit sich ebenfalls einem durch die Asymptote der Kurve bestimmten
Maximum nähert.
So macht die Fig. 34 zugleich anschaulich, dass einerseits die Helligkeit,
andererseits die Dunkelheit der tonfreien Farbe, welche an der zum Ele-
ment 6 gehörigen Stelle des psychischen Sehfeldes gesehen werden kann,
eine gesetzmäßig limitierte ist, d. h. dass sie unter normalen Stoffwechsel-
bedingungen nie über eine gewisse, jeder einzelnen Kurve eigentümliche
Grenze hinausgehen kann; dass ferner diese Grenze der Helligkeit oder
Dunkelheit durch den für die bezügliche Kurve geltenden Wert von n und
also durch die exogene Induktion bestimmt ist und für jede Kurve um so
tiefer liegt, je größer der zugehörige Wert von n ist.
Fig. 34 lehrt ferner, dass das Bereich der Helligkeiten, bzw. Dunkel-
heiten, welche unter den angenommenen Voraussetzungen einem Sehfeld-
element zukommen können, um so kleiner ist, je weniger der Wert der
für das Element geltenden Konstanten n von demjenigen Werte abweicht,
bei welchem die Helligkeit des Elementes ganz unabhängig ist von der Stärke
der Gesamtbeleuchtung des gegebenen Gesichtsfeldes, d. h. wo für den hier
angenommenen Fall der Mittel Wertigkeit des Elementes
ist.
Jede Gerade, welche man sich parallel zur Abszissenachse durch die
Kurvenschar gelegt denkt, durchschneidet sämtliche Kurven an Punkten
gleicher Helligkeit, aber jeder solche Schnittpunkt entspricht einem anderen
Werte von r und also einer anderen Stärke der Gesamtbeleuchtung. So-
mit lehrt jede solche Linie gleicher Helligkeit (Isophane), dass
eine und dieselbe Stelle des gegebenen Gesichtsfeldes, je nach
dem für das bezügliche Element der Sehsubstanz eben gelten-
den Werte von w, bei den verschiedensten Stärken der Gesamt-
beleuchtung in derselben Helligkeit erscheinen kann.
Wie jede parallel zur Abszissenachse durch die Kurvenschar gelegte
Gerade eine Linie gleicher Helligkeit darstellt, so jede parallel zur Ordi-
§ 42. Beziehungen zwischen Helligkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchtung. 179
natenachse gehende Gerade eine Linie gleicher Reizstärke, denn sie
umfasst bei stabilem Gesichtsfelde und stabilem somatischen Sehfeld alle
Helligkeiten, welche bei einer und derselben Reizstärke je nach dem gleich-
zeitigen Werte von n theoretisch möglich sind. Der Umfang dieser bei
gleicher Reizstärke möglichen Helligkeiten eines und desselben Außenortes
wächst, wie Fig. 34 lehrt, mit der Stärke der allgemeinen Beleuchtung und
ist, rein theoretisch, durch die beiden Punkte begrenzt, in denen die Linie
gleicher Reizstärke einerseits die oberste, andererseits die unterste Kurve
der Kurvenschar durchschneidet. Da jedoch der durch die Größe des exo-
genen Induktes bestimmte Wert von 7i nie bis auf 1 steigen oder bis auf
0 sinken kann, so reicht in Wirklichkeit der Bereich der bei gleicher Be-
leuchtungsstärke möglichen Helligkeiten eines und desselben Außenpunktes
weder nach oben noch nach unten bis an die bezügliche theoretische
Grenzkurve heran. Hierdurch wird jedoch nichts daran geändert, dass je
größer die Beleuchtungsstärke und mit ihr der D-Reiz, desto größer auch
der Umfang der bei derselben Beleuchtungsstärke möglichen Helligkeiten
des bezüglichen Außenpunktes ist.
Der für Fig. 34 angenommene einfachste Fall der Mittelwertigkeit
aller Elemente der Sehsubstanz ist nur verwirklicht, wenn das Auge so
lange verfinstert worden ist, bis in der Sehsubstanz, wenn auch nicht zu-
gleich in der Empfangschichte, die Nachwirkungen einer vorausgegangenen
Belichtung verschwunden sind, und sich überall das autonome Gleichgewicht
zwischen Dissimilation und Assimilation wieder hergestellt hat; immer vor-
ausgesetzt, dass innere, durch Blutlauf und Atmung bedingte Reize nicht
mit in Betracht kommen. Bei offenem, im beleuchteten Räume beschäftigten
Auge aber herrscht immer eine je nach der Stärke der Beleuchtung größere
oder kleinere durchschnittliche Unterwertigkeit in der Sehsubstanz.
Dabei kann die W^ertigkeit an verschiedenen Stellen des Sehsubstanzfeldes
eine sehr verschiedene sein. War z. B. für ein Element der D-Reiz r vor-
her nur ein minimaler, während er für die Umgebung des Elementes groß
war, so kann das letztere infolge des starken exogenen Dunkelinduktes
sogar vorübergehend überwertig sein. Im allgemeinen aber besteht beim
gewöhnlichen Sehen eine, in den einzelnen Elementen der Sehsubstanz
allerdings verschiedene, Unterwertigkeit.
Es sei hier nochmals betont, dass die nervöse Sehsubstanz nicht mit den
in der Empfangschichte der Netzhaut enthaltenen Empfangstoffen (den Seh-
stoffen W. Kühne's) verwechselt werden darf. Die Sehsubstanz könnte z. B.
nach der Verfinsterung des Auges schon in den Zustand der Mittelwertigkeit
zurückgekehrt und also vollständig an die Finsternis adaptiert sein, während der
Gehalt der Empfangschichte an Empfangstoffen und mit ihm die Licht-
empfänglichkeit noch weiter wächst. Man darf, wie schon in § 25 (S. H 3)
gesagt wurde, die Anpassung der Sehsubstanz ebensowenig mit der Anpassung
des Empfängers verwechseln, als mit der Anpassung der Pupille.
12*
180 Lehre vom Lichtsirin.
Unter gewöhnlichen Unisländen wird also im Element c, um dessen
Helligkeitskurve es sich eben handelt, ein endogenes negatives Gesamt-
indukt d. i. ein Hellindukt bestehen (vgl. § 40), wenn nicht etwa zufällig
die algebraische Summe sämtlicher Einzelindukte seitens seiner Umgebung
= 0 wäre. Auch das Element e selbst wird nur in seltenen Ausnahme-
fällen mittelwertig oder überwertig, vielmehr im allgemeinen unterwertig
sein. Kurz gesagt, die durch —^ ausgedrückte Eigenhelligkeit des Ele-
mentes wird beim gewöhnlichen Sehen im allgemeinen nicht =0,5 d. i.
die Helligkeit des mittlen Grau, sondern kleiner und nur ausnahmsweise
größer sein.
Da der Wert von ~ d. h. von — ^ — ebensowohl von der Wertis:-
2 2
keit [ö] des Elementes e als von dem endogenen Gesamtindukte [Jq] ab-
hängt, welches es von seiner Gesamtumgebung erhält, so kann bei gleicher
Wertigkeit des Elementes der Wert von — ^ je nach der Größe dieses endo-
genen Induktes ein verschiedener sein; ebenso kann bei gleicher Größe des
endogenen Induktes der Wert von ^^ je nach W^ertigkeit des Elementes
ein verschiedener sein; endlich kann bei demselben Wert von ^^^ zu-
gleich die Wertigkeit des Elementes und die Größe des endogenen Gesamt-
induktes variieren. Hier muss ich mich begnügen, nur ein Beispiel für
die Fälle zu geben, wo ^*^ kleiner als 0,5 ist.
Ein solcher Fall von Unterwertigkeit des Elementes e und von gleich-
zeitiger, aus durchschnittlicher Unterwertigkeit des übrigen Sehsubstanz-
feldes folgender endogener Hellinduktion ist der Fig. 35 zugrunde gelegt.
Es ist für das Element e diejenige Unter Wertigkeit angenommen, bei welcher
d = 1/3 wäre. Die Größe des endogenen Gesamtinduktes ist auch ganz
willkürlich gleich 1/3 angenommen. Hieraus ergibt sich nach Gleichung
für Do der Wert 2/3 und also für -^ der Wert 1/3; ^^^^ Jo ist hier ein
Hellindukt und kommt als negative Größe in Rechnung (vgl. § 38 S. 1 65).
Der Linie unveränderlicher Helligkeit entspricht daher in Fig. 35 die
HeUigkeit 1/3-
Die im Vergleich mit Fig. 34 tiefere Lage der Linie unveränderlicher
Helligkeit charakterisiert alle Kurvenscharen, die für ein unterwertiges Ele-
ment gelten, wenn wie gewöhnlich beim Tagsehen seine Umgebung eben-
falls unterwertig ist. Je tiefer diese Linie liegt, desto größer ist das Gebiet
§ 4i. Beziehungen zwischen HeUigkeit der Sehdinge und Gesamtbeleuchlung. 181
faß
J^g2 Lehre vom Lichtsinn.
der bei wachsender Allgemeinbeleuchtung ansteigenden, desto kleiner das
Gebiet der dabei absinkenden Helligkeitskurven.
In Fällen, wo -^ grüßer als 1/2 wäre, und daher die Linie der un-
veränderlichen Helligkeit höher läge als in Fig. 34, entspräche diese Hellig-
keit einer übermittelgrauen Farbe und das Gebiet der ansteigenden Hellig-
keitskurven wäre dann kleiner als das der absteigenden.
Nach Fechner und Helmholtz würde es nur eine einzige Helligkeits-
kurve geben, die man erhält, wenn man für das bezügliche Element des
psychophysischen Sehfeldes auf der Abszissenachse die Produkte aus dem
Reize r und der »Erregbarkeit« als Abszissen und die zugehörigen »Intensi-
täten der Empfindung« als Ordinaten nimmt. Diese Kurve wäre nach
Fechner eine logarithmische und hätte keine Asymptote. Dementsprechend
müsste die Helligkeit mit der Lichtstärke theoretisch genommen unbegrenzt
wachsen und wäre in Wirklichkeit nur dadurch limitiert, dass eine über
ein gewisses Maß hinausgehende Lichtintensität eine Störung der normalen
Leistungsfähigkeit des Auges mit sich bringen würde.
Dieser einzigen Helligkeitskurve stehen nach der im obigen entwickelten
Lehre unzählige Helligkeitskurven gegenüber; zu jedem möglichen Wert
D
von —^ gehört je eine Schar von Helligkeitskurven, und jede solche Schar
besteht wieder aus so vielen Helligkeitskurven als Werte von n möglich
sind. Nichts kann die Verschiedenheit der beiden Theorien des Lichtsinnes
eindringlicher veranschaulichen.
§43. Die Induktion als ein Hilfsmittel zur Selbststeuerung
des Stoffwechsels der Sehsubstanz. Fehlte jede Induktion, so könnte
durch Verstärkung des D-Reizes die Helligkeit bis zum überhaupt denkbaren
Maximum gesteigert werden, wie dies die oberste Kurve in Fig. 34 u. 35
anschaulich machte; bei vorhandener Induktion aber erscheint dies von
vornherein unmöglich. Wir sahen soeben, dass wenn 1 — n größer als
— ist, jedem Werte von n ein Maximum der möglichen Helligkeit entspricht,
welches um so tiefer liegt^ je größer der Wert von n ist. Dieser Wert
aber wächst für ein Element der Sehsubstanz bei gleicher Lichtempfäng-
lichkeit des zugeordneten Empfangselementes der Netzhaut mit der Be-
leuchtungsstärke der Umgebung des letzteren.
Hiernach erscheint es unter normalen Stoffwechselbedingungen der
Sehsubstanz von vornherein ausgeschlossen, dass wir mit helladaptiertem
Auge eine ausgebreitete Hchtstarke Fläche in derselben grossen Helligkeit
sehen, in der uns ein kleiner Teü derselben erscheint, wenn wir z. B.
durch eine Dunkelröhre, die am anderen Ende ein Diaphragma mit kleiner
Öffnung trägt, nach der Fläche bUcken.
§ 44. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 183
Wo immer das Auge einer größeren lichtstarken Fläche gegenüber-
steht, ist die Limitierung der Helligkeit von besonderer Wichtigkeit, denn
sie schützt die Sehsubstanz vor Erschöpfung. Indem mit zunehmendem
D-Reize einerseits die induzierte Verminderung der Dissimilation, anderer-
seits die induzierte Steigerung der Assimilierung ebenfalls wächst, wird die
Geschwindigkeit der absteigenden Änderung der Sehsubstanz wie durch eine
automatische Bremse verlangsamt und ihr schließlich eine nicht überschreit-
bare Grenze gesetzt, sofern nur das Assimilierungsmaterial zureichend vor-
handen ist, und keine anderweiten Störungen des normalen Stoffwechsels
bestehen.
Zusammenfassend könnte man das soeben Gesagte als den Satz von
der Limitierung der Helligkeit durch die Dunkelinduktion be-
zeichnen.
Der auf Dunkelinduktion beruhende Selbstschutz der Sehsubstanz tritt,
wie gesagt, schon während der Entwicklung des durch den Reiz bedingten
D-Zuwuchses in Wirksamkeit und lässt sich deshalb als eine simultane
Anpassung des Stoffwechsels der Sehsubstanz an die Stärke der Gesamt-
beleuchtung bezeichnen zum Unterschiede von der schon in § 23 als
Selbststeuerung des Stoffwechsels beschriebenen sukzessiven Anpassung,
welche erst in dem Maße eintritt, als die Sehsubstanz bereits unterwertig
geworden ist. Der durch die Induktion bedingte simultane Selbstschutz
eines Sehsubstanzbezirkes ist schon gegeben mit dem Eintritt eines D-Über-
schusses in der Gesamtheit seiner Elemente; der sukzessive Selbstschutz
aber ist erst an die Folgen eines bestandenen D-Überschusses gebunden.
Es ist mir denkbar, dass gewisse Anomalien des Lichtsinnes ihre Ursache
in einer Insuffizienz der Assimilation haben, wie sie z. B. bei mangelhafter Zu-
fuhr des zur Assimilation nötigen Ersatzmateriales eintreten müsste. Eine im
Vergleiche zur vorhandenen Beleuchtung des Gesichtsfeldes imd der Netzhaut
übermäßige und mit herabgesetzter Deutlichkeit des Sehens einhergehende Hellig-
keit des Sehfeldes braucht nach der hier entwickelten Theorie der Induktion
keineswegs, wie dies die jetzt übliche Auffassung will, auf einer übermäßigen
»Erregbarkeit« des Sehorgans zu beruhen, sondern lässt sich zwanglos auch auf
eine unzulängliche Assimilation der Sehsubstanz zurückführen.
§ 44. Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von
der Stärke der Gesamtbeleuchtung. Die Wahrnehmung der Einzel-
heiten des psychischen Sehfeldes beruht auf den Helligkeitsunterschieden
derselben; je größer diese sind, desto leichter ist auch das Unterscheiden.
Hätten wir ein bedrucktes oder beschriebenes weißes Blatt vor uns,
auf dem die Buchstaben so weit verblichen sind, dass sich ihre Farbe nur
noch eben merklich von der des weißen Grundes unterscheidet, so würden
wir, insoweit alle Einzelteile jedes Buchstabens (Haarstriche usw.) noch in
dieser Farbe sichtbar wären, die Schrift auch noch mit Sicherheit zu lesen
184 Lehre vom Lichtsinn.
vermögen; aber solches Lesen wäre schwer und sehr ermüdend. Ohne
besondere Aufmerksamkeit könnte es sogar geschehen, dass wir das Papier
auf den ersten Bhck für ein unbedrucktes halten. Erst wenn der Unter-
schied zwischen beiden Farben oder Helligkeiten des Buchstaben ^einerseits,
des Papieres andererseits eine gewisse Größe erreicht, wird das Lesen
bequem.
AVas hier vom Lesen gesagt wurde, gilt vom Sehen überhaupt. Farben-
und Helligkeitsunterschiede, die so klein sind, dass wir sie nur bei beson-
ders darauf gerichteter Aufmerksamkeit sehen, und vollends die auch dann
nur eben merklichen Unterschiede spielen beim gewöhnlichen Sehen im
allgemeinen keine Rolle. Im folgenden haben wir es zunächst nicht mit
solchen minimalen, sondern mit den Helligkeitsunterschieden überhaupt zu
tun, gleichviel wie groß oder klein sie sind, und zwar mit den Gesetzen
ihrer Abhängigkeit von der Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes und von
der Verteilung der verschiedenen Lichtstärken in ihm und in seinem Netzhaut-
bilde. Beschränken wir uns dabei auf die Fälle, wo für die beiden Ele-
mente des somatischen Sehfeldes, um deren Helligkeitsunterschied es sich
handelt, dieselbe Schar der Helligkeitskurven gilt, so können wir unsere
Erörterungen unmittelbar an den Inhalt des vorigen Paragraphen und an
die daselbst gegebene graphische Darstellung anschheßen.
Wenn in zwei Elementen der Sehsubstanz die Wertigkeit dieselbe, und
auch J"^ d. i. das endogene Gesamtindukt beider Elemente dasselbe ist,
so gilt für letztere dieselbe Schar von Helligkeitskurven. Dabei kann der
D-Reiz r und das exogene Gesamtindukt J,. in beiden Elementen verschieden
groß sein.
Für zwei gleichweit von der Stelle des direkten Sehens, z. B. sym-
metrisch nach rechts und links abliegende Netzhautstellen darf man an-
nehmen, dass sie angenähert gleiche Lichtempfänglichkeit dann besitzen
werden, wenn sie längere Zeit durchschnittlich gleich stark belichtet waren,
und demzufolge ihr Verbrauch an Empfangstoff beiläufig der gleiche war.
Dies bedeutet aber, dass auch der D-Reiz für die beiden zugehörigen Stellen
der Sehsubstanz durchschnittlich derselbe war, und infolgedessen die Wertigkeit
der beiden Stellen ebenfalls gleich ist. In je weiterem Umkreise sich dann
auch die Umgebung der beiden Stellen genügend lange Zeit unter durch-
schnittlich gleichen Bedingungen befand, desto sicherer wird auch das von
den Wertigkeiten der Umgebung abhängige endogene Gesamtindukt beider-
seits angenähert gleich groß sein. Da aus Gleichheit der Wertigkeit und
Gleichheit des endogenen Gesamtinduktes die Gleichheit von Dq folgt, so
gilt also für beide Stellen dieselbe Schar der Helligkeitskurven.
Aber nicht nur für zwei gleichweit vom funktionellen Mittelpunkte der
Netzhaut abliegende Stellen wird unter gewöhnlichen Umständen in den
zugehörigen Elementen der Sehsubstanz Dq denselben Wert haben können,
§ 44. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuclitung. 185
sondern es wird dies auch für die dicht nebeneinander liegenden Elemente
eines beliebigen kleinen Feldes der Netzhaut bzw. der Sehsubstanz gelten.
Denn die sämtlichen Elemente eines solchen kleinen Netzhautbezirkes werden
als nächste Nachbarn sich fast immer unter durchschnittlich denselben Be-
lichtungsbedingungen befunden haben. Ihre Lichtempfänglichkeit wird
daher beiläufig dieselbe sein, und da dann auch für die entsprechenden
Elemente der Sehsubstanz die D-Reize angenähert dieselben gewesen sind,
so werden die Wertigkeiten der Elemente ebenfalls nahezu gleich sein. Da
endlich allen Elementen eines kleinen Bezirkes dessen Umgebung gemeinsam
ist, so wird auch das endogene Gesamtindukt ziemlich genau gleichen Wert
haben können.
Besonderer Berücksichtigung bedarf der zentrale Bezirk der Netzhaut,
dessen Bildinhalt beim gewöhnlichen Sehen die Aufmerksamkeit hauptsäch-
lich beschäftigt. Innerhalb dieses Gebietes sind die Verschiedenheiten der
Lichtempfängiichkeit voraussichtlich viel erheblicher als auf anderen gleich
großen Netzhautfeldern, und es ist hier selbst nach längerer gleicher Be-
lichtung des ganzen Bezirkes nur für gleich weit vom Mittelpunkte ent-
fernte Stellen angenäherte Gleichheit der Wertigkeit zu erwarten. Bezüg-
lich des endogenen Gesamtinduktes gilt jedoch hier für sehr kleine Felder
dasselbe, was von kleinen Netzhautbezirken überhaupt zu sagen war.
Nach alledem werden schon beim gewöhnlichen Sehen und ohne be-
sondere vorbereitende Maßregeln Stellen von völliger oder sehr genäherter
Gleichheit sowohl der Empfänglichkeit als der Wertigkeit und des endo-
genen Gesamtinduktes fast immer mehr oder minder zahlreich vorhanden
sein. Für alle solche Stellen gilt also gleichzeitig dieselbe Schar von Hellig-
keitskurven, an denen sich in anschaulicher Weise die Abhängigkeit der
Helligkeitsunterschiede von der Stärke der Gesamtbeleuchtung erläutern lässt.
Ist für zwei zu vergleichende Elemente die Größe von Dq und also
auch die Schar der Helligkeitskurven dieselbe, so hängen die beiden Hellig-
keiten nur noch von den beiden anderen Variabeln, nämlich vom D-Reiz
und dem exogenen Gesamtindukt bzw. von n als dem Koeffizienten ab,
welchen wir dem Werte von dr geben müssen, um die Größe von /^ zu
erhalten; denn es ist hier wieder J^. = nör.
Von vornherein lassen sich die Fälle, wo nur eine dieser Variabein
in beiden Elementen der Sehsubstanz einen verschiedenen, die andere aber
gleichen Wert hat, von den Fällen scheiden, wo beide Variabein verschie-
den groß sind. Der einfachste Fall läge vor, wenn der Koeffizient n für
beide .Elemente der gleiche wäre, weü dann für beide eine und dieselbe
Kurve aus der gegebenen Kurvenschar gültig wäre (vgl. § 45).
.Leicht zu übersehen ist auch der Fall, wo, bei beiderseits gleichem
D-Reiz r, für die beiden Elemente [e und e,) zwei verschiedene Koeffizienten
[n und Hf) gelten (vgl. § 46 a). Minder übersichtlich aber sind die Fälle,
186
Lehre vom Lichtsinn.
wo sowohl die w-Werte als die ?-Werte verschiedene Grüße haben, weil
hier wieder drei Sonderfälle denkbar sind, nämlich
1.
2.
3.
n^ vif und r ^ r,
n <^ ifif und r <irf
n^^ rif und r <^ r,
n <] w, und r ]|> r,
in bezug auf den Helligkeitsunterschied ist
es dann gleichgültig, welches Element mit e und
welches mit e, bezeichnet wird.
Fig. 36.
J- ^L- J^ J- Jl- d- J-
.'loXV- S12 2St> -fXS 6¥ 32 ^6
^6 52 69- -aa 2^ S/t -foiA-
Es würde zu weit führen, alle diese Möglichkeiten eingehend zu be-
handeln, und ich darf mich um so mehr auf einige mir besonders wesent-
Hch scheinende Fälle beschränken, als die Übereinstimmung der Tatsachen
der Erfahrung mit der Theorie schon hier zureichend ersichtlich ist.
Um auf der zum gegebenen Werte von Bq gehörigen Kurvenschar
(Fig. 34 und 35) für ein Element die Helligkeit zu bestimmen, hat man
den, seinem D-Reize r entsprechenden Punkt auf der Abszissenachse zu
suchen und die ihm zugehörige OrdinatenHnie zu ziehen. Aus der Lage
§44. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 187
des Schnittpunktes dieser Ordinatenhnie und der zu demselben Elemente
gehörigen Kurve ergibt sich die gesuchte Helligkeit, wenn man den Punkt
aufsucht, in welchem die durch jenen Schnittpunkt gelegte Linie gleicher
Helligkeit (Isophane) auf die als Ordinatenachse dienende Farbenlinie SW
trifft. Jeder der beiden Helligkeiten, um deren Unterschied es sich handelt,
entspricht eine andere Isophane, und der auf der Farbenlinie abzulesende
Vertikalabstand der beiden Isophanen entspricht dem Unterschiede der
beiden Helligkeiten.
Fig. 37.
y -/ y -/
y<7ii' ^/i 3,56 fZ8
y ±1 J-. jL j-
W 3Z ^6 8 ^
f / ;j f
V6 31 6¥ m Hb Siz i0h9-
Ist der D-Reiz für die beiden zu vergleichenden Elemente gleich groß,
und nur ihr exogenes Gesamtindukt und mit diesem der /^-Wert verschieden,
so handelt es sich nur um eine Ordinate und um die beiden Punkte, wo die-
selbe die beiden, den Werten von n und n, entsprechenden Kurven schneidet.
Nicht so übersichtlich sind die übrigen Fälle, wo r und r, verschieden sind
und also zwei Ordinaten in Betracht kommen. Da der Unterschied der
Lichtstärken der beiden zu den Elementen e und <?, gehörigen Netzhautstellen
Igg Lehre vom Lichtsinn.
mit der Stärke der Gesamtbeleuchtung wächst (vgl. § 16 S. 62), so ist
auch auf der Abszissenachse der Abstand der durch die beiden D-Reize
r und ?', gegebenen Ordinatenlinien um so größer^ je stärker die Gesamt-
beleuchtung ist. Es entspricht daher einer z. B. achtmal stärkeren Ge-
samtbeleuchtung ein achtmal größerer gegenseitiger Abstand der beiden
Ordinalen. v
Eine viel bequemere Übersicht über die Art, wie der Unterschied der
beiden Helligkeiten bei gesteigerter oder geminderter Gesamtbeleuchtung
sich ändert, gestatten die Kurventafeln der Fig. 36 und 37. Auf beiden
entsprechen gleichen Abständen zweier Punkte der Abszissenachse gleiche
Verhältnisse der durch diese Punkte ausgedrückten Größen des D-Reizes,
daher die für die beiden Netzhaut- und Sehfeldstellen geltenden Ordinaten
bei allen beliebigen Stärken der Gesamtbeleuchtung denselben gegenseitigen
Abstand behalten, während die Ordinatenwerte selbst dieselben geblieben
sind, wie für die in Fig. 34 und 35 dargestellten Kurven; der ersteren ent-
spricht Fig. 36, der letzteren Fig. 37. Die Ordinatenachse liegt jetzt links
in unendlicher Ferne, doch ist die Farbenlinie an der linken Grenze der
Figur angegeben, um auf ihr die Helligkeiten ablesen zu können.
Soll also nicht bloß die Art der Abhängigkeit der Helligkeit von der
Gesamtbeleuchtung veranschaulicht werden, sondern der Einfluss der letzteren
auf die Größe des Unterschiedes zweier Helligkeiten, w^elche einem Licht-
stärkenpaar von bestimmtem Verhältnis entsprechen, so eignen sich die
nach Art der Figg. 36 und 37 dargestellten Kurvenscharen besser als die
der Figg. 34 und 35.
§ 45. Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der
Gesamtbeleuchtung bei Gleichheit des endogenen und exogenen
Gesamtinduktes und Ungleichheit des D-Reizes der beiden Ele-
mente. Betinden sich zwei Elemente unter den im vorigen Paragraphen
angeführten Bedingungen im Zustande gleicher Wertigkeit, und ist nicht
nur ihr endogenes, sondern auch ihr exogenes Gesamtindukt gleich, so gilt
für sie auch derselbe Wert von n und also nicht nur dieselbe Kurvenschar,
sondern auch ein und dieselbe Kurve aus dieser Schar.
Für solche Fälle gibt Fig. 38 ein Beispiel des gewaltigen Einflusses,
den die Stärke der allgemeinen Beleuchtung auf den Helligkeitsunterschied
der beiden Elemente haben kann. Angenommen, es sei für dieselben die
Kurvenschar der Fig. 37 gültig und der gemeinsame w-Wert sei 0,2, so ist die
gemeinsame Helligkeitskurve die am rechten Rande der Fig. 37 mit 0,2 be-
zeichnete. Diese Kurve ist auf Fig. 38 allein wiedergegeben. Auf der Abszissen-
achse entsprechen wieder gleichen Abständen gleiche Verhältnisse der Reiz-
werte, und es sind für fünf verschiedene Stärken der Gesamtbeleuchtung die
fünf Doppelordinaten eingezeichnet, welche für den Fall gelten, dass die Licht-
§45. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Ger.amtbeleuchtung. 189
stärken bzw. Reizgrüßen der beiden Elemente sich wie 1 : 4,6 verhalten.
Durch jeden der beiden Punkte, in denen eine Doppel-Ordinatenhnie die
Kurven schneidet ist eine Isophane (Linie gleicher Helhgkeit) bis zu der
linkerseits angegebenen FarbenUnie gezogen, auf welcher jetzt die beiden
Helligkeiten abzulesen sind. Der Abstand der beiden Isophanen vonein-
ander entspricht also dem gesuchten Helligkeitsunterschiede.
4M-
0.9.
0.8
0.7
0.6-
0.5.
0.^
Fig. 38.
o
.0.1
4.0
A i i 'l ^
^ovt S\% isb -m bt
jL JL J- ± ± i
3Z U 3 ^ i
S -^ 8 -/6 32 (,i m i^ y^i 11^^
Die den fünf Beleuchtungsstärken entsprechenden Paare der Reizstärken
und Helligkeiten sind folgende:
Reizstärken :
Helligkeiten : HeJ
ligkeitsunter
0,25 u. 0,4
0,3520 u. 0,3625
0,0105
\ » 1,6
0,4000 => 0,4315
0,0315
4 » 6,4
0,5200 » 0,5740
0,0540
46 * 25,6
0,6727 ^ 0,7089
0,0362
64 * 102,4
0,7600 > 0,7770
0,0170
190
Lehre vom Lichtsinn.
Der gegenseitige Abstand der einem Reizpaar entsprechenden Ordinaten
ist bei allen Reizpaaren gleich, während der Höhenunterschied der zu-
gehörigen Isophanen bei jedem Reizpaar ein anderer ist, am größten bei
den Reizstärken 4 und 6,4, am kleinsten bei den beiden absolut kleinsten
(0,25 und 0,40) und absolut größten Reizstärken (64 und 102,4).
^.0.
0.9\
0.8.
O.J.
0.6.
OS.
0.^.
03-
0.%-
OJ-
0
Fig. 39.
0
4 -1 -1 1 -i
■iOl>i $i% 2Sh -12« <.♦
0.3
-/ 2 9 S -f^ 31 ^^ ns 25i> 613 ^019
10
Denken wir uns das Ordinatenpaar mehr und mehr nach links ver-
schoben, so dass die beiden Reizstärken bei gleichbleibendem Verhältnis
immer kleiner werden, so sinkt schließlich der Unterschied der beiden
Helligkeiten auf Null herab, und beide entsprechen dann der unter den
hier angenommenen Umständen geltenden Eigenfarbe des Auges von der
Helligkeit 0,333. Denken wir uns dagegen das Ordinatenpaar immer weiter
nach rechts verschoben, so dass die beiden Reizstärken mehr und mehr
wachsen, so wird der Helligkeitsunterschied schließlich ebenfalls Null, und
beide Helligkeiten entsprechen der unter den gegebenen Umständen geltenden
§ 45. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 191
maximalen Helligkeit 0,8. Die grüßten Helligkeitsunterschiede aber ergeben
sich, wenn das Ordinatenpaar die Kurve in der Gegend ihres steilsten
Ansteigens schneidet.
Ganz dasselbe gilt auch für alle diejenigen Kurven aus der durch
Fig. 37 vertretenen Kurvenschar, welche über der Linie der unveränder-
lichen Helligkeit verlaufen, deren n-Wert also kleiner als 0,666 ist.
Wenn die beiden Reizstärken eines Paares sich nicht wie 5:8, son-
dern z. B. wie 50:51 oder gar wie 100:101 verhielten, so lägen ihre
Ordinalen einander so nahe, dass sie in unserer Zeichnung zusammenfallen
würden. Denken wir uns ein solches Ordinatenpaar wieder entlang der
ganzen Abszissenachse verschoben, so würde innerhalb der Strecken, wo
die Heliigkeitskurve nahezu geradlinig ansteigt, der kleine Unterschied der
beiden Ordinatenwerte ein nahezu konstanter bleiben , und also auch der
Unterschied der beiden zugehörigen Helligkeiten nahezu unabhängig von
der absoluten Größe der beiden Reizstärken sein. Unter solchen besonderen
Umständen würde also der Helligkeitsunterschied sich sehr angenähert so
verhalten, wie es das FECHNER'sche Gesetz fordert.
Als ein Beispiel der Fälle, wo für die beiden Elemente der n-Wert
größer ist als 0,666, möge Fig. 39 dienen. Die hier abgebildete Kurve
ist wieder derselben Schar entnommen und zwar ist sie identisch mit
derjenigen Kurve der Fig. 37, für welche der n-Wert = 0,8 ist. Die
fünf Reizstärkenpaare, deren Ordinatenpaare abgebildet sind, haben wieder
die oben angegebenen Werte. Der größte Unterschied der beiden Hellig-
keiten oder wie wir hier sagen dürfen, Dunkelheiten, entspricht jetzt der
Gegend der Kurve, wo sie am steilsten abfällt.
Die Zahlen werte sind folgende:
Reizstärken:
Helligkeiten:
Helligkeitsunterschiede
0,25 u.
0,4
0,3280 u. 0,3250
0,0030
1
1,6
0,3143 » 0,3053
0,0090
4
6,4
0,2800 V 0,2645
0,0155
16
25,6
0,2364 > 0,2253
0,0111
64
102,4
0,2115 ^ 0,2074
0,0041
Denken wir uns wieder das Ordinatenpaar nach links verschoben, so
nimmt der Unterschied der beiden Helligkeiten ab und dieselben nähern
sich mehr und mehr der oben erwähnten Helligkeit der Eigenfarbe, wäh-
rend bei der Verschiebung nach rechts der Helligkeitsunterschied ebenfalls
immer kleiner wird, aber die beiden Helligkeiten oder Dunkelheiten der
unter den gegebenen Bedingungen kleinstmöglichen Helligkeit (0,2) oder
größtmöglichen Dunkelheit immer näher kommen.
In Rücksicht darauf, dass nach dem FECHNER'schen Gesetze bei gleich-
bleibendem Verhältnis zweier Reizstärken und gleicher »Erregbarkeit«, wie
192 Lehre vom Lichtsinn.
solche hier vorausgesetzt wurden, der Unterschied der beiden HelHgkeitcn
von der absoluten Größe der Reizstärken unabhängig sein sollte, war es not-
wendig, wenigstens an einem Beispiele zu zeigen, wie innerhalb eines gewissen
engeren Gebietes der Reizstärken und unter bestimmten Induktionsbedingungen
die theoretisch abzuleitenden Helligkeitsunterschiede sich angenähert so verhalten
können, wie es das FECHXER'sche Gesetz unter allen im Bereiche des normalen
Sehens liegenden Umständen fordert.
§ 46. Verschiedenheit der Helligkeit bei gleicher Licht-
stärke, und Gleichheit der Helligkeit bei verschiedener Licht-
stärke zweier Außendinge. Aus den in Figg. 34 — 37 dargestellten,
theoretisch abgeleiteten Kurven folgt, dass zwei mit somatischen Sehfeld-
elementen von gleicher Empfänglichkeit und gleicher Wertigkeit gesehene
Stellen des Außenraumes
a) trotz gleicher Lichtstärke sehr verschieden hell,
b) trotz sehr verschiedener Lichtstärke gleich hell gesehen werden
können,
zwei Sätze, die mit besonderer Deutlichkeit die weitgehende Unabhängigkeit
der simultanen Helligkeiten des psychischen Sehfeldes von den Lichtstärken
des Gesichtsfeldes zum Ausdruck bringen. Dementsprechend lässt sich auch
an diesen Sätzen die Übereinstimmung der Thatsachen mit der Induktions-
theorie besonders eindringlich dartun.
a) Denken wir uns bei gegebenem Gesichtsfelde und gegebenem Zustande
aller Teile des somatischen Sehfeldes zwei Elemente der Sehsubstanz von
gleicher Wertigkeit und gleichem endogenen Gesamtindukt, so wird für
beide derselbe Wert von ^ und dieselbe Kurvenschar gelten. Wäre dann
auch der D-Reiz r für beide Elemente gleich groß, so könnte doch ihr
exogenes Indukt eine verschiedene Größe haben, was von der Größe und
Verteilung der gleichzeitig wirkenden D-Reize in der Umgebung jedes Ele-
mentes abhängt. Für beide Elemente wird also der Wert von (5, von r
und von J^ derselbe, dagegen der Wert von n ein verschiedener sein können,
und demgemäß jedem der beiden Elemente eine andere Kurve der gegebenen
Kurvenschar entsprechen. Da die Punkte, in denen die zum jeweiligen
Reize r gehörige Ordinatenlinie diese beiden Kurven schneidet, auf ver-
schiedenen Isophanen liegen, so ergiebt sich aus dem gegenseitigen Abstand
der letzteren der Unterschied der beiden Helligkeiten, in denen die beiden
bezüglichen Stellen des Außenraumes erscheinen.
Der Forderung gleicher Wertigkeit und gleichen endogenen Induktes
werden, wie wir sahen (§ 44 S. 184), insbesondere zwei symmetrisch zur
Stelle des direkten Sehens und nicht allzuweit von derselben abliegende
Stellen des somatischen Sehfeldes dann genügen, wenn beide samt ihren
Umgebungen zuvor beim Sehen einige Zeit hindurch in gleicher Weise in
§ 46. Verschiedenheit der Helligkeit bei gleicher Lichtstärke. 193
Anspruch genommen waren, wie dies bei zwangloser Betrachtung einer
genügend ausgebreiteten und überall gleich lichtstarken Fläche der Fall ist.
Auch die Lichtempfänglichkeit zweier solcher Stellen wird dann dieselbe sein
können, so daß bei einer nachfolgenden beliebigen gleichstarken retinalen
BeHchtung derselben auch der D-Reiz r für die bezüglichen Elemente der
Sehsubstanz beiderseits der gleiche sein wird. Dabei kann das exogene
Indukt und also auch n und n^ für beide Stellen von sehr verschiedener
Größe sein, wenn die Umgebung der einen Stelle des Gesichtsfeldes bezw.
ihres Netzhautbildes von relativ großer, die Umgebung der anderen aber
von relativ kleiner Lichtstärke ist. Wir haben es dann auf der Kurventafel
mit nur einer Ordinate, aber mit zwei weit auseinander laufenden Kurven
zu tun, deren eine oberhalb, die andere unterhalb der Linie unveränder-
licher Helligkeit gelegen ist.
Dass unter solchen Umständen zwei symmetrisch zum Blickpunkte lie-
gende Stellen des Außenraumes trotz ihrer gleichen Lichtstärke gleichzeitig
in verschiedener tonfreier Farbe und Helligkeit gesehen werden können,
haben schon (§ 26 S. 116) die auf Taf. H befindlichen Fig. 1, 2 und 3 ge-
zeigt. Auf denselben erscheinen zwei kleine Felder von gleicher Licht-
stärke lediglich infolge ihrer verschiedenen Umgebung auch dann verschieden
hell, wenn wir in der schon damals beschriebenen Weise dafür gesorgt
haben, dass die beiden bezüglichen Stellen des somatischen Sehfeldes sich
unmittelbar vor dem Sichtbarwerden der Figuren in gleichem Zustande
befinden. Allerdings handelt es sich in diesen Fällen nicht bloß um zwei
Elemente, sondern jederseits um eine zusammenhängende Gruppe von
Elementen, die sich jedoch sämtlich unmittelbar vor dem Sichtbarwerden der
Figur angenähert in demselben Zustande befinden. Überdies entspricht jedem
einzelnen Elemente der einen Gruppe ein symmetrisch gelegenes der anderen,
und für jedes solche Elementenpaar gilt ganz besonders das oben Geforderte.
Immerhin erscheinen in Fig. 1 und 3 (Taf. H) die Helligkeiten der
beiden grauen Felder trotz der großen Verschiedenheit ihrer Umgebungen
noch keineswegs so verschieden, wie dies unter noch günstigeren Bedin-
gungen der Fall sein könnte.
Die in Fig. 35 dargestellte, einem Fall allgemeiner Unterwertigkeit
entsprechende Kurvenschar zeigt, dass demselben Abszissenwerte auf der
zugehörigen Ordinatenlinie als einer Linie gleicher Lichtstärke außerordentich
verschiedene Helligkeiten entsprechen können, um so mehr, je stärker die
Gesamtbeleuchtung und der zu ihr proportionale Wert von r ist. In der
That ist es möglich, von zwei kleinen, gleich lichtstarken Feldern, das eine
noch viel dunkler und gleichzeitig das andere noch viel heller zu sehen,
als wie dies bei Betrachtung der Fig. 1 (Taf. H) der Fall ist; man braucht
nur die Felder noch kleiner und die Verschiedenheiten der Lichtstärken
ihrer Umgebungen noch größer zu machen, als in jener Figur.
Hering, Lichtsinn. \ 3
194
Lehre vom Lichtsinn.
Fig. 40. Fig. 4:
§ 46. Verschiedenheit der Lichtstärke bei gleicher HeUigkeit.
195
Das Vorurteil, nach welchem die Helligkeit einer Gesichtsfeldstelle bei
derselben »Erregbarkeit« des Sehorganes im wesentlichen nur von der
Lichtstärke abhängen soll, und etwaige Abweichungen von diesem vermeint-
lichen Gesetz als etwas Nebensächliches zu gelten haben, beherrscht noch
immer die Darstellungen der Lehre vom Lichtsinn. Deshalb sei hier noch
eine Einrichtung beschrieben, bei der man mit zwei gleichbeschaffenen
(gleich »erregbaren«) somatischen Sehfeldstellen gleichzeitig die eine von
zwei gleich lichtstarken Gesichtsfeldstellen schwarz, die andere weiß zu
sehen vermag.
Eine 90 cm lange, vertikal stehende Holzleiste {H Fig. 40) wird von
einem eisernen Stativ gehalten, an dem sie in vertikaler Richtung verschieb-
lich ist. Sie trägt entlang ihrem mittleren Dritteil ein 30 cm langes, mit
Fig. 42.
schwarzem Samt ausgekleidetes, im Querschnitt quadratisches (30 X 30 mm)
Dunkelrohr, das am unteren Ende durch einen mit kleinem Loch (s. u.)
versehenen geschwärzten Deckel geschlossen ist. Dieses Dunkelrohr ist an
der Leiste derart angebracht, dass die Ebene einer seiner senkrechten
Wände die Holzleiste in deren Längsmiltellinie rechtwinkelig schneidet und
mit der Längsmittelebene des ganzen Apparates zusammenfällt, so dass sich
also das Dunkelrohr auf der einen Seite dieser Längsmittelebene befindet.
Die Unterfläche seines eben erwähnten Deckels setzt sich nach der anderen
Seite hin in die Fläche eines horizontalen Kartons (9x9 cm) fort, der
auf seiner oberen Fläche mit mattweißem Barytpapier überzogen und in
Fig. 40 mit C2 bezeichnet ist. Sowohl in diesem Karton als im unteren
43*
196 Lehre vom Lichtsinn.
Deckel des Dunkelrohres befindet sich in 1 2,5 mm Abstand von der Längs-
mittelebene des Apparates ein rundes Loch von 3 mm Durchmesser.
Nach oben mündet das Dunkelrohr auf der schwarzen Hälfte eines
Kartons (Ci Fig. 40 u. 41) von 8 X H cm Fläche in einem quadratischen
Ausschnitte {Ä Fig. 42) von 24 mm Seitenlänge. Ein ganz gleicher Aus-
schnitt befindet sich in der anderen weißen Hälfte des Kartons, so dass
beide Ausschnitte symmetrisch zu beiden Seiten der Längs mittelebene des
Apparates liegen und durch einen 8 mm breiten schwarzen Steg voneinander
getrennt sind. Im Mittelpunkte dieses Steges befindet sich eine deutliche
weiße Marke (Fig. 42).
An ihrem oberen Ende trägt die Holzleiste an einem kurzen Stiele
einen horizontalen Metallring, in welchen eine GlasHnse (L) eingelegt werden
kann, und dessen Mittelpunkt lotrecht 30 cm über der soeben erwähnten
Marke des Steges Hegt. Der Beobachter hat diejenige Zerstreuungslinse zu
wählen, welche seinen Nahepunkt auf 60 cm Abstand vom Auge bringt, so
dass er zwar die beiden Löcher im unteren Deckel des Dunkelrohres und
im Karton G2 scharf sehen kann, aber nur unscharf die weiße Marke zwi-
schen den quadratischen Ausschnitten des oberen Kartons Q. Fig. 41 zeigt
die ganze Vorrichtung in einem schematischen Querschnitte.
30 cm unterhalb des Kartons G2 befindet sich eine Metallplatte P
(7x10 mm), welche mit Hilfe eines bis in die mittle Hübe des Apparates
reichenden und dort mit einem Handgriff {G Fig. 40) versehenen dünnen
Stabes um eine horizontale Achse gedreht werden kann. Auf diese Metall-
platte wird ein mattes graues Papier von entsprechender Größe aufgelegt,
dessen Lichtstärke durch Änderung seiner Neigung gegen das durch ein
Fenster einfallende Himmelslicht innerhalb ziemlich weiter Grenzen variiert
werden kann.
Bringt man ein Auge nahe an den Ring, und fixiert die wegen der Linse
verwaschen erscheinende Marke, so sieht man einerseits die tiefschwarz er-
scheinende quadratische ()ffnung des Dunkelrohres umrahmt von der schwar-
zen Hälfte des oberen Kartons, auf der anderen Seite die quadratische
Öffnung der weißen Kartonhälfte und durch diese Öffnung hindurch einen
Teil des unteren weißen Kartons. Rechts und hnks vom Stege erscheinen
scharf umrissen die beiden kleinen Löcher, deren eines sich im unteren
Deckel des Dunkelrohres, das andere in dem unteren Karton G2 befindet.
Liegt jetzt auf der unteren Metallplatte ein graues Papier von passender
Lichtstärke, so erscheint das vom tiefen Schwarz des Dunkel-
rohres umgebene Loch weiß, das vom Weiß des unteren Kar-
tons umgebene Loch schwarz, obwohl beide Löcher ganz
dasselbe Licht des unter ihnen liegenden grauen Papieres
empfangen. Hatte ich an einem hellen Tage den Apparat in der Nähe
eines großen hohen Fensters aufgestellt und ein mattgraues Papier, dessen
§ 46. Gleichheit der Helligkeit bei verschiedener Lichtstärke. 197
Remissionsvermügen ^^seo von der des weißen Barytpapiers betrug, auf
die horizontal eingestellte Metallplatte gelegt, so sah ich das eine Loch
ebenso schwarz wie das auf dem oberen Karton befindliche schwarze Woll-
papier (von 6/360 Remissionsvermügen), das andere Loch ebenso weiß, wie
das daselbst befindliche weiße Barytpapier. Um die beiden Stellen des
somatischen Sehfeldes, auf welche die Lochbilder fallen, in gleiche Stim-
mung zu bringen, bedeckt man jn der schon § 26 S. 118 beschriebenen
Weise den oberen Karton mit zwei in der Längsmittelebene des Apparates
zusammenstoßenden weißen Blättern, fixiert eine am Rande des einen
Blattes befindliche Marke, welche genau über die Marke des Steges zu
liegen kommt, und zieht dann die Deckblätter nach rechts und links
zur Seite.
Ich konnte also mit Hilfe der beschriebenen Vorrichtung von zwei
kleinen symmetrisch zum Längsmittelschnitt auf der Netzhaut abgebildeten
ganz gleich lichtstarken Feldern das eine so hell wie ein weißes, und das
andere so dunkel wie ein schwarzes Papier sehen, deren Lichtstärken sich
wie 1 : 60 verhielten. Davon, daß auf der Netzhaut die Lichtstärken der
beiden Lochbilder infolge des falschen Lichtes (vgl. § 33) nicht ganz gleich
sind, sondern das schwarz erscheinende Loch im Weiß sogar etwas licht-
stärker ist, als das weiß erscheinende Loch im Schwarz, habe ich hier
abgesehen.
Um eine mehrfache Verwendbarkeit des Apparates zu ermöglichen, wurde
die untere Metallplatte in ähnlicher Weise, wie dies an dem in Fig. 22 (§ 27)
abgebildeten Apparate beschrieben wurde, in zwei Hälften geteilt, die durch einen
Riegel zusammengehalten sind, nach dessen Lösung jede Hälfte unabhängig von
der anderen durch einen Handgriff (O Fig. 40) um eine horizontale Achse ge-
dreht werden kann. Hierdurch wird ihre Lage relativ zur Einfallsrichtung des
Himmelslichtes und zugleich die Lichtmenge verändert, welche von dem auf-
liegenden Papier ins Auge geschickt wird.
b) Auch der zweite oben angeführte wichtige Satz, nach welchem zwei
Gesichtsfeldstellen von sehr ungleicher Lichtstärke mit zwei gleich be-
schaffenen Stellen des somatischen Sehfeldes gleich hell gesehen werden
können, lässt sich mit der oben beschriebenen Vorrichtung noch auffallender
beweisen, als mit dem in Fig. 22 (§ 27) abgebildeten Apparate. Statt die
ganze untere Metallplatte mit dem grauen Papier zu bedecken, bedeckt man
die eine, auf der Seite des Dunkelrohres liegende Hälfte mit einem matten
schwarzen, die andere mit einem passend ausgewählten malten weißen
Papier, was freilich voraussetzt, dass man eine Reihe weißer und schwarzer
Papiere von gut abgestuftem Remissionsvermögen zur Verfügung hat. Das
benutzte weiße Papier muss jedenfalls lichtschwächer sein als das weiße
Normalpapier, in welchem sich das Loch befindet, das schwarze kann eines
der käuflichen mattschwarzen Papiere sein, oder es kann an seiner Stelle
auch eine dicht berußte Fläche benutzt werden. Ich wählte z. B. gegen
198 Lehre vom Lichtsinn.
Mittag eines wolkenlosen Tages ein kaum ins Grau spielendes mattweißes
Papier, dessen Remissionsvermögen sich zu dem des weißen Barytpapieres
wie 282:360 verhielt, und ein schwarzes Wollpapier von Yseo» '^^^ sah
beide Löcher als ein beiderseits gleich helles Grau, obwohl
die Lichtstärke des einen Loches 47mal größer war, als die
des anderen.
Es kommt bei dem letzteren Versuchte sehr viel darauf an, dass die
Ebene der beiden Kartonflächen und der Metallplatte sämtlich horizontal,
und dass sie alle drei gleich stark beleuchtet sind. Man erreicht letzteres,
wenn der Apparat in einem passend gewählten Abstände vor einem hohen
Fenster aufgestellt wird, das eine weder durch Bäume noch durch Häuser
behinderte Aussicht auf den Himmel gestattet.
§ 47. Die Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von
der Gesamtbeleuchtung bei ungleichem D-Reize und ungleichem
exogenen Gesamtindukt. So oft es sich um die Deutlichkeit des Sehens
tonfreier Bilder (Zeichnungen, Lithographien, Kupferstiche, Photographien),
um Messungen der Sehschärfe, um photometrische Bestimmungen u. s. w.
handelt, kommen die Helligkeitsunterschiede nahe benachbarter oder einander
unmittelbar berührender Stellen des psychischen Sehfeldes und zwar ins-
besondere seines zentralen Teiles in Betracht. Befanden sich unmittelbar
vor Empfang des Netzhautbildes der genannten Außendinge zwei zu be-
nachbarten, aber ungleich lichtstarken Stellen gehörige Elemente des kleinen
fovealen Bezirkes des somatischen Sehfeldes im Zustande gleicher Empfäng-
lichkeit, gleicher Unterwertigkeit und gleichen endogenen Induktes, so haben
wir den in § 44 S. 186 erwähnten Fall vor uns, wo für zwei Elemente
dieselbe Kurvenschar gilt, jedoch sowohl der D-Reiz als auch der Wert
von n verschieden ist.
Wollen wir wieder zur Veranschaulichung der Abhängigkeit der Hellig-
keitsunterschiede von der Stärke der Gesamtbeleuchtung die Kurvenschar
der Fig. 43 (einer Kopie der Fig. 37) benutzen, so haben wir es mit zwei,
den beiden Elementen e und e^ zugehörigen Kurven und mit zwei, den
beiden D-Reizen r und r^ entsprechenden Ordinatenlinien zu tun, welche
letzteren einen bei allen möglichen Stärken der Gesamtbeleuchtung gleich-
bleibenden gegenseitigen Abstand haben.
Hierbei sind vier Möglichkeiten zu unterscheiden:
1. die eine Kurve liegt über, die andere unter der Linie der unveränder-
lichen Helligkeit;
2. dem einen Elemente entspricht die Linie der unveränderlichen Helligkeit,
dem anderen eine ober- oder unterhalb jener Linie liegende Kurve:
3. beide Kurven liegen über der Linie der unveränderlichen Helligkeit:
4. beide Kurven liegen unter der Linie der unveränderlichen Helligkeit.
§ 47. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 199
Für die ersten zwei Fälle ergiebt die Betrachtung der Fig. 43 sofort,
dass der Unterschied der den Elementen e und e, entsprechenden Hellig-
keiten um so größer sein muss, je stärker die Gesamtbeleuchtung des
Gesichtsfeldes bezw. der Netzhaut ist. Denn der Schnittpunkt einer Ordi-
natenlinie mit einer beliebigen Kurve der Schar hat einen um so größeren
Abstand von der Linie der unveränderlichen Helligkeit, je weiter die Ordi-
Fig. 43.
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4 f' y -/ -/ -/ / ■/
■fCX9- Sf% aS6 fZ8 W 3Z -fi 6
^ / ^ f
<5 V6 3Z 6^ m 2S6 S1Z iOhV- ..
natenlinie nach rechts liegt d. h. je größer der D-Reiz ist, zu dem die
Ordinatenlinie gehört. Entspricht also einem der beiden Elemente die Linie
gleicher Helligkeit und dem anderen eine beliebige Kurve, so bleibt die dem
einen Elemente zugehörige Helligkeit bei allen Beleuchtungsstärken dieselbe,
während die dem anderen zugehörige um so mehr von dieser Helligkeit
nach oben oder nach unten abweicht, je stärker die Gesamtbeleuchtung
ist. Liegt die Kurve des einen Elementes über, die des anderen unter
der Linie der unveränderlichen Helligkeit, so weicht die zur ersteren
200 Lehre vom Lichtsinn.
gehörige Helligkeit um so mehr nach oben, die zur anderen gehörige
gleichzeitig um so mehr nach unten von der Linie der unveränderlichen
Helligkeit ab, je stärker die Gesamtbeleuchtung. Mit der letzteren wächst
also in allen drei Fällen der fragliche Helligkeitsunterschied.
Nicht so einfach verhält es sich in den Fällen 3. und 4., wo die Kurven
beider Elemente oberhalb oder unterhalb der Linie unveränderlicher Hellig-
keit gelegen sind. In solchen Fällen wächst zwar, wenn man von der
schwächsten Gesamtbeleuchtung ausgeht, der Helligkeitsunterschied zunächst
auch mit der Stärke der Gesamtbeleuchtung, erreicht aber bei einer ganz
bestimmten Stärke der letzteren ein Maximum, um darüber hinaus wieder
abzunehmen bis zu jener Beleuchtungsstärke, wo er sich praktisch genommen
nicht mehr änd^ert, weil beide Kurven bereits ihre Asymptoten nahezu er-
reicht haben. Mit Hilfe unserer Helligkeitsformel (S. 172) lässt sich dies
leicht dartun, wenn man für ein gegebenes Verhältnis zwischen den zu
e und ßj gehörigen D-Reizwerten die entsprechenden Helligkeiten bei ver-
schiedenen Stärken der Gesamtbeleuchtung berechnet. Liegen beide Kurven
über der Linie der unveränderhchen Helligkeit, so- kommt dem stärker
belichteten Elemente der kleinere Wert von n zu; umgekehrt verhält es
sich, wenn beide Kurven unterhalb jener Linie liegen.
Angenommen dem Elemente e entspräche die zum w-Werte 0,2, dem
Elemente e, die zum w-Werte 0,4 gehörige Kurve, und die D-Reize der beiden
Elemente verhielten sich wie 1:4. Wäre unter solchen Umständen der D-Reiz
für e gleich 2, der D-Reiz für e^ gleich V2? so entspräche dem Elemente e
die Helligkeit 0,45, dem Elemente e^ die Helligkeit 0,354, und der Unterschied
beider HeUigkeiten wäre gleich 0,096. Wäre der D-Reiz für e gleich 8, für
ßj gleich 2, so entspräche ersterem die Helligkeit 0,6, letzterem die Helligkeit
0,4, und der Unterschied betrüge 0,2. Wäre für e der D-Reiz gleich 32, der
D-Reiz für e^ gleich 8, so entspräche ersterem die Helligkeit 0,7263, letzterem
die HelHgkeit 0,4857, und ihr Unterschied wäre 0,2406. Betrügen die beiden
Reizwerte 128 und 3*2, so entsprächen dem die Helligkeiten 0,7791 und 0,5579,
und der Unterschied 0,2212; der letztere wäre also bereits wieder kleiner als
er bei den Reizwerten 32 und 8 war; und bei noch größerer Stärke der Gesamt-
beleuchtung müsste er sich immer mehr dem Unterschiede 0,2 nähern, welcher
durch den Abstand der beiden Asymptoten der beiden Kurven gegeben ist.
Bei photometrischen Bestimmungen handelt es sich um Verhältnisse
zwischen den beiden Lichtstärken , welche dem Verhältnis 1 : 1 viel näher
liegen, als das soeben beispielsweise benutzte Verhältnis \ : 4. Beim Rechnen
gewöhnt man sich, die verschiedenen Verhältnisse zwischen zwei Werten
als zwei verschiedene Größen zu nehmen und Verhältnisse durch Brüche
auszudrücken. Macht man dabei den kleineren Wert zum Zähler, den
größeren zum Nenner, so lässt sich jedes mögliche Verhältnis durch einen
echten Bruch bezeichnen, und es hat dann, rechnerisch genommen, einen
Sinn, wenn man z. B. dem Verhältnis - einen größeren Wert beimisst,
1 o
§ 47. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 201
als dem Verhältnis 77— • Setzt man statt des kleineren den größeren
1 Uü ^
Wert in den Zähler, und erhält so die beiden unechten Brüche — und
11 11'
so misst man dem letzteren einen größeren Wert bei als dem ersteren.
Im Grunde genommen wird an den beiden Verhältnissen als solchen durch
die verschiedene Ausdrucksweise nichts geändert. Nur die Art unseres
Rechnens nötigt dazu, Verhältnisse als Größen in die Rechnung ein-
zusetzen. Demgemäß will ich, wenn die beiden, für die Elemente e und e^
in Betracht kommenden Lichtstärken sich z. B. in einem Falle wie 1 : 4
im andern wie 99:100 verhalten, ihr Verhältnis letzterenfalles als das
größere bezeichnen, indem ich die kleinere Lichtstärke als den Zähler eines
Bruches nehme.
Je »größer« das Verhältnis der für zwei Elemente von gleicher Empfäng-
lichkeit, gleicher Wertigkeit und gleichem endogenen Gesamtindukt geltenden
Lichtstärken ist, desto näher liegen sich die zu den beiden Reizwerten
dieser Elemente gehörigen Ordinatenlinien. Schon beim Verhältnis 50 : 51
würden diese beiden Linien in der Zeichnung (Fig. 43) zusammenfallen, es
sei denn, dass wir dieselbe nach einem entsprechend großen Maßstabe aus-
führen wollten.
Ähnlich verhält es sich aber auch mit den beiden Helligkeitskurven,
welche unter den hier angenommenen Umständen zu den beiden Sehfeld-
elementen gehören würden. Dem vom stärkeren D-Reize getroffenen Ele-
mente e entspricht wieder, wie in dem vorhin näher besprochenen Falle, der
kleinere Wert von n', aber für das schwächer belichtete Element e^ ist jetzt
der 7i-Wert nur wenig kleiner, seine Helligkeitskurve liegt also der Kurve
des Elementes e sehr nahe. Die beiden Kurven fallen, sobald der Unter-
schied der beiden n-Werie zu klein wird, in der Zeichnung ebenfalls zu-
sammen, wenngleich theoretisch genommen die Kurve des Elementes e
immer höher liegen muss als die des Elementes e^. Liegen aber
die Helligkeitskurven der beiden Elemente einander so nahe, dann gilt
für die beiden Elemente sehr angenähert das, was in §45, S. 191
für den Fall auseinandergesetzt wurde, wo wirklich nur eine
einzige Kurve in Betracht kam und das Verhältnis zwischen
den D-Reizen der beiden Elemente dem Verhältnisse 1 : 1 eben-
falls sehr angenähert war.
So führt unsere Betrachtung zu dem wichtigen Ergebnis, dass, wenn
das Verhältnis zwischen den D-Reizen zweier somatischer Sehfeldelemente
von gleicher Empfänglichkeit, gleicher Wertigkeit und gleichem endogenen
Gesamtindukt sich dem Verhältnis 1 : 1 nähert, der Unterschied der
beiden, diesen Elementen im psychischen Sehfelde zukommen-
den Helligkeiten bei einer ganz bestimmten Stärke der Gesamt-
202 Lehre vom Lichtsinn.
beleuchtung am größten ist, wie dies in § 45 auseinandergesetzt wurde.
Wäre bei diesem Optimum der Gesamtbeleuchtung dieser Helligkeits-
unterschied bereits nur bei besonderer Aufmerksamkeit noch merklich, so
würde sowohl eine Verstärkung als eine Abschwächung der Gesamtbeleuchtung
ihn vollends unbemerklich machen.
Die bloße Anschauung einer Kurvenschar, wie sie Fig. 43 beispiels-
weise zeigt, lehrt uns, dass bei einem so großen Verhältnis zwischen den
beiden D-Reizen der bezügliche Helligkeitsunterschied um so größer ist, je
steiler die auf der Zeichnung als einfache Kurve erscheinende Doppelkurve
an der Stelle verläuft, wo sie von der auf der Zeichnung ebenfalls nur
einfach erscheinenden doppelten Ordinatenlinie durchkreuzt wird. Die
Steilheit der Doppelkurve aber ist bei gleichen w-Werten um so größer, je
größer die Unterwertigkeit der beiden Elemente ist, denn um so tiefer liegt
der Ausgangspunkt der Kurvenschar auf der Ordinatenachse (vgl. z. B.
Fig. 35 und 37).
Hieraus folgt also, dass das Verhältnis der auf die beiden Elemente e
und ei wirkenden D-Reize sich dem Verhältnis 1 : 1 um so mehr nähern
kann, ohne unbemerklich zu werden, je größer die Unterwertigkeit der
beiden zugehörigen Elemente der Sehsubstanz ist, mit anderen Worten,
dass die Deutlichkeit unseres Sehens einen um so höheren Grad
erreichen kann, je vorgeschrittener die sukzessive Helladap-
tion der Sehsubstanz ist.
So ergibt sich also aus unserer Theorie dasselbe, was schon in § 18
aus den Tatsachen der täglichen Erfahrung abgeleitet wurde, dass nämlich
jedem Anpassungszustande eine besondere, für diesen Zustand optimale
Beleuchtungsstärke entspricht, bei welcher das Auge das unter den ge-
gebenen Verhältnissen mögliche Maximum der Deutlichkeit des Sehens er-
reicht, und dass ein für schwache Beleuchtung angepasstes Auge bei keiner
und also auch nicht bei der für seinen Zustand optimalen Beleuchtungs-
stärke so hohe Deutlichkeitsgrade des Sehens erreicht, wie ein für stärkere
Beleuchtung angepasstes.
Auch ist hier auf die in § 20 beschriebenen Versuche zu verweisen,
bei denen vor jeder Einzelbeobachtung durch längere Betrachtung einer
Fläche von überall gleicher Lichtstärke soweit möglich für die Gleichartig-
keit des zentralen Sehfeldbezirkes gesorgt war, und deren Ergebnisse mit
der hier entwickelten Lehre durchaus in Übereinstimmung, mit Fechner's
Lehre aber zum größeren Teile unverträglich sind.
§ 48. Über die durch örtliche Änderungen der Netzhaut-
belichtung bedingten Helligkeitsänderungen. In § 39 und ff. wurden
die von den Änderungen der allgemeinen Netzhautbeleuchtung abhängigen
Helligkeitsänderungen im psychischen Sehfelde besprochen ; jetzt handelt es
§ 48. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesamtbeleuchtung. 203
sich um Helligkeitsänderungen, welche bei örtlich beschränkten Beleuchtungs-
änderungen der Netzhaut eintreten. Ich setze dabei wieder ein stabiles
Gesichtsfeld und ein ebensolches somatisches Sehfeld voraus (vgl. § 39) und
nehme also an, dass, abgesehen von der erwähnten Belichtungsänderung
alles hier in Betracht kommende unverändert bleibt.
Die Gesamtheit aller Elemente der Sehsubstanz stellt ein derart in sich
zusammenhängendes System dar, dass eine Änderung im Zustande eines
Elementes vermöge der induzierenden Wechselwirkungen auch in jedem
anderen Elemente des Systems eine Zustandsänderung mit sich bringt.
Dieselbe besteht in einer Größenänderung seiner Dissimilation und Assi-
milation und bedingt sowohl eine Änderung des Unterschiedswertes D-A^
als des Verhältnisses D : Ä. Von letzterem hängt die (psychische) Farbe
und Helligkeit ab, von ersterem das (somatische) Indukt, welches von einem
Element im anderen induziert wird.
Wäre uns bei belichteter Netzhaut für jedes Element derselben seine
Belichtung und Empfänglichkeit und zugleich die Wertigkeit des ihm zu-
gehörigen Elementes der Sehsubstanz gegeben, so wäre damit auch für
jedes Element der letzteren die Größe seiner Dissimilation und Assimilation,
das Verhältnis beider zueinander und ihr Unterschieds wert gegeben.
Es gilt nun, mit einem gegebenen ersten Gesamtzustand des Systems
den zweiten zu vergleichen, welcher durch veränderte Belichtung eines
Teiles der Netzhaut herbeigeführt wird.
Bestände das System nur aus zwei Elementen, so ließe sich ebenfalls
ein Zustand dieses zweigliederigen Systemes als gegeben annehmen und mit
demjenigen Zustande vergleichen, in welchen die beiden Elemente versetzt
würden, sobald bei gleichgebliebener Wertigkeit derselben der D-Reiz r in
einem der beiden geändert wäre.
Aus der für den soeben angenommenen Fall bereits in § 38 ent-
wickelten Gleichung (5) ergab sich (S. 166, H), dass jeder positive (oder
negative) Zuwuchs zum Reize r des einen Elementes e einen zu diesem
Ueizzuwuchs proportionalen negativen (oder positiven) Zuwuchs zum
Indukte i desselben Elementes, dagegen im anderen Elemente e einen
proportionalen positiven (oder negativen) Zuwuchs zum Indukte i dieses
Elementes bedingt. Hieraus folgt, dass die durch einseitige Reizänderung
in 6 bedingte Änderung des Unterschiedswertes D-Ä (in e) und des Unter-
schiedswertes D-A (in e) in beiden Elementen aus einem mit dem Reiz-
zuwuchs in 6 proportionalen Zuwuchs zu diesem Unterschiedswerte besteht.
Denn in e ist sowohl der Zuwuchs zu dr als auch der Zuwuchs zu i pro-
portional zum Zuwuchs von r, und in e ist zwar V unverändert gebheben, aber
der Zuwuchs zu i proportional zum Reizzuwuchs in e. Dass der i-Zuwuchs
in e das entgegengesetzte Vorzeichen hat wie der r-Zuwuchs, der i-Zuwuchs in e
aber das gleiche, ändert nichts daran, dass in beiden Elementen die Zu-
204 Lehre vom Lichtsinn.
wüchse zu den Unterschiedswerten der Dissimilation und Assimilation dem in e
eingetretenen Reizzuwuchs proportional sind.
Das für ein solches nur gedachtes zweigliederiges System geltende
Gesetz der Proportionalität zwischen allen Zuwüchsen (den Reiz-
zuwüchsen, den Induktzuwüchsen und den Zuwüchsen des Unter-
schieds wertes D-Ä) ist auch für die gegenseitige induktive Wechsel-
wirkung jedes beliebigen Elementenpaares in einem vielgliederigen System
gültig, nur tritt in jedem Elemente an die Stelle des Einzelinduktes das
Gesamtindukt / (vgl. § 39). Auch jetzt sind die durch den Reizzuwuchs
eines Elementes in allen Elementen des Systems bedingten Zuwüchse zum
Unlerschiedswerte D-A jenem Reizzuwuchs proportional, und wenn in
einer beliebig großen Gruppe von Elementen die sämtlichen Reizwerte durch
eine Veränderung der Releuchtung in gleichem Verhältnisse vergrößert oder
verkleinert werden, so ist sowohl in ihnen selbst als in allen übrigen Ele-
menten der Zuwuchs zum Unterschiedswerte B-A jedes Elementes mit
jenen (unter sich proportionalen) Reizzuwüchsen ebenfalls proportional.
Es fragt sich nun , welche Helligkeitsänderungen den soeben be-
sprochenen Zustandsänderungen des vielgliederigen Systems entsprechen.
Beim gewöhnlichen Sehen im beleuchteten Räume sind, wie schon auf
S. 179 erwähnt wurde, fast immer alle Elemente der Sehsubstanz unter-
wertig, und ich will deshalb auch hier wieder von den selteneren Fällen
der Überwertigkeit einzelner Teile der Sehsubstanz absehen. Das endo-
gene Gesamtindukt (JJ jedes Elementes ist bei allgemeiner Unterwertigkeit
der Sehsubstanz ein Heliindukt und also negativ, dagegen ist das durch
die Belichtung bedingte exogene Gesamtindukt (J^) ein Dunkelindukt und
daher positiv.
Bei Bestimmung der Dissimilationsgröße eines Elementes gilt die Gleichung
D -= d — /o + <5r — J^
also ist hier das endogene Gesamtindukt Jq zum Werte von 6 hinzuzufügen, um
den Wert von Dq zu erhalten; das exogene Gesamtindukt J^ aber ist vom
Werte dr in Abzug zu bringen (vgl. § 39^ S. <69).
Die einem Elemente der belichteten Netzhaut entsprechende Helligkeit
ergibt sich, wie in § 39 gezeigt wurde, aus der Gleichung
Würde die von uns angenommene Verstärkung der Beleuchtung
nicht bloß auf einem Teile, sondern auf der ganzen Netzhaut stattfinden,
so würde, wie in § 39 dargelegt wurde, der Wert von J^. proportional
mit r wachsen, immer also derselbe Bruchteil der Größe ör bleiben. Wenn
jedoch die Verstärkung der Beleuchtung nur einen Teil der Netzhaut be-
trifft, so wächst Jy. in jedem zu diesem Netzhautteile gehörigen
§ 48. Abhängigkeit der Helligkeitsunterschiede von der Gesämtbeleuchtung. 205
Elemente e nicht mehr proportional mit ^r, sondern weniger, entsprechend
der kleineren Anzahl der von der Reizvergrößerung betroffenen und positiv
induzierend auf e wirkenden Elemente der Sehsubstanz. Für die obige
Gleichung bedeutet dies eine Verkleinerung von J^ und also eine Ver-
größerung für den Zähler des Bruches, welcher die Helligkeit H ausdrückt.
Die dem Elemente e entsprechende Helligkeit wird also jetzt größer sein,
als sie sein würde, wenn die Beleuchtung nicht bloß für den fraglichen Teil,
sondern für die ganze Netzhaut in gleichem Maße verstärkt worden wäre.
Wie in § 39 gezeigt wurde, kann eine und dieselbe Verstärkung der
Gesamtbeleuchtung der Netzhaut je nach der Verteilung der Lichtstärken
im Netzhautbilde bald eine größere , bald eine kleinere Zunahme der einem
Elemente der Sehsubstanz entsprechenden Helligkeit, bald sogar eine Abnahme
<iieser Helligkeit bedingen. Würde im gegebenen Falle eine Verstärkung der Be-
leuchtung der ganzen Netzhaut für das von uns in Betracht gezogene Element e
eine Helligkeitsabnahme bedingen, so würde also bei der gleichen, aber nur auf
«inen Teil der Netzhaut beschränkten Verstärkung der Beleuchtung diese Hellig-
keitsabnahme vermindert oder auch in eine Helligkeitszunahme verwandelt sein
können. Der Vollständigkeit halber möge dies hier mit erwähnt sein, obwohl
ich im Folgenden von solchen Fällen absehen werde.
Wenn die Veränderung der Beleuchtung eines Teiles der Netzhaut
nicht, wie wir soeben annahmen, in einer Verstärkung, sondern in einer
Verminderung besteht, so ergibt eine ganz analoge Erwägung wie die
oben durchgeführte, dass für jedes, dem jetzt schwächer beleuchteten Netz-
hautteile zugehörige Element die korrelative Helligkeit kleiner ist, als sie
sein würde, wenn die Beleuchtung der ganzen Netzhaut in demselben
Maße vermindert worden wäre.
Es bleibt übrig, die Helligkeitsänderungen in einem Elemente £ der
Sehsubstanz zu besprechen, welches zu dem unverändert belichteten
Netzhautteile gehört. Für ein solches bleibt der Reizwert r ungeändert,
während der Wert von J^ sich ändert. Denn wenn in den, zum verändert
belichteten Netzhautteile gehörigen Elementen der Reizwert und die Dissi-
milation einen z. B. positiven Zuwuchs erhielt, so empfängt £ von jedem
dieser Elemente einen mit jenem Zuwuchs proportionalen positiven Indukt-
zuwuchs und das summarische Indukt in £ wird größer. Dies bedeutet
in obiger Gleichung (6) eine Vergrößerung des Wertes von /,., also für den
Zähler des die Helligkeit ausdrückenden Bruches eine Verkleinerung und
daher eine Abnahme der Helligkeit oder eine Verdunkelung. War der Be-
lichtungszu wuchs kein positiver, sondern ein negativer, so tritt, wie ohne
weiteres ersichtlich ist, an die Stelle der Verminderung eine Steigerung der
Helligkeit.
Somit ergibt sich der allgemeine Satz, dass unter sonst konstanten
Bedingungen eine nur einen Teil der Netzhaut betreffende Steige-
rung bezw. Minderung der Beleuchtung nicht nur im ent-
206
Lehre vom Lichtsinn.
sprechenden Teile des psychischen Sehfeldes eine gesteigerte
bezw. geminderte Helligkeit, sondern zugleich auch im übrigen
Sehfelde eine entgegengesetzte Helligkeitsänderung bedingt.
Eine ganze Reihe früher besprochener Tatsachen bestätigen die Gültig-
keit dieses aus unserer Kontrasttheorie abgeleiteten Satzes. Denn bei allen
in 8 31 beschriebenen Fällen von reinem Simultankontrast handelte es
Fig. 44.
Fis. 45.
sich um deutliche Helligkeitsänderungen, welche auf einer Papierfläche von
unveränderter Lichtstärke lediglich dadurch herbeigeführt wurden, dass auf
einem angrenzenden oder auch einem das erste Feld umschließenden Felde
(dem Umfelde) die Lichtstärke geändert wurde. Das einfachste Beispiel
einer solchen Helligkeitsänderung durch bloße Induktion liefert der folgende
Versuch, dessen Beschreibung ich den in § 31 mitgeteilten Versuchen noch
anreihen will, weil bei demselben außer den beiden Helligkeitsänderungen,
auf die es allein ankommt, keine anderweiten auffälligen und die Aufmerk-
samkeit des Beobachters ablenkenden Änderungen im Sehfelde stattfinden,
§ 49. Die Versuche von Hess und Pretori. 207
und weil er den im folgenden Paragraphen zu besprechenden Versuchen
zugrunde liegt.
Ein kleiner weißer, vor einem möglichst lichtschwachen Hintergrunde
stehender Papierschirm (Fig. 44) sei von der Lichtquelle l beleuchtet. Vor
einer zweiten Lichtquelle L befinde sich ein schwarzes Schirmchen, welches
die Strahlen dieser Lichtquelle von dem weißen Schirme abhält. Eine
auf der Mitte des letzteren angebrachte schwarze Marke dient als Fixir-
punkt. Zieht man das schwarze Schirmchen zur Seite, so wirft ein senk-
rechter mattschwarzer Stab seine Schatten neben der Marke auf den weißen
Schirm. Obgleich dabei die Lichtstärke der Schattenstelle nicht vermindert
wird, und nur auf der übrigen Schirmfläche zum Lichte von / das von L
hinzukommt, sieht man doch die Schattenstelle deutlich dunkler werden,
um so mehr, je stärker die Lichtquelle L ist.
Da der von der Lichtquelle / bedingte Schatten des Stabes nicht auf den
weißen Schirm, sondern in die schon an und für sich dunkel erscheinende
Umgebung fällt, so ist der von der Lichtquelle L bedingte Schattten das einzige
auf dem Schirme überhaupt Unterscheidbare. Dadurch ist dieser Versuch dem
im § 31, S. 132 beschriebenen FECHNER'schen Versuche überlegen, bei dem
noch ein zweiter Schatten von anderer Helligkeit auf dem Schirme erscheint
und die Aufmerksamkeit zersplittert.
§49. Ableitung des Ergebnisses der messenden Versuche
von Hess und Pretori aus der Theorie der Induktion. Genügend
große Verschiedenheit der beiden Lichtquellen vorausgesetzt, sind bei dem
zuletzt beschriebenen Versuche die durch die Induktion bedingten Hellig-
keitsänderungen so groß, dass sie Jedem auffallen. Wenn aber kleinere
Verschiedenheiten der beiden Lichtquellen und entsprechend kleinere Reiz-
zuwüchse für die bezüglichen Elemente der Sehsubstanz gegeben sind, so
kann es unmöglich werden zu entscheiden, ob nur der eine Teil der Schirm^
fläche seine Helligkeit ändert oder wirklich beide eine Helligkeitsänderung
erfahren. Könnte man in solchen Fällen in möghchster Nähe des Versuchs^
feldes_, als welches hier der weiße Schirm diente, ein Vergleichsfeld her-
stellen, welches vor Eintritt der Belichtungsänderung dieselbe Helligkeit
zeigte, wie der nur durch die Induktion in seiner Helligkeit veränderte Teil
des Versuchsfeldes, und welches auch nach der Belichtungsänderung des
letzteren seine Helligkeit völlig unverändert beibehielte, so könnte in zweifel-
haften Fällen die Vergleichung mit dieser konstanten Helligkeit uns den
gewünschten Aufschluss geben.
Von vornherein ist die Herstellung eines solchen Vergleichsfeldes nur
denkbar, wenn dasselbe soweit vom Versuchsfelde abliegt, dass der
funktionelle Abstand (vgl. § 38) der beiden Felder groß genug ist, um die
induktiven Wechselwirkungen zwischen beiden auf ein zu vernachlässigendes
Minimum herabzumindern. Ein großer Abstand der beiden Felder verbietet
208 Lehre vom Lichtsinn.
sich aber deshalb, weil die Vergleichung zweier Farbenfelder mit zunehmen-
dem gegenseitigen Abstand immer ungenauer wird. Es gilt also denselben
so zu wählen, dass einerseits der Fehler bei der Vergleichung, anderseits
die aus der induktiven Wechselwirkung sich ergebenden Fehler gegenüber
der Größe der zu beobachtenden Helligkeitsänderungen, wenn auch nicht
verschwinden, so doch nur wenig in Betracht kommen.
Ein solches Vergleichsfeld benutzten Hess und Pretori bei ihren
messenden Versuchen, deren Ergebnisse ein besonders wichtiger Prüfstein
für die Richtigkeit der oben entwickelten Induktionsgesetze sind. Das Ver-
suchsfeld lag exzentrisch, und das Vergleichsfeld an der symmetrischen
Stelle der anderen Gesichtsfeldhälfte. Das in der Mitte des Versuchsfeldes
befindliche Infeld konnte unabhängig vom Umfelde durch eine besondere
Lichtquelle messbar beleuchtet werden, und in analoger Weise auch das
Umfeld, wie dies alles in § 29 beschrieben wurde.
Wir denken uns zunächst das retinale Infeld und Umfeld gleich stark
belichtet, so dass sie zusammen einen gleichmäßig belichteten Bezirk aus-
machen. Wird nun der Beleuchtung des Umfeldes unter sonst gleichbleiben-
den Umständen ein positiver Lichtzuwuchs erteilt, so erhält, wie aus dem im
vorigen Paragraphen entwickelten Satze folgt, in allen, den retinalen Ele-
menten des Infeldes zugeordneten Elementen der Sehsubstanz das schon
zuvor bestandene Dunkelindukt einen zum Lichtzuwuchs des retinalen Um-
feldes proportionalen positiven Zuwuchs, was für das psychische Infeld eine
Verdunkelung bedeutet. Soll nun das psychische Infeld trotz der verstärkten
Belichtung des retinalen Umfeldes seine frühere Helligkeit behalten, so müsste
man auch dem retinalen Infelde einen Lichtzuwuchs erteilen und zwar
einen solchen, welcher eben hinreicht, die durch den Reizzuwuchs im Um-
felde bedingte Helligkeitsabnahme des psychischen Infeldes durch den Reiz-
zuwuchs im somatischen Infelde zu kompensieren.
Aus dem eben erwähnten Satze, nach welchem die durch einen posi-
tiven oder negativen Reizzuwuchs eines Elementes der Sehsubstanz in allen
übrigen Elementen bedingten Zuwüchse zum Indukte und zum Unterschieds-
werte D-Ä dem Reizzuwuchse proportional sind, folgt ohne weiteres, dass
auch der zur Konstanterhaltung der Helligkeit des psychischen Infeldes
nötige Reizzuwuchs dem Reizzuwuchse des Umfeldes proportional sein muss.
Denn ebenso wie die durch letzteren im somatischen Infelde induzierte
Änderung dem Reizzuwuchs proportional wäre, müsste auch die durch den
Reizzuwuchs des Infeldes selbst bedingte entgegengesetzte Änderung diesem
Reizzuwuchs proportional sein.
Der Voraussetzung eines stabilen Gesichtsfeldes (s. S. 171) war bei
den Versuchen von Hess und Pretori durchaus genügt; ebenso war der
Forderung eines konstanten somatischen Sehfeldes soweit möglich dadurch
entsprochen, dass die Augen durch längere Pausen zwischen den einzelnen
§ 49. Die Versuche von Hess und Pretori. 209
Versuchen immer wieder auf denselben Anpassungszustand gebracht wurden.
Änderungen der Pupille sollten zwar eigentlich ausgeschlossen sein, werden
aber keinen erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse gehabt haben, weil sie
auf alle Teile des gesamten Netzhautbildes in gleichem Verhältnisse
wirken, und also das Verhältnis zwischen dem Beleuchtungszuwuchse
des retinalen Infeldes und dem des retinalen Umfeldes nicht beeinflussen
können.
Die aus den zahlreichen Versuchsreihen von Hess und Pretori ge-
wonnenen Mittelwerte ergaben, dass der zur Konstanz der Helligkeit des
Infeldes nötige Beleuchtungszuwuchs dem jeweiligen positiven oder nega-
tiven Beleuchtungszuwuchs des Umfeldes stets angenähert proportional
war, gleichviel welche (unter den gegebenen Bedingungen mögliche) Licht-
stärke dem Infelde vor Beginn einer Versuchsreihe gegeben worden
war. Für jede dieser Lichtstärken war also der Koeffizient, welcher dem
Beleuchtungszuwuchs des Umfeldes zu geben war, um den eben nötigen
Beleuchtungszuwuchs des Infeldes auszudrücken, ein konstanter, wenn auch
für die verschiedenen Anfangslichtstärken des Infeldes verschiedener. Je
größer die letztere und also auch die Helligkeit des Infeldes war, desto
größer war der Koeffizient, den ich in § 29 und 30 als den Kontrast-
koeffizient bezeichnet habe. -^
Ehe ich die in diesem Abschnitte enthaltenen Grundzüge einer Theorie
der Wechselwirkung der Sehfeldstellen abschließe, sei es mir gestattet, einige
Sätze aus einer im Jahre 1874 von mir veröffentlichten Mitteilung >zur
Lehre vom Lichtsinn« (IV, § 24) hier zu wiederholen, um damit nicht nur
der immer wiederkehrenden Vermengung der auf Induktion beruhenden
Kontrasterscheinungen mit gewissen ganz andersartigen Erscheinungen zu
begegnen (vgl. § 4), sondern auch die Antwort auf eine im dritten Bande
der 3. Auflage des Handbuchs der physiologischen Optik von Helmholtz
(S. 490) enthaltene irrtümliche Darstellung meines Kampfes gegen die Kontrast-
theorie dieses Forschers zu geben. Am angegebenen Orte schrieb ich:
»Wenn auf einen Teil eines weissen Papiers ein Schatten fällt, so nennen
wir den beschatteten Teil nicht grau, sondern dunkler, obwohl das Licht,
welches er aussendet, genau dieselbe Intensität und Zusammensetzung haben
kann, wie das von einem grauen Papiere ausgehende; und wenn wir auf
ein graues Papier mittels eines spiegelnden Körpers reflektiertes Licht
fallen lassen, so nennen wir die hellere Stelle des Papiers nicht weiß, son-
dern nur heller, obwohl sie vielleicht genau dasselbe Licht giebt wie ein
daneben liegendes weisses Papier. Der Verschiedenheit der Bezeichnung
entspricht hierbei eine Verschiedenheit der Wahrnehmung. Das Dunkel,
welches im Grau gesehen wird, ist mit dem gleichzeitig darin enthaltenen
Weiss vollständig zu einer Empfindung besonderer Qualität verschmolzen;
das Dunkel aber, welches als Schatten auf dem Weiß erscheint, wird als
Hering, Lichtsinn. . 4 4
210 Lehre vom Lichtsinn.
ein besonderes, über dem Weiß liegendes Etwas aufgefasst, durch welches
hindurch wir noch das Weiß zu sehen meinen. Analog verhält es sich
mit einem auf grauem Papier mittels eines Spiegels erzeugten helleren
Flecke, insofern hier das Helle, welches zu dem schon vorhandenen Grau
hinzukommt, mit diesem nicht zu einem helleren Grau oder zu Weiß ver-
schmilzt, sondern gesondert als blosses Licht aufgefasst wird, welches dem
Grau äußerlich aufliegt, und unter welchem wir noch das Grau zu sehen
meinen. «
»Wenn ich mich eben dahin aussprach, dass dasselbe objektive Licht
je nach den Nebenumständen bald als eine Eigenschaft (Farbe) der Außen-
dinge, bald aber als Licht oder Dunkel (Schatten, Finsternis) wahrgenommen
werden könne, so wollte ich damit nicht gesagt haben, dass trotz dieser
verschiedenen Wahrnehmung doch die ,Empfmdung', entsprechend der
Gleichheit des Reizes, in beiden Fällen dieselbe sei. Vielmehr meine ich,
dass die ,Empfindung' in beiden Fällen wesentlich verschieden ist, was
trotz gleichem Reize deshalb möglich ist, weil die Lichtempfindung nicht
bloss eine Funktion des Reizes und der jeweiligen Beschaffenheit der zu-
nächst getroffenen nervösen Teile ist, sondern auch mit abhängt von der
Beschaffenheit der zum Sehakt in Beziehung stehenden Hirnteile, in welchen
die optischen Erfahrungen des ganzen Lebens gleichsam organisiert ent-
halten sind. Wie der Klang, welchen ein Klavier gibt, wenn man eine
Taste desselben anschlägt, nicht bloß abhängt von den Schwingungen der
Saiten, welche der Schlag direkt trifft, sondern auch von der Resonanz
des ganzen Instrumentes, was bei aufgehobener Dämpfung am offenbarsten,
aber auch sonst immer der Fall ist, so ist auch die Empfindung, welche
ein äußerer Reiz in uns erweckt, nicht bloß abhängig von der Nervenfaser,
welche zunächst vom Reize getroffen wird, sondern ist zugleich das Er-
gebnis der Resonanz unseres ganzen Sensoriums. Ein scheinbar unbe-
deutender Nebenumstand hebt gleichsam den Dämpfer von gewissen Saiten
ab und läßt sie mit ankhngen, so daß der Charakter der Empfindung ein
wesentlich anderer wird.«
»Es ist richtig, daß diese große Resonanzfähigkeit unseres Gehirns die
Untersuchung der Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung außer-
ordentlich erschwert, und wir vermögen uns nur dadurch einigermaßen zu
helfen, daß wir unter den möglichst einfachen Bedingungen beobachten und
nur solche Empfindungen vergleichen , welche unter annähernd gleichen
Bedingungen gewonnen wurden, «i)
4) Als Herausgeber des HI. Bandes der 3. Aufl. des Handbuches der physiol.
Optik von Helmholtz sagt v. Kries (S. 490): >Es muss hier zur Vermeidung von
Missverständnissen und zur Klärung der literarischen Sachlage hinzugefügt werden,
dass der Hauptgegner der HELMHOLTz'schen Kontrasttheorie, Hering, in späterer
Zeit selbst auf diese Verhältnisse, sogar mit besonderem Nachdrucke hingewiesen
§ 50. Binokulare Mischung tonfreier Farben. 211
Till. Abschnitt.
Die binokularen tonfreien Farben.
§50. Binokulare Mischung tonfreier Farben. Wir können die
Gesamtheit der wirklichen Dinge, die sich im gegebenen Augenblicke
auf der Netzhaut des rechten oder des linken Auges abbilden, als das rechts-
äugige oder das linksäugige Gesichtsfeld (vgl. § 7, S. 21) bezeichnen.
Diese beiden Gesichtsfelder bilden das jeweilige Gesamtgesichtsfeld derart,
dass der größere Mittelteil desselben beiden gemeinsam ist, und dass sich
an dieses binokulare Gebiet nach rechts wie nach links ein kleineres, nur
je einem Auge sichtbares Gebiet anschließt.
Analogerweise haben wir im psychischen Gesamtsehfelde ein
größeres binokulares Mittelgebiet und die beiden unokularen Seitengebiete
zu unterscheiden. Jeder Stelle des Mittelgebietes entspricht sowohl im rechts-
äugigen als im linksäugigen somatischen Sehfelde je eine Stelle, und jede
hat. So hat er insbesondere den eigentümlichen Umschlag geschildert (Hermann's
Handbuch der Physiologie. III, S. 574. Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn in
Graefe-Saemisch's Handbuch der Augenheilkunde. Kap. XII, S. 8), der stattfindet,
wenn eine (objektiv) dunklere Stelle in hellerer Umgebung zunächst als Fleck,
dann aber, etwa zufolge einer Verschiebung, als ein auf die Fläche fallender
Schatten gesehen wird, also zuerst den Eindruck eines mit der Umgebung gleich-
beleuchteten Grau, dann den eines (beschatteten) Weiss macht. Hering hat, wie
es scheint, nicht bemerkt oder sich darüber getäuscht, dass die Thatsachen, die
er hier mit vollem Recht als beachtenswert betont, eben diejenigen sind, die
Helmholtz seiner Kontrasttheorie zugrunde legte, und deren Anerkennung uns
nötigt, diese Theorie in großem Umfange als eine mindestens mögliche anzuer-
kennen, und dass sie der früher von Hering geführten Bekämpfung dieser Theorie,
die in der Behauptung gipfelte, dass sie schwarz in weiss verkehre, den Boden
entziehen. Lehren doch eben die hier von Hering herangezogenen Thatsachen,
dass wirklich ohne Änderung der Empfindung der zwingende Eindruck des Grau
in den des Weiss umschlagen kann.«
In Wirklichkeit ist »die literarische Sachlage« die, dass ich schon
im Jahre 1874 in meinen Mitteilungen zur Lehre vom Lichtsinn, in
denen ich das erste Mal gegen die Kontrasttheorie von Helmholtz
auftrat, die von v. Kries erwähnten Tatsachen ausführlich besprochen
habe und in den von v. Kries zitierten Handbüchern (1879 und 1905) nur darauf
zurückgekommen bin. Dies hat v. Kries übersehen.
Helmholtz hat übrigens diese Tatsachen gar nicht mit erwähnt. Er hätte
sie als Beleg für die Richtigkeit seiner Bemerkung anführen können, daß wir
immer »die Neigung haben zu trennen, was in der Farbe oder dem Aussehen
«ines Körpers von der Beleuchtung und was von der Eigentümlichkeit des Körpers
selbst herrührt.« Aus dieser Neigung suchte er allerdings eine gewisse Gruppe
von Erscheinungen des Simultankontrastes, aber keineswegs alle zu erklären.
Denn eine andere Gruppe wollte er darauf zurückführen, »daß wir geneigt sind,
diejenigen Unterschiede, welche in der Anschauung deutlich und sicher wahr-
zunehmen sind, für größer zu halten als solche, welche entweder in der An-
schauung nur unsicher heraustreten , oder mit Hülfe der Erinnerung beurteilt
werden müssen« (1. S. 392), noch andere darauf, daß »der Begriff des Weiß dabei
verändert wird« (1. S. 396).
14* •
212 Lehre vom Lichtsinn.
zwei solche, zu einer und derselben Stelle des psychischen Sehfeldes
korrelative Stellen der beiden somatischen Sehfelder heissen nach Fechner
korrespondierende oder auch, wie ich sie genannt habe, Deckstellen,
während Johannes Müller sie als identische Stellen bezeichnete.
Hiernach ist die an einer Stelle des binokularen Mittelgebietes, kurz
des Deckgebietes erscheinende Farbe von beiden zugehörigen somatischen
Sehfeldstellen zugleich abhängig, und es fragt sich nun, welche Regeln oder
Gesetze für diese zweifache Abhängigkeit gelten.
Auch bei völliger Verfinsterung beider Augen geht in der Sehsubstanz
des somatischen Doppelsehfeldes der Stoffwechsel weiter, dessen psychisches
Korrelat jetzt die endogenen Farben des Sehfeldes sind. Wir sehen diese
im allgemeinen tonfreien Eigenfarben des Auges, so oft wir auf sie achten,
sei es, dass allerlei Gestaltungen, wie z. B. Nachbilder oder andere endo-
gene Farbengebilde unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, oder
dass wir absichtlich den Inhalt des Sehfeldes zum Gegenstande unserer Auf-
merksamkeit machen. Wer die Augen geschlossen hat, achtet gewöhnlich
gar nicht auf diese Erscheinungen, auch dann nicht, wenn noch Licht
durch die Lider hindurch zur Netzhaut gelangt. Befindet er sich jedoch
offenen Auges in einem völlig verfinsterten Räume und schaut sich ab-
sichtlich in demselben um, so bemerkt er jetzt erst, wie Vieles trotz völ-
liger Unsichtbarkeit der Außendinge sein Sehfeld enthalten kann.
Wer sehen will, hat also immer Gelegenheit etwas zu sehen, mögen
seine Netzhäute belichtet oder verfinstert sein. Wer aber seine Augen
schließt, will gewöhnlich gar nicht sehen und macht daher auch keine
Erfahrungen über die Eigenfarben seines Sehfeldes; denn wir sehen nur
das, was unabsichtlich oder vorbedachterweise Gegenstand unserer Auf-
merksamkeit wird; für alles Übrige sind wir »seelenblind«.
Was wir bei völlig verfinsterten Augen im binokularen Teile des psychischen
Gesamtsehfeldes sehen, ist also ebenso wie im beleuchteten Räume von beiden
somatischen Sehfeldern zugleich abhängig, ohne dass wir zu sagen ver-
mögen, inwieweit es vom einen oder anderen bedingt ist. Wenn in diesem Ge-
biete aus dem grauen Nebel desselben irgendwo ein hellerer oder dunklerer
Fleck auftaucht, so kann derselbe seine Ursache ebensowohl nur in einem der
beiden somatischen Sehfelder als in beiden zugleich haben. Würde sich aus
der Form des Fleckes ergeben, dass er das Nachbild eines nur dem linken
Auge sichtbar gewesenen Außendinges ist, so könnten wir freilich schließen,
dass er im wesentlichen dem linken somatischen Sehfelde entstammt, doch bliebe
dabei immer noch unentschieden, inwieweit an der Farbe des Fleckes die korre-
spondierende Stelle des rechten somatischen Sehfeldes mitbeteiligt ist.
Die Betonung der auch bei völliger Verfinsterung des Auges in seinem
somatischen Sehfelde ablaufenden Vorgänge ist hier deshalb geboten, weil die
Ansicht verbreitet ist, dass man durch Verfinsterung des einen Auges oder gar
durch blossen Schluss seiner Lider dasselbe völlig vom Sehakte ausschfießen
könne und es deshalb bei allen Beobachtungen mit dem anderen irgendwie be-
§ 50. Binokulare Mischung tonfreier Farben. 213
lichteten Auge gar nicht weiter zu berücksichtigen brauche. Es wird sich später
zeigen, zu welchen Irrungen dies führen kann.
Nach dem oben Gesagten entspricht jeder Farbe des Deckgebietes als
physisches Korrelat eine, von beiden unokularen somatischen Sehfeldern
bedingte Regung, jeder Farbe eines unokularen Seitengebietes aber eine,
nur von einem dieser Sehfelder bedingte Regung. Im ersteren" Falle lässt
sich die korrelative Farbe kurz als eine binokulare, im letzteren Falle
als eine unokulare Farbe bezeichnen.
Wir wollen einmal annehmen, es könne unter gewissen Umständen an
einer Stelle des Deckgebietes nur eine der beiden unokularen Regungen,
aus denen sich eine binokulare Farbe zu ergeben pflegt, für die an dieser
Stelle des psychischen Sehfeldes erscheinende Farbe bestimmend sein, so
dass der Anteil, den das andere Auge an der Entstehung der binokularen
Farbe hätte, jetzt gleich Null wäre. Solchenfalls würden auch im Deck-
gebiete außer den binokularen solche nur unokular bedingte Farben er-
scheinen können.
Die im folgenden zu beschreibenden Versuche werden zeigen, dass im
Deckgebiete solche Farben, wenn auch nicht völlig unbeeinflusst vom je-
weiligen Zustande der Deckstelle des anderen Auges, thatsächlich vor-
kommen. Im allgemeinen aber wird sich ergeben, dass, wenn die in
beiden Augen stattfindenden Regungen nicht beiderseits dieselben sind, an
der zugehörigen Stelle des psychischen Sehraumes eine binokulare Farbe
erscheint, die keiner von jenen beiden Farben gleich ist, welche einer rein
unokularen Regung entsprechen würde; dass ferner diese neue Farbe in
der tonfreien Farbenreihe (vgl. § 9) stets zwischen den beiden genannten
Farben gelegen ist, aber je nach den Umständen bald der einen, bald der
anderen näher steht.
Jede solche durch binokulare Regung entstandene Farbe lässt sich
im Anschlüsse an den althergebrachten Begriff der binokularen Farben-
mischung als ein Gemisch aus zwei, im eben erörterten Sinne unokularen
Farben auffassen, wobei der Fall, dass nur eine der beiden Farben im
Deckgebiete des Sehraumes wahrgenommen würde, als einer der beiden
Grenzfälle zu gelten hätte, in welchen der Anteil der einen Farbe am Ge-
misch auf ein Minimum herabgemindert ist. Denn jede im Deckgebiete er-
scheinende, zweien Deckpunkten der Netzhäute entsprechende Farbe ist
eine einheitliche, d. h. wir nehmen entweder nur die eine von beiden
oder eine in der tonfreien Farbenreihe zwischen beiden liegende Farbe wahr,
nie aber zugleich die beiden unokularen Farben, aus denen wir
uns die jeweilige binokulare gemischt denken können. Nur nach-
einander können wir im Falle eines sogenannten Wettstreites bald die eine,
bald die andere, bald irgend eine der möglichen Zwischenfarben an der-
selben Stelle wahrnehmen.
214 Lehre vom Lichtsinn.
Indem ich im folgenden die binokularen tonfreien Farben als Gemische
zweier unokularer tonfreier Farben auffasse, will ich nichts erklärt, son-
dern zunächst nur einen zusammenfassenden Ausdruck für die große Mannig-
faltigkeit der bezüglichen Tatsachen gewonnen haben.
Sind die beiden unokularen Farben von gleicher Qualität, so kann aus
ihrer Mischung nur wieder ein Gemisch von eben derselben Qualität ent-
stehen. Denn wir können uns, wie in § 10, S. 35 auseinandergesetzt
wurde, schon jede tonfreie Farbe selbst als ein Gemisch aus zwei elemen-
taren Sehqualitäten, dem absoluten Weiss (W) und absoluten Schwarz [S)
denken und jedes dieser Gemische durch ein bestimmtes Verhältnis der
Menge (dem Gewichte) des darin enthaltenen Weiss zur Menge des Schwarz
ausdrücken. Dieses Verhältnis bestimmt dann die Qualität der Farbe. Jedes
solche Gemisch aber lässt sich wieder mit einem beliebigen anderen ge-
mischt denken. Ist nun in beiden Gemischen das Verhältnis W: S das-
selbe, so muss dieses Verhältnis in dem aus ihrer Mischung entstandenen
Gemische auch wieder dasselbe sein, gleichgültig, welchen relativen Anteil
an letzterem jedes der beiden Einzelgemische hat.
Würde es sich statt der Gemische aus W und S z. B. um Gemische aus
absolutem Alkohol und reinem Wasser handeln, so versteht sich ohne weiteres,
dass sich aus einer Vermischung einer behebigen Menge von 2 0 prozentigem
Spiritus aus der einen Flasche mit einer beliebigen Menge von 2 0 prozentigem
Spiritus aus einer anderen Flasche nur immer wieder 20prozentiger Spiritus er-
geben kann. Der Leser wolle die Trivialität dieses Beispieles im Hinblick auf
das Folgende entschuldigen.
Nach der üblichen Auffassung kommen nämhch für die Entstehung einer
tonfreien binokularen Lichtempfindung nur die beiden, dem Weiss entsprechenden
»Erregungsgrößen« und die von letzteren abhängigen »Intensitäten« der
beiden Empfindungen des Weissen in Betracht, während die von mir mit S be-
zeichneten Werte gar nicht mit in Rechnung gebracht werden. Denn wenn-
gleich die herrschende Lehre das Schwarz als eine »Empfindung« gelten lässt i),
so doch nur als eine der Ruhe des Sehorganes entsprechende Empfindung,
welche, wenn die Ruhe eine absolute wäre, als eine Lichtempfindung von der
Intensität Null anzusehen wäre. So sagte z. B. Feghner, Schwarz sei »nur ein
geringerer Grad des Weiss«, wobei er unter Schwarz die Empfindung und nicht
etwa eine sehr kleine Lichtenergie verstand.
Auf Grund dieser Lehre konnte man daran denken, dass beim Binokular-
sehen durch »Summierung« oder »Superposition« der beiderseitigen Erregungen
eine Lichtempfindung von größerer »Intensität«, will sagen Helligkeit, entstehen
könne, als unter sonst gleichen Umständen bei nur einäugigem Sehen.
4) A. Fick wollte freilich das Schwarz folgerichtigerweise nicht als »Empfin-
dung«, sondern nur als »Vorstellung« gelten lassen. Doch Farbe ist für mich
Farbe, möge sie Inhalt einer »Empfindung«, einer »Vorstellung« oder einer »Wahr-
nehmung« sein, ebenso wie der Marmor für mich Marmor ist, möge er noch als
Bruchstein im Steinbruche oder als Pflasterstein auf der Straße liegen, möge
die Mauer eines Gebäudes oder das Kunstwerk eines Bildhauers aus ihm ge-
formt sein.
§ 5ü. Binokulare Mischung tonfreier Farben. 215
Während sich aus der binokularen Mischung zweier qualitativ gleicher
Farben immer wieder dieselbe Farbe ergeben muss, können aus der Mischung
ungleicher Farben je nach dem relativen Anteil, den jede derselben an der
binokularen Farbe hat, verschiedene Farben entstehen, jedoch nur solche,
welche in der Reihe der tonfreien Farben zwischen den beiden unokularen
liegen. Die binokulare Farbe muss also stets minder hell (dunkler) sein
als die hellere unokulare, und heller (minder dunkel) als die dunklere un-
okulare Farbe. Würde der Anteil der einen unokularen Farbe verschwin-
dend klein sein, so wäre dies, wie gesagt, nur ein Grenzfall i).
Betrachten wir nämlich die beiden unokularen Farben wieder als Ge-
mische aus W und S und denken uns diese zwei Gemische untereinander
gemischt, so ist leicht ersichtlich, dass daraus ein neues Gemisch entstehen
muss, in dem das Verhältnis W: S ein anderes ist, als in jeder der beiden
zur Mischung verwendeten Farben. Je nach dem Mengenverhältnis, in dem
die letzteren sich gemischt haben, wird das neu entstandene Gemisch ein
anderes sein, aber sein relativer Gehalt an .Weiss, d. i. seine Weisslichkeit
oder Helligkeit wird stets kleiner sein als in der weisslicheren und größer
als in der minder weisslichen unokularen Farbe, und analog wird es sich
mit der Schwärzlichkeit verhalten.
Dies alles ganz ebenso, wie man zwei Spiritussorten, deren jede einem
anderen Mischungsverhältnis zwischen reinem Alkohol und reinem Wasser ent-
spricht, wieder unter sich mischen kann, woraus dann, je nach dem Mischungs-
verhältnis der beiden Sorten, neue Sorten entstehen, die jedoch sämtlich wässeriger
und minder alkoholisch sind als die alkoholreichere, dagegen minder wässerig
und alkoholischer als die alkoholärmere der gemischten Sorten.
Eine eingehende Untersuchung der binokularen Farbenmischung ist
zwar von großem Interesse und gewährt vielversprechende Einblicke in die
Art des psychischen Betriebes, durch welchen unser binokulares Sehfeld
aus Einzelteilen der beiden unokularen sich aufbaut, doch muss ich mich
auf die Vorführung verhältnismäßig weniger grundlegender Versuche und
Beobachtungen beschränken. Ich möchte hier nur an der Hand der Tat-
sachen den Beweis führen, dass im binokularen psychischen Sehfelde je
zweien Deckstellen der beiden somatischen Sehfelder in jedem Augenblicke
immer nur eine Farbe entspricht, und dass diese Farbe nie heller als die
hellere und nie dunkler als die dunklere der beiden unokularen Farben
ist, aus denen man sich die binokularen gemischt denken kann; dass also
eine »Summierung« oder »Superponierung« zweier Helligkeiten beim Bin-
okularsehen nie vorkommt.
^) Drückt man den relativen Anteil, welchen je eine der beiden unokularen
Farben an ihrem binokularen Gemisch hat, durch je einen echten Bruch aus, so
ist die Summe dieser beiden Brüche stets gleich 1. Dem entspricht der seinerzeit
von mir aufgestellte »Satz vom komplementären Anteil< der beiden Augen an der
binokularen Farbe.
216 Lehre vom Lichtsinn.
Unter »binokularer Farbenmischung« versteht die herrschende Lehre nur
die binokulare Vereinigung zweier Farben von verschiedener bunter Qualität,
z. B. Rot und Blau. Eine binokulare Mischung tonfreier Farben giebt es für
diese Lehre nicht, vv^eil sie alle diese Farben von derselben Qualität sein lässl
und nur eine etwaige »Summierung« oder »Superponierung« zweier »farbloser
Empfindungsintensitäten« bezw. eine gegenseitige Hemmung zweier »Erregungen«
in Betracht zieht. Sobald man die verschiedenen tonfreien Farben als ver-
schiedene Qualitäten gelten lässt, verlieren gewisse Erklärungen, welche für
einen Teil der hierher gehörigen Erscheinungen versucht worden sind, ihre theo-
retische Grundlage. Betreffs dieser Erklärungen möge hier insbesondere auf die
Darlegungen von Johannes Müller (2 3), PanUxM (33), Feghner (34), Aubert (6) und
Helmholtz (1) verwiesen werden, welche schon wegen der dabei beschriebenen
Thatsachen wertvoll sind. Letzteres gilt ganz besonders von der ausgezeich-
neten Abhandlung Panum's »über das Sehen mit zwei Augen«.
Die binokularen tonfreien Farben sind als solche einer besonderen
Untersuchung bisher nicht unterworfen worden. Es ist sogar, z. B. von
Helmholtz, bestritten worden, dass sich aus einer verschiedenen Belichtung
zweier Deckstellen der Doppelnetzhaut überhaupt eine einfache binokulare
Farbe ergeben könne; vielmehr werde je nach den Umständen bald nur
die der einen, bald die der anderen Belichtung entsprechende Farbe ge-
sehen. Um so angemessener schien es, die tonfreien binokularen Farben
hier besonders zu behandeln. Die spätere Besprechung der binokularen
Mischung bunter Farben wird weitere Belege für die hier aufgestellten Sätze
bringen und zugleich Gelegenheit geben, auch den sogenannten binokularen
Farbenkontrast zu untersuchen.
§ 51. Binokulare Mischung tonfreier Farben beim Doppelt-
sehen eines kleinen Feldes auf andersfarbigem Grunde. Be-
findet sich auf einer im übrigen ganz gleichartigen und durchaus matten
Fläche z. B. einem auf dem Tische liegenden schwarzen Papier ein
kleines ebenfalls mattes Feld von anderer z. B. weisser Farbe, und
bringt man durch schwaches Schielen seine Gesichtslinien vor oder hinter
dem Papier zur Durchkreuzung, so erhält man ersteren Falles ein so-
genanntes gleichseitiges andernfalls ein ungleichseitiges Doppelbild des
kleinen Feldes.
Fig. 46 A veranschaulicht den Fall, wo die beiden, durch dickere
Linien [fr und fl) dargestellten Gesichtslinien sich vor der Ebene durch-
kreuzen, in welcher eine kleine weisse Scheibe auf schwarzem Grunde zu
sehen ist. Gemäß dem von mir seinerzeit ausführlich begründeten Ge-
setze der identischen Sehrichtungen findet man die Richtungen, in denen
uns die beiden Bilder des Doppelbildes der weissen Scheibe erscheinen,
wenn man erstens die beiden Netzhäute mit ihren jeweiligen Bildern so
ineinandergelegt denkt, dass jede zwei korrespondierende Netzhautstellen
§51. Binokulare Mischung beim Doppeltselien.
217
zusammenfallen 1), und zweitens ein, diese Doppelnetzhaut enthaltendes
einfaches Auge annimmt, welches unter gewöhnlichen Umständen zwischen
den beiden wirklichen Augen zu liegen hätte. Die zu den Netzhautbildern
dieses imaginären »Cyklopenauges«, wie es später Helmholtz nannte, ge-
hörigen Richtungslinien versinnlichen dann die Sehrichtungslinien, auf denen
uns die, den jeweils vorhandenen Netzhautbildern entsprechenden Dinge
erscheinen, wie dies Fig. 46 B für den vorliegenden Fall darstellt. Der Seh-
punkt r/) dieser Figur entspricht den beiden Punkten fr und fl des wirk-
lichen Papieres (Fig. 46 A), welches uns auf Grund von Erfahrungsmotiven
Fig. 46.
B
fr
n
A
9
aiy
angenähert in seiner wirklichen Entfernung auf dem Tische erscheint, ob-
wohl sich unsere Gesichtslinien schon vor demselben durchschneiden. Die
beiden sich zum größeren Teile deckenden unokularen Bilder des schwarzen
Papieres mit der weissen Scheibe sind in Fig. 46 B nicht ineinander, son-
dern übereinander gelegt, und das des linken Auges mit U, das des rechten
mit pp bezeichnet.
In analoger Weise ist der Fall, in welchem sich die Gesichtslinien
hinter dem schwarzen Papier kreuzen, durch Fig. 47 A und B veranschau-
-1) Von der geringen Inkongruenz der Anordnung der Deckstellen auf den
beiden Netzhäuten ist dabei abgesehen.
218
Lehre vom Lichtsinn.
licht. Auch hierbei erscheint uns das Papier beiläufig in seiner wirklichen
Entfernung, obwohl der Kreuzungspunkt der Gesichtslinien in größerer Ent-
fernung liegt als das Papier.
An der Stelle jedes Scheibenbildes kommen zwei verschiedene unoku-
lare Farben zur Deckung, nämlich die von der stärkeren Strahlung der
kleinen weissen Papierstelle einerseits und die von der schwachen Strahlung
des schwarzen Papiers anderseits an korrespondierenden Stellen der beiden
Sehfelder bedingte Farbe. Gleichwohl scheint uns bei diesem Versuche die
Fig. 47.
B
Farbe der beiden Doppelbilder keine andere zu sein, als die, welche uns
die weisse Papierstelle bei binokularem Einfachsehen derselben zeigt, wobei
je zwei korrespondierende Stellen der beiden Netzhäute von der gleichen
Strahlung getroft'en werden.
Ist, wie wir eben annahmen, das kleine doppelt gesehene Feld weiss
auf schwarzem Grunde, so könnte man sich die weisse Farbe seines doppelten
Bildes daraus erklären wollen, dass die eine der beiden Deckstellen nur das ge-
ringfügige Licht des schwarzen Grundes empfängt, dessen schwache Wir-
kung sich gegenüber der viel stärkeren der weissen Bildstelle im anderen
§51. Binokulare Mischung beim Doppeltsehen.
219
Auge nicht geltend machen könne. Diese Auffassung wird aber sofort hin-
fällig, wenn man ein kleines schwarzes Feld auf weissem Grunde zum
Versuche benutzt; denn dann erscheinen beim Schielen die beiden Bilder
schwarz, obwohl die eine Deckstelle von dem schwachen Lichte des kleinen
schwarzen Feldes, die andere von dem relativ starken Lichte des weissen
Grundes bestrahlt ist. Das Schwarz der kleinen Scheibe vermag
also hier das Weiss der korrespondierenden Stelle des Grundes
ganz ebenso aus dem Felde zu schlagen, wie im vorigen Falle
das Weiss der kleinen Scheibe das Schwarz des Grundes.
Fig. 48.
^üm^ähM^k
iii'iitiv ■ntwMimriiiii.i
Die Größe des Unterschiedes zwischen Scheibe und Grund spielt bei
den Versuchen keine wesentliche Rolle; denn mag die Lichtstärke der kleinen
Scheibe viel oder wenig von der des Grundes abweichen, immer scheint
uns zunächst das Doppelbild dieselbe Farbe zu haben wie die mit beiden
Augen einfach gesehene Scheibe. Es kommt nur darauf an, dass die
Scheibe nicht zu gross ist und sich deutlich genug vom Grunde unter-
scheidet, und dass der letztere ganz homogen ist und nicht etwa an der
bezüglichen Stelle ebenfalls etwas Unterscheidbares enthält. Auch auf die
Form des Feldes kommt es nicht an, wenn es nur zureichend klein oder
bei gestreckter Form zureichend schmal ist.
220 Lehre vom Lichtsinn.
Fig. 48 zeigt eine Reihe kleiner Kreisfelder auf schwarzem, auf
weissem und auf grauem Grunde. Betrachtet man eines der Felder in ge-
wöhnlicher Weise einen Augenblick und kreuzt unmittelbar nachher die
Gesichtslinien etwas vor oder hinter der Fläche des Papiers, so bemerkt
man, vorausgesetzt, dass beide somatischen Sehfelder und besonders die
betroffenen Stellen derselben sich in ganz gleichem Zustande befinden,
keinen deutlichen Unterschied zwischen der Farbe der jetzt erscheinenden
zwei Felder und der des unmittelbar vorher einfach gesehenen kleinen
Feldes.
Der Helligkeitsunterschied zwischen Feld und Grund mag noch so klein
sein, stets bedingt er, wenn er nur noch deuthch wahrnehmbar ist, beim Schielen
ein erkennbares Doppelbild. Es genügt, ein mattes weisses oder schwarzes Papier
mit einer etwas angestaubten Fingerspitze zu berühren, um den entstandenen
Fleck auch im Doppelbilde wahrzunehmen.
Wer seine Augen nicht genügend in der Gewalt hat, um sich ein Doppel-
bild mit beliebigem Abstand seiner beiden Einzelbilder zu erzeugen, halte eine
lange, in der Medianebene des Kopfes befindliche Nadel in passendem Abstände
vor das kleine Feld und fixiere statt des letzteren die Nadel. Wenn er die-
selbe unter fortwährender Fixierung vom Papiere entfernt oder demselben nähert,
kann er den beiden Einzelbildern des Doppelbildes einen beliebigen gegenseitigen
Abstand geben.
Falls die beiden Netzhautstellen, welche das Bild des kleinen Feldes emp-
fangen, sich infolge vorausgegangener ungleicher Bestrahlung nicht in ganz
gleichem Zustande befinden, so können die beiden Bilder des Doppelbildes ver-
schieden erscheinen. Dasselbe könnte auch bei einer beiderseits ungleich starken
Bestrahlung der immer etwas durchscheinenden Sklera der Fall sein. Von dem
abnormen Falle einer habituellen Verschiedenheit der beiden Augen kann hier
abgesehen werden. Um Nachwirkungen einer vorausgegangenen ungleichen Be-
strahlung der beiden Netzhäute auszuschließen, hält man ein größeres graues
Blatt genügend lange Zeit vor die Versuchsfläche, welches man erst unmittelbar
vor jedem Versuche wegzieht.
Der Grund, auf dem das kleine Feld liegt, soll ganz eben und von durch-
aus homogener Farbe sein, darf also auch kein unterscheidbares Korn zeigen.
Benutzt man kleine Papierscheiben, so sollen sie aus dünnem, ebenfalls ganz
ebenen Papier sein und dem Grunde ganz dicht anliegen.
Bei dem beschriebenen Versuch erscheinen die Doppelbilder in der
Ebene des Papiers; anders kann es sich verhalten, wenn das kleine Feld,
welches doppelt gesehen werden soll, sich nicht in jener Ebene, sondern
in passendem Abstände vor derselben befindet, während man eine, auf
der im übrigen ganz homogenen Papierfläche angebrachte Marke binokular
fixiert. Auf diese Weise kann man ein ungleichseitiges (gekreuztes) Doppel-
bild erhalten, welches, besonders im ersten Augenblick, nicht in der Ebene
des Papiers, sondern ebenso vor derselben erscheinen kann, wie das kleine
Feld in Wirklichkeit vor dem Papier liegt.
Es bedeute pp in Fig. 49 A den Durchschnitt eines auf dem Tische
liegenden weissen Papiers, f eine binokular fixierte Marke auf demselben
§51. Binokulare Mischung beim Doppeltsehen.
221
und s eine kleine schwarze Scheibe, deren Fläche zu der des weissen
Papiers parallel ist. Man bringt die Scheibe mittels einer feinen Pincette
median zwischen Gesicht und fixierte Marke. Die Scheibe wird dann
samt der Pincette doppelt gesehen, und das Doppelbild oq und oX kann
dabei in beiläufig derselben Entfernung über dem Tische erscheinen, in
der sich die wirkliche Scheibe über demselben befindet, wie dies Fig. 49 B
veranschaulicht.
Da man bei Akkommodation der Augen für die Entfernung des fixierten
Punktes die nähere doppelt erscheinende Scheibe nicht scharf sehen kann,
empfiehlt es sich, ihren Abstand von der Papierfläche nicht größer zu
nehmen, als nötig ist.
A
Fig. 49.
B
^^^^^^^^^^^^H ^
m
A'
^^^^Hj^^^^^^^^^^^^^l
JJI
n^B^^^^^^^^^^^B
^^H ;
^H
^^^^^^m '^
^^1
^^^B .'
1
U6'k ^^H
■
■
!
m
Auch bei dieser Versuchsanordnung entspricht der Netzhautstelle, welche
im einen Auge ein Bild der kleinen schwarzen Scheibe empfängt, als korre-
spondierende im anderen Auge eine vom Lichte des weißen Papiers ge-
troffene Stelle. Wenn nun die beiden Bilder der schwarzen Scheibe nicht
in der Ebene des weißen Papiers, sondern vor derselben erscheinen, so
wäre jetzt Gelegenheit gegeben, die beiden unokularen Farben ge-
sondert an zwei verschiedenen Stellen des Sehraumes zu sehen,
nämlich die schwarze Farbe vor der Papierfläche und die weiße in dieser
selbst, also an den Orten, wo sie sozusagen hingehören. In Wirklichkeit aber
erhält man den Eindruck, als verdecke jedes der beiden schwarzen Scheiben-
bilder eine entsprechende Stelle des weißen Grundes und mache dieselbe
unsichtbar, obwohl sie sich doch auf der einen Netzhaut ebenso abbildet,
222
Lehre vom Lichtsinn.
wie der schwarze Grund auf der anderen. Der einfachen Sehrichtung
der beiden verschieden beleuchteten Netzhautstellen entspricht also auch
nur eine Farbe.
Von den eben beschriebenen Versuchen erhält man den Eindruck, als
ob dabei eine Mischung der beiden unokularen Farben gar nicht stattfinde,
sondern die eine die andere völlig ausschließe. Es ist aber zu bedenken,
dass bei diesen Versuchen die Vergleichung der Farbe des zuvor binokular
einfach gesehenen kleinen Feldes mit der seines nachherigen Doppelbildes
nur eine sukzessive ist, und dass solche Sukzessivvergleichungen unzuver-
lässig sind. Es gilt also, die Versuche so abzuändern, dass eine Simultan-
vergleichung der beiden Farben möglich wird.
Zu diesem Zwecke bringt man statt eines einzigen, zwei in Form und
Farbe ganz gleiche kleine Felder auf dem helleren oder dunkleren homo-
genen Grund an und kreuzt seine Gesichtslinien vor oder hinter der Papier-
fläche dermaßen, daß sich auf je einer von zwei korrespondierenden Netz-
hautstellen je eines der beiden Felder abbildet, wie dies in Fig. 50 A und
Fig. 51 A für den Fall zweier schwarzen Felder auf weißem Grunde dar-
gestellt ist. Es erscheinen dann drei kleine Felder, ein in der Mitte lie-
gendes binokular gesehenes, rechts und links daneben je ein, nur von einem
§51. Binokulare Mischung beim Doppeltsehen.
223
Auge gesehenes (vgl. Fig. 50 B und Fig. 51 B). Nun lässt sich die Farbe
der letzteren mit der Farbe des ersteren vergleichen und zwar um so
besser, je näher die beiden seitlichen Bilder dem Mittelbilde sind. In den
Figuren sind sie zum Zwecke der Deutlichkeit der eingezeichneten Netzhaut-
bilder viel zu weit auseinander gerückt.
Wenn die Gesichtslinien vor der Papierfläche gekreuzt sind, so kommt es
vor, dass das binokulare Mittelbild nicht in, sondern vor dieser Fläche in der
Luft schwebend erscheint, wie dies Fig. 50 B veranschaulicht. Dies ändert je-
doch nichts an den Farben der Bilder und öeeinträchtigt nicht deren Ver-
gleichung.
Fig. 51
B
Es empfiehlt sich für den nicht besonders Geübten, bei diesen Ver-
suchen die kleinen Felder, welche sich auch mit Hilfe eines Locheisens aus
geeigneten Papieren ausschlagen und auf den gewählten andersfarbigen
Grund aufkleben lassen, in einer Gitterzeichnung anzuordnen, wie dies
Fig. 52 zeigt. Hält man die Figur senkrecht zur primären Blickebene, so
bleiben die durch binokulare Deckung entstandenen Bilder dann viel sicherer
vereinigt, während sie ohne das Gitter leicht wieder in ihre Einzelbilder
224
Lehre vom Lichtsinn.
zerfallen. Denn je vielgestaltiger die zu verschmelzenden Figuren sind,
desto stärker ist der sogenannte Fusionszwang. Mit Hilfe des schon oben
(S. 220) erwähnten Kunstgriffes wird dann Jeder durch Kreuzung der Ge-
sichtslinien vor der Papierfläche zwei beliebige von den in Fig. 52 neben-
einander liegenden kleinen Kreisfeldern zu dauernder binokularer Deckung
bringen. Dem Geübten wird dies auch durch Kreuzung der Gesichtslinien
hinter der Papierfläche leicht gelingen.
Fig. 52.
Man bemerkt bei diesen Versuchen, dass die beiden nur von je einem
Auge gesehenen seitlichen Bilder der kleinen Felder doch nicht ganz die-
selbe Farbe haben, wie das von beiden Augen gesehene Mittelbild, sondern
minder hell sind als letzteres, falls der Grund lichtschwächer, minder dunkel,
falls der Grund lichtstärker ist, als die wirklichen kleinen Felder. Dies
beweist, dass die Farbe der seitlichen Bilder nicht ganz unabhängig ist
von der Farbe der korrespondierenden Stelle des Grundes, dass aber der
relative Anteil der letzteren an der Farbe der seitlichen Bilder ein kleiner
ist, und zwar wie sich später zeigen wird, um so kleiner, je kleiner der
Sehwinkel der Felder (vgl. § 52, S. 229).
§ 52. Einfluss der Grenzlinien auf die binokulare Farbenmischung. 225
Stellt man längere Versuchsreihen an, bei denen man die Lichtstärke
des Grundes und der kleinen Felder mannigfach variiert und ebenso mit
großen wie mit kleinen Unterschieden dieser Lichtstärken arbeitet, so findet ♦
man, dass die Farbe der seitlichen Bilder immer in dem erwähnten Sinne
von der Farbe des binokularen Bildes abweicht. Ein ganz ausschließliches
Hervortreten der einen unokularen Farbe, wie es unsere früheren Doppel-
bildversuche zu ergeben schienen, findet also, wenn die Felder nicht all-
zuklein sind, doch nicht statt.
Übrigens aber entspricht das Ergebnis dem früher ausgesprochenen
Satze, dass, wenn aus der binokularen Mischung zweier ungleicher ton-
freier unokularer Farben eine dritte Farbe entsteht, dieselbe in der ton-
freien Farbenreihe stets zwischen den beiden unokularen Farben liegt.
Der Einfachheit wegen wurde für die beschriebenen Versuche eine symme-
trische Konvergenz der Gesichtslinien angenommen; es ist aber daran zu erinnern,
dass es nach erfolgter binokularer Vereinigung der beiden bezüglichen kleinen
Felder sehr leicht ist, das Doppelauge ohne Änderung des Konvergenz-
winkels nach rechts oder links zu wenden und auf diese Weise
immer andere einander entsprechende Punkte der beiden Figuren
sich auf den Stellen des direkten Sehens abbilden zu lassen, ganz
ebenso, wie man bei Betrachtung eines Stereoskopenbildes seinen Blick bald
diesem, bald jenem Teile desselben zuwenden kann. Für unseren Versuch er-
wächst daraus der Vorteil, dass nicht notwendig das binokulare Mittelbild mit
den Stellen des direkten Sehens und die seitlichen Bilder mit exzentrischen
Netzhautstellen gesehen werden müssen. Die letzteren können bei nicht ge-
nügender Anpassung lichtempfänglicher sein als die zentralen Teile, was zu-
gunsten der Helligkeit der seitlichen Bilder wirken kann. Blickt man aber
nicht auf das binokulare Mittelbild, sondern auf eine zwischen ihm und einem
Seitenbilde gelegene Stelle des Grundes, insbesondere auf die zwischenliegende
Gitterlinie, so entsprechen den beiden zu vergleichenden Feldbildern exzentrische
Netzhautstellen von gleicher Lichtempfäiiglichkeit, wie dies der Versuch fordert.
Wie man zu verfahren hat, wenn man bei diesen Versuchen seine Gesichts-
linien schon vor dem Sichtbarwerden der zuvor verdeckten kleinen Felder in
eine bestimmte Stellung bringen will, ist aus einer in § 53 enthaltenen Be-
schreibung ersichtlich.
§ 52. Einfluss der Grenzlinien auf die binokulare Mischung
ton freier Farben. Hat man eine ausgedehnte ebene Fläche vor sich,
deren durchaus homogene linke Hälfte von anderer Lichtstärke ist, als die
ebenfalls durchaus homogene rechte, und kreuzt man die Gesichtslinien
ebenso wie bei den früheren Versuchen vor oder hinter der Fläche, so
erscheint die Grenzlinie doppelt.
In Fig. 53 Ä entsprechen wieder die starken schwarzen Linien den
Gesichtslinien, die schwachen jederseits derjenigen Richtungslinie, welche
sich mit der Gesichtshnie des anderen Auges auf der halb weißen, halb
schwarzen Papierfläche schneidet. Statt der beiden Augendurchschnitte
Hering, LicMsinn. ^5
226
Lehre vom Lichtsinn.
sind hier nur die beiden Knotenpunkte kl und Ä;r gezeichnet. Fig. 53 B
versinnlicht die entsprechenden Sehrichtungen und die sich deckenden un-
okularen Sehfelder; in der Mitte deckt sich ein Teil der schwarzen Hälfte
des linksäugigen Sehfeldes mit einem Teile der weißen Hälfte des rechts-
äugigen. Dieser Mittelteil erscheint nicht in einer durchaus gleichen Farbe,
sondern von rechts nach links abschattiert, dicht an seiner rechten Grenze
am hellsten, dicht an der linken Grenze am dunkelsten und im übrigen in
einer von rechts nach links zunehmenden Dunkelheit. Fig. 55 gibt ein
Fig. 53.
B
ungefähres Bild des Eindruckes, den man erhält, wenn man die Gesichts-
linien vor oder hinter den in Fig. 54 dargestellten Flächen gekreuzt hat.
Das Analoge gilt von Fig. 57 und Fig. 56.
Sind die Lichtstärken der beiden Flächenhälften nicht zu verschieden,
so machen die binokularen Farben des Mittelteils ganz ebenso wie die der
beiden Seitenteile den Eindruck von sogenannten wirklichen Farben (s. § 4,
S. 7) des Papieres. Bei größerer Verschiedenheit erhalte ich vom Mittel-
teile mehr den Eindruck einer zufällig ungleich belichteten oder teilweise
beschatteten Fläche. Auch erscheint er mir öfters beim Anhalten des
Blickes als eine konvexe oder konkave Fläche. Halte ich die Augen einige
Zeit möglichst ruhig, so mindert sich der anfangs höchst auffallende Unter-
Flg. 54.
Fig. 55.
, :-4'
1
■
Fig. 56.
Fig. 57.
228 Lehre vom Lichtsinn.
schied zwischen den in der Nähe der beiden Grenzlinien erscheinenden
Farben des Mittelteils, und der letztere nimmt eine mehr gleichartige graue
Farbe an^). Gestatte ich den Augen wieder ihre gewohnten Bewegungen,
so tritt wieder die nach der einen Grenzlinie hin zunehmende Weißlichkeit,
nach der anderen hin zunehmende Schwärzlichkeit auffallender hervor.
Sind die Papierflächen nicht ganz homogen gefärbt, oder haben sie sogar
kleine Knickungen, so kann der Mittelteil auch wie glänzend erscheinen.
Bei wiederholter Anstellung desselben Versuches ist die Art der Zu-
nahme der Helligkeit in der Nähe der einen, ihre Abnahme in der Nähe
der andern Grenzlinie keineswegs immer ganz dieselbe, sondern sie kann
bald schroffer bald allmählicher sein; auch können einmal die helleren,
ein andermal die dunkleren Zwischenfarben der beiden auf den Seitenteilen
erscheinenden Farben im Mittelteile überwiegen; immer aber ist die
Farbe, die man an einer beliebigen Stelle des letzteren sieht,
eine in der tonfreien Farbenreihe zwischen den beiden unoku-
laren Farben gelegene, nie eine hellere oder eine dunklere.
Ob man die Farben des Mittelteiles als sogenannte wirkliche Kürper-
farben oder aber nur als zufällige Schattenfarben oder Glanzfarben sieht,
ist hier insofern gleichgültig, als auch jede Schattenstelle oder Glanzstelle
im einzelnen Augenblick immer nur eine binokular entstandene Helligkeit
oder Dunkelheit hat. Solche Eindrücke kann man auch beim Sehen mit
nur einem Auge erhalten, und sie sind keine besondere Eigentümlichkeit der
binokularen Farbenmischung. Schon in § 4 habe ich auseinandergesetzt,
dass man eine Fläche von ungleich verteilter Helligkeit bald als eine an
verschiedenen Stellen verschieden gefärbte, bald als eine nur zufällig un-
gleich belichtete oder beschattete sehen kann. Dies ist beim Sehen mit
nur einem Auge ebenso der Fall, wie beim Sehen mit beiden. Den vorhin
erwähnten Eindruck der Konvexität oder Konkavität des Mittelteiles der
bei unseren Versuchen erscheinenden Fläche kann man ebenfalls mit nur
einem Auge erhalten, wenn man eine einseitig beleuchtete, wirklich ge-
krümmte Fläche oder auch nur ihr Abbild, wie z. B. den Mittelteil der
in Fig. 55 und 57 abgebüdeten Flächen betrachtet. Ebenso ist der Glanz
durchaus nicht ein spezifisch binokulares Phänomen (s. § 54).
Unser Versuch zeigt, welche wichtige Rolle hier die beiden Grenzlinien
bei der binokularen Farbenmischung spielen. Nicht nur sind die beiden
Grenzlinien das zunächst Auffallende, sondern auch die an eine solche
unokulare Grenzlinie unmittelbar angrenzende Farbe der zwischenliegenden
Fläche ist der bezüglichen unokularen Farbe so ähnhch, als sei ihr von der
\) Bei längerem Stillstande der Augen können infolge unwillkürlicher Schwan-
kungen derselben an den beiden Grenzlinien sehr helle oder dunkle Säume er-
scheinen, welche die Folge eines Sukzesssivkonstrastes sind und hier nicht zur
Sache gehören.
§ 52. Einüuss der Grenzlinien auf die binokulare Farbenmischung. 229
Farbe der Deckstelle des andern Sehfeldes nichts oder äußerst wenig bei-
gemischt, und als könne solche Beimischung sich erst mit wachsendem
Abstand von der Grenzlinie mehr und mehr geltend machen.
Überhaupt gilt folgendes: Wenn sich in einem von zwei korrespon-
dierenden unokularen Sehfeldbezirken eine Grenzlinie zweier Farben be-
findet, während der andere eine durchaus homogene, nichts Unterscheidbares
enthaltende Farbe hat, so haben bei der binokularen Mischung die durch
die Grenzlinie geschiedenen Farben in der Nähe der letzteren das Über-
gewicht über die nicht differenzierte Farbe im anderen Sehfelde. Panum
bezeichnete dieses Überwiegen der Grenz färben, wie ich sie nennen will,
als das »Dominieren der Konture«.
Wir vermögen bei dem hier beschriebenen Versuche nicht, willkürlich
bald den homogenen Inhalt des einen, bald den differenzierten des andern
unokularen Sehfeldbezirkes erscheinen zu lassen; stets bleiben beide Bilder
der Grenzlinie sichtbar, und stets erscheint die zwischenliegende Fläche
nach der einen Grenzlinie hin heller, nach der anderen hin dunkler, als
ihr Mittelteil. Diese Thatsache ist besonders gegenüber der Ansicht von
Helmholtz hervorzuheben, nach welcher es bei ungleicher Belichtung zweier
Deckgebiete von unserer willkürlichen Aufmerksamkeit abhängen soll, ob
der Inhalt des einen oder des andern unokularen Sehfeldgebietes über-
wiegend oder ausschließlich zur Erscheinung kommt (vgl. § 54).
Ganz ähnlich wie mit einer geraden verhält es sich mit jeder beliebig
geformten Grenzlinie zweier unokularer Farben, wenn der korrespondierende
Bezirk der anderen Netzhaut ganz gleichmäßig belichtet ist. An der Grenz-
linie haben im binokularen Sehfelde die Grenzfarben das Uebergewicht über
die im korrespondierenden Teile des anderen unokularen Sehfeldes gleich-
mäßig ausgebreitete Farbe. Dem entspricht es durchaus, wenn, wie im
vorhergehenden Paragraphen beschrieben wurde, das Doppelbild eines
kleinen Feldes auf lichtschwächerem oder lichtstärkerem Grunde in der-
selben Farbe erscheint^ wie wenn wir es bei binokularer Fixierung einfach
sehen. Denken wir uns z. B. die linksgelegene der beiden in Fig. 55 dar-
gestellten unokularen Grenzlinien nach rechts hin kreisförmig umgebogen
und also in sich selbst zurücklaufend: wäre die so entstandene, von der
Grenzlinie umschlossene Kreisfläche nur klein, so enthielte sie nur die
dunkle Grenzfarbe, die sich wegen der Kleinheit des Feldes fast unver-
ändert bis in den Mittelpunkt desselben erstrecken würde. Dies entspricht
dem Falle, wo ein lichtschwächeres kleines Feld auf lichtstärkerem Grunde
doppelt gesehen wird. Denken wir uns andererseits die rechts gelegene
Grenzlinie der Fig. 55 nach links hin kreisförmig umgebogen, so enthält
das so entstandene Kreisfeld nur die helle Grenzfarbe, was dem Falle des
Doppelsehens eines lichtstärkeren Feldes auf lichtschwächerem Grunde
entspricht.
230
Lehre vom Lichtsinn.
Ist das als Doppelbild erscheinende Kreisfeld zu groß, so dass sein
zentraler Teil zu weit von der Grenzlinie abliegt, so kann derselbe deutlich
heller bezw. dunkler als die periphere Zone des Feldes erscheinen, wovon
man sich überzeugen wird, wenn man den Doppelbildversuch mit größeren
Kreisfeldern anstellt, als wie sie in § 51 angenommen waren.
Wäre das kleine Feld nicht kreisförmig, sondern bei gleichem Flächen-
inhalt elliptisch oder sonst wie in die Länge gezogen, so ist es ganz von
Fig. 58 A.
M
G
c
T
M
C
N
F
Z
N
Z
D
H
Y
0
H
R
0
L
u
E
K
L
U
Fig. 58 B.
T
M
G
C
N
F
Z
D
H
Y
R
0
K
L
U
E
der Grenzfarbe erfüllt, die in dem kreisförmigen Felde nur dicht an der
Peripherie erscheint. Daher besteht zwischen der Farbe eines binokular
fixierten Feldes, dessen Lichtstärke von der des umgebenden Grundes ver-
schieden ist, und der Farbe seines Doppelbildes ein um so kleinerer Unter-
schied, je schmäler das Feld ist. Man kann dies sehen, wenn man ab-
wechselnd größere und kleinere Kreisfelder oder breitere und schmälere
Streifen zum Doppelbildversuche benutzt. Schwarze Buchstaben auf weißem
§ 33. Binokulare Deckung kongruenter Bilder von verschiedener Farbe. 231
Grunde erscheinen uns daher unokular gesehen schwarz wie die binokular
gesehenen.
Bringt man mit Hilfe einer haploskopischen Vorrichtung die beiden
Hälften der Fig. 58 A zu binokularer Deckung, so erhält man ein Ver-
schmelzungsbild, wie es Fig. 58 B darstellt. Sämtliche Buchstaben er-
scheinen schwarz. Gleichwohl werden dabei gewisse Buchstaben nur vom
linken, andere nur vom rechten, und nur die übrigen von beiden Augen
zugleich gesehen. Mancher vermag gar nicht ohne weiteres zu unter-
scheiden, welche Buchstaben nur auf einer, und welche auf beiden Netz-
häuten zugleich abgebildet sind. Die Gitterlinien erleichtern die Konstanz
des passenden Konvergenzwinkels der Gesichtslinien. Wird derselbe will-
kürlich oder unwillkürlich ein wenig geändert, so zerfallen die binokular
gesehenen Buchstaben in Doppelbilder, die übrigen bleiben einfach.
Wer kurzsichtig ist oder sich durch eine Konvexbrille kurzsichtig macht,
bedarf zu dem Versuche keiner haploskopischen Vorrichtung; er braucht nur
seine Gesichtslinien weit hinter der Figur zu durchkreuzen und dieselbe in den
Abstand seines Fernpunktes zu bringen.
§ 53. Binokulare Deckung zweier kleiner Felder von gleicher
Form, aber ungleicher Farbe auf beiderseits gleichem Grunde.
Bei den bisher beschriebenen Versuchen handelte es sich um binokulare
Deckung zweier unokularer Sehfeldbezirke, deren einer aus einer homo-
genen Farbe bestand, während im anderen dieselbe Farbe ein anders-
farbiges Feld umgab oder an ein solches grenzte. Es enthielt also nur
der eine unokulare Bezirk etwas Unterscheidbares. Jetzt handelt es sich
um binokulare Deckung zweier Bezirke, die beide an korrespondierenden
Stellen je ein kleines vom Grunde verschiedenes Feld enthalten. Die Farbe
des Grundes ist wieder in beiden unokularen Bezirken die gleiche, aber
die Farbe der kongruenten und sich deckenden kleinen Felder ist nicht
beiderseits gleich. Infolge der Kleinheit der Felder wirken ihre Farben als
Grenzfarben, und auf die Mischung der letzteren kommt es jetzt an.
Um die aus dieser Mischung hervorgehende neue Farbe mit jeder
der beiden unokularen vergleichen zu können, kann man sich einer durch
Fig. 59 A und Fig. 59 B erläuterten Methode bedienen.
Fig. 59 A zeigt drei Paare kleiner Kreisfelder von gleichem Durch-
messer, wie sie sich leicht mittels eines Locheisens aus mattgrauem Papiere
herstellen lassen. Das mittle Paar ist dasjenige, um dessen binokulare
Vereinigung es sich handelt. Die beiden Felder des obersten Paares sind
sowohl unter sich als mit dem rechten Felde des mittlen Paares von
gleicher Lichtstärke, dasselbe gilt von den beiden untersten Feldern und
dem linken des mittlen Paares. Kreuzt man in entsprechender Weise
vor der Ebene einer derartigen Figur die Gesichtslinien, so sieht man, wie
232
Lehre vom Lichtsinn.
'S
dies Fig. 59 B veranschaulicht, neun Felder, von denen hier nur die mittle
binokular gesehene Längsreihe in Betracht kommt. Wie solche Versuche
in exakter Weise auf einer ganz ebenen schwarzen, weißen oder grauen
Fläche mit Benützung eines binokular gesehenen Gitters anzustellen sind,
ist weiter unten beschrieben.
Da durch Vereinigung zweier gleicher unokularer Farben nur wieder
dieselbe Farbe entsteht (vgl. S. 214), so zeigt das obere und das untere
Feld der mittlen Längsreihe je eine der beiden ungleichen Farben, welche
im Mittelfelde zu einer dritten Farbe vereinigt sind, und es lässt sich
letztere bequem mit jeder der beiden ersteren vergleichen. Dabei ergiebt
sich, dass diese dritte Farbe zwar keine ganz konstante, aber stets
heller als die dunklere und dunkler als die hellere der beiden
Farben ist, aus deren binokularer Mischung sie entstand, wenn
sie nicht im besonderen Falle der einen gleicht. Wiederholt man
Fig. 59 A.
Fig. 59B.
mit genügend langen Pausen den Versuch öfter, so zeigt sich, dass die
auf den ersten Blick erscheinende Mischfarbe bald der einen, bald der
andern jener beiden Farben ähnhcher ist oder im Grenzfall ihr gleich scheint.
Dreht man, was als Kontroiversuch zu empfehlen ist, die Fig. 59 A um
180°, so dass die Bilder der beiden ungleichen Scheiben des mittlen
Paares auf der Doppelnetzhaut ihren Platz vertauschen, so erhält man
öfters vom mittlen Felde eine andere Mischfarbe als bei der anfäng-
lichen Lage.
In Fig. 59 ist die Verschiedenheit der beiden unokularen Lichtstärken
nicht groß; je größer man sie wählt, desto leichter tritt der Fall ein, dass
die binokulare Mischfarbe nicht im ganzen Felde dieselbe ist, oder dass
das Feld auf den ersten Blick teils in der Farbe des oberen, teils in der
des unteren Feldes erscheint. Letzterenfalls gehen diese beiden Farben
bald schroffer, bald mehr allmählich ineinander über.
Je größer die Verschiedenheit der beiden unokularen Lichtstärken ist,
desto strenger ist darauf zu achten, dass die Hauptbedingungen, welche bei dem
Versuche vorausgesetzt sind, auch wirklich erfüllt werden. Die eine dieser
§ 33. Binokulare Deckung kongruenter Bilder von verschiedener Farbe. 233
Bedingungen ist, dass in dem Augenblicke, wo dem Beobachter die Felder
sichtbar werden, seine Gesichtslinien bereits die Stellung haben, welche zu
einer genau korrespondierenden Lage der bezüglichen Netzhautbilder nötig
ist. Die andere Hauptbedingung ist, dass man bei jedem Einzelversuche
schon vor dem Erscheinen der Felder bestimmt hat, ob man das Mittel-
bild mit dem oberen oder mit dem unteren Bilde der Mittelreihe vergleichen
will. Ersterenfalls muss man den Blickpunkt auf den Zwischenraum zwischen
dem oberen und dem mittlen Felde, letzterenfalls zwischen dieses und
das untere Feld verlegen und dementsprechend die Gesichtslinien schon vor
dem Versuche eingestellt haben.
Man erreicht dies alles mit Hilfe einer Glastafel, welche an einem
Stativ in senkrechter Richtung verschiebbar und mit einem rechtwinkligen
Liniengitter versehen ist, welches hier an die Stelle des in Fig. 59 A auf
dem Papiere befindlichen Gitters zu treten hat. Befindet sich auf dem
Tische, über welchem die horizontale Glastafel in passender Höhe einge-
stellt ist, ein ganz homogenes schwarzes Papier, so müssen die Linien des
Gitters auf dem Glase weiß, bei Benutzung eines weißen Papieres schwarz
sein, während zu einem grauen Papiere beide Gitterarten passen. Nachdem
man den Kopf in passender Höhe über der Glastafel irgendwie fixiert hat,
stellt man die Gesichtslinien auf die Entfernung der Glastafel ein, indem
man die Linien des Gitters betrachtet, und ordnet dann die sechs kleinen
Scheiben auf dem Papiere so an, dass jedes Scheibenbild, sei es ein bin-
okular oder ein nur unokular gesehenes, in einem Quadrate des Gitters
ebenso erscheint, wie in Fig. 59 B. Die ganz richtige Lagerung der
Scheiben erkennt man mit großer Genauigkeit daran, dass die binokular
gesehenen Scheibenbilder der Mittelreihe nicht in der Ebene des Papieres
auf dem Tische, sondern in der Ebene des Gitters erscheinen. Sobald
eines dieser Bilder dauernd unterhalb oder oberhalb des Gitters zu schweben
scheint, haben die beiden bezüglichen Papierscheiben erstenfalls einen zu
kleinen, letztenfalls einen zu großen gegenseitigen Abstand. Ob die un-
okularen Bilder dem Beobachter in der Ebene des Glases oder des Papieres
erscheinen, ist hier gleichgültig. Durch eine schwarze Samtmaske oder
durch einen vor dem Gesichte befindlichen schwarzen Schirm mit zwei
Löchern macht man das Spiegelbild seines Gesichtes unschädlich.
Nach dieser Vorbereitung lässt man von einem Gehilfen ein steifes,
ganz homogenes graues Papier horizontal über das Papier mit den Scheiben
halten, und wartet, ohne die Lage seines irgendwie gestützten Kopfes zu
ändern, so lange, bis alle Nachwirkungen der früheren Betrachtung der
Scheiben verklungen sind, fixiert dann diejenige Gitterlinie, welche vorher
zwischen den beiden zu vergleichenden Scheibenbildern erschien, und lässt
endlich das graue Papier wieder wegziehen. Unter solchen Umständen ge-
lingt es mir leicht, bei nicht zu großer Verschiedenheit der beiden unoku-
234
Lehre vom Lichtsinn.
Fig. 60.
laren Lichtstärken, das mittle Scheibenbild sofort in einer homogenen Farbe
zu sehen, welche, wie gesagt, bei wiederholten Versuchen nicht immer
wieder dieselbe, sondern bald der des oberen, bald
der des unteren Scheibenbildes der Mittelreihe ähn-
licher ist und bei etwas verlängerter Betrachtung ihre
Qualität ändern kann.
Wenn ich aber bei guter Beleuchtung schwarze
und weiße Scheiben auf grauem Grunde, wie sie Fig. 60
zeigt,
zum Versuche wähle, so
gelingt es
mir zwar
^^^^^^^^H auch, das mittle Scheibenbild in einer homogenen Farbe
^^^^^^^^H zu sehen, doch ist dieselbe nur zuweilen von den
beiden anderen Farben erheblich verschieden und meist
dem unteren weißen Scheibenbilde der Mittelreihe oder seltener dem oberen
schwarzen Scheibenbilde nahezu oder völlig gleich. Überdies wechselt leicht
Fig. 61.
bei etwas verlängerter Betrachtung trotz möglichst unverrückter Augen-
stellung die Farbe des Scheibenbildes zwischen Schwarz und Weiß, sei es
§ 53. Binokularer Weltstreit tonfreier Farben.
235
an beschränkter Stelle oder im Ganzen, und dieser Farbenwechsel kann
sich so schnell vollziehen, dass die Zwischenstufen der beiden Farben nicht
deutlich zur Wahrnehmung kommen. Dabei scheint gewöhnlich das
Scheibenbild zu glänzen.
Hier zeigt sich also in besonders ausgeprägter Weise ein Wettstreit
der beiden Grenzfarben. Doch sieht man niemals an einem und demselben
Punkte des Feldes die schwarze und die weiße Farbe zugleich, und ebenso-
wenig die eine hinter der anderen, wie dies der Fall sein würde, wenn
die eine in der Ebene des Gilters, die andere dahinter auf dem entfernteren
Papiere erschiene (vgl. S. 221). Ein derartiges räumlich gesondertes Er-
scheinen der beiden Farben tritt selbst bei der folgenden Abänderung des
Versuches nicht ein.
Man bringe das Gitter wieder statt auf der Glasplatte auf grauem
Papiere so an, wie dies S. 232 beschrieben wurde. In ein Viereck dieses
Fig. 62.
Fig. 63.
Gitters lege man eine schwarze Scheibe [s in Fig. 61 ) und auf die Glasplatte {gg\
eine kleine weiße Scheibe [w), welche für das eine z. B. linke Auge den-
selben Gesichtswinkel hat, wie die schwarze Scheibe auf dem Papiere_, und
die letztere genau deckt (vgl. Fig. 61). Stellt man dann die Gesichtslinien
auf das Papier ein, so erscheint die weiße Scheibe in Doppelbildern, deren
eines sich mit dem Bilde der nur vom rechten Auge gesehenen schwarzen
Scheibe deckt. Dabei kommt es nie vor, dass die weiße und
schwarze Farbe, jede rein für sich, in verschiedener Entfernung
erscheinen, nämlich die weiße näher, und die schwarze in der-
selben Richtung dahinter in größerer Entfernung. Das Ergebnis
ist vielmehr so, wie bei der Benutzung der Fig. 60. Der analoge Versuch
lässt sich mit zwei grauen Scheiben von verschiedener Lichtstärke auf
weißem oder schwarzem Grunde anstellen, wobei kein Wettstreit sichtbar ist.
Dies alles beweist, dass hier die Einheit der Farbe und die
Einheit der Sehrichtung zwangsweise verbunden sind.
236 Lehre vom Lichtsinn.
Wenn man unter dem erwähnten Gitter der Glasplatte vier teils weiße,
teils schwarze Scheiben auf einer grauen Fläche so anordnet, wie es
Fig. 62 und 63 zeigt, so sieht man unter den erwähnten Bedingungen wieder
drei Reihen von Scheibenbildern, doch enthält die Mittelreihe jetzt zwei
durch binokulare Deckung ungleichfarbiger Scheiben entstandene und den
Wettstreit zeigende Bilder. Dabei ist bemerkenswert, dass sich diese beiden
Bilder gleichzeitig in ganz verschiedenen Phasen des Wettstreites befinden
können, und dass also im binokularen Sehfelde an jeder Stelle
unabhängig von den anderen Stellen der Wettstreit der unoku-
laren Grenzfarben ablaufen kann.
Alle diese Erscheinungen, sowohl die bei nicht zu großer
Verschiedenheit der beiden Farben wechselnde Art ihrer bino-
kularen Mischfarbe, als auch die Phänomene des Wettstreits sind
unserer Willkür entrückt. Wenn man sich vor dem Sichtbarwerden
des binokularen Scheibenbildes noch so lebhaft eine bestimmte Farbe
desselben vorstellt, so hat dies doch keinen Einfluss auf die dann wirklich
erscheinende, und ebenso treten die verschiedenen Phasen des Wettstreites
nicht nur ohne, sondern auch wider unseren Willen ein.
Wettstreit entsteht da, wo zwei verschiedene Grenz färben zur Deckung
kommen. Bei den in § 52 beschriebenen Versuchen handelte es sich auch um
binokulare Deckung zweier verschiedener Farben, aber dort war stets nur
die eine der beiden unokularen Farben eine Grenzfarbe und dementsprechend
fehlte der Wettstreit vollständig. Je verschiedener die beiden sich decken-
den Grenzfarben, desto auffallender ihr Wettstreit. Eine sich scharf absetzende
Grenzfarbe ist im Vorteil gegenüber einer verwaschen begrenzten u. a. m.
Hier galt es nur zu zeigen, dass auch im Falle des Wettstreites auf jeder
einzelnen binokularen Sehrichtungslinie in jedem Augenblicke stets nur eine
Farbe erscheint, sei es eine der beiden unokularen oder eine, die sich als
ein Gemisch beider bezeichnen lässt. Wenn einmal beide unokularen Farben
innerhalb eines binokularen Scheibenbildes zugleich nebeneinander erscheinen,
so sind sie doch nicht durch eine scharfe Grenze voneinander geschieden,
sondern die eine geht durch alle Zwischenfarben in die andere über.
Die mit Benützung des beschriebenen Gitters auf der Glastafel und
kleiner Papierscheiben anzustellenden Versuche sind auch in anderer Be-
ziehung belehrend. Es wurde schon erwähnt, dass bei ganz richtiger
Anordnung der Scheiben die durch binokulare Deckung zweier Scheiben
entstandenen Bilder der Mittelreihe genau in der Ebene der Gitterlinien er-
scheinen. Dies gilt jedoch von dem durch binokulare Deckung der ungleich-
farbigen Scheiben entstandenen mittlen Bilde der Reihe nur insoweit, als
die Verschiedenheit der Farben keine zu große ist. Zeigt dieses Bild infolge
zu großer Verschiedenheit der beiden Farben nur die eine, oder kommt es
zu einem Wettstreit, so ist auch der Ort des Bildes innerhalb der ihm
§ 53. Die Erscheinung des Glanzes. 237
zukommenden Sehrichlung nicht mehr ein fest bestimmter, und man kann
es dann bald in der Ebene des Gitters, bald auf dem darunter liegenden
Papiere sehen.
In ähnlicher Weise, wie hier die binokulare Deckung zweier kleiner
Felder von kongruenter Form aber ungleicher Farbe auf beiderseits gleichem
Grunde, ließe sich nun auch die binokulare Deckung kleiner Felder von
gleicher Farbe auf beiderseits ungleichfarbigem Grunde und endlich
der Fall besprechen, wo bei kongruenter Form sowohl die Farbe des Feldes
als die des Grundes beiderseits verschieden ist. Es ergeben sich jedoch dabei
betreffs der binokularen Mischung keine neuen Gesichtspunkte, wenngleich
eine möglichst erschöpfende, auf eigne Beobachtung gegründete Kenntnis
der hierher gehörigen Erscheinungen für denjenigen wünschenswert ist, der
sich die Berechtigung zur Kritik der Ergebnisse der auf diesem Gebiete
erfahrenen Forscher erwerben will.
Über die Erscheinung des Glanzes. Die oben erwähnte Erscheinung
des Glanzes erfordert noch eine kurze Besprechung, obwohl derselbe in ebenso
deutlicher Weise auch beim einäugigen Sehen vorkommt, wie dies schon
WüNDT hervorgehoben hat. Wenn auf einer Fläche, gleichviel ob sie nur
mit einem Auge gesehen wird, oder ob sie beiden Augen gleiche und sich
genau deckende Bilder gibt, ein Hell erscheint, das wir nicht als eine der
Fläche eigentümliche »wirkliche«, sondern nur als eine zufällige Farbe der-
selben auffassen (vgl. § 4), so kann uns die Fläche glänzend erscheinen.
Dabei ist meist schon die Art der Verteilung von Hell und Dunkel auf der
Fläche entscheidend. Ein treues photographisches Abbild einer solchen
Fläche kann ebenfalls den Eindruck des Glanzes machen, sowohl bei einäugigem
als bei doppeläugigem Sehen. Dies beweist schon, dass die Erscheinung des
Glanzes nicht an das Binokularsehen gebunden ist. Bei letzterem kann es
allerdings vorkommen, dass die Lichtreflexe, welche die Fläche glänzend
erscheinen lassen, nur das eine Auge treffen, und dass daher der Glanz
verschwindet, wenn wir dieses Auge schließen; ebenso kann es vorkommen^
dass die Lichtreflexe beiden Augen verschieden und an verschiedenen Stellen
der Fläche erscheinen. In solchen Fällen kommen, ähnlich wie bei den
obigen Versuchen, ungleiche unokulare Farben zu binokularer Deckung.
Alle diese Arten des Glanzes treten schon beim ersten Anblick der
Fläche auf, und selbst eine nur momentane Beleuchtung reicht zur Er-
scheinung des Glanzes hin. Bewegungen oder Intensitätsänderung der
Lichtquelle oder auch bloße Kopfbewegungen bewirken Änderungen der
Helligkeit oder Lage der Reflexe, und dasselbe tun Bewegungen der re-
flektierenden Fläche. Dabei entsteht sow^ohl bei einäugigem als bei doppel-
äugigem Sehen ein unruhig wechselnder Glanz, wie ihn in ausgeprägtester
Weise eine bewegte Wasserfläche zeigen kann. Eine solche, sich immer
wieder ändernde Verteilung von Hell und Dunkel auf der gesehenen Fläche
238 ' Lßhre vom Lichtsinn.
kommt bei dem oben beschriebenen Wettstreit zweier unokularer Farben
ebenfalls vor.
Aus alledem geht hervor, dass die Erscheinung des Glanzes beim bino-
kularen Sehen nichts gegen den oben aufgestellten Satz beweist, nach
welchem die auf einer und derselben Sehrichtungslinie erscheinende bino-
kulare Farbe in jedem einzelnen Augenblicke eine einfache ist, wenngleich
sie ebenso wie eine unokulare in verschiedener Weise gesehen werden
kann (vgl. § 49).
Eine vorzügliche Darlegung der Bedingungen, unter denen die Erscheinung
des Glanzes auftritt, hat Helmholtz in seinem Handbuch der physiologischen
Optik gegeben, und in der zweiten Auflage dieses Werkes findet man auch ein
umfassendes Verzeichnis der bezüglichen Lilteratur. Nach der Ansicht von
Helmholtz ist die Erscheinung des binokularen oder, wie er sagt, stereoskopi-
schen Glanzes »für die Theorie der Thätigkeit beider Netzhäute deshalb von
Interesse, weil daraus mit Sicherheit hervorgeht, was bei den verschiedenen
Aussagen verschiedener Beobachter über die Erfolge der binokularen Deckung
verschiedener Bilder vielleicht zweifelhaft bleiben könnte, dass zwei heterogene
Lichtwirkimgen auf korrespondierende Netzhautstellen stets einen durchaus
anderen sinnlichen Eindruck machen, als zwei gleichartige Einwirkungen auf
dieselben Stellen«.
Wenn man aber z. B. einen schwarzen Buchstaben auf weißem Grunde
oder einen weißen auf schwarzem Grunde zuerst mit richtig eingestellten Ge-
sichtslinien binokular und sodann bei etwas geänderter Convergenz eines seiner
beiden Doppelbilder nur unokular fixiert (vgl. §51), so wird Niemand sagen
können, dass das letztere Bild »einen durchaus anderen sinnlichen Eindruck
mache«, als das Bild des zuvor binokular fixierten Buchstabens ; die beiden Ein-
drücke sind vielmehr zum Verwechseln ähnlich. Und doch finden im einen
Falle »zwei gleichartige Einwirkungen« auf zwei korrespondierenden Stellen, im
andern auf ganz denselben Stellen zwei »heterogene« Einwirkungen statt, näm-
lich einerseits die Einwirkung des von einem schwarzen bzw. weißen Buchstaben,
anderseits die Einwirkung des vom weißen bzw. schwarzen Grunde ausgehenden
Lichtes. Dasselbe gilt von den bei binokularer Deckung der beiden Hälften der
Fig. 58 auf S. 230 gesehenen Buchstaben; die von beiden Augen zugleich ge-
sehenen unterscheiden sich oft gar nicht und nur bisweilen kaum merklich
von den nur mit einem Auge gesehenen. Wenn man freilich in der linken
Hälfte der Figur die Buchstaben weiß und den Grund schwarz machen würde,
während in der rechten Hälfte die Buchstaben schwarz auf weiß bleiben, so
würden uns die nur vom linken Auge gesehenen Buchstaben weiß und die
nur vom rechten gesehenen schwarz erscheinen, die von beiden Augen zugleich
gesehenen aber würden, insoweit es überhaupt vorübergehend gelänge, sie zu
genauer binokularer Deckung zu bringen, das Phänomen des Wettstreites zeigen
können, wie dies bei den durch Fig. 60 illustrierten Versuchen beschrieben
wurde.
Helmholtz hat nicht beachtet, daß sich aus zwei heterogenen Lichtwirkungen
auf korrespondierende Stellen nur eine einfache Farbe ergibt, die allerdings eine
inkonstante und sogar ziemlich schnell wechselnde sein kann, sich aber nie in
zwei gleichzeitig auf derselben SehrichtungsHnie erscheinende unokulare
Farben, z. B. im vorliegenden Falle in ein völliges Weiß und ein völliges
§54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder.
239
Schwarz spaltet. Damit fällt auch eine Hauptstütze seiner Theorie des Bino-
kularsehens und seiner Polemik gegen die Annahme eines angeborenen Zu-
sammenhanges zwischen dem Einfachsehen der Farben und der Identität der
Sehrichtungslinien zweier Deckstellen. Dies möge hier erwähnt sein, weil
V. Kries in seinen Zusätzen zu einem kürzlich erschienenen Neudruck der ersten
Auflage des Werkes von Helmholtz wieder für dessen Theorie des binokularen
Sehens eingetreten ist.
§ 54. Die binokulare Farbenmischung bei binokularer
Deckung inkongruenter Bilder. Bei den im vorhergehenden Para-
graphen besprochenen Fällen wurden kongruente Figuren auf korrespon-
dierenden Stellen der beiden Netzhäute abgebildet; nur in der Licht-
stärke waren die Figuren verschieden. Viel häufiger ist beim gewöhnlichen
Sehen der Fall, dass kleinere oder größere korrespondierende Bezirke der
Fig. 64.
beiden Netzhäute mit völlig inkongruenten Bildern bedeckt sind. Bei Be-
trachtung naher Dinge, hinter denen noch andere sichtbar sind, bildet die
Inkongruenz der beiden Gesamtnetzhautbilder mit Ausnahme der Bilder des
eben fixierten Objektes sogar die Regel. Auch die beiden Netzhautmitten
können inkongruente Bilder erhalten, wenn ein Ding, das dem Gesichte
näher als das fixierte liegt, in ungleichseitigen Doppelbildern erscheint.
Trotz der großen Mannigfaltigkeit der hierher gehörigen Tatsachen genügen
einige wenige, der oben erwähnten Abhandlung Panüm's entlehnte Beispiele
zur Einsicht in das, was dabei bezüglich der binokularen Farbenmischung
besonders wesenthch ist.
Bringt man zwei Felder, wie sie Fig. 64 in verkleinertem Maßstabe
zeigt, in ein Stereoskop, und ist für das Scharfsehen der Grenzlinien
zwischen Weiß und Schwarz gesorgt, so erhält man ein binokulares Bild
etwa von der Art des in Fig. 65 dargestellten. Man sieht ebensowohl im
240
Lehre vom Lichtsinn.
ersten Augenblick als bei längerer zwangloser Betrachtung stets die beiden
sich durchkreuzenden Grenzlinien zwischen Weiß und Schwarz, nie aber
entweder nur die eine oder die andere der beiden zur Deckung gebrachten
Figuren.
Im linken oberen Viertel des binokularen Bildes deckt sich unokulares
Schwarz mit Schwarz, im rechten unteren Viertel Weiß mit Weiß, in den
beiden anderen Vierteln aber kommt unokulares Weiß und Schwarz zur
Deckung, und man sieht hier ein graues Gemisch aus Schwarz und Weiß,
welches um so leichter zu glänzen scheint, je weniger genau der Forderung
völliger Homogenität der sich deckenden Flächen entsprochen ist. Das
Mischgrau ist bei verschiedenen Versuchen bald heller, bald dunkler und
geht nach der Grenzlinie des schwarzen Viertels hin durch immer hellere
Zwischenstufen in ein Weiß, nach der
Fig. 65. Grenzlinie des weißen Viertels hin durch
immer dunklere Stufen in ein Schwarz
über. Diese Übergänge sind bald
schroffer, bald allmählicher.
Während nämHch im grüßten Teile
eines solchen grauen Viertels indifferentes
Weiß mit indifferentem Schwarz gemischt
ist, mischen sich in der Nachbarschaft
der Grenzlinien je eine Grenzfarbe und
eine indifferente, und zwar mischt sich
an der Grenze des weißen Viertels das
Grenzschwarz mit dem indifferenten
Weiß zu einem Schwarz, und an der
Grenze des schwarzen Viertels das
Grenzweiß mit dem indifferenten Schwarz zu einem Weiß; mit wachsen-
dem Abstände von der Grenzlinie nimmt hier die W^eißlichkeit , dort
die Schwärzlichkeit des Gemisches ab und nähert sich dem allgemeinen
Mischgrau des Viertels. In der Nähe des Kreuzungspunktes der beiden
Grenzlinien mischt sich Grenzweiß mit Grenzschwarz zu einem bis in
die Spitze des Winkels reichenden Grau. Es kommt hier, solange die
beiden betroffenen Sehfeldstellen gleichartig sind, nie zu einem derartigen
Überwiegen der einen Grenzfarbe über die andere, dass eine der beiden
hier zusammenstoßenden Grenzlinien auch nur eine kleine Strecke weit
ganz unsichtbar würde, sondern es sind selbst bei langer zwangloser Be-
trachtung beide Grenzlinien bis zu ihrem Durchschnittspunkte sichtbar. Nur
bei längerem Stillstande der Augen sieht man bei einer nachfolgenden kleinen
Bewegung derselben infolge des Sukzessivkontrastes an der einen oder
anderen Grenzlinie einen sehr hellen oder sehr dunklen Streifen, welcher
das in ihm gelegene Stückchen der Grenzlinie unsichtbar macht. So wenig
i^ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder.
241
also ein Wettstreit mit völligem Verschwinden einer der beiden Grenzfarben
zu sehen ist, ebensowenig ein Wettstreit, bei dem abwechselnd nur eines
der beiden unokularen Bilder sichtbar wäre. Auch die absichtlich auf eine
Fig. 66.
der Grenzlinien gerichtete Aufmerksamkeit vermag, selbst in der Nähe des
Kreuzungspunktes, die andere nicht zum Verschwinden zu bringen.
Fig. 66 zeigt, links einen längsliegenden, rechts einen querliegenden
schwarzen Streifen auf weißem Grunde. Bringt man diese entsprechend
Fig. 6:
Fig. 6».
vergrößerte Figur in ein Haploskop, so erhält man einen Eindruck nach Art
des in Fig. 67 abgebildeten. Man sieht ein Kreuz, bestehend aus einem mittlen
tiefschwarzen Quadrat und vier Schenkeln, die an ihrer Ansatzstelle nicht wie
im übrigen schwarz, sondern in einem abgeschwächten Weiß erscheinen
Hering, Lichtsinn. 4 6
242 Lehre vom Lichtsinn.
das sich scharf von dem schwarzen Mittelquadrat absetzt und SQdann durch
die verschiedenen Zwischenstufen des Grau hindurch in das Schwarz des
übrigen Schenkels übergeht. Dieser Übergang ist bald schroffer, bald mehr
allmählich. Dabei bleiben jedoch die Grenzlinien der Schenkel bis an die
Ecke des tiefschwarzen Mittelquadrates sichtbar.
Würden wir mit Hilfe eines durchsichtigen Spiegelglases [vgl. S. 79}
die beiden schwarzen Streifen auf weißem Grunde sich gleichzeitig auf einer
und derselben Netzhaut abbilden lassen, so würden wir ebenfalls ein Kreuz
mit schwarzem Mittelquadrat sehen, aber die Schenkel würden in allen
ihren Teilen hellgrau gefärbt erscheinen, etwa wie in Fig. 68.
Wenn das linke Auge unter sonst ganz gleichen Umständen statt des
querliegenden schwarzen Streifens nur den homogenen weißen Grund, das
rechte aber den längsliegenden schwarzen Streifen sähe, so würde im
binokularen Felde nur der letztere, und zwar in seiner ganzen Länge
schwarz gefärbt erscheinen, weil dies die (innere) Grenzfarbe seiner beiden
Grenzlinien ist und diese schwarze Grenzfarbe das indifferente Weiß der
korrespondierenden Stelle des anderen Sehfeldes in der Mischung beider
weitaus überwiegt. Die weiße (äußere) Grenzfarbe seiner beiden Grenzlinien
würde sich längs des ganzen Streifens mit dem korrespondierenden in-
differenten Weiß des Grundes wieder zu einem Weiß mischen. Letzteres
ist, wenn dem linken Auge zugleich der schwarze querliegende Streifen
sichtbar ist, an der Stelle der Durchkreuzung nicht mehr müghch; denn
das Grenzweiß des längsliegenden Streifens mischt sich hier nicht mehr
mit dem korrespondierend gelegenen indifferenten Weiß, sondern mit den
(inneren) schwarzen Grenzfarben der beiden Grenzlinien des querliegenden
Streifens, und aus der Mischung dieser schwarzen Grenzfarben mit jenen
weißen entsteht das grauliche Weiß an der Ansatzstelle der beiden quer-
liegenden Schenkel des Kreuzes. Dieses Weiß ist um so deutlicher, je
breiter der querliegende Streifen und je entfernter also seine Mittellinie von
seinen beiden Grenzlinien ist. Denn um so mehr kommt an der Ansatz-
stelle das in der Nähe dieser Mittellinie liegende Grenzschwarz des quer-
liegenden Streifens gegenüber dem Grenzweiß des längsliegenden in Nachteil.
Ganz analog verhält es sich mit der Helligkeit der beiden längsliegenden
Schenkel des Kreuzes an ihren Ansatzstellen. Das Gesagte gilt vom
ersten Eindrucke und unter der Voraussetzung, dass dabei die beiden
unokularen Sehfeldbezirke in gleichem Zustande und die Augen beim
Sichtbarwerden der Figur nicht in Bewegung sind. Bei fortgesetzter Be-
trachtung kommt es dann vor, dass der eine Streifen in seiner ganzen
Länge gleichmäßig schwarz, und der andere gänzlich durchbrochen er-
scheint, oder seltener, dass nur ein Schenkel des Kreuzes sich mit seinem
Schwarz ohne Unterbrechung in das Schwarz des kleinen Mittelquadrates
fortsetzt. In beiden Fällen genügt es, den Blickpunkt genau parallel zur
§ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder. 243
Richtung des ununterbrochen erscheinenden Streifens zu bewegen, um so-
fort die anfänglich gesehene Unterbrechung desselben wieder herzustellen.
Bei dieser Augenbewegung verschiebt sich das Bild des ununterbrochenen
Streifens auf der Netzhaut in sich selbst und rückt also, abgesehen von
seinen weitabliegenden Enden, nicht auf neue Netzhautstellen, das Bild des
andern Streifens auf der andern Netzhaut aber verschiebt sich senkrecht
zur eigenen Richtung. Dabei wird auf der einen Seite des Streifenbildes
ein Netzhautstreifen, der soeben noch nur das schwache Licht des schwarzen
Streifens empfing, plötzlich vom starken Lichte des weißen Grundes ge-
troffen, auf der andern Seite ein entsprechender Netzhautstreifen, der so-
eben noch von diesem starken Lichte bestrahlt war, plötzlich verfinstert:
dort wird die weiße (äußere) Grenzfarbe des Streifenbildes plötzlich noch
heller, hier die schwarze (innere) Grenzfarbe plötzlich noch dunkler und
infolge des momentanen Simultankontrastes auch die Helligkeit der weißen
(äußeren) Grenzfarbe erhöht. Diese auf beiden Seiten des Streifens erfol-
gende Helligkeitssteigerung seines Grenzweiß verschafft demselben von neuem
das Übergewicht über das unverändert gebliebene Schwarz des anderen
Streifens, dessen Netzhautbild sich nur in sich selbst verschoben hat, und
lässt denselben wieder ununterbrochen erscheinen.
Hiermit steht folgende Thatsache im Einklang: Blickt man genau ent-
lang der Mittellinie des querliegenden Kreuzbalkens hin und her, so wird
man sehr bald den längsliegenden Balken in seiner ganzen Länge schwarz
und den querliegenden durchbrochen sehen; verlegt man dagegen den
Blickpunkt entlang der Mittellinie des längsliegenden Kreuzbalkens, so er-
scheint sehr bald der querliegende in seiner ganzen Länge schwarz und
der andere durchbrochen.
Man kann auch schon auf den ersten Blick nur den einen Streifen
mit Sicherheit unterbrochen und den andern in ganzer Länge schwarz
sehen, wenn man zuerst z. B. die linke Hälfte der Figur mit einem
homogenen Blatt von der Lichtstärke des weißen Grundes zudeckt und
dann längere Zeit den Mittelpunkt des querliegenden Streifens fixiert. Dabei
adaptiert sich die betroffene Stelle des rechtsäugigen Sehfeldes mehr oder
weniger an das Streifenbild. Entfernt man dann das weiße Deckblatt des
anderen, längsliegenden Streifens, so empfängt das linke Auge den frischen
Eindruck desselben und man sieht nun sekundenlang nicht nur diesen Streifen
in seiner ganzen Länge tiefschwarz, sondern auch die beiden querliegenden
Schenkel des Kreuzes erst in einigem Abstände von der früheren Durch-
kreuzungsstelle beginnen; auch ist ihre Farbe nicht mehr schwarz, wie sonst,
sondern nur schwarzgrau.
In keinem der beschriebenen Fälle vermag die absichtlich auf den
einen oder anderen Balken des Kreuzes oder auf irgendwelche Stelle einer
Grenzlinie gerichtete Aufmerksamkeit die durch Augenbewegungen hervor-
16*
244
Lehre vom Lichtsinn.
gerufenen Änderungen der Erscheinungsweise des binokularen Bildes zu
verhindern und ebensowenig an den zuletzt beschriebenen Folgen ein-
seitiger Adaptation im somatischen Sehfelde etwas zu ändern. Auch um
einen Wettstreit zweier sich schneidender Grenzlinien an ihrer Kreuzungs-
stelle handelt es sich nicht, sondern nur um die Thatsache, dass bei der
binokularen Mischung die Grenzfarben einer Grenzlinie zweier stärker
verschiedener Farben im Vorteil sind gegenüber den Grenzfarben einer
Grenzlinie zweier weniger verschiedenen Farben, und dass die .Grenz-
farben einer schärfer gesehenen Grenzlinie im Vorteil sind gegenüber den
Grenzfarben einer infolge eines unvollkommenen Augenstillstandes ver-
waschen erscheinenden Grenze.
Fig. 69.
Die beiden Beispiele von Kreuzung unokular gesehener Grenzlinien im
binokularen Felde werden hinreichen, um zu zeigen, wie wichtig es ist,
den ersten Eindruck des binokularen Bildes zu erfassen, und wie groß der
Einfluss der Augenbewegung auf die Beschaffenheit dieses Bildes ist. Bei
den bisherigen Untersuchungen des sogenannten Wettstreites der Sehfelder
hat weder das Eine noch das Andere irgend zureichende Berücksichtigung
gefunden.
Analoge Beobachtungen wie an Fig. 66 kann man an Fig. 69 machen,
welche die beiden Streifen weiß auf schwarzem Grunde zeigt.
Für schmälere Streifen gilt im wesentlichen dasselbe wie für die
Streifen der Fig. 66 und Fig. 69, nur wird es dann schwerer, die Hellig-
keitsverschiedenheiten an der Kreuzungsstelle zu bemerken. Bei feinen
Strichen reduziert sich schließlich das kleine Quadrat an der Kreuzungs-
stelle fast auf einen Punkt, und weil die beiden Grenzlinien jedes Striches
einander fast unmittelbar benachbart sind und bis an jenes minimale
Quadrat sichtbar bleiben, so erkennt man schließlich auch nicht mehr
§ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder.
245
dass in unmittelbarer Nähe des Kreuzungspunktes die Farbe eine hellere,
oder wenn die Striche weiß auf schwarz sind, eine dunklere ist, als im
Kreuzungspunkte selbst. Dabei kommt es' nicht vor, dass einmal der eine
xoder andere Strich teilweise oder ganz verschwindet, auch wenn man die
Augen einige Zeit möglichst still hält.
Bringt man, wieder nach Panum's Vorgang, zwei Scharen paralleler
Striche von verschiedener Richtung zu binokularer Deckung, ohne dafür
gesorgt zu haben, dass sich der primäre Eindruck des binokularen Bildes
streng von den nachfolgenden sondern lässt, verfährt man vielmehr nach
einer der gewöhnlich haploskopischen Methoden, so erhält man öfters nicht
Fig. 70.
das von vornherein zu erwartende Bild eines regelmäßig quadratischen
Gitters. An einzelnen Stellen erscheinen nämlich nur die Striche der einen
Schar, während die der anderen hier fehlen. In Mark ausgeprägter Weise
zeigt dies die von Panum entlehnte Fig. 70. Hat man zuvor auf zwei ein-
ander entsprechenden Stellen der beiden Halbbilder der Figur je eine
schwarze Marke gemacht, um den beiden Gesichtslinien einen Haltpunkt
zu geben und sie in bestimmter Stellung festzuhalten, und sieht man nun
irgendwo in der Nähe des Blickpunktes die Striche der einen Schar ver-
schwinden, so ist man nicht imstande, sie dadurch sofort wieder sichtbar
zu machen, dass man seine Aufmerksamkeit den noch sichtbar gebliebenen
Teilen der teilweise verschwundenen Striche zuwendet. Man muss viel-
mehr warten, bis die verschwundenen Teile von selbst wieder erscheinen.
Nur zufällig kann einmal dieses Wiedererscheinen mit der Einstellung
246
Lehre vom Lichtsian,
unserer Aufmerksamkeit zusammeafallea. Wenn man jedoch, wie dies
Helmholtz empfahl, sich vornimmt, die Striche einer Schar zu zählen und
dabei in gewohnter Weise den Blickpunkt von einem zum andern springen
lässt, so können die gezählten Striche fehlerfrei erscheinen. Dabei ver-
schieben sich aber die Strichbilder auf der Netzhaut, und der Netzhaut-
strich, welcher das Bild des eben betrachteten Striches der Figur auf-
nimmt, war zwischendurch von dem Lichte des weißen Grundes bestrahlt
worden. So erzeugt also jeder Strich einen neuen primären Eindruck.
Die andere Strichschar verschwindet nun während der Zählung durchaus
nicht ganz, sondern wird nur stellenweise lückenhaft. Helmholtz giebt an,
dass 'er > vollkommen willkürlich imstande« war, seine »Aufmerksamkeit
Fig. 71,
bald dem einen, bald dem andern Liniensysteme zuzuwenden«, und »dass
dann dieses System für einige Zeit allein gesehen wurde«, »und das andere
vollkommen« verschwand. Auch Panum sah vorübergehend die eine Strich-
schar völlig verschwinden. Mir ist dies nur vorgekommen, wenn ich einen
Punkt der binokularen Figur längere Zeit fest im Auge behielt, so dass
kleine unwillkürliche Augenbewegungen sich bereits durch Nachbilderschei-
nungen verrieten. In solchen Fällen sah ich einen wirklichen Wettstreit
der beiden Strichscharen im ganzen binokularen Bilde, d. h. es war nur
je eine mit völligem Ausschluss der anderen sichtbar, doch konnte ich deren
Erscheinen und Verschwinden nicht willkürlich beeinflussen. Während der
Zeit, wo die eine Strichschar verschwunden ist, kann man sie nicht zum
Gegenstande seiner Aufmerksamkeit machen. Es könnte also höchstens
§ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder.
247
Fig. 72.
(
1
l
Fig. 73.
248
Lehre vom Lichtsihn.
die Vorstellung ihres Vorhandenseins ihr Wiedererscheinen beschleunigen.
Die eben allein sichtbare Strichschar aber fesselt von selbst unsere Auf-
merksamkeit, und ob man diese Fesselung absichtlich verlängern und da-
durch das andere Strichsystem länger unter der Schwelle der Sichtbarkeit
zu halten vermag, lässt sich begreiflicherweise schwer entscheiden, um so-
schwerer, als kleine unwillkürliche Augenbewegungen, die sich nicht aus-
schließen lassen, gerade hier wegen der längeren Adaptation der beiden,
unokularen Sehfelder an das Bild ihrer Strichschar besonders bedeutungs-
voll sind.
Wenn ich dicht unter die Glasplatte, deren Marke ich fixierte, einen
sogenannten Momentverschluss mit großem Diaphragma angebracht hatte
und das Bild nur einen, zur ganz deutlichen Wahrnehmung seines mittlere»
Fi£r. 74.
Trennung der Rothgrünblinden in Ui
dies nicht meine Schuld. Wie ich schd
blindheit (Jahrbuch „Lotos" 1880) wej
sich zwar alle Rothgrünblinden darin,
pfindung fehlt, „können sich aber," sc
verschieden verhalten, was denn auch]
lassung gegeben hat, die hierher geh(
zu scheiden , welche die Anhänger d(
blinde und Grünblinde bezeichnen,
untersucht, etc" In demselben Vorti
welche sogenannte „Roth-" und „Gri
Verwechselungsgleichungen und der Lj
zeigen, ausführlich erörtert. Es ist
Trennung der Rothgrünblinden in U
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blindheit (Jahrbuch „Lotos" 1880) we]
sich zwar alle Apparates 'enden darin,
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blinde unkeits unterschied zeichnen,
untersucht $zt«n Licbtesnselben Vorti
welche sogenannte ,.Roth-" und „Gri
Vervvechselungsgleichungen und der LJ
zeigen, ausführlich erörtert. Es ist
Teiles hinreichenden Bruchteil einer Sekunde sichtbar machte, sah ich stets
beide Strichsysteme ganz gleich deutlich. Auch hier empfiehlt es sich, die
Versuchsbedingungen durch Benutzung der Figuren 72 und 73 zu variieren.
Wie wenig man imstande ist, in einem durch Deckung inkongruenter
Grenzliniensysteme entstandenen binokularen Bilde das eine oder andere
System absichtlich auf Kosten des anderen hervortreten zu lassen, zeigt
auch der durch Fig. 74 dargestellte Versuch. Hat man, gleichviel auf
welche Weise, die beiden Hälften dieser Figur zu binokularer Deckung ge-
bracht und für passende Refraktion gesorgt (s. S. 231), so ist es leicht, die
Gesichtslinien bei unverändertem Konvergenzwinkel zu erhalten , weil der
größte Teil der beiden unokularen Bilder identisch ist. Nur in der Mitte
des einen befindet sich eine kreisförmige Lücke, die mit einem kreisförmigen
Ausschnitt eines anderen Textes ausgefüllt ist. W>nn ich beim Lesen einer
§ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder. 249
«
Zeile an der Stelle angekommen bin, wo die beiden verschiedenen Texte
durcheinandergehen, so bin ich trotz aller Aufmerksamkeit nicht imstande,
die in den eben gelesenen Text hineinpassenden Worte aus der Konfusion
der beiden Texte allein hervortreten zu lassen und die des anderen Textes
zum Verschwinden zu bringen, und zwar sogar auch dann nicht, wenn ich
zuvor den zusammenhängenden Text gelesen und die fraglichen Worte mir
eingeprägt habe.
Jedenfalls hat Helmholtz die große Bedeutung der örtlichen Adaptation
und der Augenbewegungen auf die sogenannten Wettstreitphänomene nicht
beachtet und den Einfluss der willkürlichen Aufmerksamkeit weit über-
schätzt. Eine neue eingehende Untersuchung unter Berücksichtigung der
im Obigen hervorgehobenen Gesichtspunkte ist daher sehr wünschenswert,
denn auf den Beziehungen der beiden unokularen Sehfelder untereinander
beruht unser binokulares Sehen, und zwar sowohl das normale als das
anomale.
Schon in meinen Beiträgen zur Lehre vom Ortssinn der Augen habe
ich das Bild, welches man erhält, wenn man mittels einer spiegelnden
aber durchsichtigen Glastafel auf einer und derselben Netzhaut gleichzeitig
die geradeaus liegenden und gespiegelten Außendinge sich abbilden lässt,
in Vergleich gebracht mit dem Bilde, welches beim Zusammenwirken zweier
unkongruenter Netzhautbilder im binokularen Sehfelde entsteht. Ein un-
okularer Blick durch die große Glasscheibe eines Schaufensters zeigt uns
hinter dem Fenster bei passenden Beleuchtungsverhältnissen nicht nur da-
selbst befindliche, sondern zugleich auch auf der Straße befindliche und nur
gespiegelte Dinge. Ebenso bieten uns die sogenannten Geisterphotographien,
wie sie durch nacheinander erfolgtes Photographieren z. B. eines Zimmers
und eines Menschen auf dieselbe Platte hergestellt werden, ein Bild von
der Art, wie wir es bei gleichzeitiger Abbildung direkt gesehener und ge-
spiegelter Außendinge auf derselben Netzhaut sehen.
An jedem Punkte der Netzhaut summiert sich unter solchen Umständen
die Lichtstärke des einen Bildes mit der kleineren oder größeren des anderen ; y
und diese allgemeine Steigerung der Lichtstärken des zusammengesetzten
Bildes hat zur Folge, dass überall da, wo eine Grenzlinie des einen Bildes
auf eine homogene Stelle des anderen Bildes fällt^ zwar der Unterschied
der beiden von den Grenzlinien geschiedenen Lichtstärken derselbe bleibt,
ihr Verhältnis aber zu Ungunsten der Deutlichkeit des Sehens verändert
wird. Nur wo zwei Grenzlinien der beiden Bilder zusammenfallen, kann in
besonderen Fällen das Gegenteil eintreten. Daher sind im allgemeinen die
Helligkeitsunterschiede und entsprechend auch die Deutlichkeit des Sehens
im zusammengesetzten Bilde kleiner als in jedem der Einzelbilder. Man
kann sich hiervon überzeugen, wenn man mit einem schwarzen Schirm
bald das direkt Gesehene, bald das Gespiegelte abblendet. Zwar ist es
250 Lehre vom Lichtsinn.
möglich, durch passende Auswahl und Beleuchtung des Gespiegelten und
des direkt Gesehenen ein zusammengesetztes Bild herzustellen, aus dem wir
an keiner Stelle die beiden Einzelbilder wieder herauszufinden vermögen;
in der großen Mehrzahl der Fälle aber ist uns dies wenigstens an einzeln3n
Stellen des zusammengesetzten Bildes möglich, auch wenn wir nicht Be-
wegungen der spiegelnden Glasplatte oder der auf der Netzhaut abgebildeten
Dinge zu Hilfe nehmen. Liegt nicht der besondere Fall. vor, dass das
Spiegelbild eines ebenen Dinges mit der Ebene eines gleichfalls ebenen direkt
gesehenen zusammenfällt, so lässt sich auch durch bloße Lageänderung des
Kopfes und die dadurch bedingte parallaktische Verschiebung der beiden
Einzelbilder eine gesonderte Wahrnehmung derselben erzielen.
In allen Fällen einer derartigen Deckung zweier verschiedener Bild^
auf derselben Netzhaut findet nur eine Sonderung der in den beiden Einzel-
bildern enthaltenen Grenzlinien oder Umrisse statt, nicht aber eine Sonde-
rung der Farben; an jeder Stelle des zusammengesetzten Bildes erscheint
in jedem Augenblicke nur eine Farbe. Wenn uns die Umrisse des einen
Bildes auf Grund erworbener Motive für die Tiefenwahrnehmung ferner
erscheinen als die des anderen, als ob wir das erstere durch das letztere
hindurchsähen, so füllt überall nur eine Farbe die zwischen den Grenz-
linien liegenden Flächenteile. Enthält das eine Bild schwarze Buchstaben,
so. erscheinen sie da, wo ein schwarzer Streifen des anderen Bildes über
sie hinweggeht, tiefer schwarz als da, wo ein grauer oder weißer Streifen
des anderen Bildes sich mit ihnen deckt, und nur bei ganz oberflächlicher
Betrachtung werden wir diese Unterschiede da, wo sie nur klein sind, über-
sehen. Wir können zwar urteilen, dass die Buchstaben des einen Bildes
eigentlich alle gleich schwarz sind, und dass der Streif, der sie stellenweise
heller macht, dem anderen Bilde angehört, wir vermögen aber nicht die
beiden sich hier deckenden und sich deshalb mischenden Farben gesondert
hintereinander zu sehen.
Das letztere ist uns nun auch bei der binokularen Deckung zweier
inkongruenter Bilder unmöglich. Denn das binokulare Bild zeigt dabei,
ähnlich wie das eben besprochene zusammengesetzte unokulare, auf jeder
beliebigen Sehrichtungslinie in jedem Augenblicke nur eine einfache, durch
binokulare Mischung entstandene Farbe. Wohl aber ist hier die Sonderung
der beiden durcheinander geschobenen Grenzliniensysteme durch den relativ
großen Helligkeitsunterschied zweier unokularer Grenzfarben dicht an ihrer
Grenzhnie außerordentlich erleichtert, sowie dadurch, dass da, wo an der
Kreuzungsstelle zweier unokularer Grenzlinien zwei verschiedene Grenz-
farben sich mischen, die Kontinuität beider Grenzfarben oder wenigstens
der einen durch eine Heliigkeitsänderung unterbrochen erscheint. Hierdurch
wird verhindert, dass zwei sich kreuzende unokulare Grenzhnien ebenso
gesehen werden, wie wenn sie einem und demselben System angehörten.
§ 54. Biaokulare Deckung inkongruenter Bilder. 251
Dies alles gilt für jeden der kurzen Stillstände des Doppelauges bei seinen
sprunghaften Seiten- und Höhenbewegungen; bei jeder Konvergenzänderung
kommt auch noch die gegenseitige Verschiebung der beiden unokularen
Bilder in Betracht.
Fixieren wir mit beiden Augen eine Marke auf einer nahe vor unserem
Gesichte befindlichen Fensterscheibe, so bildet sich die ganze durch das
Fenster sichtbare Landschaft auf den beiden Netzhäuten nicht korrespon-
dierend ab, ihre beiden unokularen Bilder erscheinen im binokularen Bilde
durcheinandergeschoben. D,a wir die sichtbaren Häuser, Bäume, Berge u.js.w.
auch bei nur unokularer Betrachtung nach ihren verschiedenen Entfernungen
räumlich angeordnet zu sehen vermögen, und jetzt in verschiedener Ent-
fernung und nach ganz verschiedenen Richtungen Gelegenes sich auf der
korrespondierenden Netzhautstelle abbildet, so kann jetzt, in Gemäßheit des
Gesetzes der identischen Sehrichtung zweier korrespondierender Netzhaut-
punkte im binokularen Sehraume, ein nahes Haus in derselben Sehrichtung
erscheinen wie ein ferner Berg. Bei passenden Lichtstärken beider sehen
wir dann den Berg durch das gleichsam durchsichtige näher erscheinende
Haus in der Ferne, wobei bald die Einzelteile des Hauses, bald die des
Berges besser unterschieden werden, und die auf gleicher Sehrichtungslinie
liegende Farbe des Berges und die des Hauses sich zu einer binokularen
Farbe mischen, nicht aber die Farbe des einen gesondert hinter der des
anderen gesehen wird. Aber dies alles bleibt bei gewöhnlichem Sehen meist
unbeachtet, weil unsere Aufmerksamkeit nur der Marke auf dem Fenster-
glase oder einer auf demselben kriechenden Fliege zugewendet ist, und
wir, sobald ein der Landschaft angehöriges und deshalb unokulares, z. B.
nach rechts liegendes Bild unsere Aufmerksamkeit auf 'sich zieht, sofort
das Doppelauge für die Ferne einstellen und der Stelle zuwenden, wo uns
das unokulare Bild erschien. Dabei schiebt sich das von uns beachtete
nach rechts erschienene unokulare Bild des bezüglichen Außendinges mit
dessen vorher unbeachtet gebliebenen zweiten unokularen zu einem ein-
fachen binokularen Bilde zusammen, und während wir nun dieses betrachten,
achten wir wieder nicht auf das jetzt entstandene Doppelbild der Marke
oder' Fliege.
Betrachten wir mit beiden Augen relativ fern gelegene Dinge, so geben
die näheren unokularen Bilder, von denen das Analoge gilt wie für die
unokularen Bilder ferner Dinge bei Betrachtung eines näheren. Auch hierbei
können die un okularen Bilder wie durchsichtig erscheinen. Es möge dies
noch an einem besonderen Beispiele erläutert werden.
Die scheinbare Durchsichtigkeit ungleichseitiger Doppel-
bilder. Bringt man zwischen sein Gesicht und eine in gewöhnlicher Seh-
weite befindliche Schrift einen 1 — 1,5 cm breiten schwarzen oder grauen
Papierstreifen (s. Fig. 75), dessen Fläche rechtwinklig von der Medianebene
252
Lehre vom Lichtsinn.
des Kopfes durchschnitten wird, so erscheint der Streifen in Doppelbildern ,
welche bei passender Entfernung desselben von der Schrift weit genug von-
einander abliegen, um einen Mittelteil der Schriftfläche beiden Augen sichtbar
zu lassen. Diesem Teile entspricht in Fig. 75 die mit h^^ bezeichnete Strecke.
Nach links und rechts von diesem binokular lesbaren Teile der Schrift er-
scheint dann je eines der Doppelbilder (w^ ^"^ '^r)i dessen Ränder man
wahrnimmt, während durch seine Fläche hindurch die nur unokular ab-
Fig. 7;
gebildete Schrift ebenfalls ganz deutlich sichtbar ist, als ob man sie durch
eine schmale Glasplatte hindurch sähe. Noch weiter nach links und rechts
erscheint wieder ein binokular sichtbarer Teil der Schriftfläche [h und h).
Man kann, ohne durch das Doppelbild gehindert zu sein, die ganze Schrift
lesen, und der nicht Unterrichtete bemerkt dabei nicht, dass er, während
sein Blick eine Zeile durchmisst, die Schrift anfangs binokular, dann nur
mit dem linken Auge, hierauf wieder binokular, dann nur mit dem rechten
Auge und schließlich abermals binokular liest.
Der Durchschnittspunkt der Gesichtslinien bleibt, während man auf
diese Weise eine Zeile abwechselnd binokular und unokular liest, bei nor-
§ 54. Binokulare Deckung inkongruenter Bilder.
253
malen Augen und normaler Kopfhaltung auch während der Zeit des nur
unokularen Lesens auf der Schriftfläche.
Wenn man seinen Blick entlang einer Linie bewegt, so gleitet er nicht
stetig auf derselben hin.
sondern legt seinen
Weg sprungweise zurück.
Ebenso verhält es sich beim Lesen einer Schriftzeile. Während jedes
Sprunges kann man wegen der Geschwindigkeit, mit der sich dabei das
Bild auf der Netzhaut verschiebt, nichts unterscheiden. Erst wenn nach
vollführtem Sprunge das Auge während ganz kurzer Zeit still steht, erkennt
Fig. 76.
man die einzelnen Wortbilder. Je bekannter uns die Schrift und'die Sprache
ist, desto größer ist unter sonst gleichen Umständen die Sprungweite und
desto kleiner die Zahl der Sprünge, die der Blick zur Durchmessung einer
Zeile nötig hat. Infolge der sprungweisen Blickbewegung hindert es uns
selbst bei Benutzung eines schwarzen Papierstreifens nicht beim Lesen, dass
da, wo die Grenzlinie eines Doppelbildes das Bild eines Buchstabens durch-
schneidet, die Grenzfarbe des Doppelbildes die weiße Umgebung des Buch-
stabens zuweilen sehr merklich verdunkelt. Denn nur zufällig kann es
vorkommen, dass der Blick eine solche Stelle als vorübergehenden Ruhe-
i
254 Lehre vom Lichtsinn.
punkt wählt. Wenn wir aber absichth'ch den Blick auf einer Stelle ruhen
lassen, wo die Grenzlinien eines schwarzen Buchstabens und die Grenzlinie
eines Doppelbildes sich durchkreuzen, so bemerken wir nicht nur, dass
zuweilen in dem ganzen, durch das Doppelbild hindurch gesehenen Buch-
stabengebiete das weiße Papier etwas verdunkelt erscheint, und dass dies
in der Nähe der Grenze des Doppelbildes fast immer der Fall ist, sondern
wir bemerken auch, dass im Wettstreit der weißen Grenzfarbe der Buch-
staben mit der dunklen Grenzfarbe des Doppelbildes bald die eine, bald die
andere das Übergew^icht erhält.
Benutzen wir statt des grauen oder schwarzen Papierstreifens einen
steifen, ganz ebenen weißen Streifen, so lässt sich derselbe so gegen das
durch ein Fenster einfallende Himmelslicht neigen, dass seine Farbe der
Farbe des bedruckten oder beschriebenen Papieres ganz gleich erscheint.
Dann ist günstigenfalls die Grenze des Doppelbildes gar nicht bemerkbar
und der nur mit einem Auge gesehene Teil der Schrift erscheint uns dann
ganz ebenso wie der dicht daneben befindliche binokular gesehene. Wir
haben dann wieder den in § 51 besprochenen Fall vor uns, w^o kleine,
unokular gesehene schwarze Felder, d. s. hier die Buchstaben, sich mit
einer unokular gesehenen, nichts Unterscheidbares enthaltenden Fläche
decken, deren Farbe die gleiche ist wie die der Umgebung der kleinen
Felder.
§55. Der >paradoxe Versuch« Fechners. Beim binokularen Lesen
einer Druckschrift auf weißem Papier erhalten beide Netzhäute fast voll-
kommen kongruente, auf korrespondierenden Stellen liegende und in allen
Einzelheiten gleich lichtstarke Bilder. Im binokularen Bilde mischt sich
also das beiderseitige gleiche Schwarz der Buchstaben wieder zu demselben
Schwarz, das beiderseitige Weiß des Grundes wieder zu demselben Weiß.
Bringe ich vor das eine Auge ein möglichst reines graues Rauchglas, welches
nur einen passend kleinen Bruchteil des auffallenden Lichtes durchlässt, so
wird dadurch das binokulare Lesen nicht wesentlich gestört. Schließe ich
sodann das hinter dem Glase befindliche Auge oder verdecke ich noch
I besser Glas und Auge mit einem kleinen, ganz undurchsichtigen Schirm,
so erscheint sofort das Papier heller, obwohl jetzt das eine Auge völlig
verfinstert ist und nur das andere noch Licht empfängt. Fechner, der
analoge Versuche zuerst anstellte, fand dies paradox, weil er an eine
Summation der gleichzeitigen Erregungen beider Augen geglaubt hatte, und
er nahm für den vorliegenden Fall eine antagonistische Beziehung zwischen
beiden Augen derart an, dass unter Umständen die Erregung des einen
Auges die gleichzeitige des anderen herabzusetzen vermöge. Nach den Er-
fahrungen aber, die wir in diesem Abschnitt über die binokulare Mischung
tonfreier Farben gemacht haben, erscheint das Ergebnis des obigen Ver-
§ 55. Der »paradoxe Versuch« Fechners. 255
suches nicht nur nicht paradox, sondern ganz im Einklang mit jenen Er-
fahrungen. Solange man nämlich durch das Rauchglas die Schrift betrachtet,
mischen sich, weil die unokujaren Bilder der Buchstaben sich decken, überall
die Buchstabenfarben unter sich und die Farben des Grundes unter sich,
und da insbesondere das unokulare Bild des weißen Grundes im Sehfelde
des bewaffneten Auges eine minder helle Farbe hat als im Sehfelde des
anderen Auges, so geht aus der Mischung beider ein minder helles Weiß
des Grundes hervor als das Weiß im Sehfelde des unbewaffneten Auges.
Verfinstere ich jetzt das eine Auge völlig, so tritt im Sehfelde des ver-
finsterten Auges an die Stelle eines mannigfach differenzierten Bildes die
Eigenfarbe dieses Auges, während im Sehfelde des offenen das differenzierte
Bild mit seinen Grenzfarben fortbesteht. Für die binokulare Farbenmischung
kommt aber die fast homogene Farbe im Sehfelde des verfinsterten Auges
in ebenso geringem Maße in Betracht, wie wenn wir, statt das Auge zu
verfinstern, ihm eine homogene, beliebig, aber gleichmäßig belichtete Fläche
, dargeboten hätten (vgl. § 51). Die Folge ist, dass jetzt im binokularen
Bilde die Helligkeit des vom offenen Auge gesehenen Weiß des Grundes
nicht mehr durch die Zumischung der durch das Rauchglas verdunkelten
Farbe des anderen Sehfeldes herabgemindert wird.
Allerdings muss sich infolge der völligen Verfinsterung der zuvor
schwach belichtet gewesenen Netzhaut des einen Auges die Pupille des
offen gebliebenen etwas erweitern und also seine Netzhaut etwas stärker
belichtet werden. Doch hat schon Fechner gezeigt, dass der Versuch auch
dann noch mit entschiedenem Erfolge gelingt, wenn man den Einfluss der
Pupillenänderung durch ein dicht vor das Auge gehaltenes Schirmchen mit
zureichend kleiner Öffnung ausschließt.
Die Gestaltung des Sehfeldes bei völliger Verfinsterung des mit dem
Rauchglase versehenen Auges beschränkt sich übrigens nicht auf die
zwischen den Buchstaben und Zeilen gelegenen und deshalb den Grenz-
linien der Buchstaben nahen Stellen, sondern auch auf größeren buch-
stabenfreien Stellen ist eine Aufhellung zu bemerken. Soweit dieselbe sich
nicht auf die eben besprochene Erweiterung der Pupille zurückführen lässt,
ist zu bedenken, dass das Gewicht der einem offenen Auge erscheinenden
Farben viel größer ist, als das Gewicht der Eigen färbe des verfinsterten
Auges (vgl. § 24), und dass auch die buchstabenfreien Stellen fast nie ganz
homogen erscheinen. Dies kann seinen Grund sowohl in einer nicht ganz
homogenen Beschaffenheit der Papierfläche als auch in den sogenannten
Mouches volantes des Auges haben, insoweit dieselben wirklich bewegliche
sind; denn für die fixen entoptischen Figuren adaptiert sich das Auge sehr
schnell, wie später zu erörtern sein wird.
Man schiebe bei binokularer Betrachtung eines bedruckten Blattes von
der linken Seite her zwischen Gesicht und Papier ein steifes weißes und
256 Lehre vom Lichtsinn.
ganz ebenes Papier so weit vor, dass dem linken Auge <Jer ganze be-
druckte Teil des Blattes verdeckt wird, während er dem rechten Auge
sichtbar bleibt, wie dies Fig. 76 anschaulich macht. Neigt man dann das
vorgeschobene Papier so gegen das einfallende Licht, dass sein Weiß genau
ebenso hell erscheint, wie das Weiß des bedruckten Blattes, so erscheint
die jetzt nur vom rechten Auge gesehene Schrift nicht merklich verändert,
höchstens können die Buchstaben eine Spur weniger tiefschwarz erscheinen,
als beim binokularen Lesen. Es liegt hier der auf S. 254 erörterte Fall
vor. Auch wenn man die Lage des vorgeschobenen Papieres so verändert,
dass es lichtschwächer wird, oder wenn man statt des weißen ein graues
oder schwarzes Papier vorschiebt, verliert die Schrift nicht merklich an
Deutlichkeit. Die vollständige Verfinsterung des Hnken Auges ist also nur
ein Grenzfall ; das Wesentliche ist hier die homogene Beleuchtung der
linken Netzhaut, während die rechte das differenzierte Bild des bedruckten
Blattes enthält.
Es lässt sich also durch eine ganz homogene Beleuchtung^
der Netzhaut des einen Auges seine Beteiligung am Inhalte des
binokularen Sehfeldes in ähnlicher Weise ausschließen, als wie
durch seine völlige Verfinsterung.
Zwischen der ganz homogenen Belichtung der linken Netzhaut und
dem bei bester Akkommodation möglichst stark differenzierten Netzhaut-
bilde eines mit schwarzen Buchstaben bedruckten Papieres giebt es alle
denkbaren Zwischenstufen. Man kann durch Vorsetzen eines sehr dunklen
Rauchglases das Netzhautbild so lichtschwach und den Lichtstärkenunter-
schied zwischen Buchstaben und Grund so klein machen, dass man die
Buchstaben nur noch schwer zu unterscheiden vermag. Dann hat das
linke unokulare Sehfeld einen fast ebenso minimalen Anteil km binoku-
laren Bilde, wie wenn ersteres gar nicht differenziert, sondern die Netz-
haut ganz homogen sehr schwach beleuchtet wäre. Die völlige Verfinste-
rung des linken Auges ändert dann nichts Merkliches am binokularen Bilde.
Benutzt man weniger dunkle Rauchgläser, so kommt man zu einer Stufe
der Lichtabsorption, bei der die Differenzierung im linksäugigen Sehfelde
soweit deutlich wird, dass die völlige Verfinsterung des linken Auges be-
reits eine schwache Erhellung des binokularen Sehfeldes herbeiführt, wie
sie der FECHNER'sche Versuch zeigte. Diese Erhellung ist bei einem be-
stimmten Ausmaße der Absorption durch das Rauchglas am deutlichsten,
um wieder abzunehmen, wenn diese Absorption zu gering wird und sich
die Lichstärke des linksseitigen Netzhautbildes der des rechtsseitigen zu sehr
nähert. Denn die unokularen Farben jedes Deckstellenpaares sind dann
einander bereits so ähnlich, dass ihre Mischung eine binokulare Farbe er-
giebt, deren Unterschied von der einen wie von der andern unokularen
Farbe zu klein ist, um deutlich wahrgenommen zu werden.
§ 56. Geschwindigkeit der Wertigkeitsänderung der Sehsubstanz usw. 257
IX. Abschnitt 1).
§ 56. Die Geschwindigkeit der Wertigkeitsänderung der
Sehsubstanz als physisches Korrelat der tonfreien Farben und
Helligkeiten. Schon in §23 (S. 104) wurde auseinander gesetzt, wie das
Überwiegen der Dissimilation über die Assimilation (Z)> J.) eine absteigende,
der umgekehrte Fall {D<CiA) eine aufsteigende Änderung der Wertigkeit
der Sehsubstanz um so mehr mit sich bringt, je größer der Unterschied
D — A ist, während bei gleicher Größe der beiden Teilprozesse des Stoffwechsels
{D == Ä) die Wertigkeit, gleichviel auf welcher Stufe sie eben steht, keine
Änderung erfährt. Wie in diesem besonderen Falle dergleichen Größe
beider Prozesse die Summe derselben (D + Ä) sehr verschieden sein kann,
so kann auch für den gewöhnlichen Fall der ungleichen Größe [D^Ä)
ihre Summe {D-{-A) verschieden sein. Demnach ist die Geschwindig-
keit der Wertigkeitsänderung einerseits von dem positiven oder
negativen Werte des durch i) — A ausgedrückten Unterschiedes,
anderseits von der Größe der gleichzeitigen Dissimilation und
Assimilation abhängig. Ein und derselbe Unterschiedswert der beiden
Prozesse bedeutet also für die Änderung der Wertigkeit der Sehsubstanz
um so weniger, je größer jeder der beiden Prozesse und also auch D '\- A
ist, und um die Geschwindigkeit auszudrücken, mit welcher sich die Wertig-
keit bei einem bestimmten Werte von D — A ändert, müssen wir den Wert
von D — A zur gleichzeitigen Größe der beiden Prozesse in Beziehung
setzen. Dies geschieht, wenn wir die Geschwindigkeit der Änderung durch
D—A
D-i-A
ausdrücken.
4) Nach Ewald Hering's Tode wurden mir die auf seine Grundzüge der Lehre
vom Lichtsinne bezüglichen Aufzeichnungen aus dem Nachlasse der Sichtung
übergeben. Wohl fand sich ein reiches, wertvolles Material an Beobachtungen,
Messungen und Entwürfen, aber leider nicht Vieles, das ich im Sinne des Ver-
storbenen als druckfertig ansprechen durfte.
Auch für das hier Veröffentlichte ist anzunehmen, daß er, der sich bei der
Darstellung nicht genug tun konnte und immer wieder verwarf, besserte und er-
gänzte, während der Drucklegung noch manches anders gefaßt haben würde.
Ich selbst habe mich zu irgend nennenswerten Änderungen nicht für befugt ge-
halten. —
Dürfen wir also an das, was Ewald Hering ungedruckt hinterlassen hat,
nicht den Maßstab anlegen, wie an ein abgeschlossenes Werk, so werden doch
die hier folgenden Abschnitte auch als Bruchstück Allen willkommen sein, die
seine seltene Gabe zu würdigen wissen, frei von vorgefaßter Meinung anscheinend
längst erledigte und geklärte Probleme von ganz neuen Seiten in Angriff zu nehmen
und so nach den verschiedensten Richtungen anregend, fördernd und klärend
zu wirken. G. Hess.
Hering, Lichtsinn. -17
258 Lehre vom Lichtsinn,
Ist im besonderen Falle D= A und also D — ^4=0, so ist, wie
gesagt, auch die Änderungsgeschwindigkeit gleich Null, d. h. die Wertig-
keit der Sehsubstanz bleibt dabei ungeändert; dem entspricht im psychischen
Sehfelde das mittlere Grau von der Helligkeit 0,5 (vgl. § 22 S. 102). Ist
D^Äj so ist D — A eine positive Größe, und jy-jT^ drückt dann die
Geschwindigkeit der dabei stattfindenden absteigenden Änderung aus.
Je größer diese Geschwindigkeit, desto heller ist die tonfreie Farbe, desto
näher kommt sie der Helligkeit 1 , d. h. dem absoluten Weiß. Ist dagegen
J) jI
D<'A und hat also D — A einen negativen Wert, so drückt - — - die
1) "-p A
Geschwindigkeit der aufsteigenden Änderung aus. Je größer diese Ge-
schwindigkeit, desto größer ist die Dunkelheit der Farbe und desto kleiner
ihre Helligkeit, desto mehr nähert sich letztere dem Null wert und die
Farbe dem absoluten Schwarz.
Jeder einzelnen Farbe der schwarz-weißen Farbenreihe
entspricht also eine ganz bestimmte Geschwindigkeit der ab-
oder aufsteigenden Wertigkeitsänderung, und ebenso wie durch
das Größenverhältnis zwischen Dissimilation und Assimilation
(D:A) lässt sich der Helligkeitsgrad der tonfreien Farbe durch
die Geschwindigkeit kennzeichnen, mit welcher sich dabei die
Sehsubstanz in ab- oder aufsteigender Richtung ändert. Der
einen Hälfte der schwarz- weißen oder ton freien Farbenreihe entsprechen
als somatische Korrelate die verschiedenen Geschwindigkeiten der abstei-
genden, der anderen Hälfte die der aufsteigenden Änderung der Seh-
substanz.
Wir vermögen hiernach lediglich aus der Helligkeitsverschiedenheit
zweier Sehfeldstellen zu erschließen, daß im somatischen Sehfelde der
helleren Stelle eine schnellere Abnahme bzw. langsamere Zunahme der
Wertigkeit der Sehsubstanz entspricht als der minderhellen, während gleiche
Helligkeit zweier Stellen uns lehrt, daß im somatischen Sehfelde die Ge-
schwindigkeit der ab- oder aufsteigenden Wertigkeitsänderung beiderseits
gleich ist.' Über die jeweilige Größe der Prozesse an den beiden
Stellen aber sagen uns ihre Helligkeiten nichts aus. Denn zwei
nebeneinander befindliche Stellen des Gesichtsfeldes können uns gleich hell
oder gleich dunkel erscheinen, obwohl an den korrelativen Stellen des
somatischen Sehfeldes die beiden Dissimilationen unter sich und die beiden
Assimilationen unter sich verschiedene Größe haben, wenn nur das
Verhältnis zwischen D u. ^ an beiden Stellen das gleiche ist; und an-
derseits können die beiden Stellen ungleich hell oder ungleich dunkel
erscheinen, obgleich sowohl die beiden Dissimilationen als die beiden Assi-
milationen je unter sich gleich groß sind.
§ 57. Die terminalen Strahlungen. 259
§ 57. Die terminalen Strahlungen. Man denkt sich bekanntlich
die von den sichtbaren Außendingen in unser Auge gelangenden Strah-
lungen aus unzähligen einfachen Strahlungen von verschiedener Schwingungs-
zahl bzw. Wellenlänge und von verschiedener Energie zusammengesetzt
(vgl. Abschn. I § 2 S. 4). Ein solches Strahlgemisch erleidet nun auf
seinem Wege von der Hornhaut bis zu der aus den Sehzellen bestehenden
Empfangsschicht der Netzhaut mannigfache Änderungen, ehe es auf die
Sehzellen, d. h. auf die Zapfen und Stäbchen wirken kann. Warum wir
annehmen müssen, daß die Sehzellen und insbesondere deren Außenglieder
der Ort sind, wo die Strahlungen erst zu einem Reiz für die Sehnerven-
fasern werden, ist im Anhang zu Kap. XII von S. Garten auseinandergesetzt.
Unter Vermittlung der Sehzellen erhalten also die Strahlungen erst einen
optischen Reiz wert, und deshalb ist es für alles Weitere von grundlegen-
der Bedeutung, die wesentlichsten Änderungen festzustellen, denen diese
Strahlungen auf dem Wege von der Hornhaut bis zur entscheidenden Stelle
unterworfen sind. Da nur die in die Empfangsschicht gelangten Strah-
lungen für unsere Gesichtswahrnehmungen von Bedeutung sind, so habe
ich dieselben zum Unterschiede von den in die Hornhaut eintretenden als
die terminalen Strahlungen bezeichnet. In demselben Sinne habe ich
das terminale Spektrum eines Strablgemisches von demjenigen Spek-
trum unterschieden, welches von dem entsprechenden Strahlgemisch vor
seinem Eintritt ins Auge erzeugt wird.
Der Bruchteil, um welchen die Energie einer einfachen Strahlung auf
dem Wege bis zu den Außengliedern der Zapfen und Stäbchen vermindert
wird, ist keineswegs für alle Strahlungen eines Strahlgemisches derselbe,
daher ändern sich in zusammengesetzten Strahlungen auch die Verhält-
nisse zwischen den Energien der einfachen Strahlungen, aus
denen das Strahlgemisch besteht. Eine Veränderung dieses Mischungsver-
hältnisses bedingt aber, wie wir sehen werden, zugleich eine Änderung des
aus den einzelnen Reizwerten der einfachen Strahlungen resultierenden Ge-
samtreizwertes des Strahlgemisches.
Dem Energieverluste, den eine Strahlung durch Absorption erfährt,
entspricht, wie wir uns vorstellen, eine von der Strahlung geleistete Ar-
beit, d. h. die Summe sogenannter, thermischer, chemischer oder sonst-
weicher von der Strahlung geleisteter Arbeit. Insoweit die Strahlung op-
tisch wirkt, handelt es sich um die von ihr im Empfänger geleistete
chemische Arbeit.
Hornhaut, Linse und Glaskörper absorbieren als wasserreiche Medien
ähnlich wie bloßes Wasser, daher es sich fragt, ob unser Unvermögen,
die sogenannten ultraroten Strahlen des Spektrums wahrzunehmen, nur
darauf beruht, daß sie durch Absorption zu sehr geschwächt werden, um
noch wahrnehmbar zu sein, oder ob Strahlen von so großer Wellenlänge
47*
2QQ Lehre vom Lichtsinn.
für das Sehorgan überhaupt keinen optischen Reizwert besitzen. Letzteren-
falls würden sie auch dann unsichtbar bleiben müssen, wenn sie auf ihrem
Wege bis zu den Sehzellen gar keinen Verlust erhalten hätten. Ob die
ultravioletten Strahlen des Spektrums, wenn sie ungeschwächt bis in die
Sehzellen gelangen könnten, uns auch dann noch gänzlich unsichtbar bleiben
müßten, ist ebensowenig zu entscheiden; denn auch diese ultravioletten
Strahlen erfahren auf dem Wege bis zu den Außengliedern der Sehzellen
individuell verschieden große Energieverluste.
Durch die schon beim Neugeborenen etwas grünliche, beim Erwach-
senen gelb bis braun erscheinende Linse sind individuell verschieden große
Energieverluste der violett wirkenden Strahlen bedingt; die nachgewiesene
Fluoreszenz der Hornhaut, der Linse und der Außenglieder der Sehzellen
kommt auf Kosten der fluoreszierend wirkenden Strahlungen zustande und
endlich absorbiert der gelbe Fleck, welcher wie ein gelber Schirm der Seh-
zellenschicht vorgelagert ist, wenigstens für den zentralen Teil die violetten
Strahlen.
Ob, wenn diese Energieverluste der violett wirkenden Strahlen nicht
vorhanden wären, die ultravioletten Strahlen noch einen optischen Reizwert
haben würden, läßt sich also ebensowenig wie beim Ultrarot sagen.
Für unsere weiteren Eröterungen kommen jedoch weder ultrarote noch
ultraviolette Strahlen in Betracht, sondern die Reizwerte derjenigen, welche
zwischen dem jeweiligen sichtbaren Anfang und Ende eines gegebenen Spek-
trums liegen. Diese unterliegen, ehe sie bis zu den Sehzellen gelangen,
der selektiven Absorption seitens der beim Menschen mehr oder weniger
auffallend gefärbten Linse bzw. auch noch des gelben Farbstoffes der
Macula lutea, worauf ich schon im Jahre 1885 in einer Abhandlung über
individuelle Verschiedenheiten des Farbensinnes nachdrücklich hingewiesen
habe. Die dadurch bedingten Energie Verluste der bezüglichen Strahlen
sind zwar individuell verschieden, zuweilen aber höchst bedeutend.
Es sei mir gestattet, aus der soeben zitierten Abhandlung einige Sätze
wörtlich anzuführen, in denen ich Ergebnisse meiner damaligen Untersuchungen
kurz zusammenfaßte.
»Die Färbung der Linse ist also eine ganz allgemeine und konstante Er-
scheinung. An den Linsen der Neugeborenen macht sich nur erst die Absorp-
tion der violetten Strahlen bemerklich, daher die grüngelbe Farbe. Je mehr
die Pigmentierung zunimmt, desto mehr fällt der Vei-lust auch der blauen und
grünblauen Strahlen ins Gewicht, die Linse erscheint rein gelb. Endlich wird
auch die Absorption der grünen Strahlen merklich und die Linse nimmt eine
rotgelbe Färbung an« .... »Von der Makula konnte ich bei Neugeborenen
(deren Alter 4 Wochen nie überschritt) nur bisweilen eine Andeutung bemerken.
Vielleicht wurde sie durch die Trübung der Netzhaut verdeckt, denn Max Schultze
(s. u.) gibt an, in der Netzhaut eines während der Geburt gestorbenen, reifen
Kindes einen gelblichen Anflug unter dem Mikroskop gesehen zu haben« . . .
§ 58. Anpassung des Auges an die jeweilige Beleuchtung. 261
»Schon Max Schültze betonte i) die großen individuellen Verschiedenheiten der
Makula und suchte daraus Verschiedenheiten des Farbensinnes zu erklären«.
Die Behauptung, daß die Macula lutea während des Lebens gar nicht
vorhanden, sondern nur eine Leichenerscheinung sei, läßt sich leicht wider-
legen, wie später ausführlich geschehen wird.
Die Farbe der menschlichen Linse hat G. Hess im Archiv für Augen-
heilkunde (Bd. 61, 63 u. 64. 1908 u. 4 909) eingehender Untersuchung unter-
zogen und unter anderem gezeigt, daß die gelbe Färbung derselben ohne
störende Beeinträchtigung ihrer Durchsichtigkeit genügend hohe Grade er-
reichen kann, um durch Absorption vollständige »Blaublindheit« des Auges
herbeizuführen. Derselbe hat dort auch messende Bestimmungen der
Energie Verluste gemacht, welche gewisse Strahlungen beim Durchgange
durch die Linse erleiden und insbesondere in seiner zweiten Abhandlung
(Bd. 63 S. 165) eine treffliche Methode angegeben, um die Linsenfärbung
in ihrem Einflüsse auf das Farbensehen nicht nur an solchen Ausnahmefällen
mit tiefdunkler Linse nachzuweisen, sondern ihr Verhalten auch unter ge-
wöhnlichen physiologischen Verhältnissen und in verschiedenen Lebens-
altern genauer zu verfolgen und sie messend zu bestimmen. Er zeigte
so z. B., daß vielfach schon zwischen dem 20. — 30. Jahre 1/4 der zu den
Versuchen benützten blauen Strahlen in den normalen Linsen absorbiert
wird; jenseits des 50. Jahres wird in der Regel mehr, zum Teil viel mehr
als die Hälfte dieser Strahlen in der Linse zurückgehalten.
§ 58. Zum Verständnis der Anpassungen des Auges an die
jeweilige Beleuchtung ist eine genaue Kenntnis der Art, wie die Augen
sich beim Betrachten der Außendinge bewegen, unerläßlich. Beim gewöhn-
lichen Sehen ändert der Blickpunkt unaufhörlich seinen Ort im Gesichtsfelde ;
denn wir richten die Augen in raschem Wechsel bald auf diese, bald auf jene
Stelle der Außenwelt. Dabei bewegen sich die Augen mit großer Geschwindig-
keit aus einer Stellung in die andere, und entsprechend verschiebt sich das
Bild der Außendinge so geschwind auf der Netzhaut, daß es unmöglich
wird, während dieser Verschiebung etwas deuthch zu sehen. Dies wird erst
durch einen, wenn auch nur kurzen Stillstand des Bildes auf der Netzhaut
möglich.
Andererseits kann es bei offenen Augen zu ungewöhnlich lange fest-
liegenden Netzhautbildern kommen, ohne daß man eigentlich etwas sieht,
wenn man in Gedanken versunken die optische Außenwelt gar nicht be-
achtet oder auch gedankenlos vor sich hinstarrt. Wer mit gespannter
Aufmerksamkeit auf ein schwaches Geräusch lauscht oder in einem Konzerte
1) Über den gelben Fleck der Retina. Bonn 1866.
262 Lehre vom Lichtsinn.
nur auf die Musik achtet und, wie man zu sagen pflegt »ganz Ohr ist«,
dessen Augen stehen still oder er hält sie geschlossen.
Die Augenbewegungen sind also beim gewöhnlichen Sehen sprunghaft
und keineswegs stetig verlaufend, wie man sie sich einst dachte. Meist
ohne länger als einen kleinen Bruchteil einer Sekunde auf einem Punkte
zu verweilen macht z. B. beim Lesen unser Blick in rascher Wiederholung
kleine Sprünge nach rechts, und wenn die Zeile zu Ende geht, einen großen
Sprung nach links und, falls er sein Ziel dabei nicht sogleich erreicht, noch
einen kleinen Nachsprung.
Ganz ähnlich verhält es sich überhaupt immer dann, wenn man die
Außendinge aufmerksam betrachtet, um sie genauer kennen zu lernen.
»Ein mehr oder minder indirekt gesehenes Objekt zieht«, wie ich einst
sagte 1), »unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit auf sich oder wird von vorn
herein willkürlich zum Gegenstande derselben gemacht. Hierdurch wird
dieses zunächst indirekt gesehene Objekt zum Zielpunkte einer Bewegung
der Augen, welche sozusagen ganz von selbst der Ortsveränderung der
Aufmerksamkeit folgen. Die Bewegung selbst erfolgt sehr rasch und sozu-
sagen in einem Sprunge. Entsprechend rasch gleiten die Netzhautbilder
über die Netzhaut, viel zu rasch, um eine Unterscheidung der bezüglichen
Objekte zu gestatten. Tatsächlich unterscheidet man dieselben nur vor
Beginn und gegen Ende oder nach Ende der Bewegung, im indirekten oder
direkten Sehen. Gibt man sich Mühe, die zwischen dem Ausgangs- und
Endpunkt einer Blickbahn gelegenen Dinge zu unterscheiden, so hat das
lediglich zur Folge, daß man statt eines großen Blicksprungs eine Reihe
kleinerer ausführt. Hiervon überzeugt man sich sehr leicht, wenn man
sich ein kleines sehr deutliches Nachbild auf der Stelle des direkten Sehens
erzeugt. Da dasselbe auf der Netzhaut festliegt, so erscheint es uns immer
dort, wo wir eben hinsehen. Ich bin nicht imstande, den Blick mit einer
beliebigen, ganz gleichmäßigen Langsamkeit über eine bedruckte oder
unbedruckte Seite hinwegzuführen; immer geht der Blick sprungweise vor-
wärts«. Wir entnehmen bei diesem sprungweisen Sehen unserem jeweiligen
Gesichtsfelde eine Menge von Stichproben, aus denen wir uns ein Gesamt-
bild desselben aufbauen; mit der Zahl dieser Proben wächst die Genauigkeit
der optischen Wahrnehmung der Außendinge.
Eine stetige Drehung der Augen läßt sich am einfachsten dadurch erzielen,
daß man während fester Fixierung eines Punktes den Kopf langsam nach reqhts
oder links, nach oben oder unten wendet. Dabei drehen sich die Augen, der
Kopfdrehung entgegengesetzt, in ihren Höhlen. Ein dauerhaftes Nachbild ge-
stattet auch hier, das Verhalten der Augen zu kontrollieren.
i) Über Ermüdung und Erholung des Sehorgans, v. Graefes Arch. f. Ophth.
XXVII, 3. S. 20.
§ 58. Anpassung des Auges an die jeweilige Beleuchtung. 263
Diese Angaben stützen sich auf Beobachtungen, die ich bereits im
Jahre 18791) bei einer Untersuchung der Muskelgeräusche des Auges ge-
macht und seitdem vielfach zum Teil mit verbesserter Methode wiederholt
habe. Die Augenmuskeln erzeugen ebenso wie jeder andere Muskel während
ihrer Tätigkeit Geräusche, welche man deutlich zu hören vermag. Man
verbindet einen dünnen Kautschukschlauch einerseits mit einem kleinen
Schalltrichter, dessen äußere Öffnung beiläufig 4 mm im Durchmesser hat,
andererseits mit einer durchbohrten sogenannten Olive, welche man in den
äußeren Gehörgang so einbringt, daß sie der Haut desselben ringsum dicht
anliegt. Während beide Augen geöffnet sind und der musculus orbicularis
oculi beiderseits völlig erschlafft ist, setzt man den Schalltrichter auf das
obere oder untere Lid, was sich bei nicht zu tief liegenden Augen leicht
tun läßt.
Der genannte Muskel gibt, wenn man das Auge absichtlich schheßt, ein
«0 starkes schwirrendes Geräusch, daß die Geräusche der eigentlichen Augen-
muskeln übertönt werden. Auch wenn man nur das nicht behorchte andere
Auge zukneift, erschlafft infolge assoziierter Innervation der Schließmuskel des
behorchten nie vollständig und gibt noch ein störendes Geräusch. Sind aber
beide Muskeln völlig erschlafft, so hört man bei festem Fixieren eines Außen-
punktes noch immer ein stetig anhaltendes, scheinbar aus größerer Entfernung
kommendes Rauschen. Dieses Dauergeräusch, wie ich es benannte, ist dui'ch
andauernde Innervation von Augenmuskeln bedingt und kommt für das Folgende
nicht in Betracht 2).
»Während man dasselbe beobachtet, hört man nämlich zwischendurch
ganz kurze, dumpf klappende Geräusche, welche sich mit unregelmäßigen
Intervallen folgen. Anfangs überhört man dieselben leicht, weil man seine
Aufmerksamkeit zu ausschließlich dem Dauergeräusche zuwendet. Diese
Momentangeräusche, wie ich sie bezeichnen will, sind am besten den
Herztönen zu vergleichen. Wenn man ein ganz unregelmäßig schlagendes
Herz* in einiger Entfernung von der Herzgegend auskultieren würde, so
müßte man ganz ähnliche Schallempfmdungen erhalten.
Die Momentangeräusche sind nachweisbar die Folge unabsichtlicher,
ruckender Bewegungen des Augapfels. Man ist sich, während man seine
Aufmerksamkeit dem Dauergeräusche zuwendet, gar nicht bewußt, wie
unruhig dabei öfters die Augen sind, und insbesondere nicht des Umstandes,
daß ihre Bewegungen ruckweise erfolgen. Fixiert man einen Punkt ganz
4) Über Muskelgeräusche des Auges. Sitzungsbericht der Wiener Akademie
d. Wissensch. III.Abt. Febr. i879.
2) Wie man Störungen vermeiden kai^n, welche durch die Tätigkeit am
Knochengerüst des Kopfes angreifender Muskeln entstehen oder in einer Zuleitung
von Muskelgeräuschen der Hand- und Armmuskeln durch die den Schalltrichter
haltenden Finger begründet sind, habe ich am angegebenen Orte auseinander-
gesetzt.
264 Lehre vom Lichtsinn.
fest, so verschwinden die Momentangeräusche, um erst wieder aufzutreten,
sobald infolge der Ermüdung oder vorübergehender Unachtsamkeit wieder
Bewegungen des Augaupfels eintreten.
Der im Fixieren nicht sehr Geübte tut gut, sich ein langdauerndes
Nachbild, z. B. von einer kleinen weißen Scheibe auf schwarzem Grunde,
zu erzeugen und dann erst einen markierten Punkt auf einfarbigem Grunde
zu fixieren: er wird sich dann überzeugen, daß jedem Momentangeräusche
des Auges eine Verschiebung des Nachbildes entspricht. Ebenso bieten
jene mouches volantes, welche durch Augenbewegungen in leichte wirkliche
(nicht bloß scheinbare) Bewegungen versetzt werden, eine bequeme Kontrolle
der erwähnten unabsichtlichen Blickschwankungen.
Sehr gut kann man die Momentangeräusche beim Lesen beobachten.
Während der Blick die Zeile entlang scheinbar stetig gleitet, verraten die
Momentangeräusche die ruckweise erfolgende Bewegung des Augapfels.
Springt der Blick vom Ende der einen Zeile auf den Anfang der nächst-
folgenden, so vernimmt man ein besonders deutliches Geräusch, welches-
aber etwas länger ist und im Gegensatze zu dem kurzen Klopfen, wie man
es gewöhnlich hört, etwas Schabendes oder Reibendes hat; dasselbe ver-
hält sich zu den sonstigen Momentangeräuschen etwa so, wie ein Herz-
geräusch zu einem Herztone.«
Ich brauche z. B. zum aufmerksamen Lesen einer Zeile dieses Hand-
buches bei 20 cm Abstand meiner Augen vom Blatte durchschnittlich 3 Se-
kunden. Klebe ich aber eine Anzahl Blätter einer ganz gleichen Druck-
schrift parallel nebeneinander auf den horizontal liegenden Papierstreifen
eines Kymographions, halte mit der Hand eine dünne Glasplatte dicht über
den Papierstreifen, fixiere eine mit Schreibdiamant auf dem Glase angebrachte
feine Marke ganz fest und lasse dann den Streifen mit 3 Sekunden Ge-
schwindigkeit unter dem Glase vorübergleiten, so vermag ich auch bei bester
Beleuchtung keinen Buchstaben zu erkennen, geschweige denn zu lesen.
Beim gewöhnlichen Lesen verschieben sich die Buchstabenbilder noch schneller
auf der Netzhaut, da ein Teil der Zeit zu den kurzen Stillständen des
Auges während des Lesens verbraucht wird. Es versteht sich, daß je
nach Form und Größe der Buchstaben, je nachdem ich an dieselben ge-
wöhnt bin oder nicht und je nach der Verständlichkeit des Inhaltes einer
Zeile die zum Lesen derselben nötige Zeit sehr verschieden sein kann.
§ 59. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder. Unter
ständigen Netzhautbildern verstehe ich die von den Strahlungen unbewegter
Außendinge auf der Netzhaut eines ganz feststehenden Auges erzeugten
Bilder. Auch wenn die von einem Außendinge zum Auge gelangenden op-
tischen Strahlungen ganz unverändert bleiben und etwaige Änderungen der
Akkommodation und der Pupille abgelaufen sind, kommt es nicht zu einer
§ 59. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder. 265
Konstanz der Lichtempfindung, sondern letztere verändert sich stetig in
ganz gesetzmäßiger Weise. Aus der großen Mannigfaltigkeit der auf diesen
Änderungen beruhenden Tatsachen können hier nur einige wenige angeführt
werden, welche sich unter möglichst einfachen Versuchsbedingungen und
ohne ungewöhnliche experimentelle Hilfsmittel beobachten lassen.
Vor einem Tische sitzend habe man ein großes ganz ebenes und überall
gleich weißes Blatt vor sich ausgebreitet, welches womöglich durch ein
mäßig großes Fenster ohne dicke Fensterstäbe gut beleuchtet ist. Mit der
einen Hand halte man in passender Höhe einen langen Bleistift horizontal
über das Blatt, so daß er seinen Schatten auf die weiße Fläche wirft.
Je nach dem Abstände des Bleisliftes vom Blatte sind die Ränder des
Schattens mehr oder weniger verwaschen. Fixiert man nun anhaltend bei
ruhig stehendem Kopfe einen neben dem Schatten mit Tinte markierten
Punkt, so sieht man sehr bald zunächst die verwaschenen Ränder des
Schattens verschwinden, während der übrige, dunklere Teil desselben sich
aufhellt, bis unter zunehmender Aufhellung der ganze Schatten schließlich
so vollständig verschwindet, daß die Stelle, auf der er lag, jetzt genau
ebenso hell erscheint, wie das übrige Blatt. Das Verbleichen des Schattens
und sein völliges Verschwinden tritt um so eher ein, je geringer seine
Dunkelheit schon anfangs und je weiter die fixierte Marke vom Orte des
Schattens entfernt war. Ist der Schatten verschwunden, so bleibt er es
auch so lange, als man den Blick fixiert un verrückt festhält.
Es versteht sich, daß man durch Befestigung des Bleistiftes an einer
kleinen mechanischen Hand und durch Benützung einer Kopfstütze störende
Verschiebungen des Schattens oder des Kopfes während der Fixierung der
Marke besser ausschließen kann, die um so leichter eintreten, je länger
man fixieren muß. Die zum Verschwinden des Schattens nötige Zeit beträgt
je nach dessen Dunkelheit und je nach der Lage der fixierten Marke relativ
zum Schatten nur kleine Bruchteile einer Minute oder mehr als eine Minute.
Letzteres gilt insbesondere für den Fall, daß der fixierte Punkt innerhalb
des Schattens oder gar auf dessen dunkelstem Teile liegt. Ein zu dunkler
Schatten läßt sich dann überhaupt nicht in seiner ganzen Länge zum Ver-
schwinden bringen, weil die Augen schließlich zu schwanken beginnen;
wohl aber können die vom fixierten Punkte weiter abliegenden Endstücke
unsichtbar werden. Es kommt also wesentlich darauf an, wie weit das
Netzhautbild des Schattenteils, um dessen Verschwinden es sich handelt,
vom funktionellen Mittelpunkte der Netzhaut entfernt ist; je mehr dies der
Fall, desto früher das Verschwinden.
Sobald der Schatten verschwunden ist, hat der zweite, nicht minder
wichtige Teil des Versuches zu beginnen. Während man den gewählten
Punkt noch weiter fixiert, entfernt man schnell den Bleistift so weit, daß
er auf die Fläche keinen Schatten mehr wirft; anstatt des Schattens sieht
266 Lehre vom Lichtsinn.
man jetzt einen hellen Streif auf dem Papier, der um so heller ist, je
dunkler der Schatten war, und dessen Helligkeit sich von den Rändern
ganz in derselben Weise abstuft und in das Weiß des Papieres verliert,
wie anfangs die Dunkelheit des Schattens. Kurzum, der helle Streif verhält
sich zum anfänglicht^n Schatten wie das Negativ der Photographie zum
Positiv.
Bei dem soeben beschriebenen Versuche wurde eine auf weißer Fläche
befindliche dunkle Stelle durch anhaltendes Fixieren zum Verschwinden
gebracht; auf der hellen Fläche läßt sich aber auch durch Zuspiegelung
von Licht ein Fleck erzeugen, der noch viel heller ist, als das Weiß des
Papieres. Zu diesem Zwecke bringt man gegenüber dem Fenster einen
kleinen Hohlspiegel in passender Höhe und Entfernung so an, daß er ein
völlig verwaschenes Bild des Fensters auf der weißen Fläche entwirft, und
verfährt mit diesem hellen Flecke ganz ebenso, wie zuvor mit dem Schatten.
Je nach der mehr oder weniger großen Helligkeit des Fleckes und je nach
der Lage des fixierten Punktes verschwindet nun früher oder später auch
ein solcher heller Fleck spurlos. Verdeckt man dann rasch den Spiegel,
so entsteht plötzlich an Stelle des verschwundenen hellen ein dunkler
schattenähnlicher Fleck, der sich wieder zum anfangs gesehenen hellen
Fleck angenähert ebenso verhält, wie ein photographisches Negativ zum
Positiv.
Statt einer weißen kann man zu diesen Versuchen auch eine beliebig
graue, ganz ebene und matte Fläche benutzen.
Immer hat man die Kopfhaltung so zu wählen, daß die Augen während
des Fixierens möglichst wenig von der ihnen bequemsten Mittelstellung
abzuweichen brauchen; auf diese Weise lassen sich die unwillkürlichen
Blickschwankungen am leichtesten verhüten. Auch ist zu bedenken, daß
bei langem Fixieren eines Punktes, wenn keinerlei Bewegungen im Gesichts-
felde die Aufmerksamkeit wach erhalten, die oberen Lider sich allmählich
zu senken und eine teilweise Deckung der Pupille herbeizuführen pflegen,
wodurch die vorausgesetzte Konstanz der Lichtstärke des Netzhautbildes
vereitelt wird.
Auch scharf umrissene Teile des Gesichtsfeldes, z. B. einen scharf
umgrenzten Schatten auf hellem Grunde oder einen ebensolchen hellen
Streifen auf minder hellem Grunde würde man auf die beschriebene Weise
zum Verschwinden bringen können, wenn sich jede, wenn auch nur mini-
male Blickschwankung beim Fixieren vermeiden ließe. Dies ist jedoch
selbst dem Geübtesten um so weniger möglich, je länger das Fixieren schon
gedauert hat. Infolgedessen verschiebt sich z. B. das Bild des Schattens
auf der Netzhaut, einerseits wird eine schmale, bis dahin nur schwach
bestrahlte Stelle der Netzhaut plötzlich stärker bestrahlt, andererseits wird
eine stark bestrahlt gewesene schwächer bestrahlt, und weil für beide
§ 59. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder. 267
Stellen bereits eine mehr oder weniger vorgeschrittene Anpassung erfolgt
ist, gilt für den jetzt verschobenen Teil des Bildes ganz dasselbe, was für
das ganze, nicht verschobene Netzhautbild gilt, wenn wir plötzlich den
schattenwerfenden Stab entfernen.
Statt daß, wie im letzteren Falle, an Stelle des ganzen Schattens ein
heller Streifen auf der weißen Fläche erscheint, zeigt sich jetzt nur ein
hellerer Saum an der einen Seite des Schattens und gleichzeitig ein dunk-
lerer an der anderen Seite desselben. Wäre zufällig einmal die unabsicht-
liche Verlagerung des Blickpunktes und die entsprechende Verschiebung
des Netzhautbildes so groß, daß jetzt das ganze Bild des Schattens auf
eine neue Netzhautstelle fiele, so würden am anfänglichen Orte des Schattens
der erwähnte helle Streifen, das ist ein negatives Nachbild und gleichzeitig
daneben der Schatten mit seiner anfänglichen Dunkelheit erscheinen. Eine
so starke plötzliche Verschiebung des Blickes läßt sich nach längerem
Fixieren absichtlich herbeiführen, wobei man sich von der Richtigkeit
■des eben Gesagten überzeugen kann. (Zur Vermeidung von Doppelbildern
infolge von Konvergenzänderungen stellt man solche Versuche zweckmäßig
unokular an).
Nur wenn die unabsichtliche kleine Verschiebung der Blickrichtung
mit der Richtung der Mittellinie des Schattens zusammenfällt, und sein
Bild sich auf der Netzhaut in sich selbst verschiebt, treten die beschrie-
benen Säume nicht auf.
An einem scharf umgrenzten runden Schatten oder auch an einem
ebensolchen hellen Fleck, von dem ganz das Analoge wie von dem Schatten
gilt, beobachtet man bei jeder beliebigen Richtung der unabsichtUchen
Blickschwankung auf der einen Seite einen dunkleren, auf der anderen einen
helleren sichel- oder halbmondförmigen Saum.
Auch das Bild eines verwaschen begrenzten Schattens oder lichten
Fleckes verschiebt sich ein wenig während jeder unbeabsichtigten kleinen
Blickschwankung auf der Netzhaut, Dies bleibt aber unbemerklich , weil
dabei im Bezirke der Bildverschiebung nur minimale Änderungen der Be-
lichtung stattfinden, welche unter der Schwelle der Wahrnehmbarkeit
bleiben.
Wären wir also imstande, beim Fixieren eines Außenpunktes jede
unabsichtliche Augenbewegung auszuschließen, so würde es zum Zwecke
unserer Versuche genügen, auf die weiße Fläche einen Streifen oder eine
Scheibe eines Papieres zu legen, das dunkler oder heller ist, als das Weiß
der Fläche, um dieselben nach gebührender Zeit verschwinden bzw. nach
rascher Beseitigung derselben ihr negatives Nachbild zu sehen. Ferner
läßt sich erwarten, daß auch ein tiefschwarzes Papierstück auf weißem
Grunde oder ein hellweißes auf schwarzem scheinbar verschwinden würde,
wenn die Fixierung eines Punktes lange genug fortgesetzt werden könnte.
268 Lehre vom Lichtsinn.
Wie überraschend schnell bei absolut fester Lage des Netzhautbildes
kleine Felder desselben, die lichtschwächer sind als ihre Umgebung, un-
sichtbar werden können, lehrt uns die Purkinjesche Aderfigur. Ist auf der
Empfangsschicht der Netzhaut eine relativ große, überall gleich lichtstarke
Fläche abgebildet, so sind die hinter einem Netzhautgefäße liegenden Stellen
schwächer belichtet als die übrigen Teile und wir würden dementsprechend^
solange wir den Blick auf eine gleichmäßig und nicht zu stark belichtete
Fläche richten, die bekannte Aderfigur deutlich sehen, wenn nicht sowohl
die von den Gefäßen beschatteten Stellen als ihre ganze Umgebung sich
ihrer Belichtung derart angepaßt hätten, daß die beschatteten Stellen in
derselben Helligkeit erscheinen, wie ihre lichtstärkere Umgebung, und also
unsichtbar geworden sind.
Die üblichen Methoden zur Sichtbarmachung der Gefäßschatten be-
ruhen darauf, daß der Schatten auf andere Stellen der Empfangsschicht
geschoben wird, die also an die schwächere Beleuchtung nicht angepaßt
sind. Wirft man in bekannter Weise auf die temporale Hälfte der Sklera
mittels einer starken Sammellinse das kleine Bildchen einer starken Licht-
quelle, z. B. einer Bogenlampe, so kann man die Aderfigur bis in ihre feinsten
Ausläufer sehen. Hält man dabei das Auge ganz ruhig und fest auf die
Lichtquelle und die Linse gerichtet, dann verschwindet die ganze Figur
trotz ihrer anfänglichen Schwärze schon nach wenigen Sekunden; so über-
raschend schnell adaptiert sich die den Schatten empfangende Stelle und
ihre Umgebung an die Verschiedenheit ihrer Belichtung. Bewegt man je-
doch das Auge, oder verschiebt man bei feststehendem Auge die Linse,
so wird die jetzt auf nicht adaptierte Stellen fallende Schattenfigur sofort
wieder sichtbar, während daneben die für dieselbe adaptiert gewesenen
Stellen uns als ein helles negatives Nachbild der dunkleren Aderfigur er-
scheinen. Die Schatten der großen Gefäße können dann ganz ebenso wie wir
dies an dem beschriebenen Bleistiftschatten fanden, einen leuchtend hellen
Saum zeigen. Die Geschwindigkeit des Verschwindens erklärt sich hier aus
der Schmalheit des Feldes.
Viel günstiger sind die Bedingungen für das durch'Anpassung bewirkte
scheinbare Verschwinden von Außendingen, wenn dieselben infolge zu
schwacher Beleuchtung, wie z. B. bei Abend- oder Morgendämmerung schon
von vornherein und ehe man einen Außenpunkt zu fixieren beginnt, nicht
wie bei Tage, mit scharfen, sondern nur mit verschwommenen Umrissen
erscheinen. Fixiert man unter solchen Umständen einen Punkt des Ge-
sichtsfeldes, so werden die Umrisse der Außendinge zunehmend noch ver-
schwommener, und sowohl die anfangs weiß als auch die schwarz er-
schienenen werden immer grauer, bis man endlich nur ein im ganzen
Gesichtsfeld ausgebreitetes Grau von überall gleicher Helligkeit sieht.
Ist die Abenddämmerung soweit vorgeschritten, daß schon zahlreiche
§ 59. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder. 269
Sterne sichtbar sind, ohne noch die funkelnde Helligkeit zu zeigen, wie
in einer klaren Nacht, und behält man z. B. den hellsten der sichtbaren
Sterne fest im Auge, so mindert sich die Zahl der gleichzeitig sichtbaren
mehr und mehr, die schwächstleuchtenden und die der Peripherie des
Gesichtsfeldes näherliegenden verschwinden zuerst, dann auch die helleren
imd weniger indirekt gesehenen, selbst der am hellsten gewesene fixierte
Stern beginnt zu verbleichen und schließlich kann auch er, wenn der Blick
nicht zu sehr zu schwanken beginnt, ganz verschwinden. Verlegt man ab-
sichtlich den Blickpunkt ein wenig, so werden alle Sterne sofort wieder
sichtbar.
Dieses während der Abend- und Morgendämmerung vorkommende Ver-
sehwinden eines längere Zeit fixierten kleinen Außendinges infolge der Ständig-
keit seines Netzhautbildes darf nicht verwechselt werden mit dem sogenannten
»zentralen Verschwinden« kleiner Objekte bei allgemeiner Dunkeladaptation des
ganzen somatischen Sehfeldes. Läßt man während einer solchen den Blick wie
gewöhnlich umherwandern, so kann man beobachten, daß kleine Dinge von
sehr geringer Lichtstärke zwar indirekt zu sehen sind, aber völlig verschwinden,
sobald man den Blick auf sie richtet und ihr Netzhautbild auf die Stelle des
direkten Sehens zu liegen kommt (vgl. § 38 S. H7).
Wenn sich an eine schwache Bestrahlung einer Netzhautstelle plötz-
lich eine starke anschließt oder umgekehrt, so tritt an der zugehörigen
Stelle des Sehfeldes nicht genau in demselben Zeitpunkte, wo die Änderung
der Belichtung erfolgt, auch schon ein entsprechend heller oder dunkler
Fleck an den Platz des bisherigen, sondern zunächst ein, unter Umständen
sogar sehr auffallender, sich außerordentlich geschwind wiederholender
Wechsel zwischen dunkler und heller Farbe (vgl. §38 S. 167), und man
bekommt den Eindruck, als ob zwei antogonistische Kräfte miteinander in
einem hin- und herwogenden Kampfe lägen, bis schheßlich die eine oder
andere siegreich wird. Die eine Kraft entspricht der Reizkraft oder op-
tischen Valenz der Strahlung, die andere beruht, wie uns der VIL Abschnitt
lehrt, auf der Induktion. Auch bei minder großen und minder rasch ver-
laufenden Intensitätsänderungen der Bestrahlung kann man bei gehöriger
Aufmerksamkeit bemerken, daß der durch die Intensitätsänderung beding-
ten neuen Farbe oder HeUigkeit wenigstens eine kurze gegensinnige Phase
als eine Art Vorschlag vorangeht. Nur die dann dauernd ins Bewußtsein
tretende Farbe, sei sie heller oder dunkler als die vorangegangene, kommt
hier für uns in Betracht. (Daß auch sie trotzt der nun konstant bleiben-
den Belichtung sich im weiteren Verlaufe der Anpassung wieder ändert,
wurde bereits erwähnt.)
Wenn man die Intensitätsänderung der Bestrahlung nicht plötzlich
herstellt, sondern langsamer vollzieht und. die Sehsubstanz also sozusagen
nicht durch einen Stoß erschüttert, sondern vorsichtig in den neuen Zu-
stand hineindrängt, so falleö die erwähnten Helligkeitsschwankungen fort.
270 Lehre vom Lichtsinn.
Nach der auf- oder absteigend erfolgten Intensitätsänderung, dann
konstant gebliebenen Belichtung einer Netzhautstelle vergeht bis zur Voll-
endung der Anpassung eine um so längere Zeit, je grüßer die Intensitäts-
änderung, d. h. ihr positiver oder negativer Zuwachs der Belichtung war.
Das Zeichen der vollendeten Anpassung ist das völlige Verschwinden des
Schattens oder hellen Fleckes, gleichviel ob wir die unterdes eingetretene
schwächere gegensinnige Helligkeitsänderung der ganzen Fläche, bemerkt
haben oder nicht. Erfolgt schon vor vollendeter Anpassung eine neue
Änderung der Belichtungsstärke, so schreitet entweder die Anpassung im
Sinne der ersten Belichtung weiter fort, oder man sieht ein negatives
Nachbild, welches aber jetzt schwächer entwickelt ist, als bei ungestörtem
Fortgang der Anpassung an die frühere Stärke der Belichtung der Fall
gewesen wäre.
Erklärung der Anpassung an ständige Netzhautbilder. Man
hat, wie in § 25 (S. 142 — 115) gezeigt wurde, neben der Anpassung der
Sehsubstanz als einer im strengen Sinne nervösen Substanz eine besondere
Anpasssng des Empfängers der Netzhaut, d. h. der Stäbchen- und Zapfen-
schicht, in Betracht zu ziehen. (Dies gilt für die örtliche Anpassung der
einzelnen Sehfeldstellen wie für die allgemeine Anpassung des ganzen Seh-
feldes.)
Die Anpassung des Empfäjigers an gegebene konstante Bestrahlung
ist vollendet, wenn Verbrauch und Neubildung des Empfangsstoffes in den
bestrahlten Sehzellen gleich geworden sind. Die dazu erforderliche Zeit,
d. i. die Anpassungszeit, ist um so länger, je größer der Unterschied zwi-
schen der Stärke der anfänglichen Bestrahlung und der an ihre Stelle ge-
tretenen ist, nicht nur, wenn einer schwächeren Bestrahlung eine stärkere,
sondern auch, wenn einer stärkeren eine schwächere gefolgt ist. Der stär-
keren Bestrahlung entspricht ein größerer Empfangsstoffverbrauch und eine
stärkere Reizung der mit den Sehzellen verbundenen nervösen Substanz,
der schwächeren Bestrahlung ein kleinerer Verbrauch und eine schwächere
Reizung. Denn nur der durch chemische Wirkung der Strahlung auf den
Empfangsstoff bedingte Verbrauch desselben vermag einen Reiz auf die
nervöse Substanz abzugeben, während seine Neubildung an sich keine Wir-
kung auf dieselbe hat. Insofern verhält sich der Empfangsstoff einer Netz-
hautstelle ähnlich wie ein Herd, dessen Heizkraft von der Menge der brennen-
den und nur mittelbar von der Menge der gleichzeitig zugeführten Kohle
abhängt.
Anderes gilt von der nervösen Substanz. Der für sie beim Verbrauch
des Empfangsstoffes erzeugte Reiz, d. h. der eigentliche Sehreiz, ist zwar
für jedes einer bestrahlten Sehzelle funktionell zugehörige Element der
Sehsubstanz ein Antrieb zur gesteigerten Dissimilierung, aber jede Stei-
gerung der Dissimilierung eines Elementes mindert infolge der Induktion
§ 59. Anpassung des Auges an ständige Netzhautbilder. 271
die DissimilieruDg der übrigen Elemente und vermehrt zugleich deren Assi-
milierung so lange, bis das Verhältnis zwischen Dissimilierung und Assi-
milierung {D : Ä) überall dasselbe und damit auch die Helligkeit überall
die gleiche geworden ist. Hiermit ist die Anpassung vollendet. Dieser
vollständigen Anpassung an eine gegebene Bestrahlung entspricht also zwar
im Empfänger eine Gleichheit zwischen Verbrauch und Ersatz des Empfangs-
stoffes, in der Sehsubstanz aber nur eine Gleichheit des Verhältnisses zwi-
schen Dissimilierung und Assimilierung, wobei die Größe derselben und das
Gewicht der Empfindung an verschiedenen Stellen verschieden sein kann^
wie dies alles in früheren Paragraphen ausführlich dargelegt wurde.
Die Anpassung der Sehsubstanz folgt also der Anpassung des Em-
pfängers und obwohl sie sozusagen viel labiler ist als der Empfänger und
auf eine einmalige starke und plötzliche Sehreizbildung infolge plötzlicher
Änderung der Lichtstärke des Netzhautbildes mit einer ganzen Reihe von
gegensätzlichen Änderungen ihres Zustandes zu reagieren vermag, so ver-
rät sich doch diese ihre Eigenschaft bei kleineren oder nicht zu schnell
verlaufenden Änderungen der Lichtstärke eines Netzhautbildes wenig oder
gar nicht.
Tritt eine Änderung der Bestrahlung nicht bloß für einen Teil der
Netzhaut ein, sondern ändert sich die Gesamtbeleuchtung der eben sicht-
baren Außenwelt, so würde, wie schon gesagt wurde, sich das ganze so-
matische Sehfeld bis zu völliger Gleichheit der Helligkeit aller seiner Teile
an die neue Beleuchtung anpassen, wenn es uns möglich wäre, das Auge
so lange in genau derselben Stellung festzuhalten, und zugleich jede Ver-
änderung der Lichtstärke im Gesamtnetzhautbilde auszuschließen.
Von der sukzessiven Adaptation. Unter sukzessiver Adaptation
(vgl. § 6) verstehe ich im allgemeinen die Anpassung des Sehorganes an
die Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes, von welcher letzteren die Inten-
sität und Qualität des von nicht selbstleuchtenden Dingen zurückgeworfenen
und das Netzhautbild erzeugenden Lichtes abhängt. Während Aubert unter
Adaptation nur die nach völliger Verfinsterung des Sehfeldes bei Dunkel-
aufenthalt in finsterem Räume und also bei ganz lichtfreier Netzhaut ein-
tretende Zunahme der Lichtempfindlichkeit verstand, habe ich den Begriff
der Adaptation erweitert und von der Aubert sehen Dunkeladaptation die
Helladaptation unterschieden. Dem Zustande, in dem sich nach Aubert
das Sehorgan bei maximaler Dunkeladaptation befindet, entspricht der Null-
punkt der Helladaptation 1) , und man hat ebenso viele Stufen derselben
zu unterscheiden, als es Intensitätsstufen der allgemeinen Beleuchtung des
Gesichtsfeldes gibt, insoweit diese Intensität innerhalb der Grenzen bleibt,
bis zu denen die Adaptation zu folgen vermag.
1) Über Ermüdung und Erholung des Sehorganes. Graefes Arch. Bd. XXXVII. 3.
S. 32.
272 Lehre vom Lichtsinn.
Beim gewöhnlichen Sehen ist, wie wir sahen, das Auge in fortwähren-
der sprungweiser Bewegung. Wegen der damit verbundenen Verschie-
bungen des Gesamtnetzhautbildes empfängt eine und dieselbe Netzhautstelle
in raschem Wechsel die Bilder sehr verschieden lichtstarker Außendinge.
Doch wird, wenn die Gesamtbeleuchtung der Außendinge eines gegebenen
Gesichtsfeldes längere Zeit hindurch sich nicht wesentlich ändert, auch die
durchschnittliche Belichtungsstärke einer Netzhautstelle sich nicht er-
heblich ändern und um die Anpassung an den durchschnittlichen Wert
der sukzessiv verschiedenen Belichtungen handelt es sich, wenn von einer
Anpassung an eine bestimmte Gesamtbeleuchtung des Gesichtsfeldes beim
gewöhnlichen Sehen die Rede ist.
Den verschiedenen funktionellen Eigentümlichkeiten der Einzelteile des
somatischen Sehfeldes entsprechend befinden sich die letzteren bei der-
selben Gesamtbeleuchtung (nach vollendeter Adaptation) im allgemeinen
auf verschiedenen Stufen der Adaptation. Deshalb handelt es sich eigent-
lich nie um eine überall gleiche Adaptation, sondern um eine Mannigfaltig-
keit örtlicher Anpassung oder lokaler Adaptation, wie ich sie seiner-
zeit bezeichnet habe, und wenn man von einer erfolgten Adaptation an
die allgemeine Beleuchtung des Gesichtsfeldes spricht, kann man nur die
Gesamtheit der gleichzeitig in den verschiedenen Bezirken des Sehfeldes
bestehende Adaptationsstufen meinen.
Wenn die Augen einmal ausnahmsweise genügend lange keiner-
lei aktive odeT passive Bewegungen ausführen, und wenn gleichzeitig alle
eben sichtbaren Außendinge festliegen und ihre Lichtstärken völlig un-
verändert bleiben, so wird sich jede somatische Sehfeldstelle ebenfalls an
ihre jetzt wirklich konstant bleibende Beleuchtungsstärke adaptieren. Da-
bei wird, weil das Gesamtnetzhautbild gewöhnlich in seinen einzelnen Teilen
von verschiedener Lichtstärke ist, auch die Anpassung der einzelnen Seh-
feldbezirke eine verschiedene sein können. Diese Adaptation bei feststehen-
dem Auge eignet sich begreiflicherweise zur genaueren Untersuchung viel
besser als die Adaptation an die durchschnittliche Beleuchtungsstärke bei
bewegtem Auge. Doch ist das längere Fixieren eines Außenpunktes ein
unnatürlicher, den Augen aufgezwungener Zustand, der immer wieder durch
kleine unwillkürliche Augenbewegungen unterbrochen wird. Im übrigen,
abgesehen von diesem absichtlich herbeigeführten langen Stillstand der
Augen, kommt ein solcher gesunderweise nur vor, wenn wir »gedanken-
los« oder »in Gedanken versunken« vor uns hinstarren und gar nicht
auf das eben Sichtbare achten.
Die Beziehungen zwischen der bunten Qualität
der Farben und der Schwingungszahl der optischen
Strahlen.
§ 60. Die Verteilung der Farben im Spektrum. Wie schon in
§ 12 erörtert wurde, läßt sich die Gesamtheit aller möglichen Farbentöne
auf einer in sich zurücklaufenden Linie derart angeordnet denken, daß die
Verschiedenheit des Tones je zweier unmittelbar benachbarter Farben minimal,
die Ähnlichkeit aber maximal ist, und also die Farbentöne überall stetig
ineinander übergehen. Zweckmäßig wählt man als geschlossene Linie einen
Kreis. Dieselbe Reihenfolge der Farbentöne, wie sie ein solcher sogenannter
Farbenzirkel zeigt, finden wir im Spektrum wieder, doch fehlt letzterem
stets ein Teil der Töne des Farbenzirkels, denn es endet für das normale und
chromatisch neutral gestimmte Auge einerseits mit einem ins Gelbe spielen-
den Rot, anderseits mit einem Violett.
Man denke sich einen in genügender Größe ausgeführten und aus
möglichst freien Farben bestehenden Farbenzirkel in 100 oder mehr Sektoren
zerschnitten, so würde man ebensoviele kleine Täfelchen erhalten, deren
jedes einen anderen Ton hätte. Diese Täfelchen könnte man regellos durch-
einandergeworfen einem Laien vorlegen, der nie einen Farbenzirkel oder
ein Spektrum gesehen, aber. einen guten Farbensinn hätte, und ihm die
Aufgabe stellen, die Täfelchen nach den ÄhnUchkeiten ihrer Farben anein-
anderzureihen: er würde die Farben ebenso anordnen, wie sie im Spektrum
aufeinanderfolgen. Je nachdem einer diese Übereinstimmung zwischen der
lediglich durch schlichte Farbenvergleichung gefundenen mit der durch das
physikalische Experiment erzeugten Farbenfolge selbstverständlich oder
höchst wunderbar findet, wird man an seine Äußerungen über Licht- und
Farbensinn einen sehr verschiedenen Maßstab anzulegen haben. —
Mit der Reihenfolge der Farben ist noch nicht deren räumliche Ver-
teilung im Spektrum bestimmt. In einem richtig entworfenen Farbenkreise
hat jeder bestimmte Farbenton auch einen ganz bestimmten Ort, weil der
Kreis duich die vier Urfarben in vier gleich große Abschnitte (Quadranten)
geteilt ist, und jeder Punkt eines solchen Abschnittes einem bestimmtcD
Hering, Lichtsinn. 4 8 *
274 Lehre vom Lichtsinn.
Verhältnis der beiden Ähnlichkeitsgrade entspricht, welche der hier liegende
Farbenton mit den beiden, den Quadranten begrenzenden Urfarben hat. Im
Spektrum ist die räumliche Verteilung stets eine ganz andere und überdies
je nach der Art seiner Entstehung verschiedene. Während z. B. der Ort
des Urgrün in einem prismatischen Spektrum für ein chromatisch neutral
gestimmtes Auge beiläufig der Mitte des ganzen Spektrums enspricht, liegt
das Urgrün im Interferenzspektrum dem violetten Ende viel näher als dem
roten.
Von den vier bunten Urfarben des Farbenzirkels finden wir unter ge-
wöhnlichen Umständen nur drei im Spektrum wieder, nämlich Urgelb,
Urgrün und Urblau, nicht aber das Urrot. Das am einen Ende des Spek-
trums erscheinende Rot spielt deutlich ins Gelbe, es sei denn, daß die Netz-
hautstelle, mit der man es sieht, zuvor mit gelbwirkendem Lichte bestrahlt
worden war. Solchenfalls kann es allerdings in einem Rot erscheinen,
welches weder gelblich noch bläulich ist. Für ein überall chromatisch
neutral gestimmtes Auge aber gibt es im Spektrum nur die zuerst ge-
nannten drei Urfarben, deren Orte im Spektrum ich als die drei Kardinal-
punkte desselben bezeichnet habe.
Während im allgemeinen der an einer Stelle des Spektrums erscheinende
Farhenton sich mit der Intensität des spektral zerlegten Lichtes ändert,
gilt dies, wie sich im Folgenden zeigen wird, nicht für die Kardinalpunkte, deren
Farbenton von den Änderungen der Lichtstärke unabhängig zu sein scheint,
solange die chromatisch neutrale Stimmung der betroffenen Sehstelle be-
steht.
Durch die drei Kardinalpunkte wird das Spektrum in vier Abschnitte
geteilt, einen vom Urgelb bis an das rote Ende reichenden rot-gelben
und einen vom Urblau bis an das violette Ende reichenden rot-blauen
Abschnitt, während die zwischen dem Urgelb und Urblau liegende Strecke
durch das Urgrün in einen grün-gelben und einen grün-blauen Ab-
schnitt geteilt wird. Es enthält also der vom Endrot bis zum Urgrün sich
erstreckende Teil des Spektrums durchgängig Farben von mehr oder minder
deutlicher Gilbe, während vom Urgrün bis zum End violett alle Farben eine
mehr oder minder deutliche Bläue haben. Die zwischen Urgelb und Ur-
blau liegende Strecke umfaßt alle grünhaltigen Farbentöne; die rothaltigen
Töne aber, insoweit sie für das chromatisch neutral gestimmte Auge im
Spektrum enthalten sind, liegen in den beiden Endabschnitten.
Die schematische Figur möge diese Verteilung der Farbentöne im In-
terferenzspektrum veranschaulichen i). Da man gewöhnt ist, sich im Spektrum
des Tageslichtes mit Hilfe der besonders deutlichen FBAUNHOFERSche Linien
i
<) Die hier erwähnte Abbildung hat sich im Nachlasse nicht vorgefunden.
Offenbar bestand die Absicht, die Abbildung auf Tafel I mit entsprechenden
Änderungen wiederzugeben. Hess.
§ 6i . Das Interferenzspektrum des Himmelslichtes. 275
zu orientieren und nicht die Schwingungszahl, sondern die Wellenlänge
einer einfachen Strahlung zur Bezeichnung derselben zu benutzen, so ist die
Lage jener Linien mit ihren Wellenlängen in das Schema eingetragen. Die
rote Kaliumlinie 769,9 /</t einerseits und die Linie H2 393 ^/^ andererseits
begrenzen unser Schema, obwohl das sichtbar Spektrum unter günstigen
Bedingungen beiderseits noch etwas weiter reichen kann.
Newton unterschied 1 Farben (rubens, aureus, flavus, viridis, caeru-
leus, indicus, violaceus) und teilte dementsprechend den Kreis in 7 übrigens
ungleich lange Teile, die er mit den 7 Intervallen zwischen den 8 Tönen
einer Oktave in einen eigenartigen Vergleich brachte. In der Mitte jedes
Bezirkes oder Bogens sollte die entsprechende Farbe am reinsten sein, an
jeder anderen Stelle des Bogens aber um so mehr nach der einen oder
anderen von den benachbarten Hauptfarben neigen, je größer der Abstand
der Stelle von der Mitte ihres Bezirkes war. Dieser Anordnung der Farben-
töne liegt das prismatische Spektrum zugrunde, sie paßt schon nicht mehr
auf das Diffraktionsspektrum; ich habe sie nur deshalb hier angeführt, um
zu zeigen, daß die räumliche Verteilung der Farbentöne im Spektrum über-
haupt nicht maßgebend sein kann, wenn es sich darum handelt, die
Farbentöne rationell auf einer geschlossenen Linie anzuordnen, was meiner
Ansicht nach nur auf dem von mir betretenen Wege erreichbar ist. Jetzt
handelt es sich nur darum, die, wie wir annehmen müssen, gesetzmäßigen
Beziehungen festzustellen, welche zwischen jeder einzelnen der einfachen
Strahlungen in der spektral geordneten Reihe einerseits und der im rationellen
Farbenkreise geordneten Reihe der Farbentöne anderseits bestehen.
Für den physikahsch Unterrichteten verbindet sich leicht mit ver-
schiedenen Farbentönen des Spektrums der Gedanke an bestimmte Wellen-
längen so fest, daß er schließlich jeder einzelnen optischen Strahlenart
einen bestimmten Farbenton zuschreibt und die Strahlung nach letzterem
benennt statt nach ihrer Schwingungszahl oder Wellenlänge. Doch der
Farbton, mit welchem unser Sehorgan auf eine Strahlung bestimmter
Wellenlänge reagiert, h"ängt so sehr von der jeweiligen Beschaffenheit des
Organs und der Energie der Strahlung ab, daß die Bezeichnung der ver-
schiedenen einfachen Strahlen mit bestimmten Namen überhaupt nur unter
Voraussetzung ganz bestimmter Bedingungen einen Sinn hat. Denn eine und
dieselbe Strahlung kann je nach den Umständen in allen überhaupt mög-
hchen Farbentönen gesehen werden.
§ 61. Das Interferenzspektrum des Himmelslichtes. Da im
Interferenzspektrum gleichen Unterschieden der Schwingungszahlen oder
der Wellenlängen gleichgroße Strecken des Spektrums entsprechen, so
macht dasselbe die Art der Abhängigkeit des Farbentones von der Wellen-
länge viel anschaulicher als das prismatische Spektrum. Es ist schon des-
48*
o^ß Lehre vom Lichtsinn.
halb zweckmäßig, sich zuerst eine Anschauung des Interferenzspektrums
zu verschaffen, und zwar mit Benutzung des Himmelslichtes. Denn da das
Sehor""an des Menschen sich, stammesgeschichtlich betrachtet, unter der
Wirkung dieses Lichtes entwickelt hat, und noch heute alle nicht von der
Sonne stammenden Belichtungen unserer Netzhaut nur als Ausnahmen zu
o-elten haben, so ist auch für die physiologische Optik die Beschaffenheit
des Sonnen- und Himmelslichtes von höherer Bedeutung, als die der künst-
lichen Lichtquellen.
EiQ \ — 2 cm hoher Spalt im Fensterladen eines Dunkelzimmers, durch
welchen das Himmelslicht zum 30 cm vom Spalte entfernten Auge des
Beobachters gelangen kann, und ein vor das Auge gehaltenes Glasgitter
o-enügen, um ein Spektrum erster Ordnung von zweckmäßiger Länge zu
erhalten. Durch Änderung der Breite des Spaltes läßt sich die Lichtstärke
des Spektrums verkleinern oder vergrößern. Nähert man das Auge dem
Spalt, so verkürzt sich das Spektrum, seine Farben schieben sich mehr
zusammen und seine Helligkeit wächst; entfernt man das Auge, so ver-
längert sich das Spektrum, seine Farben breiten sich aus und seine Hellig-
keit nimmt ab. Bei passender Lichtstärke und Enge des Spaltes unter-
scheidet man leicht die Linien C, D, E, 6, F und G. Die Wellenlänge,
welche einer zwischen zwei dieser Linien gelegenen Stelle entspricht, läßt
sich üblicherweise angenähert bestimmen, wenn man das Verhältnis ab-
schätzt, in welchem der gegenseitige Abstand der beiden Linien durch die
fragliche Stelle geteilt wird.
Da das Pigment der Macula lutea insbesondere die blaugrün-, blau-
und violettwirkenden Strahlen erheblich absorbiert, bevor sie zum Seh-
epithel der Netzhaut gelangen, so sieht man bei Betrachtung des ent-
sprechenden Spektralbezirkes einen dunklen verwaschenen Fleck an der
Stelle, welche man eben anblickt. Im verhältnismäßig hellen Blaugrün
eines Spektrums von mittlerer Helligkeit ist dieser dunkle Fleck sehr auf-
fällig, im schon an und für sich dunklen Violett aber zuweilen kaum noch
kenntlich. Auch verschwindet er infolge örtlicher Adaptation des Auges
(vgl. § 59) sehr bald, wenn der Blick sich länger im blauwertigen Ab-
schnitte des Spektrums aufhält, wird aber sogleich wieder sehr deutlich,
wenn man zwischendurch den gelbwertigen Abschnitt betrachtet hat. Für
die richtige Beurteilung des Farbentones und der relativen Helligkeit der
bezüglichen Stelle des Spektrums ist diese makulare Absorption sehr stö-
rend. Will man also eine Farbe des blauwertigen Abschnittes vom Grün
bis zum Endviolett deutlich sehen, so muß man bei 30 cm Abstand des
Auges vom Spalte den Blickpunkt 2—3 cm über oder unter die Stelle des
Spektrums verlegen.
Sehr zweckmäßig ist es, zwei in einer Flucht liegende, z. B. bei hori-
zontaler Lage des Spektrums senkrecht übereinanderliegende Lichtspalte
i? Gl. Das Interferenzspektrum des Himmelslichtes. 277
im Fensterladen anzubringen, und zwar so, daß ihr gegenseitiger Abstand,
30 cm Augenabstand vorausgesetzt, beiläufig 2 cm beträgt. Wenn man
beiden Spalten eine verschiedene Breite gibt, so erhält man zwei über-
einanderliegende Spektren von entsprechend verschiedener Intensität und
kann je zwei Stellen gleicher Wellenlänge in betreff der Verschiedenheit
ihres Aussehens miteinander vergleichen. Dabei kann man entweder eine
Stelle des einen Spektrurps fixieren und mit der indirekt darüber oder
darunter gesehenen Stelle des anderen vergleichen oder noch besser den
Blickpunkt auf die Mittellinie des finsteren Zwischenraums zwischen den
beiden Spektren verlegen und die Farben der beiden indirekt gesehenen
Stellen gleicher Wellenlänge miteinander vergleichen. Auch wenn beide
Stellen noch in das Bereich der Makularabsorption fallen, kann es sich
wegen der vom Zentrum nach der Peripherie rasch abnehmenden Pig-
mentierung der Makula nur noch um die schwache Absorption von zwei
beiläufig [gleich schwach pigmentierten Stellen handeln, wodurch das
wahre Verhältnis zwischen den Lichtstärken der beiden miteinander ver-
glichenen Stellen gleicher W^ellenlänge praktisch genommen nicht ver-
ändert wird.
Das lichtstärkere Spektrum unterscheidet sich vom lichtschwächeren
in besonders auffallender Weise dadurch, daß es gelber und blauer erscheint
als. das lichtschwache. Wo im lichtschwachen Spektrum die Farbe eine
nur undeutliche Gilbe oder Bläue zeigt, treten beide im lichtstarken deut-
lich hervor und machen sich um so mehr auf Kosten der Röte bzw. Grüne
geltend, je größer die Lichtstärke ist. Im Spektrum von mittler Licht-
stärke sieht man das reine Gelb ein wenig grtlnwärts von der Linie D,
und das reine Blau etwas violettwärts von der Linie F. Im lichtschwachen
Spektrum aber ist an den ebengenannten Stellen das Urgelb und Urblau
kaum erkennbar: vielmehr geht an der einen Stelle ein Rötlichgelb ohne
deutliche Einschaltung von Urgelb in ein Grünlichgelb über, an der anderen
Stelle ein Grünlichblau ebenfalls scheinbar unmittelbar in ein Rötlichblau.
So kommt es, daß das lichtschwache Spektrum in drei beiläufig gleichlange
Strecken zerfällt, nämlich in eine vorwiegend grünliche Mittelstrecke, eine
violette und eine vorwiegend rötliche Strecke. ^Das lichtschwache pris-
matische Spektrum verhält sich ganz ähnlich, nur daß hier wegen der mit
abnehmender Wellenlänge wachsenden Dispersion die vorwiegend rötliche
Strecke nur etwa halb so lang, die violette Strecke aber etwa doppelt so
lang ist als die grünliche Mittelstrecke.
Das mit der Lichtstärke des Spektrums wachsende Hervortreten der
Gilbe oder Bläue aller Zwischenfarben hat zur Folge, daß dabei ein immer
größerer Teil der violetten Strecke sich auffallend bläut, daß ferner die grün-
haltigen Fvarben der Mittelstrecke und die rothaltigen Farben der lang-
welligen Endstrecke immer gelblicher werden, um so mehr, je näher sie
278 Lehre vom Lichtsinn.
der urgelben Stelle sind. So wird auf der einen Seite das eigentliche
Violett immer mehr an das eine, das eigentliche spektrale Rot an das andere
Ende des Spektrums gedrängt. Zugleich verlängert sich mit wachsender,
ein gewisses Mittelmaß nicht überschreitender Lichtstärke das Spektrum
beiderseits, und zwar zunächst nur wenig an seinem kurzwelligen, viel
bedeutender an seinem langwelligen Ende. Hier verwandelt sich der vorher
stark mit Schwarz verhüllt gewesene Endteil in Orangerot, und neues Spek-
tralrot taucht aus dem früheren Dunkel auf, während sich am anderen
Ende eine geringe Verlängerung des Violettes zeigt.
Fast gar keinen Aufschluß erhält man bei den eben beschriebenen
Beobachtungen am Gitterspektrum über die von der Lichtstärke abhängigen
Farbenänderungen der kleinen Strecke, welche zwischen der urblau und
urgrün erscheinenden Stelle liegt. Während die von der urblauen Stelle
ausgehende Bläue sich mit wachsender Lichtstärke immer deutlicher nach
dem kurzwelligen Ende hin ausbreitet, läßt sich ihre Ausbreitung in der
anderen Richtung auch bei indirekter Betrachtung des Spektrums nicht
genauer verfolgen. Dies hat seinen Grund darin, daß der Wellenlänge-
unterschied zwischen der deutlich urblau und der bereits deutlich grün
erscheinenden Stelle ein verhältnismäßig sehr kleiner ist. Die innerhalb
dieser Strecke zu erwartenden ganz dicht zusammengedrängten blau-grünen
Zwischenfarben entziehen sich der Beobachtung um so mehr, als die durch
absichtliche und unabsichtliche Verlagerung des Blickpunktes bedingten
Wirkungen des chromatischen Kontrastes schon an sich fortwährende
Änderungen der Farbe einer beobachteten Stelle des Spektrums mit sich
bringen. Nicht ganz so ungünstig ist die Sachlage in einem prismatischen
Spektrum von gleicher scheinbarer Länge, weil hier die fragliche Strecke
im Verhältnis zur Länge des Spektrums größer, jedoch immer noch zu
klein ist, um eine genaue Unterscheidung der fraglichen Farbentöne zu
gestatten.
Steigert man die Lichtstärke über das gewöhnliche Mittelmaß hinaus,
so nimmt die Vergilbung des langwelligen Teiles bis in die Nähe des dem
Urgrün entsprechenden Kardinalpunktes noch zu, und bei einer gewissen,
fast schon blendend wirkenden Lichtstärke scheint das Spektrum wieder
aus drei ungefähr gleichlangen Abschnitten zu bestehen, einem orange-
farbenen, einem schwach grünlich-gelben und einem weiß-blauen, und nur
an den Enden des Spektrums sieht man einerseits noch etwas spektrales
Rot, anderseits etwas Violett. Noch größere Lichtstärken wirken blendend
und gestatten keine sichere Beobachtung.
Selbstverständhch läßt sich sowohl das prismatische als auch das
Gitterspektrum durch physikalische Hilfsmittel beliebig vergrößern, doch
galt es zunächst, auf die Besonderheiten relativ kurzer und überdies mit
einfachen Mitteln herzustellender Spektren hinzuweisen, welche in mancher
frHerstellung und Beobachtung monochromatisch beleuchteter Felder. 279
Beziehung bessere Aufschlüsse geben, als die in großen Spektroskopen
erzeugten 1).
§ 62. Herstellung und Beobachtung monochromatisch be-
leuchteter Felder. Der Farbenton der eben betrachteten Stelle des
Spektrums wird durch die gleichzeitig daneben erscheinenden Farben und
auch dadurch beeinflußt, daß unmittelbar vorher eine andere Stelle des
Spektrums betrachtet wurde. Diese Wirkungen des später ausführlich zu
besprechenden simiultanen und sukzessiven Buntfarbenkontrastes sind aus-
geschlossen, wenn man sich die einzelnen Teile des Spektrums gesondert
zur Anschauung bringt.
Im Okularrohr der zur Erzeugung eines prismatischen Spektrums
dienenden Spektralapparate lassen sich an der Stelle, wo das Luftbild des
Spektrums liegt, zwei von außen verschiebbare Blenden anbringen, mit
denen man von beiden Seiten her das Spektrum so verdecken kann, daß
nur ein nicht allzu schmaler, durch die Okularlinse vergrößerter Streifen
sichtbar bleibt. Viel zweckmäßiger ist es nach dem Vorgange Maxwells
das Okularrohr des Fernrohrs mit einem kurzen verschiebbaren Rohre
ohne Linse zu vertauschen, das an seinem äußeren Ende durch einen
Spaltapparat verschlossen und so eingestellt ist, daß der schmale Spalt in
die Ebene des spektralen Luftbildes zu liegen kommt. Durch Drehung des
Kollimators kann man jeden beliebigen Teil des Spektrums in den Spalt
treten lassen. Bringt man das Auge dicht an den Spalt, so sieht man
einen Teil der dem Auge zugewendeten Prismenfläche gleichmäßig in der
i) Für den Physiker sind manche an kurzen Spektren anzustellende und
für den Physiologen oder Arzt wichtige Beobachtungen meist bedeutungslos und
begegnen deshalb leicht einer gewissen Geringschätzung. So erwähnt H. Kayser
in seinem Handbuch der Spektroskopie L Bd. S. 491, 4 900, eine von mir zum Nach-
weis der Blutfarbstoffe empfohlene einfache spektroskopische Vorrichtung in einer
Weise, die sofort erkennen läßt, daß ihm als reinem Physiker der eigentliche Sinn
dieser Vorrichtung ganz entgangen ist. Dieselbe besteht lediglich aus einer innen
geschwärzten Röhre, an deren einem Ende sich ein Spalt, am anderen Ende ein
kleines, passend gestelltes gleichseitiges Prisma, befindet, durch welches das ihm
ganz nahe gebrachte Auge in passender Richtung zu blicken hat, um das äußerst
kurze, dafür aber sehr lichtstarke Spektrum zu sehen. Ist das Licht durch eine
vor dem Spalte befindliche schwache Lösung eines Blutfarbstoffes gegangen, so
erscheinen die charakteristischen Absorptionsbänder desselben im Spektrum als
feine schwarze oder graue Striche. Man kann auf diese Weise viel geringere
Spuren des gelösten Farbstoffes erkennen, als mit Hilfe der gewöhnlichen Spektral-
apparate. Die Empfindlichkeit des Apparates übertrifft auch noch die kleinen
seitdem in den Handel gebrachten Spektroskope mit gerader Durchsicht und kurzem
Spektrum. Schon die den Ärzten geläufige Tatsache, daß das Maximum der Seh-
schärfe an zweckmäßige Beleuchtung der Sehprobe gebunden ist, würde auch
ohne Kenntnis der hier maßgebenden Gesetze des Helligkeitskontrastes verständ-
lich machen, warum für den besonderen Zweck der kleine Apparat dem größeren
Spektralapparat bedeutend überlegen ist.
230 Lehre vom Lichtsinn.
eben eingestelllen Farbe leuchten und hat den Vorteil, letztere auf einer
größeren Fläche zu sehen.
Befindet sich dicht vor dem vertikalen Spalt ein horizontaler, dessen
beide Schneiden symmetrisch zum Mittelpunkte des vertikalen ausgiebig
verschiebbar sind, so kann man bald die ganze, bald nur einen beliebigen
Teil der durch den Vertikalspalt ^tommenden Lichtmenge ins Auge ge-
langen lassen und auf diese Weise innerhalb gewisser Grenzen die Ab-
hängigkeit des Farbentones von der Intensität der Strahlung beobachten.
Immerhin läßt sich auf diese Weise nur ein kleines, von den Dimen-
sionen des Prismas abhängiges Farbenfeld erzielen; doch kann man letzteres
bedeutend vergrößern, wenn man zwischen Spalt und Auge ein kurzes,^
für kleine Entfernungen berechnetes bildumkehrendes Fernrohr anbringt^
dessen Objektivlinse dicht am Spalte liegt. Man sieht dann durch die
Okularlinse die Öffnung einer in der Brennweite der Linse befindlichen
Irisblende im jeweils eingestellten Farbentone leuchten und kann mit
Hilfe dieser Blende den sichtbar bleibenden Teil des Feldes beliebig ein-
engen.
Leider sind alle derartigen Vergrößerungen des monochromatischen
Feldes, so zweckmäßig sie in vielen Beziehungen sind, nur für die lang-
welligen Strahlungen verwendbar; denn die über die Strahlen mittlerer Brech-
barkeit hinausliegenden kurzwelligen Strahlungen erfordern, besonders bei
künstlicher Lichtquelle, viel zu große Breiten des Kollimatorspaltes, wenn
das Farbenfeld die für das Auge nötige Helligkeit haben soll. Je breiter
aber der Spalt, desto weniger kann von eigentlich monochromatischer Be-
leuchtung des Farbenfeldes die Rede sein.
Denn was wir in der physiologischen Optik eine einfache Strahlung
zu nennen pflegen, ist keineswegs eine Strahlung von nur einer Schwin-
gungsfrequenz, vielmehr ein Gemisch von Strahlungen verschiedener Schwin-
gungszahl, um so mehr, je breiter der Kollimatorspalt des Spektroskopes
ist. Die unzureichende Intensität der zur Verfügung stehenden Lichtquellen
zwingt uns bei Benutzung kurzwelliger Strahlungen dem Spalte eine ver-
hältnismäßig große Breite zu geben.
Da der Farbenton sich mit der Schwingungsfrequenz nicht sprungweise^
sondern stetig, wenn auch in verschiedenen Spektralbezirken mit verschie-
dener Geschwindigkeit ändert, so läßt sich wenigstens für langwellige Strah-
lungen innerhalb gewisser enger Grenzen der Spaltbreite der von dem
durchgelassenen Strahlgemisch erzeugte Farbenton demjenigen Tone gleich-
setzen, welchen eine durch die Mittellinie des Spaltes eintretende homogene
Strahlung erzeugen würde, falls ihre Energie der Gesamtenergie des Strahl-
gemisches gleich wäre. Da nur Spalte benutzt werden dürfen, deren
Breite durch symmetrische Verschiebung ihrer beiden Schneiden geändert
wird, so ist diese sogenannte mittle Wellenlänge leicht bestimmbar.
§ 63. Von den optischen Valenzen der spektralen Strahlungen. 281
Das in unseren Gegenden selten zur Verfügung stehende direkte Sonnen-
licht ist nur zur Herstellung eines sogenannten objektiven Spektrums ver-
wendbar. Die Erzeugung eines solchen mittels künstlicher Lichtquellen ist
umständlich .und zu physiologisch-optischen Zwecken nur ausnahmsweise
erforderlich.
§ 63. Von den optischen Valenzen der spektralen Strah-
lungen. Das Vermögen einer Strahlung, im somatischen Sehfelde be-
stimmte Veränderungen zu bewirken, mit denen bestimmte Änderungen im
psychischen Sehfelde gesetzmäßig verbunden sind, nenne ich das Reiz-
vermügen oder die optische Valenz der Strahlung. Art und Größe
solcher Wirkung hängt einerseits von der Art und Stärke der Strahlung,
andererseits von der Art und dem jeweiligen Zustande des bestrahlten Seh-
feldbezirkes ab. Die einzelnen Flächenelemente, in die man sich das ganze
somatische Sehfeld zerlegt denken kann, sind nicht sämtlich gleicher Art,
und der Zustand oder, wie ich es nannte, die Stimmung eines und des-
selben Elementes ist keine stetig beharrende, sondern von mehrfachen,
ebenfalls veränderlichen Bedingungen abhängig. Eine bestimmte optische
Valenz läßt sich also einer Strahlung nur in bezug auf ein Sehfeld dement
von bestimmter Art und unter Voraussetzung eines bestimmten Zu-
standes des Elementes zuschreiben. Als solchen Zustand wählen wir für
die Untersuchung der bunten Lichtwirkungen wenigstens zunächst den chro-
matisch-neutralen i), in welchem alle Teile des somatischen Sehfeldes
sich befinden, wenn das Auge so lange vor jeder buntwirkenden Bestrah-
lung geschützt worden ist, bis die Nachwirkungen vorhergegangener bunt-
wirkender Strahlungen verschwunden sind.
Die Bezeichnung für die Art einer buntwirkenden Valenz oder, kurz
gesagt, der Buntvalenz einer Strahlung, erfolgt auf Grund der Eigen-
schaften der Farbe, welche unter dem Einflüsse der Strahlung an der be-
troffenen Sehfeldstelle entsteht. Wenn z. B. an die Stelle des nach Her-
stellung des chromatisch-neutralen Zustandes sichtbar gewesenen tonfreien
Eigengrau unter dem Einfluß der Strahlung eine rote Farbe tritt, so
schreiben wir der Strahlung eine Rotvalenz zu, bläut sich die Stelle, so
hat die Strahlung eine Blauvalenz, zeigt sich gleichzeitig Röte und Bläue,
so hat die Strahlung sowohl eine Blau- als eine Rotvalenz. Wir benutzen
also die Art des bunten Bestandteiles — vgl. § 14 — der erscheinenden
Farbe als des bewirkten psychischen Phänomenes zur Benennung der
buntwirkenden Valenz der Strahlung. Wie wir von einem roten, gelben,
grünen, grauen Bestandteil einer bunten Farbe sprechen, so auch von
1) Der chromatisch-neutrale Zustand der Sehsubstanz darf nicht mit dem
Zustande ihrer Mittelwertigkeit verwechselt werden. Die Sehsubstanz kann auf.
jeder Stufe der Wertigkeit chromatisch-neutral gestimmt sein.
282 Lehre vom Lichtsinn.
ebensolchen Bestandteilen einer bunt wirkenden Strahlungsvalenz. Und wie
der bunte Bestandteil einer Farbe sich im allgemeinen wieder als aus zwei
urfarbigen Teilen bestehend auffassen läßt, so läßt sich auch eine bunt-
wirkende Valenz im allgemeinen in zwei urfarbig wirkende . Bestandteile
oder Urvalenzen zerlegt denken.
Außer der buntwirkenden müssen wir jeder einfachen Strahlung auch
eine weißwirkende, kurz Weißvalenz, zuschreiben, weil die zunächst
eigengraue Sehfeldstelle infolge monochromatischer Bestrahlung nicht nur
bunt, sondern zugleich auch weißlicher werden kann. Solange es sich nur
um die für das chromatisch-neutral gestimmte Auge geltenden Beziehungen
handelt, können wir von den weiß wirken den Teilvalenzen der einfachen
Strahlungen vorerst absehen.
Es liegt im Begriffe der optischen Valenz, daß dieselbe der Intensität
der Strahlung proportional ist; denn unter optischer Valenz eiper Strah-
lung ist nicht die Art und Größe ihrer Wirkung zu verstehen, welche, wie
gesagt, je nach dem Zustande des Sehorganes verschieden sein kann, son-
dern nur die Art und Größe des Wirkungsvermögens, welches der
Strahlung bei einem ganz bestimmten Zustande des Sehorgans eigen ist.
Die Lichtempfmdung, d. h. die als eine Änderung des psychischen Sehfeldes
in unser Bewußtsein tretende Wirkung der Strahlung ist nicht schon in
demselben Augenblick da, in welchem die letztere auf die Netzhaut wirkt,
sondern hat eine sog. Entstehungszeit. Der infolge einer Änderung
der Netzhautbestrahlung unter Mitwirkung der Induktion eintretende
neue Zustand der Sehsubstanz bedarf, wie ich schon S. 167 bemerkte,
einer gewissen, wenn auch kurzen Zeit zu seiner Herstellung. Während
dieser Zeit erfährt der höchst labile Zustand der lebendigen Substanz eine
rasch fortschreitende Änderung und wird trotz gleichbleibender Bestrah-
lung von Moment zu Moment ein anderer. Erst des psychischen End-
ergebnisses dieser Vorgänge werden wir uns gewöhnlich bewußt. Nur
unter besonderen Umständen und bei' gespannter Aufmerksamkeit ver-
mögen wir einzelne Phasen dieses Geschehens gleichsam in ihrem Fluge
zu erhaschen, wie später zu erörtern sein wird.
So wenig mit der Richtung und Größe einer Kraft, welche auf ein
Bewegliches wirkt, ohne weiteres auch die Bahn und Geschwindigkeit der
unter der fortwährenden Wirkung der Kraft erfolgenden Bewegung gegeben
ist, weil für letztere mancherlei andere Bedingungen mit maßgebend sind,
so wenig ist mit dem Verhältnis zwischen den beiden bunten Urvalenzen
einer Strahlung ohne weiteres auch das Verhältnis gegeben, welches zwi-
schen den beiden urfarbigen Komponenten der von der Strahlung erzeug-
ten Empfindung besteht.
Wenn sich gezeigt hätte, daß jede einfache Strahlung bei chromatisch-
neutral gestimmtem Auge nur eine und also ganz bestimmte bunte Farbe
§ 63. Von den optischen Valenzen der spektralen Strahlungen. 283
zu erzeugen vermag, so hätte dies bewiesen, daß die beiden ur färb igen
Komponenten der Farbe zu den gleichnamigen urfarbig wirkenden Valenzen
der Strahlung und folglich auch zur Intensität der letzeren proportional
sind. Wäre dies wirklich der Fall, so könnten wir jeder einfachen Strahlung
ohne weiteres dasjenige Grüßenverhältnis ihrer beiden (physischen) urfarbig
wirkenden Valenzen zuschreiben, welches zwischen den beiden (psychischen)
urfarbigen Bestandteilen der von der Strahlung bewirkten Farbe besteht.
Das auf der oberen Hälfte der Tafel I, S. 42 gegebene Schema eines Farben-
zirkels wäre dann zugleich eine übersichtliche Darstellung aller Verhältnisse
gewesen, welche zwischen den beiden bunten Urvalenzen der einfachen
Strahlung bestehen. Wir brauchten nur zu jedem Farbentone des Farben-
zirkels die Schwingungszahl bzw. Wellenlänge der einfachen Strahlung hin-
zuzudenken, welche diesen Farbenton erzeugen würde. Dächten wir uns
ferner diesen Farbenzirkel unter Weglassung der im Spektrum fehlenden
Farbentöne geradlinig gestreckt, so wäre auch für jede einfache Strahlung
das Verhältnis zwischen ihren beiden urfarbig wirkenden Valenzen an-
schaulich gemacht.
So würde es sich, wie gesagt, verhalten haben, wenn für das neutral
gestimmte Auge nur die Wellenlänge jeder einfachen Strahlung das Be-
stimmende für den von ihr erzeugten Farbenton wäre. Doch schon bei
Betrachtung des Gesamtspektrums bemerkten wir, daß "die außerhalb der
•drei Kardinalpunkte liegenden, zwischenfarbigen Stellen des Spektrums bei
größeren Intensitätsänderungen ihren Ton sehr merklich änderten, während
dies in der Gegend eines Kardinalpunktes nicht der Fall zu sein schien.
Wenn wir, wie im vorigen Paragraphen beschrieben wurde, unter Aus-
schluß simultaner und sukzessiver Kontrastwirkungen die Spektral färben
einzeln auf größeren Feldern erscheinen lassen, so zeigt sich ebenfalls,
daß trotz chromatisch-neutraler Stimmung des Auges rot-gelbe und gelb-
grüne Farben bei größerer Lichtstärke gelber, blau-rote blauer erscheinen
als bei kleinerer Lichtstärke, während eine größere Bläulichkeit der grün-
blauen Farben bei größerer Lichtstärke zwar bemerkbar, aber viel weniger
auffallend ist. Das von der Strahlung eines Kardinalpunktes erzeugte
Gelb, Grün oder Blau aber scheint bei größeren Intensitätsänderungen zwar
seine Freiheit, nicht aber seinen Ton zu ändern.
Hiernach gäbe es drei einfache Strahlungen, welche unabhängig von
ihrer Intensität den bestimmten Farbton einer Urfarbe hervorrufen, wenn
sie auf das chromatisch-neutral gestimmte Augen wirken. Die Art der
bunten Wirkung dieser Strahlungen wäre also nur an ihre Schwingungs-
zahl oder Wellenlänge gebunden, und letztere wäre in strengerem Sinne zu-
gleich ein Ausdruck für die Art der bunten Valenz der Strahlung.
Anderes gilt von den Strahlungen, durch welche eine Zwischenfarbe,
d. h. eine Farbe erzeugt wird, in der sich zwei urfarbige Komponenten
234 Lehre vom Lichtsinn.
unterscheiden lassen; denn das Deutlichkeitsverhältnis dieser beiden Bestand-
teile ändert sich mit der Intensität der Strahlung. So kann z. B., wie wir
sahen, an derselben Stelle des rot-gelben Spektralabschnittes bei kleinen
Intensitäten der rote Bestandteil der Farbe größer, d. h. deutlicher sein
als der gelbe, während bei größeren Intensitäten der gelbe Bestandteil
überwiegt.
Enthält also die von einer einfachen Strahlung erzeugte Farbe zwei
urfarbige Bestandteile, so ergibt sich aus der Art der Farbe zwar die Art
der beiden entsprechenden Teilvalenzen der Strahlung, aber über das Größen-
verhältnis zwischen diesen Teilvalenzen erhalten wir keinen Aufschluß.
Denn der vom Deutlichkeitsverhältnis ihrer beiden urfarbigen Kompo-
nenten bestimmten Qualität der bunten Farbe entspricht nicht notwendig
dasselbe Größenverhältnis zwischen den beiden urfarbig wirkenden Teil-
valenzen der Strahlung.
Als den Seh feldbezirk, in welchem wir die einfachen Strahlungen auf
ihre Buntvalenzen untersuchen wollen, wählen wir im allgemeinen den
fovealen und seine nächste Umgebung, . kurz, den makularen Bezirk, weil
hier der Farbensinn am vollkommensten entwickelt ist. Die morphologischen
Verschiedenheiten des Sehepithels innerhalb dieses Bezirkes lassen von vorn-
herein auch funktionelle Verschiedenheiten innerhalb desselben erwarten,,
denn die Verschiedenheiten der Sehfeldelemente i) können eine Ungleich-
artigkeit derselben bedeuten. Von einer bestimmten Valenz einer Strah-
lung läßt sich aber, wie oben erörtert wurde, nur in bezug auf eine
bestimmte Art der Sehfeldelemente sprechen. In der Tat besteht eine Un-
gleichartigkeit derselben, wie wir später sehen werden, auch innerhalb
des makularen Bezirkes, jedoch im wesentlichen nur in bezug auf die
Weißvalenz der Strahlungen. Betreffs der chromatischen Funktion aber
läßt sich der gesamte Bezirk als gleichartig nehmen, weil in allen Teilen
desselben bei überall gleicher monochromatischer Bestrahlung auch ein und
derselbe Farbenton erscheint, und etwaige Verschiedenheiten desselben fast
immer unter der Schwelle der Wahrnehmung bleiben. Wir dürfen also
den einzelnen einfachen Strahlungen in bezug auf den ganzen Bezirk, wenig-
stens sehr angenähert, dieselbe Buntvalenz zuschreiben.
§64. Über binäre Strahlgemische. Zwei gleichzeitig auf dieselbe
Netzhautstelle fallende Strahlungen erzeugen, wenn sie einem und demselben
oder zwei benachbarten Hauptabschnitten (vgl. S. 274) des Spektrums ent-
nommen sind, durch ihr Zusammenwirken einen Farbenton, welcher auch
durch eine einfache Strahlung erzeugt werden kann. Die Wellenlänge der
^) Der auf S. 21 definierte Begriff des Sehfeldelementes deckt sich nicljt
mit dem Begriffe des histologischen Elementes im Sehepithel.
§B'4. über binäre Strahlgemische. 285
letzteren liegt zwischen den Wellenlängen der beiden zur Mischung ver-
wendeten Strahlungen und zwar je nach deren Mischungsverhältnis bald
näher der einen, bald näher der anderen Wellenlänge. Solche aus zwei
einfachen Strahlungen zusammengesetzte Strahlungen lassen sich als zwei-
fache oder als binäre Strahlgemische bezeichnen. Wie man dieselben
herzustellen vermag, wird später auseinandergesetzt. Es gilt dabei, den Gang
der beiden Strahlungen so zu leiten, daß jede von beiden ein Außenfeld,
d. i. das Mischfeld, ganz gleichmäßig erleuchtet, und daher an jedem
Punkte des Feldes das Mischungsverhältnis das gleiche ist.
Zwar lehrt schon die bloße Betrachtung des Mischfeldes, daß dessen^
Farbenton im Spektrum zwischen den Farbentünen der beiden Einzel-
strahlungen liegt, doch ist zur genaueren Feststellung erforderlich, neben
dem Gemische zugleich die einfache Strahlung gleichen Farben tones sicht-
bar zu machen. Zu diesem Zwecke beleuchtet man nur die eine Hälfte
des durch die Irisblende passend eingeengten Gesichtsfeldes des S. 280 er-
wähnten kleinen Fernrohres mit dem Strahlgemisch, die andere mit der
zunächst nach Gutdünken gewählten einfachen Strahlung und regelt die
Intensität der letzteren oder die des Gemisches so, daß beide Hälften bei-
läufig gleichhell erscheinen. Dabei wird, wenn man nicht zufällig schon
die richtige einfache Strahlung gewählt hatte, der Farbenton beider Hälften
verschieden sein. Man ändert nun in der, dieser Verschiedenheit ent-
sprechenden Richtung die Wellenlänge der einfachen Strahlung, wonach
sich jedoch wieder ein jetzt kleinerer Helligkeitsunterschied zeigen kann.
Dieser wird abermals beseitigt, ev. die Wellenlänge der einfachen Strahlung
nochmals berichtigt usw. Aber nur in besonderen, im folgenden näher zu
besprechenden Fällen gelingt es, die Farben beider Hälften einander so weit
gleich zu machen, daß sie weder im Farbentone noch im Freiheitsgrade
noch in der Helligkeit eine merkliche Verschiedenheit zeigen, und auch
dann ist nicht ausgeschlossen, daß bei gesteigerter Unterschiedsempfindlich-
keit eine Ungleichheit doch noch bemerkbar sein würde. Insbesondere hat
man sich zu hüten, das kleine Feld länger als 2 — 3 Sekunden zu fixieren,
weil dann ein Unterschied, der hei gehöriger Aufmerksamkeit und Übung
beim ersten Blick noch ganz leicht bemerkbar gewesen wäre, infolge ört-
licher Anpassung der betroffenen Sehfeldstellen schon nach wenigen Sekun-
den völlig verschwunden sein kann.
Die Gleichheit des Farbentones, auf die es uns hier allein ankommt,
ist sehr schwer festzustellen, wenn die beiden Farben in anderer Beziehung
verschieden sind, sei es, daß die eine heller oder daß sie minder frei, d. h.
merklicher mit Weiß, Grau oder Schwarz verhüllt erscheint (vgl. S. 52).
Solche bei gleichem Farbentone merkliche Heliigkeits- und Verhüllungsver-
schiedenheiten lassen sich selbst bei sorgfältigstem Verfahren besonders
dann nicht ausschließen, wenn die beiden Strahlungen des Gemisches nicht
286 Lehre vom Lichtsinn.
demselben, sondern zwei benachbarten Hauptabschnitten des Spektrums an-
gehören, um so weniger, je größer der Unterschied ihrer Wellenlängen ist.
Für die Fälle nun, in welchen es möglich wird, zwischen dem binären
Gemisch und der einfachen Strahlung eine wenigstens scheinbar tadellose
Gleichheit der Farbe herzustellen, d. h. eine sogenannte Farbengleichung
und nicht eine bloße Gleichheit des Farbentones zu erzielen, gilt die weitere
sehr wichtige Regel, daß, wenn man bei gleichbleibendem Adaptationszustand
des Auges die Intensität sämtlicher drei zur Herstellung der Farbengleichung
benutzten Strahlungen in demselben Verhältnis steigert oder mindert, beide
Hälften des Farbenfeldes ihre Helligkeit, ihre Freiheit und ev. auch ihren
Farbenton in ganz gleicher Weise ändern, so daß immer eine Farbengleichung
fortbesteht. Ebenso wie die einfache Strahlung bei Änderung ihrer Intensi-
tät für unser Auge ihren Farbenton ändern kann, gilt dies auch für den
Ton eines binären Strahlgemisches.
Man erreicht die gemeinsame Intensitätsänderung aller drei Strahlungen
an dem auf S. 280 beschriebenen Mischapparate in der einfachsten Weise
dadurch, daß man den »Querspalt« weiter oder enger macht oder auch in
minder bequemer Weise mit Hilfe eines in der Nähe des Querspalles an-
gebrachten Episkotisters.
Daß ein Gemisch aus zwei demselben Hauptabschnitte des Spektrums
entnommenen Strahlungen denselben Farbenton zeigen kann, wie eine ein-
fache im Spektrum zwischen diesen Strahlungen gelegene, und daß bei
gemeinsamen Intensitätsänderungen aller drei Strahlungen die Gleichung
zwischen der Farbe des Gemisches und der einfachen Strahlung fortbesteht,
erklärt sich einfach durch die Annahme, daß jede der beiden chroma-
tischen Urvalenzen des Gemisches die Summe der gleichnamigen
Urvalenzen der beiden einfachen Strahlungen des Gemisches ist.
Dann versteht sich ohne weiteres, daß die chromatische Wirkung auf die
Sehsubstanz seitens des Strahlgemisches dieselbe ist, wie seitens der ein-
fachen Strahlung. Ist dann auch die Summe der Weißvalenzen der beiden
Strahlungen des Gemisches nicht merklich verschieden von der Weißvalenz
der einfachen Strahlung, so versteht sich ferner, daß die Wirkung auf die
Sehsubstanz nicht bloß in chromatischer, sondern in jeder Beziehung beider-
seits gleich oder wenigstens so angenähert gleich ist, daß der etwa noch
bestehende Unterschied unter der Schwelle der Merklichkeit bleibt. Eine
solche für das helladaptierte Auge hergestellte Farbengleichung kann, weil
sie eigentlich nur eine Farbentongleichung ist, zu einer Ungleichung werden,
wenn an die Stelle des bestandenen Adaptationszustandes ein anderer tritt;
denn ihr Fortbestehen würde zur Voraussetzung haben, daß die Empfindlich-
keit des Auges gegenüber den Weißvalenzen aller drei benutzten Strahlungen
sich mit dem Grade der Adaptation in demselben Verhältnis ändert, wie
gegenüber den chromatischen Valenzen. Dies ist jedoch, wie später zu
§ 64. Über binäre Strahlgemische. 287
erörtern sein wird, nicht der Fall. Zunächst beschäftigen uns hier nur
die chromatischen Valenzen.
Über die Intensitäten, d. h. die Energiewerte der drei bei Herstellung
solcher Farbengleichungen verwendeten Strahlungen sagt uns die Gleichung
nichts aus. Wir erfahren also auch nichts darüber, wie sich der Energie-
wert der einfachen Strahlung zu dem des ihr gleichscheinenden Gemisches
verhält. Nur über die Verhältnisse der chromatischen Valenzen gibt uns
die Gleichung gewisse Aufschlüsse. Es wäre freilich sowohl in theoretischer
als in praktischer Hinsicht von größer Wichtigkeit, wenn wir jede der drei
zur Gleichung benutzten Strahlungen nicht nur durch ihre Wellenlänge,
sondern auch durch ihren Energiewert kennzeichnen könnten. Solange uns
aber bei unseren Untersuchungen über die Beziehungen zwischen den physi-
kalischen Eigenschaften des Lichtes und seinen psychischen Wirkungen
keine zureichend bequeme und sichere Methode zur Messung des Energie-
wertes einer Strahlung zur Verfügung steht, begnügen wir uns, die einzelne
Strahlung außer durch ihre Wellenlänge durch die Spaltbreite zu kenn-
zeichnen, bei welcher die Strahlung verwendet wird. Dabei ist immer,
vorausgesetzt, daß die Lichtquelle, durch deren spektrale Auflösung wir die
einzelnen Strahlungen gewinnen, in quantitativer uud qualitativer Beziehung
bei jedem Einzelversuche wieder die gleiche ist. ,
Mischung zweier dem rot-gelben Spektralabschnitt ent-
nommenen Strahlungen. Um die Ergebnisse der Mischung zweier dem-
selben Hauptabschnitte angehöriger Strahlungen an einem Beispiele zu er-
läutern, wollen wir eine Strahlung, deren mittlere Wellenlänge gleich der
Wellenlänge der Linie C (656 n(,i) ist, mit einer Strahlung mischen,
deren Wellenlänge gleich derjenigen der Natriumhnie D (589 {.i}.i) ist, die ich
kurz als C-Strahlung und als D-Strahlung bezeichnen will. Da beide dem
rot-gelben Abschnitte des Spektrums angehören, so hat jede von beiden
eine rote und eine gelbe Urvalenz. Die einfache Strahlung, welche bei
einem bestimmten Intensitätsverhältnis der beiden Strahlungen des Gemisches
denselben Farbenton wie dieses zeigt, habe die Wellenlänge 600 ^/^f und
diejenige Intensität, bei welcher beide Feldhälften einander gleich erscheinen.
Aus dieser Gleichung folgt, daß die Summe der beiden Gelbvalenzen der
Einzelstrahlungen gleich ist der Gelbvalenz der einfachen Strahlung von
der Wellenlänge 600 ^if^ und ebenso die Summe der beiden Rotvalenzen
der gemischten Strahlungen gleich der Rotvalenz der einfachen. Angenommen,
diese Gleichung wäre hergestellt und man vertauscht nun die einfache
Strahlung mit einer solchen von größerer Wellenlänge, so erscheint dann
das entsprechende Halbfeld rötlicher als das vom Gemische bestrahlte.
Jetzt genügt eine bloße Intensitätsminderung der D-Strahlung bei ganz
unveränderter C-Strahlung, um dem Strahlgemisch denselben Farbenton zu
geben, den die einfache Strahlung zeigt, und bei passend gewählter Inten-
288
Lehre vom Lichtsinn.
sität der letzteren besteht wieder eine gute Gleichung. Ebenso läßt sich
für alle übrigen zwischen 600 uu und 656 uu liegenden Strahlungen durch
alleinige Verminderung der D-Strahlung eine gute Gleichung zwischen dem
Strahlgemisch und dem einfachen Lichte herstellen. Umgekehrt kann man
durch alleinige Minderung der C-Strahlung bei ungeänderter D-Strahlung
dem Strahlgemische dieselbe Farbe geben, in welcher irgend eine zwischen
den Wellenlängen 600 und 589 ^«a liegende Strahlung bei passender In-
tensität erscheint 1).
Jede von allen auf diese Weise hergestellten Gleichungen sagt in betreff
der chromatischen Valenzen zwar aus. daß die Summe der Rotvalenzwerte
der beiden gemischten Strahlungen gleichgroß ist wie der Rotvalenzwert
der einfachen Strahlung und ebenso, daß die Summe der Gelbvalenzwerte
der gemischten Strahlungen gleich dem Gelbvalenzwerte der einfachen;
sie sagt jedoch nichts aus über die Einzelwerte der Rot- und der Gelb-
valenzen in den drei Strahlungen. Die Gleichung lehrt nur, daß die beiden
Rotvalenzwerte .der Strahlungen des Gemisches in bezug auf den Rot-
valenzwert der einfachen Strahlung sozusagen komplementär sind, d.h.
daß sie sich untereinander zu dem Rotvalenzwerte der einfachen Strahlung
ergänzen, und daß von den Gelbvalenzwerten dasselbe gilt.
Mischung zweier einfacher Strahlungen, welche zwei ver-
schiedenen, aber aneinandergrenzenden Hauptabschnitten des
Spektrums entnommen sind. Für die Fälle, in denen die beiden Strah-
lungen des Gemisches zwei verschiedenen aneinandergrenzenden Haupt-
abschnitten angehören und also im Spektrum eine urfarbig wirkende Strah-
lung zwischen sich haben, mögen als erstes Beispiel die Gemische dienen,
die sich aus der Strahlung von der mittlen Wellenlänge 671 ilijh, das ist
die Wellenlänge der roten Lithiumhnie, und aus einer Strahlung von der
mittlen Wellenlänge 535 ^<^, das ist die Wellenlänge der gelbgrünen Thal-
liumlinie, herstellen lassen. Letztere Strahlung möge kurz als TZ-Strahlung,
«rstere als L*- Strahlung bezeichnet werden.
Aus diesen beiden Strahlurxgen läßt sich ein Gemisch bilden, das dem
helladaptierten Auge weder grünhch noch rötlich, sondern rein gelb er-
scheint. Lassen wir dann die Intensität der Li-Strahlung unverändert,
mindern aber die Intensität der ^/-Strahlung, so wird die Farbe des Ge-
misches rötlich und geht mit zunehmender Minderung der TZ-Strahlung
durch Orange hindurch schließlich in Rot über. Lassen wir dagegen die
4) Diese Art von Änderung des Mischungsverhältnisses zweier Strahlungen
ist an dem von Helmholtz angegebenen Apparate für spektrale Farbenmischung
nicht möglich, weil bei diesem beide Strahlungen des Gemisches aus demselben
Kollimator stammen, der nur einen Spalt besitzt, durch dessen Verbreiterung die
Intensität beider Strahlungen zugleich gesteigert wird. Es läßt sich also zwar
jedes beliebige Mischungsverhältnis zweier Strahlungen herstellen, nicht aber die
eine unabhängig von der anderen verstärken oder schwächen.
B^^^^^^^^^^^^^^^^4. über binäre Strahlgemische. ^^^^^^^^^^
T^Z-Strahlung unverändert^ mindern aber mehr und mehr die Li-Strahlung,
so wird das Gelb zunehmend grünlicher. Allen auf die eine oder andere
Weise erzeugten Farben ist also eine mehr oder weniger deutliche Gilbe
gemeinsam, während ihr zweiter bunter Bestandteil sich in einem Teil der
Gemische durch eine mehr oder weniger deutliche Röte, im anderen durch
eine mehr oder weniger -deutliche Grüne kennzeichnet.
Während den Farben sämtlicher Gemische, deren beide Strahlungen
aus demselben rot-gelben Abschnitte des Spektrums entnommen waren,
eine mehr oder weniger deutliche Röte ebenso gemeinsam war, wie eine
mehr oder weniger deutliche Gilbe, zeigen also die Farben der aus der
Li' und der TZ-Strahlung erzeugten Gemische zwar sämtlich eine gewisse
Gilbe, ihr zweiter bunter Bestandteil kann aber je nach dem' Überwiegen
der einen oder der anderen Strahlung ein ganz verschiedener sein. Zur
Beobachtung des Gesagien genügt auch hier schon die alleinige Betrachtung
des Mischfeldes bei beliebiger Größe desselben, doch ist zur genaueren
Untersuchung wieder erforderlich, neben jedem Gemische die einfache
Strahlung sichtbar zu machen, deren Farbenton dem des Gemisches gleich
ist, und womöglich wieder eine gute Farbengleichung herzustellen. Dies
ist auch bei diesen Gemischen möglich, wenn das Farbenfeld klein und das
Auge im Zustande einer guten Helladaptation ist. Hat jedoch infolge der
Verfinsterung des übrigen Gesichtsfeldes die Helladaptation bereits wieder
erheblich nachgelassen oder war sie schon anfangs ungewöhnlich gering,
besteht also, anders gesagt, eine merkliche Dunkeladaptation, so erscheint
das Gemisch in vielen Fällen weißlicher als die einfache Strahlung. Dies
erschwert die Feststellung der Gleichheit des Farbentones und mahnt daran,
die anfängliche Helladaptation wieder herzustellen. Ist das Auge genügend
hell adaptiert, so kann man auch bei diesen Gleichungen wieder durch
Änderung des Querspaltes alle drei zur Gleichung benutzten Strahlungen in
gleichem Verhältnis vergrößern oder verkleinern, ohne daß eine Ungleichheit
des Farbentones oder der Verhüllung beider Feldhälften bemerklich ist.
Bei allen eben erwähnten Gleichungen addiert sich wieder die Gelb-
valenz der T/-Strahlung zur Gelbvalenz der Lz-Strahlung und die Summe
ist wieder gleich der Gelbvalenz der einfachen Strahlung. Anders verhält
es sich mit der Rotvalenz der einen und der Grünvalenz der anderen
Strahlung des Gemisches. Bei einem einzigen ganz bestimmten Mischungs-
verhältnis erscheint das Gemisch rein gelb und hat also weder Rot- noch
Grünvalenz, sondern nur die summarische Gelbvalenz. Die Rot- und Grün-
valenz sind also zwei gleichgroßen antagonistischen Kräften zu vergleichen,
aus denen sich für die Sehsubstanz keine Resultierende ergibt. Ihre Einzel-
wirkungen heben sich bei ihrem Zusammentreffen gegenseitig auf. Bei
jedem anderen Mischungsverhältnis ist entweder die Rotvalenz der LaJ-Strah-
lung größer als die Grünvalenz der ^/-Strahlung, oder das Umgekehrte
Hering, Lichtsinn. 4g
290
Lehre vom Lichtsinu.
findet statt. Dann vermag die jeweils kleinere Urvalenz einen ihr selbst
«Gleichgroßen Teil der anderen aufzuheben und nur der jeweilige Rest der
letzteren bleibt als Rot- oder Grünvalenz des Strahlgemisches übrig. Das
Größen Verhältnis dieses Restes zur summarischen Gelbvalenz des Gemisches
bestimmt die Qualität der chromatischen Valenz des . letzteren , und die-
jenige einfache Strahlung, in welcher dieses Größen Verhältnis dasselbe ist,
zeigt denselben Farbenton wre das Gemisch.
Geben wir der jeweils größeren von den beiden antagonistischen Ur-
valenzen das -}-, der kleineren das — Zeichen, so können wir den bleibenden
Rest der größeren als die algebraische Summe der beiden Urvalenzen
bezeichnen und das Ergebnis sämtlicher Mischungsversuche mit der Li- und
der T/- Strahlung dahin zusammenfassen, daß sowohl die Gelbvalenzen
beider Strahlungen als die Rotvalenz der einen und die Grün-
valenz der anderen sich algebraisch summieren.
In § 13 wurde dargelegt, daß es keine bunte Gesichtsempfmdung
(Sehqualität) gibt, welche zugleich einen gelben und einen blauen oder zu-
gleich einen röten und einen grünen Bestandteil zeigt. Dies besagt zugleich,
daß es auch keine einfache oder mehrfache Strahlung gibt, welche zugleich
eine gelbe und eine blaue Valenz oder, was für die eben besprochenen
Strahlgemische in Betracht kommt, zugleich eine Rot- und eine Grünyalenz
hat. Für die einfachen Strahlungen liegt es schon im Begriffe der Valenz,
da die Art der urfarbigen Bestandteile der von einer einfachen Strahlung
bewirkten Farbe das Bestimmende für (lie Art der urfarbigen Teilvalenzen
ist, welche wir der Strahlung zuschreiben. Für die zweifachen Strahl-
gemische versteht es sich nunmehr auch, denn wenn gegenfarbige Ur-
valenzen sich bei der Mischung gegenseitig ganz oder teilweise aufheben
und nur der nicht neutralisierte Rest der größeren auf die Sehsubstanz
wirkt, so kann das Strahlgemisch nie zwei gegenfarbige Urvalenzen zugleich
enthalten. Aus unserer Analyse der bunten Farben als Sehqualitäten ergab
sich nur die Erfahrungstatsache, daß Rot und Grün sich gegenseitig aus-
schließen, und nur deshalb konnten sie dort als Gegenfarben bezeichnet
werden. Die soeben beschriebenen Mischungsversuche haben uns nun ge-
zeigt, daß sie sich deshalb ausschließen, weil sie sich in ihren Wirkungen
auf die Sehsubstanz gegenseitig aufheben. Ihre Bezeichnung als Gegen-
farben wird hierdurch vollends gerechtfertigt.
§ 65. Die Sehsubstanz. Die Valenzen als auf das Sehorgan .
wirkende Kräfte. Setzen wir wieder den Fall, die Sehsubstanz befinde
sich in chromatisch neutraler Stimmung und das in einem Sehwinkel von
etwa 4° erscheinende Kreisfeld des kleinen Fernrohrs unseres Spektroskopes
sei mit einer Strahlung gleichmäßig beleuchtet, die einem der drei Kardinal-
punkte des Spektrums, z.B. dem Urgelb {hlh (.tpi) entspricht. Fixieren
§ 65. Die Sehsubstanz. 291
wir einige Zeit, z. B. 20 Sekunden lang, den Mittelpunkt des leuchtenden
Feldes, und setzen dann die Stärke der Strahlung durch Verengerung des
Ouerspaltes mit mäßiger Geschwindigkeit mehr und mehr herab, so ver-
bleicht gleichzeitig zusehends das Gelb, wird immer weißlicher und hierauf
tonfrei weiß. Aber nur einen Augenblick besteht diese tonfreie Farbe, dann
wird das Kreisfeld bläulich, und während die tonfreie Komponente der
Empfindung mehr und mehr zurücktritt, wird das Blau freier und schöner.
Stellt man denselben Versuch mit der dem urblauen Kardinalpunkte
entsprechenden Strahlung an, so erscheint das Kreisfeld zuerst in einem
stark mit Weiß verhüllten Blau, verliert dann während der Abschwächung
der Strahlstärke mehr und mehr an Blaue, wird tonfrei und hierauf immer
deutlicher gelb oder braun.
Macht man drittens den Versuch mit der urgrün wirkenden Strahlung
des Spektrums, so sieht man zunächst ein helles weißliches Grün, das bei
Verminderung der Strahlstärke sich zunehmend verhüllt, vorübergehend
tonfrei wird und dann in weißliches Rot umschlägt.
Bei diesen Versuchen wird also, nachdem die bezügliche Strahlung
einige Zeit mit unverminderter Stärke auf die betroffene Netzhautstelle ge-
wirkt hat, die anfängliche urfarbige Empfindung durch bloße Minderung der
Strahlstärke in eine tonfreie und sodann gegenfarbige Empfindung ver-
wandelt. Die bunte urfarbige Komponente der anfänglichen Empfindung
tritt gegenüber der ton freien immer mehr zurück, verschwindet dann ganz
und die gegenfarbige Komponente tritt mit wachsender Deutlichkeit hervor.
Übrigens bemerkt ein aufmerksamer Beobachter schon bevor die Strahlstärke
vermindert wird, ein Zurücktreten der bunten Empfindungskomponente gegen-
über der tonfreien.
Währt die Fixierung der Mitte des von der einfachen Strahlung be-
leuchteten Kreisfeldes länger als wie ich dies beispielsweise angenommen
habe, so genügt eine kleinere Minderung der Strahlstärke, um die gelbe
bzw. grüne oder blaue Urfarbe verschwinden und in ihre Gegenfarbe um-
schlagen zu sehen; ist dagegen die Fixierungsdauer kürzer, so erfolgt der
Umschlag erst bei einer größeren Minderung der Strahlstärke. Längere
Dauer des Fixierens wirkt also in demselben Sinne wie' größere Minderung
der Strahlstärke. (Auf individuelle Verschiedenheiten sowie die jeweilige
Disposition des Beobachters wird später zurückzukommen sein.)
Die in weiten Kreisen der Physiker und Physiologen eingebürgerte
Ansicht, nach welcher für den farbentüchtigen Netzhautbezirk eines nor-
malen Auges mindestens zwei (sogenannte komplementäre) einfache Strah-
lungen eines Spektrums von nicht allzu großer Helligkeit^) zur Erzeugung
i) Daß bei sehr hohen Strahlstärken fast alle einfachen Strahlungen mit Aus-
nahme der langwelligsten weiß erscheinen können, ist längst bekannt
19*
292 Lehre vom Lichtsinn.
der. weißen Empfindung nötig sind, trifft also hier nicht zu; vielmehr ver-
mag man auch mit nur einer einfachen Strahlung eine tonfreie Weiß-
empfindung in der beschriebenen Weise, wenngleich nur vorübergehend,
herbeizuführen, und dies gilt von allen einfachen Strahlungen des Spektrums.
Man könnte sich versucht fühlen, die beschriebenen Tatsachen irgend-
wie aus einer mit der Dauer der Bestrahlung zunehmenden Ermüdung für
den Reiz der Strahlung erklären zu wollen. Aber eine derartige Auffassung
scheitert sofort daran, daß man auf jeder durch die Minderung der Strahl-
stärke herbeigeführten Stufe der Farbenänderung die ursprünglich gesehene
bunte Farbe sofort wiederherstellen kann, wenn man die Strahlstärke wieder
auf ihre anfängliche Höhe bringt. Es genügt, in dem Augenblicke, wo das
fixierte Kreisfeld eben weiß oder bereits in der Gegenfarbe erscheint, dem
Querspalte, von dessen Breite die Stärke der auf das Auge wirkenden Strah-
lung abhängt, rasch wieder die ursprüngliche Breite zu geben, um sofort
auf dem Kreisfelde den anfangs gesehenen Farbenton in nahezu unver-
ändertem Freiheitsgrade wieder erscheinen zu lassen. Dabei wirkt die
Strahlung nicht nur fort, sondern wird während des Wiederansteigens ihrer
Stärke auf die anfängliche Höhe sogar gesteigert; die vermeintliche Er-
müdung müßte dabei noch weiter zunehmen und der bereits unkenntlich
gewordene Farbenton müßte nun erst recht unter die Schwelle der Wahr-
nehmung sinken.
Auf die gleichzeitig mit den Farbenänderungen des Kreisfeldes ein-
tretenden Änderungen des ganzen übrigen Sehfeldes wird später zurück-
zukommen sein. Hier handelt es sich insbesondere darum, daß während
der noch andauernden, wenngleich geminderten Bestrahlung des Kreisfeldes
die Gegenfarbe der anfangs gesehenen Farbe mit voller Entschiedenheit
erscheint.
Die optische Valenz einer Strahlung läßt sich als eine auf
das innere Auge wirkende Kraft betrachten. Wenn wir nun bei
unserem Versuche sehen, daß das einige Zeit mit der urgelb wirkenden
Strahlung beleuchtet gewesene Kreisfeld bei Abschwächung der Strahlstärke
sofort seine Gilbe verliert und tonfrei weiß werden kann, so können wir
sagen, daß die vorhergegangene gelbwirkende Beleuchtung in dem bestrahlten
Gebiete des somatischen Sehfeldes eine der Gelbvalenz der Strahlung
entgegenwirkende Kraft wachgerufen hat, durch welche die
gelbwirkende Kraft aufgehoben oder neutralisiert wird; und
wenn wir bei noch weitergehender Abschwächung der Strahlung das. Kreis-
feld blau werden sehen, können wir sagen, daß die in der lebendigen
Substanz des bestrahlten Gebietes geweckte Gegenkraft jetzt
ein Übergewicht über die gelbwirkende Kraft der Strahlung
gewonnen hat und daß sie eine blauwirkende ist. Je länger die Be-
strahlung dauert, desto weiter entwickelt sich diese antagonistische Kraft
§ 65. Die Sehsubstanz. 293
und eine desto kleinere Minderung der Strahlstärke genügt zur Herstellung
eines Gleichgewichtes zwischen den beiden Kräften bzw. zu einem Über-
zuwiegen der blauwirkenden Gegenkraft.
Diese Auffassung der optischen Valenz als einer auf das Sehorgan
wirkenden allonomen Kraft, auf welche dieselbe mit einer autonomen Gegen-
kraft reagiert, gibt zwar keine Erklärung der beschriebenen Tatsachen, ist
aber, wie sich weiterhin zeigen wird, in mannigfacher Beziehung sehr zu-
treffend.
Auch andere Erscheinungen legen uns die Auffassung der Strahlungen
als auf das Sehorgan wirkender Kräfte nahe.
Der Mannigfaltigkeit der Farbentöne entspricht die Mannigfaltigkeit der
geraden Linien, die auf einer Ebene von einem Punkte derselben ausgehen
können. Denkt man sich diesen Punkt als Mittelpunkt des auf Tafel I dar-
gestellten Farbenkreises, so gehört jeder Radius zu einem bestimmten Farben-
tone des Kreises und kann als Vertreter dieses Farbentones gelten. Wie
man auf dem Kompaß vier Hauptrichtungen unterscheidet, so lassen sich
auch hier vier Radien als Hauptradien und alle übrigen als Zwischenradien
bezeichnen. Den vier Hauptradien entsprechen die vier bunten Urfarben;
der urrote Hauptradius liegt dem urgrünen , der urgelbe dem urblauen
diametral gegenüber, und dasselbe gilt überhaupt von je zwei gegenfarbigen
Zwischenradien.
Da bei chromatisch neutral gestimmtem Auge jede optisch wirkende
einfache Strahlung einen bestimmten Farbenton erzeugt und wir ihr des-
halb eine qualitativ bestimmte optische Valenz zuschreiben können, so läßt
sich, abgesehen von den Purpurtönen, jeder Radius auch als Vertreter einer
solchen Valenz betrachten, und was soeben von den Farben der Haupt-
und Zwischenradien gesagt wurde, gilt dann ebenso von den bunten Valenzen
der einfachen Strahlungen.
Erwägen wir endlich, daß jede Strahlung sich als eine auf das Seh-
organ wirkende allonome Kraft ansehen läßt, auf welche die lebendige
Substanz desselben mit der Entwicklung einer autonomen Kraft antwortet,
so kann jeder Radius auch als Symbol der Richtung angesehen werden, in
welcher eine dieser Kräfte wirkt, und der Mittelpunkt als Angriffspunkt
derselben. Einer aus diesem Punkte auf dem Radius abgetragenen Strecke
entspricht dann die Größe der optischen Valenz oder Kraft.
Die geschilderten Versuche haben wieder sehr anschaulich gemacht,
daß die Farbe nicht eine Eigenschaft der Strahlung ist und von der letz-
teren dem Sehorgan nur mitgebracht wird, sondern daß sie auf einer
Reaktion des Sehorgans beruht und das psychische Korrelat einer von der
Strahlung in der Sehsubstanz bewirkten physischen Änderung ist. Ich kann
deshalb, ohne ein Mißverständnis befürchten zu müssen, statt von einer
gelb-, blau- usw. wirkenden Kraft kurz von einer Blaukraft, Gelbkraft usw.
Hering, Lichtsinn.
nqA Lehre vom Lichtsiiin.
sprechen, wie ich bereits von einer Gelbvalenz," Blauvalenz usw. ge-
sprochen habe.
Wenn also z. B. die dem gelben Kardinalpunkte des Spektrums ent-
sprechende Strahlung auf die chromatisch neutral gestimmte Sehsubstanz
wirkt so kann ich sagen, es wirke jetzt auf letztere eine allonome Urgelb-
kraft und die bei Wirkung derselben sich entwickelnde Gegenkraft kann
ich als autonome Urblaukraft bezeichnen. Wirken beiderlei Kräfte gleich^
zeitig auf die Sehsubstanz, so heben sie sich, wenn sie im besonderen
Falle gleichgroß sind, als diametral entgegengesetzte Kräfte in ihrer optischen
Wirkung vollständig auf; wenn sie aber von verschiedener Größe sind, so
bleibt nur die Differenz beider Größen im Sinne der größeren Kraft wirksam.
Hätten wir also auf dem urgelben
Fig. 77. Radius eine der Größe der allonomen
^r Urgelbkraft entsprechende Strecke ab-
getragen und wäre die entstandene
Urblaukraft die kleinere von beiden,
so hätten wir jetzt diese Strecke um
. den entsprechenden Betrag zu kürzen.;
i ^ falls aber die Urblaukraft die größere
wäre, diese auf der dem blauen
Radius entsprechenden Strecke um den
Betrag der allonomen Urgelbkraft zu
kürzen. Letzteren Fall versinnlicht
^ Fig. 77, in der mg die Größe der zu
einem bestimmten Zeitpunkte bestehen-
den allonomen Urgelbkraft, mb die Größe der zu demselben Zeitpunkte
bestehenden autonomen Urblaukraft und mbi den durch die allonome Kraft
nicht neutralisierten und daher wirksam gebliebenen Rest der autonomen
Kraft bedeutet {mb — mg = mb]).
ni Y
Druck Yon Breitkopf <fc Härtel ia Leipzig.
University of Toronto
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